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German Pages 292 Year 2000
WALTER LEISNER . DER GÜTIGE STAAT
Der gütige Staat Die Macht der Geschenke
Von
Walter Leisner
DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Leisner. Walter: Der gütige Staat: die Macht der Geschenke / Walter Leisner. Berlin : Duncker und Humblot, 2000 ISBN 3-428-10136-7
Alle Rechte vorbehalten
© 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübemahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 3-428-10136-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97069
Vorwort Nach dem Verlust vieler Werte ist heute unser großes Problem der Verlust der Güte, der Menschlichkeit. Im Verhältnis zwischen den Menschen breitet sich Kälte aus und Egoismus. Ihr Staat, die Demokratie, sollte ein menschliches Angesicht tragen, durchwirkt von der Solidarität ihrer Bürger - doch auch sie erstarrt in Bürokratien, Normen, Formalismen. Staatsethik ist nicht zuletzt deshalb wieder ein Thema. Doch abgehobene Philosophie oder Moraltheologie geben dem Recht und der Politik allenfalls Orientierungen, keine konkreten Antworten. Zu fragen ist vielmehr: Gibt es eine Staatsgrundnorm der Staatsgüte, welche den kalten Gesetzesstaat wandeln könnte zur warmherzigen Bürgergemeinschaft? Läßt sich dies aus der Verfassung ableiten, oder aus vielen rechtlichen Gestaltungen gewinnen, von einem menschlichen Strafrecht über Sozialleistungen bis zu einem "Wohlwollen der Verwaltung"? Im ersten Teil der Untersuchung werden derartige positiv-rechtliche Entwicklungslinien nachgezeichnet, welche zu einem "gütigen Staat" führen könnten. Doch im zweiten erheben sich Bedenken, verdichten sich zu einer Gegenthese: Einen solchen gütigen Staat kann es nicht geben, in einer Ordnung der Gleichheit, der Freiheit, der streng normativen Rechtsstaatlichkeit. Eine Gefahr aber wird auch sichtbar: daß sich der Staat in solche Güte flüchtet, um unter ihrem Mantel erst recht Macht auszuüben, über Geförderte und Hilfeempfanger - mit der Macht der Geschenke, mehr noch vielleicht, als er es mit Hoheitsgewalt vermöchte, vor allem aber unbemerkt. Damit schließt sich ein Zyklus von vier Betrachtungen der Macht, in dem es immer um ihre Verschleierung ging: im "Unsichtbaren Staat", im "Abwägungsstaat", der Gerechtigkeitssuche verunklart, in der ,,staatswahrheit", die Macht als Erkenntnis verkleidet. Darin will der Staat, die höchste Macht des Diesseits, jenem Schöpfergott ähnlich werden, an dessen Stelle sie sich auf Erden fühlt, jenem unsichtbaren, gerechten, wahren - und nun: gütigen höchsten Wesen. Bei ihm sind dies die Säulen einer Allmacht. Will auch der Staat die seine darauf gründen? Der Verfasser hat lange Zeit darüber nachgedacht, dieses Thema ist ihm näher gegangen als alle von ihm bisher behandelten, geht es doch hier um das Schönste, das Beste: menschliche Güte. Fertig geworden ist er damit nicht. Und so bleibt er stehen bei These und Antithese, ohne Synthese, die er dem Leser überläßt - zumutet. Ganz im Sinne der von ihm vertretenen
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Vorwort
Antithesentheorie wendet er sich auf diesen Blättern am Ende gegen das, was er vorher zu begründen versuchte, beides mit gleichem Engagement. Polemik gegen sich selbst - das war ein geistiges Erlebnis. Die Otto-Wolff-Stiftung hat auch diesen Band großzügig gefördert, ihr und vor allem Herrn Professor Dr. Gunter Hartmann, gilt mein herzlicher Dank. München, 1. Januar 2000 Walter Leisner
Inhaltsverzeichnis A. Die Fragestellung: ein Paradox . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. I.
Staatsgüte - Gegensatz zur modemen Staatlichkeit .................. 1. "Güte" - ein Attribut des Menschen. nicht der Organisation ...... 2. Recht und Gesetz - gegen Güte ............................... a) Gerechtigkeit und Ordnung, nicht Hilfe ..................... b) Trennung von Recht und Moral ........... . .... . . . ......... 3. Freiheit und Gleichheit - gütefeindlich ......................... 4. Demokratie - Weg der Macht aus der Hilfe ......... . ........... a) Gütiger Mehrheitswille? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Demokratie: Politik in Freund-Feind-Spannung .............. 11. Und doch: der Ruf nach dem gütigen Staat ........................ 1. Ein menschliches Drängen - über das Recht hinaus . . . . . . . . . . . . .. 2. Für einen menschlichen Staat ................................. 3. Vom sozialen Denken zum Sozialstaat ......................... a) Sozial-demokratische Parteiprogramme ..................... b) Solidarität ............................................... c) Schwächerenschutz ....................................... d) Sozialstaat: Grundsatz-Normativierung des sozialen Denkens .. 4. Staatsmoral, Politikmoralisierung, Rechtskultur . . . . . . . . . . . . . . . . .. III. Staatsgüte - eine große Antithese zum bisherigen Staat und seinem Recht.......................................................... 1. Tod des alten Staates? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Rechtliche Faßbarkeit der totalen Staatswandlung zum "gütigen Staat"? ..................................................... IV. Aufbau der Untersuchung........................................
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B. Grundsätzliche Wege und allgemeine Kräfte zum "gütigen Staat" ..... 32 I. Der Begriff der ,,staats güte" ..................................... 32 1. Staatsgüte zwischen Staatskredit und Staatsgeschenk ............. 32 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Der Kern der Staatshilfe: Bedürfnisbefriedigung ................. Staatsgüte als Eingriffsverbot: Achtung der Freiheit zur Selbsthilfe Staatsgeschenk ohne Bitten ................................... Der Blick auf den Einzelfall .................................. Motivation - für alle Güte entscheidend ........................ Nomativierbarkeit solcher Bedürfnisbefriedigung? ...............
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Inhaltsverzeichnis 11. Grundsatz-Öffnungen normativer Staatlichkeit zur Staatsgüte ......... 1. Die punktuelle Durchbrechung des Normativen - von der Ausnahme zur Regel ............................................ a) Die Ausnahme als Öffnungsbegriff des normativen Systems. .. b) Staatsgüte als Ausnahme .................................. 2. "Im Zweifel für Staatsgüte" ................................... a) Immer mehr Zweifel im Öffentlichen Recht ................. b) Die in-dubio-Neigung des geltenden Rechts - zur Güte ....... 3. Staatsgüte als Staatsgrundsatznorm ....................... . .... a) "Staatsgüte als Verfassungsnorm?" ......................... b) Staatsgüte als Staatsform-, Staatszielbestimmung ............. c) Wirkungen der Staatsgüte als staatszielorientierte Staatsform auf die Rechtsordnung .................................... 4. "Staatsaufgabe Staatsgüte" .................................... 5. "Staats güte" innerhalb der Normen - in Beurteilung und Ermessen a) Ermessen in Güte ........................................ b) Fördernde Beurteilung - an den Normen vorbei. . . . . . . . . . . . .. III. Demokratie - als "entpersönlichte Staatsform" staatsgütegeneigt? ..... I. Persönliche Gewalt - traditionell gütegeneigt ................... a) Der Herrscher als Helfer .................................. b) Staatsgüte - Wesen aller Persönlichen Gewalt ............... 2. Abbau Persönlicher Gewalt - Verlust der Staatsgüte ............. a) Machtabbauende Freiheit gegen helfende Staatsgewalt ........ b) "Kälte der Normen" ...................................... c) Und doch "unter den Normen" - die Güte der Rechtsanwendung 3. Entpersönlichender Gewaltabbau - Notwendigkeit neuer Gewalt des Gebens ................................................. a) Weniger Staatsgewalt durch demokratische Entpersönlichung .. b) Von der Entpersönlichung der Staatsgewalt zur Krise des normativen Staates .......................................... c) Die neue Macht des Gebens ............................... d) Kompensation von Eingriffsmacht durch Förderungsgewalt . . .. e) Machtverschleierung durch Helfen ......................... 4. Neue Personwerdung des entpersönlichten demokratischen Staates in Staatsgüte ................................................ IV. Demokratie - Staatsform der Solidarität ........................... I. Solidarität - die neue Brüderlichkeit ........................... a) Solidarität - ein "guter", allgegenwärtiger Ordnungsbegriff . . .. b) Fraternite - die demokratische Staatsintegration .............. 2. Wahlgeschenke - demokratische Staatsgüte zur Solidarität. . . . . . .. a) Wahl als demokratisches Vertrauensgeschenk ................ b) Wahlgeschenk, Wahlversprechen - zwischen Wählerbestechung und politischer Güte ...................................... 3. Bürgernähe - Zentralbegriff demokratischer Solidarität .. . . . . . . . ..
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Inhalts verzeichnis V. Sozialstaat - Staat der Staatsgüte ................................. 1. Von der "sozialen Gerechtigkeit" zum gütigen Staat ............. a) Gerechtigkeit - eine machtentleerte Worthülse ............... b) "Soziale" Gerechtigkeit - erst recht nur in Staatsgüte vorstellbar ..................................................... 2. "Sozial" - Verbot allzu großer Unterschiede: Weg zur ausgleichenden Güte ................................................... 3. Sozialstaat als Macht zum Schwächerenschutz .................. a) Schwächerenschutz überall ................................ b) Schwächerenschutz als Güte ............................... c) Sozialstaatlicher Schwächerenschutz - allseitig-systematischer Ausdruck der Staatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. d) Sozialstaatlichkeit - mehr als "soziale Grundrechte" .......... 4. Sozialstaat - Überwindung der Gleichheit durch Staatsgüte ....... 5. Keine volle Verrechtlichung des Sozialstaats - der Politikvorbehalt der Staatsgeschenke ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. VI. Menschliches Recht im Namen der Menschenwürde - Öffnung zur Staatsgüte ...................................................... I. Elementarschutz aus Menschenwürde - ohne Staatsgüte? ......... 2. Ausstrahlungen von Menschenwürde in Staatsgüte ............... a) Menschenwürde als Ausstrahlungsprinzip ................... b) Menschenwürde als staatsorganisatorisches Erlaubnisprinzip für die Macht ............................................... VII. Staatsgüte als christliche Rezeption in die Ordnung der Gemeinschaft. 1. Der Staat - Statthalter des gütigen Gottes auf Erden ............. 2. Der Staat - Fortsetzer kirchlicher Organisationsgüte ............. 3. Helfende Güte - Kern rezipierter Kichlichkeit im Staat .......... 4. Öffentliche Existenzberechtigung, Öffentlichkeitsanspruch der Kirchen - aus helfendem Handeln ................................ VIII. Staatsmoral - Politikrnoralisierung - Rechtskultur .................. 1. "Der Nächste" - näher als hohe Werte ......................... 2. Staatsmoral als Altruismus ............... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Politikrnoralisierung.......................................... a) Von der "Politik als schmutzigem Geschäft" zur Politik der Hilfe .................................... , . . . . . . . . . . . . ... b) Von der "Politik als Beruf' zur Politik als karitativer Berufung c) Politik - moralisch als Machtgewinn durch Geschenke. . . . . . .. 4. "Rechtskultur" - in Staatsgüte umhegte Ordnung ................ IX. Staat der Freiheit - Staat der Güte ................................ 1. Freiheit - vom Staatseingriff, nicht vom Staatsgeschenk . . . . . . . . . . 2. Die Freiheitsneigung wirklicher Staatsgeschenke ................ 3. Die wesentliche Autonomieneigung aller Staatshilfen ............ X. Staatsgüte - die neue, ungefährliche Staatsrnacht ...................
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Inhaltsverzeichnis I. Rückgang der Staatsgewalt als Hoheitsrnacht - Notwendigkeit neuer Macht ................................................ a) Der neue Überwachungsstaat - Kontrolleur der Staatshilfen ... b) Der Staat als Förder-Gewalt ............................... 2. Förderung - die bessere Gewalt - Staats güte als kooperative Macht ...................................................... XI. Zusammenfassung: Staats güte als neuartiger Staatsgrundbegriff . . . . . ..
C. Staatsgüte in Entwicklungen des gelten Rechts ....................... I. Der gütige Staat am Ende der Strafen ............................. 1. Entpönalisierung ............................................. 2. Resozialisierung zwischen freiem Staatsgeschenk und Staatszwang 3. Begnadigung ................................................ 11. "Bewaffnete Güte" ............................... . .... . ......... 1. Die Polizei als Helfer ........................................ 2. Die bewaffnete Macht als Katastrophenhilfe .................... III. "Güte" im Allgemeinen Verwaltungsrecht .......................... 1. Wohlwollen als Verwaltungsgrundsatz? ......................... 2. Vom gütegeneigten Ermessen ................................. 3. Begünstigende Verwaltungsakte: Normative Sonderregelung für "Verwaltungsgeschenke" ...................................... 4. Verhältnismäßigkeit (Zumutbarkeit), Härteregelungen - Raum für Staatsgüte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. IV. Sozialhilfe - vornehmster Ausdruck der Staatsgüte .................. 1. Sozialhilfe als Staatsgeschenk ................................. 2. Gegenleistungsfreie Sozialhilfe ................................ 3. Grund der Sozialhilfe: nicht eingreifendes Ordnen, sondern gewährende Güte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4. Der Rechtsanspruch auf Sozialhilfe ............................ 5. Sozialhilfe als globalisierte Härteklausel ........................ V. Beamtenrecht zwischen freier Staatsfürsorge und der Verrechtlichung von Gegenleistungsbeziehungen .................................. 1. Beamtenrechtliche Fürsorge als Hilfe .......................... 2. Beamtenrechtliche Fürsorge - ein Geschenk? ................... 3. Verrechtlichung der Dienstherren-Güte ......................... 4. Auswirkungen - oder Erbe - der beamtlichen Fürsorge für ein Sozialrecht des Schenkens .................................... VI. Erziehung - Staatsleistung jenseits der Gesetze .................... . I. Erziehung als Geschenk .............................. . ...... . 2. Erziehung als Ausdruck echter Fürsorge ........................ 3. Von der geschenkten zur geforderten Erziehung? ................ 4. Lehrer als Beamte ........................................... 5. Der Staat als Paideia .........................................
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D. Staatshilfe als Staatsallmacht ....................................... 180
Inhaltsverzeichnis
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Von der Staatsgüte zur gütefreien Staatshilfe I. Entmoralisierung des helfenden Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Weite der "Staats förderung" - Beispiel für "Hilfe ohne Güte" . . 11. Staatshilfe als Staatsmacht ................... . ............ . . . .... I. Hilfe - stets aus Machtwillen .......................... . . . .... 2. Förderung: Vorwand der Machtausübung - Eindringen in die Privatheit .... . . . .. ... . .. . . ... . . .. .. .. . .. .. .... . . . ..... .. . . . . ... 3. Die Lenkungsauflage - Lenkung durch Staatsgüte ...... . .. . ..... 4. Förderung - Legitimation der Macht des Nehmens ...... .. ...... III. Durch Staatshilfen zur Staatsallmacht ..... . ..... . ......... .. ...... 1. Die Grenzenlosigkeit staatlichen Helfens .... . ....... . . .. . .. . . .. 2. Die Allmacht gütiger Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der gütige Staat - der gütige Gott auf Erden: Transzendente Legitimation der Staatsgewalt als Staatsgüte ................ . ... . ...
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I.
E. Angebliche Staatsgüte: Verschleierte Macht .. . . . ...... . ..... . . ....... I. Beispiele angeblicher Güte als Macht .... . ... . . . .. . ..... . .. . . ..... I. Entpönalisierung, Resozialisierung, Begnadigung: Wege zur wirksameren Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Polizei als Helfer - erleichterter Machtdurchsetzung ..... . . . .. . .. 3. Sozialhilfe: die billige Ordnung ..................... ..... .. . .. 4. Das Geschenk der Bildung: Vorbereitung des Machtzugriffs .... .. 5. Insgesamt: Effizienzsteigerung durch Moralisierung der Macht .... 11. Subventionen: Nicht Güte - mittelsparendes Machtinstrument .. . ..... I. Subventionsvergabe - typische Machtausübung ........... . . . .... 2. Subventionen: im Interesse der Macht - kein Staatsgeschenk ..... 3. Förderung: streng gebunden - als Geschenk? .. . . ..... .. ........ 4. Subvention: grundsätzliche Ausnahme .. ... ... .... .... ... . , . . ... III. Steuerverschonung - ein Hoheitsgeschenk? . ..... . ......... .. .. . ... I. Steuererleichterung: ein Geschenk? .... . ....................... 2. Steuererleichterungen: stets im öffentlichen Machtinteresse ....... 3. Die Privilegienkritik: Beweis für Macht, nicht Güte .... . ......... 4. Steuererleichterungen: enge Ausnahmen von der Steuergleichheit . . IV. Konkurrenz als Ordnungsprinzip: Kampf ohne Güte ....... ... ....... I. Wettbewerb als modernes "Gesamtmodell" für Staat und Gesellschaft .............................. . . . ..................... 2. Die Staatsethik der Konkurrenz: Egoismus eigener Leistung ...... 3. Wettbewerb - das unbarmherzige Gegeneinander . . .. . ... .... . . . . 4. Konkurrenzlagenverschiebung - eine Aufgabe der Staatsgüte? .... 5. Konkurrenz - das effiziente Machtmodell . .............. ... .... V. Härtevermeidung: Nicht Güte, sondern verbilligte Effizienz ... . . ..... 1. Ausnahmen als Bestätigungen der Machtregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mehr Macht durch Güte in Härtefällen - in Abwägungsfreiheit . . . 3. Härtevermeidung: nur realitätsnahe Norm-Flexibilisierung ... .. . ..
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Inhaltsverzeichnis VI. Korruptionsbekämpfung - Angst vor Staatsgüte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 1. Marktwirtschaft: die gekaufte Macht ............... . ........... 224 2. Korruption: pervertierte Güte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
F. Freiheitliche Demokratie: Staatsform gegen Staatsgüte ............... I. Demokratie: Machtausübung in Treuhänderschaft auf Zeit für die Vielen ......................................................... 1. Geliehene Macht macht kein Geschenk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entpersönlichte kollektivierte Macht: schenkungsunfähig ......... 3. Organisierter Sozialneid will nehmen, nicht schenken ............ 4. Demokratie: "Kurzfristige Staatsform revozierbarer Hilfe" ..... . .. 5. Demokratie: nie eine gütige Staatsform ......................... 11. Der Rechtsstaat: Recht gegen Güte ................................ I. Geordnete Macht, nicht gestattete Güte ......................... 2. Normatives Systemdenken gegen auflösende Staatsgüte .......... 3. Normative Vorhersehbarkeit: Rationalität gegen Güte ............ 4. Öffentliche Interessen gegen private Schenkungsfreiheit .......... 5. Gewaltenteilung gegen Staatsgüte .............................. 6. Staatsgüte im "Privaten Staat"? ............................. . .. III. Die gütefeindliche Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gleichheit: Norm, nicht Einzelfall ............................. 2. Hilfe aus Güte - immer ein "Privileg" ......................... 3. Bedürfnisse: stets wesentlich ungleich .......................... 4. Geschenke - gegen Gleichheit .................... . ........... IV. Freiheit - von Güte und auch zur Nicht-Güte ....................... 1. Freiheit: das Recht auf hilfefreie Autonomie ................... . 2. Vom gütigen zum indiskreten Staat - Gefährdung der Intimsphäre . 3. Von Staatsgüte über Mißbrauchsbekämpfung gegen die Freiheit ... 4. Staatsgüte: Gefahr der Materialisierung der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . 5. Freiheit: ein Programm für Starke - gegen schwächende Hilfen ... 6. Staatsgüte als Zwang - gegen Freiheit .........................
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G. Staatsgüte: eine unüberbrückbare Antithese zur freiheitlich-egalitären Demokratie ....................................................... . I. Das Denken in Antithesen ....................................... 11. Macht der Geschenke - Spannung von Macht und Moral ............ III. Staatsgüte: Letzte Steigerung der inneren Spannungen der Macht ..... IV. Die letzte Frage: Staatsgüte und Gewalt - Synthese zur Allmacht? .... I. Allmacht - nicht Allgewalt ................................... 2. Über Verfeinerungen der Macht - doch zur vernichtenden Allmacht? 3. Die Hoffnung: Unfähigkeit der Herrschenden zur Allmacht ....... 4. Noch eine Hoffnung: Grenzen der Machtverschleierung .......... 5. Keine allmächtigen Menschen: Grenzen der Macht ..............
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Sachverzeichnis ........................................... . ........... 286
A. Die Fragestellung: ein Paradox Der "gütige Staat" ist bisher noch nie Gegenstand grundsätzlicher und vertiefender Betrachtung gewesen, jedenfalls nicht aus juristischer Sicht. Theologen mögen fragen, ob das Gesetz Christi, die Lex Charitatis, nicht auch alle christlich geprägten Gemeinschaften durchwirke, ob die Civitas Dei, als eine Liebesgemeinschaft, nicht auch mit all ihrer Macht auf Erden den Gott der Güte verkörpern müsse, damit eine große Analogia entis diese Welt mit der jenseitigen verbinde. Doch dieses "also auch auf Erden" eines Staates als "Gott auf Erden" steht unter der großen Forderung: "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist!" Wenn überhaupt etwas Transzendentes zum Kern des "Ganz anderen" gehört, was dem Diesseits und seiner Macht allenfalls fernes Ideal sein kann, nie tägliche Regel, so ist es jene Güte Gottes, in der zwar der Allmächtige auch der Allgütige sein darf, gerade im Namen seiner höchsten Gewalt, die aber auf der sündengebrochenen Erde ein Paradies der Liebe nirgends mehr hervorbringen wird. Güte und Macht mögen kein Gegensatz sein, ist jene doch vielleicht nichts als der höchste Ausdruck der Mächtigkeit. Doch kann eine Organisation wie der Staat, und sei sie noch so menschennah, je in ihrem Wesen von einer Güte getragen sein, wie sie nur ein vollendeter, allmächtiger Wille zu schaffen vermag? Dagegen steht nun die große historische Entwicklung der christlichen Gemeinschaften. In frühchristlicher Zeit mochte ihr Wesen geradezu in einer organisatorischen, nicht nur in einer organisierten Güte, gesehen werden, bis hin zu den kommunistischen und kommunisierenden Verteilungszirkeln der Erstchristen. Und diese Organisationseinheiten haben doch die Befehlsordnung des römischen Imperialstaates unterwandert, ihre Strukturen in die seinen geschoben, und geworden ist daraus eine modeme Staatlichkeit, von der bei aller Säkularisierung behauptet werden konnte, sie habe gerade in ihrer organisierten Güte der modemen Macht ein unverlierbares Erbe des christlichen Gottes mitgegeben. Dieser Staat mag sich, in all seinen westlichen und östlichen Ausprägungen, von ihm "getrennt" haben; hat er damit aber auch, als solcher, seine organisierte Güte wirklich aufgegeben, in deren Namen er einst, aus dem römischen Militärstaat heraus, wirklich neu geworden ist? Dies ist eine große historische Frage; ihre Bejahung rechtfertigt die folgenden Betrachtungen, als eine geschichtlich-dogmatische These zur heutigen Staatlichkeit. Doch ganz grundsätzliche Legitimation finden diese
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A. Die Fragestellung: ein Paradox
Überlegungen auch und gerade in der sofort sich aufdrängenden Antithese: Ist der moderne Staat nicht doch wesentlich "Macht" geblieben, noch aus seinen römischen Ursprüngen heraus, wie sie die Klassiker des modernen Staates fortgetragen haben, Ludwig XIV vor allem und Napoleon? Ist da nicht alles Organisation statt Güte, nur Macht und nicht verzeihende Hilfe, Güte nicht lediglich ein Machtinstrument, eine Machtverschleierung? So geht es denn im folgenden um zentrale Fragen nicht nur moderner Staatsorganisation, sondern heutiger Staatsrnacht, ja der Macht schlechthin: Kann sie "gut" sein, schenken und helfen? Führt eine Brücke der Güte vom einen Reich zum anderen, vom Jenseits zum Diesseits und zurück? Wenn es je einen Sinn hatte, vom "Abendländischen Staatsdenken" zu sprechen, so ist dies ein großes Thema.
I. Staatsgüte - Gegensatz zur modernen Staatlichkeit Aus juristischer Sicht müssen diese Betrachtungen mit einer Antithese zum Thema beginnen: Alles, was moderne Staatlichkeit grundsätzlich prägt, scheint doch auf den ersten, juristischen Blick völlig unvereinbar mit dem, was allein "Staatsgüte", in welchem Sinn auch immer, bedeuten kann. So seien hier denn, unter dem Vorbehalt späterer Vertiefung CE f.), die zentralen Gegenpositionen angedeutet: 1. "Güte" - ein Attribut des Menschen, nicht der Organisation
Der moderne Staat ist "ganz Organisation", hinter ihr tritt der Mensch als Organisationträger möglichst weit, in idealer Vollständigkeit am Ende, zurück. "Edel sei der Mensch, hilfreich und gut" ist zwar gerade diesen modernen Menschen unverzichtbar mitgegeben, als einziges vielleicht, worüber heute noch Konsens wirklich möglich ist. Wenn es aber Aufgabe des modernen Staatsrechts ist, diese Entpersönlichung der Macht immer weiter zu steigern, wenn dies geradezu nicht nur der Lauf der Welt, sondern vor allem der Lauf des Staates ist, seit Jahrhunderten, längst vor dem Einsetzen demokratischer Bewegungen, wie kann dann diese Organisation gewordene Gewalt menschliche Züge, den schönsten von ihnen, die Güte, in ihrer Macht-Welt weitertragen? Der Fürst, als Träger der höchsten Gewalt, durfte und sollte gut sein, Gnade vor Recht ergehen lassen, aber nur weil er über der Maschine seiner Staatlichkeit stand, diese vielleicht bediente, aber auch zur Hilfe lenken durfte. So konnte Bossuet in seinen Leichenreden, der großen Staatsrhetorik des Absolutismus, das grauenhafte Ende fürstlicher Personen beschreiben, nach dem der gütige und strafende Gott auch von ihnen Rechenschaft ver-
I. Staatsgüte - Gegensatz zur modernen Staatlichkeit
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langen würde über das, was sie an Staatsgüte gegenüber ihren Nächsten auf Erden gewirkt hatten. Wer dürfte dem modemen Staat solche Reden halten? Der wesentlich unsterbliche Machtträger - würde er nicht den, der ihm das Ende voraussagen wollte, im Namen seines Verfassungsschutzes in Gefängnisse sperren oder in Heilanstalten? Die Macht ist bereits unsterblich; muß sie noch gut sein, da sie kein Gericht mehr fürchtet? Die Macht als Organisation hat sich in ihrer ganzen Selbstgewichtigkeit erst in allerletzter Zeit voll entfalten können, in einem neuen Entpersönlichungsschub. Die Maschinen und ihre Technik sind gut, und sie werden besser, aber nicht in jenem Sinn der Staatsgüte, um den es früher viele Jahrhunderte lang ging, der auch Gegenstand dieser Betrachtungen ist. Diese Organisation ist verbesserungsfähig, und zwar virtuell unendlich, nicht aber besserungsfähig, ganz anders als der gebrochene, sündige Mensch. Ihr eigentliches Grundgesetz ist denn auch nicht Moral, sondern Effizienz; in der Verwaschenheit des Begriffes "gut" fällt bei des zusammen, erst in "Güte" und "Qualität" wieder auseinander. Über Staatsethik mögen Seminare stattfinden; der Organisationstheoretiker und mehr noch der Organistionstechniker der modemen Staatsgewalt, der Jurist des öffentlichen Rechts haben wenig Zeit zu verlieren an moralische Gütesiegel; sie arbeiten an der Perfektionierung einer Riesenmechanik, die sie warten, nicht lenken. Der Staat als Organisation ist in allem und jedem die wesentliche Antithese zu Güte, Hilfe, Geschenk; wenn seine Effizienz etwas verbietet, ist es eben das Geschenk. Muß es nicht so heißen?
2. Recht und Gesetz - gegen Güte a) Gerechtigkeit und Ordnung. nicht Hilfe Wie jede große und kleine Macht, so kennt auch die größte von ihnen, der Staat, Primär- und Sekundär-Ziele. Sein Primärziel aber ist stets nur eines, in welcher Staatsform auch immer: gerechte Ordnung. Da ist Überwachung des Austausches zwischen den Bürgern angesagt, vielleicht noch, oder gar primär, eine Verteilung, welche jene auf "mehr Gerechtigkeit" hin orientiert. Dies alles aber ist, die Wortwahl zeigt es bereits, gerichtet auf das Rechte, nicht auf das Gute. In der Güte liegt eine Dynamik - dies sei bereits hier betont - die in unauflöslichem Gegensatz zu stehen scheint zu jener wesentlichen Statik, welche das Recht zum zwar perfektionierbaren, aber doch nicht dauernd sich wesentlich in Güte verströmenden, vielleicht gar auflösenden Mechanismus werden läßt. Dieses Recht mag unter dem höchsten Gebot der Richtigkeit stehen, vielleicht noch einem solchen der
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A. Die Fragestellung: ein Paradox
Wahrheit, doch gerade dann öffnet sich ein Abgrund zwischen diesem erkennenden und erkannten Recht und einem Willen, der allein auf Güte und Hilfe gerichtet sein kann. Vornehmster Ausdruck dieses Rechts sind heute die Gesetze des Staates. Wer hat sie je gütig genannt? Von ihren mosaischen Ursprüngen bis auf den heutigen Tag sind sie stets Ausdruck des Ordnens geblieben, über alle Güte hinweg. Gerade deshalb wollte ja der Herr der Christen auch und gerade über sie hinweggehen, sie ausfüllen, erfüllen. Doch diese Erfüllung sprach den Erwartungsgehalt jener Gesetze an, nicht ihre Ordnungsrnacht, die nie der Güte wirklich wird weichen können. Das "gute" Gesetz ist die effiziente Regel, die befriedigende juristische Mechanik und Maschine, nicht primär der Ausdruck eines Willens, der Gutes zu tun sich vornimmt. Wenn überhaupt das Gute im moralischen Sinn der Güte ein Beurteilungskriterium dieser Normen werden kann, so allein im Sinne eines Sekundärzieles: "Gut" ist eben eine Ordnung gerade (auch) dann, wenn sie alle Werte und Wünsche der Menschen mit in ihre Ordnungen aufnimmt, auch deren moralische Bedürfnisse. Doch wann wäre dies je auf längere Zeit zum Primärziel geworden? Ordre moral - das war immer nur von kürzerer Dauer, wenn einmal das Gesetz es befahl, von Augustus bis zu den Zeiten nach dem Dritten Napoleon; wann war Ordre du coeur im Sinne Pascals ein Staatsprinzip? Die Gesetze sind so kalt wie ihre Tafeln, aus Stein oder Erz.
b) Trennung von Recht und Moral
Die Trennung des rechtlich-normativen vom moralischen Denken und Werten hat sich nie mehr überwinden lassen, seit die große Synthese der iustitia als ars boni ac aequi, trotz aller Renaissance der Digesten, eben doch verlassen worden ist. Für die modeme Rechtslehre und tägliche Jurisprudenz ist das eine Selbstverständlichkeit. und sie geht so weit, daß in solchen Kapiteln kaum mehr Raum ist für nähere Ausführungen zum Wesen jener "Moral"; in wenig vertiefter Formel-Tradition wird sie in die Regelung des "inneren Verhaltens der Menschen" abgedrängt. Für das Recht existiert sie eben im Grunde nicht mehr. Wie könnte auch eine "Gunst" noch Platz finden im Reich der mechanisierten Rechtstechnik? Güte aber ist der Kembereich moralischen Verhaltens; ein Staat, der seinem Wesen nach vielleicht nicht Recht ist, wohl aber Recht produziert, kann und darf nicht wesentlich Güte zeigen, so scheint es doch nach diesen Erkenntnissen der Allgemeinen Rechtslehre. die von einem ganz allgemeinen, wenn auch meist schweigenden Konsens getragen sind, nicht zuletzt deshalb, weil Konsens über ein Wirken in Güte gerade nicht zu erreichen wäre. Das Unmoralische ist. im juristischen Sprachgebrauch. heute nichts
I. Staatsgüte - Gegensatz zur modemen Staatlichkeit
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anderes mehr als Ausdruck extremer Ungerechtigkeit, unerträglich rechtsblinder Willkür. So aber kann eine Lehre vom "gütigen Staat" nie Wirklichkeit werden, soll dies als ein Primärziel seiner Macht erscheinen; Güte muß überall sein, und zuallererst, sie darf nicht erst eingreifen in extremis. 3. Freiheit und Gleichheit - gütefeindlich Der moderne Staat ist seit langem nur auf eines mehr gerichtet: auf möglichst komplementäre Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit, in deren unaufhebbarem Spannungsverhältnis. Hier aber, gegen die Staatsgüte, wirken nun diese beiden höchsten Staatsgrundsätze zusammen, als eine letzte Schranke aller verteilenden Gerechtigkeit: Was dem einen etwa in Güte gewährt, geschenkt wird, geht dem anderen, allen anderen, ab, es beeinträchtigt seine Freiheit und die Gleichheit aller zugleich. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg wird diese Betrachtung immer wieder herausfordern: Das Auge des freien Gleichheitsbürgers ist neidig, wenn sein Herr, der Staat, "gut" ist; denn dieser Herr ist gerade nicht unendlich reich, wie der Besitzer des Weinberges, aus der Sicht seiner Arbeiter jedenfalls, und deshalb "hat dieser moderne Staat nichts zu verschenken", aus zwei gleichgewichtigen Gründen: Er bräche zuallererst damit die wesentliche Gleichheit seiner Bürger, und er würde damit die Freiheit jedes von ihnen beeinträchtigen, daß er dem anderen, dem Wettbewerber, mehr gewährt, Wohltaten. Der moderne Gleichheitsbürger empfangt nicht Wohltaten im Weinberg, er fordert sein Recht. Was aber wäre eine Forderung auf Güte, gehört es nicht zum rechtlichen Wesen des Geschenks, seit Jahrtausenden, daß es als solches gerade nicht gefordert werden darf? Hier wird der Gleichheitsstaat der freien Bürger zur Vollendung des bereits erwähnten normativen Ordnens: Er kennt nur mehr den Anspruch, das Müssen, nicht mehr das Geschenk, das Dürfen. Staatsgüte also nurmehr dort, wo die Macht in freiem Gewähren neminem laedit? Doch wo wäre dieser Raum, da doch alles, was der Staat zu verschenken hat, mit Staatsgewalt bei anderen eingesammelt wird, da nichts mehr "von oben" kommt. aus einer gütigen Allmacht transzendenter Staatsbegründung? Der freie Gleiche will vom Staat sein Recht, nicht irgend eine Hilfe. 4. Demokratie - Weg der Macht aus der Hilfe a) Gütiger Mehrheitswille ?
Der Staat der freien Gleichen ist getragen durch die Mehrheitsdemokratie, sie ist seine organisatorische Vollendung, heute seine einzige von allgemeinem Konsens getragene Form. Doch diese Mehrheit definiert sich nicht 2 Leisner
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A. Die Fragestellung: ein Paradox
aus Güte, in einem wie immer verstandenen moralischen Sinn. Mehrheiten mögen zusammenkommen, damit sie möglichst vielen schenken; doch ist dies mehr Ausdruck eines Verschwendens als eines Schenkens, gewiß legitimiert es sich nicht als Wohltätigkeit, eher noch wird es als staatsformkonforme Korruption fragwürdig. Die Mehrheit will eben nicht gütig sein, sie will nur ganz einfach. Ihre Macht kommt aus dem Überwiegen, nicht aus dem Helfen. Zwar tritt sie dann auf mit dem Ausdruck ihres Willens, der auch die Kraft zum Guten sein könnte, zur Güte. Doch sie muß es nicht sein, nicht aus solcher Begründung heraus wirken, mag sie dies auch behaupten. Die Kritik der Demagogie gäbe es nicht seit Jahrtausenden, wäre jede Behauptung der Staats güte durch Staatsmehrheit Ausdruck einer Wirklichkeit, nicht nur, wie so oft, leeres Versprechen, Güte als Vorwand. Bei der Herstellung der Mehrheit in aller Demokratie geht es um die Gewinnung von Macht, wie immer diese dann eingesetzt werden mag, um ein Instrument, nicht um dessen Ziele. Der demokratische Wähler stärkt seine Partei nicht, damit sie nachher dem politischen Gegner helfe, ihre Feinde liebe; sie soll diese schwächen, zerbrechen - vielleicht gerade noch nicht unmenschlich. Wer ist je dem "gütigen Demokraten" begegnet? Die Kraft der Demokratie liegt in ihrer Wirklichkeitsoffenheit. Doch ist Güte nicht mehr Verwandlung der Wirklichkeit, ihre Überhöhung, als ihre Abbildung? b) Demokratie: Politik in Freund-Feind-Spannung
Die Erfolge der Demokratie kommen aus der Perfektion, mit der sie das Wesen des Politischen als einer wesentlich Freund-Feindbeziehung abzubilden vermag, es in alle gesellschaftlichen Bereiche trägt. Dort wird auch geholfen und geschenkt, es gibt menschliches Wohlwollen in dieser Freundschaft - all dies aber geschieht nicht aus jener allgemeineren Güte, von der hier die Rede ist, sondern nur im parteilichen Rahmen, mehr gegen als für einen anderen. Dies ist Hilfe zur Macht, im Macht-Kampf, nicht Unterstützung Schwächerer, die der Hilfe bedürfen. So scheint es geradezu, als wende sich eine wie immer verstandene Staatsgüte nicht nur gegen organisatorische Grundstrukturen der Volksherrschaft, sondern gegen Grundausprägungen der von dieser heute verkörperten Politik als solcher, die, in welcher Staatsform sie auch auftreten mag, Willen zur Macht und Kampf um diese ablaufen läßt, nicht moralisches Streben nach menschlicher Hilfe. Steht aber Staatsgüte gegen Politik als solche - welche Chance könnte ihr das Staatsrecht dann bieten?
11. Und doch: der Ruf nach dem gütigen Staat
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11. Und doch: der Ruf nach dem gütigen Staat 1. Ein menschliches Drängen - über das Recht hinaus
Der großen, in sich voll schlüssigen, kaum widerleglich erscheinenden juristischen Antithese gegen jede Fonn einer "gütigen Staatlichkeit", wie sie vorstehend in Umrissen geboten wurde, steht nun aber mit insgesamt erstaunlicher Kraft die hier im folgenden zu untersuchende These gegenüber: Immer drängender wird das Verlangen, ja die Forderung nach einer "Vennenschlichung des Staates", der in seiner Güte helfen soll und schenken, ein Wohlwollen täglich beweisen, wie es der modeme Mensch der abhängigen Arbeit vom Vorgesetzten erhofft, erwartet. Wenigen mag dabei bewußt sein, daß sie im Grunde nicht eine Vennenschlichung, sondern eine Vergöttlichung des Staates wollen, aber eben eine Macht zur Güte, nicht zur Gewalt. An dieser Stelle soll, im Wege eines Vorgriffs auf spätere Vertiefung, angedeutet werden, was sich wie eine "extranonnative Grundtendenz" den "kalten", traditionellen dogmatischen Vorstellungen des gegenwärtigen Öffentlichen Rechts, des Staatsrechts vor allem, entgegenstellt, übrigens auch einer ebenso kühlen Ökonomie, welche immer mehr in modeme Fonnen staatsrechtlichen Herrschens hinaufwächst. In all dem, was hier bereits angedeutet wird, soll nur die Gesamtdimension der Problematik deutlich werden, darin aber vor allem eines: Hier geht es nicht um rechtsdogmatische Forderungen. Werden in einzelnen Bereichen, bei gewissen institutionellen Betrachtungen, Forderungen nach Güte und Hilfsbereitschaft in dogmatischem Gewande erhoben, so wird das nirgends, soweit ersichtlich, zusammengeführt zu einem größeren staatsgrundsätzlichen Postulat. Dies kann schon deshalb nicht geschehen, weil es sich dabei fast immer um Einbrüche außerjuristischer, moralisierender oder moralischer Forderungen in das Recht handelt. Gerade deshalb muß von vorneherein erkannt werden, daß die eigentliche Sprengkraft, welche die Forderung nach dem "gütigen Staat" trägt, nicht aus dem Recht als solchem kommt, sich ihm vielmehr entgegenstellt, es eben "aufzusprengen" versucht, als eine jedenfalls teilweise extranonnative Kraft. Gerade deshalb aber wirkt sie so mächtig auf rechtliches Denken ein - vergleichbar nur den Kräften ökonomischer Effizienzforderungen - weil sie eine Überhöhung, einen entscheidenden Qualitätssprung des Rechtlichen, allen Staatsrechtlichen zu bieten scheint. Wem dies bei den folgenden Überlegungen stets gegenwärtig bleibt, der wird die Macht, aber auch die Grenzen, dieses Drängens zum gütigen Staat richtig einschätzen. Dies ist eine Phase entwickelter - man könnte es auch nennen: später Staatlichkeit: Gemeinschaften, welche ihre Ordnungen in hoher, immer weiter gesteigerter rechtlicher Perfektion gefunden, ja fast schon erschöpft 2'
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A. Die Fragestellung: ein Paradox
haben, finden nun zu einem großen Sprung über sich selbst hinaus, nicht mehr in der noch weiter verfeinerten rechtlichen Abbildung der Realität und ihrer kategorienmäßigen Ordnung allein; sie bedürfen neuer Kräfte, welche sie nur im Ethischen finden können, die sie dann aber auf einem mühsamen, verschlungenen, rechtsdogmatischen Weg einbauen müssen in ihr im wahren Sinne des Wortes "altes" System. Vielleicht ist dies eine der großen Straßen aus der perfektionierten antiken Rechtsordnung gewesen, hinein in die spätere, frühmittelalterliche Ordnung, mit ihren Imperfektionen und Barbarismen - bis diese wieder, über alle kirchengetragene Karitas hinweg, zur Kälte und Monumentalität des Römischen Staatsrechts zurückfinden konnte. Ob es neue Generationen geben wird, die derartiges heute, in kürzerem Abstand und am Ende erfolgreich, zur Staatsgüte verwirklichen werden, kann niemand absehen. Doch die Probleme stellen sich, die Skepsis zu ihnen darf nicht schweigen, in einem Bewußtsein immer: Hier geht es um einen schwierigen, vielleicht gefahrvollen Weg, am Ende über alles Recht hinaus. 2. Für einen menschlichen Staat Das Thema vom gütigen Staat findet vielleicht nirgends so allgemeinen, überzeugten Konsens wie dort, wo es mit der Forderung nach dem "menschlichen Staat" einhergeht. Hier zeigt sich ein Zusammenklang von Wünschen, ja Ängsten auf ganz unterschiedlichen Ebenen, die doch in einem konvergieren: daß Macht, die immer bedrohlicher sich aufbaut, humaner, mehr ihrer Ursprünge im Menschlichen sich bewußt, ausgeübt werde, daß der Wille einen Zug zum Guten sich bewahre: - Antinormative Affekte verstärken sich laufend. Die Machtträger, vom Minister bis zum letzten Beamten, ziehen sich hinter die Gesetze zurück; aus ihnen schlägt dem Bürger immer mehr Kälte entgegen, bis zur Erbarmungslosigkeit. "Ohne Ansehen der Person" werden sie auf ihn angewendet, aber seinen Fall sieht niemand, in dem er Hilfe braucht. In meist hilfloser Bürokratiekritik schlägt sich dies nieder, kaum je ist bewußt, daß damit das Normative geleugnet wird, Recht und Gesetz, die eben so oft nicht helfen können, nichts schenken dürfen, vor allem nicht jene Güte und Hilfe, die für Wärme stehen und Menschlichkeit. Die Forderung nach mehr Basiskontakt reicht kaum hinauf in die eisigen Höhen der reinen Gesetzesgeometrie. - Machtmißtrauen steigert solche Normablehnung zur Staatsablehnung. Erst darin vollendet sich die Normaversion, in der Kritik an einer Organisation, in welcher das Gesetz erstmal voll wirksam wird. Darin verflüchtigt sich dann eine Pseudolegitimation des Normativen: daß das Gesetz nicht herrsche, sondern befreie; in seiner Durchsetzung mit Staatsgewalt
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wird es zum Machtausdruck, obwohl doch der Bürger höher entwickelter Gemeinschaften hoffen mag, Ordnung sei nicht Gewaltdurchsetzung. Der verbreitete gegenwärtige Anti-Macht-Affekt ist nichts als die volle Bewußtwerdung des Anti-Nonn-Affektes. - Dieser wird nun aber wiederum getragen durch die Forderung nach der Humanisierung der Staatsgewalt, als könne sich die Humanisierung des Arbeitslebens, in welchem fast jeder täglich der Macht begegnet, nun in einer Vennenschlichung der Staatsrnacht und -welt als solcher vollenden. Hier schwingen allerallgemeinste und außerjuristische Bestrebungen mit, welche aber bereits rechtliche Anknüpfungspunkte gefunden haben, vom allgemeinen Antiautoritarismus bis zur konkreteren Emanzipation. Die allgemeine Entwicklung moderner Staatlichkeit zum Machtabbau wird durch diese Humanisierung mächtig getragen; und da sie ihre realen Grenzen an der Existenz des "notwendigen Staates" findet, kann sie nur in der Forderung nach dessen Vennenschlichung gipfeln - in Staats güte. - Demokratie als menschliche Staatsfonn - darin findet diese Staatlichkeit, in welcher Ausprägung auch immer sie auftritt, wohl ihre stärkste, am meisten überzeugende Legitimation. "Menschlich" ist sie ja gerade im Zentrum ihres sonst so unmenschlichen Staatsorganisationsrechts: in der Wahl, die den Menschen, mit seinem Willen und seinen Interessen, für die er Hilfe braucht, an die Macht heranführt. Was wäre die Wahl aus solcher Sicht anderes, als ein einziger großer Aufruf der Wähler an den gütigen Staat, ihnen mit seinen Geschenken in ihrer Lage zu helfen, so wie sie ihn mit ihrer Wahlentscheidung weitertragen? So wird das Wählen überall und zu jeder Zeit verstanden, nur dies bringt noch Menschen an die Urnen: die Hoffnung auf einen menschlichen Staat, dessen Herrschende sich verjagen lassen, wenn sie "abheben", sich von ihrer Basis allzu weit entfernen. All die heute so drängenden Forderungen nach verstärkter Bürgernähe kommen fast immer aus einem, wenn auch unausgesprochenen, weithin sogar unbewußten Grundgefühl heraus: daß bei ihrer Erfüllung mehr Wärme, mehr direkte Beziehung zwischen Staat und Bürger sein werde - worin? In Staatsgüte. So zeigt sich denn die Demokratie geradezu als eine Staatsfonn der Hoffnung auf den gütigen Staat. - Der humanitäre Internationalismus verstärkt all diese Grundstimmungen in letzter Zeit entscheidend, in einer Weise, welche dem extranonnativmoralisierenden Grundcharakter der allgemeinen Forderung nach dem gütigen Staat in besonderer Weise entspricht. Nirgends ist es bisher gelungen, wirksame völkerrechtliche Strukturen aufzubauen, welche die herkömmliche Zurückhaltung der Staatengemeinschaft gegenüber humanitären Interventionen hätten überwinden oder auch nur entscheidend abschwächen können. Gerade dort, wo wahrhaft unmenschliche Ausbrüche und Entwicklungen dies in besonderer Weise legitimiert hätten, wie
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in vielen Entwicklungsländern, wendet sich junge Staatlichkeit besonders entschlossen gegen Interventionen, ja gegen jede international-rechtliche Verpflichtung im Namen der "Inneren Angelegenheiten" der eigenen Staatlichkeit. Extremsituationen sind es im übrigen stets, in denen aber nicht der Ruf nach dem gütigen Staat ertönt, sondern allein die Forderung nach Beendigung von Unmenschlichkeiten im extremen Sinn des Wortes. Dennoch verstärkt all dies sicher eine Grundstimung, welche den Begriff der Menschlichkeit bereits im Vorfeld erweitert im Sinne einer gemäßigten Staatlichkeit, die Voraussetzungen schaffen soll für Menschlichkeit eines Staates, der menschenwürdiges Leben sichert. So fließen gedanklich Elemente einer Vermenschlichung der Staatsgewalt in den Begriff des Humanitären ein, der nun nicht mehr nur Genozid und Folter verbietet, sondern ein menschenwürdiges Leben in "gerechter Verteilung" sicherstellen soll - damit aber wird die geistige Brücke zum gütigen Staat geschlagen. - Noch enger wird diese Verbindung im Begriff international zu achtender, vielleicht sogar durchzusetzender "Menschenrechte". Dieser schillernde, nie definierte, letztlich unbestimmbare Begriff gewinnt seine international-politische Schubkraft aus einer Erweiterung der eben erwähnten Menschlichkeit und setzt deren Forderungen fort in Richtung auf eine Verfassungsordnung, in welcher ein auf Menschenrechte gegründeter Staat nicht mehr nur dem Verbot der Grausamkeit unterliegt, sondern institutionalisierte, verfassungsrechtlich gesicherte Menschlichkeit schaffen soll - ganz nah bereits den Vorstellungen eines sozialen Denkens, welches direkt zur Staats güte führt. Diese ganzen Entwicklungen zeigen einen staatsübergreifenden Zug zum Gegenstand dieser Betrachtungen, in ansatzweisen Institutionalisierungen oder Forderungen nach solchen, in einer wesentlichen und laufenden Verbindung außerrechtlicher und juristischer Überlegungen, wie sie allein, in der bereits beschriebenen extranormativen Sprengkraft, zur Staatsgüte führen können. Insgesamt laufen also alle diese moralischen, national-politischen und internationalen Tendenzen zusammen in Richtung auf das, was nie der ,,rein ordnende" Staat der kühlen, abgrenzenden Normen schaffen kann, sondern nur ein von sozialem Solidarismus durchwirktes Gemeinwesen. Gerade in einer Zeit des Niedergangs des sozialisierenden Internationalismus, in der Isolation von Sowjetregimen wie in der Öffnung westlicher Sozialismen zur Marktwirtschaft, entfaltet sich eine neue Form von humanisierendem Gemeinschaftsdenken, das zwar auf die kämpferisch-revolutionären, durch ökonomische Entwicklungen überholten Forderungen des klassischen Sozialismus verzichtet, dessen humanitäre Grundanliegen jedoch in ein neues soziales Denken übernehmen will.
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3. Vom sozialen Denken zum Sozialstaat
Ein großer geistiger Sprung von all diesen Grundstimmungen zu Institutionen eines modemen Sozialstaates kann nicht gelingen. Doch eine konkretisierende Entwicklung in Richtung auf rechtliche Institutionalisierung dessen, was im Namen der Menschlichkeit von einem "gütigen Staat" erwartet wird, ist allenthalben im Lauf in den entwickelnden Staatsordnungen. Die wichtigsten Stufen dieser Entwicklungen, die in unterschiedlicher Weise, oft verbunden oder in paralleler Entfaltung, erreicht werden, lassen sich wie folgt beschreiben, in einer "Verdichtung eines allgemeinen Staatsgefühls sozialer Solidarität": a) Sozial-demokratische Parteiprogramme
Die Wandlung der Parteiprogrammatik von sozialistischen zu sozialdemokratischen Parteien faßt all die eben beschriebenen grundsätzlichen Entwicklungen zusammen und strahlt auf andere, insbesondere christlich geprägte, Parteiprogrammatik aus. Der klassische Sozialismus war Ausdruck der Forderung nach einer Staatsgüte, wie sie dem Liberalismus, der kalten, oft rücksichtslosen Gründereffizienz fremd sein mußte. So mochte er sich nicht begnügen mit den nonnativen Sicherungen der Freiheit - die sozialdemokratischen Partei programme Deutschlands vor allem waren nicht nonnativ. sondern nahezu rein ökonomisch konzipiert: Wirtschaftsorganisationen sollten in den Dienst verteilender Staatsgüte gestellt werden. Staatsrnacht hatte keinen Platz in dieser Programmatik, die zwar den großen Verteilungsschlag forderte, sodann aber sich bewegen sollte zum Ideal des marxistischen Absterbens aller Staatsgewalt. Internationalisierende Menschlichkeit schließlich trug all diese sozialistischen Programme, in der Überzeugung, daß es nicht der harte Nationalstaat sein könne, welcher menschliche, gütige Gerechtigkeit hervorbringe, sondern allein die menschliche Solidarität der unterdrückten Klasse, die ihre eigene hilfsbereite Güte zum Grundgefühl einer neuen Gemeinschaft erhebt. Nichts anderes als eine letztlich gütige Gemeinschaft war also die Grundforderung dieses klassischen Sozialismus, mit ihr konnte er neofeudale Strukturen des liberalen Kapitalismus erschüttern, aus der Hoffnung heraus, daß dieser "moralisch bessere Staat" bald übergehen werde in eine von gegenseitiger Güte getragene menschliche Gemeinschaft. Die Wende zum Sozialdemokratismus in den letzten Jahrzehnten hat allenthalben versucht, diese Grundstimmung zu bewahren, selbst in immer stärkerer programmatischer Verrechtlichung, ihre Forderungen zu dynamisieren und zugleich in der Wänne einer menschlichen Nähe zu halten, sie eingängig werden zu lassen in der Übernahme des letzten oben erwähnten
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und beschriebenen, dem klassischen Sozialismus noch fehlenden Elements: jener Wahlen, in denen doch nichts anderes durchbrechen könne, als wiederum ein Streben nach menschlicher Wärme, nach unmittelbar aus den wählenden Menschen kommender Humanität. Dieser sozialdemokratischen Grundprogrammatik, vielleicht auch nur einer Grundstimmung, wie sie dort zum Ausdruck kommt, gehört die Zukunft als einer ersten, parteiprogrammatischen Annäherung an staatliche Institutionalisierungen, die es nun daraus zu entwickeln gilt. Und in diesem Sinn hat die soziale Demokratie Ende des Jahrtausends alle politischen Strömungen erfaßt.
b) Solidarität
All diese Bestrebungen brauchen den größeren Oberbegriff, der sie zusammenfaßt, zur Verallgemeinerung führt; sie haben ihn gefunden in dem Aufruf zur Solidarität. Dieses politische Kernwort der letzten Zeit zeigt bereits eine zugleich grundsätzliche und höchst allgemeine Annäherung an das, was hier als "Staatsgüte" behandelt wird - und es trägt noch weit über diese hinaus. Denn Solidarität fordert ja nicht nur den Staat des Helfens, sie verlangt Hilfsbereitschaft überall in der Gemeinschaft, in deren größeren Rahmen dann aber ein Staat eingebettet wird, der, wieder einmal, in der Gesellschaft weithin aufgeht - und doch deren Kernbereich bleibt: Denn dort, in seinen Institutionen gilt es, geradezu pionierhaft und zugleich ganz fest, Solidarität zu verwirklichen, in ihm wird sie zum Ausgangspunkt, zum Trägerbegriff für faßbare Institutionen. Diese Solidarität ist ein überzeugender Rechtfertigungsbegriff, wie ihn das entfeudalisierte, säkularisierte Recht braucht, in steigendem Maße. In ihm liegt die ganze Dynamik des moralisierendAußerrechtlichen, die grundSätzlich grenzenlose Forderung nach Veränderung, in einer ebenso vollständigen Unbestimmtheit, welche die Kraft zu immer neuen Forderungen in sich trägt. Vor allem aber ist diese Solidarität von einer ganz anderen politischen Sprengkraft als das Wort von der "sozialen Gerechtigkeit"; in ihm ist zwar der fordernde Anspruch mitgedacht, doch es führt nicht hinaus über die kühle Statik des Normativen, und auch nicht über die ewige Diskutabilität des Begriffs der Gerechtigkeit. Ein Miteinander aber verlangt die Kraft des Helfens, Bereitschaft auch zum Geschenk, sie ist der Anruf an die Güte. Er kann vor dem Staat nicht haltmachen, vor allem an ihn muß er sich richten, aus ihm wieder in die Gesellschaft zurückwirken. So liegt dennn in allem, was heute sich auf Solidarität beruft, nichts anderes als eine Forderung nach dem gütigen Staat.
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c) Schwächerenschutz
Aus der Solidarität der Bürger und der Solidaritätsorganisation ihres Staates heraus führt der nächste Schritt nur in eine Richtung: hin zum Schwächerenschutz. In dieser Forderung liegt wiederum die doppelte Kraft der dynamischen Zielvorstellung zum einen, der Legitimation aller erforderlichen Schritte zum anderen. Doch hier werden die Allgemeinheiten des Sozialismus und der aus ihm entfalteten Solidarität nun inhaltlich erfüllt, greifbar, erstmals der Institutionalisierung fahig. Eine solidaristische Verfassungsordnung, Rechtsprechung aus Solidarismus blieben leere Worte; schwächerenschützende Staatsgewalt läßt sich bestimmen und abgrenzen, Schwächerenschutz ist ein Verrechtlichungsbegriff. Von der Allgemeinheit der hinter ihm stehenden Begrifflichkeiten bleibt ihm die Einsatzfahigkeit in nahezu allen Bereichen des rechtlich geordneten Lebens der Gemeinschaft, Institutionalisierbarkeit überall. Da ist nun aber nicht mehr allein ein Miteinander in dem irgendwann, irgendwie die Stärkeren die Schwächeren tragen könnten, wie in früheren Feudalsystemen. Nun ist die Einbahnstraße des sozialen Denkens erreicht, nur immer vom Stärkeren zum Schwächeren ,führend, zu allererst vom Allerstärksten, dem Staat, zum kleineren Bürger. Schwächerenschutz ist bereits die volle, normativierbare Rechtsgrundlage des gütigen Staates, unbestimmt wie dieser Begriff, und doch jederzeit im Einzelfall bestimmbar. Wem Staatsgüte ein fremdes Wort ist, der muß spätestens hier begreifen, daß er solche Begriffsinhalte überall und ständig schon gebraucht, in Staatspolitik nicht nur, vor allem im staatlichen Recht. Darum aber geht es in diesem Kapitel: aufzuzeigen, daß heute bereits allenthalben normative Wege aus herkömmlicher Staatlichkeit heraus beschritten werden, hin zum helfenden Staat, der vor allem als solcher noch Gewalt sein darf. d) Sozialstaat: Grundsatz-Normativierung des sozialen Denkens
Im Sozialstaat erreicht das extranormativ entfaltete soziale Denken erstmals auf breiter Front und ganz grundsätzlich die Gesetze, an ihrer Spitze, in der Verfassung. Vergeblich wird sich stets um die Dogmatisierung dieses Verfassungsbegriffs bemühen, wer ihn nicht erkennt als eine große Institutionalisierung der vorstehend entwickelten Gedanken, als höhere Stufe ihrer Konkretisierung, welche diese aus den Einzelheiten mildtätigen Schwächerenschutzes hinaufhebt in die Staatsgrundsätzlichkeit. Inhaltlich ist dies eine immer noch weitere Verallgemeinerung, rechtlich bereits eine Errungenschaft der Konkretisierung, mag auch noch so vieles weiter zu konkretisieren bleiben. Hier wird die Staatsgüte als solche normförmig. Auf normativen Wegen kann sie nun ausstrahlen in jene Staatsorganisation hinein, die zu allererst
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aufgerufen ist, den Sozialstaat zu verwirklichen. Das wesentlich Extranormative, Gemeinschaftliche der Solidarität schließt sich zu einer Staatsgewaltigkeit zusammen, in der Verfassungserlaubnis eines großen Machteinsatzes zur Güte. Traditionelle Verfassungsdogmatik des Liberalismus sieht darin nur etwas wie ein milderndes Beiwort, das die Strenge normative Staatlichkeit erträglich soll erscheinen lassen. Nicht anders wird es von vielen Politikern, vor allem aber von der neoliberalen Volkswirtschaftspolitik verstanden, letztlich als Grenzkorrektur einer freien Wettbewerbswirtschaft. Und doch ist hier weit mehr angelegt, für Ökonomie und Staatlichkeit, und es wird ständig auch eingefordert: Global-Normativierung eines sozialen Denkens, das einen "ganz anderen Staat" letztlich heraufführen soll, den gütigen. Vom sozialen Denken zum Sozialstaat - das zeigt, welche staats grundsätzliche Dimensionen sich öffnen im Begriff der Staats güte.
4. Staatsmoral, Politikmoralisierung, Rechtskultur
Doch der Problemaufriß zu den folgenden Betrachtungen muß diese Dimensionen noch erweitern, ist einmal erkannt, daß es hier um weit mehr geht als um Almosenbitten vor Klostertoren: Die Forderung nach dem gütigen Staat, welche sich in all den bisher beschriebenen Phänomenen ins Unterbewußtsein der Bürger gedrängt hat, macht Front gegen den "kalten Normativismus", wider eine Politik, die gerade in der Demokratie von ihm und seinen perfektionierten Mechanismen geprägt ist. Menschlichkeit und soziales Denken als Kräfte zum Helfen und Schenken erstarren rasch in der Organisationskälte der Staatlichkeit, sie durchwirken diese weniger, als sie vielmehr von ihr mechanisiert werden. Der Staatsapparat, der Staat als solcher, muß daher geprägt werden - durch einen neuen "gütigen Zug", in einem neuen Grundgefühl demokratischer Politik. Ein gütiger Staat des Miteinander wird also, so scheint es doch, nur Wirklichkeit werden, wo moralische Kategorien den Staat nicht nur erreichen, sondern sich in einer typischen Staatsmoral in ihm und aus ihm entfalten. Der Staat kann nicht allein von außen, in solidaristischen Stößen, "aufgebrochen" werden; in ihm und für ihn muß eine besondere Staatsmoral geschaffen werden, strenger und zugleich gütiger, in allem aber ein Vorbild für die Moral der Bürger. Wirklichkeit werden kann dies nur in einem Zusammenklang von Staatsmoral, Politikmoralisierung, und, letztlich, in einer wahren Rechtskultur. Mit solchen Schritten werden sich auch die folgenden Betrachtungen dem großen Problem der Staatsgüte nähern müssen. Hier gilt es dann, die Konkretisierungen sozialisierender Menschlichkeit, bis hin zur Sozialstaat-
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lichkeit, im Zusammenhang zu sehen mit den Forderungen nach einem ganz allgemeinen nicht mehr nur Staats gefühl, sondern Politikgefühl des Förderns und Helfens. Dieses mag sich zu normativen Formen steigern; doch das Gesetz wird dann immer mehr ein Instrument zur Verwirklichung der Staatsziele, zuallererst des höchsten unter ihnen: der Staatsgüte. Eine große allgemeinere Entwicklung wird darin sichtbar, vom Gesetz hin zu den Staatszielen, welche in Staatsgrundsatznormen ihren Ausdruck finden. In dieser normativen Höhe ist bereits etwas wie Extranormativität erreicht; der menschlich nahe Förderungsstaat überwindet mit seinen Gesetzen die kalte Normativität des Gesetzesstaates als Selbstzweck. Darin wird dann - wieder eine geistige Annäherung, die heute viele nachvollziehen können - Staat und Gesellschaft doch eins, weil der Staat nur mehr der gütige Förderer und Helfer der Bürgergemeinschaft ist. Wirklichkeit wird sogar, in ihrem Kern, die marxistische Überbaulehre: In rein helfender Instrumentalität folgen die Gesetze den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedürfnissen einer Bürgerschaft, die Hilfe braucht und will, nicht Ordnungen, deren Kräfte und Strenge. Die Staatsgüte hat unter ihren geistigen Ahnen eben auch diese Überbaulehre, in welcher das Recht den Bedürfnissen folgt, und nicht umgekehrt. Darin findet denn auch soziales Denken zu unverlierbarem sozialistischen Erbe zurück. "Staatsmoral" - das hatte in einer feudalisierten, ja sogar in der liberalisierten Vergangenheit immer einen Beigeschmack von Ordnungs- und Gewaltlegitimation, von höherem Recht des Staates gegenüber seinen Bürgern. Wer heute Moralisierung der Politik fordert, setzt sich ein anderes Ziel - und doch will er in demokratischer Weise den Begriff der Staats moral neu erfüllen: Nun hört Ordnung als Selbstzweck auf, der Staat ist nicht Person, sondern Hilfsagentur, die Gesetze stehen nicht mehr auf kalten erzenen Tafeln, sondern auf Papier, das Wärme verbreitet, erst recht wenn es verbrennt. Moral kennt nicht die Institution, sondern die Menschen, welche sie demokratisch tragen. Deshalb ist auch der Begriff der Staatsmoral dogmatisch tot, es lebt die Politikmoralisierung; ihr großer Konsensinhalt ist es, daß sie zum Parteienstaat führen soll, der Gutes tut, nicht nur Interessen verfolgt - wenn es derartiges je geben kann. Führen soll die Demokratie damit schließlich zu einer Rechtskultur, in welcher fördernde Pflege durch den Staat etwas wie ein Rechtsparadies auf Erden entstehen läßt, in dem unter den Händen des gütigen Gärtners alles gedeiht.
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III. Staatsgüte - eine große Antithese zum bisherigen Staat und seinem Recht Der Gegenstand dieser Betrachtungen ist, das haben seine Dimensionen erkennen lassen, mehr als eine neuartige These: Hier entfaltet sich eine ganz große Antithese zu all dem, was bisher den Staat getragen hat und sein Recht. Vielleicht deutet sich darin etwas an wie das Ende des Staates in seinen bisherigen Formen, vor allem aber in seiner herkömmlichen Legitimation. 1. Tod des alten Staates?
Die folgenden Betrachtungen muß eine Frage stets begleiten: Verdient ein Organismus, den man den "gütigen Staat" nennen darf, überhaupt noch die Bezeichnung "Staat"? Geht hier nicht vieles vorüber, was den Begriffsinhalt jeder Staatlichkeit, wie sie seit dem Absolutismus verstanden worden ist, immer geprägt hat? - Wenn diese neue "gütige Macht" sich wesentlich legitimiert, oder doch zugleich, aus Außerrechtlichem, vor allem aus moralischen Vorstellungen, wenn das Gesetz aus der Majestät des höchsten Gleichheitssatzes zurückfällt in reine Instrumentalität, geht dann in diesem Einbruch des Extranormativen ins Recht, in der Verbindung, welche es mit der Gesetzestechnik eingeht, nicht gerade das Wesen jener Abstraktion verloren, welche bisher den Staat als höchste Fiktion des Rechts konstituiert hatte? Von kelsenianischer Erkenntnis ist doch, in der herkömmlichen Rechtsdogmatik, immer eines geblieben: daß der Staat, mit seiner Welt des Rechts, zwar "wesentlich offen ist" für alle auch nur einigermaßen systematisierbaren Inhalte von Politik und Ethik, Ökonomie und Soziologie, daß er nicht durch sie, sondern durch die Sollensordnung seiner Gesetze bestimmt wird. Wenn er nun aber wesentlich geprägt sein soll durch Vorstellungen von einem Staats-Guten, in welchem extranormative Moral einbricht ins Recht, wenn dieses zur Magd helfender Güte wird, so ist dies nicht mehr der für alle Machtträgerschaft offene bisherige Staat der rechtlichen Souveränität, sondern ein neues, großes Dienst-und Hilfeleistungsunternehmen. Verloren ist dann die "große Freiheit der Macht der wechselnden Inhalte", welche bisher das Wesen des Staates ausmachte oder sollte er gerade in solchem Geben und Fördern neuartige, entscheidende Kräfte wiedergewinnen? Jedenfalls ist dies ein neuer Staat. - Bisher stand der Staat als abstrakte Organisation wesentlich über allen konkreten Menschen. Gerade darin war er der unangreifbare Machtträger, an welchem ihr Machtneid abprallte. Dieser entpersönlichte Staat hatte überhaupt nur Sinn als ein zugleich entmenschlichter Machtträger - darf er nun wirklich "gut" sein, richten sich auf ihn dann nicht sogleich die
III. Staatsgüte - Antithese zum bisherigen Staat und seinem Recht
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neidigen Augen aller anderen Arbeiter in seinem Weinberg? Kann überhaupt noch eine abstrakte Person sein, was von konkret-menschlicher Güte getragen, geprägt, legitimiert wird? Hier geht es nicht mehr nur darum, daß dies dann keine Organisation mehr sein wird, die "auch anders kann" - "alles in allem". Mehr geht ihr, als einem "gütigen Staat", verloren als diese alte Allmacht der Staatlichkeit: Sie beugt sich zur Menschlichkeit herab, wird darin aber zu dieser zugleich gebeugt, erniedrigt, verkleinert. Sie verliert nicht nur die normative Majestät der Gesetze, sondern die Höhe der Abstraktion, auf welcher es im letzten Menschliches nicht geben darf. Hat dies noch etwas mit jenem Staat zu tun, der sich sogar über die höchsten Persönlichkeiten der Fürsten erheben, diese in seiner Abstraktion überhöhen wollte? - Der herkömmliche Staat als Machtträger ruhte, gleichgewichtig vielleicht, auf den beiden Säulen des Machtwillens und der Erkenntnis als Macht. In dieser gewollten, unausscheidbaren Gemengelage gewann der Staat als Orgailisation sogar Willenskraft aus perfekter Rationalität. Es war, und ist noch immer, als lasse sich gerade bei ihm das alte Wort auch umkehren - in ein stat pro voluntate ratio: Willensträger können hinter den Staat zurücktreten, hinter diese große Maschine rationaler Erkenntnis. Ausgeblendet aber blieb bisher stets die dritte menschliche Kraft: Jenes Gefühl, das vielleicht nicht allen Willen mitträgt, ihn jedoch dann entscheidend prägt, wenn er sich helfend verströmt. Gerade darum aber geht es in einem Staat der Güte: Seine eigentliche Macht findet er nicht mehr im reinen Wollen, noch weniger in reinem Erkennen, das ihm vielleicht einen ganz anderen Machteinsatz nahelegt. Nun bricht in Geben und Helfen Gefühlsgetragenes ein in die kühle Organisationswelt herkömmlicher Staatlichkeit; die Rede von der Solidarität beweist es, dies ist ein Gefühlswort. Sind das aber nicht ganz andere Staatskräfte, wird das nicht schon deshalb ein anderer Staat? - Der Staat der Tradition hat sich immer definiert und legitimiert aus seiner Durchsetzungskraft als Organisation des letzten Wortes und des Gewaltmonopols. Was er mit all dem beginnen wollte, war nie Definitionselement dieser par excellence ungerichteten Organisation. Staat war und ist ein Wort für letzte, höchste Kraft - kann dies noch wahr bleiben, wenn er sich aus Güte legitimiert? Macht gegen Güte - sind dies nicht zwei Staatsbegriffe, wenn einer nicht nur den anderen verschleiern soll? Ende des Militärstaates im Sozialstaat, Ende der äußeren Weltmacht in der inneren, der sozialen Allgegenwart - ist da nicht überall eine metabasis eis allo gen os, zu einem anderen Staat? Die Betrachtungen könnten sich hier wirklich nähern nicht nur einem neuen Recht - von der Lex Caesaris zur Lex Charitatis - sondern einem anderen Staat, im Ende einer ganzen Rechtskultur.
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A. Die Fragestellung: ein Paradox
Gedanken über Recht und Staat hinaus drängen sich hier schon auf am Anfang der Betrachtungen, bis in die Transzendenz hinein. In den "Dämonen" läßt Dostojewsky einen der Revolutionäre im visionären Rausch ein furchtbares Bild entwerfen: Gerade wenn Gott tot sei und sein ganzes Jenseits, so müßten sich die Menschen auf Erden umarmen, in einer neuen, total kommunisierten und kommunizierenden Brüderlichkeit. Wenn dieser alte Gott nun wirklich mit den alten Religionen sterben sollte, wird dann mit ihm nicht auch der frühere Gott auf Erden, der Staat, endgültig und ohne Auferstehung gekreuzigt, stirbt dann nicht für immer der Staat der Macht am Kreuz - um als ein gütiger, aber ein "ganz anderer" Staat aufzuerstehen?
2. Rechtliche Faßbarkeit der totalen Staatswandlung zum "gütigen Staat"? Doch aus solchen Höhen muß der steinige Weg zurückgegangen werden in die Niederungen des Rechts und seiner Dogmatik. Läßt sich diese wahrhaft totale Staatswandlung zum gütigen Staat nicht doch wenigstens in Formen, mit Instrumenten des Rechts erfassen, wenn ihm schon die herkömmliche Selbstgewichtigkeit einer Organisation der Machtträgerschaft nicht mehr zukommen soll, oder kann das Recht dies sogar institutionalisieren? Für herkömmliche Rechtsdogmatik scheint dieses Problem kaum lösbar. Hier treffen doch zwei Welten aufeinander: Der rechtliche Imperativ "Du sollst" mag sich noch wandeln zu einem freiheitlichen "Du darfst", dies sind und bleiben Abgrenzungen, der rechtlichen Erfassung zugänglich. Doch eine ganz andere Wandlung liegt im Übergang von einem "Dir wird befohlen" zum neuen "Dir wird geholfen". Soll auch dieser Übergang noch unter Einsatz juristischer Kategorien versucht werden, so muß sich das Staats-Recht ganz weit öffnen, weiter als es bisher alle Offenheits-Dogmatiker fordern: In breitester Induktion müssen alle Klein- und Kleinst-Entwicklungen aufgenommen und in die Staatlichkeit hinein potenziert werden, in welchen etwas wie wohlwollende Güte bereits heute im Staat lebendig ist. Und zugleich gilt es, den neuen, deduktiven Halt für diesen gütigen Staat zu schaffen, in Staatsgrundsatznormen, über welche auch die ganze Kraft eines neuen Staatsgefühls ins Recht einbrechen kann. In einer eigentümlichen Verbindung von hartem Einzel-Normativismus, etwa den Umverteilungsmechanismen, und einer viel weiteren virtuellen Grundsätzlichkeit könnte dann etwas wachsen wie ein neues Recht der Staatsgüte - wenn dahinter nicht nur etwas ganz anderes steht: verschleierte, verkleidete, immer noch gefahrlichere Macht. So verbindet sich hier eine wahrhaft erregende rechtsdogmatische Fragestellung mit einer dramatischen politischen Problematik: Führt die Forde-
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rung nach dem gütigen Staat in eine neue Staatlichkeit hinein, oder aus Recht und Staat hinaus?
IV. Aufbau der Untersuchung In den folgenden Hauptteilen soll zunächst all jenen allgemeineren Tendenzen nachgegangen werden, wie sie hier nur angedeutet wurden, um die Dimension aufzuzeigen, all jenen Kräften, mit denen staats grundsätzlich heute schon die Organisation Staat in Richtung auf eine neue Güte sich bewegt. Sodann ist am Beispiel wichtiger, bereits wirksamer Einzelinstitutionen zu zeigen, welche konkreten Stützpunkte der Bau einer größeren Dogmatik des gütigen Staates gegenwärtig bereits finden könnte. Doch dann muß die Gegenposition markiert werden, nicht nur aus der traditionellen, sondern gerade aus der aktuellen und gegenwärtigen Staatslehre heraus: Kann die Demokratie der Freiheit und Gleichheit wirklich etwas anerkennen, rezipieren, vielleicht gar nur "kennen", wie eine Ordnung aus Güte, aus Hilfe und Geschenken des Staates? Auch hier wieder müssen Einzelinstitutionen des geltenden Rechts die Probe aufs Exempel gestatten. Was in diesem letzteren Hauptteil bereits angelegt ist, soll schließlich in einem Ausblick erweitert werden: Suche nach Antworten auf die Frage, ob Staatsgüte mehr sein kann als ein neues Gewand für alte Macht, in der diese nur zu stärkeren, vielleicht furchtbaren neuen Formen findet, jedenfalls aber der Machtstaat eine bescheiden-grandiose Auferstehung erfährt.
B. Grundsätzliche Wege und allgemeine Kräfte zum "gütigen Staat" I. Der Begriff der "Staatsgüte" Der Staat mag sich zur Hilfsorganisation für Schwächere wandeln, die Beamten mögen sich wohlwollend verhalten, den Einzelfall in seiner Bedürfnislage "menschlich" entscheiden, in Fortbildung der Normen oder über diese hinweg - doch was ist das Wesen einer "Staatsgüte" , welche in alldem, vielleicht überall im Öffentlichen Bereich, wirken soll? Der Ausgangspunkt zu einer solchen, auch nur annähernden, Begriffsbestimmung, kann nur im zivilistischen Denken der Austausch-Gerechtigkeit gefunden werden: Wo sie herrscht und vom Staat geordnet wird, setzt begrifflich jene Güte nicht ein, welche stets irgendwo über aller Gegenseitigkeit steht. Geschenk ist das Unverdiente, wenn auch vielleicht noch zu Verdienende. Und im Bereich der Sozialleistungen müht sich so etwa die Rechtsprechung, wenn auch ohne überzeugenden Erfolg, den durch eigene Leistung verdienten Anteil vom dem zu unterscheiden, welcher nichts ist als Staatsgeschenk. 1. Staatsgüte zwischen Staatskredit und Staatsgeschenk
Dieser Begriff des Geschenks mag insoweit als zu eng erscheinen, als er nicht die Anreizfunktion mit umfaßt, die heute aber entscheidend ist für die meisten Formen der Staatsförderung. Weithin legitimiert sich diese als das "erst noch zu verdienende Geschenk", als eine rückzahlbare Hilfe, in welcher Form auch immer diese Rückgewähr erfolgt. Insoweit ist Staatshilfe dann eben doch noch, wenn auch in einem weiteren Sinne, Ausdruck nicht einer verteilenden, zuteilenden, sondern einer echten Austausch-Gerechtigkeit, als die Gegenleistung später von dem durch Hilfe gekräftigten Zuwendungsempfänger erbracht wird. Hier zeigt sich, daß ein Kernbegriff heutiger, nicht nur ökonomischer Realität im herkömmlichen Schema der Verteilungs- oder AustauschGerechtigkeit nicht hinreichend berücksichtigt ist: der Kredit, die vorgezogene Leistung bei erwarteter Gegenleistung. Dies nimmt nicht Wunder, kommt doch die Staatsphilosophie der bei den "Gerechtigkeiten" aus einem Denken, welchem Kredit und Zinsen unbekannt waren oder gar verboten erschienen, wo sie jedenfalls nicht im Mittelpunkt standen. Heute aber
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begibt sich der Staat immer mehr in die Rolle des großen Kreditgebers, der sich darin oft vom großen Schenkenden unterscheiden will, daß ihm vom geförderten Bürger die Gegenleistung des sozialen Verhaltens oder gar der wirtschaftlichen und damit auch kassenfüllenden Leistung zurückkommen wird - doch eben wann und wie? So liegt denn über dem gütigen Staat der Förderung und der Hilfen ein großes Zwielicht: zwischen einer oft nur mehr verdämmernden Hoffnung auf Rückgewähr - und von Anfang an verlorenen, nie mehr zurückgeführten Leistungen. Die erste grundsätzliche Legitimation aller Staatshilfen findet sich in diesem Begriff des Staatskredits; er ist nicht nur nachvollziehbar, sondern voll systemkonform in einer Marktwirtschaft, welche ja stets aus der Risikobereitschaft eines Kreditgebers leben muß, der eben auf den guten Schuldner hofft - so wie der gütige Staat auf den guten Bürger. Und doch ist der gütige Staat - dies eben ist seine moralische Kraft weit mehr als ein verständnisvoller Bankier, ein risikobereiter Kreditgeber. Die Kraft dieser Begrifflichkeit liegt gerade in den fließenden Übergängen von der ökonomisch-rationalen, voll nachvollziehbaren Gewährung von Staatskrediten, wie sie auch jede private Bank gewähren würde, hin zu Staatsleistungen, die sich immer weniger, am Ende gar nicht mehr durch Hoffnung auf Rückgewähr legitimieren. Der Staat als politisches Rückversicherungs-Unternehmen für Risikokredite und als Helfer in Drogennot, in der vagen Hoffnung auf Resozialisierung - dies sind nur Punkte eines nahezu bruchlosen Spektrums, in welchem sich die Staatsleistungen bewegen zwischen berechnender Kreditierung und selbstloser, verlorener Hilfe. Gerade diese Übergänge gilt es zu beachten, und die genihrlichen Untiefen auszuloten, in welchen die eine Legitimation, die der ökonomischen Rationalität des sinnvollen Kredits, eingesetzt werden kann für die nurmehr moralisch zu legitimierende menschliche Hilfe - und umgekehrt: wenn nämlich der Staat als der gute, menschliche Kreditgeber auftritt, jenseits von aller Profitgier privatwirtschaftlichen Denkens. Man könnte den folgenden Betrachtungen den Vorwurf machen, sie unterschieden nicht durchgehend zwischen diesen bei den Grundlegitimationen möglicher Staatsgüte - doch gerade dies ist in der heutigen wirtschaftlichen und politischen Wirklichkeit unmöglich, weil eine Gesamt-Verunklarung der Unterscheidung von Kredit und reinem Helfen bereits einen großen Teil der staatlichen Aktivitäten trägt und geradezu legitimiert. Insoweit muß diese Staatsgüte als ein nur zu oft bewußt verunklarender Begriff hingenommen, als solcher aber immer wieder in diesen seinen nun allerdings bewußt gewordenen Facetten betrachtet werden. Unabhängig von diesen bei den Endpunkten des weiten Spektrums einer ,,staatsgüte" ist von vorneherein davon auszugehen, daß jeder Versuch einer 3 Leisner
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B. Grundsätzliche Wege und allgemeine Kräfte zum "gütigen Staat"
rechtlichen Erfassung des Begriffs auf ein Konglomerat von Elementen stößt, die in meist unklaren Synkretismen zusammengefaßt werden, aus denen im folgenden aber doch einzelne isoliert und akzentmäßig unterschieden herausgegriffen werden können. Dabei gilt es jedoch, den Begriff des Staatsgeschenks nicht von vorneherein materialistisch zu verengen. Gewiß wird man hier stets zuallererst an das ökonomisch wirksame, das monetarisierte Staatsgeschenk denken, immer mehr in einer zunehmend materialisierten Zeit. Doch nicht unwichtig ist bereits die Art von dessen Gewährung, sie kann auch hoheitlich erfolgen, und dieses "Hoheits geschenk" muß ebenso in die Betrachtungen einbezogen werden wie jene Hilfe, welche der immer stärker privatisierte Staat dem Bürger ohne hoheitliche Gewalt erbringt oder durch Dritte erbringen läßt. Deren Einsatz ist für die folgende Problematik nicht begrifflich entscheidend, ist doch der gesamte Bereich der Staatsgüte geprägt von einem Synkretismus, um nicht zu sagen einer Unausscheidbarkeit, einer Überwindung der Unterschiede zwischen tatsächlicher und hoheitlicher Leistung. Wie der tatsächliche Eingriff in Grundrechte heute zurecht dem hoheitlichen immer mehr gleichgestellt wird, so muß dies auch bei der Staatsgüte zu Betrachtungen führen, welche faktische und rechtliche Gewährung ebenso einbeziehen wie geldwerte und "ideelle" Leistungen. In diesem Sinne wird im folgenden der Oberbegriff der "Staatshilfe" gebraucht. 2. Der Kern der Staatshilfe: Bedürfnisbefriedigung
"Güte" wird, in welchem Sinn immer der Begriff gebraucht werden mag, stets nicht nur in erster Linie, sondern allein dem gewährt, der eine Gabe braucht, und dieser Bedürfnisbegriff ist christlicher Charitas und jenem Marxismus gemeinsam, der ,jedem nach seinen Bedürfnissen" geben will, nur daß er dies zum Rechtsprinzip erhebt, daraus sogleich Ansprüche ableitet. Dieser Bedürfnisbegriff ist seinem Wesen nach ein weiter, er prägt in seinem Sinn eine wie immer zu fassende Staatsgüte. Nicht materielle Bedürfnisse allein gilt es hier zu befriedigen, auch nicht nur präzise, rechtlich anerkannte und damit verfestigte ideelle Interessen, sondern, in einer darüber hinaus gehenden Erweiterung, auch so allgemeine Bedürfnisse wie die nach "menschlicher Nähe", oder der Gewährung von Chancen zur Entfaltung einer Persönlichkeit in allen Bereichen. Wesentlich ist dabei immer, daß diese Bedürfnisse weder normativ definiert sein, noch gar ihre Entstehung rechtlicher Regelung verdanken müssen. Der Bedürfnisbegriff als solcher ist, seinem Wesen nach, ein über die Normen hinausgreifender, "tatsächlicher", den das Recht allenfalls rezipiert und abbildet. Die Entstehung der Bedürfnisse, um deren Befriedigung
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es hier geht, ist in aller Regel eine extranonnative, der Begriff selbst ein echter Rezeptionsbegriff. Dies führt denn auch zu einer rechtlich bedeutsamen Konsequenz: Bei jener Bedürfnisbefriedigung, auf welche Staatsgüte jedenfalls sich richten muß, kann es nicht nur um berechtigte Bedürfnisse gehen, auch unberechtigtes, ja schuldhaftes Verhalten führt zum Bedürfnis, das in seiner Befriedigung durch Staatsgüte gewissennaßen durch höhere Nonnativität überdeckt und zum berechtigten Bedürfnis wird. Bedürfnis - das ist also eine Lage, in welcher selbst, ja vor allem, das Unberechtigte zu einem Ausgangspunkt rechtlicher und staatsgetragener Aktionen wird, aber nicht in Strafe, sondern in Hilfe, also im positiven, rechtlich legitimierenden Sinn, der über den Gegensatz ,,rechtmäßig - rechtswidrig" hinwegführt. Die Bedeutung dieser Erkenntnis für das Wesen einer Staatsgüte läßt sich kaum überschätzen: In ihr wirkt wirklich eine nonnative Kraft des Faktischen, aus der Tatsächlichkeit entsteht das Recht der wenigstens staatsorganisatorisch erlaubten, wenn nicht geschuldeten Staatshilfe.
3. Staatsgüte als EingritTsverbot: Achtung der Freiheit zur Selbsthilfe Der gütige Staat steht nicht nur unter einem besonderen Gebot des "suum cuique tribuere", wobei hier das jeweilige "Seine" aus der vorstehend dargestellten Bedürfnislage bestimmt wird; er muß auch, zuallererst vielleicht, das "neminem laedere" beachten: "Der gütige Staat tut keinem Bürger weh". Dies bedeutet, dogmatisch gewendet, eine jedenfalls zu achtende Eingriffsschranke, die sich wiederum an den erwähnten "Bedürfnissen" ausrichtet und im wesentlichen aus zwei Komponenten zu bestimmen ist: Da ist zunächst die jeweilige "Forderungslage" des Bedürftigen, dessen Notwendigkeiten sich schon zu Ansprüchen verdichtet haben, in welche der Staat nicht eingreifen darf. Und hier hat allerdings bereits eine Verrechtlichung stattgefunden, welche derartige staatliche Zurückhaltung nicht mehr als Ausdruck des Wohlwollens, sondern als Achtung vor bestehendem Recht erscheinen läßt. Dennoch setzt sich in diesem letzteren fort, was der Staat in Güte, etwa an Sozialleistungen, zugesagt hat. Hier erhebt sich die Problematik der Entziehbarkeit zugesagter Staatsgeschenke; es kann nicht mehr lange dauern, bis ein sozialstaatlicher Zug auch sie gegen staatlichen Entzug absichert. Doch über diese Forderungslage reicht die von der eingreifenden Staatsgewalt stets zu achtende Bedürfnislage weit hinaus, sie verbietet auch den Zugriff auf die Autonomielage des Bedürftigen ganz allgemein. Sie ist es
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ja, vom Bürger bis zur Kommune, aus welcher heraus der Bedürftige selbst, primär, seinen Bedürfnissen gerecht werden soll, damit Staatshilfen nichts anderes mehr seien als Hilfen zur Selbsthilfe. Die Achtung solcher Selbsthilfe-Freiheiten ist also nichts als die freiheitliche Fortsetzung einer Hilfen verteilenden Staatlichkeit; und hier scheint sogar der vielbeschworene Gegensatz zwischen status negativus und status positivus, zwischen den Freiheiten als Abwehr- und als Forderungsrechten, überwunden: Der gebende, Bedürfnisse befriedigende Staat muß zuallererst die Freiheiten des Bedürftigen achten, die diesen zu einer Selbsthilfe befähigen, in deren Namen sich dann der helfende Staat zurückziehen kann. Dieses ganze, komplexe Zusammenspiel von Hilfsforderung und Freiheitsachtung ist dogmatisch noch längst nicht bewältigt. Im vorliegenden Zusammenhang ist lediglich darauf hinzuweisen, daß sich die Staatsgüte des Gebens auch bewähren muß in der Achtung der Freiheit des Nehmenden, und daß auch diese wiederum aus der Bedürfnislage des letzteren heraus zu bestimmen ist. So kommt es hier zu einer eigenartigen "Freiheit nach Bedürfnis", die ersichtlich von ganz anderer Art ist als die vorstaatlich-grundrechtsgesicherte Freiheit der Menschenrechte: Hier sind es vielmehr soziale Bedürfnisse, die erstmals Freiheiten verleihen zur Selbsthilfe, und wie die Bedürfnisbefriedigung Ausdruck der Staatsgüte ist, so muß dies auch für die Achtung vor diesen sozialen Selbsthilfe-Freiheiten zutreffen. Güte als Achtung der Freiheit anderer - dies ist gewiß eine ungewohnte Begrifflichkeit; Zumutbarkeit versteht gegenwärtige Dogmatik vielmehr als eine letzte, absolute Rechts-Schranke. Und doch muß darüber nachgedacht werden, ob nicht auch die Achtung grundrechtlicher Mindeststandards Aufgabe eines gütigen Staates sein kann, eben weil sie auf die Befriedigung jener Bedürfnisse gerichtet sind, welche Gegenstand aller Staatsgüte sind. Und dann öffnen sich diese vom Staat zu achtenden Mindest-Autonomien zur Selbsthilfe voll jener extranormativen Wirklichkeit, aus welcher jede humane Bedürfnislage sinnerfüllt werden muß. Wer in der Achtung von Selbsthilfe-Autonomien den Ausdruck staatlicher Hilfe sieht, muß sich gewiß auch der Frage stellen, ob Staatsgüte wirklich nur Schwächeren zuteil werden darf, ob es nicht auch etwas gibt wie eine solche "Güte zum Stärkerwerden"; gerade dies liegt ja im Begriff dieser Selbsthilfe. Das ist sicher eine bedeutende Legitimation für den helfenden, modemen Staat, der darin über das reine Erbarmen gegenüber hilflosen Armen hinauswächst: daß jede Hilfe sich begrifflich nicht mehr auf Schwächerbleiben, sondern auf Stärkerwerden richtet; und darin wächst sie dann über das reine, gegenleistungslose Staatsgeschenk hinaus. Doch weil eben diese Möglichkeit erfolgreicher Selbsthilfe so unsicher ist wie die Rückzahlung der staatskreditierten Geschenke im allgemeinen, bleibt letztlich doch der extraökonomische Grundzug des Staatsgeschenks erhalten.
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4. Staatsgeschenk ohne Bitten Aller Güte ist es eigen, und auch der des Staates, daß sie nicht nur auf Bitte gewährt wird; Güte auf Antrag ist eine Degenerationserscheinung, der sich allerdings der Staat, aus dem Wesen seiner Organisation heraus, immer wieder schuldig machen muß. Doch es bleibt, jenseits dieses "Verfahrens der Hilfe", Grundaufgabe eines gütigen Staates, wenn es ihn denn gibt, selbst jene Bedürfnisse aufzusuchen, in denen sich verschämte Armut verbirgt: Staatsgüte ist grundsätzlich von Amts wegen zu gewähren, ihr Gegenstand bleibt stets aufzusuchen. Wesentliche Aufgabe des Staates ist es nicht nur zu helfen, sondern Hilfsbedürftige zu finden, gerade darin bestätigt er sich. Der Hoheitsstaat ist wesentlich Macht, die dem Bürger entgegentritt; doch darin liegt etwas vom Wesen des Staates als solchem: Er kommt immer zu den Menschen, er wartet nicht nur auf sie, auch nicht in seiner Staatsgüte; und Güte wartet nicht ab. Die Person agiert, sie reagiert nicht nur, sie entfaltet sich. Wenn der Staat Person sein will, nicht nur rechtsfiktive Persönlichkeit, so ist er eine "Institution des ersten Schrittes", das ist der tiefere Sinn des "von Amts wegen". Dies verleiht den sozialen Veranstaltungen des Staates jene ständige Dynamik, die den gütigen zum unermüdlichen Staat werden läßt, zum nie unbeschäftigten, an dem ja auch kein Interesse mehr bestehen würde. Das Bürgerinteresse am Ordnen mag ständig abnehmen, zum Geld des Staates drängt alles, zu seinen Geschenken, vor allem wenn er sie verteilt ohne ausdrückliche Bitte. 5. Der Blick auf den Einzelfall Güte denkt nicht an Gleichheit, Folgeüberlegungen zur Egalität stellt sie nicht an. Sie wird jenem Nächsten gewährt, der gerade am Wege begegnet; ihm wird geholfen, und wenn es noch so viele andere gibt, denen nicht geholfen werden kann, vielleicht gerade wegen dieser einen Hilfe. Darin ist alle Güte wenn nicht gleichheitsfeindlich, so jedenfalls gleichheitsblind. Dies gilt auch für den gütigen Staat, wo immer er auftreten will. Auch er muß die nächste Gelegenheit zur Hilfe stets ergreifen, ihr unbedingte Priorität geben. Das klassische Bedenken, "wohin denn das führe", ist bereits Ausdruck eines typischen Gleichheits-, eines Rechtsdenkens der die Güte verwaltenden Administration, nicht mehr des in großer politischer Geste schenkenden Staates. Staatsgüte kann nur Bedürfnisse befriedigen in der Reihenfolge ihres jeweiligen Auftretens, denn wesentlich begibt sie sich ganz in diese Bedürfnislagen hinein, handelt aus ihnen heraus, in der psychologischen Totalität des Helfenwollens.
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Dogmatisch bedeutet dies den wesentlichen Blick aller Staatsgüte auf den Einzelfall, dessen Besonderheit immer vorgeht, und hier gerade durchbricht die Staatsgüte allen Normativismus im letzten. Sie muß eine EinzelfallReserve bereitstellen, etwas wie einen überall vorgesehenen "außerordentlichen Haushalt", aus dem heraus "unbürokratisch" geholfen werden kann. Der gütige Staat wird, wenn es ihn gibt, in allem und jedem einzelfallorientiert handeln, mehr noch: Er muß für den Einzelfall da sein, in seiner Hilfe zum Einzelfall-Staat werden, der darin alle Gleichheitsstaatlichkeit überhöht; was immer in seinem Namen geschieht, muß diese Einzelfall-Offenheit aufweisen und sich bewahren. Nun steht sicher hinter aller organisierten Güte, und vor allem hinter staatlichem Helfen, eine letzte Gleichheitshoffnung, daß es damit gelingen werde, den Bedürftigen auf eine Höhe zu heben, die als Gleichheitsniveau in der Gesellschaft Realität werden und den Staat vor revolutionären Stößen ungleicher Kräfte schützen könne. Darin mag sogar eine letzte Gleichheitsdynamik liegen, eine Öffnung, ein Weg vom Einzelfall zur vollnormativierten Gleichheit. Doch dies bringt ein letztes Ziel, nicht jene nächste dogmatische Struktur, in welcher Hilfen gewährt werden müssen; aus diesem fernen Ziel mag der Staats güte Legitimation erwachsen, es kann nicht, im Ausgangspunkt, ihre Äußerungen prägen. Und so gewinnt sie zwar Anschluß an ihre Gegenprinzipien, Gleichheit und Norm, doch in ihrer aktuellen Erscheinung bleibt sie ihnen gegenüber "etwas ganz anderes". Vor allem ist ihr der Blick auf den außergewöhnlichen Fall eigen, an dem sie sich grundsätzlich, in gewissem Sinne sogar normativ, zu orientieren versucht - wenn dies nicht ein Widerspruch in sich ist. Staatsgüte sieht überall das Außergewöhnliche, das Unauswechselbare, wie es eben in der menschlichen Natur und in der Menschenwürde angelegt ist; und damit sieht sie eben doch - über alle Gleichheit hinweg.
6. Motivation - ftir alle Güte entscheidend
Den herkömmlichen Machtäußerungen des Staates ist etwas eigen wie eine gewisse Motivationslosigkeit, wenigstens vordergründig: Geordnet wird gewiß auf ein letztes Ziel der Befriedigung eines allgemeinen Interesses hin, doch es verdämmert in der konkreten Motivationslage des Polizisten wie des Bürobediensteten der öffentlichen Sicherheit. Motiv ist ihnen, wenn überhaupt, die Aufrechterhaltung eines bestimmten Zustandes um seiner selbst willen, Ordnung eben als Selbstzweck. Daraus erwächst jene letzte, eigentümliche immer wieder als "typisch beamtlich" kritisierte, Unbeteiligtheit - bis hin zur Unbegründetheit des Ordnens, der Staatsveranstaltungen überhaupt.
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In einem gütigen Staat muß gerade dies sich ändern: Motivation sollte hier alles sein und von Anfang an, schon aus der primären Orientierung auf den Einzelfall. Konkrete Wirklichkeit gilt es nun umzugestalten, aber nicht mit Ordnungsrastern zu überdecken. Geholfen wird nicht so sehr in der Erfüllung einer allgemeinen, jedenfalls und immer obliegenden Aufgabe, als vielmehr aus einer konkreten Bedürfnislage heraus, welche das Hilfsund Handlungsinteresse selbst des "kleinen" Beamten in der großen Organisation aufrecht erhält. Diese Motivation - im letzten wird sie immer moralische Gründe haben - prägt dann eine ganz andere Staatlichkeit als die, welche auf eine nahezu motivationslose "Aufrechterhaltung der Ordnung" gerichtet ist. Routineträchtige Tradition wandelt sich zu realitätsveränderndem Fortschritt, der helfende Staat wird neu geboren, er bewegt sich in dem "movetur" der Motivation, in der Änderung, die er im Leben des geförderten Bürgers bewirkt. Motive sind stets der Anfang der Rechtfertigung; sie findet der gütige Staat in dem, was als besonderes Motiv hinausreicht über die Aufrechterhaltung seiner Machtlegitimation auf allen Ebenen, vor welcher Instanz auch immer er sich zu rechtfertigen hat. Und seine Vertreter brauchen sich nicht darauf zurückzuziehen, daß sie ,ja nur das Gesetz erfüllen"; dies geschieht dann in jenem oft unfaßbaren, menschlich aber immer gegenwärtigen Tun aus Güte heraus, das selbst den kühl normwahrenden Richter im Einzelfall beeindrucken wird. Denn dieses Motiv bringt in alle Staatlichkeit hinein "etwas mehr als Norm" - eben Staatsgüte. 7. Normativierbarkeit solcher Bedürfnisbefriedigung?
Am Ende dieses Kapitels über die Staatsgüte als wesentlicher Bedümisbefriedigung in der Gemeinschaft bleibt, wie bei allen folgenden Betrachtungen, die Frage nach der Normativierbarkeit der Äußerungen einer derartigen Staatlichkeit. Sie muß sich an der Erfüllbarkeit der aufgezeigten Voraussetzungen orientieren: Bedürfnisse müssen definiert werden, Bedürfnisstandards; auszuscheiden ist, was den Staat nichts angehen darf und seine Macht, und werde es noch so sehr als Bedürfnis vom Bürger gefühlt, doch dieser Bereich wird mit Sicherheit laufend abnehmen. Bedürfnisstandards gilt es zu bestimmen, Ebenen, von denen an Selbsthilfe einsetzen muß und genügen. All dies ist nicht auf Antrag zu leisten, sondern in einem Vorgehen von Amts wegen, das alle Verfahrens standards setzt. Das alles mag normativer Erfassung rahmenmäßig zugänglich sein, selbst wenn sich mit ihr die letzten Tiefen einer Staatsgüte nicht ausloten lassen; auch so kupierte Güte behält noch viel von ihrer Rechtfertigungskraft, mag dies auch weit schwerer zu erfassen sein als jener Primat des Einzelfalles,
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B. Grundsätzliche Wege und allgemeine Kräfte zum "gütigen Staat"
der über die wesentlich nonnfönnige Gleichheit hinwegführen soll. Eine gütige Staatlichkeit muß dennoch sogar versuchen, nonnativ wenigstens einen Anfang von Gleichheit in all ihren Veranstaltungen zu setzen, diese auf einen zu erreichenden Standard hin zu orientieren - ohne daß dies aber zu einem lastenden Gleichheitsdiktat wird, in dem sich Dynamik und Legitimation in nivellierender Güte verlieren. Die große Rechtfertigungskraft, welche ein gütiger Staat aus seiner helfenden Motivation gewinnt, mag auf die Folien nonnativ fixierter Gleichheitsstandards gezogen werden, damit seiner nonnativen Rechtsstaatlichkeit entsprochen werde; doch es bleibt das Grundproblem, daß darin nicht gerade die Dynamik einer gütigen Nähe, einer vennenschlichten Staatlichkeit verloren gehen darf. So ist wohl die Nonnativierbarkeit all dieser geschilderten Voraussetzungen, ja Wesenszüge einer "gütigen Staatlichkeit" nicht ausgeschlossen. Sie muß jedoch gesucht werden - das läßt sich hier bereits feststellen - in vorsichtiger Konvergenz von oben und unten, von deduktivem und induktivem Denken: Ziele und Zwecksetzungen der Güte müssen dem Staat den Weg weisen, aus seinem Verfassungsrecht heraus, vielleicht, noch höher angesiedelt, aus Grundsätzen, wie sie nur eine allgemeine Staatslehre entwickeln kann; und zugleich muß sich Staatsgüte bewähren und verfestigen in Spezialnonnen und einzelnen Institutionalisierungen, welche sie als etwas Realisierbares, ja bereits Verwirklichtes erweisen. Aus diesen allgemeinen Vorgaben heraus ist nun zu prüfen, welche Wege zum gütigen Staat führen können, welche er selbst beschreiten muß, durch sein Recht hindurch, oder über dieses hinaus.
11. Grundsatz-Öffnungen normativer Staatlichkeit zur Staatsgüte Aus Staatsgüte wird vielleicht, müßte jedenfalls notwendig, ein ganz neuer Staat geboren werden, in einer Umwälzung, der gegenüber Wandlungen bisheriger Staatsfonnen als marginal erscheinen. Doch was sich überall vollzieht, gleichzeitig und meist sogar unbewußt, ist keine Revolution, und es muß eine solche nicht stattfinden vom "kalten" Staat der Nonnen zum "warmen" der Staatsgüte. Die Ziele solcher neuer Macht und ihre Folgerungen haben hier schon lange Tradition, dogmatische Öffnungen zu ihrer Erreichung wurden bereits in Staatslehre und Staatsrecht des Liberalismus in beachtlicher Weite geschaffen, gerade in letzter Zeit. Dies gilt es nun zusammenzusehen, durchaus zunächst auf den Wegen herkömmlicher rechtlicher Betrachtung.
11. Grundsatz-Öffnungen nonnativer Staatlichkeit zur Staatsgüte
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1. Die punktuelle Durchbrechung des Normativen -
von der Ausnahme zur Regel a) Die Ausnahme als Öffnungsbegriff des normativen Systems
Die grundsätzliche Gefahr für einen Staat der Güte, wie sie bei all seinen Äußerungen stets auftritt, ist die systemdurchbrechende, am Ende systemzerstörende Wirkung seiner wesentlich punktuell-bedürfnisbefriedigenden Hilfen. Kann aus dieser Staatsgüte ein neues System werden, wird es nicht immer nur Systeme zerstören? Das Öffentliche Recht stellt den Begriff der Ausnahme von jeher für flexible Gestaltungen zur Verfügung, und dies sehr viel weitergehend als Ordnungen des Privatrechts. Dort ist ja die spezielle Gestaltung ohnehin der Autonomie der Bürger vorbehalten; niemand wird aber dispositives Zivilrecht und Privatautonomie von vorneherein nur mit den Kategorien des Regel-Ausnahme-Verhältnisses erfassen wollen. Privatautonome Gestaltung ist, in einer freiheitlichen Ordnung, nicht Ausnahme, sondern eher Regel, die Privaten setzen sich normativ ihr Recht selbst, den Vertrag als "loi des parties". Das herkömmliche Öffentliche Recht jedoch, in seiner traditionellen Autonomiefeindlichkeit, in seiner grundsätzlichen Zurückhaltung gegenüber aller Bürgerfreiheit, die ihm aus der Machtdogmatik des Absolutismus und der Französischen Revolution geblieben ist, will stets und zuallererst perfekte normative Ordnung sein, wo immer es zugreift, hat es lange Zeit Autonomie und Freiheit an den Rand gedrängt - in die "Ausnahme". So war es nicht nur beim öffentlich-rechtlichen Vertrag, sondern dies waren Formen einer Erhaltung der Macht gegenüber allen Freiheitsäußerungen der Bürger: Entweder sie wollte diese gar nicht kennen, oder sie erfaBte sie lediglich als Ausnahmen. Doch gerade dieser Ausnahmebegriff ist in den letzten beiden Jahrhunderten entscheidend erweitert worden, bis hin zur, wenn auch stets begrenzten, Systemgrundlage der Staatsordnung überhaupt, und in diesem erweiterten Ausnahmebegriff könnte auch die Staatsgüte ihren Raum finden. Die Grundrechte sind als deutlich begrenzte Ausnahmen entstanden, punktuell in Katalogen verfestigt, außerhalb von deren Schutzbereichen "überall Staatsgewalt" blieb, ohne innere Begrenzung. Doch diese Punkt-Rechte wurden ständig erweitert, bereits in Weimarer Zeit sollten sie zum System hinaufwachsen, das Grundgesetz hat sie, als Wert- und Anspruchssystem, zur Grundlage seiner Staatlichkeit machen wollen. Eine große, erWeiternde Wandlung hat stattgefunden von den Freiheiten als Ausnahmen hin zur Freiheit als höchster staatsrechtlicher Regel. Der alte Grundsatz der allmächtig, allgegenwärtig legitimierten Staatsgewalt läßt sich nun nurmehr halten aus seinen ebenfalls bereits zu Staatsprinzipien hinaufgewachsenen Ausnahmen.
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B. Grundsätzliche Wege und allgemeine Kräfte zum "gütigen Staat"
Der Gesamtbegriff der Ausnahmen im Öffentlichen Recht, bis in die Verästelungen der Einzelgebiete hinein, sollte daher neu durchdacht werden. Schon heute hat dies die Dogmatik überall begonnen: Die Ausnahme ist in allem Systematischen stets mitgedacht, die Öffnung der Ausnahme zur Regel vollzieht sich immer mehr auf geradezu systemverändernden Wegen; man denke nur an die Erfüllung hoheitlicher Aufgaben durch NichtBeamte, welche nach der Verfassung die Ausnahme bleiben sollte, immer mehr jedoch zu einer Regel wird, welche das Berufsbeamtenturn praktisch aufzuheben droht. Die Ausnahme ist es sogar, welche immer häufiger die Regel erst ermöglicht, sie als solche legitimiert, die neuere Dogmatik der Härteklauseln wie der Übergangsbestimmungen zeigt es auf breiter Front. Zu früh mag es noch sein, von einer Legitimation der Regel aus der Ausnahme, des Systems aus seiner Durchbrechbarkeit zu sprechen, doch angelegt ist solches bereits in der neueren Systernrechtsprechung der Verfassungsgerichtsbarkeit, und in jenen neuerdings vieldiskutierten Ausnahmen und Grenzen der Normierbarkeit schadensverursachender Staatseingriffe, welche den enteignenden Eingriff neben der starren Enteignung rechtfertigen als eine Ausnahme vom Grundsatz der Ausgestaltung des Eigentums durch den Gesetzgeber, ihn aber gerade darin als eine Grundlage des Enteignungsrechts sehen. Ein großes Werk über die Ausnahmegewalt im Verfassungsrecht ist schon vor vielen Jahrzehnten geschrieben worden, das große Werk über "Die Ausnahme im Öffentlichen Recht" muß noch geschrieben werden - bevor die Norm untergeht, weil die Ausnahme nicht normativerfaßt wurde.
b) Staatsgüte als Ausnahme
In dieser rechtlichen Landschaft findet, so mag es scheinen, der gütige Staat viele Räume, vielleicht einen größeren, einheitlichen. Güte ist, ihrem ganzen Wesen nach, Ausnahme-Reaktion, daraus entstehen ja auch ihre grundsätzlichen Normierungsprobleme. Der Anspruch ist nach Voraussetzung und Rechtsfolge voll rechtlich bestimmbar, das Geschenk bedeutet die voraussetzungslose Rechtsfolge, allenfalls noch die rechtsfolgenlose Voraussetzung. In der staatlichen und kirchlichen Geschichte mochte es rechtliche Ordnungen der Mildtätigkeit gegeben haben, Organisationsformen und Organisationen öffentlicher Hilfe, doch diesen Einrichtungen blieb stets etwas von einem Ausnahmecharakter, nie waren sie zentrale Ordnungsinstrumente größerer öffentlichrechtlicher Systeme. Sie erschienen vielleicht als Ausprägungen der Macht, nicht aber als deren zentrale Organisationsstrukturen. Selbst das Liebesrecht der Kirchen konnte deren Hilfe immer nur gewisser-
II. Grundsatz-Öffnungen nonnativer Staatlichkeit zur Staatsgüte
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maßen "sekundär institutionalisieren", außerhalb der großen, unmittelbar auf das Jenseits gerichteten Amtskirchlichkeit, in den vielen marginalen Verzweigungen der Klöster, Stiftungen, und einer täglichen Praxis "vor den Toren der Kirchen", im wahren Sinne des Wortes. Nie war da "Kirche als Hilfe", "Staat als Förderung" - dies sind die Forderungen der Gegenwart, eben an eine ganz andere Macht, zu ihrem von allem Bisherigen unterschiedlichen Einsatz. Immerhin aber war all dies weit mehr als extranormative Realität, es war etwas entstanden wie "Institutionen für arge Fälle", für extreme Bedürfnisse - mit Ausnahmecharakter. Für Kirche wie Staat aber waren dies nicht mehr Ausnahmen mit Blick auf ihre Aufgaben, sondern nur in der Sicht der Extremfälle, in denen allein Hilfe gewährt werden konnte. Rechtsgrundsätzlich sind diese Hilfen damit mehr und mehr bereits zur Regel, zur systemtragenden Aufgabe geworden, mochte auch die ökonomische Realität, vor allem im Liberalismus, ihre Räume noch eng begrenzen. Der Weg helfender Güte zum Ordnungs-, ja geradezu zum Machtsystem, von der Ausnahme der verzweifelten Fälle zur Regel der menschenwürdigen Existenz, ist also nicht nur historisch und seit langem eröffnet, er ist auch in seinen dogmatischen Strukturen bereits vorgezeichnet. Er muß nun nicht mehr, von heutiger Staatlichkeit, lediglich extranormativ beschritten werden, über alle Gesetze hinweg, als neue, willkürlich erscheinende Einzelfallaktivität. Mag es nicht genügen, die Ausnahme immer mehr zur Regel werden zu lassen, das soziale Helfen gegenüber staatlicher Ordnungserhaltung und Landesverteidigung endlich in den Mittelpunkt zu rücken? Könnte nicht hier erneut dem Beispiel einer Kirche gefolgt werden, welche ihrerseits, in der Erkenntnis menschlicher Bedürfnisse und Moden, sich von Ordnungen der Rechtfertigung hin bewegt zu Hilfe und Geschenk, und dies bereits ganz systematisch unter ihrem Gesetz der Liebe? Das Öffentliche Recht, einschließlich des eminent öffentlichen Kirchenrechts, könnte Wege weisen durch bestehende Strukturen hindurch, vom punktuell fürsorgehelfenden Staat zum systematischen Machteinsatz in Staatsgüte.
2. "Im Zweifel für Staatsgüte"
Die Rechtslehre stellt einer Staatsgüte, welche bestehende Machtstrukturen der Politik durchdringen möchte, nicht nur den Weg zum System erweiterter Ausnahmen zur Verfügung, noch näher liegt die immer weiter sich verbreiternde Straße des Zweifels, auf der die Entscheidung der Macht für die Hilfe fallen kann. Überall dort, wo beide Lösungen tatsächlich und normativ möglich erscheinen, die einer hilfelosen Ordnungsstrenge und einer förderndem Staatsgüte, darf doch - und muß nun vielleicht - der letztere Weg beschritten
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B. Grundsätzliche Wege und allgemeine Kräfte zum "gütigen Staat"
werden. Wenn das System es erlaubt und keine normative Ordnung die Staats güte ausschließt, so ist eben jener Zustand im Weinberg entstanden, in dem keine allgemeine Anordnung dem später, vielleicht zu spät Kommenden, den gleichen Lohn versagt. Wenn das normative System, welches die Äußerungen der Staatsgewalt orientiert und begrenzt, an jenen Punkten "offen" ist, an denen Hilfe gebraucht wird, so fügt sich die Staats güte in dieses Sytem ein, sie wird ihrerseits zum Ausdruck von dessen Offenheit.
a) Immer mehr Zweifel im Öffentlichen Recht
Das Öffentliche Recht ist, in seiner ganzen Tradition, in seinem Wesen vielleicht, als Ausdruck des imperialen Befehlens, von mächtiger Selbstsicherheit getragen. Denn im Zweifelsfall entscheidet seine Macht, und sie entscheidet für sich; so ist es, über allen Liberalismus hinweg, stets geblieben. Doch in den letzten beiden Jahrhunderten hat sich diese Selbstsicherheit der Befehlsordnung laufend abgeschwächt, sein "in dubio pro libertate" hält der Bürger immer selbstbewußter der abnehmenden Macht entgegen. Und hier kann er sich auf die Äußerungen dieser Macht selbst berufen: In den Strukturen des Öffentlichen Rechts, in dessen notwendigen Entwicklungen steigen die Zweifel, darin aber werden die rechtlichen Räume größer, in welche Staatsgüte, und damit ein "anderer Staat" eindringen kann, da er gerade Antworten auf diese Zweifel nicht nur kennt, sondern bringt: Der Normfluß des Öffentlichen Rechts spült meist nicht klare Wasser an die Gestade der Bürger, sondern vor allem immer mehr trübe Fluten, welche ihren normativen Grund, ihre Legitimation nur mehr in Umrissen erkennen lassen. Die Gesetzesmassierung soll die Zweifel beseitigen, Klärungen bringen - mit vielen ihrer Normen und insgesamt verunklart sie immer mehr. Gerade die speziellsten Normen lassen oft die weitesten Türen offen, vielleicht nicht mehr durch sie hindurch, aber an ihnen vorbei vollzieht sie die Entwicklung unter dem Fluch der spezialisierenden Suche nach normativer Genauigkeit. Zugleich nimmt dies den Rechtsanwendenden, den Interpreten, die Kraft des systematischen Fortdenkens, damit aber auch des ausdehnenden Verständnisses. Jene Normmassen, die sich nur mehr zu durchlöcherten Gesetzeswänden verdichten können, laden geradezu ein, die zahllosen Zweifel zu überwinden - pro cive, zugunsten des Bürgers: in Staatsgüte. Der übernormativierte Staat gerade, der das alte, große Lückenproblem .in seiner Dogmatik verdrängen will, bedarf vielleicht einer systematischen Lückenfüllung - in Staatsgüte. Die Komplexität der Sachverhalte nimmt laufend und nahezu ungemessen zu, gerade darauf will Übernormativierung reagieren. Doch bereits die tatsächliche Feststellbarkeit der Sachverhalte durch die Staatsinstanzen, ja
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selbst durch den antragstellenden Bürger, stößt an immer engere Schranken. Wiederum entstehen daraus zahllose Zweifel, in denen nun eine Entscheidung gegen den Bürger das Odium der Staatsgewalt verstärken würde, während Staatsgüte, ein im Zweifel helfendes Für-den-Bürger-Entscheiden, oder gar eine Hilfe jenseits aller möglichen Sachverhalte, akzeptierte Staatlichkeit wirksam erhält. So könnte es gerade die viel beklagte Kälte einer hochtechnisierten Zeit sein, welche sich die wärmere Güte eines sich im Zweifel auf die Seite des Bürgers stellenden Staates ins Haus ruft. Der freiheitliche Staat erweitert noch laufend die Räume des Entscheidungszweifels für seine Instanzen und Bediensteten. Immer mehr wird die Intimspäre gegen staatliche Informationsbefugnisse geschützt, welche Zweifel zerstreuen, streng normförmige Entscheidungen ermöglichen könnten. Hinter Datenschutz kann sich der Bürger verbergen, dem Staat seine kleinen Wahrheiten vorenthalten, ihn in Zweifel drängen, welche nur zu seinen Gunsten zu löse~ sind. Wieder erweitert sich ganz allgemein der Raum jener dubia, in denen es vielleicht nicht dem strengen Recht, wohl aber einem das Recht fortsetzenden Wohlwollen entsprechen mag, so zu entscheiden, daß dies im Ergebnis zum Ausdruck der Staatsgüte wird. So lädt sich gewissermaßen die Macht in ihrer Abschwächung selbst ein zur Güte. Und Zweifel solcher Art bringt sie denn auch in dieser Entwicklung selbst immer mehr hervor, in ihren "offenen Gesetzen", welche Flexibilität bringen sollen, vielleicht sogar unmittelbar mehr Macht, in Wahrheit aber oft nur mehr an Zweifeln entstehen lassen; oder in der Ausweitung von Prognose-Spielräumen, in welchen Gesetzgeber wie Verwaltung die Zukunft einfangen, wenn nicht vorwegnehmen wollen, die aber bei Rechtsanwendenden wie Adressaten der Entscheidungen immer neue Unsicherheiten und Zweifel hervorrufen - damit jedoch Bedürfnis nach staatlichem, extranormativem Eingreifen verstärken - zur Staatsgüte. Eine Staatsgewalt schließlich, welche in Experimentierklauseln ihre Macht auf Prüfstände moderner Wissenschaftlichkeit stellen möchte, belädt sich mit all den Zweifeln gerade jener Wissenschaft, welche auch in ihren ureigensten Bereichen auf immer neue, immer weniger lösbare Probleme trifft. Irgendwann ist dann auch für die härteste Staatsgewalt der Punkt erreicht, an welchem sie "über solche Zweifel und Probleme eben hinweggehen muß"; die Zeiten aber sind vorüber, in welchen dies in strengem Gewalteinsatz geschehen durfte. Dem Staat der Gegenwart bleibt dann nur mehr die Auflösung auch solcher Zweifel in einem "pro" - in Güte. So bringt die moderne Macht und die Entwicklung der gegenwärtigen Wirklichkeit zunehmend das hervor, was am Ende nurmehr überwunden werden kann, so scheint es doch, von einem wahrhaft gütigen Staat, dem sich das Recht in seiner dogmatischen Kategorie des Zweifels immer weiter öffnet.
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B. Grundsätzliche Wege und allgemeine Kräfte zum "gütigen Staat"
b) Die in-dubio-Neigung des geltenden Rechts - zur Güte
Die geltende Ordnung der entwickelten Rechtskulturen kennt, gerade als deren Ausdruck, in verschiedenen, wenn auch unsystematisierten Bereichen, Grundsätze, welche über reines Abgrenzen hinaus die jeweils mildere Lösung vorschreiben, den Zweifel damit zum Ausdruck einer gütig-helfenden Staatlichkeit werden lassen: - Das Prinzip "in dubio pro reo" ist letztlich ein Grundsatz der Staatsgüte, nicht nur Ausprägung eines non-liquet. Hier zog sich die grundsätzlich allmächtige, allgegenwärtige Staatsgewalt des Strafens zurück, darin lag stets auch etwas wie ein Gnadengeschenk gegenüber jenen Beschuldigten, denen etwas wie unverdiente Güte erwiesen wurde. Die Vorstellung, daß Strafe überführte Schuld voraussetzt, ist als solche ja bereits Ausdruck höher entwickelter Kultur eines strafenden Rechts als Ausnahme; im ursprünglichen strafrechtlichen Privileg des Zweifels sollte ganz allgemein ein auch prozessualer Gnadenerweis zum Ausdruck kommen, der dem Angeklagten überdies noch die ja stets mögliche weitergehende Inquisition ersparte. Gerade hier konnte die Staatsgüte wirken, im besonders deutlichen Einzelfall des Strafrechts, als ein Ausdruck antizipierter Begnadigung. - So erklärt sich auch die Leichtigkeit, mit welcher der in-dubio-Satz aus dem öffentlichen Strafrecht in das allgemeine ius publicum, weit über Gefahrenabwehr und Ordnungsbewahrung hinaus übertragen werden konnte. Daß die Rechtsstaatlichkeit den Einsatz des jeweils milderen Mittels verlangt, und nicht nur in voll definierbaren Lagen, sondern auch und gerade "im Zweifel", ist nicht eine Erweiterung des Strafrechts; um eine derartige Rechtfertigung wird sich das Öffentliche Recht stets vergebens bemühen. Der Grundsatz eines allgemein in dubio mitius, wie er hier geradezu Staatsgrundprinzip werden konnte, über das geistig-politische Vehikel der Rechtsstaatlichkeit, zeigt bereits in seinem Begriff des "mite", der Milde - die Staatsgüte in ganz allgemeiner Geltung. Anders wäre kaum vorstellbar, weshalb die Ausnahme zu so allgemeiner Regel werden, der Zweifel derart sollte erweitert werden können: Hier ist eben bereits der Vorgriff auf eine allgemeinere Staatsgüte, wenn auch unausgesprochen, wirksam. Zugleich zieht sich die Macht auf breiter Front "im Zweifel" zurück, in all jenen Fällen, welche sie, wie dargelegt, in ihrer perfektionierten, normativen Ordung immer nur noch zahlreicher hervorbringt. Die Macht weicht zurück, wo immer sie sich nicht beweisen kann; am Ende seiner intellektuellen Faßbarkeit verwandelt sich der Staat in gütige Macht. - Die staatliche Ordnung verbietet kaum irgendwo die Schenkung, es sei denn als Form einer unmoralischen Gegenleistung, in welcher nicht mehr Güte liegt, sondern lüsterner Austausch. Wiederum greift eine deutliche
H. Grundsatz-Öffnungen nonnativer Staatlichkeit zur Staatsgüte
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Zweifel-Neigung des entwickelten Rechts ein: Selbst und gerade in seinen hochgesteigerten Fonnen der Austauschgerechtigkeit, in der Marktwirtschaft, wird eben Schenken und Mildtätigkeit staatlich begünstigt, am weitestgehenden in jenen amerikanischen Rechtsgewohnheiten des Stiftens und Sponsoring, welche den dort kühlen, oft erbannungslosen Austausch-Kapitalismus in menschlicher Güte erwännen. Ein solcher Staat sieht eben im Schenken im Zweifel Freiheit, nicht eine Willkür, die es in dubio auf rational faßbaren, zu rechtfertigenden Ausgleich zurückzuführen gilt. Das geltende Recht akzeptiert die Macht des Schenkenden, weil sie auf dem Hintergrund jener staatlichen Gewalt wirkt, die sich selbst als eine gütig-schenkende grundsätzlich verstehen darf. - Nun steht dem zwar entgegen der allgemeine Satz vom "Staat, der nichts zu verschenken hat". In schwierigen Zeiten konnte mit ihm der sonst rechtlich kaum faßbare Sparsamkeitsgrundsatz des Öffentlichen Rechts nonnativ verdeutlicht werden. Doch die Maxime hat sich immer leichter begründend zitieren, als dogmatisch begründen lassen. Als Grundsatz ist dies stets eine lex imperfectissima geblieben: Jener Staat, der dem Bürger das Schenken so weithin gestattet, der sich kaum einen nonnativen Zweifel an dessen menschlicher Begründetheit erlaubt, will sich auch selbst nicht in Begründungszwängen von Staatsgüte verlieren: Die Begründungslast gegen staatliches Schenken liegt bei der Rechnungsprüfung, bei den Kontrolleuren staatlicher Macht, aus deren nonnativen Einsatzzwecken heraus; und dies gerade ist eine Welt von Zweifeln, in allgemeinen Staatszielen und Staatsaufgaben, von denen noch die Rede sein wird; immer darf daher der Staat zunächst einmal eben doch - schenken. - "Wo kein Kläger ... ": Der liberale Staat "lais se passer", wo niemand sich gegen ein Tun wendet; der Herr des Weinbergs greift jedenfalls dann nicht ein, wenn kein anderer Arbeiter sich gegen seine Güte wendet. Weithin wandelt sich bereits heute der Grundsatz des Eingreifens von Amts wegen zu einem Reagieren auf Bürgerwiderstand, auf Klagen des neidigen Nachbars. Darin liegt mehr als eine Notwendigkeit begrenzter Organisationskraft: Der Staat ist großzügig bis zur Güte, wo der Nächste es ist, der Nachbar, dort geht er selbst über seine Gesetze hinweg. Damit rezipiert er fremde Güte, macht sie sich als Staatsgüte zu eigen, im Zweifel immer dort, wo die Macht nicht zur "Strenge angestoßen wird". Gerade ein solches Verhalten wird im Bürgerleben stets weder als Ausdruck der Gerechtigkeit, noch auch nur einer Großzügigkeit gewertet werden, welche rechtlich noch weit weniger definierbar ist als Staatsgüte. Daß gerade Polizei und Justiz, die Machtorgane par excellence, nur eingreifen auf Anstoß hin - all dies liegt bereits jenseits des streng ordnenden Rechts, es ist Ausdruck eines helfenden Gewährenlassen, eines wahren, auch justiziellen, in dubio pro Libertate.
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B. Grundsätzliche Wege und allgemeine Kräfte zum "gütigen Staat"
So neigt sich gerade das Recht der entwickelten Rechtsstaatlichkeit, vielleicht in zunehmender Erkenntnis seiner eigenen, aus der inneren Begrenztheit der Übernormativierung erwachsenden Schranken, allenthalben "im Zweifel zum Milderen", gerade im Einsatz der Staatsgewalt, und vor allem wo diese am strengsten zugreift und am schärfsten; dort überall zeigen sich Öffnungen zur Staatsgüte.
3. Staatsgüte als Staatsgrundsatznorm a) "Staatsgüte als Verfassungsnorm "?
Schwer vorstellbar ist eine verfassungsrechtliche Norm, welche all diese Tendenzen ganz allgemein und offen aufnähme, an der Spitze der Gesetze Staatsgüte proklamierte. Dies würde zu einem allgemeinen Verfassungsvorbehalt aller Staatstätigkeit, der leicht alles zerstören könnte, was an Einzelnormativierung und klarer Ordnung je aufgebaut wurde. Die Staatsrnacht mag sich zurückziehen, sich als Gewalt hinter der Güte des Helfens verbergen; doch dies kann kaum wieder in allgemein-normativer Form geschehen, welche der Staatsgewalt ein so generelles Gegenprinzip gegenüberstellen wollte; das Scheitern der "sozialen Grundrechte" hat hier die dogmatischen, ja begrifflichen Grenzen aufgezeigt. Wer Verfassung ernst nimmt, muß auch ihre ordnende Normativität an der Spitze bejahen, aus welcher wesentlich Ansprüche entstehen, nicht nur Möglichkeiten der Hilfe sich ableiten lassen. Staatsgüte darf nicht in die volle Relativierung der lex imperfecta entlassen werden. Verfassung bleibt in ihren höchsten Normen ausgrenzendes Ordnen, nicht fördernde Dogmatik. b) Staatsgüte als StaatsJorm-, Staatszielbestimmung
Doch das Staatsrecht des Verfassungsstaates stellt - vielleicht gerade deshalb - dogmatische Kategorien in neue ster Zeit bereit, in welche Staatsgüte wenn nicht perfekt eingeordnet werden kann, so doch einfließen darf. Es handelt sich um all jene normativen Erweiterungen, vielleicht auch nur Abschwächungen, in welchen die Verfassung des Rechtsstaats immer noch weiter hinaufgebaut werden soll, von der Staatsform bis zur Staatszielbestimmung. Die unten noch in Staatsgüte zu vertiefende Sozialstaatlichkeit läßt sich bereits als, wenn auch feme, Ausprägung einer ,,staatsrnacht der Güte" begreifen, als eine Norm, die alles durchwirkt in allgemeinster Form - in der Staatsform eben des in dubio mitius. Dies wäre dann nicht nur eine "Staatsform der milderen Macht", wie sie sich aus Rechtsstaatlichkeit schon
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begründen ließe, hier wäre die Staatsfonn des helfenden Staates höchste nonnativ-direktive Wirklichkeit. Ein historisches Vorbild hat bereits früh, und in einer ganz natürlich erscheinenden Entwicklung, der Wohlfahrtsstaat des 18. Jahrhunderts geliefert. Verfassungsgeschichtliche Betrachtung sieht hier, wie selbstverständlich, nicht nur einen geschichtlichen Beschreibungs-Begriff, sondern eine wirkliche Staatsfonn, welche als solche auch der Einfügung in eine modeme Staatsfonnlehre zugänglich sein kann. Zwar wird die Staatsfonn dann nicht mehr definiert aus einer Macht- und Gewichtsgeometrie von Machtinstitutionen, von Staatsorganen, sondern aus der Zielrichtung von deren gemeinsamer, kombinierter Tätigkeit. Modeme Staatsfonnlehre muß hier sicher umdenken, vom statisch-Organisatorischen in Zielrichtungen staatlicher Aufgabenstellung hinein. Doch gerade dies ennöglicht die neuere dogmatische Vorstellung von Staatszielbestimmungen, in denen die Staatsfonnen fortgedacht werden sollen. Staatszielbestimmungen sind gerade darin erweiternde Fortsetzungen der herkömmlichen Staatsfonndogmatik, daß in ihnen das Staatsrecht von der aristotelischen Begriffsjurisprudenz in seinen organisatorischen Ausprägungen zur teleologisch orientierten Interessen-Jurisprudenz der zu befriedigenden Bedürfnisse findet. Hier läßt sich dann, auch und gerade für Fonnen der Staatsgüte, eine verfassungsrechtliche Begriffsentwicklung nutzbar machen, welche von der Verfassung als Gesetzgebungsprogramm hinfindet zur Verfassung als Bündelung von Staatszielbestimmungen, die eben mehr bringen, als der rechtsstaatlich nie wirklich bewältigte Begriff der Programmatik. Schon ein Gesetzgebungsprogramm von Staatshilfen ist unschwer vorstellbar, das mögliche Hilfestellungen der Macht orientiert an allgemein umrissenen Bedürfnis-Standards. Gegen eine Staatszielbestimmung staatlicher Förderungstätigkeit wird erst recht niemand sich wenden, in nicht wenigen Verfassungen ist dies bereits, wenn auch oft nur in verbaler Ausuferung, eine irgend wie doch geltende nonnative Realität. Vielleicht sind die noch immer weithin ungeklärten Unterschiede zwischen Staatsformen und Staats zielen gerade in diesem Bereich am ehesten noch faßbar, und es mag sein, daß eine stärker staatszielorientierte neue Staatsfonnlehre sogar über jene klassischen Schemata der antiken Staatsphilosphie hinausführen kann, die den Bezug zum Menschlichen stets in der Person der Organträger zum Ausdruck bringen wollten, nicht in organgelöster Staatstätigkeit. Wie auch immer - Betrachtungen über Staatsgüte mögen Wege weisen zu neuen Überlegungen einer "Staatsfonnlehre aus Staatszielen", in der allerdings freiheitsbewahrende Trennung von Organen und Kompetenzen sich nicht in unklaren gemeinsamen Fernzielen verlieren darf. 4 Leisner
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B. Grundsätzliche Wege und allgemeine Kräfte zum "gütigen Staat" c) Wirkungen der Staatsgüte als staatszielorientierte Staatsform
auf die Rechtsordnung
Die möglichen Wirkungen solcher Verfassungsbegrifflichkeit auf das Ganze der Rechtsordnung gehen weit hinaus über Einzeleffekte, welche sich als Ausnahmen oder im Zweifel in manchen einzelnen Bereichen ergeben mögen, stets sich aber nur schwer integrieren lassen zu einer alles durchwirkenden Begrifflichkeit. Für heutige Verfassungsziele demokratischer Staatsordnungen ist bereits anerkannt, daß sie in allen normativen Bereichen primär-positive Wirkungen entfalten sollen, und nicht erst dort, wo kein anderes Verständnis mehr Platz greifen kann: Hier spannt sich ein Bogen von der Interpretation bis hin zu einer Sinnerfüllung an sich sinnschwacher Generalklauseln, in welche durchaus ein Staatsziel der Staatsgüte normativ faßbare neuartige Inhalte legen könnte. Auf "gütiges Verständnis" hin, ja auf ein begütigendes Ordnen, können viele Äußerungen eingreifender Macht gerichtet, wenn nicht geradezu hingebogen werden. Die unklare Begrifflichkeit solcher "Sinnerfüllung" mag dies begünstigen, bis hin zu allseitigen Normveränderungen, die geradezu in einer stillschweigenden generellen Güte-Norm staatlichen Handeins enden könnten. Hier wirkt vor allem die Freiheit einer Judikative, in welcher noch immer der Richter, als ein Organ der Staatsgüte, seine Einzelfallentscheidung aus Hilfe hat begründen können, in helfender Sinnerfüllung strenger Normen. So ist das Verfassungsrecht der Gegenwart vielleicht bereits aufgebrochen, auf neuen begrifflichen Wegen, hin zu Begriffsstrukturen, und nicht nur Begriffsrahmen, in denen die neue Macht der Staatsgüte wirken kann, so neuartig, wie es die Staatsziele sind gegenüber den alten Staatsformen.
4. "Staatsaufgabe Staatsgüte"
Noch über allem Verfassungsrecht, auf der Höhe der Allgemeinen Staatslehre, könnte Staats güte als Rechtsbegriff sich in neuer Form entfalten aus einem erweiternden Verständnis der Staatsaufgaben. Hier ist alles Wesentliche schon vorgedacht, die Weite des normativen Begriffs zuallererst: Was der Staat an sich zieht, ist wesentlich Staatsaufgabe. Warum also nicht insbesondere Bedürfnisbefriedigung in fördernder Staatstätigkeit? Grundsätzlich steht nichts entgegen, Güte als Aufgabe zu begreifen, diesen Begriff gerade in Hilfestellungen der Macht zu erfassen. Wenn Staatsaufgabe noch weiter führt als es Staatsziele vermöchten, weil hier der Raum der Macht sich nahezu grenzenlos erweitert, wenn gerade deshalb eine Dogmatik der Staatsaufgaben bisher nie hat gelingen können in eigentlich normativer Form - dann könnte dieser Aufgabenbegriff doch Ansatz sein für eine Neu-
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bestimmung der Staatstätigkeit, welche im übrigen nur alten Wein in neue, weniger normativ brüchige Schläuche füllen würde. Die gesamte Entwicklung der Staatsaufgaben, welche sich an der Rechtsbegrifflichkeit vorbei entfaltet hat, ihre ständige Erweiterung vor allem, zielt doch stets nur in diese eine Richtung des staatlichen Helfens. Staatsgüte als Staatsziel mag noch Bedenken erwecken; war Staatshilfe aber nicht eine stets erfüllte Staatsaufgabe, findet dieser Begriff nicht darin erst seine Rechtfertigung, wenn nicht geradezu sein dogmatisches Wesen? Staatsaufgabe - das ist für bisherige, auch rechtsstaatliche Dogmatik gerade deswegen ein unbewältigtes Phänomen geblieben, weil dies ein Rechtsbegriff ist, der "zu nichts verpflichtet", der keine Forderungen des Bürgers begründet, stets dem Staat alles offenläßt, seine Aktivitäten immer unter den Vorbehalt der Mittel, des Haushalts stellt. Gerade hier aber läßt sich die Brücke zu einer Staatsgüte schlagen, welche ihrem Wesen nach die verfügbaren Mittel voraussetzt, kennt sie doch nur eine letzte normative Schranke - ultra posse nemo tenetur, und dieses Mögliche bestimmt sie selbst, die Macht, darin jedenfalls bleibt sie sich treu. In dieser "Staatsgüte als Staatsaufgabe" gewinnt die helfende Macht sogar noch etwas wie eine transpersonale Rechtfertigung: Sie wirkt nicht mehr nur als humane Hilfe, legitimiert allein aus dem menschlichen Einzelfall heraus; von dort wächst sie in die Erfüllung allgemeinerer Staatsaufgaben hinauf, ohne daß ihr doch das rechtfertigende Wesen des Helfens verloren ginge. Der Weinberg ist zu bestellen, doch dies darf eben auch, es kann vielleicht nur in der Güte gegenüber dem einzelnen Arbeiter geschehen. Der Staatslehre mag man den Vorwurf machen, daß sie sich in Begriffen wie dem der Staatsaufgabe letztlich allem öffnet und jedem. Doch ist diese Begrifflichkeit nur immer dann am Platze, wenn sie Rechtsgrundlagen zu schaffen vermag, genügt nicht schon eine Legitimation des Kommunikativen, indem der Begriff der Staatsaufgabe dem Bürger so manches nahebringt, sinnvoll erscheinen läßt, was dieser vielleicht in strenger, normativer Dogmatik nicht annehmen würde? Und liegt hier nicht gerade Sinn und tiefere Bedeutung der Staatsaufgaben als einer Begrifflichkeit, welche Staatsgüte nun wirklich - nahebringen kann, bis dann am Ende doch rechtliche Legitimation erreicht wird?
5. "Staatsgüte" innerhalb der Normen in Beurteilung und Ermessen Doch nun muß noch einmal der Weg aus den Höhen der Allgemeinen Staatslehre zu den Einzelnormen "hinunter" beschritten werden: Eröffnen sich nicht Wege in ihnen, durch sie hindurch vielleicht, zu dem, was die "gütige Macht des Staates" bringen könnte? 4"
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B. Grundsätzliche Wege und allgemeine Kräfte zum "gütigen Staat"
a) Ennessen in Güte
Das Öffentliche Recht und seine Subsysteme öffnen sich dem fördernden Staat in fast allen Bereichen, nicht nur im Namen von Sinnerfüllung aus übergreifenden Normen, sondern in der Offenheit gestaltenden Ermessens. Selbst ohne Rückgriff auf Kategorien der Ausnahme, der Entscheidung im Zweifel oder allgemeiner Staatsaufgaben darf die Exekutive helfende Güte walten lassen überall dort, wo ihr Ermessen eingeräumt ist, gerade zur Bewältigung jenes Einzelfalles, der den Staat zur Güte ruft. Kann förderndes, helfendes Verhalten der Staatsorgane je einen gravierenden Ermessensfehler darstellen? Abgesehen von schwerwiegenden Gleichheitsverstößen ist es doch verwaltungspolitisch, wenn nicht verwaltungsrechtlich, kaum vorstellbar, daß damit ein innerer Ermessensfehler begangen, die allgemeinen Zielsetzungen eines Gesetzes verkannt werden könnten, welche irgendwo immer auf staatliche Förderung gerichtet sein werden. Helfendes Staatsverhalten, die Erzielung von Förderungseffekten sind heute bereits zu etwas wie einem allgemeinen Ermessenskriterium geworden, das sich allen anderen, spezielleren überlagert. Das Ermessen sperrt ja die Einzelfälle, oder eine enge Kategorie von solchen, gewissermaßen ab gegenüber einer Gleichheit, die streng gleichmäßige Verteilung fordern mag. Dann aber bietet die Rechtskategorie "Ermessen" der Staatsgüte unzählige kleine und kleinste Wirkungsräume, in denen diese der grundsätzlichen Legitimation nicht mehr bedarf, weil sie sich aus sich selbst rechtfertigt, aus ihrem fördernden Inhalt. Und selbst äußere Ermessensschranken wird das Gesetz nur selten in der Weise aufrichten, daß sie nicht doch mit dem Schwung und der Zielsetzung der Förderung überwunden werden könnten: Solche äußere Ermessensgrenzen werden in aller Regel durch eine enge Begriffsjurisprudenz geschaffen, über welche sich weiterschauende interessenjurisprudentielle Staatsförderung unschwer hinwegsetzen wird. So führt das Ermessen, in seinen gängigen dogmatischen Formen, nicht nur zur Eröffnung kleinerer, sondern sogar fallübergreifender größerer Räume für Aktivitäten zur Staatsgüte. Hinter all dem mag dann eine stillschweigende Überzeugung stehen, daß Ermessen der Exekutive geradezu zur Staatsgüte verliehen ist, ein Begriff des Allgemeinen Verwaltungsrechts wächst in seiner Allgemeinheit geradezu in den Bereich verfassungsrechtlicher Allgemein-Normen hinauf. Dies wird unten (C III 2) noch zu vertiefen sein, aus der Ermessensdogmatik im einzelnen. Eine Gesetzesverletzung durch fördernd ausgeübtes Ermessen, ist schließlich, wenn überhaupt, so schwer im einzelnen feststellbar, daß die Kritik der Ermessensüberschreitung einer Staatsgewalt hier kaum je drohen wird, welche selbst meist die einzige ist, die deren Voraussetzungen wirksam feststellen könnte. Hier wirkt eben doch wiederum der Einzelfallcharakter der Ermessensausübung geradezu kritiksperrend.
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b) Fördernde Beurteilung - an den Normen vorbei
Selbst wo die Staatsgewalt sich nicht in Ennessensräume zurückziehen darf, bleibt ihr stets ein weites, primäres, nicht nur ein letztes Recht der Faktenbeurteilung, mit dem sie, gewissennaßen "an den Nonnen vorbei", tatsächliche Lagen berücksichtigen und diese verändern darf. Aufgegeben ist ihr hier, ganz allgemein, nicht nur in den klassischen Beurteilungsspielräumen des Allgemeinen Verwaltungsrechts, die Rezeption einer allerallgemeinsten nonnativen Kraft des Faktischen, in einer Öffnung des Rechts zur Realität, welche jenes in der Nonnanwendung abzubilden hat, im Namen der Verfassung. Hier kommen die allgemeinen Räume der Vorbehalte des Politischen und des Möglichen, des finanziell im Haushalt Verfügbaren generell zum Tragen, andererseits aber auch die ennöglichenden, erlaubenden Generalvorbehalte einer Bedürfnisbefriedigung, in welchen gerade die Exekutive nonnativ bedeutsame faktische Lagen feststellt und in Förderung bewältigt. Der oben dargestellte Bedürfnisbegriff ist eben nicht nur ein allgemeines Ennessenskriterium, er lenkt auch alle Beurteilung und entzieht diese, wie angedeutet, weithin rechtsstaatlicher, nonnativ begründeter Kritik. Dies alles wirkt sich bereits in den klassischen Hoheitsbereichen des Öffentlichen Rechts aus, im Ergebnis entnonnativierend, es verstärkt sich noch neuerdings in all jenen Privatisierungsschüben, welche weniger die Entscheidungen selbst, als vielmehr die Feststellungen und Beurteilungen der Voraussetzungen derselben dem privaten, nonn-entzogenen Belieben anheimstellen, in der Hoffnung, daß hier Effizienz die gesetzlichen Schranken überspiele. So kann sich das Öffentliche Recht einer Beurteilung in Güte und zu ihr öffnen; Staatsgüte mag dann verstanden werden als etwas wie eine "faktische Auffang- und Reservenonn", in welcher die Bedürfnisse der Tatsächlichkeit berücksichtigt werden, entweder schon vor allen nonnativen Überlegungen oder doch an ihrem Ende, in einer letzten, aber weiten und wichtigen Lückenfüllung. Ob hier, in Ausnutzung eines Beurteilungsspielraumes, etwa in vielen Prüfungsverfahren, nonnative Entscheidungselemente allgemeinster Art aus anderen Nonnbereichen in die Entscheidung einfließen, oder ob sie unmittelbar abgezogen werden aus einer Wirklichkeit, vor welcher der Prüfende steht, die er in Entscheidungen zu bewältigen hat - immer darf dieses sein Urteil "zum Positiven hin" fallen, fördernd an allen abgrenzenden Nonnen vorbei und über diese hinweg. So findet denn ein Grundsatz allgemeinerer Staatsgüte oder doch ein genereller Zug zu ihr bereits im geltenden Recht viele und weite Öffnungen der Ordnung vor, über welche sie ins Öffentliche Recht eindringen kann, von der allgemeinen Staatslehre bis in die Einzelgestaltungen des Verwal-
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B. Grundsätzliche Wege und allgemeine Kräfte zum "gütigen Staat"
tungsrechts hinein. Gewiß beweist dies nicht, daß es einen solchen neuen, gütigen und fördernden Staat geben dürfe oder gar müsse, über seine Gefahren für herkömmliche Freiheit, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit ist damit nichts ausgesagt. Feststeht aber, daß die normative Ordnung selbst Kategorien bereitstellt, Kanäle, Wege, Gefäße, über welche solche Inhalte, auch allgemeinerer Art, in die normativen Systeme des Öffentlichen Rechts einfließen können, zu denen sie doch, auf den ersten Blick, in kaum überwindlichen Gegensätzen zu stehen scheinen. Damit aber wird der gütige Staat eben doch auch zum normativen Problem, und nun fragt es sich, mit welcher Legitimationsintensität er gefordert und auf solchen Wegen Wirklichkeit werden könnte, aus Staatsgrundentscheidungen der Demokratie.
111. Demokratie - als "entpersönlichte Staatsform" staatsgütegeneigt? Im Begriff der Güte, wie immer verstanden, schwingt stets etwas Persönliches mit, und so öffnet sich dieses Kapitel sogleich in einern Spannungsverhältnis: Wenn es der Volksherrschaft um Entpersönlichung geht, um Abbau persönlichen Herrschaftswillens in der Ordnung der Normen, muß dann nicht gerade diese Staatsform als eine solche des ungütigen Ordnens begriffen werden, in der alles freie Helfen zurücktritt hinter die Schranken normbegründeter Ansprüche? Davon wird unter F noch zu sprechen sein. Gewiß wenden sich eben solche Grundströmungen gegen die Staatsgüte, doch vielleicht treten gerade mit ihr auch kompensatorische Effekte ein, welche diese demokratische Entpersönlichung auch wieder abschwächen, sie erst erträglich werden lassen. Da mag es dann sogar sein, daß sich in der gemäßigten Volksherrschaft gerade dadurch etwas von ihrem Gegenbild erhält, von der Persönlichen Gewalt. 1. Persönliche Gewalt - traditionell gütegeneigt a) Der Herrscher als Helfer
Der Fürst und alle Instanzen, die je ihn berieten und seine Macht fortsetzten, legitimierten sich stets zuallererst als Herren des Schwertes, der zwingenden Macht, sodann aber sogleich, und darin erst wirklich überzeugend, als Herren der Gnade. Ihre Aufgabe war ganz allgemein die Befriedung nach gewonnener Schlacht. Güte und Verzeihen, ein geradezu systematisches parcere victis, ist der andere Herrschaftspol, der sich immer öfter auf blutigen Schlachtendarstellungen schon verewigt findet. Jener Frieden, den die persönliche Macht mit ihren Feinden schließt, bedeutet ihre Aufnahme in den größeren Verbund von Verträgen, wenn nicht von Reichen,
III. Demokratie - als "entpersönlichte Staatsform" staatsgütegeneigt?
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ein Vergessen in Güte und Gnaden, so wie der Fürst seine Gnade allüberall schenkt in seinem Reich, mit ihr mehr noch regiert als mit seiner militärischen Macht. Alles was heute Recht geworden ist, war früher einmal Konzession und Privileg des höchsten Gewaltträgers, so wie er auf Erden die Gnaden des Allerhöchsten verteilte und fortsetzte - in Güte. Über Jahrhunderte hinweg war er der Schenker der Lehen, die gesamte Staatsordnung war gegründet auf schenkende Gewalt - auf Staatsgüte. Orden und Ämter verlieh dieser Herrschende in freiem Gewähren, damit war seine Machtausübung, bis in die letzte Verästelung der Staatsorganisation, nicht nur geprägt durch Staatsgüte, sie war deren bewußter Ausdruck. Die gesamte Staatsordnung der Monarchien und Aristokratien wurde hingenommen, weil sie aus der Güte des Herrn kam, von einem favor principis, der alles durchwirkte, von der höchsten Befehlsstellung über die Erlaubnis des geistigen Wirkens bis zur letzten Favoritin; und selbst moralisch anstößiges Verhalten der Herrschenden wurde hingenommen, weil in ihm noch jene freie Güte wirkte, bis hin zum amore profano, aus der letztlich alle Ordnung erwuchs. Schließlich mußten sich die Herrschenden doch ihren Himmel verdienen, das einzige, was über ihnen stand, durch - Staatsgüte. b) Staatsgüte - Wesen aller Persönlichen Gewalt
Solche Staatsgüte ist aber nicht nur Wesen feudaler Gewalt, mag sie sich in jenen Jahrhunderten auch am deutlichsten ausgeprägt haben, und daher ist sie mit ihr auch nicht untergegangen. Sie wirkt weiter in allen Formen modernen persönlichen Herrschens, bis hinein in Diktaturen, die sich gerade als "gütige" haben halten können, in der Welt der Gesetze. Wo immer persönliche Mächtigkeit noch lebendig ist, selbst in den Zentren der Volksherrschaft, trägt etwas weiter wie die alte, über viele Jahrhunderte bewährte Staatsgüte. Hier ist nicht nur traditionslos-revolutionärer Verteilungs-Sozialismus; diese so neuartig erscheinende schenkende Staatlichkeit weiß längere staatsordnende Tradition hinter sich als jene Gesetze, die sie ersetzen wollten. Persönliche Gewalt, wo immer sie wirkt, ist schon darin in besonderer Weise gütegeneigt, daß sie als solche durch Normen im Zentrum ihrer Macht nicht beengt ist. So weit oben steht sie, daß sie sich Güte leisten kann. Und sie will als Person wirken - wie könnte dies anders geschehen als in Güte? Durch sie bindet sie die Gewaltunterworfenen an sich, in pyramidaler Stufung oder in einem Durchgriff, der auch noch den letzten höher hebt, ihn an sie heranfUhrt. So ist denn Staatsgüte der Persönlichen Gewalt weit mehr als historische Wirklichkeit, sie ist das Wesen dieser Macht, sie verleiht ihr geradezu dogmatisch faßbare Strukuren. Schließlich und vor allem aber findet die Per-
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B. Grundsätzliche Wege und allgemeine Kräfte zum "gütigen Staat"
sönliche Gewalt hier eine Legitimation, welche ihr die Normen nicht so verleihen können wie entpersönlichter Organisation. Hier ist das bereits Wirklichkeit geworden und lange Zeit gewesen, was nun, aus einer Sicht der Normativität, erscheint als ein "neuer Staat" - im Grunde ist es der ganz alte. Die Demokratie fände hier nur zurück zu einem Gegenbild, aus dem heraus sie aber letztlich ebenso wirken muß wie aus eigener Kraft - so eben wie jede wirksame Staatsform, welche Revolutionäres verbindet mit Kontinuität.
2. Abbau Persönlicher Gewalt - Verlust der Staatsgüte? Demokratie will Persönliche Gewalt stets und überall zurückdrängen, damit wendet sie sich gegen eine Staatsgüte, auf welcher diese Macht eben beruhte. Doch eben dies ruft die Antithese, den Gegenzug der helfenden Staatsgewalt. Gerade die Hilfefeindlichkeit der Demokratie schafft das Bedürfnis einer Staatsgüte, welche sich in neuen Formen, zugleich auch der Persönlichen Gewalt, mitten in der Volksherrschaft hält, ja entfaltet. a) Machtabbauende Freiheit gegen helfende Staatsgewalt
Die Freiheit, zu der die Demokratie angetreten ist, auf der sie nach wie vor im letzten aufruht, wendet sich gegen alle Formen organisierter Güte und Hilfe, und dies in einem doppelten Sinn: - Freiheit will nicht helfen, sie will allein lassen. In ihrer Ausgrenzung macht sie es jeder Hilfe schwer, das Bedürfnis zu erreichen. Ihr Individuum darf helfen, darf unterstützen, aber eben als Privater, fern vom Staat und gegen ihn. Gegen den Staat wendet sie ihr Mißtrauen auch darin, daß sie stets gute Gründe finden kann, warum sich im Namen der Staatshilfe auch Staatsgewalt in ihren Räumen verfestigen könnte, Abhängigkeit von dem, der unterstützt, wie ein Blick auf alle Subventionen beweist. Letzte Freiheit ist etwas wie staatlicher Zwang zum Alleinsein, sie will auch jene Gewalt noch nehmen, die dieses durchbrechen könnte. Zäune wollen nie helfen, immer nur trennen. Unter Persönlicher Gewalt gab es keine Schranken, nicht nur Willkür wurde dadurch möglich, sondern auch, ja vor allem, systematische Güte in der Gemeinschaft. - Freiheiten drängen die Staatsgewalt zurück, in allseitiger Tendenz. Nun kann sie lediglich begrenzt eingreifen - aber auch nurmehr in immer engeren Schranken fördern. Der Liberalismus überträgt ihre Macht auf Gesellschaft und Private, die helfen dürfen, nie aber müssen; und so verliert die Hilfe in der Gemeinschaft jene Systematik, die aber allem Staat-
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lichen wesentlich ist, in ihrer Notwendigkeit und Allgegenwart. Für diese liberale Freiheit ist Bedürfnis eine Handlungsmöglichkeit, keine Handlungsnotwendigkeit; Bedürfnis bedeutet hier wirklich - empfangen dürfen. Demokratie fordert nicht nur "Keine Macht den Menschen" - verbietet sie ihnen nicht auch deren Güte, damit Güte zuallererst sich selbst - in Freiheit? b) "Kälte der Normen"
Norm ist kein Begriff für Geschenke und Hilfen, man· mag das Gesetz geradezu als Ausdruck einer Hilfefeindlichkeit sehen. Die Norm gilt, sie hilft nicht, jedenfalls gilt sie, ob sie hilft oder nicht. Im Grunde will das Gesetz nicht geben, sondern verbieten; auf den uralten Gesetzestafeln standen nicht Zuteilungen, sondern Strafen. Noch heute ist das "Recht", sind die "Normen des Gebens", zu allererst das Haushaltsrecht, Gesetze nur in einem recht uneigentlichen Sinn, wenn nicht Ausnahmen in der Dogmatik der Gesetzgebung; denn sie verpflichten eben nicht, sie ermöglichen, sie lassen Güte offen - darf sie aber je offen bleiben? Normen gelten ohne Ansehung der Person, damit aber auch wesentlich ohne Berücksichtigung persönlicher Bedürfnisse im Einzelfall. Sie stellen einen Standard auf, eine Bedürfnisfiktion für viele Fälle, die dann zu berücksichtigen ist, nicht nur in Güte beachtet werden darf. So liegt in der Norm die Negation jenes Einzelfalles, welcher den gütigen Staat auf den Plan ruft; sie kennt die unauswechselbare Beziehung eines Augenblicks nicht zwischen einem Kaiser und seinem Grenadier, sie sieht diesen nur mehr im großen Carre einer Garde, die als solche für die imperiale Gewalt zu siegen hat oder zu sterben. Von wohlwollenden Normen spricht niemand. Problem der Gesetzgebungslehre ist zwar eine Verbesserung der Gesetzeslage, die der Gesetzgeber sich bis zu einem nicht selten lächerlich wirkenden Eigenlob ständig bescheinigt - daß hier besseres Funktionieren, stärkerer Schutz, höhere Leistungen gewährt werden. Über all dem liegt zwar das übliche Zwielicht des Gütebegriffs zwischen Effizienz und Moral; doch Staatgüte im Sinne helfender Zuteilung ist kaum je damit gemeint. Kälte der Normen, wie die der Steine, die sie ursprünglich trugen dieses Bild zeigt die intellektuelle Seite der Klarheit und die willentliche der Konstanz der Normen, es vermittelt auch eine Gefühlskälte, äie allem Recht eigen ist im Geist seiner Bürger, weil sie von einem Staat kommt, der eben Staatsgüte nicht kennen will. Dies aber hat sich gerade, seit der Französischen Revolution, eine Demokratie auf die Fahnen geschrieben, die eine andere strengere Ordnung nicht finden konnte als die der Norm.
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B. Grundsätzliche Wege und allgemeine Kräfte zum "gütigen Staat"
c) Und doch "unter den Normen" - die Güte der Rechtsanwendung
Die Demokratie kennt nicht mehr den großen Helfer, den Herrn der Persönlichen Gewalt an der Spitze des Staates. Doch sie, die sie den kleinen Bürger entdeckt und größer gemacht hat, richtet den kleinen Helfer ein, in der Anwendung ihrer Normen, er führt sie durch und er führt den Bürger durch sie hindurch in einer neuen rechtsanwendenden Staatsgüte, welche gerade die Kälte der Normen erzwingt. Diese neue Staatsgüte in Normanwendung ist heute bereits überall demokratische Wirklichkeit. Verschwunden ist zwar der großzügige Vorgesetzte früherer Zeiten, der aus aristokratischer oder großbürgerlicher Noblesse nachgeordneten ängstlichen Büropedanten etwas von der Großzügigkeit, ja von der großen Milde des Monarchen weitergab, in einem ganz direkten Zug, in der glücklichen deutschen Kleinstaatenwelt. Auf keiner Leitungsebene läßt sich solcher Mut leicht mehr finden, oft ist es, als werde in einem scheuen "Da sieh Du zu !" mögliche Milde, staatliches Helfen nach unten verlagert, in einer dann für den Bürger allerdings glücklichen Dezentralisierung. "Oben" wächst zwar die Kälte der Normen, die Gefahr der Disziplinierung, vor der kein noch Höherer schützen kann. Doch "Unten" wirkt der große Staat im kleinen Beamten und Angestellten, der helfen darf und hilft, "unter allen Normen hinweg", mit jener ganz kleinen und doch so wichtigen Persönlichen Gewalt, die nicht jedem das Seine, wohl aber dem Mütterchen das Notwendige gibt. Hier sind nicht dem Staat der Gerechtigkeit beide Augen verbunden, doch er darf "ein Auge zudrücken", und all diese Bilder sind eben sehr "persönlich" gezeichnet, an allen Verboten des Ansehens der Person vorbei. Dieser kleine Staatsbedienstete, aus dem die Welt schon bald nur mehr zu bestehen scheint, er geht zufrieden, wenn nicht gerechtfertigt nach Hause, nicht, wenn er noch eine Norm gefunden und dieser zu perfekter Wirksamkeit verholfen hat; dies wird ihm eher ein normatives, aber ein schlechtes Gewissen bringen. Ist es ihm aber gelungen, dieses Gesetz zu wenden und zu biegen, auf das hin, was unter der Norm liegt und doch über ihr stehen sollte: auf das Bedürfnis des Einzelfalles, der Hilfe braucht, so kommt ihm Zufriedenheit ebenso aus einem moralischen Verdienst wie aus einem tiefen Gefühl, Vertreter einer Macht zu sein, die eben auch - etwas schenken darf. Dieser kleine Helfer des Bürgers bleibt Bürokrat, doch er kann sein normblindes Tun unter der Bürokratie verstecken, seine persönliche und zugleich normanwendende Güte. Wie die vielkritisierte Bürokratie stärker ist als alle Normen, so darf sie auch besser sein; und leichte Kritik, die ihr nur vorhalten zu müssen glaubt, daß sie die Gesetze noch lastender werden lasse, übersieht völlig, daß sie diese Normen eben auch in ihrer unüberschaubaren, ordnungs-überwindenden Vielfalt immer wieder erträglich
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werden läßt. Dies ist eine glückliche List der Vernunft in der Demokratie: Ihre nonnativierte Organisation erzwingt die Bürokratie, mit ihr aber auch den kleinen Helfer, der nicht nur unbürokratisch, sondern gerade höchst bürokratiekonfonn über so manchen unmenschlichen Nonnbefehl hinweggeht. Der kleine Beamte des Förderns und Helfens ist darin dem Bürger um vieles näher sogar noch als der hohe Potentat früherer Zeiten, den nur ferne Hoffnung zu erreichen glaubte; denn er wird helfen "als einer von uns", in einer letzten Bürgersolidarität, und von ihr wird noch die Rede sein. 3. Entpersönlichender Gewaltabbau Notwendigkeit neuer Gewalt des Gebens a) Weniger Staatsgewalt durch demokratische Entpersänlichung
Die Volksherrschaft proklamiert nicht nur mit ihrer Bürgerfreiheit den Machtabbau, vor ·allem verwirklicht sie ihn entpersönlichend in ihrem organisatorischen Staatsrecht. Ständiger Wechsel der Machtträger ist dort ja möglich, wenn nicht gewollt, selbst wo er nicht erfolgt, wirft er lange Schatten voraus. Doch solche Machtabschwächung vollzieht sich nicht nur in den Personen der Herrschenden, sie vennindert laufend deren hoheitliche Befugnisse. Der Eingriffsbegriff wird als solcher immer problematischer im Öffentlichen Recht, viele mildere Worte müssen ihn ersetzen, von der Gestaltung bis - eben hin zur Milde. Die .Heiligkeit der Freiheit läßt den "Eingriff' letztlich zum odiosen Wort werden, in welchem frühere Obrigkeitlichkeit mitschwingt, und in Privatisierung will sich das demokratische Staatswesen vor allem von dem distanzieren, was dem Privaten geradezu begrifflich versagt zu sein scheint: der Eingriff in den Bereich des anderen. Dies alles aber ist nicht nur ein mächtiger Zug gegen alle Staatsgewalt, es kann und muß wohl zum ebenso starken Zug werden hin zu dem, was dann allein noch bleibt: zur Staatsgüte. Denn wer nicht eingreifen darf, kann, muß vielleicht, wenigstens helfen; und in diesem "wenigstens" liegt die große Hoffnung auf den Reservestaat, auf die letzte Staatsversicherung im Unglück der Bedürfnisse. b) Von der Entpersänlichung der Staatsgewalt zur Krise des normativen Staates
Den Organen des modernen Staates wird immer mehr an Macht genommen, an Dauer und Sicherheit der Innehabung der Gewalt ebenso wie an Befugnissen in deren Ausübung. Fast ist es, als bleibe diesem nonnativen Staat nichts anderes mehr übrig, als abzunehmen in seiner Organisation und seiner Macht, was er kaum hinter dem trägen, zunehmenden Volumen
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seiner Gesetzgebung verbergen kann. Die Nonnflut ergießt sich schon weit weniger in den neuen Verboten als in spezialisierender Auflösung früherer Gebote, in zahllosen, meist machtabbauenden Ausnahmen, wenn auch als Sachnähe getarnt. Darin verliert dieser entpersönlichte Staat der Nonnen immer weiter an Macht, weil er auch in den Nonnen nicht mehr zusammenfassen kann, was er in der Person der Herrschenden bereits seit langem verloren hat: eine gewisse integrative Zusammenfassung von Gewaltäußerungen, die allein den Namen der Macht noch verdienen. Nicht nur, daß die Nonnen jene Persönlichkeit nicht ersetzen können, welche heute mit der Staatsrnacht in Staatsgüte verloren gegangen ist; die Nonnen bringen immer mehr Machtabschwächung, nicht Machtbefestigung. In einem Spiral vorgang von Entpersönlichung zu Nonnativierung und zurück zu immer weniger Persönlicher Gewalt dreht sich zwar der Staat ins Recht, doch am Ende ist er nur mehr Nonn, Staat als Recht im kelsenianischen Idealzustand der vollen Fonnalisierung. Dann aber schaut er nur mehr auf das Sollen, nicht mehr auf das Müssen der Durchsetzung der Macht; mit seiner Blindheit gegenüber Politik und Fakten verliert er die eigentliche, seine frühere Gewalt. c) Die neue Macht des Gebens
In dieser Krisensituation der niedergehenden "Staats-Gewalt", die eben herkömmlich nur im hoheitlichen Eingriff gesehen wird, liegt die große Chance, wenn nicht die Notwendigkeit, einer ganz neuen Macht, der Potenz des Gebens, Fördems, Helfens. Diese Veranstaltungen einer Staatsgüte legitimieren dann sogar - und sie allein - das eingreifende, systematische Nehmen in Steuerstaatlichkeit, in dem sich der Staat noch etwas von früherer, drohender Hoheit bewahren kann. Denn diese Macht des Gebens ist zugleich eine solche zu mehr Freiheit, indem sie die faktischen Grundlagen derselben herstellt und bewahrt im Leben des Bürgers. So wird diese gütige Macht, so scheint es doch heute schon so vielen, zur wirklichen "Freiheitsgewalt", Macht zur Freiheit und nur zu ihr. Damit findet ein solcher gütiger Staat vom Ethos des helfenden Guten sogar noch zum großen Pathos der Freiheit, in dem nur zu oft deren ethischer Wert sich verliert, seit ihre großen Worte in der Großen Revolution gesprochen wurden. Und diese große, kombinierte Macht des Gutestuns und des Davonsprechens aber muß sie nicht dem Staat erst recht bleiben in einer Zeit seines nonnativen Niedergangs, seiner entpersönlichenden Krisen? Darin mag insgesamt eine Alterserscheinung der Staatlichkeit liegen, weil auch ihr nichts mehr anderes bleibt als dem älterwerdenden Vater, der sich vom Strafen auf Geben und Erblassen zurückziehen muß. Doch auch dies wird eben als echte Macht noch gefühlt, in Familie und Gesellschaft, wie gerade auch in jenem Staat, dessen gebende, zuteilende Macht heute fast allein noch geachtet wird - und erstrebt.
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Die große Frage ist nun allerdings, ob dies Ausdruck einer Rest-Staatlichkeit ist, oder einer neuen, fortschreitenden, immer noch mächtigeren und vielleicht gefährlicheren Staatsgewalt. d) Kompensation von Eingriffsmacht durch Förderungsgewalt
Die bereits früher angedeutete Frage; ob sich hier eine Abschwächung der Staatsgewalt vollzieht oder eine Renaissance derselben in neuen Formen, kann man zu beantworten versuchen in einer näheren Betrachtung der Formen und Wirkungen einer Staatsgüte, wie sie im folgenden geboten wird, wie sie sich auch aus den Tendenzen zu ihrer Verstärkung ableiten läßt. Entscheidend wird sein, ob dieses Geben und Verteilen dieselbe Intensität - und schließlich zwingende Kraft - entfalten kann wie der hoheitliche Gewalteingriff früherer Zeiten, ob sie über diese nicht gar noch hinwegführt. Und wenn .dies grundsätzlich möglich erscheint, so wird es der traditionellen Staatsgewalt an Versuchungen nicht fehlen, das, was sie an Eingriffsmacht verliert, sich an "Rechten zum Geschenk" geben zu lassen oder gar zu nehmen. Und der Staat der wenigen Verbote als Staat der vielen Gaben - dieses Kompensationsverhältnis von Geben und Nehmen, von Erduldenmüssen und Forderndürfen oder doch hoffen war vielleicht schon einmal vorgezeichnet in der alten Maxime aus wohlfahrtstaatlicher Zeit: "Dulde und liquidiere"; sie erlaubte der Staatsgewalt den Eingriff und verpflichtete sie doch zugleich zum Ausgleich. Wenn es nun noch gelingt, die Freiheit des Eingreifens, bis hin zur Willkür, durch die neue Willkür des Gebens zu ersetzen, die nur als Freiheit gesehen und als solche angenommen wird, dann hat der Staat seine volle Autorität wieder erreicht, seine höhere, herrscherliche Freiheit; vielleicht kann er dann aufrecht zu neuem Belieben schreiten, über die vielen Normen, die ihm die Wege seiner Macht versperrten. Dann könnte es zu einer Machtsteigerung kommen, über alles bisherige, immer mehr Eingeschränkte hinaus, zugleich aber riefe sich die sterbende alte Staatlichkeit eine noch viel stärkere neue. Und Spätzeiten mögen auch Perioden nicht der Machtabschwächung sein, sondern der großen Machtmutationen, in denen sich die Natur fortsetzt - hier die des Sinnens der Menschen auf Macht, wie in so vielen anderen Bereichen geradezu unsterblich in ihrem Streben. e) Machtverschleierung durch Helfen
Die größte Chance solcher Machtverstärkung besteht jedoch nicht darin, daß Geben und Helfen tiefer eindringen kann in die Freiheitssphäre des Bürgers als der klassische Eingriff der Hoheitsmacht, liegt doch in jenen Begriffen bereits die Voraussetzung, daß der Bürger so klein geworden ist,
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daß er einerseits zu fördern ist, andererseits sich aus damit sich ergebenden Bindungen nicht mehr zu lösen vennag. Machtzuwachs findet sich aber nicht nur darin, daß auf solchen Wegen der Staat sich seinen jahrhundertelangen nonnativen Bindungen entziehen darf, vielleicht muß. Entscheidend könnte werden - und nun wirklich ein gewaltiger Machtzuwachs, wenn nicht eine ihrem Wesen nach neue Macht - daß all dies sich verdeckt abspielt, Gewalt unter dem Vorwand, unter der Legitimation von deren Gegenbegriff, der gütigen Hilfe. "Güte" und "Hilfe" mögen nicht begrifflich voll zusammenfallen; "Güte" jedoch und "Zwang" sind letztlich nicht einmal mehr in Spannung vorstellbar, sie bilden ein eindeutiges Gegensatzpaar. Daß sie austauschbar sind in praktischer Politik, ist oft genug in der Staatsrechtslehre betont worden; daß sich aber hier verdeckte Macht hinter die helfende Güte schiebt, sich geradezu mit Notwendigkeit dort entfalten wird, diese Gefahr wird erst im weiteren Verlauf der vorliegenden Betrachtungen in ihrer ganzen Dimension, in ihrer notwendigen Entwicklung, deutlich werden. Der Staat als Person würde dann zum großen Tartuffe, der mit den hohen Worten des gütigen Gottes der Christen die Durchsetzung seiner Machtgelüste vorbereitet. Aber er würde damit nochmals zu dem, was in Entpersönlichung der Macht schon verloren schien: zu einem personhaften Wesen, welches Güte ausstrahlt und in dessen Licht die gefährlichen Strahlungen der Macht verbirgt. Dies alles hier zunächst nur als Fragen - auf die später noch Antworten versucht werden. 4. Neue Personwerdung des entpersönlichten demokratischen Staates - in Staatsgüte
Daß der Verlust an Staatsrnacht zum Ende von Staat und Ordnung schlechthin führen könnte, ist heute verbreitete Angst, die im Staatsrecht umgeht, seiner Lehre und Praxis. Immer mehr scheinen sich geradezu zwei größere Fonnationen gegenüberzustehen: Hier jene, welche geordnetes Zusammenleben ohne jenen Staat sich vorstellen, den sie mit den Ausläufern der Feudalzeit endgültig untergegangen wähnen - dort die, welche dann nichts mehr sehen als eine schleichende Anarchie, welche am Ende in der Brutalgewalt der Führerpersönlichkeit enden muß, oder im Zusammenbruch der Gesetze, nicht nur der Kultur des Rechts. Hier kann der gütige Staat eine Gegenposition aufbauen, eine große Hoffnung. Da er selbst entpersönlicht ist, in allen Mechanismen der Demokratie, könnte er in diesen neuen Fonnen des fördernden Staates doch wieder zur Person werden, er darf es, im Namen des Gebens. Macht-Tartuffe oder Vater einer gütigen Wohlfahrtsstaatlichkeit - entwickelt sich nicht in seinem Helfen etwas wie eine neue Staatspersönlichkeit darin, daß
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der "Organisation Staat" alle Eigenschaften und Fähigkeiten, vor allem dann aber auch alle Rechte einer Persönlichkeit zugeschrieben - verliehen werden müssen? Kann nicht gerade darin die Staatsgüte zur Machtverstärkung geraten, daß der bereits zerfallen erscheinende Staat zu einer neuen Einheit integriert wird, zu einer Persönlichkeit eben, weil nur diese in freier, gütiger Entscheidung schenken kann? Dem eingreifenden Staat begegnete der eingeschüchterte Bürger früher in den Uniformträgern und ihren Waffen; dort war Persönlichkeit, die Uniform war, wie ihr Name es aussagt, die Einheitsform einer verpersönlichten Organisation, diese wurde getragen von Menschen, hinter welchen man sich einen Staat ebenso als Person vorstellen mochte, wie in ihr, und sei es auch in den ordens geschmückten Gewändern der Fürsten. Hinter der gebenden und helfenden Kirche war ja auch, selbst verdeckt durch ihre würdigen, uniformhaft vergoldeten Gewänder, ebenfalls jahrhundertelang doch noch immer der gütig Verteilende sichtbar, die Persönlichkeit, welche darin zur Heiligkeit emporwuchs, als ein großer Gebender schließlich kanonisiert, auf Altäre zur Anbetung erhoben. Dem Staat als Organisation schienen all diese Heiligungen endgültig verloren zu sein, im Äußeren seiner Macht begegnete man nicht mehr der eindrucksvollen Schönheit der Uniformen, sondern nur mehr anonymen, entpersönlichten Verboten und Verhaftungen. Dagegen nun baut sich in gütiger Wohlfahrtsstaatlichkeit vielleicht eine neue Organisations-Güte auf, etwas wie ein großes Kloster mit Toren, zu den Armen geöffnet, in dem aber im Grunde doch nichts anderes wirkt als eine kollektivierte Persönlichkeit zur Güte. So erhält dann der entpersönlichte Staat gerade als Organisation wieder nicht nur die Macht, sondern auch das Recht, Gutes zu tun. Daraus legitimiert er sich als eine allgegenwärtige Persönlichkeit, und dies verleiht ihm wiederum die Möglichkeit, helfend neuartige Macht auszuüben, die Macht der Hilfen. So könnte es wohl geschehen, daß ein "gütiger Staat" den Machtverlust der Demokratie überspielt in einer Staatsgüte, die eine völlig neue Machtstruktur bringt. Die Normativierung des Herrschens könnte sich darin vollenden, in der Macht, "beliebig" zu geben, gerade darin "Gutes" zu wirken. Denn in dieser Beliebigkeit, die aus dem Wesen der Persönlichkeit erwächst, liegt auch das Zentrum der Güte: Sie hilft, obwohl sie dies auch unterlassen könnte. Wenn sich Güte aber geradezu daraus definiert, so liegt umgekehrt auch in jeder Beliebigkeit notwendig etwas von ihr, und nicht nur jene schreckliche Willkür, welche der normative Staat aus allen Bereichen verbannen wollte. Beliebigkeit muß dann sein im Namen der Güte, etwas von ihr, wenn möglich geradezu überall; in einer echten Zwanglosigkeit des Förderns findet der helfende Staat zur persönlichen Güte zurück,
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wie er sie auch bei seinem Bürger wünscht und fördert. Erst in dieser neuen, gütigen Staatspersönlichkeit wird dann die anonyme Organisationsmacht zu etwas, das sie mit dem persönlichen Schöpfergott, mit der höchsten Macht, verbindet - wie eben im Gleichnis vom Weinberg.
IV. Demokratie - Staatsform der Solidarität Mit dem Begriff der Solidarität und der Forderung nach ihr dringt eine neue menschliche Nähe vor in die kühlen Strukturen der Macht, durchwirkt sie im vertikalen Verhältnis vom Staat zum Bürger, wie auch in der Horizontalwirkung der Beziehungen der Bürger untereinander. Hier entfaltet sich ein neuer Staatsfonnbegriff der Demokratie - wirkt in ihm nicht vor allem eines: die Staatsgüte? Hier das Pro - später (F) das Contra. 1. Solidarität - die neue Brüderlichkeit a) Solidarität - ein "guter", allgegenwärtiger Ordnungsbegriff
Heute gibt es kaum ein Wort unter den höheren Prinzipien des Rechts, das so oft gebraucht, in dessen Namen soviel gefordert wird wie Solidarität. Der eine Bürger erwartet dies vom anderen, seine Verbände von den sozialen Gegenspielern, sie alle vom Staat, und der Staat fordert es von ihnen allen. Wo Individuen sich nicht solidarisch verhalten, hat die Staatsgewalt dies zu erzwingen, sie, die sich zuallererst in solidarisierender Verteilung bewährt und darin geradezu legitimiert. Vom Steuerrecht bis zur Arbeitsordnung, von der Sozialversicherung bis zum Finanzausgleich zwischen den Ländern - über allen Einzelmaterien und über der demokratischen Staatlichkeit als solcher steht dieser große Begriff, in dessen Namen die Umverteilung vom odiosen zum guten Wort geworden ist. Der Begriff ist nun zwar nahezu völlig unklar, verwaschen und widersprüchlich in seinen Inhalten, mehr bringt er nicht als Forderung nach irgendeinem "Miteinander". Kaum verständlich ist, wie er in einer Ordnung der Rechtsstaatlichkeit gebraucht werden darf, wenn er rechtliche Ordnung legitimieren oder gar hervorbringen soll; hier zeigt sich, daß dieser höchste Staatsfonnbegriff der Legalität in begriffsjurisprudentielle Hilflosigkeit zurückfällt gegenüber den wirklich mächtigen Stößen der Sozialpolitik, der Politik überhaupt. Wenn Solidarität mehr bedeuten soll als den harten Griff in die Taschen anderer, des Nächsten zuallererst, so kann nur eines in ihr liegen, oder besser mitschwingen: etwas von Hilfe, Güte, vom Geschenk. Und da der in seiner verfassungsmäßigen Freiheit isolierte Bürger dazu kaum bereit sein
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wird, zwingt ihn der Hoheitsstaat dazu und eignet sich gerade in dieser seiner Macht das moralische Verdienst der Güte zu. Die Staatsgewalt verteilt nicht nur selbst Staatsgeschenke, sie läßt dies immer mehr aufgehen in dem von ihr erzwungenen Verhalten der Gewaltunterworfenen untereinander, im Bürgergeschenk. Das Staatsgeschenk wächst über die stets kritisch hinterfragte Staatsleistung hinaus, es wird zum Gesellschaftsgeschenk; die Gesellschaft selbst wird durch Staatsgüte durchwirkt und, in einem neuen Sinn, wiederum eins mit dem Staat. Im Namen der Solidarität handelt die demokratische Macht also ebenso selbst "außernonnativ", aus den jeweiligen Bedürfnislagen ihrer Bürger legitimiert, wie sie von diesen erwartet, und bei ihnen erzwingt, daß sie ihrerseits helfen. Solidarität darf dann wirklich überall zum Zentralbegriff werden, in all ihrer UnfaBbarkeit, denn sie wächst doch empor zum superdynamischen Begriff für alles, was Geschenk ist, "einseitiger Austausch"; als Gegengabe wird nur eines erwartet: daß der Beschenkte darauf verzichtet, sich das Geschenk mit Gewalt selbst zu nehmen. Und ist es nicht besser, rechtzeitig zu geben, als abzuwarten, bis die finstere Drohung mit "sozialen Unruhen" sich verwirklicht? Wird in all dem Solidarität nicht auch noch zum sanktionierenden Ordnungsbegriff? b) Fratemite - die demokratische Staatsintegration
Die Demokratie braucht einen höchsten Zusammenfassungs-Begriff, in dem sie wieder ganz zur Staatseinheit (zucück-)findet, nach jener Machtatomisierung, welche sie in der Französischen Revolution und seither laufend bewirkt hat, in Freiheit und Gleichheit. Diese beiden Begriffe haben ja nicht nur die Staatsgewalt gemindert, die Staatsbande zum Bürger gelokkert; vor allem wurden die Gewaltunterworfenen ihrerseits als Individuen voneinander isoliert, und darin auch vom Staat, in einer neuen Freiheit des Eigentums und des Gewerbes, des Sprechen-, Denken-, und GIaubendürfens. In der Gleichheit wurden und werden dann alle diese Individuuen erst recht nicht zueinander, sondern nebeneinander gestellt, durch Forderungen gegenüber dem Gleichheitsstaat eher noch voneinander getrennt. Es gilt aber, sie einander und dem Staat wieder zuzuordnen, sie als Personen zu verbinden - und auch mit der Person des Staates. Dies nun ist der nie voll erfaBte, stets aber unausgesprochen zugrundegelegte Sinn des dritten, späten Kernworts der revolutionären Bewegung Frankreichs: Nach der Zerstörung der Staatsrnacht und einzelner Machtpersönlichkeiten in der Freiheitsrevolution von 1789, nach der Atomisierung der Bürgerschaft in der Gleichheitsrevolution der Jakobiner, wollte die Revolution von 1848 endlich zur Republik als "voller Staatsfonn" finden, die auch das Miteinander rechtlich organisierte, nicht nur das Nebeneinan5 Leisner
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der freier Menschen. Der Liberalismus der Freiheit konnte dies zurückdrängen, verbunden mit einem Konservativismus, der gegen die Dynamik der Brüderlichkeit stand, und erst das Anwachsen der sozialen Bewegung brachte in der Weimarer Zeit neue Verfassungsversuche zu einer vollen Staatsordnung, welche Freiheit und Gleichheit in Brüderlichkeit hätte überhöhen sollen; bis in die "Volksgemeinschaft" des Nationalsozialismus hat dies noch mächtig nachgewirkt. Die Allgemeine Staatslehre insbesondere hat das in jenen Zeiten zu theoretisieren, ja zu dogmatisieren versucht, vor allem in der Integrationslehre von Rudolf Smend: Es geht um die Herstellung neuer, kreativer Einigkeit zwischen den Bürgern, die nichts sein kann als eine Neuauflage der revolutionären Fraternite; die Gewaltunterworfenen sollen "einig sein im Namen von Werten", die sie vor allem in der Freiheit finden - und darin sollte die Fraternite endlich zu ihrer historisch ungeliebten Schwester, der Liberte, zurückfinden. Aus heutiger Sicht konnte dies damals, und es kann heute nichts anderes bedeuten als eine höchste Verfassungsforderung der Solidarität der Bürger untereinander und zu ihrer aller Gegenüber, dem Staat. Dies aber wird wiederum nur in einem wirklich greifbar, in dem, was der allgemeine Sprachgebrauch zu allererst doch mit allem Brüderlichen verbindet: im brüderlichen Teilen, im Verteilen durch den Staat als dem großen, dem größten Bruder von allen. So läßt sich die staatsrechtliche, geradezu staatsgrundsätzliche Brücke schlagen von den demokratischen Revolutionen der Vergangenheit zum modemen Verteilungsstaat, welcher die alte Revolution in neuer Verteilung befriedet. Wie aber könnte dies, unter den Bürgern, vor allem aber seitens der Staatsgewalt, anders geschehen als in helfender Güte? Brüder helfen einander, beschenken sich, Fraternite kann nichts anderes beinhalten als Bereitschaft zu einem Geben ohne Gegenleistung, liegt doch diese allein darin, daß der andere Bruder ist, sich als solcher friedlich verhalten wird, familiengemeinschaftsbewußt. So läßt sich aus dem immer verdrängten, nie vergessenen demokratischrevolutionären Grundbegriff der Brüderlichkeit ein neues, positives Staatsgefühl entfalten, ein integratives. Nachdem Freiheit und Gleichheit alles zerschlagen haben, fügt Brüderlichkeit wunderbar all diese Glieder der Gemeinschaft wieder zusammen, und Rousseau hätte sein bitter-ironisches Beispiel von den japanischen Scharlatanen, welche die in Gewaltenteilung zerstückelte Staatsgewalt in die Luft werfen und dann den Staat als einheitlichen Körper wieder auffangen, gewiß auch auf die revolutionäre Bewegung anwenden können: Von der menschen teilenden, güteatomisierenden Freiheit und Gleichheit zurück zur wunderbaren Renaissance der Staatsgüte in Brüderlichkeit.
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Überwunden würde darin nicht nur eine die Individuen isolierende Freiheit, sondern auch eine Gleichheit, die nicht genug nach den Bedürfnissen des Einzelfalles fragen will. In freiemotionaler Güte findet nun, so scheint es doch, Bürger zu Bürger, die Staatsgewalt zu jedem einzelnen von ihnen. Und die Gleichheit der Bürger vor den öffentlichen Lasten, der höchste und unverrückbare Ausdruck der Egalität, steht dem noch nicht einmal entgegen; sie betrifft ja nur die Einnahmenseite, spätere Staatsgüte im Namen des Empfangenen hindert sie nicht - dem Bruder gegenüber, der doch auch bereit ist, auf dem Schlachtfeld wie alle und für alle zu sterben. So ist denn Solidarität keine Entdeckung der Gegenwart, nicht einmal eine neue Errungenschaft der alten Arbeiterbewegung; in ihr wird die große Staatsbrücke geschlagen über die liberalen Revolutionen zurück zu ferner Wohlfahrtsstaatlichkeit, ja zur Güte der Fürsten und Kirchen, die ja auch zuallererst ihre Gläubigen untereinander zur schenkenden Liebe führen wollten. Und steht damit die Staatsgüte nicht sowohl in einer machtvoll fordernden Gegenwart als auch in einer überzeugend legitimierenden Tradition? 2. Wahlgeschenke demokratische Staatsgüte zur Solidarität
In diesem Zusammenhang der Solidarität, eines Begriffes, der auf dem Wege ist zur ebenso hohen wie unklaren Staatsfonnbestimmung, weit über alle Staatsziele hinaus, muß nun zugleich auch ein Wort zu den Wahlgeschenken gesagt werden; sie sind weder Institutionalisierung noch Degeneration der Demokratie, in ihnen kommt deren grundsätzliches Wesen zum Ausdruck. Mit ihnen wird die Staatsmacht des Schenkens Wirklichkeit, sie führt die Bürger zusammen, legitimiert die Herrschenden ihnen gegenüber, hier wird Staatsgüte sicher schon zur Politik, vielleicht bald zum selbstverständlichen Recht. a) Wahl als demokratisches Vertrauensgeschenk
Wenn etwas das Wesen der Volksherrschaft ausmacht, so die Wahlen; sie sind die Staatsgrundlagen der Demokratie, in allem und jedem, überall einsetzbar und zu realisieren. In doppelter, wahrhaft staatskonstitutiver Weise durchwirkt das Wählen die Volksherrschaft: Es legitimiert sie in all ihren Machtäußerungen, und zugleich ist es höchstes institutionelles Ordnungsprinzip ihrer Macht; Begründung und Ausgestaltung der Ordnung verbinden sich in ihm. Dies alles sind seit langem demokratische Selbstverständlichkeiten. Doch weit weniger ist vertieft worden, was denn nun eigentlich diese Wahl s"
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bedeutet. Hier aber zeigt sich Erstaunliches für eine normative Ordnung des rechtlichen Forderns und Müssens: In der Wahl liegt ein Vertrauensgeschenk, eine Machthilfe des Bürgers gegenüber den Staats gewaltigen nicht nur, sondern gegenüber der Staatsgewalt, welche bereits durch ihren Urnengang als solche sich legitimiert sieht; und dieser Gang selbst, in aller Regel nicht erzwungen, ist ein wahres politisches Geschenk an die Staatsordnung, an die Person des Staates, die hinter ihr steht, er ist Ausdruck wahrhaft schenkender Güte des Bürgers gegenüber einer Macht, die ihn in aller Regel dazu nicht zwingt und im Namen seiner Freiheit ihm dies auch nicht rechtlich abfordern sollte. Vor allem aber ist seine Wahlentscheidung ein wirkliches Geschenk an den Auserwählten und seine politische Richtung, nicht nur eine Vorleistung auf Künftiges, was doch, wie jeder Bürger weiß, nicht mehr ist als feme politische Hoffnung. Gewählt wird eine souveräne Gewalt, die "auch anders kann", gerade deshalb und dazu ja in der Wahl bestimmt wird. Wenn nun marktwirtschaftliches Denken, Austauschgerechtigkeit überhaupt, die vorhersehbare, zumindest abzuschätzende Gegenleistung erfordert, so scheint diese Grundstruktur heutigen Denkens doch in der demokratischen Wahl verlassen; die Macht als solche mag zum New Deal führen, zu deals ist sie wesentlich nicht bereit, zu Geschäften mit dem Bürger. Er hat ihr sein Vertrauen geschenkt, sie wird ihm nie anderes dafür geben als - Geschenke ihrer Macht. Aufgerufen ist also der Bürger zur schenkenden Wahlentscheidung, mit der etwas in seine Welt einbricht, was er, der Akteur der allgegenwärtigen Geschäfte, sonst in seinem Leben kaum kennt: ein Vertrauen, in dem viel mitschwingt von politisch schenkender Güte. Und in den täglichen Niederungen der Wahlpropaganda kommt ebendies ständig zum Ausdruck, wenn da gewählt wird aus "Sympathie", die doch voraussetzt, daß man dem Gewählten anders gegenübersteht als dem Geschäftspartner. So kommt mit der Wahl die freie Bewegung des Schenkens in die Staatsordnung, sie verbindet sich dort mit der politischen Dynamik des Unvorhersehbaren, des Erhofften, das aber mehr ist als Vorleistung - eben doch Geschenk. Ruht damit dieser demokratische Staat nicht auf der politischen Güte seiner Bürger, und darf, muß er dies nicht durch Geschenke - vergelten?
b) Wahlgeschenk, Wahlversprechen zwischen Wählerbestechung und politischer Güte
Die Staatsmoral eines nicht immer ganz ehrlichen demokratischen Puritanismus verurteilt gewiß das "Wahlgeschenk" - und kann es doch nicht missen in ihrem demokratischen Staat, geradezu als Voraussetzung, wenn
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nicht Grundlage für dessen Funktionieren. Man mag es vornehm umschreiben als Ausdruck eines Mehrwerts der Macht, oder eben als deren faktischen Ausdruck, der sich jeder Kontrolle entzieht; Wahlgeschenke bleiben selbstverständlicher Bestandteil demokratischer Staatspolitik, und dies nicht nur in zeitlicher Nähe zum Urnengang. Und ebenso selbstverständlich ist es, daß sie stets als wirkliches Geschenk gesehen werden, als eine Hilfe für eigene Klientel oder die, welche es werden sollen, ohne jede Sicherheit konkreter Gegenleistung - ein anlockendes Verteilen und Schenken. Es ist, als könne hier endlich die mächtige anonymisierte Staatsmaschine zum Bürger sagen: "Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein". Auf seine konkreten Bedürfnisse schneidet sie ihre Machtäußerungen dann zu, lockt die Annen an die Urnen, und liegt darin wirklich nur Demagogie, nicht zugleich auch - Staats güte, ein schenkendes Helfen, welches von der Macht ausgeht, damit sie bestätigt werde? Ausdruck solcher Wahlgeschenke sind auch die Wahlversprechen, jene "Geschenke der Zukunft", welche künftige Güte verheißen, in denen sich futuristisches Wohlwollen der Macht gegenüber dem Bürger ausdrückt, so unerzwingbar wie alle Hoffnung. Und dies gerade erfolgt in voller Globalität, kaum mehr faßbar materialisiert - dürfte man nicht eben dies erst recht dann Güte nennen, ein Versprechen auf sie? Nun läßt sich doch, so scheint es, dieser gesamte typisch demokratische Geschenk-Mechanismus, vom Bürgergeschenk des Wahlgangs und der Wahlentscheidung bis zu Wahlgeschenken und Wahlversprechen, vielleicht in etwas bringen wie in eine "demokratische Staatsfonn des gegenseitigen Schenkens". Nicht faßbar aufeinander bezogen sind diese Leistungen, es findet ein dynamischer Austausch statt in einer Staatsfonn des globalen gegenseitigen Wohlwollens - warum sollte man gerade dies nicht Güte nennen dürfen, der Bürger zur Macht und, vor allem, der Staatsgewalt ihnen gegenüber? Zeigen sich hier nicht Grenzen rationaler Macht einer in Begriffen von Leistung und Gegenleistung erfassenden Staats geometrie? In all dem liegt auch keineswegs nur punktuelle Zufälligkeit, sondern durchaus flächendeckende Systematik. Möglichst alle Bürger sollen ja gewonnen werden durch diese fördernden Hilfen, darin findet die Staatsgüte sogar, wenn auch vielleicht wider Willen, noch zu etwas wie einer Gleichheit der Förderung. Wechselnde Regierungen, vor allem aber enge Mehrheiten, bringen bald diesen, bald jenen möglichen oder realen Klientelen die Vorteile der schenkenden Mächtigen. So kann die Demokratie sich geradezu entwickeln zur Staatsfonn der alle Bürger erfassenden, zentral institutionalisierten Solidarität, in den Wahlen, den Geschenken und Versprechungen der Parteien. Liegt darin aber nicht etwas wie ein "gegenseitig sich Güte Versprechen"? Wie weit immer man die Wirkungen solcher Praktiken erstreckt sieht, sicher bricht damit etwas von einer extranonnativen
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Mächtigkeit des Beliebens in die Gemeinschaft ein, und es wird vom Bürger nur zu oft beurteilt nach moralisierenden Kategorien des Guten, gefühlt fast immer als schenkende Staatsgüte, man mag ihr nun Glauben schenken oder nicht.
3. Bürgernähe - ZentralbegritT demokratischer Solidarität Bürgernähe ist eine selbstverständliche demokratische Forderung: Alle Macht, die vom Volk ausgeht, muß nahe auch beim Bürger stets bleiben. In der "abgehobenen" Machtausübung liegt nicht mehr die viel bewunderte Überlegenheit des souveränen Handeins, die über Bürgerkleinheit hinweggehen darf, sie wird zum Kemwort einer Anti-Macht-Kritik. Bürgernähe wird im wesentlichen von der Zweiten Gewalt gefordert, sie ist etwas wie ein exekutivisches Gegenstück zur Wahl, wichtig vor allem dort, wo die Macht-Bürger-Beziehung der vollziehenden Gewalt nicht durch Wahlen hergestellt wird. Die Bürgernähe der Ersten Gewalt soll ja schon durch die Vielzahl der Volksvertreter gewährleistet werden, bürgernah will man die Judikative ausgestalten durch immer weitere Verzweigung der Rechtswege, zugleich aber Verkürzung, Konzentration der Verfahren. Bei der vollziehenden Gewalt dagegen muß Bürgernähe eine selbständige Begrifflichkeit werden, zur eigenständigen Organisationsanstrengung der Exekutive führen. Darin liegt demokratische Besonderheit, nicht nur demagogisierend-unbestimmte Forderung. Hier wird mehr angesprochen als eine wünschbare Selbstverständlichkeit, gefordert wird eine grundsätzliche Organisationsanstrengung. Was soll nun diese "Macht nahe am Bürger" sein, die "auf ihn hört"? Zuallererst hat sie dessen Einzelfall zu sehen, auf diesen und damit auf seinen Träger Rücksicht zu nehmen. Darin liegt eine deutliche Wendung zu den Inhalten dessen, was oben als mögliche "Staatsgüte" erkannt wurde. Ohne Verwaltungs-Verengung auf den Einzelfall kann es, von vorneherein, keine Güte, keine Hilfe geben, keine Förderung, deren Begriff stets mit dem des "möglichst Gezielten" verbunden wird. Wer sich aber auf diesen Einzelfall konzentriert, lenkt schon über zu dem Begriff jenes Bedürfnisses, der erst recht im Zentrum all dessen steht, was Staats güte genannt werden könnte. Der gute Klang des Wortes von der Bürgernähe kommt letztlich doch nur daraus, daß in ihrem Namen Bürgerbedürfnisse ermittelt werden sollen, damit der Staat Bürgerhilfe leiste. Dies erst verleiht der Bürgernähe die Kraft des "guten Wortes", politisch und bis ins Moralische hinein. Schwänge dies in dem Begriff nicht mit, dieser Aufruf zur Bedürfnisbefriedigung, wie er jede Güte trägt, so wäre Bürgernähe nichts anderes als ein gefährliches Programm korrumpierter Macht. In der Nähe aber ist der Nächste bereits mitgedacht, und er ist es, dem Güte bezeigt wird, er allein.
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Wer daher Bürgernähe verlangt, verdeckt damit nur die Forderung nach dem gütigen Staat. In aller Güte ist eines stets mitgedacht: Das Kleinere kommt vor dem Größeren, es steht höher als dieses, zuerst ist ihm zu dienen. Dem Kleineren, Schwächeren allein kann der noch Mächtigere Geschenke machen, dem Größeren nicht, er würde ihn zu einer feudalen Zwischengewalt steigern, welche seine demokratische Macht alsbald bedrohte. Bürgernähe fordert einschlußweise die Beschenktenfähigkeit des Gewaltunterworfenen, dem die Staatsgewalt eben helfend nahe sein darf. Dies ist ein ganz anderes Denken als jenes, welches die Staatsgewalt auf das "Öffentliche Interesse" festlegen will, damit sie sich vielleicht gar darin erschöpfe. Öffentliche Interessen sind keine Materien für Geschenke, kaum für helfende Staatsveranstaltungen; dies sind Gegenstände der Ordnung, der höheren, anonymisierten, weithin bedürfnisblinden Macht. Im Begriff der Bürgernähe dagegen werden diese öffentlichen Interessen so klein geschnitten, daß ihre Träger hilfefahig, "gütefähig" werden. Die französisch-liberale Demokratie, wie sie aus der Revolution herausgewachsen ist, im Namen der Volonte generale, hin zum Interet public, mußte kalt bleiben bis zur normativen Unbarmherzigkeit, so wie ihr Allgemeines Verwaltungsrecht, das vielleicht Räume der Staatsgüte eröffnet, etwa im Ermessen, als solches aber diese Kategorie nicht kennt. Erst im Besonderen Verwaltungsrecht kann sich jene Staatsgüte voll bewähren, welche die Wahrung öffentlichen Interesses sogar dem schenkenden Staat bescheinigt. Denn nun wird eben der Kleinere erreicht, nicht mehr nur die "Allgemeinheit", in der konkreten Bedürfnisbefriedigung, nicht im allgemeinen Ordnen. Und so findet die Bürgernähe auch zum Schwächerenschutz, einem weiteren Wesenselement aller Staatsgüte. Im Wort von der Bürgernähe schwingt aber auch ganz allgemein etwas mit von wahrer Güte: Vom "guten Wort" führt der Weg sogleich zum "Wort der Güte", der Nähe, der presence, die nur menschlich gedeutet und aus Persönlichem heraus sinnerfüllt werden kann. Hier geht es dann nicht mehr nur darum, daß überall Materielles schenkend verteilt werde, hier soll eine Verwaltungsstimmung des "Freundes und Helfers" verbreitet werden, in welcher alle "nett sind zueinander", zuallererst der Hoheitsstaat zum gewaltunterworfenen Bürger. Darin gilt es, so scheint es doch, den kalten, hochmütig-überlegen subventionierenden Liberalismus des Hoheitsstaats zu überwinden, in einer Erfüllung von Bügerbedürfnissen nach Nähe - nach Güte. Wie der solidarisch denkende und handelnde Mensch der "gute Mensch" ist, so könnte der solidarisch handelnde Staat der Bürgernähe, in seinem Machtzentrum, der Exekutive, wahrhaft der gute Staat werden - der gütige. Dann sähe sich die Demokratie als gute, weil gütige Staatsform in der epochenübergreifenden Tradition jener "guten Staatsformen", welche als solche
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der Wiedergeburt fähig sind, der Staatsrenaissance, wie sie schon in früheren Betrachtungen beschrieben wurde. In dieser Bürgernähe schließt sich dann, so mag es scheinen, der große Solidaritätskreis der Staatlichkeit, von den Wahlen bis zum letzten, untersten Exekutivorgan, indem alles durchwirkt wird durch eine Staatsgüte, welche sich zum Bedürftigen beugt, seinen Ruf hört und aufnimmt. In den Wahlen geschah dies, aus der Wahlgleichheit heraus, gewissermaßen in einer Horizontalen; in der Bürgernähe nun beugt sich in der Vertikale die übergeordnete Hoheitsgewalt zum Bürger, zuallererst zu ihm; sie darf, muß es vielleicht im Namen einer normübergreifenden Staatsgüte. Die Solidarität selbst gewinnt in jener Bürgernähe, in deren Namen der kleine Beamte dem armen Mütterchen über die Normen hinweghilft, ihrerseits einen neuen, nicht mehr allein kollektivierenden Sinn: Entscheidend sind für diese Solidarität nicht Kontakte zwischen großen Zahlen von Interessenträgern, sie durchwirkt jeden einzelnen Staatskontakt, geradezu individualisierend, in "etwas mehr als Recht", das sie in ihn trägt. Dies schöpft dann der Sinngehalt der Kategorie einer "Nähe" nicht mehr voll aus, sie muß zur Güte werden, zur Staatsgüte.
V. Sozialstaat - Staat der Staatsgüte Im Grundsatz ist der Sozialstaat unbewältigt, und doch ist er überall Wirklichkeit im Rechtssystem. Er bedeutet vielleicht die größte Herausforderung der politischen Wirklichkeit an die Rechtsdogmatik, doch an ihr ist er bisher gescheitert; es gibt kaum Anzeichen dafür, daß der Einbau dieser Begrifflichkeit in den demokratischen Rechtsstaat gelingen wird - aber gerade damit wird dieser, mit den gesamten herkömmlichen Grundvorstellungen vom Recht, fragwürdig. Die These des folgenden Kapitels lautet nun: Gerade aus dem unbewältigten Sozialstaat führen Wege zu einer neuen Staatlichkeit der Staatsgüte; soll Sozialstaat nicht eine systemsprengende Begriffs-Molluske bleiben, so ist vertieftes Nachdenken über Staatsgüte gefordert. Im Sozialstaat ist sie bisher noch nicht dogmatisiert oder gar systematisiert; doch sie könnte zum dogmatischen Ansatz einer verfassungsrechtlichen Sozialstaatlichkeit werden. Das Rechtsdenken muß dann aber gerade hier über herkömmliche Vorstellungen hinausgreifen, die bisher zum Leerlauf aller Versuche geführt haben, diesen Begriff in traditionellen Rechtskonzeptionen einzufangen: Ein "Recht auf Güte" war und ist nicht definierbar, insbesondere nicht "parallel zum eigentlichen Recht" der Forderungen und Ansprüche, welches den Kern der Rechtsstaatlichkeit bildet. Gerade demokratische Politik hält an dem großen Vorbehalt ihrer Entscheidungen über Staatsleistungen und
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leistungserzwingende Staatsordnung fest, schon im Namen des Kerns aller repräsentativen Demokratie, des parlamentarischen Steuerbewilligungsrechts, der souveränen Haushaltsentscheidung. Ein neuer normativer Ansatz aus dem Begriff der Staatsgüte könnte darüber hinwegführen, weit ausgreifen, herkömmliche Rechtsdogmatik transzendieren, neue Staatsziele, ja Werte setzen. Vor allem wäre es vorstellbar, daß damit das schematisierende Gleichheitsdenken überwunden würde im Namen einer an Bedürfnissen orientierten materiellen Gleichheit. Wenn eine solche Neu-Dogmatisierung der Sozialstaatlichkeit nicht gelingt, dann wird es eine andere in absehbarer Zeit nicht geben, dann bleibt Sozialstaatlichkeit, was sie heute ist - Politik. 1. Von der "sozialen Gerechtigkeit" zum gütigen Staat
"Soziale Gerechtigkeit" soll Sozialstaatlichkeit konkretisieren. Nirgends zeigt sich aber deutlicher, daß derartige Anstrengungen an herkömmlicher Dogmatik scheitern müssen; dennoch aber könnte dies Ansätze zu neuen Vorstellungen von einer systematischen Staatsgüte bieten. a) Gerechtigkeit - eine machtentleerte Worthülse
"Gerechtigkeit" erweist sich als leeres Wort, nicht als Formelkompromiß, sondern als reine Formel, nirgends vielleicht mehr als in ihrem Einsatz zur näheren Verdeutlichung einer Sozialstaatlichkeit über "soziale Gerechtigkeit"; gerade hier zeigt sich, daß ein "Gerechtigkeitsdenken" überhaupt nicht weiterführt, nirgendwo hin. Gerade weil es diese Gerechtigkeit nicht gibt, nach herkömmlichem dogmatischen Verständnis, müssen diese Betrachtungen zur Staatsgüte angestellt werden; ihre Dimension ist die eines Beitrags zu einer "neuen Gerechtigkeit". Gerechtigkeit war ein Sinn-Wort, solange sie nichts sein wollte als Iustitia commutativa, denn damit war das suum cuique bereits inhaltlich vorbestimmt, Gerechtigkeit blieb auf ein Abwicklungsverfahren richterlicher Bestätigung beschränkt. Da aber außerhalb von Verträgen, welche das cuique bereits bestimmen, oder von gesetzlichen Regeln, die dies, randkorrigierend, ordnen oder gar nur ermöglichen, ein allgemeines Problem der Zuteilung, der Iustitia distributiva, nie wirklich hat gelöst werden können, blieb diese Gerechtigkeitsformel rein formal; sie zog zwar ihr Gerechtigkeits-Prestige aus den Ausgleichsvorgängen des Zivilrechts, für das Staatsrecht jedoch wurde sie Jahrtausende lang zur Verschleierungsformel, die seinen Machteinsatz auf kein Ziel hin zu orientieren vermochte. Verständ-
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lich war da der Versuch eines Ausweichens auf "Gerechtigkeit durch Verfahren", in welcher die Staatsgewalt gerade ihre prozessuale Macht als Ausdruck der Gerechtigkeit ausgeben und sich damit legitimieren konnte, daß sie den Ausgleich auf gewisse Ziele hin orientiere, auf solche Weise die austauschende zur ausgleichenden, zur verteilenden Gerechtigkeit werden lasse. Doch aus solchen Verfahrensordnungen haben sich nie Wertesysteme gewinnen lassen. So blieb eine Schwäche des auf den Staat und seine Macht bezogenen Gerechtigkeitsbegriffs gegenüber kritischen Angriffen, welche moralische Dimensionen erreichten: daß hier "ungerecht" verteilt werde, nachdem sich die Gerechtigkeitskategorien in Austauschüberlegungen nicht mehr fassen ließen. Was aber steht hinter solcher Kritik anderes als der Vorwurf, der Staat sei "zu den Falschen gut", er helfe nicht wo seine Macht gebraucht werde, wohin sie die Bedürfnisse der Gewaltunterworfenen eigentlich lenkten. Hinter solchen kritischen Diskussionen über Gerechtigkeit als solche steht also bereits ein neuer Begriff bereit, der die Gerechtigkeit an dem orientieren soll, was an ihr typisch staatlich, machtförmig gedacht ist: die Verteilung, eben die Staatsgüte, der helfende Staat. Daß der Weg von der sonst völlig sinnentleerten Gerechtigkeitsformel nur in Richtung auf den gütigen Staat sinnhaft werden kann, wird noch deutlicher im Blick auf die Formel von der Gerechtigkeit als dem Verhalten aller "billig und gerecht Denkenden". Dieser Ansatz, in dem, soweit ersichtlich allein, neuere Dogmatik, vor allem aber die Rechtsprechung, zu einer inhaltlichen Erfüllung auch der Verteilungsgerechtigkeit finden will, ist bereits ein erstes Zeichen, daß die Gerechtigkeit aufgeweicht - oder verwandelt - wird in Richtung auf einen ganz anderen Begriff, den der Güte. Wenn dort nämlich von "elementaren Gerechtigkeitsvorstellungen" in der Gemeinschaft die Rede ist, das Gerechte nur im Gegensatz zu dem als "schlechthin ungerecht Empfundenen" definiert wird, so ertönt darin ein Appell an Emotionales, bis hin zu einer Empörung, welche die "ungerechte" Lösung hervorruft. Sind das alles aber nicht Kategorien bereits ganz anderer als anspruchsmäßiger Art, Begrifflichkeiten einer verteilenden Güte der Macht? Soll damit nicht ein Weg von der inhalts- und damit machtentleerten Gerechtigkeit beschritten werden hin zu einer austeilenden, nicht mehr nur verteilenden Güte, welche die Woge dieser Empörung glättet, weil sie aus denselben Urgründen kommt: aus dem moralischen Streben, das Gute zu tun, Übles zu vermeiden, Untragbares, Schlechtes?
b) "Soziale" Gerechtigkeit - erst recht nur in Staatsgüte vorstellbar
Niemand hat bisher Hayeks These widerlegen können, daß der Begriff des "Sozialen", als solcher eingesetzt, in Inhaltslosigkeit wuchere, damit alle Begriffsinhalte, jede Begriffsklarheit um sich herum zerstöre. Vor allem
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zeigt sich dies in den Begriffsverbindungen mit Worten, in welchen zentral Staatliches angesprochen wird: vom .. sozialen Frieden" über die .. soziale Gerechtigkeit" bis hin eben zum ..Sozialstaat". Hier löst ein Unbegriff die harten aber klaren Konturen des Herrschens auf; und diese immer weiterreichende Verunklarung mag gewollt sein aus der Sicht derjenigen SozialIdeologen, welche ihre Ideale nur im sterbenden Staat verwirklicht sehen. Doch damit wird mehr zerstört als Hoheitsrnacht, in solchen Forderungen einer gerade .. sozialen" Gerechtigkeit: Das höchste Konsensfähige bisheriger Ordnungen, der Staat und seine Macht, wird zur allerweichsten, inhaltsentleerten Molluske. Gerade dann aber tritt deutlich die Notwendigkeit einer neuen Sinnerfüllung jener Staatlichkeit hervor, die so machtmäßig sinnentleert wird - was wird es anderes sein als ..Vor-Trassierung" eines Weges in die Staatsgüte, auf dem allein soziale Gerechtigkeit im herkömmlichen, schon tagtäglichen Verständnis verwirklicht werden kann? Denn daß hier Erwartungen sich zusammenballen, ihre rechtliche KOnkretisierung auf der Tagesordnun'g steht, in diesem Begriff der sozialen Gerechtigkeit, zeigen zahllose Klein-Institutionalisierungen, in denen sie laufend erfolgen soll, die allein durch einen solchen Super-Begriff legitimiert werden können, vom Mietrecht zum Arbeitsrecht, in allen Bereiche eines Sozialrechts, das nur darin Materie des Rechts sein kann. Dieser ..Weg in die Güte" scheint schon darin vorgezeichnet, daß ein Kern der sozialen Gerechtigkeit doch sicher dort zu finden ist, wo hier auf das ..Gesellschaftliche" ausgegriffen werden soll, in einer Globalität, die über das rein Staats-Normative hinausreicht, damit sogar das Gesellschaftliche in der Wortwahl des "Sozialen" wieder zum Tragen bringt. .. Soziale Gerechtigkeit" ist eben dann nicht nur, was die Macht hält und befestigt, was ihren herrscherlichen Strukturen entspricht; hier wird sie in Dienst genommen für die Bedürfnisse der Gewaltunterworfenen, zur Lösung ihrer einzelnen, unvergleichbaren, daher wohl auch im letzten unnormierbaren Fälle. Eine dergestalt gesellschaftlich gewendete soziale Gerechtigkeit gewinnt Dimensionen, welche über die politischen Entscheidungen zum Haushalt weit hinausreichen; sie ist auch dann, und zwar durch Verteilung zwischen den Bürgern, zu sichern, wenn staatliche Finanztransfers nicht mehr genügen. Doch vor allem schwingt im Wort von der sozialen Gerechtigkeit stets etwas Entscheidendes von jener ..Mildtätigkeit" mit, die bereits heute, in unzähligen normativen Formulierungen der Gesetzessprache, Gerechtigkeit als Schwächerenschutz ausweisen soll. Darin wird der Sozialstaat dann, im Namen der sozialen Gerechtigkeit, zur öffentlichen Ordnung der Güte. Nach wie vor mag der Begriffsinhalt des ..Sozialen" schillern zwischen gesellschaftlichen Bezügen und Wohltätigkeit, doch gerade dies ist dann gewollt und es rechtfertigt sich bereits im Anschluß an jenen Begriff der
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Solidarität, in dem beides liegt. Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit wandelt sich von der inhaltsleeren Formel zur geradezu überweiten Sinnhaftigkeit der Inhalte.
2. "Sozial" - Verbot allzu großer Unterschiede: Weg zur ausgleichenden Güte Die deutsche Verfassungsrechtsprechung hatte in ihren Anfangen versucht, Sozialstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit ausdrücklich und allgemein zu definieren aus dem Verbot der "allzu großen Unterschiede" zwischen Schichten und Klassen der Bürger. Bald ist sie von solchen begriffsjurisprudentiellen allgemeinen Definitionsversuchen wieder abgerückt, mag sie in ihrer Praxis auch immer wieder dorthin zurückkehren. Der Begriff der "allzu großen Unterschiede" paßt nun gerade in diesen Zusammenhang der vorliegenden Betrachtungen: Einerseits ist er aus herkömmlichem Normverständnis heraus kaum definierbar - zum anderen aber öffnet er doch den Sozialstaat Vorstellungen einer fördernden Staatsgüte. Kritik kann leicht die Undefinierbarkeit der"allzu großen Unterschiede" betonen. Normativ lassen sich in der Tat solche Schwellen kaum überzeugend begründen, jenseits derer Sozialstaatlichkeit ausgleichend eingreifen müßte. Hier wird und muß jede Begriffsjurisprudenz versagen. Doch gerade darin öffnet sich dann vielleicht ordnendes Recht gesellschaftlichen Grundstimmungen, aus denen heraus dieses "allzu Große" zwar nicht rational bestimmt, wohl aber emotional gegriffen werden kann - mit Blick nicht zuletzt auf Vorstellungen einer Güte, welche den allzu weiten menschlichen Abstand überwinden will. Immerhin scheint ja auch in dieser Formulierung eine gewisse Quantifizierung gelungen; in diesem dehnbaren, wesentlich verschiebbaren Begriff des "Großen" liegt aber eine Dynamik, bis hin zur möglichen Drohung, daß eben der "allzu große" Abstand gefährlich werden könnte. Kann diese Kategorie überhaupt, und sei es auch nur im Einzelfall, anders sinnerfüllt werden, als in einem Rückgriff auf soziologische, ja moralische Kategorien, und liegt darin nicht ein typischer Gleit-Klimax, eine spektrale Steigerungsmöglichkeit, in welcher das heute (noch) "Erträgliche" bereits zur virtuellen Unerträglichkeit werden kann, die morgen aufbricht und die Intervention des gütigen Sozialstaats fordert? Gewiß sind diese "allzu großen Unterschiede", welche es in einem Sozialstaat nicht soll geben dürfen, zunächst wiederum nichts als eine petitio principii, die in den Begriff des "allzu Großen" bereits das sozial Gewünschte einer rahmenmäßigen Nivellierung hineinlegt. Warum sollte es auch nicht "Große" geben, selbst in einer demokratischen Ordnung, wenn
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gerade ihre Anerkennung Demokratien wie die amerikanische "groß" hat werden lassen - machtmäßig? Und doch liegt gerade darin die Öffnung zur Staatsgüte: Das "allzu Große" fordert zum Ausgleich heraus, und er ist mehr als Gleichheit; in ihm liegt bereits der Zug zum moralisch Guten, zu einer Güte, die eben ,jeden leben läßt". Doch diese Öffnung ist weiter noch, als es zunächst den Anschein haben mag, das fonnal erscheinende Kriterium des "allzu großen Abstandes", ruft nach inhaltlicher Ausfüllung. Mit ihr wiederum aber kann der Sozialstaat sich nur noch weiter einer Staatlichkeit der Güte nähern: 3. Sozialstaat als Macht zum Schwächerenschutz a) Schwächerenschutz überall
Wo immer Sozialstaatlichkeit genannt, beschworen oder auch nur erwähnt wird, ist sie nichts anderes als Einsatz einer großen, einer allerhöchsten, einer wirklichen Super-Nonn: zum Schwächerenschutz. Verfassungsgerichtsbarkeit mag sich hier noch zurückhalten, "alles Wesentliche" dem einfachen Gesetzgeber überlassen; darin liegt kaum mehr etwas anderes als die Entscheidung, daß dieser demokratische Gesetzgeber der einfachen Mehrheiten das eigentliche Organ der Staatsgüte ist. Sozialstaatlichkeit ist eine große Kompetenzentscheidung für ihn und damit im letzten eine kaum mehr verhüllte globale Dekonstitutionalisierung größten Ausmaßes. Von der arbeitnehmerfreundlichen Rechtsprechung der Arbeitsgerichte und der Zivilgerichte, von der Kündigung bis zum Schadensersatz, bis zu ganzen Gerichtszweigen der Sozial- und Dienstrechtsprechung, vor allem aber bis hin zu einer bereits allgegenwärtigen einfachen Gesetzgebung, haben "soziale Belange" immer nur einen faßbaren Inhalt: Schwächerenschutz. Und weil dieser Begriff relativ ist, stets zur Mehrheit geöffnet, dem Souverän der Demokratie, ist dieser sozialstaatliche Schwächerenschutz nur ein anderes Wort für die Herrschaft der Mehrheit, die darin ihre Bedürfnisse befriedigt, zu Lasten der Minderheit, mit den Mitteln der Staatsgewalt. So wäre eigentlich diese Sozialstaatlichkeit nichts als ein anderes Wort für Demokratie, ein typischer Machtbegriff einer mit Gewalt ordnenden Staatsorganisation. Und doch verdankt er seine unvergleichliche Anziehungskraft gerade dem, was den Gegenstand der vorliegenden Betrachtungen bildet: einem unausgesprochenen aber nur um so mächtiger wirkenden Zug zum "Schwächerenschutz als Güte". Schwächeren helfen ist "gut".
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Darin gewinnt die Staatsveranstaltung den Anschluß an Moral und Religion. Endlich kommt ihr Legitimation aus außerrechtlichen Bereichen, aus einer Wirklichkeit, welche das Recht des Sozialstaates abzubilden hat. Öffnet sich hier übrigens nicht ein Ausblick auf das Wesen der Legitimation der Staatsgewalt, welche die demokratische Macht in so herausragender Form gerade in dieser ihrer Sozialstaatlichkeit finden soll? Fast scheint es, als zeige sich gerade darin was Legitimation ist, wie Macht und ihre rechtlichen Formen immer nur aus Außerrechtlichem kommen können, so wie hier aus rechtsübergreifenden Gütevorstellungen. Die Normen stellen dann ihre Mechanismen der Abwicklung zur Verfügung, Zielvorstellungen als solche mögen sie rezipieren, im letzten vermögen sie diese nie zu schaffen. Denn sie kommen nur aus rechtstranszendierenden, wenn auch in die staatliche Normenordnung hineinwirkenden Vorstellungen, mehr als Begriffen, hier eben aus der Staatsgüte. Die Sozialstaatlichkeit erscheint in solcher Betrachtung zuallererst nicht als ein rechtsdogmatischer Abgrenzungs-, sondern als ein Legitimationsbegriff der Macht; und er wird wirksam in seiner ganzen Dynamik erst dort, wo er den Machteinsatz nicht mehr nur organisiert und ordnet, sondern wertmäßig orientiert auf Schwächerenschutz hin, in einer großen Dynamik, in welcher alle Elemente der Güte sich vereint finden: b) Schwächerenschutz als Güte
Da ist zuallererst das Bedürfnis, als Grundvoraussetzung alles sozialstaatlichen Wirkens - es ist nichts als ein anderer Ausdruck für jene Schwäche, welche es auszugleichen gilt. Sodann verbietet sich dem Sozialstaat des Schwächerenschutzes die Frage nach den Gründen der Schwäche, sie ist ein Faktum, das seinem Recht, seiner helfenden Macht, unter seinem Recht vorgegeben ist, als solches seine helfende Macht ruft - so wie die Güte nicht nach den Gründen des Bedürfnisses fragt. Einzelfallwendung ist allem sozialstaatlichen Wirken wesentlich, sie wird bereits ermöglicht, wenn nicht erzwungen, durch den begrifflichen Generalklauselcharakter des "Sozialen" und seiner Gerechtigkeit. Alles, was sich begrifflich über Güte aussagen läßt, auch über den gütigen Staat, liegt in der schwächerenschützenden Sozialstaatlichkeit beschlossen, läßt sich in Staatsgüte verdeutlichen. Eine Schwäche allerdings weist diese helfende Sozialstaatlichkeit auf gegenüber einem allgemeiner menschlich verstandenen Begriff der Güte: Sie verengt jenes Bedürfnis, das der Sozialstaat befriedigen will, auf eine Materialisierung des Sozialen, damit möglicherweise auch der Staats güte. Dies ist einerseits aus den historisch-sozialistischen Ursprüngen materieller Existenzsicherung heraus verständlich, zum anderen aber auch deshalb,
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weil nur in solcher "Monetarisierung staatlicher Güte" noch ein Rest normativer Faßbarkeit erhalten bleibt, so wie eben das Recht nur dort technische Höhe, ja sogar Perfektion erreichen konnte, wo es, wie im Zivilrecht, wesentlich einer Monetarisierung folgte. c) Sozialstaatlicher Schwächerenschutz allseitig-systematischer Ausdruck der Staatlichkeit
Schwächerenschutz ist in seiner heutigen Ausprägung nicht mehr nur das, was liberale Wirtschaftstheorie wünscht, nicht mehr nur eine "soziale Mäßigung", eine Randkorrektur des freien Spieles der Kräfte der Marktwirtschaft. Über solche neoliberale Theoreme ist das allseitig wirkende einfache Gesetzesrecht, mehr noch eine überall dieses verfeinernde Gerichtsbarkeit längst hinweggegangen. Schwächerenschutz kann ebensowenig nur als "letzte normative Grenze" begriffen werden, wie Güte sich so erfassen läßt: Sie will alles durchdringen, überall wirken, grenzenlos, gerade dies liegt in diesem Wort. Staatlich gewendet kann das nur bedeuten, daß eine solche Macht des Helfens systematisch wirkt in allseitig-flächendeckender Förderungsmöglichkeit, daß sie aber gerade jene Schranken sich nicht ziehen läßt, welche dem herkömmlichen Systembegriff eigen sind; ihre Systematik erschöpft sich gewissermaßen in Allseitigkeit. Entscheidend aber ist noch ein anderes: Schwächerenschutz als Ausdruck der Staatsgüte durchdringt die gesamte Staatsrnacht, konstituiert damit die "Staatlichkeit" der modernen Demokratie, wie dies gegenwärtige Verfassungsdogmatik auszudrücken pflegt. Das Vordringen des "Sozialen" vom fast schon nebensächlich klingenden Beiwort zu "Bundesstaat" und "Rechtsstaat" in der Verfassung, über den selbsÜmdig auftretenden Begriff des Sozialstaates zur globalisierenden, die ganze Ordnung des Öffentlichen Rechts durchwirkenden Sozialstaatlichkeit - diese Entwicklung ist kein verfassungsdogmatischer Zufall, in ihr kommt bereits eine große, alle Staatsmacht zur Staatsgüte wendende Entwicklung zum Ausdruck: Sie wirkt überall, nicht nur in "besonders wichtigen" Bereichen eines speziellen öffentlichen Interesses. Diese Allseitigkeit aber würde Staatsgüte noch nicht in den Rang der "Staatlichkeits-Kriterien" erheben; dahin trägt sie erst die Grundvorstellung, daß "gerade Staatsverhalten", typisch im Einsatz der Macht, sozial schwächerenschützend, durch "Staatsgüte" geprägt erscheint: Es ist eben eine "typische Staatssystematik", in welcher die Sozialstaatlichkeit Staatsgüte einsetzt und allgemein verbreitet. Daraus könnte vielleicht sogar ein Beitrag zur Dogmatik dessen entwikkelt werden, was der keineswegs nur marginal bedeutsame Zusatz ,,-staatlichkeit" wirklich bedeuten darf: Nur dort ist er berechtigt, wo sich eine typisch machtmäßig durchsetzbare Allseitigkeit eines Verhaltens über die
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Grenzen der Staatsorganisation hinweg gemeinschaftsprägend entfaltet, und dies in Sinngehalten, die über die außerrechtlichen Bereichen in die staatliche Normordnung einfließen und von dieser der im letzten außerrechtlichen Autonomie der Bürger zurückgegeben werden. d) Sozialstaatlichkeit - mehr als "soziale Grundrechte" In diesem Sinne ist dann die Sozialstaatlichkeit nun wirklich ein oberstes Staatsprinzip, eine Staatsform-, nicht nur eine Staatszielbestimmung. Gerade mit Blick auf eine Staatsgüte, welche darin allseitig-fördernd wirken darf, sollte sie eben nicht verengt werden zu einzelnen "sozialen Grundrechten" . Historisch waren die "sozialen Grundrechte" von Anfang an ein großes Mißverständnis, der Versuch, liberale, ausgrenzende Anspruchs-Normativität zu sozialschwächerenschützender Dynamik einzusetzen. Der Grundrechtsbegriff ist entstanden als ein normativ ausgrenzender, daher Machtabwehrender, nicht Macht-einsetzender und organisierender. Verteilung läßt sich grundrechtlich nur wenden und begreifen im Gleichheitsbegriff - und er ist gerade, wie noch vertiefend zu zeigen sein wird, grundsätzlich und unüberwindlich gewendet gegen eine helfende Güte, welche allein auf den Nächsten sieht, nicht auf viele - Über-Nächste. Grundrechtliche Forderungen auf Staatsleistungen scheitern nicht nur an begrenzten staatlichen Kasseninhalten, sie sind unvereinbar mit jener Dynamik politisch fördernder Güte, in der allein die Demokratie zu ihrer schwächerenschützenden Sozialstaatlichkeit findet. Der Sozialstaat muß für sich weitere Kompetenzen in Anspruch nehmen als nur die einer existenzschützenden sozialen Grundrechtlichkeit. Er darf sich durch diese nicht in eine schematisierende Gleichheit zurückzwingen lassen, in der nicht mehr das freiere Belieben seiner die Bürger überzeugenden Mildtätigkeit wirken kann. Sozialstaatlichkeit mag sich damit als ein weiter, allerhöchster Politik -Vorbehalt über allen sozialen Ansprüchen verstehen lassen; doch dieses höchste Recht zur Staatsgüte kann und darf sich die Demokratie nicht nehmen lassen, will sie ihre Verteilung durch Güte legitimieren, gerade damit aber auch ihre Macht. So bleiben die Forderungen nach sozialen Grundrechten ein historisches und ein prinzipielles Mißverständnis: Der schwächerenschützende Sozialstaat will mehr als und anderes bringen als soziale Grundrechte: Staatsgüte.
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4. Sozialstaat - Überwindung der Gleichheit durch Staatsgüte
Sozialstaatlichkeit wird von manchen ausgegeben und begründet als letzte Bewährung der Gleichheit, durch Schaffung der materiellen Grundlagen der Egalität. Und sicher liegt ein großer, nivellierender Zug in aller staatlichen Hilfe und Förderung, welche die Defizite der Bedürfnisse auf die Standardhöhe des gleichermaßen Erträglichen heben. Gerade dagegen aber wird sich immer eine Kritik an der Gleichheit wenden, welche diese eben nur im Formalen sich erschöpfen sieht, in den rechtlichen Aktionsmöglichkeiten, nicht im materiellen Zustand. Diese formale Gleichheit aber ist die des Rechts, und dieses kann nur in ihren Formen sich verwirklichen, nicht primär in materiellen oder auch geistigen Zuteilungen. Vor allem kommt die große, dynamische Kraft, mit welcher allein der Sozialstaat seinen Schwächerenschutz überallhin verbreiten kann in politischer Entscheidung, gerade nicht aus Überlegungen einer Egalität, welcher immer die Kernvorstellung anhaften wird, daß "die Menschen gleich geboren sind", aber eben nicht immer gleich leben und handeln müssen. Jene Staatsgüte, welche in den vorstehenden Kapiteln als Weg und Kraft zugleich für die Sozialstaatlichkeit erkannt wurde, mit ihren moralischen Ansprüchen und ihrer unbegrenzten Förderungskraft - sie kann nur aus einem Wirken zum Guten herauswachsen. das gerade nicht überall sich in Gleichheitsfesseln schlägt, dem Bürger nur zubilligt. was dem gleichgeborenen Säugling von Natur aus zusteht; und er wird nicht mit Essen und Trinken geboren. So bleibt denn die ursprüngliche große Spannung der Rechtsgleichheit und einer Staatsgüte, die frei schenken, darin gerade ihre Macht ausprägen will. Das Staatsrecht des Liberalismus hat in seiner Gleichheit geradezu etwas gebracht wie eine Tötung der Güte durch Recht. durch seine "Gleichheit ohne Ansehung der Person", die am Ende unmenschlich wurde. Deshalb wendeten sich die christlichen Kirchen gegen diesen liberalen Staat der Gleichheit, der ihre Lex Charitatis ignorierte, daher bleibt dort immer noch das große historische Mißtrauen gegen alle liberale Normativität der Macht. Gleichheitsstaat und Staat der Staatsgüte - im liberal-historischen Verständnis ist dies ein unüberbrückbarer Gegensatz. Dennoch gelingt hier vielleicht dem "guten Staat" ein eigenartiger Brükkenschlag, in welchem er eben die harte liberale. die ausgrenzende Gleichheit mit seiner schenkenden Dynamik versöhnt: Die Schwächeren, deren Bedürfnisse er befriedigen will, sind als solche wesentlich ungleich, in dieser Lage findet er sie vor; wenn sie nun durch seine Förderung gleich werden, durch die Geschenke seiner Güte, wäre dies nicht auch ein Weg zur Gleichheit? Läßt sich nicht die vielkritisierte Willkürlichkeit der Staatsgeschenke dann legitimieren, wenn man sie als Wege zur Gleichheit akzeptiert oder gar erkennt, daß nur diese Güte zur eigentlichen Gleichheit, zur 6 Lcisner
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materiellen, führen kann, daß alles andere, was ohne Staats güte gedacht ist, rein "fonnale Gleichheit" bleibt, die diesen Namen nicht verdient? In einem solchen Verständnis werden die modernen Lehren der "materiellen Gleichheit", der Notwendigkeit, die "Grundlagen der Gleichheit" durch Staatsveranstaltungen zu schaffen, auf eine höhere dogmatische Ebene gehoben. Sie müssen sich nun nicht mehr rechtfertigen als ,,vollendung der fonnalen Gleichheit", die sie nicht sein können, ist dieser letztere Begriff doch aus einem ganz anderen, "natürlichen" Vorverständnis des eben nur "gleich geborenen Menschen" entstanden, der aber nicht später in allem und jedem gleich sein muß. Wird nun aber der größere Begriff einer Staatsgüte eingesetzt, welche gerade diese materielle Gleichheit aus moralischer Verpflichtung heraus zu schaffen hat, nicht als Ergebnis tatsächlicher, faktischer Feststellung von "gleichen Menschen", so gewinnt die materielle Gleichheit eine ganz andere, weit größere Sprengkraft: Was sie aus der Behauptung der faktischen Gleichheit der Menschen nie zu begründen vennag, darf sie in Güte leisten. Was keinen Anspruch rechtlich trägt, kann doch ein Dürfen auslösen - des Staates, der Macht. Was nicht wahr sein muß, kann, darf gut sein - oder vielleicht doch nicht (vgl. unten F III)? So mag dann der Staat der Güte die Widerstände des Staates der Gleichheit überwinden, im Namen seiner "guten Inhalte" die Abgrenzungen und Verfahrens ordnungen des geltenden Rechts. Und vielleicht könnte hier ein Nachdenken beginnen über den Sozialstaat als Ordnung der Inhalte, nicht mehr nur der Verfahren der Leistungszuteilungen. Wird der Sozialstaat lediglich als Anspruchsstaat gesehen, nicht als eine Ordnung des Dürfens der Staatsgewalt in bedürfnisbefriedigender Güte, so ist vielleicht eine solche Sozialstaatlichkeit doch nicht mehr als ein differenzierterer Fonnelkomprorniß, der nicht weit über die Fonnalismen eines "Suum cuique" hinausreicht, welches eben der Staat, rechtlich ordnend, bestimmt. Die Staatsgüte aber erstrebt, wenn sie denn Wirklichkeit werden kann, den Inhaltsstaat, nicht den Fonnalstaat, wie ja auch "Güte", wie immer verstanden, Inhaltliches will, Realitäten, nicht Fonneln, über welche diese realisiert werden könnte. Hans Kelsen mußte nie über einen Sozialstaat vertieft nachdenken; und dieser kann nur Wirklichkeit werden, wenn die Selbstgenügsamkeit des Rechts aufhört, welche er so folgerichtig gepredigt hat.
5. Keine volle Verrechtlichung des Sozialstaats der Politikvorbehalt der Staatsgeschenke Sozialstaatlichkeit ist weithin verwirklicht worden, sie ist aber weit mehr Realität als rechtliche Ordnung, die Verrechtlichung des Sozialstaates konnte weder durch große Fonneln noch an der Basis der vielen EinzelInstitutionalisierungen voll gelingen.
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Sozialstaat - Staat der Staatsgüte
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Die zahllosen Nonnierungen des Sozialstaats bringen rechtliche Ansprüche, doch diese sind stets wesentlich vorübergehend, prekär. Entscheidend bleibt der große doppelte Staatsvorbehalt, unter dem alle Staatshilfen stehen: die Reserve des wirtschaftlich-real Möglichen und der Vorbehalt des politisch-haushaltsmäßig Gewollten. Die Realität kann nicht unter den politischen Willen gebeugt werden, er muß ihr nachgeben, auch in der angeblich so eindeutig geschlossenen politischen Willens welt der Demokratie, der alles möglich erscheint über Wahlen. Die Realität ist es vielmehr, welche die Gesetze diktiert, unter denen das Handeln des Staates in Hilfen und Geschenken immer steht, jene Wirklichkeit, welche auch allein die Bedürfnisse zeigt, die es so zu erfüllen gilt. Der von der Verfassungsgerichtsbarkeit nur vorsichtig angedeutete "Vorbehalt des Möglichen" bei allen Staatsleistungen ist in Wahrheit bereits eine rechtliche Grundnonn heutiger Staatlichkeit, die sich im Sozialstaat auf den gütigen Staat hin bewegt. Dies ist nicht nur ein letzter, marginaler, vielleicht extremer Vorbehalt, unter den alles gestellt werden muß, was der Staat verteilt; mit dem Vorbehalt des Möglichen enden nicht seine Geschenke, mit ihm und in seinem Namen beginnen sie. Der Politikvorbehalt des Haushaltsrechts wäre eine unerträgliche Globalausnahme in einer Sozialstaatlichkeit, welche die Stringenz der Rechtsstaatlichkeit anstrebt; wenn aber in ihr das "ganz andere" der Staatsgüte gesehen wird, des schenken Dürfens, weil schenken Könnens, so löst sich der Haushaltsvorbehalt auf in den Vorbehalt des für den gütigen Staat wirtschaftlich Möglichen, unter dieser großen Reserve steht ein Staat, der sich zur Güte entschlossen hat, der wirklich Sozialstaat werden will. Alle dogmatischen Figuren und institutionellen Gestaltungen weisen auf diesen gütigen Staat hin. Er wird sich dann auch einer Wirklichkeit der Märkte und Gewinne weit öffnen, nicht versuchen, sie mit den juristischen Fiktionen der Rechtsstaatlichkeit und deren geordneten Verfahren zu ignorieren oder doch zurückzudrängen. Mit dieser sozialstaatlichen Staatsgüte kommt eine Flexibilität in die Staatsleistungen: im Einzelfallbezug all dieser Hilfen, in ihrem Geschenkcharakter ganz allgemein. Schenken - das dürfen dann die Bürger und vor allem ihr Staat, keiner muß es. So ist es denn auch im Sozialrecht nie überzeugend gelungen, über das Eigentumsrecht auf Staatsleistungen eine "Verrechtstaatlichung der Sozialstaatlichkeit" zu erreichen. Was an Rente und Krankeitsfürsorge Staatsgeschenk ist oder durch eigene Leistung der Versicherten verdientes Eigentum derselben - keine Nonn hat es je überzeugend rechtlich abgrenzen können. Im Streit um die versicherungsfremden Leistungen, zu denen der Staat die Träger der Sozialversicherung Jahrzehnte lang und immer weiter nun schon verpflichtet, sind die Staatsorgane, um dem Vorwurf der Verfassungswidrigkeit dieser versicherungsfremden Leistungen zu entgehen, schließlich übergegangen zu der Behauptung, die Staatszuschüsse zur Sozialversicherung 6·
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B. Grundsätzliche Wege und allgemeine Kräfte zum "gütigen Staat"
bedeuteten nicht etwa Leistungen an die Versicherten, sondern Zahlungen zur Erfüllung außerversicherungsrechtlicher Zwecke durch die Kassen. Damit wollte sich der Sozialstaat von dem verabschieden, was ihn doch, im Geist der Bürger, viele Jahrzehnte lang legitimiert, ja konstituiert hatte: daß mit Steuermitteln Staatsgeschenke in freier, politisch gewollter Verteilung an die Bürger gegeben werden, über die Versicherungsleistungen der Sozialversicherungsträger. Möglich ist ein solches Vorgehen, der Kritik entzieht es sich dann, wenn die Begriffe "Staatsgeschenk" und "verdiente Bürgerleistung" nicht eindeutig rechtlich abzugrenzen sind, wenn der Bürger eben das Sozialschenkungsversprechen des Staates letztlich doch nicht einklagen kann, im Namen seines Eigentumsgrundrechts. Und wieder zeigt sich, daß der Sozialstaat der Staatsgüte dort beginnt, mit neuer, ganz anderer Macht, wo der Rechtsstaat der eingreifenden Gewalt, der rechtlich normierte Freiheiten achten müßte, so oft endet. Das Sozialrecht mag noch so vieles in rechtliche Einzel-Anprüchlichkeit fassen - am Ende muß es Ausdruck freier Staatsgüte bleiben; und gerade deshalb wird die Kritik an allzuvielen "Ansprüchen auf Geschenke" nie verstummen. In jener Marktwirtschaft, der sich heutige Staatlichkeit immer mehr nähern und letztlich beugen muß, mag man dann zurückfinden zu einem ehrlicheren Verständnis des Politikvorbehalts der Sozialleistungen: Sie stehen eben unter der großen Reserve der Staatsgeschenke, -förderungen und -hilfen: Nur was politisch gewollt werden kann, nicht was rechtlich geschuldet ist, wird dann, bis in den Einzelfall hinein, und in immer stärkerer Berücksichtigung seiner Bedürfnisse, letztlich gegeben. Darin liegt auch nur Konsequenz: "Gutes" ist gewollt, daher gibt es gute Politik; Rechtliches ist geschuldet, "gutes Recht" kann es nicht geben. Staatsgüte zeigt sich hier als über-, außerrechtlicher Ausdruck des Politischen, der Sozialstaat wird zum großen Einbruch der Politik ins Recht. Der Sozialstaat steht schon heute unter dem Politikvorbehalt der einfachen Gesetzgebung, sie ist hier, wie bereits dargelegt, die eigentliche Verfassungsgrundentscheidung zu ihm. Damit aber wirkt doch nichts anderes mehr im Recht allenthalben als ein weiter Staatsgüte-Vorbehalt. Die Spannung von Sozialstaatlichkeit und Rechtstaatlichkeit ist stets gesehen und betont worden. In diesen Überlegungen mag das nun endlich eine vertiefende Begründung finden. Die Mächte des ordnenden Eingreifens und des gütigen Helfens werden und müssen stets getrennt bleiben - wenn sich die Staatlichkeit nicht eines Tages überhaupt nur mehr zur neuen Macht der fördernden Güte bekennt, den Bürgern ihre Freiheit im Rückzug aus eingreifender Staatsgewalt schenkt, eine Freiheit, die allerdings nur wenig mehr wert sein könnte. Sozialer Rechtsstaat - das ist dann das durch das moralisch Gute modifizierte intellektuell Richtige im Recht.
VI. Menschliches Recht im Namen der Menschenwürde
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VI. Menschliches Recht im Namen der Menschenwürde Öffnung zur Staatsgüte 1. Elementarschutz aus Menschenwürde - ohne Staatsgüte?
Alles demokratische Recht steht unter dem obersten Gebot der Achtung der Menschenwürde, vor allem eine Sozialstaatlichkeit, die sich auf diesen Höchstwert, bis hin zur Formulierung ihrer rechtlichen Ansprüche auf Sozialhilfe, und im Sozialrecht überhaupt, beruft. So mag es auf den ersten Blick nahe liegen, entscheidende Öffnungen zu einem Staat der Güte gerade aus der Verpflichtung abzuleiten, alles dem Menschen und seiner Würde rechtlich unterzuordnen. Und doch treten sogleich jene Zweifel auf, die bereits eingangs angedeutet wurden: Schützt nicht die Menschenwürde nur elementare Bereiche des rechtlich Gebotenen, sagt sie überhaupt etwas aus über ein Dürfen, um das vor allem es aber bei Staatsgüte geht? Internationales Recht verbietet Inhumanität des Staatshandelns, und darin wird eine große Wendung nicht nur des Völkerrechts, sondern auch des Rechts der innerstaatlichen öffentlichen Gewalt schlechthin gesehen, welche darauf international kontrolliert wird. Doch inhuman handelt nur jener Staat, der schwerste Rechtsverletzungen begeht, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und nur diese Inhalte müssen die Mitglieder der Völkergemeinschaft in ihr internes Strafrecht aufnehmen. Dabei aber geht es doch um elementares Recht, nicht um eine Güte, die sogar noch über das Geschuldete allenthalben hinausgehen darf. Humanitäres Völkerrecht ist stets unterentwickelt geblieben, bis es diesen neuen Aufschwung im Schutz der Menschemechte nehmen konnte - aber eben doch wieder nur in wahrhaft extremen Fällen verletzten Rechts, nie eines Anspruchs auf Güte. Ist dies nicht auch das Schicksal eines höchsten Rechtsprinzips der Menschenwürde im innerstaatlichen Bereich, das deshalb ebenso hoch wie anwendungsarm geblieben ist: Kernbereichsschutz, elementare Sicherung? Wenn der Staat die Menschenwürde achtet, zieht er sich nicht dann zwar vor einer Humanität zurück, welche der Güte fabig ist - aber eben als eine Organisation, die selbst diese Menschenwürde für sich nicht in Anspruch nehmen darf, hat sich doch Staatswürde und ein Machtanspruch aus ihr bisher nie durchsetzen lassen? Achtung seiner Menschenwürde mag dem Bürger das Recht belassen, selbst gut zu sein - doch ist dies Ausdruck von Staatsgüte?
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B. Grundsätzliche Wege und allgemeine Kräfte zum "gütigen Staat"
2. Ausstrahlungen von Menschenwürde in Staatsgüte a) Menschenwürde als Ausstrahlungsprinzip
Alle diese Bedenken gegen eine mögliche Verbindung von Menschenwürde und förderndem Staat sind im Verfassungsrecht bereits heute an einem Punkt grundsätzlich überwunden worden: in der eigenartigen Verbindung der Achtung der Menschenwürde als Elementarsicherung und der Sozialstaatlichkeit im Bereich sozial helfender Fürsorge. Nicht umsonst ist dieser schöne Begriff durch den der Sozialhilfe ersetzt worden, in dem die Güte des Schenkens zum Ausdruck kommt. Nun mag man dies gerade als eine besonders hohe Fonn der anspruchsmäßigen Verrechtlichung ansehen; darin wird die Sozialhilfe aber auch kritisiert - zunehmend und mit Recht, denn es gilt vielmehr, ihren frei schenkenden Charakter zu betonen, als Ausdruck der Staatshilfe. Und hier darf eben gekürzt und aufgehoben werden, ohne daß sogleich der Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung erhoben werden könnte, in jenen Extremfällen, in denen allein im Recht ein "Anspruch auf Hilfe" vorstellbar ist. Die Menschenwürde leistet hier denn auch weit mehr: Sie legitimiert die Staatsgewalt zu einer Hilfe, deren Voraussetzungen diese selbst frei, durch keine verfassungsrechtliche Kategorie gebunden, festlegt; denn absurd ist die Vorstellung, daß man Sozialhilfestandards präzise aus Verfassungsrecht je gewinnen könnte. Die Menschenwürde wirkt hier vielmehr als eine "Ausstrahlungskategorie" in die Sozialstaatlichkeit des helfenden Staates hinein, mit ihrer großen Kraft zur Legitimation solcher Geschenke, bis hin zur Aufforderung, sie zu gewähren, entsprechend einem Staatsziel des staatsgütigen HandeIns, in dem sich die Staatsfonn bewährt. Die Staatsmacht legt dann fest, in welchen rechtlichen Fonnen dem zu entsprechen ist; die eigentliche große Ausstrahlung der Menschenwürde bleibt rechtlich im letzten unfaßbar, so wie eben auch Staatsgüte mit herkömmlichen normativen Kategorien nicht erfaßt werden kann, sondern nur aus der Zielvorstellung einer zu erleuchtenden Staatsfonn Qualität gewinnt. Doch diese Ausstrahlungswirkungen der Menschenwürde sind überall sichtbar, sie tragen bis hin zum Recht des Staates, im Namen der Staatsgüte Geschenke der Bürger untereinander zu begünstigen, ja zu erzwingen. So wird denn der Satz von der Menschenwürde als Ausstrahlungskategorie im Staatsrecht zur Legitimationskategorie, nicht zur Anspruchs-, wohl aber zur Erlaubnisnonn.
VI. Menschliches Recht im Namen der Menschenwürde
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b) Menschenwürde als staatsorganisatorisches Erlaubnisprinzip für die Macht
Achtung der Menschenwürde, Menschlichkeit mag von der Staatsgewalt in freier gesetzgeberischer Entscheidung zur Anspruchsnorm konkretisiert werden - als solche ist sie wesentlich, wenn schon in normativen Kategorien gedacht werden soll, nur legitimierende Erlaubnisnorm für ein staatliches Dürfen, das dessen Macht über das Grundsatzverbot hinweghilft, der Staat habe nichts zu verschenken. Dies mag dann bis zu einem staatlichen Müssen reichen, alles zu vermeiden, was irgendwo "unmenschlich" wirken könnte, unvereinbar wäre mit der einen, unauswechselbaren menschlichen Persönlichkeit. "Edel sei der Mensch, hilfreich und gut" - dies hat ein Staat zu verwirklichen, dem damit selbst, im Namen nicht einer Staatswürde, sondern dieser Menschenwürde überall Hilfe erlaubt wird. Typische Inhalte des Satzes von der Menschenwürde fließen damit in ein Staatshandeln ein, welches am besten durch den Begriff der Staatsgüte geprägt erscheint, zu dem die Menschenwürde eine große Öffnung bereit hält: Da gilt es, elementare Bedürfnisse zu befriedigen, die sich aus dem Menschsein ergeben; der Einzelfall muß ebenso in den Mittelpunkt staatlichen Bemühens rücken, wie die Menschenwürde Unauswechselbarkeit des Schutzsubjekts und seines Wertes fordert, sich gerade darin bewährt. Alles, was Menschenwürde ausmacht, ist zu fördern, nicht nur materielle Existenzgrundlagen. So wird denn, in der erlaubenden Ausstrahlungskraft der Menschenwürde, das Staatsgeschenk in Richtung auf wirkliche Staatsgüte näher bestimmt, mit einer ganz speziellen humanen Akzentuierung. Der Satz von der Menschenwürde wirkt hier - dies gilt es besonders zu betonen - gerade nicht nur als eine letzte unüberschreitbare Schranke gegen die eingreifende Staatsgewalt, sie wird zu deren organisatorischem Grundprinzip, indem sie der Staatsgewalt Handeln erlaubt, Handlungsziele vorgibt, an denen sich diese organisatorisch zu orientieren hat. Überspitzt ausgedrückt könnte man darin den Satz von der Menschenwürde geradezu als ein Staatsorganisationsprinzip erkennen, nicht mehr allein als einen Grundsatz freiheitssichernder Grundrechtlichkeit. In dieser Sinnerfüllung einer Staatsgüte aus Menschlichkeit - denn hier könnte diese oft so unklar eingesetzte Kategorie im Sinne einer Akzentuierung Bedeutung erlangen - wird eine eigentümliche Verbindung von Grundsätzen der Machtausübung sichtbar: Einerseits ist da absoluter Minimalismus, unaufhebbares Gebot der Freiheitssicherung, ein wirkliches "gütigsein Müssen"; und auf der anderen Seite steht eine nahezu unbegrenzte Erlaubnis-Legitimation des helfen Dürfens. Liberale Rechtsdogmatik mag dies schwer erfassen können; aus einem "vorliberalen Staatsverständnis" des Wohlfahrtsstaates, der schützenden Polizei als Obhut, ist weit eher verständ-
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B. Grundsätzliche Wege und allgemeine Kräfte zum "gütigen Staat"
lieh, daß die Macht in doppelte Pflicht genommen wird, durch ein letztlich einheitliches Staatsprinzip: einiges nicht, anderes nahezu unbegrenzt zu dürfen. Vielleicht könnte daraus, in einer eigenartigen Staatsrenaissance, ein postliberales Staatsverständnis erwachsen, welches das Neue an der Macht in das Frühere, geradezu Uralte an ihr, zurücklenkt.
Im Namen einer Menschenwürde, in der sich unverlierbare naturrechtliehe Inhalte über alle Regime erhalten sollen, ist in den letzten Jahrzehnten in Vergangenheitsbewältigung ein Unwerturteil über ganze Staatsordnungen gefällt worden. Dieses Verdikt kann nicht nur - wie es allzu häufig geschieht - mit staatlich angeordnetem oder geduldetem Mord und Totschlag begründet werden, mit Erniedrigung und Folter. Wenn darin allein der Sinn der Menschenwürde zu sehen wäre, wie es in früherer Verfassungsrechtsprechung angedeutet ist, so wäre dieser höchste Satz das höchst Unnötige, ja Beschämende in der Verfassung. Und der Unrechts staat läßt sich nicht aus Hunderttausenden oder Millionen von Opfern, allein aus ihnen, definieren. Ihm wird weit mehr noch vorgeworfen: daß er eben von der großen Erlaubnis zur Staatsgüte, welche ihm die Achtung der Menschenwürde gibt, nicht jenen helfenden, fördernden Gebrauch gemacht hat, aus dem heraus er sich erst wirklich, und so schon seit Jahrhunderten, als Staat legitimiert, daß er vielmehr nur Macht in ihrer reinsten Form, um ihrer selbst willen, zum Einsatz brachte, ohne jede helfende Güte. Der Unrechtsstaat beginnt nicht erst an den Toren der Gaskammern, sondern bereits mit der eisigen Kälte der reinen Polizeistaatlichkeit. Und diese Vorstellungen, welche im Namen des Naturrechts den Herrschenden der Vergangenheit zum Vorwurf gemacht wurden, führen nun eine Betrachtung der Staatsgüte zu deren letzten religiösen Begründungen.
VII. Staatsgüte als christliche Rezeption in die Ordnung der Gemeinschaft 1. Der Staat - Statthalter des gütigen Gottes auf Erden
Der Zyklus über das Wesen der Macht, der mit diesen Betrachtungen zur Staatsgüte schließt, sieht die höchste Macht auf Erden als Verkörperung, als Abglanz oder einfach als ein Fortdenken von Ideen, die vor heutiger Staatlichkeit gedacht und neben ihr noch immer mächtig weiter gedacht werden im christlichen Gottesgedanken, mit den wichtigsten Beiworten, welche den Allmächtigen umgeben: Unsichtbarkeit, Gerechtigkeit, Wahrheit und Güte so sieht und will sich auch der Gott auf Erden, der Machtträger Staat. Das Wichtigste dieser nicht Bei- sondern Kernworte der Göttlichkeit ist die Güte, welche gerade die Gegenwart von Ihm erwartet, von allen Mitmenschen
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und eben auch - von der Staatsgewalt. Wie der Gott der Christen nur in seiner Allmacht als ein Gütiger gedacht werden kann, so ist auch der weltliche Gott, die Staatsgewalt, allein so mächtig, daß sie gut nicht nur sein darf, daß sie gütig sein muß. In dieser christlichen Gottesidee scheinen Macht und Güte untrennbar verbunden. So wie eine niedergehende traditionelle Kirchlichkeit heute den gütigen Gott neu entdeckt und zu Ihm sich flüchtet, so muß vielleicht auch der Staat, der immer mehr an Macht verliert, in dieser höchsten Eigenschaft des Allmächtigen sich gerade heute wiederfinden. Was immer sich mit diesem Beiwort schmücken läßt, hat damit Anteil an einer Unendlichkeit, die ebenso unverletzlich wie in ihrer Macht unausschöpfbar gedacht ist.
2. Der Staat - Fortsetzer kirchlicher Organisationsgüte
Die Kirchen verkörpern, zeigen, oder predigen doch diesen Gott der Güte auf Erden; sie weisen hin auf seine personale Güte, doch sie handeln dabei aus einer Organisations güte heraus, in ihrem voll liebesdurchwirkten Tun. Historisch waren sie darin, wie schon betont, lange Zeit Vorläufer aller Staatlichkeit, die sich aus ihnen heraus entwickelt hat. Sie haben wilde Gewalt gebändigt, haben selbst der Macht dieses weltlichen Armes etwas weitergegeben von ihrem Ecclesia non sitit sanguinem. Wann immer mittelalterliche Macht Güte zeigte, und sei es in der Gutmütigkeit barbarischer Kraft - fast immer stand dahinter das Gebot der Kirche oder die Gewissenswirkung einer religiösen, einer christlichen Überzeugung. In Staatsgüte hat der poströmische Staat das Christentum wahrhaft rezipiert. Als er sich dann, in Aufklärung und Säkularisierung, trennen wollte von diesen Wurzeln, im Namen einer Zwei-Reiche-Lehre gar noch zu Zeiten unterstützt von kirchlichem Denken, wäre vorstellbar gewesen, er habe sich damit auch noch von einem Teil seines Wesens, von der organisationsrechtlichen kirchlichen Staatsgüte verabschiedet. Doch gerade soweit konnte auch die Trennung von Kirche und Staat nie vordringen. Ihre schärfsten Verfechter, die Freimaurer der letzten beiden Jahrhunderte, schrieben eben jene menschliche und auch öffentliche Güte auf ihre Fahnen, welche sie vom christlichen Staat geerbt hatten. Die Kirchen wollten sie wohl ihres weltlichen Einflusses berauben, doch sie stets in ihrer Freiheit zur Güte belassen; dies ist der tiefere Sinn der gesamten politischen Anstrengungen und aller Lehren der Trennung dieser beiden Reiche, die eben nicht das Ende eines von ihnen bedeuten sollte, sondern die Freiheit, sich ihm anzuschließen, oder es zu verlassen. In diesem Sinn, und gerade im Namen ihrer Güte, sind die Kirchen und ist ihr Gott im Staatsrecht gegenwärtig geblieben. Klerikale Macht wollte der Staat aus seinen Mauem verbannen, nicht vollends aber jenen Gott, der die gütige Macht bedeutete. Und in
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B. Grundsätzliche Wege und allgemeine Kräfte zum "gütigen Staat"
diesem Sinne vor allem ist er nicht nur im Vorspruch des Grundgesetzes gegenwärtig geblieben, sondern noch heute, gerade in der Gegenwart, Gegenstand wirklichen Konsenses in der Gemeinschaft. Das viel umstrittene Kruzifix-Urteil eines Verfassungsgerichts war deshalb nicht nur ein Rechtsirrtum, sondern ein Rechtsfehler, weil gerade der Gekreuzigte ein Symbol ist für Leiden, Opfer - Güte, das niemanden in seiner Freiheit und erst recht nicht in seinen Gefühlen verletzen kann; dies war ein Schlag gegen weiterwirkende letzte Staatsgüte, nicht nur gegen religiöse Gefühle, die ein Verfassungsgericht ohnehin nie erreichen kann. So ließ und läßt sich denn weder Kirchlichkeit noch Göttlichkeit aus dem neutralen Staat der Gegenwart völlig verbannen - und dies mag eine besonders überzeugende Begründung dafür sein, daß der gütige Staat schon heute Wirklichkeit ist: Nicht alle Güte läßt sich aus ihm nehmen.
3. Helfende Güte - Kern rezipierter Kirchlichkeit im Staat Die gegenwärtige Staatsgewalt läßt nicht nur die Christen und ihre Kirchen in ihren Mauern wirken, sie gewährt ihnen weit mehr als Freiheit: wirkliche Privilegien und eine laufende Zusammenarbeit mit staatlichen Organisationen. Staatsorganisatorisch ist diese Rezeption nicht nur des Kirchlichen, sondern geradezu der Kirchen in die Staatsorganisation eine tägliche, mächtige Realität: Auf diese soziale Zusammenarbeit in allen Bereichen, von Krankenhäusern und Schulen bis zur Schwangerschaftsberatung und Sozialseelsorge, kann eine moderne Gewalt nicht verzichten, die vieles von dem selbst nie, anderes nur um einen viel höheren Preis leisten könnte. So verbinden sich in dieser sozialen Zusammenarbeit Vorstellungen vom effizienten und vom gütigen Staat, weil dieser das typisch Kirchliche für sich einsetzen will: Güte und Hilfe, und er will es billiger für sich haben - eben um den Preis seiner eigenen und einer anerkannten, privilegierten BürgerGüte. So muß er - welch eigentümliche Verbindung - aus Effizienz zum Guten finden. So viel wert ist ihm diese kooperierende Güte, daß er um ihretwillen seine zentralen Machtinstrumente einsetzt, Kirchensteuern nicht nur gestattet, sondern erhebt. Fände dies nicht seine Rechtfertigung als Machtäußerungeines gütigen Staates, es könnte keinen Tag vor der Kritik weltanschaulicher Neutralität bestehen. An ihr vorbei hat die alte christliche Kirchengüte den modernen Staat erfaßt. Doch zu dieser staatsorganisatorischen Seite kommt, noch deutlicher, eine geradezu normative Grundrechtsentscheidung zur Staatsgüte: Die weltliche Macht anerkennt charitatives Tun als Wesen christlichen Verhaltens,
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dem Bürger und seinen kirchlichen Organisationen gewährt sie gerade darin ihren besonderen, mit anderen Privilegien kaum vergleichbaren Schutz. Ein Staat, der dem einen so hohen Wert beimißt, muß dann aber doch auch selbst, in seinem ganz neuen organisatorischen Wesen, so oder ähnlich handeln - staatsgütig eben, und sei es aus seiner neu erkannten Verpflichtung als positiver Schützer grundrechtlicher Werte. So geschieht es denn auch allenthalben durch staatliche Gesetzgebung, in der Anerkennung vor allem des mildtätig Kirchlichen als eines besonderen Ausdrucks der Gemeinnützigkeit, bis hin zu einem Stiftungsrecht, in dem der Staat eine Jahrtausende alte Geschichte kombinierter staatlich-kirchlicher Organisationsgüte rechtlich bevorzugt. Nur eine Begründung für solche Gemeinnützigkeit kann es geben: daß in diesem kirchlichen oder, aus christlichem Denken heraus, bürgerlich-mildtätigen Tun, und gerade in seiner Motivation und Ausprägung, öffentliches Interesse des Staates miterfüllt werde, daß "eigentlich der Staat dann so handeln müßte", rande er nicht diese christliche Hilfe. Kann deutlicher zum Ausdruck kommen, daß "eigentlich" auch der Staat zu solcher christlichen Güte verpflichtet ist? So ist er denn heute nicht nur tatsächlich, sondern auch rechtlich noch immer Fortsetzer christlicher Kichengüte, göttlicher Güte auf Erden.
4. Öffentliche Existenzberechtigung, Öffentlichkeitsanspruch der Kirchen - aus helfendem Handeln
Die Rezeption organisatorischer Güte in die heutige Machtordnung des Staates hinein beschränkt sich nicht auf solches soziale Tun und seine Bevorzugung. Ganze Großorganisationen als solche privilegiert der Staat, in all ihrem Wirken, nur deshalb, weil in ihnen lebendig ist, was er auch selbst als verpflichtendes Erbe von ihnen übernommen hat: Staatsgüte. Staatsfremde, kirchliche Organisationsgüte wird von der Macht des Diesseits deshalb voll mitgetragen, in all ihren Äußerungen, weil sie eben voll durchwirkt erscheint durch dieses helfende Fördern, das nicht nur ein "charitativer Nebenbetrieb" weit höherer, transzendenter Überzeugungen ist. Das gesamte Staats-Kirchen-Recht wird dadurch getragen und es wäre nicht zu halten, auch nicht politisch im allgemeinen Bewußtsein, würde hier nicht eine "im ganzen gütige Mächtigkeit" sich mit der des Staates verbinden. So kann dessen Macht den Öffentlichkeitsanspruch der Kirchen erfüllen, weil sie wesentlich das predigen, was auch er zu leisten hat, bieten müßte: eine gütige Grundhaltung in allem und jedem. Nicht um einzelnes mildtätiges Tun geht es, sondern um eine geistige Gesamthaltung, aus welcher heraus in bei den Reichen immer dasselbe geschieht: in dem der Kirchen aus göttlich-transzendenten Überzeugungen, im staatlichen Bereich aus einer menschlicher Verantwortung für die Bürger, die ihre letzte, wenn
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auch kaum mehr faßbare Begründung nur in einem finden kann: in einer tranzendenten Verpflichtung gegenüber allem Menschlichem, aus gottesähnlicher Güte. Deshalb ist die heutige Vorstellung von den Religionsgemeinschaften durch christliches Vorverständnis wesentlich geprägt; der gütige Staat darf seine Förderung nur einer Kirchlichkeit angedeihen lassen, die sich derselben helfenden Verantwortung verpflichtet fühlt, die also seine Staats güte in Kirchengüte vollendet. Dem römischen Militärstaat war Staatsgüte fremd, wenn nicht ein Greuel; so mußte er diese gütige Sekte bekämpfen. Der heutige Staat als Fortsetzer christlich-kirchlicher Hilfen kann nur gütiges Helfen anerkennen, als Wesen zu fördernder Kirchlichkeit. Ein Macht-Sektentum hat in ihm keinen Platz. Spricht dies alles nicht mächtig, geradezu "unendlich" dafür, daß der Entdeckung eines neuen Staats-Kirchen-Verhältnisses nun endlich auch die Bewußtwerdung einer neuen Staatsgüte folgen müßte?
VIII. Staatsmoral - Politikmoralisierung - RechtskuItur 1. "Der Nächste" - näher als hohe Werte
Aus den transzendenten Höhen der Theologie und den staats fern erscheinenden institutionellen Ausformungen eines Staatskirchenrechts müssen nun die Betrachtungen sich richten auf eine Ebene des Moralischen, welche den Staat als solchen erfaßt, als Ausdruck eines gesellschaftlichen Bewußtseins. Die Bürger der Demokratie erstreben gerade in dieser Staatsform - in vielen Phänomenen wird dies deutlich - eine gewisse Remoralisierung der Politik. Darin liegt sicher Reaktion gegen eine Entmoralisierung, welche, mit dem Zusammenbruch der feudalen und "bürgerlichen" Ordnungen, zu massivem Werteverlust geführt oder wenigstens eine Wertlücke offengelegt hat, aus der zweifelhafte Werte der Vergangenheit verschwunden sind. Diese Demokratie erscheint im letzten als Ausdruck eines massiven Egoismus, mag er sich auch hinter kollektiven Formen verbergen: Verfolgt werden eigene Interessen, oder doch die der eigenen Gruppe; doch dieses kollektive Denken kennt keinen Altruismus: Die Interessen des Gruppenangehörigen werden verfolgt, weil sie die eigenen sind, die sich sonst nicht verwirklichen lassen. Dieser Verlust des Altruismus kann nur kompensiert werden in einer neuen Nähe zum Nächsten, in Güte und Hilfe. Dies ist denn auch der einzig heute akzeptierte Inhalt einer Gesellschaftsmoral. Nicht mehr hohe, aber allzu feme Werte sollen verehrt werden, in personengelöstem Konsens; der Gleichheitsbürger akzeptiert nur die Interessen des Gleichen - des Nächsten, und er will sie in neuer Form achten, und seien
VIII. Staatsmoral - Politikmoralisierung - Rechtskultur
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sie auch nicht seine eigenen. Gleiches als Nächstes anerkennen - und doch nicht als Eigenes: das muß zur Hilfe führen, zur Gesellschaftsgüte und, über sie, zur Staatsgüte. Dahin konvergieren denn auch alle gesellschaftspolitischen Strömungen der Gegenwart, zwei unter ihnen vor allem, welche sich immer deutlicher an der Macht ablösen, sich ineinander verschlingen: ein Konservativismus, in dem früheres Verantwortungsgefühl der Herren mitschwingt für "die eigenen Leute", wie es sich Jahrhunderte lang in gutsherrlicher Moral, über alle Mißbräuche hinweg, doch bewährt hat; und ein Sozialismus, der das Kollektiv eben nicht nur will als Vehikel zur Verfolgung eigener Interessen, der vielmehr moralische Kraft zieht aus primärer Hilfe für den Nächsten, und wenn es auch gilt, eigene Interessen zurückzustellen. Die Bereitschaft, auf soziale Errungenschaften zu verzichten zugunsten der Klassen-Genossen, in einer Verteilung von Arbeit auch auf Arbeitslose, ist nicht nur List sozialistischer Vernunft, hier ist nun wirklich etwas wie ein Ausdruck sozialistischer Moral. Der Liberalismus, der sich über und zwischen all dem, gerade noch, erhält, muß diese größeren und tieferen Strömungen aufnehmen, als eine notwendige Mäßigung seiner geschäftsmäßigen Härte, mag er auch immer wieder versuchen, sie in seinem "sozialen Rechtsstaat" zu Randkorrekturen herabzustufen. Es bleibt eben doch dabei: "Konkrete Moral" in der Gemeinschaft kennt nurmehr den Nächsten, ihn als konkreten Wert, der nicht mehr bereichert wird, sondern bedürftig ist, in der Erfüllung dieser Bedürfnisse den Gebenden bereichert. Moralische Werte sind nicht mehr die ausgegrabenen Schätze, immer noch von Rost und Motten bedroht, sondern stets nur die Unglücklichen am Wegerand des gesellschaftlichen Fortschritts.
2. Staatsmoral des Altruismus Diese neue, konkrete Moral schlägt sich nun sogleich nieder in einem Zug zu dem, was hier im Grunde gesucht wird: eine neue "herrschende Moral", an der niemand vorbeikommt, die vielleicht im letzten auch noch zwingen darf. So verdichtet sich all dies zur Forderung nach einer neuen Staatsmoral, soll sich nicht der Bürger vom Staatsbegriff als solchem abwenden und mit seinen Hoffnungen auf eine herrschende Moral auch die Volksherrschaft begraben. Aus diesem Denken ist die Vorstellung vom Unrechtsstaat geboren, von einer Gemeinschaft, welche Menschen ihre Hilfe brutal versagt, aus reinem Machtstreben heraus zur inhumanen Ordnung wird, von der systematischen Verfolgung von Minderheiten bis zu den Treibminen im Kanal von Korfu. Angesagt sind neue Anstrengungen zur Überwindung des ewigen Macchia-
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vellismus: Seine große Lehre war, daß die Macht, die Fürsten und Republiken, Moral nicht kennen dürfen, auch und gerade nicht die Fürsten als Personen. Nun soll diese Entpersönlichung der alten Monarchien nach einer Lehre, der sie übrigens so oft als gute Hausväter nicht gefolgt sind, endgültig und im Grundsatz überwunden werden: Der Staat selbst muß moralisch werden, will er nicht zur "verbrecherischen Organisation" degenerieren. Dies war bis vor wenigen Jahrzehnten ein staatsrechtlicher Unbegriff, weil doch nur Menschen, nie Organisationen strafrechtliche Verantwortung auf sich laden könnten, weil der Staat, gerade als Organisation, eben des Verbrechens nie fahig sein sollte. Dies hat sich nun gewandelt: Wie der Staat zur verbrecherischen Organisation werden kann - muß er nicht, im sei ben Denken, zur Staatsgüte finden? Im Begriff einer solche "Staatsmoral zum Nächsten" liegt besonders in der Demokratie die Forderung nach der helfenden Gewalt, ist doch gerade dem Staat der Demokraten jeder Bürger sein "Nächster", weil er so unmittelbar ist zu ihm, wie christliche Theologie das Verhältnis zwischen dem Geschöpf und dem Schöpfer deutet. Alles was sonst nur von Menschen kommen kann, das ethische Handeln, ist nun vor allem, und in voller organisatorischer Systematik, von der Staatsgewalt gefordert, eines vor allem: Güte als Kern aller Moral. Solche Staatsmoral wird sich gewiß zuallererst erweisen in Beachtung des Verbots, dem Nächsten, dem Mitbürger zu schaden, ihm elementare, typisch staatliche Verletzungen zuzufügen, mit einer staatlichen Allmacht, die stets zugleich den Menschen in seinem Innersten treffen kann, die ihm gerade nicht sein "stilles Kämmerlein" lassen will. Doch dann wird von dieser Staatsgüte gefordert, daß sie den Übergang zum Positiven finde, daß sie über die "elementare Hilfe" der sozialen Fürsorge zum Begriff des Helfens als solchem führe, in einem gleitend-bruch losen Spektrum moralischer Steigerung. Läge nicht im ethischen Anspruch gerade das Ziel, nicht nur gut zu sein, sondern immer besser zu werden? So richtet sich denn auch so manche Kritik an der Renaissance eines Begriffs "demokratischer Staatsmoral" nie gegen Bestrebungen, eine solche in fördernder Güte aufzubauen; selbst die bewaffnete Macht, Gegenstand tiefsten demokratischen Mißtrauens, darf, ja muß Katastrophenhilfe leisten, darin allein ist sie jeder Kritik entrückt. Abgelehnt wird vielmehr vom säkularisierten, "emanzipierten" Bürger stets nur eine öffentliche Moral, die unter dem Mantel eines Werteschutzes Machtschutz allein erstrebt, Law and Order als Selbstzweck eines im Kern doch noch immer macchiavellistischen Konservatismus. So ist denn das einzige, was an Staatsmoral heute auf Akzeptanz rechnen kann in einer demokratischen Gemeinschaft, der altruistische Einsatz der Staatsgewalt in Staatsgüte.
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3. Politikmoralisierung
a) Von der "Politik als schmutzigem Geschäft" zur Politik der Hilfe
Dies ist ein besonderer, gerade in der Volksherrschaft zentraler Aspekt einer altruistischen Staatsmoral, die sich hier in typisch demokratischer Form verengt: Der Blick fallt nicht mehr nur auf die Organisation des Staates, welche sich bereits in Güte systematisch zu wandeln beginnt; jetzt sind es wieder die Herrschenden, die Träger der politischen Gewalt, das Personal der Demokratie, von dem personale Moral, Ethik zum Nächsten in Hilfe erwartet wird. Da wird nun allenthalben konkretisiert und personalisiert - darin aber stets zuallererst moralisiert. Eines wird dabei aber mit stets noch größerem Nachdruck gefordert: mehr Altruismus, Hilfsbereitschaft im Namen des Staates - Politikerverhalten als Staatsgüte. Gewiß sind hier weite Wege zu gehen, gerade in einer Demokratie, deren Vertretern so lange Zeit alles recht war, was nur die Interessen der Vielen zu herrschenden werden ließ. Da wurde denn Politik infiziert mit demokratischer Demagogie, und aus dem gütigen Verhalten des paternalistischen Herrn entstand, bereits zu Bismarcks Zeiten, Politik als schmutziges Geschäft. Angeprangert sah sich darin aber nicht die Verfolgung der Interessen Schwächerer, Hilfsbedürftiger, sondern zuallererst ein Egoismus, der dies sich zum Vorwand nahm - um sich gerade über diese Bedürftigen am Ende zu erheben, auf die nicht mehr vornehmen Höhen der früheren Herren. "Schmutzig" war dort nun das Eigensüchtige; und da andere politische Mechanismen kaum mehr wirken als die einer durchaus notwendigen, Demagogie im Namen der Schwächeren, muß jetzt eine Moralisierung der Politik als solcher, mit aller überzeugenden Gewalt erstrebt werden, welche sie von schmutziger Eigensucht wandelt zu Hilfe und Güte, zu staatsgütigem Verhalten all derer, welche heute herrschen oder morgen herrschen wollen. Alle die in diesen politischen Raum eintreten, auf welcher Ebene immer, als Inhaber der Herrschaft oder deren Kritiker, sind aufgerufen zu diesem Kampf gegen herrscherlichen Egoismus; gerade in der Abwechslung von Mehrheiten und Minderheiten scheint sich das Definitive der Herrschaft zu verlieren, das überhaupt erst Egoismus zum Tragen bringt. b) Von der "Politik als Beruf" zur Politik als karitativer Berufung
"Politik als Beruf' - das war ein geniales Wort, doch seine Fortune lag in der zentral treffenden Beschreibung einer Entwicklung, unabhängig von Dogmatik oder Legitimation des Phänomens. Im Gegenteil - jene Professio-
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B. Grundsätzliche Wege und allgemeine Kräfte zum "gütigen Staat"
nalisierung, welche Politik zum Beruf werden ließ, war nicht nur eine Entwicklung zur technischen Perfektion, sondern zugleich auch, wenn nicht vor allem, zum Anreiz einer Politik als persönlicher, als egoistischer Karriere. In einer Zeit ist dies verkündet worden, in der erstmals Beruf und Berufung deutlich auseinander fielen, weil sich Beruf immer mehr der Eigensucht des persönlichen Verdienens verpflichtet sah, sehen mußte, nachdem andere, Jahrhunderte lang tragende ökonomische Grundlagen in Revolution und Inflation zerbrochen waren. Der Fürst mochte der Erste Diener seines Staates sein - ein Beruf war dies für ihn nicht, wohl aber Berufung. Herrschaft als Beruf - das mußte sich alsbald wenden in die Unmoralität des egoistischen Machteinsatzes zum eigenen Verdienst; und so wurde Politik als Beruf in der Praxis weithin zur Politik als Korruption, und diese Hürde hat der Zentralbegriff Demokratie, in Amerika vor allem, noch immer nicht nehmen können. Beruf bedeutet Geldverdienen, so wie es sogar die hohe Grundrechtlichkeit in ihrer Definition des Berufs zum Ausdruck bringt: seinen Lebensunterhalt auf solche Weise bestreiten. Güte und Hilfe können als solche nicht eigentlich zum "Beruf' werden, sie sind Ausdruck einer Berufung, die zuallererst in etwas wie einem mönchischen Gelübde einer Armut sich zuwendet, in welcher allein Güte zum täglichen Tun werden kann. Gütigem Handeln ist denn auch gerade jenes routinehaft Professionelle fremd, das alle Aktivitäten in die kühle Normativität des Üblichen einspannt. Jenes Handeln im irgendwie doch außergewöhnlichen Fall, das nicht nur zur Güte gehört, sondern sie erstmals konstituiert, steht außerhalb all jener Professionalität, in welcher heute der Beruf zum Ausdruck perfekten Könnens zu degenerieren droht. Gerade in der Politik zeigen sich nun aber tiefe Spannungen, soll sie zu einer in der Demokratie so notwendigen Moralisierung zurückfinden: Einerseits ist jene Professionalität gefordert, welche alles Amateurhafte ausschließt, den Politiker als "Techniker des Allgemeinwohls" in die Lernbarkeit und Lehrbarkeit des platonischen Agathon zurückführt. Doch andererseits muß ihm, in all diesem Können, und gerade aus ihm heraus, der Blick bleiben für jene Ausnahme, welche nicht nur die normative Regel bestätigt, sondern zu ihr werden kann, und in welcher die nahezu schrankenlose Flexibilität demokratischer Politik eben gefordert ist - und in ihrem Namen kann, muß dann der Blick auf den Nächsten fallen, an dem die Legionen der Herrschenden nicht vorübergehen dürfen, im römischen Stechschritt der Herrschaft. Diese Spannung, welche Professionalität nicht verliert, dennoch aber den Beruf zur Berufung der Staatsgüte werden läßt, - sie muß ausgehalten und in ihren Kräften der Politikmoralisierung genutzt werden. Daß dies geschehen kann, mag allerdings weithin mehr Ausdruck eines demo-
VIII. Staatsmoral - Politikmoralisierung - Rechtskultur
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kratischen Credos sein als Realität jener kleineren Herrschenden, die auf Silberlinge angewiesen bleiben. c) Politik - moralisch als Machtgewinn durch Geschenke
Ein dritter Weg tut sich vielleicht auf, zwischen verdienen Wollen und helfen Sollen: Politik muß Macht gewinnen und darf sie zu ihrer Erhaltung einsetzen, gerade in der Demokratie. Ist es dann aber nicht eine große List der Vernunft gerade in dieser Staatsform, wenn Politik zur Hilfe werden kann? Verliert sie dann wirklich die Macht des Ethischen, wenn diese genutzt wird, damit Macht aus ihr zurückkomme? Wer in demokratischem Realismus Politik als Jagd auf die Macht erkenntmuß er ihr wirklich das Verdienst systematischer oder Einzelfall-gerichteter Güte absprechen, bleibt sie nicht Möglichkeit einer "Hilfe auf breiter Front"? Die viel beklagte Allgemeinheit heutiger Politik, welche einem Herrschenden Kompetenz für so weite Bereiche abverlangen will, daß dies schier unübersehbar zu werden droht - legitimiert sie sich nicht, andererseits, in einer Allgemeinheit der Hilfsmöglichkeiten, welche gerade diese Generalität der Politik den Herrschenden ermöglicht? In ihrem Namen kann die Politik nicht nur Normen brechen, sondern auch in politischer Güte über Gesetze hinwegschreiten, getragen vielleicht von wieder anderen, "besseren" Gesetzen. Dies ist denn auch die Hoffnung heutiger Demokraten: Sie fordern nicht mehr, oder doch nicht mehr allein, die "richtige" Politik - wer kennt sie schon. "Gute", "bessere" Politik ist gefordert, und in welchem Namen könnte sie, aus dem allgemeinen Bewußtsein der Gemeinschaft heraus, wirklich besser werden als im Sinne altruistischer Güte? Lenkt so nicht der große Zug zu einer neuen Staatsmoral, gerade in den Räumen der Demokratie, in ihrem politischen Verhalten, zurück zu einer Politikmoralisierung, welche nichts anderes ist als demokratisch-personaler Ausdruck der Staatsgüte durch Geschenke, die Macht bringen? 4. "Rechtskultur" - in Staatsgüte umhegte Ordnung Die Demokratie muß Abschied nehmen, mehr und mehr, von der Illusion einer Politik, die in reiner Machtdynamik nicht nur das Richtige, sondern auch noch das moralisch Beste hervorbringen soll. Zum politikübergreifenden Begriff muß gerade diese Staatsform zurückfinden, zu Staatsgrundstimmungen vielleicht, in denen sich Staatlichkeit wiederfinden kann, selbst noch über den Gesetzen. Ein solcher Begriff ist jene "Rechtskultur", von der eingangs, beim Versuch der Erfassung der Dimensionen dieser Untersuchung, bereits die Rede war. Und hier gilt es, dies nach den Ergebnissen bisheriger Betrachtungen in den höheren Zusammenhang einer Staatsmoral 7 Leisner
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B. Grundsätzliche Wege und allgemeine Kräfte zum "gütigen Staat"
zu stellen, in der die Demokratie zum Altruismus einer guten, weil gütigen Staatsform finden will. Der Begriff der Rechtskultur wird und muß unklar bleiben für ein Denken in Normen. In ihm liegt ja der Versuch, jenseits des Normativen, all dies übergreifend, Grundkonzepte, Grundstimmungen einzufangen, mehr noch: Zustände, in denen sie alle zur Ruhe des Rechts finden können. So muß hier denn das Heterogene, wesentlich Teilbare und juristisch Geteilte, in seinem rechtlichen Wesen zusammengesehen, integriert werden im eigentlichen Sinne des Wortes. Dies alles gilt es dann auf eine gewisse "zivilisierte Höhe" zu bringen, welche den Schwankungen reiner Gewalt entzogen erscheint, auf der die Ruhe des Kulturellen einkehrt, mit seinen langsamen und doch großen Wellenbewegungen. In all dies müssen Traditionen, muß ein großes Herkommen einbezogen werden, in dem das Leben des Rechts das immer längere Leben der Menschen widerspiegeln kann. All dies ist zusammenzuführen zu einer gemäßigten Staatlichkeit, welche weniger einsetzt an unruhiger Macht, sich also nicht nur jener Eingriffsgewalt verpflichtet fühlt, in welcher so lange die politisch fluktuierende Demokratie ihr Heil gesucht hat. Wohin anders aber könnte all dies führen als zu jenem "Staat der Hilfen", in welchem etwas von gärtnerischer Bewahrung einer Kultur sichtbar wird, die nicht nur ausreißt und schneidet? Im Begriff dieser "Kultur" liegt etwas von einem gepflegten Miteinander-Aufwachsen, unterstützt vom gütigen, Realität bewahrenden Helfen. Kultur setzt nicht nur auf Abgrenzungen; Zäune mögen Kulturen schützen, sie sind nie als solche Kultur, und auch das Recht muß einer solchen mehr bieten als nur Abgrenzungen. Rechtskultur als solche wird man nicht definieren können, gerade nicht mit dem Begriff rechtlicher Instrumente. Doch aus ihrem Gegenbild können sich Orientierungen über ihre zentralen Inhalte ergeben: Gegensatz zu solcher Kultur ist vor allem die rücksichtslose Durchsetzung in einem Machteinsatz, der auf Gewalt setzt und sich in ihr erschöpft, dem alles möglich erscheint, alles machbar. In diesem Sinne war die keynesianische Machbarkeits-Euphorie der Nationalökonomie vielleicht ein letzter Ausdruck kulturfernen staatlichen Machtstrebens. Inzwischen ist all dies Vergangenheit, im wachsenden Bewußtsein einer ökonomischen Kultur, welche vom Recht in Rechtskultur umhegt wird: Gefordert ist ein irgendwie vornehmes, wenn man will weiches Miteinander, welches Realität zwar beschneidet, in ihren Stämmen aber aufnimmt und hochpflanzt, mit der helfenden Hand des Gärtners. Diese Rechtskultur kann aus Staatsmoral und Politikmoralisierung nur, wie in einem Dritten Reich zivilisierter Macht, wachsen in Demokratie, in einer Verbindung aus Persönlichkeit und Sozialismus, den beiden großen Strömen gegenwärtigen Kulturentwicklung.
IX. Staat der Freiheit - Staat der Güte
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In diesem Sinne ist dann der gütige Staat hinaufpflanzende Ordnung der Hilfen, wird er eine "Macht zur Staatskultur", welche das Recht einsetzt und im Staat noch überhöht. Friedrich Nietzsche hat den Willen zur Macht gefeiert; politische Epigonen haben dies verstanden als Aufruf zur reinen Gewalt des Übermenschen. Doch die reine bildhafte Prophetie zeigt den Philosophen dieser Übermenschlichkeit auf einer weit höheren Stufe: Hinaufpflanzen sollten sich seine Menschen, mit den Kräften jener Renaissance-Kultur, die seinem Denken am liebsten war, in einer wahren Garten-Kultur neuer Moral, die er in der Gewaltsamheit des Wilhelminismus nicht finden konnte. Nun war dies für Nietzsche sicher nicht die Kultur der Güte, des Erbarmens, die er erbarmungslos entlarvt und zerstört hat. Doch geblieben ist von diesem großen Wurf das Denken in Kategorien einer Kultur, die auch das Recht erfassen muß, und in einem Aufruf zu einer ganz neuen Moral. Könnte sie nicht doch den Staat der Gewalt zum Staat einer neuen Güte werden lassen, in der sich Zarathustra - verströmen wollte?
IX. Staat der Freiheit - Staat der Güte In den vorstehenden Kapiteln sollten all jene geistigen Züge beschrieben werden, in welchen heute Staatslehre und Staatsrecht, das Recht der Demokratie überhaupt, zu einer neuen Staatskonzeption der Staatsgüte drängen. Dies ist gewiß zu verstehen als eine große Antithese zur normativen Staatlichkeit, wie sie noch immer herrschenden Auffassungen entspricht und im zweiten Teil dieser Betrachtungen darzustellen sein wird, als eine vielleicht endgültig herrschende. Hier aber geht es noch darum, daß der gütige Staat, wenn er denn kommen sollte, vielleicht doch etwas anderes werden könnte als eine weitere Form der Macht, als verschleierte Gewalt gegen Freiheit. Am Ende dieses Hauptteils über mögliche Legitimationen der Staats güte mag daher bereits, wenn auch in einem gewissen Vorgriff auf später zu vertiefende Gegenpositionen, gefragt werden, ob nicht gerade jene Grundprinzipien heutiger Demokratie - der Freiheit auf der einen Seite, der demokratisch-organisierten staatlichen Macht auf der anderen - welche beide wie sich noch zeigen wird, so schwer mit Staatsgüte zu vereinbaren sind, doch auch Wege öffnen könnten zu einer neuen Konzeption der altruistisch helfenden Macht. Wenn diese mögliche neue Staatskonzeption Kraft schöpfen kann aus Grundvorstellungen ihres Gegenbildes, so mögen ihre Durchsetzungschancen steigen, und führe dahin auch nur eine Kombination von bisher herrschenden und hier neu entwickelten Vorstellungen. Die Freiheit, auf deren Dogmatik vor allem die heutige Volksherrschaft noch immer beruht, mag gegen alle Staatsgüte aktivierbar sein, so wie es 7·
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B. Grundsätzliche Wege und allgemeine Kräfte zum "gütigen Staat"
später noch zu vertiefen sein wird (vgl. F IV) - und doch führt auch sie zum Staat der Hilfen.
1. Freiheit - vom Staatseingriff, nicht vom Staatsgeschenk Freiheit steht wesentlich gegen Gewalt, doch kann sie vom Staat, dem sie Gewalt versagt, nicht Hilfe erwarten, ist sie nicht gerade dazu verurteilt? Freiheit definiert sich, in ihrer gesamten Verfassungsentwicklung, und weit über den klassischen Liberalismus hinaus, dogmatisch wesentlich und das heißt hier ausschließlich - aus der Abwehrstellung gegen den Zugriff der Staatsgewalt, sie bestimmt sich negativ aus Zwang. Dies muß ganz ernst genommen werden, gerade gegenüber einem Staat, der nicht mit Zwang vorgeht gegen den Bürger, sondern zu ihm kommt mit Geschenken. In Bibliotheken von Lehrbüchern und Entscheidungssammlungen ist ein nahezu perfektes Anti-Eingriffssystem entwickelt worden; das rechtliche Mißtrauen der Demokratie gegenüber allem, was als Eingriff wirken könnte, ist nicht zu überbieten, es trägt die gesamte Staatsform. Ist nun aber wirklich begründet eine Sorge, die da fürchtet Danaos et dona ferentes? Gerade der liberale Staat der Entwicklung des klassischen Staatsrechts hatte zwar nichts zu verschenken, doch wo er ausnahmsweise gab, war es - nur zu noch mehr Freiheit. Freiheit gegenüber "aufdrängendem Helfen" gibt es als Kategorie nicht, Freiheit gegen das Staatsgeschenk nimmt verständlicherweise der Bürger des Sozialstaats nirgends in Anspruch. Gerade wo die Staatsgewalt wirklich in Güte zum Bürger kommt, ihm bietet, was er nicht verlangt, gar nicht fordern darf, kann da etwas anderes sein als "Hilfe durch den Staat - und gegen den Staat"? So wurde denn Generationen lang Sozialhilfe, vor allem aber Sozialversicherung, gefeiert als ein System der geschenkten, verstärkten Freiheit, nicht als Zwang zu ihr. Erst als immer mehr Kategorien in diese Zwänge eingebunden wurden durch Gesetz, vom Bauern bis zum Dichter, als das Geben begann, sich aus dem Zwang des Nehmens zu legitimieren, geriet das gesamte System der Hilfen ins Zwielicht, nicht erst als leere Kassen zu mehr Nehmen als Geben zwangen. Doch dies war im Grunde bereits die Frucht der Normativierung, der Übernahme von Gestaltungsformen des klassischen Hoheitsstaates der Normen in ein rudimentär aus Staatsgüte entwickeltes System, welches in normativ perfektionierter Güte als Zwang immer mehr gefühlt wird. Dies aber ist eben nicht der einzige Weg, der Freiheit der Bürger Geschenke zu machen, vielleicht ist er gerade besonders problematisch, wird er doch nicht so sehr über Staatsgeschenke beschritten, als über den Zwang, sich selbst und andere zu sichern, in Formen eines normativ erzwungenen Altruismus. Vor allem nimmt dieser
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dann herrscherliche Züge an, wenn er so deutlich als politisch lenkende Gestaltung wirken will und nicht mehr eigentlich als Geschenk, als politisch "verlorene Gabe". Die Ausweitung der sozialen Sicherungssysteme, ihr Umschlag aus Geschenk in staatlichen Zwang wird dann unausweichlich, wenn nicht mehr so sehr Bedürfnisse außerrechtlich aufgesucht und sodann, in dieser ihrer letztlich unpolitischen Struktur, erfüllt werden, so wie es kirchliche Charitas stets geübt hat, wenn vielmehr in all dem gesellschaftsverändernde Macht durchscheint. Gesellschaftsveränderung aber ist Sache der Freiheit, nicht der staatlichen Macht. Diese Macht der sozialen Geschenke mag also zunehmend als Gewalt gefühlt und entlarvt werden - und doch bleibt es grundsätzlich und in so vielen anderen Bereichen dabei: Die politische Freiheit negiert den Eingriff, aber sie ruft das Staatsgeschenk - solange es wirkliches Geschenk bleibt. 2. Die Freiheitsneigung wirklicher Staatsgeschenke Bei der vorstehend versuchten Betrachtung des Wesens des gütigen und damit auch des staats-gütigen Handeins wurde deutlich, was dieses Helfen wesentlich konstituiert; es ist doch in manchem deutlich freiheitsgeneigt: • Da ist, schon im Ausgangspunkt, die Freiheit des Bedürftigen, sich um Hilfen zu bemühen - oder zum Versuch aus eigener Kraft. Es gilt die Regel: Je weniger Antrag, desto mehr Freiheit, und deshalb muß eine Ordnung in Staatsgüte die Formalisierung der Anträge in Grenzen halten, ja den Antrag letztlich zurückdrängen, obwohl weithin das schiere Gegenteil geschieht, ohne daß erkannt würde, daß sich in der Bitte die Güte verlieren kann. • Ein letztes Wahlrecht endgültiger Annahme des Staatsgeschenks ist stets freiheitsgeneigt, es vermindert die Gefahr des Umschlags in gebenden Zwang. Von dieser Wahlfreiheit aber wird immer etwas bleiben, und nicht nur in "verschämter Armut", sondern aus dem Bewußtsein heraus, daß Geschenke zum Zwang sich wandeln könnten. Dann aber ist das freie Wahlrecht der Annahme des Staatsgeschenks eine institutionelle Gestaltung der Freiheit, nicht des Eingriffs, und so muß sie weiter entwickelt werden, soll dem Geschenk die freiwillige Dimension der Freiheit bleiben. • Freiheit ist in einer Ordnung gütiger Staatlichkeit aber nicht nur gegenwärtig bei den Empfängern, sie prägt vor allem das Tun auf der Geberseite, welches der Annahmefreiheit entspricht. Die gesamte Hilfe-Beziehung ist damit "wesentlich eine freie", in voller Flexibilität. Der wesentlich politischen Freiheit des staatlichen Gebens entspricht eine Bürgerfreiheit des Nehmens, die darin ebenfalls eine politische Dimen-
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sion gewinnt. Entscheidend ist in bei dem die Absage an eine totale Verrechtlichung der Beziehungen, welche dort ohnehin ausgeschlossen erscheint, wo wirklich der Blick auf den hilfsbedürftigen Einzelfall primär bleibt. Jedenfalls entfaltet sich all dies dann in der bereits vorstehend angedeuteten "Grundstimmung einer Staats güte" , in welcher der Bürger der Macht begegnet. • Freiheit wäre an sich das ideale Förderungsziel einer solchen Güte. Durch Eingriff den Menschen zur Freiheit zwingen, bleibt immer problematisch, stets wird auf den inneren Widerspruch eines ,,zwangs zur Freiheit" hingewiesen werden, der den Bürger gar noch vor sich selbst schützen soll. Der gütige Staat dagegen bietet seine Hilfe an, nicht zur Freiheit als solcher, die er voraussetzt, sondern zu deren tatsächlich erweiterten Aktionsmöglichkeiten. Allenfalls noch kann dieser gütige Staat als ein Helfer zu mehr Freiheit erscheinen, diese selbst als solche hervorzubringen maßt er sich nicht an. • Geschenke und Hilfen haben schließlich nicht selten etwas wesentlich Zeitgebundenes an sich, sie sind eben so beschränkt, wie die von ihnen eingesetzten Mittel kommen und gehen. Das Lastende der überzeitlichen, jedenfalls unzeitlich wirken sollenden Zwangsnorm ist ihnen fremd. Schon darin belassen sie dem Bürger nicht nur mehr, sondern eine ganz andere Freiheit, eine Libertät als Grundstimmung, die nur gelegentlich von Hilfen überlagert, nie aber durch sie überlastet wird. Denn systematische, andauernde Hilfe wäre geradezu das Gegenteil einer Staatsgüte, sie würde sofort zum Zwang sich wandeln.
3. Die wesentliche Autonomieneigung aller Staatshilfen
Die unterstützende Gabe läßt dem Empfänger fast immer eine weite Freiheit der Verwendung des Zugewendeten. Die Auflage mag heute bereits ein Kernbegriff der Staatshilfen geworden sein, zu weit läßt sie sich in einem freiheitlichen Staat aber nicht entwickeln. Denn von der Subvention bis zur Sozialhilfe bleibt immer eine letzte Verwendungsfreiheit, dort erst wird Güte wirklich erwiesen, wo sie bedingungs- und auflagenfrei gewährt wird, wie in dem, was zur Bestreitung elementaren Lebensunterhalts gewährt wird. Überhaupt gewinnt der gütige Staat mit seinen Hilfen den Anschluß an das, was in einer globalisierten Marktwirtschaft allein seine verteilenden Aktivitäten rechtfertigt: Hilfe zur Selbsthilfe. die schon in diesem Vorübergehenden ihrer Startunterstützung etwas weniger Lastendes, nicht mehr Demütigendes in sich trägt, die vor allem aber das große. gute Wort der Autonomie achtet. sie umhegt und höher entwickelt.
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"Förderung der Autonomie" ist im Öffentlichen Recht überhaupt heute ein gutes Kern- und Ziel wort. Autonomien sind eben nicht mehr nur zu belassen, sondern fördernd stets zu entwickeln, sind sie doch immer und überall von regelnden Mächten bedroht, Dritter und vor allem der Staatsgewalt. Ihr Mittelpunkt ist die Verwendungsfreiheit des Zugewendeten, von der Autonomie der Kommunen und Länder im Finanzausgleich bis zur Autonomie des subventionierten Wirtschaftsunternehmens. Hier beansprucht die viel berufene und selten näher beschriebene Subsidiarität mit Nachdruck ihr Recht: in ihrer Verwendungsfreiheit kommt der kleineren Einheit in der Tat stets der Primat zu. Die Macht des Gebens und des Verteilens, die doch stets bei der höheren Einheit liegen wird, stört kaum eine Begeisterung, mit welcher zu Zeiten, und immer wieder, Subsidiarität vertreten und mehr von ihr gefordert wird - mit einem gewissen Recht: Wenn der Staat sich in der Schaffung der Autonomievoraussetzungen in allgemein und auflagenfrei verteilender Güte zurückhält, schafft er, so scheint es doch, Autonomie in allen seinen Grundlagen, von den Fakultäten der Hochschulen bis zum frei wirtschaftenden Management geförderter Industrien. Daß solche Güte in vielfacher "Deckelung" eher Subsidien zum Instrument der Sparsamkeit werden läßt, das Odium der letzten Verwendung auf die autonomen Organe abwälzt, mag der staatlichen Finanzgewalt nur als ein angenehmes Nebenergebnis erscheinen. Sie hat ja gegeben, ganz frei in allgemeiner Güte, und nun - "sieh Du zu". Das Lob der Freiheit wird ihr gerade von denen dennoch gesungen werden, auf welche sie das Odium des verteilenden Zwanges verlagert hat, und die dabei ja auch kollegialen Neid befriedigen können. Wenn schon keine beziehungslose Freiheit, so wenigstens Freiheit in Selbstverwaltung, in Autonomie - dies ist das Zauberwort moderner staatsorganisatorischer Freiheit. In seiner Anwendung und Verstärkung wird das wesentlich staatsorganisatorische Instrument der Staatsgüte zum freiheitlichen Staatsorganisationsprinzip. So wenigstens ist es gewollt und mag es vielen auch scheinen. Dann aber ist, im gütigen Staat, Freiheit überall; sie wird in den Grundrechten zur Verwendung der Geschenke belassen und organisatorisch durch deren Hingabe verliehen. Dennoch kann es geschehen, daß dies zu neuer, gebender Macht zurücklenkt, daß die Macht sich hier erneuert und höchst gefährlich verschleiert. Und doch - der gütige Staat kann sich solcher Kritik gerade unter Hinweis darauf zu entziehen versuchen, daß er einzusetzen habe, was im Kern eben immer bleiben muß: die Staatsrnacht, daß dies ihm aber besser gelingt als dem eingreifenden Staat.
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X. Staatsgüte - die neue, ungefährliche Staatsmacht 1. Rückgang der Staatsgewalt als Hoheitsmacht Notwendigkeit neuer Macht a) Der neue Überwachungsstaat - Kontrolleur der StaatshiLJen
Daß die Staatsgewalt heute vom Verfall bedroht ist, unter den konzentrischen Angriffen individueller Bürgeremanzipation und globalen BürgerWirtschaftens, wurde bereits betont, es ist nicht nur die Angst, es ist wirklich das Gespenst, das umgeht im Öffentlichen Recht. Den Rückzug der Hoheitsgewalt hat sich der Unsichtbare Staat, der aus den äußeren Formen der Gewaltanwendung sich zurückzieht, allenthalben auf seine Fahnen geschrieben, wie bereits in einer früheren Betrachtung eingehend dargelegt werden konnte. Hier sei nur ein überall zu Beobachtendes, selten aber Vertieftes hinzugefügt: Selbst bei den "neuen Hoheitsmaterien", im Umweltschutz, vor allem aber im Sozialversicherungsrecht, gelingt dem Staat nicht eine wirkliche Renaissance, ja nicht einmal eine Restauration seiner Hoheitsgewalt. Das allgemeine Klima entwickelter Eingriffs- und Hoheitsfeindlichkeit steht entscheidend gegen eine neue, systematische Polizeistaatlichkeit. Und wenn das Interesse der Bürgerschaft von ihrer Umwelt zu ihren Arbeitsplätzen sich zurückwendet, so wird der Umweltpolizei weniger an Macht zur Verfügung stehen zu eingreifendem Einsatz. Setzen wird man dagegen müssen auf die Kräfte eines wirtschaftlich regelnden, Mittel bereitstellenden globalen Marktes, vor dem sich die Staatsrnacht aber erst recht zurückziehen muß. Ersetzt werden kann der nicht in allem abzulehnende, vielfach früher ja auch behütende Polizeistaat allenfalls durch einen Überwachungsstaat, den großen Öffentlichen Controller, der punktuell nachfragt, vor allem aus gegebenem Anlaß. Über ihn sollte vertiefend nachgedacht werden, ob nämlich der frühere, gestaltende Verwaltungsstaat sich wirklich durch solche Fernsteuerung wird ersetzen lassen, unter welchen Voraussetzungen allein solches möglich erscheint. Und dabei würde sich wohl, neben der notwendigen Unvollständigkeit solcher Kontrollveranstaltungen, neben dem Mangel ihrer aber doch staatskonstituierenden Staatssystematik, noch ein anderes herausstellen: daß dieser Überwachungsstaat in erster Linie die Nachhut des gütigen Staates bildet: In erster Linie die Verwendung von Staatshilfen wird ja hier, in betriebswirtschaftlicher - nicht polizeilich-militärischer - Weise einer Nachprüfung unterzogen, bis hin zum Anlaß einer Bürgerdenunziation, welche der Hilfe an den Nächsten, den Konkurrenten, nicht tatenlos zusehen will.
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Der Überwachungsstaat ist zuallererst Kontrolleur der Förderung in ihren wirtschaftlichen Auswirkungen, nicht der Normtreue in ihren polizei- und strafrechtlichen Konsequenzen. b) Der Staat als Förder-Gewalt
Neue Macht aber bleibt in all dem gefragt und ist immer mehr gegenwärtig: Die Mächtigkeit des Gebens, nicht mehr des Nehmens. Und so kann, wie selbstverständlich, heute allenthalben von der "Fördergewalt" die Rede sein, ohne daß man sich Rechenschaft ablegt über den tieferen und bereits freiheitsgefährdeten Inhalt dieses Wortes: daß hier nämlich Gewalt auftritt, in verteilender Erscheinung. Doch "Förderung" nimmt dem sogleich wieder das Odium des Gewaltsamen: weil sie eben als Ausdruck einer Staatsgüte, eines Schenkens erscheint. Dieses Wort entzieht die Staatsveranstaltung selbst dem Odium, das einen sich allzu mildtätig herabbeugenden Staat begleiten könnte, von dem der emanzipierte Bürger Geschenke eben nicht annehmen will. Hier wirkt, so scheint es doch, etwas wie eine "positive Gewalt", ohne den Beigeschmack der beugenden Macht, eine "konstruktive Gewalt" scheint hier unterwegs, die aufbauen hilft, nicht destruktiv Bestehendes niederreißt im Namen ihres Ordnungsworts. Förderung - bedeutet dies nicht etwas wie Gleichheitsmacht, daher im Grunde ein geradezu machtloses Verhalten, weil dieses eben doch "nur verteilt", daher Bürgermächtigkeit abbaut, welche den Staat bedrohen könnte und andere Gemeinschaftsglieder? Diese Förderung zeigt sich schließlich als eine wahrhaft integrative Macht des Zusammenhaltens, in dieser ständig ausgleichenden Verteilung, in einer Förderung eben jenes Miteinander, aus dem durch jedes Staatsgeschenk jedem Bürger irgend etwas Gutes erwächst, und seinem Staat. Diese Fördergewalt bringt also gewiß etwas wie eine Transfer-Macht, sie mag als die neue Hoheit par excellence erscheinen, doch alles Gewaltsame ist hier gebändigt. Und wo keine Gewalt eingesetzt wird, da wird sich Widerstand nicht regen, der nur solcher provokatorischer Erscheinungsform der Macht entgegengesetzt wird.
2. Förderung - die bessere Gewalt Staatsgüte als kooperative Macht Gewiß könnte man nun bereits an dieser Stelle eine besorgte Gegenthese einfügen: daß nämlich diese Fördergewalt effektiver, damit letztlich aber doch auch wieder lastender wirke, als es jene verschwindende Hoheitsgewalt je vermochte, von der sich der Staat nun trennen will. Doch mit Zwangskategorien läßt sich eben diese Gewalt-Wirkung der Förderung nur
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schwer erfassen, und wenn dies nicht gelingt, wird sich immer der gütige Staat darauf berufen, daß sein Wirken hier nicht so sehr das stärkere, als vielmehr das bessere sei, effektiver - aber dies ist ja nur ein anderes gutes Wort unserer Zeit. Viel ist gewiß die staatliche Förderung kritisiert worden, unter Hinweis auf ihre indirekten Zwangswirkungen, die man im Begriff der Unentrinnbarkeit des vom Staat fördernd gewünschten Verhaltens zusammenfassen wollte. Doch dieser Begriff ist kaum angemessen, bisher nie wirklich definiert worden, vielleicht erfaßt er auch gar nicht die eigentliche GrundeinsteIlung des Empfangers: Dieser blickt ja nicht primär auf einen etwaigen Zwang, der in der Annahme solcher Geschenke liegen könnte, "man will sich nur nichts entgehen lassen", die Förderung setzt auf die materiellen Anreize ihrer orientierenden Wirkungen, nicht auf die Zwangsgewalt hoheitlicher Motivation beim Normadressaten. Da nun aber die Anziehungskraft des Materiellen ständig zunimmt, darin geradezu eine allgemeine Erscheinung der Gegenwart zu sehen ist, führt eine wie immer verstandene "Unentrinnbarkeit" an dem eigentlichen Problem der manipulierenden Förderung schlechthin vorbei: Dieser Begriff setzt das wache, stets gegenwärtige Freiheitsbewußtsein des Empfangers voraus, doch der Bürger blickt zuerst auf das Geschenk und seinen Nutzen, nicht auf den Zwang, den es ausüben könnte. So ist denn die Staatsförderung, gegenüber dem Staatseingriff, die weit feinere Art der Gewaltausübung, nicht nur in ihrem anlockenden Charakter, sondern auch in ihrer kapillaren Wirkung: Der von dieser Gewalt Betroffene sieht sich nicht als solcher, sondern als Beschenkter, er wird nicht getrieben, er kooperiert in der Verwendung der Staatsgeschenke. Ziele werden vorgegeben, nicht Zäune aufgerichtet, auf die Zwecke richtet sich das Handeln des Staates wie das des Bürgers, die sich so in einem Boot sehen, in einer Joint Venture vereint, vielleicht in einer adventure. Und hier entfallt nicht nur weithin das Odium des Zwanges beim Bürger, teilweise wenigstens die Organisationslast für den Staat, die Macht wird auch von allen Komplikationen der Rechtswege befreit, muß sie sich doch nicht allenthalben in das Korsett einer starren Überwachung zwängen lassen. Förderung ist schließlich weit effektiver als jeder Zwang, weil sie dem Empfanger die Freiheitsillusion beläßt und der "Förderungsbetroffene" denn letztlich ist er es ja doch - also eher, leichter, eben ungezwungen mitmachen wird, im wahren Sinne des Wortes. Förderung erscheint schließlich als Ausdruck der Kooperationsmacht, als Begriff der Zusammenarbeit, was der Eingriff, die traditionelle Staatsrnacht, die er ersetzen kann, nie wird erreichen können. Kaum ein Wort hat einen besseren Klang in der Freiheitswelt emanzipierter Bürger als jener, deutsch
XI. Zusammenfassung
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wie lateinisch gleich beruhigend klingende Begriff. In seinem Namen muß sich der Hoheitsstaat allenthalben zurückziehen aus seiner Eingriffsgewalt, weil diese eben der Gegenpol ist zu jeder Zusammenarbeit; und der "mitwirkungsbedürftige Verwaltungsakt" hat hoheitlicher Anordnung ihr Odium nie nehmen können. Wo immer aber hoheitliche Überlegenheit lastend wirkte, konnte sie erfolgreich durch den Einsatz des Begriffs, oft auch nur mehr des Wortes der Kooperation, nicht nur gemildert, sondern in ihm geradezu vergessen werden. So wäre dann der gütige Staat nicht mehr Macht, sondern Kooperation mit seinen Bürgern, Ausdruck des Rechts in Kooperation mit der Realität. Wäre dies nicht wirklich die modeme - die bessere Gewalt?
XI. Zusammenfassung: Staatsgüte als neuartiger Staatsgrundbegriff Den Begriff der "Staatsgüte" , wie er hier geprägt wurde, kennt die herkömmliche Dogmatik des Öffentliches Rechts nicht. Unabhängig davon, ob er sich im Ergebnis als eine gefahrliche Potenzierung oder als eine erfreuliche Humanisierung der Macht darstellt, mußten in vorsichtiger Annäherung, aus Begriffen der normativen Demokratie, mögliche Inhalte dieser Begrifflichkeit umschrieben oder doch angedeutet werden. Dabei hat sich zwar der große, vielleicht unüberbrückbare Abstand zwischen derartiger neuer Begrifflichkeit und herkömmlicher Dogmatik deutlich gezeigt, dennoch lassen sich auch gewisse Annäherungen an traditionelles NormBegriffsverständnis feststellen: ,,staatsgüte", in etwa so begriffen, wie es hier dargelegt wurde, ist nicht notwendig von vorneherein ein rechtlicher Unbegriff, sie ist dies nur für ein bestimmtes, eben eng traditionelles Normverständnis. Staatsgüte könnte aber erfaßt werden als ein "allgemeiner Charakterisierungsbegriff' eines bestimmten Regimes, ja als etwas wie ein allgemeiner Staatsbegriff, in folgenden Richtungen vor allem: - Normhintergrundsbegriff: Seine Inhalte werden vielleicht nicht in einer Verfassungsnorm präzis umschrieben, und keine einfache Gesetzgebung mag, so sehr sie in Einzelheiten eintritt, seine Bedeutung voll ausschöpfen. Dennoch wäre vorstellbar, daß diese Staatsgüte, mehr und mehr, "hinter allen Normen" steht und auch sichtbar wird, darin, daß sie einerseits deren Inhalt in eine bestimmte Richtung akzentuiert, zum anderen neue Entwicklungen hervorbringt oder doch begünstigt, welche solche Akzente tragen. In diesem Sinne wäre dann die Staatsgüte etwas wie ein höchstes verfassungsrechtliches "Mutter-Recht", das aus sich immer neue
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B. Grundsätzliche Wege und allgemeine Kräfte zum "gütigen Staat"
Inhalte hervorbringt, die gewissermaßen aus dem Halbdunkel eines normativen Hintergrunds die volle Klarheit des Gesetzes erreichen. - Normentwicklungsbegriff: Nach herkömmlichem Verständnis ist die Norm, sie entwickelt sich nicht. Und doch hat der Staat der Gerichtsbarkeiten und der exekutivischen Praxis, aber auch der spezifizierenden Gesetzgebungen, überall etwas wie Normentwicklungen eingeleitet und diesen Begriff ins allgemeine Bewußtsein gehoben. Wer aber von Entwicklung spricht, setzt letztlich einen teleologischen Begriff ein, er markiert Ziele und muß daher Orientierungen des Rechts im ganzen wie seiner einzelnen Materien erwarten. Mit den Staatszielbestimmungen hat dieses Denken bereits die öffentlich-rechtliche Dogmatik des Verfassungsrechts erreicht. Eine solche Staatszielbestimmung, im ursprünglichen Sinn einer primären Teleologie, könnte nun auch die Staatsgüte sein, nach dem bisher Dargelegten. - Legitimationsbegriff: Dies ist vielleicht die stärkste Kraft, welche eine Staatsgüte, wenn sie denn erfaßbar wird, dem heutigen Recht insgesamt, der Staatlichkeit der Demokratie, und nicht nur in ihren einzelnen Gesetzen, mitgeben könnte. Hier wirkt dann die moralisierende, wenn nicht moralische Kraft der Güte, im Zentrum einer bereits weithin entlegitimierten Volksherrschaft, in Richtung auf eine neue Staats ethik. So erwiese sich dann die Staatsgüte, letztlich, wenn auch in einem neuen Verständnis, doch noch immer als eine allgemeine Normvorstellung: als ein Sinnerfüllungs-, Auslegungs-, Orientierungs begriff der Macht, welche durch sie legitimiert wird. Wie dies im einzelnen wirken kann, wird nun im folgenden Hauptteil an Beispielen zu zeigen sein - aber eben nur an ihnen, nicht in systematischer Geschlossenheit. Denn eines ist Staats güte kaum: ein Systembegriff im herkömmlichen Sinne, der feste, lückenfüllende Lösungen allenthalben hervorbringen könnte. Vielmehr handelt es sich um jene Formen der Machtbegrifflichkeit, die sich bereits in den vorhergehenden Betrachtungen zum Unsichtbaren Staat, zum Abwägungstaat und zur Staatswahrheit herausgestellt haben: Diese Machtbegriffe sind zunächst einmal - und so erscheinen sie ganz wesentlich - systemauflösend, indem sie die Macht des Diesseits in die unendliche, die göttliche Überhöhung hinaufführen. Zugleich aber verleihen sie dem geschlossenen rechtlichen Machtsystem auf Erden eine höhere Intensität, und am Ende könnte durchaus, wenn auch heute nur in Umrissen sichtbar, ein neues, totaleres Machtsystem des Rechts stehen. Denn eines zeigt auch die Staats güte: Alles drängt den "kleinen" entfeudalisierten Menschen in Neue Macht. Um diese geht es hier.
c. Staatsgüte in Entwicklungen des geltenden Rechts Die Dimension einer Staatsgüte konnte aufgezeigt werden (in Teil A) und ein allgemeiner, größerer Zug zu einem gütigen Staat, soweit es einen solchen geben kann (in Teil B). Daß dies mehr bedeutet als einen allgemeinen Staats- oder auch Verfassungshintergrund, mehr auch als ethische Wünschbarkeiten oder gar Postulate, konnte durch nicht wenige Erscheinungen gegenwärtiger Rechtskultur belegt werden. Nun muß die Betrachtung fortschreiten zu Entwicklungen des geltenden Rechts, an denen sich die Entfaltung· der Staatsgüte zeigen läßt. Ob darin geradezu Institutionalisierungen vorgesehen sind, die sich bereits zu einem geltenden Staatsprinzip hochrechnen lassen, hängt vom Institutionenbegriff ab, den man zugrunde legt. Ob aus einer solchen Zusammenschau ein Rechtsprinzip gewonnen werden kann, das sodann auf die gesamte Staatsordnung zu wirken vermag, zumindest diese orientiert, ist nach der Intensität zu beurteilen, in welcher in all dem im folgenden Untersuchten und manchen anderen Einzelphänomenen der Rechtsentwicklung etwas wie ein "gütiger Staat" anzutreffen ist, oder gar als bestimmend erkannt werden kann. So verschiedenartige Entwicklungen zusammenzusehen, mag schwierig, ja problematisch erscheinen, weil es sich auf größere Züge, gerade auch in solchen Einzelbereichen, beschränken muß, auf Einzeluntersuchungen verzichtend. Doch Notwendigkeit und Ertrag einer solchen Sichtweise ergeben sich schon daraus, daß Einzelerscheinungen des geltenden Rechts, wenn auch vielleicht einseitig hier beleuchtet, doch darin als solche klarer erkennbar und in einem sozialen Rechtsstaat nicht mehr als systemstörend empfunden werden. Gerade in einem Zusammenhang erfaßt, den der Begriff der Staatsgüte bezeichnet, gewinnen sie an systematischer Geschlossenheit, was wiederum auch ihrer Erfassung im einzelnen zugute kommt. Nicht zuletzt aber bietet eine derartige, letztlich eben doch "institutionell" ausgerichtete Betrachtung Gelegenheit, nicht nur überzeugte, vielleicht sogar engagierte Induktion in eine bestimmte Richtung zu versuchen, was in den vorhergehenden Hauptteilen oft geradezu als ein Plädoyer für eine neue Staatsgüte erscheinen mochte. Hier kann vielmehr methodisch angesetzt werden zur Kritik: Einzelentwicklungen des geltenden Rechts sind ja nicht nur zu sehen unter dem Gesichtspunkt ihrer Zusammenordnung zu einem derartigen höheren Staatsprinzip; sie könnten sich auch als Fehlentwicklungen erweisen, als Gefahren für den sozialen Rechtsstaat und
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Staatsgüte in Entwicklungen des geltenden Rechts
seine Freiheit, von denen dann in folgenden Hauptteilen die Rede sein soll, und insoweit wird hier zugleich Material ordnend auch dafür vorbereitet. Dies entspricht einer Methodik allgemeiner Staatslehre, welche der Verfasser in zahlreichen monographischen Untersuchungen der letzten beiden Jahrzehnte bereits anzuwenden und neuerdings auch systematisch grundzulegen versucht hat: einer Betrachtung in Antithesen, welche bei diesen stehen bleibt, ohne den Versuch einer übereilten Synthese, in der Sicherheit, daß sich aus Dialog und Einungskraft dieser Gegensätzlichkeiten - und sei es auch "wie von selbst" - am Ende doch harmonisierende Lösungen ergeben, in denen alles Wichtige aus den Antithesen sich findet und erhalten bleibt.
I. Der gütige Staat am Ende der Strafen Die Entwicklung des Strafrechts in Deutschland hat sich in den letzten wenig mehr als einhundert Jahren mit einer derartigen, fast schon atemberaubend zu nennenden Geschwindigkeit vollzogen, von der Vergeltung über die Abschreckung zur Wiedereingliederung des Täters in die Gesellschaft, in einem totalen und grundsätzlichen Wandel, daß dieser in seinen Dimensionen kaum mehr allgemein bewußt ist. Erreicht wurde die Schwelle einer Selbstverständlichkeit, welche für viele geradezu als Wahrheitserkenntnis erscheint, die ebenso rasch sich durchsetzt wie naturwissenschaftliche Erkenntnisse, aus denen heraus die Kriminologie derartige Entwicklungen ja auch maßgeblich geprägt hat. Die damit verbunde Überzeugung von der Notwendigkeit einer Entwicklung, der sich niemand in den Weg stellen dürfe, hat den Blick für deren politische Dimension zunehmend getrübt: Der Rückzug der Strafgewalt im früheren Sinn, ja ihre vollständige Wandlung in Sozialpädagogik, wenn nicht Sozialmedizin, wurde nicht mehr im Zusammenhang gesehen mit der Entfaltung der schwächerenschützenden Demokratie, ja dies erschien geradezu als ein regimeübergreifender Vorgang, der nur zu seiner allerletzten Begründung - gerade noch - mit Normen der Verfassung in Zusammenhang gebracht wurde. Dem soll hier die These gegenübergestellt werden, daß die grundlegende Wandlung des Strafrechts, das neue Verständnis der Strafgewalt, Ausdruck von Staatsgrundentscheidungen sind und sich zu neuen derartigen zusammensehen lassen: zu einer wesentlich politisch gesteuerten Entfaltung von Staatsgüte. Eben darin liegen auch Bedingtheiten, Begrenztheiten, Bestreitbarkeiten, die hier nicht kriminologisch zu untersuchen, sondern aus staatsgrundsätzlicher Sicht zu betrachten sind. Ganz allgemein zeigt die erwähnte Entwicklung des Strafrechts dies: Sie kann als ein Beweis, wenn nicht als eine Vorwegnahme einer Staatlichkeit erfaßt werden, die zuallererst hier dem verzeihenden Schöpfergott nacheifern will.
I. Der gütige Staat am Ende der Strafen
III
Staatsgüte war in der Vergangenheit so wenig ein Leitbegriff des Staatsrechts wie Staatsstrenge. Wenn sich irgendwo aber diese letztere zeigte und wenn sie nun heute aufgegeben werden soll im Namen neuer Güte - so in den Fonnen des strafenden Staates, in welchen die Gemeinschaft ihr öffentliches Zwangsrecht par excellence einsetzt, als einen zu wenig beachteten Prototyp allen Öffentlichen Rechts. Das Ende des Vergeltens, des Strafrechts als einer Ordnung des Büßens individueller Schuld, ist von vorneherein auch schon das Ende der Strafe im herkömmlichen Sinn, und dies kann schwerlich anders verstanden werden denn als Ausdruck einer Staatsgüte, soll das Gütige nicht seinen wesentlichen Sinn verlieren. Verziehen wird hier dann, im Ende des Vergeltens, so vollständig, daß es schließlich nichts mehr zu verzeihen gibt, weil keine Schuld mehr existiert. In letzter Konsequenz mag sich darin die Staatsgüte selbst aufheben, doch auf dem langen Wege dorthin hat sie sich, mit Abschwächung und Aufgabe der vergeltenden Taliation, zunächst einmal überzeugend bewiesen. Was könnte gütiger sein, als Böses mit Gutem vergelten, letztlich Böses nirgends mehr zu sehen? Darin hat doch die Staatsgüte diese Staatsstrenge, ihr geschichtliches Gegenbild, in sich aufgenommen, aufgelöst. Und je stärker und vielseitiger Anstrengungen laufen, sich vom Begriff des Vergeltens zu entfernen, desto mehr und überzeugender enfalten sich Räume der Staatsgüte. Zu wenig wurde erkannt, daß bereits in der Wendung zur Abschreckung Staatsgüte mitschwang. Nun wurde der ausschließlich moralisierende Blick auf den Einzelnen aufgegeben, seine Tat in eine Gefahrdung der Allgemeinheit umgewertet. Damit konnte allerdings zunächst eher noch eine Verschärfung der Staatsstrenge begründet werden, wie dies denn auch in den autoritären Regimen der letzten Jahrhundertmitte erfolgte. Doch angelegt war, in General- wie Spezialprävention, zugleich auch etwas von einer Staatsgüte, die sich auf Dauer als stärker erweisen sollte: Der Täter als Gemeingefahr - dies mußte doch zur Verursachungsfrage führen, und sie ließ sich, vom Marxismus bis zu allgemeinerer Milieutheorie, bald und überzeugend im Sinne einer Entschuldung des Tatverantwortlichen beantworten. Nun war es eben "die Gesellschaft", die in ihrem Verantwortungsbereich, durch Annut und Repression, die Tatbereitschaft erzeugt, und damit, in letzter Konsequenz, geradezu die Straftat begangen hatte. Der notwendige Weg dahin, von der Repression zur Prävention, Repression geradezu nunnehr als Prävention, war nichts anderes als ein großes TeilVerzeihen: Wenn der Täter schon nicht vollständig entschuldet· wurde einen großen Teil seiner Schuld nahm der Staat und eine Gesellschaft auf sich, welche jener repräsentierte, und damit war Grundlage, wenn nicht Notwendigkeit geschaffen für immer weiteren Rückzug der Staatlichkeit aus allem Strafen. Die Teilung der Verantwortlichkeit zwischen Gesell-
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Staatsgüte in Entwicklungen des geltenden Rechts
schaft und Täter, zwischen politisch herrschendem und machtunterworfenem Individuum, war ja wesentlich beweglich geworden, sie konnte, ja sie mußte auf Dauer vom "armen", "schwächeren" Bürger verschoben werden in Richtung auf den allmächtigen Staat, der nun die Schuld zunehmend übernahm, auch ohne wirklichen Beweis - und was wäre Staatsgüte anderes? Vor allem aber mußte sich dann diese Staatsgewalt fragen lassen, ob es für Prävention im eigentlichen Sinn des Wortes, nicht in dem der noch immer viel Strenge enthaltenden Abschreckung, denn nicht ganz andere Mittel gäbe, hoheitliche wie privat-ökonomische. Ihr Einsatz zur Verhinderung weiterer Straftaten kann sich aber doch, der Allgemeinheit wie dem Täter gegenüber, nur auswirken als eine Vorleistung, wie sie im Begriff der Prä-vention bereits angelegt ist, eine gegen leistungs lose Staatsleistung zur Vermeidung von Straftaten, ein wahrer Akt der Staatsgüte im bereits definierten Sinn dieses Wortes. Selbst der moralische Grundgehalt einer solchen Güte bleibt hier erhalten, sind doch solche Maßnahmen sozialer Art, auf welche ein Rechtsanspruch nicht bestehen mag, zumindest staatsethisch begründbar. So weit wird zwar Staatspolitik in der Demokratie kaum gehen, daß sie den Rückzug der Strafgewalt zum Anspruch der Straftäter generell steigert, damit ihre Staatsgüte, welche darin liegt, von vorneherein im Rechtlichen aufhebt. Die gegenwärtige Entwicklung bewegt sich jedoch in einem Übergang, von der Gewalt der Bußen in die Sozialmedizin, in welcher sie nur als eines gedacht werden kann: als große Veranstaltung einer Staatsgüte, welche großzügig Verantwortung übernimmt, auch wenn sie letztlich den Täter noch immer betrifft. Diese Entwicklung wird so lange anhalten, bis auch die letzte Strafüberzeugung vergangen ist. Vielleicht wird es allerdings nie so weit kommen und Pessimisten mögen befürchten, daß auch das demokratisch gebändigte Raubtier Bürger braucht zuzeiten eine Hexenjagd. 1. Entpönalisierung
Der Rückzug der Strafdrohungen aus manchen Tatbeständen, insbesondere des Sexualstrafrechts, mag nicht als Ausdruck einer Staatsgüte gewertet werden, sondern als Übernahme eines Wertewandels der Gesellschaft in Staatswertungen. Werden Ehebruch oder Kuppelei nicht mehr bestraft, so liegt darin kein Entgegenkommen des Staates, der vielmehr damit einen Wertewandel im Bereich von Ehe-, Familie-, Sexualmoral anerkennt. Befürworter solcher Entwicklung mögen dies als Ergebnis zwingender intellektueller Erkenntnisse sehen. Doch der viel umstrittene Schwangerschaftsabbruch zeigt bereits eine darüber weit hinausgehende politische Entscheidungsdimension auf: Unbestritten ist, daß auch der freiheitliche demokratische Staat diese und manche ähnliche Taten noch immer strafrechtlich verfolgen darf - er verzichtet darauf, sicher zum Teil aus sozial-
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psychologischen und sozialethischen Überlegungen, aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen. Dahinter aber steht auch und nicht zuletzt, jedenfalls als eine entscheidende politische Schubkraft, die Vorstellung von einer Staatsgewalt, die sich aus Rache und Strenge entwickelt zu einem Laissezfaire. Was aber wäre dies anderes als eben doch deutlicher Ausdruck einer Staatsgüte als Gewährenlassen? Diese Gemengelage von - angeblichen - sozialpsychologischen Erkenntnissen und echter Staatsgüte zeigt sich noch mehr im Bereich der Eigentumsdelikte. Sie drückt sich vor allem in einer Praxis der Gerichte aus, welche erheblich schwerere Sanktionen verhängen müßten, wollten sie dem oft erstaunlichen Unrechtsgehalt, vor allem aber der Sozialschädlichkeit von Diebstahl, Raub, Hehlerei und vielen Straftaten des Wirtschaftsrechts gerecht werden. Dies aber läßt sich nicht kurzerhand mit einem Wertewandel in der Bedeutung des Privateigentums erklären, als ein Ergebnis sozialpsychologischer, wenn nicht sozialethischer Entwicklungen, und auch nicht aus vorgeblichen ökonomischen Erkenntnissen heraus, welche Eigentumsdelikte als notwendige Folgen einer "neuen Armut" ausgeben, Diebe und Räuber gewissermaßen als marxistisch-kommunistische Widerstandskämpfer auffassen wollten. Etwas von einem schlechten Eigentumsgewissen der Besitzenden, ja der Gesellschaft mag in manchem milden Strafurteil mitschwingen - doch darin liegt regelmäßig auch viel, wenn nicht Entscheidendes von einem staatsgütigen Verhalten, welches zwar das Eigentum überzeugt bewahren will, seinen Verletzer aber nicht mit gleicher Überzeugungskraft verurteilen mag. Wieder erscheint die Staats güte als etwas wie ein ausgleichendes Element gegenüber erwägenswerten, aber eben doch nicht voll überzeugenden, politischen Grundentscheidungen, hier der Bewahrung des privaten Eigentums im liberalen Staat. Strafgerichtsbarkeit zeigt darin, motiviert durch Staatsgüte, eine Entwicklung von der Austausch- zur Austeilungsgerechtigkeit, von der Iustitia commutativa zur Iustitia distributiva: Vergeltung ist Austausch bis zur Taliation, Böses gegen Böses; doch schon in der Prävention kommt es zu ordnendem Verteilen, milde Strafen für Eigentumsdelikte sind letztlich bereits Ausdruck gütermäßiger Umverteilung. In einer Entpönalisierung, welche die Strafwürdigkeit als solche entfallen läßt, so wie sie in der großen Bewegung vom Strafrecht zum Recht der Ordnungswidrigkeiten begegnet, liegt eine eindeutige Umbewertung des Unrechtsgehalts eines bestimmten Bürgerverhaltens. Durch politische Entscheidung, die hier nur selten mehr sozial psychologisch gesteuert ist, dekretiert die Staatsgewalt, daß eine so schwere Reaktion wie die des Strafrechts in solchen Fällen übermäßig wäre. Darin liegt sicher etwas von einer allgemeinen Staatsmilde, der eben die Sanktionen des Strafrechts schon als solche besonders schwer erscheinen. Mitschwingt dabei aber auch etwas von 8 Leisner
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einem globalen Verzeihen und, insbesondere gegenüber Massendelikten, auch von der Vorstellung, daß doch nicht allzu sanktionswürdig ein Verhalten sei das "nahezu jedermann" an den Tag legt - vox populi vox Dei. Dies ist bereits deutlicher Ausdruck der politischen Staatsgüte des Gleicheitsstaates. Mit solcher Gesetzgebung nähert er sich der General-Amnestie für große Tat-Komplexe und Tätergruppen. Und als normatives Verzeihen ist dies gewollt und wird auch in der Gemeinschaft als solches gesehen. Vor allem aber ist es gerade die Staatsgewalt selbst, die hier durch die schwächeren Sanktionen der Ordnungswidrigkeit Tätern verzeiht, welche sich gegen sie selbst vergangen haben. An ihrer Spitze versucht sie noch, die Sicherung ihrer Institutionen in Staats schutz mit schwereren Strafen aufrecht zu erhalten, und auch dies gelingt nurmehr unvollständig. Einen Verwaltungsschutz aber nimmt sie noch weiter zurück im Recht der Ordnungswidrigkeiten, vor allem aber in deren praktischer Verfolgung. Hier könnte sie schwerer strafen, doch sie zeigt sich milde und gütig, richtet sich all dies doch vor allem - nur gegen sie selbst. Strafrahmen sind, lange Zeit jedenfalls, immer mehr nach unten erweitert, vor allem aber von den Gerichten zunehmend milder ausgefüllt worden - in deutlicher und oft überzeugt geäußerter Staatsgüte. Im Begriff dieser Strafrahmen bereits, mehr noch in ihren Erweiterungen, kommt der immer intensivere Blick auf den Einzelfall zum Ausdruck. Doch darin liegt weniger grundsätzlich-entschiedene Einzelfall-Gerechtigkeit, vielmehr wird ein Raum für staatliche Einzelfall-Geschenke eröffnet, Betätigungsfeld für eine Staatsgüte, vom schlechten Richtergewissen bis zur deprimierenden RichterErfahrung. Im Ergebnis hört hier auch alle Verrechtlichung auf. Denn gegen die immer primäre Bewertung des ersten Richters greift die höhere Instanz nur bei evidenten Grenzüberschreitung des Strafermessens ein. Soziale Wirklichkeit ist hier der Richter, dem sich der Täter in einer Demut zu nähern hat, welche um ein "mildes Urteil" bittet - um Staatsgüte; und nur aufgrund solchen Verhaltens und lediglich als solche wird sie ihm dann auch gewährt. Hat man je darüber nachgedacht, was das tagtäglich praktizierte Bitten um richterliche Milde für einen Staatsgrundsatz der Staatsgüte bedeutet? Selbst dort, wo noch Abschreckung praktiziert wird oder mitschwingt im Strafverfahren, ja gerade in solchen Fällen, ist dem erkennenden Richter, der hier eben nichts "erkennt", alles "entscheidet", ein weiter Blick auf den Einzelfall eröffnet, hier darf er, in wahrer Staatsgüte, dem Einzelfall-Täter im Urteil ein Einzelfall-Geschenk machen: Er befindet eben, daß der Unrechts gehalt aus der Sicht der zu schützenden Allgemeinheit, d. h. aus seiner persönlichen richterlichen Sicht, nicht so schwer wiegt - wer hat schon die Tat gesehen, wer kann sie nachahmen, wer fühlt sich von ihr bedroht.
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So laufen im Strafrecht vielfache Entwicklungen zusammen, im Gesetzesrecht wie in der Rechtspflege, weg von der Vergeltung und über eine Prävention bis zur sozialmedizinischen Resozialisierung, von der noch zu sprechen sein wird. Stets wird dies getragen, wenn nicht getrieben, von Geisteshaltungen, welche sich nur aus einer wie immer definierten Staatsgüte erklären lassen. die dabei in schwer entwirrbarem Gemenge zu angeblichen oder wirklichen rational gesteuerten Erkenntnissen auftritt. Die Macht bewahrt sich darin einen letzten Entscheidungsraum, in dem sie sich, bei all ihrer Vergesetzlichung, rationalem Erkennen und rechtlicher Nachprüfbarkeit entzieht. Und darin wird diese Staatsgüte zur Macht - und, was weit mehr bedeutet, zu einer "guten". Denn alles was soeben angesprochen wurde, trägt in sich diese außerordentliche Legitimation, daß es im Namen des Guten geschieht, und nicht nur der Güte. Wer dagegen härtere Strafen fordert, schärfere Urteile, der ruft nicht nur undemokratisch nach "mehr Staat", irgendwie und im letzten fordert er Böses. Er kann dem Vorwurf nicht entgehen, daß er den Staat zur "unbarmherzigen Gewalt" entwickeln will, oder gar zu einem Rächer, der Böses mit Bösem vergilt. Und gerade hier, in der Entwicklung des Strafrechts, ist im allgemeinen Bewußtsein der Schritt vom gütigen Staat zum guten Staat nicht weit.
2. Resozialisierung zwischen freiem Staatsgeschenk und Staatszwang
a) Strafe, als Sühne oder Abschreckung verstanden, gliedert den Rechtsbrecher nicht wieder in die Gemeinschaft ein. Resozialisierung kann also nie Strafe im herkömmlichen Sinn ersetzen, nie als deren Fortsetzung mit anderen Mitteln verstanden werden. Der Pönalisierung gegenüber ist sie etwas ganz anderes: eine Verwaltungsmaßnahme im freien, schenkenden Belieben des Staates, damit aber Ausdruck reiner Staatsgüte. Niemand, weder der Täter noch das Opfer, noch auch die Gemeinschaft oder eine Gruppe derselben, hat den geringsten Anspruch auf Resozialisierung. Deren Ob und Wie stehen im reinen, rechtsfreien Belieben der Staatsgewalt, die sich allerdings bei Zwangscharakter der Maßnahmen im Rahmen der geltenden Gesetze, insbesondere auch der Grundrechte halten muß. So weit Eingliederungsmaßnahmen nur ein Angebot an den Rechtsbrecher beinhalten, unterliegt die Staatsrnacht rechtlichen Bindungen lediglich im Rahmen der Grenzen für begünstigende Verwaltungsakte, und natürlich stets dem Gleichheitsgebot und dem Willkürverbot. Praktisch ändert dies aber an ihrer schrankenlosen Leistungsfreiheit nichts. Das häufige Reden von einer Verpflichtung der Gemeinschaft oder einem entsprechenden Recht des Wiedereinzugliedernden hat nur politische, allenfalls noch moralische Bedeus'
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C. Staatsgüte in Entwicklungen des geltenden Rechts
tung. Resozialisierung erscheint also geradezu als ein Prototyp des wohlfahrtsstaatlichen Staatsgeschenks. b) Resozialisierung ersetzt die Strafe im herkömmlichen Sinn nicht, doch sie tritt weithin an deren Stelle. Darin zeigt sie sich erst recht als ein Staatsgeschenk: Der Rechtsbrecher bekommt eine staatliche Leistung dafür, daß er andere Bürger und vor allem auch die Gemeinschaft selbst durch sein Verhalten geschädigt hat. Er ist ihr gegenüber Schuldner und wird es durch die Resozialisierung erneut und erst recht. Nur dann wäre er nicht Geschenkempfanger, wenn die Gemeinschaft ihm die Resozialisierung schuldig wäre, weil sie ihm gegenüber schuldig ist. Davon gehen zwar die radikalen Vertreter der Milieutheorie aus, nach deren Determinismus der Rechtsbrecher gar nicht anders konnte, als Straftaten begehen, oder er jedenfalls dazu durch Fehlleistungen der Gemeinschaft, einschließlich der Staatsgewalt, motiviert, wenn nicht geradezu angestiftet wurde. Die Resozialisierungsforderung gerät aber dadurch ins Zwielicht, daß ihre Vertreter sie mit ganz heterogenen Begründungen erheben: die einen um, wie gesagt, etwas zu sühnen wie eine "Gesellschaftschuld" - womit sie übrigens doch zur Schuld-Sühne Kategorie zurückfinden; die anderen, und wohl die große Mehrzahl, aus moralischen Überlegungen. Diese letzteren aber münden unmittelbar in Drang oder gar Verpflichtung zum Gutes Tun: Selbst die schuldlose Staatsgewalt, eine für die Tat in keiner Weise verantwortliche Gemeinschaft - im marxistischen Sinne die bürgerliche Gesellschaft sollte die Wiedereingliederung der Täter betreiben, entweder aus moralischen oder, was ebenfalls häufig anklingt, in ihrem eigenen Interesse, weil Resozialisierung billiger ist als Bestrafung mit nachfolgenden weiteren Rechtsbrüchen; womit übrigens die Resozialierung zu einer staatsbegünstigenden Finanzmaßnahme wird. Auszugehen ist, trotz dieser vielschichtig zusammengesetzten Resozialisierungsüberlegungen, von einem: Die weitaus meisten befürworten die Wiedereingliederung als eine Staatsleistung, auf weIche der Täter keinen rechtlichen Anspruch hat. Und ihr steht auch - darüber dürfte nun allgemeiner Konsens bestehen - keine Gegenleistung des Rechtsbrechers gegenüber, die auch nur mit einiger rechtlicher Präzision zu bestimmen wäre. Die Resozialisierung erfolgt in der - nur zu oft sehr vagen - Hoffnung, daß er sich erneut in die Gemeinschaft einfügen werde. Damit sind die begrifflichen Voraussetzungen für die Annahme eines wirklichen "Staatsgeschenkes" in jeder Richtung erfüllt. Und zwar in ganz außergewöhnlichem Maße: Der Schuldner wird noch beschenkt. Wenn dies nicht Ausdruck einer wahren Güte ist, die auch aus rein moralischen Gründen, ohne jede rechtliche Verpflichtung, erwiesen wird, so hat dieses Wort keinen Sinn mehr.
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c) In der Resozialisierung liegt etwas vom "vollständigen Vergeben", der höchsten Stufe des gütigen Verhaltens. Mag in der Besserung noch eine Erinnerung an den früheren Rechtsbruch mitschwingen, die Maßnahme gerade darauf gerichtet sein, daß er sich nicht wiederhole - dabei bleibt neuere Wiedereingliederung nicht stehen; zu ihr gehören auch Straftilgungen aus Registern, Führungszeugnisse ohne Hinweise auf die kriminelle Vergangenheit. Überhaupt ist sie auf einen Endzustand gerichtet, in dem die Tat schlechthin nicht mehr existiert, in keiner Erinnerung, auch nicht in der des alles wissenden Staates. Damit ist die höchste Stufe des Verzeihens erreicht - das Vergessen; wie weit beides auseinanderliegen kann, zeigt eine Vergangenheitsbewältigung, in welcher seit Jahrzehnten Verzeihen ohne Vergessen proklamiert wird. Dies ist auch der höchste Ausdruck göttlicher Güte, welcher etwa nach katholischer Sakramentslehre darin liegt, daß der Allgütige dem Beichtenden nicht nur verzeiht, sondern seine Tat aus seiner Allwissenheit tilgt. Eine höhere Stufe der Güte ist begrifflich nicht vorstellbar. d) Im System der Staatstätigkeiten, der Staatsaufgaben und der zu ihrer Erfüllung vorgesehenen Staatsleistungen gehört die Resozialisierung zu einer Erziehung im weiteren Sinn. Hier werden die platonischen Vorstellungen von der Straftat als Irrtum aufgenommen, der durch besseres Wissen hätte vermieden werden können - also auch durch Erziehung ausgeschaltet werden kann. Eine echte Wiedereingliederung ist dann das Ergebnis einer eigenartigen "Erziehung zum Guten", ebenso wieder im platonischen Sinn, welche eben dem Büßen der Straftat gegenübergestellt wird. Eindeutig erweist sich darin die Resozialisierung als eine Staatsleistung, ebenso wie die schulische Erziehung, und wie diese zum Nulltarif. Sie rückt in die Nähe jenes Nachhilfeunterrichts, welcher dem sozial Benachteiligten nach schulischen Mißerfolgen, entsprechend neueren sozialpädagogischen Überlegungen, zuteil werden soll, im Namen der Chancengleichheit. Über diesen Begriff wird sogar gelegentlich versucht, der Resozialisierung einen rechtlichen Rahmen zu schaffen oder sie geradezu als eine Rechtspflicht aufzufassen; allerdings besteht, bis heute jedenfalls, noch längst kein Konsens darüber und daß der Täter damit sogar noch einen Rechtsanspruch auf solche Gratis-Erziehung haben solle, im Namen der Chancengleicheit. Andererseits gewinnt damit übrigens das ganze staatliche Erziehungssystem, so wie es in Deutschland seit Generationen praktiziert wird, eine ihm bisher kaum zugesprochene Qualifikation: Es erscheint als Ausdruck eines Schenkens, im Rahmen der Chancengleicheit, das wiederum nichts anderes sein kann, als Ausprägung einer im letzten doch freien Staatsgüte. Und daß dies als solches nicht etwa demokratische Rechtsverpflichtung des Staates sein kann, ist schon dadurch bewiesen, daß ehrwürdige Demokratien, wie die angelsächsischen, solche Staatsleistungen nicht vorsehen. Nur aus einem solchen
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C. Staatsgüte in Entwicklungen des geltenden Rechts
Verständnis der Resozialisierung aus Staatsgüte heraus kann jedenfalls von den Beauftragten des Staates auch das verlangt werden, was man vom "gütigen Lehrer" erwartet, vor allem von ihm: verzeihende, vergessende Güte. e) Diese resozialisierende Staatsgüte soll zurückführen - das "Re" im Wort zeigt es bereits - in eine Gemeinschaft wieder hinein, die dann nur als eine vorgestellt werden kann: als eine gute, in sich und ihren Gliedern gegenüber - gütige. Damit wird auf die Gemeinschaftsglieder, welche diese teuere Veranstaltungen ja ständig mit hohen Beiträgen finanzieren müssen, ein rechtlicher Zwang zu moralischem Verhalten ausgeübt, und darin erscheint erstmals auch das andere Gesicht des gütigen Staats - der Zwangs staat zum Guten. Die Wirkungen dieser Grundhaltung, jedenfalls Grundstimmung in der modernen demokratischen Gemeinschaft sollte nicht unterschätzt werden: Eine Gemeinschaft, welche sich auf solche Weise als eine gütige vorstellt, gerade zu jenen, die dies am wenigstens verdienen, muß dann doch erst recht allen Gliedern gegenüber, und auch durch alle Veranstaltungen ihrer Staatsgewalt, diese seIbe Güte in und um sich verbreiten. Gewiß mag hier das Evangelium zitiert werden, nach dem größere Freude über einen Heimgeführten besteht als über viele andere, die der Besserung nicht bedürfen; daß aber der Normalzustand immer und überall durch Staatsgüte gehalten und hergestellt werden muß, weil er eben ein "guter" ist, aus Güte heraus sich legitimiert, kann nicht zweifelhaft sein. f) Resozialisierung führt, wie der Begriff es ausdrückt, in die Gemeinschaft zurück, an der Hand des Staates, und nicht allein in eine "Gesellschaft", welche als dem Staat und seiner Gewalt gegenüberstehend begriffen würde. Jene Gemeinschaft, von der hier meist ausschließlich die Rede ist, kann nur eine Einheit von Staat und Gesellschaft meinen, in einer Zusammenfassung der beiden Begriffe, wie sie sonst vielen als höchst bedenklich erscheint, gerade im Namen der Demokratie. Im Begriff der Resozialisierung liegt, daran führt kein Weg vorbei, eine gewisse Identifizierung von Staat und Gesellschaft - zur Gemeinschaft.
Entscheidend ist jedoch, daß diese Gesellschaft ihr Organ hier im Staat und seiner Resozialisierungsgewalt findet; die Staatsorganisation wird zum Partner des Straftäters. Der Staat mit seiner Organisation, nicht eine als solche ja gerade hier gänzlich unfaßbare Gesellschaft, wird zum "Organisationsträger der Güte", dem es dann obliegt, andere, "gesellschaftliche Gewalten" dazu aufzurufen, seine Güte fortzusetzen, in der Übernahme straffallig Gewordener in private Beschäftigungsverhältnisse, in Wiederaufnahme der Gestrauchelten in vielfache menschlich-gesellschaftliche Bezüge. Und hier zieht sich diese staatliche "Organisation der Güte als solcher" nicht etwa zurück, in einem liberalen Laissez-faire, das sich damit begnügt,
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den Täter nicht hinter Gitter zu bringen, sie steigert sich zum aktiven Bewährungshelfer. Gerade der Staat ist es, der dabei nicht nur den ersten Anstoß gibt, sondern die Resozialisierung im eigentlichen Sinne eben doch selbst durchführt, oder Bewährungsinstitutionen derart finanziell begünstigt, daß sie als verlängerter Ann seiner Organisation tätig werden können. Es ist also typische Staatsgüte, und, trotz aller Identifizierung von Staat und Gesellschaft gerade hier, nicht primär Gesellschaftsgüte, welche darin zum Ausdruck kommt. Hoheitsgewalt des strafenden Staates tritt zurück, es tritt ein die Hoheitsgewalt des Staates als Bewährungshelfer und sie setzt ebenso "Gewalt" ein wie jene - deutlich zeigt sich dies dann, wenn die Resozialisierung scheitert, jenes "mildere Mittel der Staatsgüte". Darin erweist sich, daß Staatsgewalt als solche auftreten kann als eine Macht der resozialisierenden Staatsgeschenke. Als solche aber ist sie nichts gesellschafts-Repressives, sondern etwas notwendig Ausstrahlendes, in die ganze Gemeinschaft, vor allem aber in jene Gesellschaft, welche sich eben hier mit ihr identifiziert. g) Diese resozialisierende Wiedereingliederung ist Ausdruck eines Gemeinschaftsverständnisses, das kein Glied außerhalb der Gemeinschaft auf Dauer stehen läßt, darin in einem bruchlosen Spektrum der Sozialhilfe und der Sozialversicherung verbunden. Moralisch kann sich dies nur dadurch legitimieren, daß diese Gemeinschaft, also auch die in ihr tätige Gesellschaft, aber auch die Staatsgewalt als solche, als eine gute unterstellt wird, die durch Staatsgüte durchwirkt und geprägt ist. Daraus zieht sie so viel an Legitimation, daß sie sich geradezu als eine durch Staatsgüte herzustellende Zwangsgemeinschaft versteht. Alle Staatsgüte ist hier also darauf gerichtet, daß sich niemand außerhalb der Gemeinschaft stelle. Die eigentliche Begründung liegt daher in der klassischen Vorstellung vom Staat als einem Zwangsverband. Ob er nun durch das Zuckerbrot der Resozialisierung oder durch die Peitsche der Strafe hergestellt und gehalten wird, bleibt sich im Letzten gleich. Deutlich aber erscheint die Macht der Geschenke, die den Willigen zwingen will, damit Gewalt nicht gebraucht werde. So zeigt dieser Abschnitt über die Resozialisierung an diesem sehr deutlichen Beispiel der Staatsgüte nicht nur deren Ausstrahlungswirkungen auf die gesamte Staatstätigkeit und darüber hinaus auf die Gesellschaft; sie beweist auch, wie die Macht der Geschenke an die Stelle der stärksten und schärfsten Macht treten kann, welche der demokratische Staat kennt: die des Strafens. Jener Staat, welcher auf solche Weise Böses mit Gutem vergelten, seinen gefallenen Bürger wieder zum Guten zwingen und in den Zwangsverband der Staatlichkeit zurücktreiben will, es ist der Staat der Staats güte, der hier die Macht seiner Geschenke zeigt - unter einem besonders schwer zu durchschauenden, moralisch hell schimmernden Mantel der Güte.
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3. Begnadigung a) Gnade ist Geschenk, sie ist die höchste Steigerung des Geschenkten. Wenn jemals das Wort Wesen Bedeutung erlangt - hier gehört es zum Wesen der Gnade, daß sie das wesentlich unverdiente, ohne jede mögliche Gegenleistung frei Gewährte darstellt, ja daß sie nie und in keiner Weise je verdient werden kann. Die westliche Welt, im weitesten Sinne des Wortes, hat ihr ganzes Denken auf Austauschgerechtigkeit gegründet, auf Verdienen und Verdienst, gerade am Ende des zweiten Jahrtausends hat sich dies explosionsartig im Durchbruch globalisierter Marktwirtschaft bewährt. Und doch stand dem eines stets nicht entgegen, sondern gegenüber, gerade dort, wo dieses liberale Verdienstdenken am weitesten entwickelt war, im Calvinismus, von der Schweiz bis in die Staaten: die unverdienbare göttliche Gnade. Daß sie Gottesgeschenk im tiefsten Sinne sei, darin sind sich katholische und protestantische Dogmatik stets einig gewesen; und selbst gute Werke als eine der Grundlagen der Rechtfertigung, nach katholischer Lehre, ändern nichts daran, daß der entscheidende Geschenk-Akt von oben kommt, die Gnade. Sie ist zugleich Ausdruck göttlicher Güte und göttlicher Allmacht; der Schöpfer schenkt sie frei, und dies ist der entscheidende Ausdruck seiner allmächtigen Gewalt: Er darf gut sein, weil er mächtig ist. Darin zeigt sich die enge, wiederum wahrhaft wesentliche Verbindung von höchster Güte und höchster Macht. Und warum sollte dann jener Staat, der immer Gott auf Erden hat sein oder ersetzen wollen, nicht in dem Maß gerade gütig sein dürfen, ja müssen, in dem er Allmacht für sich in Anspruch nimmt? Muß dann nicht alle Machtsteigerung des Staates ihre Entsprechung finden in immer weiter gesteigerter Geschenklichkeit des Staatshandelns - in Staatsgüte? Unser ganzes Denken ist auf diesen Zweiklang gerichtet: Macht und Güte. Nirgends wird er klarer erfaßbar als dort, wo - die Macht begnadigt. Gegenstand dieses Kapitels ist also, aus der Sicht der Staatsgüte, nicht eine Zufalligkeit oder auch nur ein Accidens von Staatsaufgaben und Staatstätigkeit, eine Randerscheinung, die es zu begrenzen, jedenfalls aber zu verrechtlichen gälte; hier bleibt ein unausschöpfbarer Rest der Macht als Güte, und er strahlt aus auf das gesamte Staatshandeln. Wer versucht, dies in Verrechtlichung untergehen zu lassen, mit der Strafe zum Sterben zu bringen, greift den Kern der Staatlichkeit an. b) Der Staat ist die einzige Institution, die auf Erden so groß gedacht ist, daß er begnadigen kann, daß er Gnade schenken darf. So wie der Gott, der Gnade schenkt, als persönlicher gerade darin vorgestellt wird, daß er gütig ist - Allmacht könnte auch eine unpersönliche Gewalt ausstrahlen -, so findet der Staat zu seiner Personhaftigkeit zu allererst und wesentlich darin,
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daß ihm das Recht der Gnade zusteht. Nicht umsonst war dies, in vielen Jahrhunderten der Vergangenheit, stets Ausdruck einer irgend wie persönlich aufgefaßten Gewalt, der Fürst vor allem schenkte sie, und darin erst wurde er voll und im schönsten Sinne souverän. Gerade unter der Monarchie war noch das Bewußtsein lebendig, daß alles, was der Fürst gewährte, Ausdruck seiner Gnade war - so wie er regierte Dei gratia, von Gottes Gnaden: Der Staat gab durch den Fürsten die Gnade des Allmächtigen weiter an die Menschen. Alles staatliche Tun gewann darin die Qualität der göttlichen Allmacht - des Staatsgeschenks, der Staatsgüte. Ihren demokratischen Nachfolgern, den Präsidenten, haben die Fürsten dieses Erbe hinterlassen, doch dort wurde es verkleinert, wenn nicht vergeudet. Ein Widerspruch in sich ist es, wenn lokale Regierende, in Amerika oder Deutschland, gewähren wollen, was doch nur dem Repräsentaten des gesamten Volkes zusteht, der gerade hier spricht mit der vox populi vox Dei. In diesem Gnadenakt ist der Staat ganz, mit all seiner Macht, daher sollte er eigentlich auch nur vom Mächtigsten, vom volks gewählten Präsidenten allein, gewährt werden, damit er nicht in administrative Routine verflache und mit ihm sein Staat. c) Eine weitere, noch gefährlichere Entwicklung bedroht die Staatsgnade, damit Staatsgüte, Staatsallmacht - den Staat schlechthin: die normierte Begnadigung, von dort ist nur ein Schritt zur verdienten Gnade. Modeme Strafhumanisierung aus Moralisierung hat hier nicht ein Verbrechen gegen den Staat begangen, sie hat einen Fehler gemacht, als sie Begnadigung zuerst zur Exekutiv-Routine hat werden lassen, sodann durch demokratische Verfassungs gerichtsbarkeit sogar etwas wie ein Recht auf Gnade anerkennen wollte. Gewiß bleibt diese auch nach solcher Verirrung ihrem Wesen nach noch immer freie Entscheidung, im Grunde Geschenk. Doch was einmal vor Gericht gezogen werden kann in einem NormenStaat, das ist rechtsunterworfen, muß letzte Schranken achten, darf nie in eine Willkür ausbrechen, welche aber gerade das Wesen aller Gnadenerweise ausmacht: daß es eben keine Gründe mehr gebe, warum dem einen die Strafe erlassen, dem anderen aber belassen werde. Der Gleichheitsstaat aber kann nicht anders - er muß auch hier seine Vergleiche anstellen, und so wird die Begnadigung zur vorzeitigen Haftenlassung, der oberste Repräsentant des Staates zum kleinen Richter oder gar zum Gefängnisdirektor, Begnadigung zum Strafvollzug. In einer wahrhaft fürchterlichen Mutation ist das Wesen des Staates wie das der Gnade aufgegeben und der Staatsgüte ein schwerer Schlag zugefügt worden, allem Staatshandeln als Ausdruck von schenkender Güte; doch dies ist eben die unaufhaltsame Logik des Normenstaates und seiner so zu bewahrenden Freiheit, daß sie sogar noch die göttliche Allmacht zurückdrängt. Und bäumt sich diese normierte und normierende Freiheit nicht heute auch religiös auf gegen den allmächtigen Gott?
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C. Staatsgüte in Entwicklungen des geltenden Rechts
Eine solche nonnierende Reduktion des Staates erfolgt auch nicht erst dort, wo "auf Gnade geklagt werden kann"; selbst wenn ein Recht auf gnadenweise Überprüfung eines Falles durchsetzbar ist vor Gericht, wird bereits die Souveränität gebrochen, aus der allein ein solches erwachsen kann. Die Planungshoheit der kleinsten Kommune gibt dieser das Recht, Bauten vorzusehen oder nicht, in ein Verfahren darüber einzutreten oder nichts zu unternehmen. Dieselbe Hoheit steht dem strafenden Staat nicht mehr zu. Er ist dabei, dieses bedeutendste Attribut seiner Güte zu verlieren - eben in jener Zeit, in welcher er als der sozial gute, als der sich in umverteilenden Geschenke verströmende allenthalben erscheinen will. Doch die Betrachtung mag hier, über solche kaum je gesehenen Antinomien hinweg, nochmals bei dem stehen bleiben, was Gnade für alle Bürger immer noch bedeutet: ein wirkliches, völlig unverdientes Staatsgeschenk. d) In der Begnadigung zeigt sich, wie in keinem anderen Staatsverhalten, von jeher und ganz einfach der gütige Staat. Hier wird er in voller, nonngelöster Freiheit tätig, gänzlich unmotiviert durch Überlegungen, welche ihn sonst bestimmen müssen, seien es solche rechtlichter Konsequenz oder ökonomischer Effizienz; und hier handelt er ohne Vorsicht und Scheu, ohne jede Gewaltsamkeit, einfach nur wie ein Mensch aus dem heraus, was all dies nicht zum Ausdruck bringt: aus Güte. Gelöst zeigt sich hier die Staatsgewalt, vor allem von einem, was sie mehr und mehr, nicht nur äußerlich, in Fesseln legt, sondern ihr Wesen lähmend durchdringt: von den Gesetzen. Bei Begnadigung ist kein Fall wie der andere, hier blickt die Gnadeninstanz auf etwas, was man den "reinen Einzelfall" nennen könnte, so wie der gütige Gott nur das nackte Einzelgeschöpf in seinem gütigen Auge hat. Wenn alle Macht sich im letzten dadurch definiert, daß sie über Nonnen hinweg schreiten will, sei es daß sie unsichtbar wirkt, daß sie in Abwägung handelt, aus Erkenntnis sich legitimiert - immer ist es der Blick auf den Einzelfall, den sie so zu ihrer Nonn machen will, sich von allem gesetzlichen Beiwerk der vielen anderen Fälle lösend. Wie der Mensch unmittelbar ist zu Gott, so ist der Bürger unmittelbar zum Staat in dessen Machtäußerung der Begnadigung, die nur auf den Einzelfall blickt. Zwar wird sie immer seltener, und erstaunlicherweise gerade in einer Zeit, die immer noch mehr auf Staatsgüte setzt - hier aber ist diese unmittelbare Beziehung noch ganz erhalten: vom Rechtsbrecher zum Gnade gewährenden Menschen als Organ der Persönlichkeit Staat. Das Gnadengesuch, mit dem ein solches Verfahren ausgelöst wird, mag hier durchaus nicht als Marginalie erscheinen, sondern als wesentlicher erster Verfahrensabschnitt: Auch die göttliche Gnade wird ja auf Bitten gewährt, ob sie wahrhaft vergewaltigt, ist noch immer Gegenstand theologischer Meinungsverschiedenheiten. Gratia Dei urget me - zur Begnadigung
I. Der gütige Staat am Ende der Strafen
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muß der gütige Staat den Täter nicht auch noch drängen; und doch mag es in der letzten Konsequenz der Begnadigung liegen, daß sie selbst antragsfrei gewährt wird. Darin würde sich dann ihre Lösung von den Nonnen vollenden. Doch stärker sind heute die Gesetze, ihr Denken drängt hier das große Staatsgeschenk eines begnadigten, begnadeten Lebens zurück, und hier bereitet sich bereits eine Antithese aus dem Nonnativismus gegen die Staatsgüte vor, von der noch im zweiten Teil der Untersuchung die Rede sein wird. e) Ein Einwand drängt sich auf, will man das Recht des Staates zur Gnade als Kern und Ausgangspunkt einer Staatsgüte begreifen, die sich dann verallgemeinernd auf das ganze Wirken der Staatlichkeit ausbreitet: Ist nicht Gnade ihrem Wesen nach, wenn nicht unverdient, so doch stets enge, seltene Ausnahme, auf welche nicht nur kein Anspruch besteht, auf die sogar niemand rechnen darf? Wenn demgegenüber die Staatsgüte ein Verhalten hervorbringt, das der geschenkgewohnte Bürger des Sozialstaates erwartet, ja heute geradezu schon als Selbstverständlichkeit annimmt, ist dann nicht ein weiter Abstand zwischen diesen beiden Staatsgeschenken und zu einer Staatshaltung, aus der beides erwachsen soll? Hier muß wieder in christlichen Kategorien gedacht werden. Nach ihnen ist von der grenzenlosen Güte des Schöpfers auszugehen, von dem gerade neuere Theologie annimmt, daß er nicht nur wenige endgültig auserwählt hat in seiner Gnade. Und hier könnte modernes Sozialbewußtsein und Humanisierungsstreben nun wirklich zu den Ursprüngen einer Gnade zurückkehren, welche nicht nur in Ausnahmefällen gewährt wird, sondern in einem großen Stil, in dem große Souveränität wirkt. Dann würde wieder deutlich, daß der Staat, über allen Gerichtssälen, noch etwas errichtet wie einen höheren Justizpalast, in dem, um ein viel ironisiertes Wort des bayerischen Prinzregenten bei der Einweihung des Justizpalastes aufzunehmen, nun wirklich "alle Prozesse gewonnen werden". Tritt die breit gewährte Begnadigung an die Stelle übersteigerter Nonnativierung der Gnadenerweise, so könnte staatliche Gnade, Staatsgüte nun wirklich im Grunde immer und überall wirken dürfen, da sie dort so mächtig und sichtbar sich zeigt. Dann würde Begnadigung wieder zum Modell der Staatsgüte als solcher. e) Und der Staat der Gesetze hat derartiges ja auch bereits in seinen Kategorien vorgesehen, vorgedacht: in der "nonnativierenden Begnadigung", der Amnestie durch Gesetz. Gnade in dieser Rechtsnonn des Nonnen-Staates zeigt sich als eine glückliche Verbindung von Staats güte und Gleichheitsstaat: Indem Gnadenempfänger nach nonnativen Gesichtspunkten ausgewählt werden, nun im Ergebnis einen Anspruch auf diesen
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c. Staatsgüte in Entwicklungen des geltenden Rechts
Gnadenerweis erhalten, wird das nonnative Gewissen des Rechtsstaats befriedigt. Doch dahinter steht noch immer der freie Gnadenerweis, der sich in einer Weise über die strafrechtliche Rechtskraft hinwegsetzt, wie dies eigentlich, nach den Grundprinzipien der Gewaltenteilung, in der Demokratie nicht geschehen dürfte. Dogmatische Schnittstellen, Unbewältigtes im Verhältnis der gesetzlichen Amnestie zum individuellen Gnadenbeweis mag es noch immer geben, und vielleicht wird die Dogmatik dann sogar, in ihren herkömmlichen Kategorien, das Gnaden-Gesetz doch noch als ein aliud gegenüber der Begnadigung durch Einzelakt erfassen; modellhaft ist hier immerhin ein Übergang, eine Verbindung, vielleicht sogar etwas wie eine Synthese gelungen, zwischen den Antithesen des Rechte gewährenden Gesetzes und der den Einzelfall im Schenken lösenden Staatsgüte. Doch der Gegensatz zwischen Gesetz und Gnade ist im Nonnenstaat noch immer wohl bewußt, mehr vielleicht denn je. Wie Demokratien unbarmherzige Kriege führen, mit Millionen von Toten, so verzeiht auch das Volk, wie es scheint, nur ungern in Gesetzesfonn. Manches spricht dafür, daß der Nonnenstaat auch hier die Staats güte zurückdrängen will. Im Namen rächender Gerechtigkeit wurden so, gerade in Deutschland, schwere Fehler gegen das begangen, was Staatsgüte im wahren Sinne gewesen wäre: Politische Fehler wurden nicht verziehen, sondern eher noch kriminalisiert; und mochte dies vor Jahrzehnten noch verständlich erscheinen, die Ablehnung der Amnestie nach der Wiedervereinigung hat der gesamtdeutschen Demokratie kaum Glück gebracht. Sollte es so sein, daß die Demokratie nonnativ nicht verzeihen, daß sie ihre Normmilde durch Amnestielosigkeit kompensieren will, sich auch darin von einer abgelehnten Vergangenheit unterscheidend? f) So ist denn das Ergebnis einer Grundsatzbetrachtung zur Begnadigung durchaus in sich widersprüchlich, zum Teil zeigt es zentrale Staatsgüte, zugleich aber wird diese durch Verrechtlichung zurückgedrängt, ja im Kern gefährdet. Nonnen ordnen, doch sie entmutigen zugleich die Macht, das erweist sich gerade hier. Wenn nicht neuer Macht, so doch einer Personalisierung demokratischer Mächtigkeit bedürfte es, um Gnade nun wirklich wieder ernst zu nehmen: Gnade vor Recht ergehen zu lassen, im eigentlichen Sinne des Wortes. Denn dies würde dann bedeuten, daß in der Staatlichkeit immer mehr Güte vor Nonnen steht, nicht erst nach ihnen kommt, sie mühsam korrigierend.
Gnade ist nicht nur ein tiefer, es ist auch ein besonders schöner Beweis der Güte. In Kunst und Literatur ist sie immer begeisternd gefeiert worden. Eine Demokratie, die zu diesen Gründen zurückfinden will, sollte großen Zug zeigen, nicht kleine Sorgen vor kleinen Tätern, sie sollte begnadete Angst aushalten - begnadende.
11. "Bewaffnete Güte"
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11. "Bewaffnete Güte" 1. Die Polizei als Helfer a) Polizei ist organisierte Hoheitsgewalt par excellence. So viel Staat ist in einem Gemeinwesen, wie es Polizei gibt. In ihrer Entuniformierung mag der Staat versuchen, sich zu verunsichtbaren; doch Gewalt aus Amtsstuben ist nur eine andere Form der Gewaltsamkeit aus Gewehrmündungen. Der Befehl des Unifonnierten bleibt der Prototyp des Verwaltungsakts, so wie die Polizei das Vor-Bild der Exekutive, diese das des Staates schlechthin ist. Entherrscherlichung im Polizeibereich stößt rasch an ihre Grenzen. Neue Staatsaufgaben - wie Umweltschutz oder steigende Kriminalität, von Wanderungsbewegungen zu Wirtschafts wachstum - bringen ein "Zurück zur Polizei", in der täglichen Praxis wie im Geist der Bürger. Vielleicht wird nicht mehr ganz jener frühere Zustand erreicht, in welchem alle Verwaltung "Polizei' war; doch wenn es einen Bereich gibt, in dem der "Einsatz hoheitlicher Befugnisse" unbestrittener Tätigkeitskern ist, sodaß dort auch stets Beamte einzusetzen sind, so ist es diese bewaffnete Verwaltung der Sicherheit und Ordnung. Hier endet auch immer wieder demokratischer Pazifismus in Entrüstung, Empörung, Erschütterung der Bürgerschaft vor Verbrechen und Terrorismus. b) Und doch wandelt sich, in der milden, verzeihenden Volksherrschaft verbreitet verstehender Humanität, gerade dieses Zentrum der Staatsgewalt, damit aber die Macht in ihrem Innersten: von der Pickelhaube zum Freund und Helfer. Genau dieses Schlagwort ist so platt nicht. In ihm liegt der tiefere Versuch einer "Entodiosierung der Macht": Sie soll stets, ihrem Wesen nach, helfen, nicht eingreifen. Eingriff ist ein odioses Wort in der Ordnung der Freiheit. Jene Organisation, die noch immer mehr Eingreifals Einsatzpolizei war, soll ihre Mächtigkeit, ihre unwiderstehliche Gewalt, ihr Gewaltmonopol bewähren in Hilfe. Wenn möglich soll ihr ganzes Tun und Lassen umfunktioniert, umgewertet werden im Geist der Bürger: Nicht mehr der Zugriff auf den Rechtsbrecher prägt die Polizeiaktion, sondern Schutz und Hilfe, die damit dem schuldlosen Opfer, dem ex definitione Schuldlosen, der Allgemeinheit, zuteil wird. Selbst jenes präventive Eingreifen, zu dem heute polizeiliches Verhalten immer mehr sich wandeln soll, eben diese Vorbeugung wird als Schutzveranstaltung wesentlich begriffen. Wie Resozialisierung die Abschreckung im Strafrecht ersetzt, so im Polizeirecht die Prävention als Vorwegnahme, als Ersatz der Repression, weil sie eben kriminelles Tun von vorneherein erstickt, in immer dichterem Schützen und Helfen. Darin fällt dann, so scheint es doch, das Mißtrauen der Bürgerschaft gegen den uniformierten Arm der Staatlichkeit ab, gegen militarisierte Frei-
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Staatsgüte in Entwicklungen des geltenden Rechts
heitsfeinde müssen nicht mehr Barrikaden errichtet werden - wenn die Uniformierten selbst Absperrungen errichten, dann greifen sie doch nicht ein. Freiheitsreaktionen gegen Schlichter und Ordner braucht, kann es gar nicht geben, und hier wird nun eine höhere Stufe der Entodisierung der Staatsmacht erreicht: Sie zieht sich nicht nur zurück, wie es dem Unsichtbaren Staat wohl ansteht, sie tritt hervor im Gewand des Helfers. Was aber wäre dies anderes als Staatsgüte aus dem Kern der Staatsmacht, als ein Staatsgeschenk des Schutzes, der frei gewährt wird, auf den letztlich ja niemand einen Anspruch haben kann, und der doch virtuell allgegenwärtig, flächendeckend auf dem polizeibeherrschten Territorium gewährt wird. Da werden nun die Beamten, die stets mit Mißtrauen begleiteten Gehilfen der Hoheitsgewalt, länger in Psychologie geschult als im Gebrauch der Waffe, damit sie den Bürger davon überzeugen, daß sie ihm doch immer nur helfen, und sei es auch dort, wo sie ihn anhalten, ihm Weiterfahrt unmöglich machen zu seinem Schutz gegen sich selbst. Das schöne Wort von der Schutzpolizei sollte wiedergeboren werden, der Schupo als grüngekleideter Hoffnungsträger für eine Bürgerschaft, welche den Staat der Güte, der unverdienten Hilfe sucht, bis hin zur Waffengewalt. Und wenn diese Polizei schon als Freund und Helfer nurmehr verstanden wird, wie könnten dann andere Verwaltungsorgane odiose Gewalt einsetzen, müßte hier nicht ein mächtiges "Erst recht" alle Beamten, den gesamten öffentlichen Dienst und Apparat in helfendes Schützen zwingen? Trifft nicht Bürokratiekritik immer und gerade dort ins Zentrum der Staatlichkeit, wo dies verfehlt wird, weil ein Beamter sich nicht als Helfer fühlt, ist er nicht eben dort, nur dort der verabscheuungswürdige Bürokrat - weil er Staatsgüte nicht einsetzt, sondern Waffen, juristische oder wirtschaftliche? Ist also nicht der Staat in seiner Polizei, im Innersten seiner Macht, auf dem Weg in die Güte? c) Die christliche Überzeugung, daß die Hilfe des gütigen Gottes am nächsten ist, wo die Not am höchsten steigt, bewährt sich, so scheint es doch, auf Erden nirgends deutlicher als im Verhalten der bewaffnet gütigen Polizei. Wo besondere Gefahren auftreten, von Großdemonstrationen bis zu risikoreichen Transporten, wo die Bürger sich selbst die großen Gefahren schaffen, da ist erst recht die helfende Polizeibegleitung zur Stelle, bis hin zum Großeinsatz. Die Martialität mittelalterlich anmutender Polizeiverkleidung einer Macht, die neben dem Gewalt- auch das Vermummungsmonopol für sich in Anspruch nimmt, dürfen in der Volksherrschaft nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch dort noch immer bewaffnete Güte am Werk ist. Je größer die Gefahr, desto näher, desto massiver die Gegenwart des schützenden, helfenden Staates. Er verhindert damit, in begütigendem Zureden, nicht nur den Rechtsbruch, er läßt ihn sogar geschehen, er fördert ihn in der Demon-
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strationsbegleitung, natürlich immer nur damit Schlimmeres verhindert werde. Und hier setzt er, wiederum begütigend, Verhältnismäßigkeit ein. Gibt es größere Güte als Zulassung der Gefahrdung, die im Polizeieinsatz zunächst gewissermaßen global-präventiv vergeben wird, nur damit anderen, den gefährdeten Bürgern, nicht noch mehr geschadet werde? Ist es wirklich nur Ausdruck der Schwäche und nicht doch auch der verstehenden Güte, wenn wenige Bürger aus der Bannmeile der Parlamente und von Autobahnen verdrängt, Zehntausende dort aber geduldet und psychologisch helfend von den Ordnungskräften behandelt werden? Polizei als sozialpsychologischer Service, gratis geboten, wo immer sich nicht zwei oder drei, sondern viele im Namen der Freiheit oder einfach nur des Aufruhrs zusammenfinden - ist hier nicht der gütige Vater Staat am Werke, der in verstehender Hilfe das Verhalten seiner Organe von der Begünstigung im Amt umfunktioniert zur Beruhigungshilfe für erregte Bürger? In all dem mag etwas sein von Ironie, aber doch noch weit mehr tiefere Bedeutung. Sie zeigt den gütigen Staat sogar noch in seinem massiven, militarisiert-bewaffneten Auftreten. Güte hat immer und überall ein schlechtes Gewissen - daß sie nicht noch mehr Gutes tut; wollte man dies der Polizei absprechen, gerade in ihren Großeinsätzen? d) Alles polizeiliche Verhalten ist beherrscht vom Grundsatz der Opportunität, von jeher, und daran kann der Eingriffszwang zum Schutz höchster grundrechtlicher Güter wenig ändern. Bewaffnete Staatsgewalt steht unter dem obersten Grundsatz des "Eingriffs nach Macht", und ihre Macht behält sich das letzte Wort vor, in diesen unzähligen kleinen Ausnahmezuständen beweist sie so die staatliche Souveränität. Der Nicht-Eingriff, wo eigentlich Strenge gezeigt werden könnte, vielleicht sollte, was ist er anderes als eine Form des Verzeihens, in dem der Staat über ein Bürgerverhalten hinwegsieht, obwohl es oft so hohe Gemeinschaftsgüter, wie das von der Verfassungsgerichtsbarkeit als solches gefeierte Eigentum Privater schutzlos läßt? Doch darin liegt nicht so sehr ein Abfall von der Staatsgüte polizeilichen Helfens als vielmehr ein impliziter Pardon denen gegenüber, welche der Staat in unbürokratischer Großzügigkeit des Nicht-Hinsehens gewähren läßt, nicht selten mit mahnend erhobenem Finger. In der Praxis begnetet hier der Bürger täglich der Staatsgüte, jedenfalls appelliert er ständig an sie: Da soll gerade der Bewaffnete "ein Auge zudrücken"; eben weil er machtmäßig alles vermag, unwiderstehlich wirken kann, wird von ihm die Großzügigkeit des Übersehens erwartet, auch wenn er bereits - gesehen hat, und auch dies deckt noch äie große Opportunität polizeilichen HandeIns zu. Und Wohlwollen darf auch von ihm gerade erwartet werden, denn er sitzt nicht am Schreibtisch, wo vor allem Normen angewendet werden, er hat jenen Einzelfall zu lösen, in dem Verstehen walten darf und Güte, eben weil er nicht voll aktenkundig
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c.
Staats güte in Entwicklungen des geltenden Rechts
gemacht wird. So ist der Alltag staatlicher Macht - tägliche staatliche Güte, und dies vor allem in einer liberalen Ordnung, welche dem Polizisten gebietet, im Zweifel für die Freiheit zu entscheiden, in Staats güte gegen die Normen. Das Auge des Gesetzes sieht dann weg, der Hüter der Ordnung wird zum gütigen Bruder, jedenfalls dort, wo er als kleiner Mann dem kleinen Mann in natürlicher Brüderlichkeit begegnet. Wäre da nichts von der fraternite der französischen Revolutionäre, die nur den nicht schützen wollte, der ohnehin zuviel hatte, der Staatsgüte nicht bedurfte? Ein so verstandenes Opportunitätsprinzip ist im Grunde nurmehr ein normatives Mäntelchen für Einzelfallgerechtigkeit, besser: Einzelfallgüte. Es mag verbunden sein mit einem anderen, ebensolchen Vorwandprinzip: jenem Bagatellgrundsatz, nach dem nicht nur der erkennende Richter, sondern schon sein Gehilfe, der handelnde Polizist, de minimis non curat. Dafür gibt es gewiß gute ökonomische und auch juristische Gründe: daß die Kassen des Staates nicht überfordert werden dürfen, daß die Verhältnismäßigkeit bei begrenzten Mitteln Bagatelleinsätze auch rechtlich verbietet. Doch letztlich liegt darin nichts anderes als eine Geisteshaltung, wie sie auch im Opportunitätsprinzip ihren Ausdruck findet: daß eben etwas pardoniert werden soll: zuallererst sicher, weil es die Macht (noch) nicht gefährdet, sodann aber auch, weil diese sich eben darin gütig, gewissermaßen nach Größenordnung amnestierend, verhalten will. Sie ist nicht nur zu groß für den kleinen Rechtsbruch, sie ist sich auch zu gut für Verhinderung und Verfolgung von allem und jedem - und für den (nicht) betroffenen Bürger bedeutet dies hier: zu gütig. Dafür wird er sich denn auch, und dies ganz natürlich, bedanken, wie er sich, nicht ohne Demut, Gericht und Staatsanwaltschaft nähert, die ihn, hoffentlich, laufen lassen. e) Nicht zuletzt aber bewährt sich Polizei als bewaffnete Güte darin, daß sie all ihre Macht grundsätzlich bereit ist einzusetzen - umsonst. Absurd sind und bleiben Vorschläge, Polizeieinsätze vom Rechtsbrecher stets bezahlen zu lassen, sie scheitern schon an Feststellbarkeit und Leistungsfähigkeit, vor allem im eigentlich bedeutsamen Massenfall. Im Grunde war es auch immer unausgesprochener, aber staatstragender Grundsatz, daß Schutz und Hilfe durch Bewaffnete gratis geboten werden, also in Form des Staatsgeschenkes; gerade deshalb darf es sich die Macht vorbehalten, ob und wie weit sie ein solches gewährt. Die Privatisierung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, welche den Bürger über von ihm zu bestellende Sicherheitsdienste zur Kasse bittet, ist letztlich finanzpolitische Perversion, wenn nicht ein sicherheitspolitischer Umverteilungsvorgang, welcher wirtschaftlich Leistungsfähige zu mittelbaren Sicherheitsabgaben heranzieht. Das alles ist dann freilich nicht mehr der gütige Staat der helfenden Polizei; doch er verfehlt dies nur gegenüber wenigen; für die große Zahl der Schwächeren bleibt er erst recht die Macht
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des polizeilichen Staatsgeschenkes, beweist er doch durch die Privatisierung der Sicherheit weniger gerade, daß er den vielen seinen Schutz - schenkt. Ist er dann aber nicht eben darin, und besonders sichtbar, der schenkende, der wahrhaft gütige Staat? Und wenn er sich hier so verhält, in jenem Zentrum der Exekutive, muß dies dann nicht in aller staatlichen Verwaltung gelten - erst recht? 2. Die bewaffnete Macht als Katastrophenhilfe
a) Die Armee ist Drohung, nicht Geschenk, Güte, Hilfe; so jedenfalls will es eine Tradition von Jahrtausenden. Abschrecken sollen die Waffen, nicht den gütigen Staat zeigen. Doch auch hier ist es zu tiefen Wandlungen gekommen, im täglichen Einsatz wie, weit darüber hinaus, ganz grundsätzlich. Endlich hat nun auch das Militär zu seinem "Normalfall" gefunden: zur Katastrophenhilfe. Kaum eine Woche vergeht, oft nicht ein Tag, ohne daß die Medien vom helfenden Einsatz jener berichten, die nun nicht mehr mit Waffen, sondern mit Technik eingreifen, nicht mehr Schrecken, sondern Schutz und Fürsorge um sich verbreiten. Diese Entwicklung ist zum internationalen Phänomen geworden: So wie früher waffenstarrende Potentiale sich gegenseitig hochschaukelten, so sind es heute immer noch höher technisierte Militäreinheiten, welche überall im helfenden Einsatz stehen, bis hin zu einer wahren "Kanonenbootpolitik der Güte", zur aufgezwungenen Hilfe und Bereicherung Katastrophengeschädigter und ihrer Länder. Allzuoft, und in Deutschland zumal, kämpft die bewaffnete Macht noch mit den blutigen Schatten ihrer Vergangenheit, zu wenig nimmt sie wahr, daß sie für den Bürger immer mehr bereits zum ganz großen Freund und Helfer, zur Superpolizei in der ganz großen Gefahr geworden ist; daraus könnte sie sich wahrlich neu legitimieren - dies aber nun nicht im Namen der Gesetze, sondern nur aus einer neuartigen Staatsgüte heraus. Denn vor der bewaffneten Macht endet die Macht der Gesetze, so war es immer, so wird es bleiben, trotz Innerer Führung und aller Demokratisierung. Die Armee ist der Normierung wesentlich unzugänglich, ist sie doch, zunächst einmal, auf jenen außergewöhnlichen Fall ausgerichtet, mag man ihn nun ehrlich Krieg oder beschwichtigend Verteidigung nennen, der sich eben nicht voraussehen und daher auch nicht normieren läßt, so will es der Rechtsstaat. Wenn aber nun Staatsgüte überall dort eingreift, wo die Ordnungskraft der Normen endet, dann ist die bewaffnete Macht, so paradox dies scheinen mag, ihrem Wesen nach zu einer Institution der Staatsgüte geworden. Überall greift sie ja ein, wo Not am Mann ist; die Übergänge zu zahllosen anderen, zivilen Hilfsdiensten, vom Roten Kreuz bis zu technischen Hilfswerken, vor allem aber zur Polizei, lassen sich schon kaum mehr zu 9 Lcisner
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C. Staatsgüte in Entwicklungen des geltenden Rechts
grundsätzlichen Trennungen ausgestalten. Wer solche hier über ein kompliziertes Verfahren schaffen wollte, nach dem die bewaffnete Macht nur unter besonderen Voraussetzungen eingreifen dürfte, ginge an der Wirklichkeit völlig vorbei, sie muß immer dann zu Hilfe kommen, wenn ein Einzelfall eine Dimension erreicht, welche mit zivilen Mitteln nicht mehr bewältigt werden kann. So ist die bewaffnete Macht zur Fortsetzung ziviler Staatlichkeit mit anderen Mitteln geworden; und solche Übergänge hatte ja schon, in ganz anderem Zusammenhang, Clausewitz in seinem vielzitierten Wort festgestellt. Wenn aber die bewaffnete Macht die höchste Form einer Staatlichkeit darstellt, deren Selbstbehauptung sie bedeutet, so muß die Stimmung und Lage, aus der heraus sie tätig wird, auf alle andere Staatlichkeit ebenfalls ausstrahlen. Schließlich ist sie doch, was oft vergessen wird, eben ein Teil der Exekutive. Katastrophenhilfen, wie sie hier geleistet werden, sind heute virtuelle Tagtäglichkeiten, meist werden sie nicht mehr gemeldet, dem Bürger als solche bewußt, doch er darf sich in der Sicherheit wiegen, daß der ganz große Helfer nicht nur täglich bereit steht, sondern oft stündlich eingreift, im Kleinen und Großen. b) Dieses militärische Eingreifen und die ihm vorhergehende Bereitstellung tragen alle Züge der hier betrachteten Staatsgüte. Auf sie besteht in keinem Fall etwas wie ein rechtlicher Anspruch. Die polizeiliche Opportunität sieht sich zur absolut normfreien, durch keinen noch so hohen Verfassungsgrundsatz beschränkten militärischen Einsatzfreiheit gesteigert. Die Polizei mag noch Gebühren erheben bei Verursachern, in Fällen der militärischen Hilfen, beim Katastrophenschutz, ist derartiges schon meist aus tatsächlichen Gründen ausgeschlossen, sieht man von regelmäßigen Dienstleistungen ab, etwa Flugbereitschaft für Politiker, die aber auch anders organisiert sein könnten. Gerade weil alles Tun der bewaffneten Macht für den Bürger Ausnahmecharakter hat, stellt sich hier die Frage der Gegenleistung grundsätzlich nicht. Was aber ist dann dieses Staatshandeln anderes als wirkliche Hilfe, die aus Güte heraus gewährt wird, obwohl dies nicht geschehen müßte? Moralische Gründe sind es letztlich, welche hier die Staatsrnacht in Bewegung setzen, und auch dies verbindet die Katastrophenhilfe mit den Veranstaltungen der Staatsgüte. Selbst wenn der demokratische Staat sich bemüht, durch besondere Institutionen des Zivilschutzes, den nicht militärischen vom bewaffneten Bereich abzugrenzen - die Übergänge bleiben fließend, gerade in jenen Notfällen, in denen die Armee bereit steht, als Reservegewalt der Staatsgüte. c) Nach wie vor ist allerdings diese Institution ihrem Wesen nach auf einen anderen Fall ausgerichtet, auf den bewaffneten Schutz der organisierten Gemeinschaft nach außen. Und doch sollte auch hier vertiefend darüber nachgedacht werden, ob nicht auch dies in wesentlicher Nähe steht zu einem
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zivilen Katastrophenschutz der eben erwähnten Art. Bei militärischen Verwicklungen handelt doch die Armee nicht nur gegenüber dem Feind, sondern weit mehr schützend, helfend, bewahrend gegenüber einer Zivilbevölkerung, welche anders Staats güte hier nicht mehr erfahren kann als durch militärisches Eingreifen. In diesem Ausnahmefall übernimmt das Militär grundsätzlich sämtliche wichtigen Staatsaufgaben, und es führt sie durch in einer völlig nonnfreien, allein durch Hilfe und Schutz geprägten Weise. Darin wird die Armee erst recht und in ihrer vielleicht praktisch wichtigsten Tätigkeit zur Instanz der Staatsgüte im Ausnahmefall. Auf ihr Eingreifen zum Schutze ihrer Bürger hat niemand Anspruch, sie handelt gerade hier in freiem Belieben, orientiert allein an der moralischen Verpflichtung der Venneidung des größten Schadens - darin aber bewährt sie sich als Trägerin der Staats güte. Doch dies trägt noch weiter: Der militärische Schutz der Grenzen, die Landesverteidigung als solche, die eigentlich legitimierende Aufgabe der Armee, kann durchaus begriffen werden als Erfüllung einer in keiner Weise nonnativ näher bestimmten Pflicht. Hier mögen politische und moralische Motivationen in unauscheidbarem Gemenge liegen, letztlich sind es ethische Begründungen, mit denen angetreten wird - wozu? Zum Schutz des Landes, zur Hilfe für die von außen bedrohten Bürger, in einer ganz großen Polizeiaktion. Wenn diese immer mehr zur Staatsgüte dort wird, wo der Notfall sich steigert, höhere Dimensionen erreicht, so muß dies erst recht gelten für den Verteidigungsauftrag als solchen. Auf seine Erfüllung hat der Bürger keinen anderen Anspruch als den moralischen der Einhaltung des einmal ihm gegebenen Gelöbnisses. Einst hieß es, eine höhere Liebe habe niemand als der, welcher sein Leben hingebe für seine Freunde, und schon die Alten besangen das Sterben für das Vaterland als süß und ehrenvoll. All dies sind Kategorien eines sich-Hingebens, eines Opfers, das nicht anders gedeutet werden kann denn als höchster Ausdruck der Güte, so wie Gott sich für die sündigen Menschen geopfert hat. Demokratischem Dogma entspricht die grundsätzliche Trennung des militärischen vom zivilen Bereich, aus Putschängsten heraus: hier das souverän in Nonnfreiheit handelnde, sich Schenkende, ja Verströmende - dort der bis in alle Kleinigkeiten hinein in nonnativer Kälte funktionierende Apparat. Doch seit langem schon ist erkannt, daß auch die Volksherrschaft nicht mit Militännißtrauen leben kann. Wenn sie aber die bewaffnete Macht integrieren will in ihre demokratischen Strukturen, so darf dies nicht nur geschehen durch den jungen "Bürger in Unifonn", es muß sich auch bewähren in der letzten Einheit Handlungsmotivation und -legitimation. Hier aber strahlt das Militärische nun nicht mehr Drohung und Gewalt aus, sondern Hilfe und Güte; oder wäre dies doch nur eine andere Fonn der Macht, moralisch verbrämt? 9·
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Eine Unterscheidung allerdings wird dann bedeutsam: Verteidigung gegen Aggression. Nur die defensive Armee bedeutet Schutz und Hilfe, kann sich wesentlich auf Staatsgüte berufen, nur hier wird der Staat zur Rettung der Bürger, nie dort, wo er zur Eroberung übergeht; in ihrem Gelingen endet alle Staatsgüte. Dann geht es nurmehr um die Ausdehnung des eigenen politischen Willens auf andere, und dies ist dann in der Tat auch wieder voll normierbar. So setzt denn die demokratische Konzeption der bewaffneten Macht auf den Staat als Rettung, auf das zu Rettende, nicht zu Stärkende, auf den Krieg als Schwächerenschutz. Hier aber werden die tiefen Probleme, ja Antinomien im Verhältnis zwischen Staatsgüte und normierender, normativer Staatlichkeit offenbar: Läßt sich die Staatsgüte trennen von der Machtdemonstration, was doch im Verhältnis aggressiver zu defensiver Kriegführung kaum je gelungen ist? Sind dann die Bewaffneten nicht doch eher bewaffnete Macht als bewaffnete Hilfe - und gilt dies alles nicht für den gesamten Staatsapparat der Exekutive, so wie sich der Katastropheneinsatz des Militärs geradezu als Prototyp der Staatlichkeit als Rettung präsentiert? Bewaffnete Staatsgüte - eine Staatsgrundkategorie, oder doch nur eine Ausnahmeerscheinung im Katastrophenfall, jenseits der Normen?
III. "Güte" im Allgemeinen Verwaltungsrecht Das Allgemeine Verwaltungsrecht, wie es sich in den kontinentaleuropäischen Staaten entwickelt hat, bietet einen weiten und elastischen, aber eben doch einen normativen Rahmen für alles Verhalten der Administration; für freies, schenkendes Staatshandeln ist hier grundsätzlich kein Platz. Dennoch gilt es darüber nachzudenken, ob das eigenartige Wesen dieser Normierung, schon an sich, nicht doch etwas zuläßt wie Staatsgüte, hier in Form einer "gütigen Verwaltung". Vielen mag dies als ein klarer Widerspruch in sich erscheinen, blickt man auf die bürokratischen Schematismen herkömmlicher Verwaltungstätigkeit; und doch spricht manches dafür, daß dieses Allgemeine Verwaltungsrecht zwar nicht eine Einbruchs-, aber doch eine KontaktsteIle zu dem bedeutet, was hier als Staatsgüte untersucht wird. Zunächst ist dieses Allgemeine Verwaltungsrecht schon grundsätzlich, in seiner vorsichtigen normativen Zurückhaltung, angelegt auf Ordnung einer Verwaltung, die zu gestalten hat, nicht nur Vorgegebenes hart zu ordnen und abzugrenzen. Diese viel berufene, aber selten näher betrachtete Gestaltung bedeutet ein schöpferisches Hervorbringen von Sachverhalten, welche dann erst dem normativen Ordnungsbegriff zu unterwerfen sind. In dieser "schöpferischen Vorphase", in der Ausübung der Organisationsgewalt, im Einsatz der öffentlichen Mittel, läuft ein weithin normgelöstes Verhalten ab,
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das an sich schon extranormative schenkende Staatsveranstaltungen ermöglicht. Zudem ist hier der Blick wesentlich auf den Einzelfall gerichtet, zumindest im organisationsrechtlichen Sinne, und schon aus diesem Grunde ist die Verwaltung als solche weiter als andere staatliche Bereiche offen für normübergreifende Einzelfallösungen - eine der wesentlichen Voraussetzungen für helfendes, "staatsgütiges" Handeln. Wenn sich dieses aus Normdistanz definiert, so müßte gestaltende Verwaltung eigentlich ein Raum möglicher Staatsgüte sein. Das Allgemeine Verwaltungsrecht regelt so viele und heterogene Verwaltungstätigkeiten, daß seine Normen notwendig auf einer Abstraktionshöhe bleiben, auf welcher unterschiedlichste Sachbehandlung denkbar ist. Durch sie wird also helfende Staatstätigkeit nicht blockiert, zumindest nicht als normative Korrektur des Besonderen Verwaltungsrechts; und zum Wesen dieses Allgemeinen Verwaltungsrechts gehört es ja, daß es gewissermaßen subsidiär selbst jene Bereiche erfaßt, welche durch Spezialnormen bis ins einzelne geregelt erscheinen. Insoweit also bleiben hier immer Kanäle, welche kapillar die durchnormativierten Verwaltungsbereiche erreichen, auf denen aber, aus "allgemein-übergeordneter Verwaltungsgrundsätzlichkeit heraus", auch etwas wie Staatsgüte in die Administration eindringen kann. Dieses Allgemeine Verwaltungsrecht ist ja im Grunde nichts anderes als ein Prinzipien-Recht, bei dem die alte Diskussion über das Verhältnis von Norm und Rechtsgrundsatz immer von neuem aufgenommen werden muß. Und ihm ist all jenes generell-Orientierende eigen, in welchem weite Überlegungen zur Verwaltungsplanung sich dem konkreten Normwillen überlagern. Von Verhältnismäßigkeit und Vertrauen bis hin zu Organisationsrecht und Organisationsverschulden wird hier allenthalben das geltende Spezialrecht auf jene höhere Rechtsstaatlichkeit hin orientiert, nur zu oft gebogen, in welcher zwar die Gesetzesunterworfenheit der Verwaltung aufrechterhalten werden soll, sie zugleich aber im höchsten Sinne flexibilisiert erscheint. Ein derart prinzipienträchtiges, wenn nicht geradezu ein Prinzipien-Recht erscheint aber als ideale Aufnahmekategorie für eine wenn nicht normersetzende, so doch norrnkorrigierende Staats güte, welche ihrerseits nur Prinzip, nicht scharf geltende Einzelnorm sein kann, diese auch nicht hervorzubringen vermag. So muß wohl gerade das Allgemeine Verwaltungsrecht, weit mehr als das Besondere, in dem harter Normativismus vordringt, auf Elemente der Staatsgüte untersucht werden. Allgemeines Verwaltungsrecht ist regimeunabhängig im politischen Sinn, seine kontinuierlich sogar Staatsformen überdauernde Kraft ist seit langem erkannt; mit der Verwaltung "besteht" auch das Allgemeine Verwaltungsrecht immer weiter. Diese Regimeunabhängigkeit befähigt es aber dazu, langsam, oft unmerklich, aber sicher geradezu regimeverändernde Entwicklungen aufzunehmen und grundSätzlich zu verfestigen - auch derartiges
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gibt es. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der Umbau der Verwaltung zum service public, der sich bereits seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts im französischen und sodann auch im deutschen Verwaltungsrecht vollzogen hat und die große, auch ihrerseits wieder regimeunabhängige Entfaltung des Service-Staates vorbereitet, in wesentlichen Bereichen bereits geleistet hat. Dann aber ist es gerade das Allgemeine Verwaltungsrecht, welches auch Neuorientierungen aufnehmen und in die Verwaltung umsetzen kann, die im Ergebnis dann wahrhaft regimeverändernd wirken - oder regimeakzentuierend; eben dies aber entspricht dem Wesen der hier behandelten Staatsgüte. Sie muß sich in langsamer Bewußtseinsbildung vor allem in die Verwaltung hineinschieben, dies aber kann nicht durch scharfe Nonnschläge, sondern nur durch längerfristige Nonnab- und Um schleifungen erfolgen, wie Öl auf das nonnative Räderwerk wirkend. Funktion eines Allgemeinen Verwaltungsrechts wäre es schließlich, etwas in "die Verwaltung" einzuführen, ganz allgemein, was für alles Verwaltungshandeln gilt, gerade damit die Einheit der Exekutive im verfassungsrechtlichen Sinn stärkt und durch die Verwaltung wieder im neuen Sinne zu einer Staatsgewalt werden läßt. Sie steht ja heute zunehmend in der Gefahr, ausgewaschen durch Nonnfluten des Besonderen Verwaltungsrechts, in "Verwaltungstrümmer" zu zerfallen. Ein Anliegen der Gewaltenteilung im Volksstaat muß es sein, diese wieder zusammenzufügen zu der einen Verwaltung, damit nicht auch noch das eine Parlament in zahllose Verwaltungslegislativen zerfalle, was ohnehin schon in der Pluralität der Ausschüsse vorgefonnt erscheint. Hier könnte nun etwas wie ein Prinzip der Staatsgüte verwaltungs-vereinheitlichend wirken und damit ein Verfassungsgebot erfüllen: daß die Verwaltung nämlich nicht den zahllosen Gesetzen, sondern "dem Gesetz" unterworfen sei, das zugleich, wenn nicht zuallererst, ein Gesetz der Güte sein muß. Führt also nicht der Weg in die Staatsgüte über das Allgemeine Verwaltungsrecht, ist nicht seine Auflösung in Besondere Verwaltungsrechte eine Gefahr für Staatsgüte, und ist diese nicht, umgekehrt, geradezu eine allgemein-nonnative Gegenbewegung wider das Zerfasern der Verwaltung? Dann würde Staatsgüte zum verwaltungspolitischen Prinzip.
1. Wohlwollen als Verwaltungsgrundsatz?
a) Dem Wohlwollen des gesetzgebenden Parlaments empfiehlt sich kein Bürger, wohl aber dem Wohlwollen aller anderen Staatsgewalten, der Gerichte und, vor allem, der Verwaltung. In früheren Zeiten mochte dies überhaupt die allgemeine Hoffnungsfonnel bei jedem Kontakt mit der Staatsgewalt sein, um so mehr an Wohlwollen erbeten werden, je höher der
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Adressat stand. Heute ist eher das Gegenteil der Fall: Die Politik wird als solche nicht mehr um wohlwollende Behandlung angegangen, hier wird angestoßen, gedrückt, geschoben, in jenem unaufhebbaren Freund-FeindVerhältnis, das durch Kampf oder austauschende Vorteils gewährung geprägt ist. Doch überall dort, wo die Politik anfangt, sich in Verwaltung hinein zu verästeln, beginnen schon die Bitten um den guten Willen der Verwaltenden, wenn auch oft noch mit recht massivem parteipolitischen Hintergrund. Hat es dann der Antragsteller mit einer "Verwaltung schlechthin" zu tun, deren parteipolitische GrundeinsteIlung er nicht mehr voll zu erkennen vermag oder nicht für sich einsetzen will, so tritt an die Stelle dieses verbreiteten politischen Antrags-Lobbyismus gegenüber der Administration die schlichte Bitte um "wohlwollende Behandlung", in der ständigen Antragspraxis aller Verwaltungen. Es ist fast, als sei dies das Gegenstück zu der noch immer und unaufhebbar allenthalben bestehenden Hoheit, welche die Staatsorgane ausstrahlen; ihr kann eben nicht nur durch Gerichtsverfahren und deren Androhung begegnet werden, es gilt, den bleibenden Abstand zwischen Bürger und staatlichem Entscheidungsträger durch Vorstellungen zu verringern, welche ja durchaus nicht reines Bitten darstellen müssen, in aller Regel sogar durch Gründe angereichert werden, aber eben in etwas wie einer "bittenden Begründung". Hier wäre Raum für ein Wohlwollen als Verwaltungsprinzip, als ein rechtlicher Kanal zwischen Bürger und Staatshoheit; und in diesem Sinne ist der Begriff auch bereits rechtlich behandelt worden. Doch es bedürfte vor allem rechtstatsächlicher, wenn nicht allgemein-rechtssoziologischer Untersuchungen, um auszuloten, was hier Beibringung von Tatsachen ist, was rechtlichen, wenn auch vielleicht nicht sanktionierbaren Charakter trägt. Der Bitte um Wohlwollen entspricht, wenn sich der Bürger verletzt fühlt, jene Verwaltungsbeschwerde, die, ohne eine Grundlage der Rechtsverletzung, zwar nach traditionellem Verhältnis formlos, fristlos, nutzlos ist doch dies gilt für das aufgebrachte Herantreten an die Hoheitsgewalt, keineswegs für die Bitte um administratives Wohlwollen. Wenn eine Verwaltungspraxis einmal so allgemein sich entwickelt hat, so fragt es sich schon, ob nicht ein Zustand erreicht ist, in dem sie sich zu einem Grundprinzip des Verwaltens verdichten sollte. Ein solches aber könnte zu einem noch höheren Verfassungsprinzip hinführen, dessen administrativer Ausdruck sein: zu einer Staatsgüte, wie sie Gegenstand dieser Betrachtungen ist. Denn auf das erbetene Wohlwollen gibt es eben wesentlich keinen Rechtsanspruch - und doch wird der demokratische Staat auf Anregungen und Beschwerden hin, wenigstens verfahrens mäßig, immer wieder tätig; also zeigt sich seine Güte doch darin, daß er dem Bürger zumindest das Geschenk einer Befassung mit seinen Problemen machen will, Staats güte sich mithin zunächst immerhin im Verfahren äußert. Und gegenleistungslos erfolgt all dies, ob es nun zur Verständnis heischenden höflichen Ableh-
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nung führt oder zum Erfolg - human hat sich diese Staatlichkeit in jedem Falle dann verhalten. Hier findet sich also ein Phänomen verwaltungsmäßiger Staats güte - es gilt, dieses näher zu untersuchen, vor allem in seinem Verhältnis zur legalitätsgebundenen, gesetzesunterworfenen Verwaltungstätigkeit. b) Wer um staatliches Wohlwollen bittet, läßt bewußt, ja absichtlich offen, ob er damit gesetzesgebundenes oder normfreies Handeln des Staatsorgans erstrebt. Der Schwerpunkt des Anliegens findet sich allerdings wohl regelmäßig in jenem Bereich, in welchem dem Vertreter der Staatlichkeit Verhaltensalternativen offen stehen, zwar nicht der "böse" oder der "gute" Wille, wohl aber das gleichermaßen rechtlich Zulässige, das in einem Fall dem Antragsteller günstig, im anderen abträglich erscheint. Damit könnte sich die Problematik des staatlichen Wohlwollens auf den Bereich des Ermessens verengen, auf den unten noch näher einzugehen ist. Doch im Geist der Bittsteller - denn hier sind sie es auch als Bürger der Volksherrschaft - schwingt darin mehr mit: Bitte um vertiefende rechtliche Untersuchung, welche vielleicht doch eine norrnkonform günstige Entscheidung ermöglichen könnte, und sei es auch gegen bisherige Rechtsprechung oder Praxis. Vor allem aber appelliert damit der Antragsteller an eine mögliche Gestaltungsfreiheit, welche dem angesprochenen Staatsorgan zur Verfügung steht ,jenseits aller Normen": indem es etwa eine "ganz andere" Lösung sucht, oder Kompensationen anbietet, welche das Gesetz nicht verbietet. Derartiges kann dann auch in Rechtsformen gegossen werden, welche neben dem hart zugreifenden Verwaltungsakt zur Verfügung stehen, etwa im Verwaltungsrechtlichen Vertrag; die Existenz dieser Rechtsfigur erscheint bereits als eine Öffnung zu wohlwollend-eingriffsabmilderndem oder eingriffskompensierendem Verhalten. Darin gewinnt denn auch das Verwaltungswohlwollen ein besonderes Profil gegenüber dem Wohlwollen, um welches der Richter gebeten wird. Er mag den Vergleich anregen oder auch "nahelegen" - vertragsweise kann er den Streit zwischen den Parteien, unter Einschaltung des Staates, nicht eigentlich erledigen. Ihm steht auch nicht die ganze Gestaltungsfreiheit einer auf verschiedenen Ebenen tätigen Verwaltung zur Verfügung; er kann nicht, bis an die Grenzen verbotener Zweckvertauschung oder gar des Etikettenschwindels, mit dem Bürger "Gesamtlösungen" finden oder aushandeln, er bleibt auf den Streitfall beschränkt. So spricht denn auch vieles dafür, die Kategorie des Wohlwollens im gerichtlichen Bereich enger zu fassen und gesondert zu behandeln, hier ist entscheidend weniger an Freiheit gegenüber den Normen als im Verhältnis zu einer Administration, deren Gesamttätigkeit immer etwas Gestaltendes an sich hat, als solche gesehen werden muß und daher einen ganz anderen, weit größeren Raum der Normfreiheit - damit aber des Wohlwollens - eröffnet. Gerade hier
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zeigt sich dieses typische Verwaltungsverhalten als Ausdruck wahrer Staatsgüte: Es füllt eben alle normfreien Räume aus, mit allen Mitteln, es begrenzt seinerseits den Normbereich, drängt die Gesetze durch tatsächlich mögliche Alternativlösungen zurück, und dies vor allem in einer Zeit, die auf Privatisierungen, ökonomische Effizienz und rechenbare Realisierbarkeit setzt. Hier kann dann der Staat, die Verwaltung, sogar um ein Wohlwollen gebeten werden, das sich als "Güte des Staates gegen sich selbst" zeigt. Das Spannungsverhältnis zur Gesetzesbindung, zum Normenstaat wird jedenfalls in all diesen allgemeinen Kategorien des Verwaltungshandelns deutlich; rechtlich gehören sie eindeutig in den Bereich des Allgemeinen Verwaltungsrechts. c) Dieses Verwaltungswohlwollen ist mehr und ein aliud gegenüber jener Bürgernähe, welche in der Demokratie vor allem der Verwaltung aufgegeben ist, nicht eigentlich dem Richter; er findet sie bereits in der eindeutigen gesetzlich präzisierten Nähe zum Einzelfall. Die allgemeine Bürgernähe, eine Verwaltungsorganisation, welche den Bürger zu Wort kommen läßt, möglichst "nahe bei ihm" entscheidet, in jedem Sinne des Wortes all dies ist zweifellos eine entscheidende Voraussetzung für die Effektivität der Bitte um Wohlwollen. Das rechtliche Gehör, welches der Verwaltung gegenüber heute gewährt ist, was geradezu ein entscheidender Gewinn an Bürgernähe angesehen wird, ist zugleich verfahrensmäßige Erleichterung des Bittens um Verwaltungswohlwollen, wie es dem Bürger damit in vielen Fällen nahe gelegt wird. Doch dieses Werben um Staatsgunst ist letztlich doch etwas anderes: Es geht nicht nur um die sachliche, es geht um die günstige Entscheidung, und gerade diese zu erstreben, ist das gute Recht des Bürgers in der Demokratie, der eben seine Interessen in erster Linie verfolgen darf, seien es nun zugleich die des Staates oder auch nicht. Das Prinzip der Bürgernähe der Verwaltung kann an sich ohne weiteres normorientiert bleiben, nur eine Verfeinerung und Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit bringen; Verwaltungswohlwollen erstrebt die günstige Entscheidung, wenn sie nur irgendwie möglich ist, aus der großen Souveränität des Staates heraus, und gerade dann, wenn darauf kein Anspruch besteht, wenn Verwaltungswohlwollen aber letztlich zum Verwaltungsgeschenk wird. Dennoch: Bürgernähe, die heutige Grundnorm des Verwaltungshandeins, ist ein entscheidender Schritt in Richtung auf Machtgeschenke des Staates, welche auf solche Weise leichter verteilt werden können und verteilt werden, bis hin zu versteckter Korruption. Und Bürgernähe . ist eben zugleich auch ein rechtlicher Verschleierungsbegriff, für das, was in ihrem Namen dann geschehen kann, vielleicht sogar rechtlich, "gerade noch", sich legitimieren läßt: ein Wohlwollen im Einzelfall oder gegenüber ganzen verbandlich organisierten Kategorien von Gewaltunterworfenen.
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d) Nach allgemeinem Verwaltungsrecht gilt der Grundsatz des in dubio nicht zugunsten des Bürgers gegenüber den Administrativorganen. Ihr Verhalten bringt eben keine Bestrafung, und der Primat eines Amtsermittlungsgrundsatzes soll damit nicht gebrochen werden, der letztlich nicht auf Wohlwollen, sondern auf strenge Gesetzesbindung gerichtet ist. Andererseits aber schließt dieses strikte Amtsermittlungsverfahren "wohlwollende Behandlung" keineswegs aus, es zeigt sich sogar, wiederum, als eine Voraussetzung zu seiner Gewährung, wenn nicht als ein Verfahren zu seinem Erweis: Die Verwaltungsorgane haben eben gleichermaßen die Interessen der Gemeinschaft und der Betroffenen zu recherchieren, und gerade eine Objektivität, welche ihnen ein in "dubio pro letztere" nicht erlaubt, verleiht ihnen auch andererseits wieder die Freiheit, alles für sie Günstige beizubringen, obwohl sie eigentlich die "Partei Staat" vertreten. Im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes ist den Staatsorganen derartige Handlungsfreiheit gewährt, daß sich gerade hier das Wohlwollen nur zu oft und kaum mehr kontrollierbar bewährt. Entscheidend ist dabei die Unbestimmtheit der Direktiven, welche das Verwaltungsverfahrensrecht den Staatsorganen gibt: Praktisch können sie eben das Entscheidungsmaterial in weitestgehender Ungebundenheit sammeln, das Gericht wird dies später nur in engen Grenzen in erster Instanz, später kaum mehr überprüfen, allenfalls noch randkorrigieren. Diese so streng wirkende Amtsermittlung ist also keine Grundentscheidung gegen Verwaltungswohlwollen, eher dessen Ermöglichung; und immerhin schließt sie ja die bekannten Vorbehaltsfloskeln nicht aus, mit denen die Betroffenen um das Wohlwollen bitten, "wenn und soweit es möglich ist". e) Der oft zitierte, nie überzeugend begründete Grundsatz, daß "der Staat nichts zu verschenken habe", mag in gewissen Bereichen, vor allem des Finanz- und Abgabenrechts gelten, und sogar dort findet man ihn häufig durchlöchert. Der Sozialstaat als solcher kann, angesichts des gigantischen Ausmaßes seiner Leistungen als allmächtige Transfermaschine, ein solches Prinzip allenfalls noch verbal anerkennen. Im Verwaltungsbereich ganz allgemein jedoch wird ein derartiges Geschenkverbot täglich unzählige Male gebrochen, und nicht nur dort wo "an Normen vorbei Wohlwollen bewiesen" wird. Stets geschieht dies dann eben im Namen eines öffentlichen Interesses, welches, nur zu oft wie zufällig, mit der Interessenlage des Bürgers zusammenfällt. Wenn dieser um das Wohlwollen jener Verwaltung bittet, welche aus dem öffentlichen Interesse heraus seine Interessen begünstigen kann, im Namen eines praktisch kaum nachprüfbaren Beurteilungsspielraumes, so wird das Verwaltungswohlwollen eben zum Ausdruck der Entscheidung, daß der günstigen Beurteilung das öffentliche Interesse nicht entgegenstehe; niemand verbietet es aber dann dem Verwaltenden, das pri-
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vate Interesse zu befördern, und sei es in Fonn eines wirklichen Staatsgeschenkes. Eines hat eben der demokratische Staat doch zu verschenken, so scheint es - Verwaltungswohlwollen. f) Wer um Wohlwollen bittet, spricht Menschen an, nicht Apparate, Organisationen. Wird ein solches Anliegen,. ausdrücklich oder einschlußweise, der Verwaltung vorgetragen, und richte es sich auch an anonyme oder unbekannte Organträger, so liegt darin immer ein Durchgriff durch die bürokratische Organisation auf den einzelnen verwaltenden Bürger, auf den "Bürger in Verwaltungsunifonn". Die Organisation als solche kann Wohlwollen schwerlich ausstrahlen, sie ist sich selbst bereits Nonn, kann letztlich nur Nonnen verarbeiten und überhaupt kennen. In der Bitte um Wohlwollen findet jedoch ein Anruf statt an jene Humanität des Verwaltens, welche aus menschlicher, ethischer Verantwortung des Einzelnen kommt. Ihr mögen im Rechtsstaat die Gesetze Schranken ziehen, ihr Wesen dürfen sie, so scheint es doch, nicht verletzen, diese Verwaltungsethik nicht letztlich zerstören. Wollte man das Wohlwollen aus dem Verwaltungshandeln eliminieren, nie könnte man mehr eine Verwaltung moralisieren, worauf aber doch die gesetzesdurchsetzende Kontrolle im Rechtsstaat gerichtet ist. Wohlwollen ist eine Kategorie, die das Verhältnis zwischen Menschen anspricht, sich aus ihrem Gespräch in Sympathie entwickelt - oder nicht. Im privaten Bereich fließt dies, über die. recht allgemeinen, wenn nicht ungenauen Vertragsverpflichtungen zur gegenseitigen Rücksichtnahme, durchaus ins Recht ein. Im Grunde wird von den Vertragspartnern etwas verlangt wie gegenseitiges Wohlwollen. Warum sollte dies in einer Beziehung zur Verwaltung nicht gelten, die heute immer mehr als Public Private Partnership gewünscht wird?
Der Durchgriff durch die Verwaltung auf den Verwaltenden, damit die Überwindung der Bürokratie - eben dies alles läßt sich zusammenfassen in der Bitte um Verwaltungswohlwollen, als Ausdruck der Staatsgüte, dieser Grundsatz mag dann, und sei es auch nur als ein solcher des Verwaltungsverfahrens, durchaus dem Allgemeinen Verwaltungsrecht zugerechnet werden. g) Die Bitte um Wohlwollen wird in vielen Fällen nichts anderes sein als eine Höflichkeitsfloskel, mit welcher der Bittende eine ihm günstige menschliche Entscheidungs-Grundstimmung schaffen will; und daß dies für die Verwaltungs tätigkeit von entscheidender Bedeutung sein kann, ist, einer immer noch weithin unkontrollierbar souverän agierenden Instanz gegenüber, eine Selbstverständlichkeit. Wesentlich ist dabei aber, daß damit das gesamte Bürger-Staatverhältnis in die Dimension eines Bittens gestellt wird, nicht eines nonnativ begründeten Forderns. Das Gesamtverhältnis zur
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Administration ist dann, sehr weithin und trotz vieler Kritik am heutigen "Forderungsbürger", von Wohlwollen geprägt, von Bitten, nicht vom Fordern, vom Schenken, nicht von Normen. Man mag dies als ein Relikt aus obrigkeitsstaatlicher Hochachtung vor der "vorgesetzten" Verwaltung sehen und bekämpfen, der man sich Jahrhunderte lang auf solche Weise empfahl - eben weil sie die eigentliche Staatsgewalt repräsentierte, der gegenüber ein Bürger letztlich nie wirklich ein Gleicher sein kann: Entweder er steht über ihr, im Namen der auch von ihm als Teil des Volkssouveräns beschlossenen Gesetze - oder er steht unter ihr, dann bittet er um ihr Wohlwollen. Damit aber empfiehlt er sich eben letztlich doch nur einem: der persönlichen Güte der Herrschenden. Darin wird jedoch Herrschaft nicht abgebaut, sondern gesteigert, in den neuen Formen der Staats güte.
2. Vom gütegeneigten Ermessen Im Raum des eigentlichen Ermessens endet die Gesetzesbindung der Verwaltung, Ermessen ist die offene Flanke des Rechtsstaats. Mit seinen Normkategorien ist sie nicht, jedenfalls nicht voll abzuschirmen. Könnte dies bedeuten, daß sie, zum Teil jedenfalls, in einem anderen Koordinatensystem steht, dem einer schenkenden Staatsgüte? Dafür sprechen Grundstrukturen jenes Ermessens, welche die Dogmatik des öffentlichen Rechts weniger aus der normativen Rechtsstaatlichkeit heraus als vielmehr im Gegensatz zu ihr entwickelt hat: a) Wohlwollen und darin Güte werden primär im Staat bewiesen, im Raum des Verwaltungsermessens. Ist es nicht auch deshalb, vielleicht sogar vor allem dazu eingeräumt, um ein derartiges allgemein-unbestimmtes Favor-Prinzip noch zum Tragen zu bringen, wo immer dies die Normen gestatten, es im Zweifel sogar durchschlagen zu lassen im Einzelfall? Herrschend ist demgegenüber gewiß die Vorstellung, Ermessen solle nur gewährt werden im Raum des Unnormierbaren, dort, wo der allgemeine Gesetzesbefehl vor der Vielfalt der Wirklichkeit die Waffen streckt. Doch in der Praxis sind dies zugleich fast immer Bereiche, in denen die Entscheidung im Zweifel für den Bürger fällt. Der Rechtsstaat gerade orientiert in diesem Sinn eine Verwaltung, welche denn auch eine ungünstige, nicht wohlwollende Entscheidung, so will es diese selbe Praxis, eingehend begründen muß - ein Beweis, daß hier zu entscheiden ist in dubio pro cive. Ermessen bedeutet ja auch, das Wort bereits sagt es, Messen im Sinne eines Abschätzens. Hier gilt es, Unsicherheiten aus- und einzugrenzen, wenn sie denn bleiben, nach aller Normanwendung; und diese Räume sind dann auszufüllen, in der Praxis eines in dubio pro Libertate-Staates, eben zugunsten des Gewaltunterworfenen. Aus der Sicht des Rechtsstaates wird ihm darin eben doch ein "Geschenk" gemacht, etwas geboten, worauf er einen
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Anspruch nicht haben soll; andernfalls würde das Gesetz ihm einen solchen einräumen. Man mag also den Favor civis vielleicht noch nicht als Wesen der Ermessensentscheidung akzeptieren, ihr Geschenkcharakter kann nicht zweifelhaft sein, damit aber eine deutliche Annäherung zur Staatsgüte. b) Doch auch für den grundsätzlich günstigen, den gerade in dieser Geschenkhaftigkeit gütigen Charakter jeder Ermessensentscheidung spricht Entscheidendes und bereits deren überall in Praxis entfaltetes Wesen: Die Ausübung eines Ermessens zur Ungüte, in Richtung gegen den Bürger und seine Freiheit, ist begrifflich nicht vorstellbar. Ermessen bedeutet Freiheit der staatlichen Entscheidung. In diesem Freiheitsbegriff liegt aber, wo immer er im Öffentlichen Recht eingesetzt wird, stets eine wesentliche Antithese zur Strenge, welche diese seI be Freiheit begrenzt. Bedeutet nicht Freiheit weit mehr ein Geben- als ein Versagen-Dürfen? Ist Freiheit nicht dort ganz groß, unproblematisch in der Welt der Grundrechte, wo nicht ihre die Freiheiten anderer beschränkende, sondern durch Förderung erweiternde Macht im Vordergrund steht, sollte dies nicht mutatis mutandis auch für die Ermessensfreiheit des Staates gelten? Dogmatisch mögen diese Folgerungen nicht voll gesichert sein, praktisch gilt im Staat der Freiheit, daß diese Freiheit dort jedenfalls unproblematisch ist, wo Staatsgewalt mit dem Gesetz nicht zusammenstößt, wo sie schenkt und fördert, wo sie nicht beschränkt und verfolgt. Darin liegt gewiß und zumindest ein Zug zur Güte. c) Ermessen bedeutet die Verwaltungsmacht im Einzelfall, die Norm für das Unnormierbare, letzte Lückenfüllung des Rechts durch eine Exekutive, welche hier nun wirklich entscheiden soll nach einem Gesetz, das sie selbst aufstellt, so wie sie annimmt, der Gesetzgeber hätte es erlassen. Hier liegt die Verbindung zwischen Ermessensausübung und einer Lückenfüllung nach der berühmten Formel des Schweizer Zivilgesetzbuches. Was aber ist dieses "Unnormierbare" - in den meisten Fällen sind es die tatsächlichen Bedürfnislagen, denen die Verwaltung Rechnung tragen muß, und darin gewinnt das Ermessen den Anschluß an die Kategorie einer Bedürfnisbefriedigung, welche als für alle Staatsgüte wesentlich bereits erkannt wurde. Daß die Verwaltung hier in aller Regel auf Antrag nur tätig wird, oder im Rahmen eines solchen, mag sie noch von einer "vollen Güte" unterscheiden, welche Bedürfnisse aufspürt, um sie dann zu befriedigen. Doch die Güteneigung dieser Macht des Unnormierbaren tritt in den neueren Entwicklungen der Sozialstaatlichkeit überall deutlich hervor: Ermessen wird doch zuallererst, wenn nicht bereits im Regelfall, dort gebraucht, wo Schwächerenschutz eine bestimmte, günstige Lösung nahe legt. Was die Sozialstaatlichkeit an Anspruchsgrundlagen nicht hergibt, darf die Verwaltung in ihrem Namen, im eigenen Ermessensraum gewähren. Das Ermessen mag generell zum großen Transformator von nicht-forderungsbewehrten
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Staatsgrundprinzipien immer mehr werden, zuallererst aber wird hier doch in der Praxis eine Sozialstaatlichkeit zur Normenenerfüllung eingesetzt, deren tieferer Zug nur einer sein kann: zur schwächeren schützenden Staatsgüte. d) Im Rechtsstaat definiert sich Ermessen aus seiner gerichtlichen Unnachprüfbarkeit - eben weil hier das Unnormierbare erfaßt werden soll, die handelnde Staatsgewalt und die gesetzesunterworfen-kontrollierende der Gerichte jedenfalls auseinanderfallen. Da ist also das Ende des NormenStaates erreicht, der nur rechtliche Ansprüche kennt, kein freies Helfen. Die Gerichtsbarkeit darf aber dieses letztere hier auch nicht behindern, wenn die Verwaltung Geschenke macht im Namen der Staatsgüte. Mit richterlicher Unabhängigkeit ausgestattete Rechnungsprüfung mag dies schließlich beanstanden, doch sie erreicht nicht mehr als den politischen Raum der Parlamente, im Ermessensbereich gewährte Staatsgüte bleibt Politicum, nicht Rechtsanwendung. Gerichtliche Unnachprüfbarkeit des Ermessens in Verbindung mit den Grundsätzen der Rechnungsprüfung - diese so "technisch" erscheinende Konstellation ist letztlich ein Freiraum der Staatsgüte. e) Ein Hauptproblem der Lehre vom Ermessen ist dessen "Reduktion auf Null" durch Selbstbindung der Verwaltung, welche hier den Normenstaat fortdenkt und perfektioniert. Doch auch dieses Phänomen spricht nicht gegen die enge Verbindung von Staatsgüte und Verwaltungsermessen. Die Selbstverengung des Ermessens durch die Verwaltung ist meist nur Ausdruck einer technischen Verwaltungserleichterung, welche im Grunde sogar noch über das hinausgeht, wozu der Gesetzgeber Ermessen eingeräumt hatte: Die Verwaltung setzt sich ganz offen an die Stelle des Gesetzgebers, sie beweist, daß dort eben doch kein unnormierbarer Bereich ist; und dies mag für die zunehmend geforderte Außenwirkung der Verwaltungsvorschriften sprechen, welche nichts sind als verkappte Rechtsverordnungen, denen die gesetzliche Grundlage fehlt. Was hier wirkt, ist der bequeme Staat der sich alles Verwalten erleichternden Bürokratie, der sich keine Gedanken mehr machen muß um den Einzelfall, auch nicht um Sinnerfüllungen oder gar die Überholung von Normen in helfender Güte. Denn diese Güte ist hier, wie überhaupt, nicht etwas Leichtes, Bequemes, sie bleibt unbequem wie alle christliche Karitas, nicht zuletzt darin, daß sie sich ihrer Macht, oft auch ihrer Mittel, auch entäußern muß. So wendet sich denn die Ermessensreduktion auf Null gewiß gegen eine Einzelfall- und darin wesentlich gütegeneigte Ermessensausübung, doch letztlich nur deshalb, weil sie das Ermessen eliminiert; daraus folgt, daß diese Diskretionalität des Verwaltungshandelns ihrem Wesen nach normfern ist und bleibt, damit aber wesentlich der Staatsgüte geöffnet. f) Ermessen ist ein teleologisch orientierter Begriff. Hier muß zielgerichtet stets gehandelt werden, Gesetzeszwecke werden zu inneren Ermessens-
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grenzen. In einer Zeit, welche wenig hält von Gesetzespräambeln, sind jedoch Sinn und Zweck einer nonnativen Regelung nur zu oft schwer bestimmbar, nicht selten bleiben sie insgesamt offen, das Gesetz verliert sich in Einzelbefehlen, welche das Ennessen kaum mehr zu orientieren vermögen. Diese selbe Unbestimmheit der Gesetzesteleologie begünstigt jedoch in vielen Fällen den Einsatz von Kategorien, welche der Staatsgüte zuzuordnen sind oder doch zu ihr führen: Wenn der Gesetzeszweck es nicht verbietet, so darf doch - im Zweifel - geholfen, ja geschenkt werden, und was von diesen Verhaltensweisen ließe sich nicht auf irgendeinen jener so unbestimmten Zwecke hin orientieren? Da es nun aber einen Gegensatz zwischen diesen inneren, orientierenden, und den äußeren, den festen nonnativen Ennessenschranken nicht wirklich gibt, beide Schrankenkomplexe vielmehr in einem Kompensationsverhältnis zueinander zu sehen sind, vennag eben diese Unbestimmheit der Ennessensteleologie auch die nonnativen Ennessenschranken im Ergebnis zu erweitern, neue "Öffnungen zur Staatsgüte" zu schaffen. Im übrigen müssen gerade solche Gesetzesziele, welche im Ennessen und letztlich nur in ihm rechtliche Bedeutung erlangen, nach neuerern Sprachgebrauch "angenommen" werden, von der sie verfolgenden Verwaltung und letztlich auch vom Bürger, der sie in Partnerschaft mit der Administration verwirklicht. Dieses Annehmen, diese gestaltende Verwirklichung, welche im modernen Verwaltungsstaat besonders wichtig ist, deutet jedoch bereits auf ein Geben hin, das der Gesetzgeber gegenüber der Verwaltung vollzieht, diese gegenüber dem Bürger fortsetzt. Meint hier aber Annahme nicht etwas wie ein Geschenk, und warum sollte darin nicht Staatsgüte wirken? Welche dogmatischen Probleme immer man also in der Lehre vom Ennessen näher betrachtet - von ihnen allen aus führt ein Weg zu einem freien Gewähren, in dem nichts anderes wirken kann, so scheint es doch, als Staatsgüte. g) Wenn in Güte geschenkt wird, so bringt dieses Verhalten vor allem eines zum Ausdruck: Vertrauen. Der Staat der Güte erwartet von seinen Bürgern, daß sie seine fördernden Geschenke honorieren, in konkreter Tätigkeit oder in allgemeiner Staatstreue; davon war bereits oben die Rede, wie auch davon, daß hier von einer eigentlichen Gegenleistung nur in einem sehr weiten Sinne gesprochen werden kann, welcher der Güte ihren schenkenden Charakter letztlich doch beläßt. Vertrauen ist also eine Kategorie, welche die Güte begleitet, auch und vor allem die eines Staates, in welchem dieser Begriff einen Rechtsgrundsatz beinhaltet. Dies zeigt sich nun gerade in der gesetzgeberischen Praxis der Ennessenseinräumung und einer administrativen Übung, welche davon
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Gebrauch macht: In den meisten Fällen soll doch die Verwaltung im Rahmen ihres Ermessens vertrauen dürfen, selbst wenn an sich ein Verbot durchaus angebracht wäre. Nicht umsonst spielt daher das Ermessen gerade bei der Beurteilung der Zuverlässigkeit des Bürgers, etwa im Gewerberecht, eine entscheidende Rolle. Und dieses Vertrauen ist ein Geschenk, dessen sich der Begünstigte in der Zukunft würdig zu erweisen hat, durch gesetzestreues, vielleicht sogar ethisch erwünschtes Verhalten. Doch gerade das Ermessen zeigt, daß Vertrauen hier eine allgemeinere Bedeutung gewinnt: Dieser fördernde Vorschuß von Staatsgüte wird zuallererst vom souveränen Gesetzgeber der Verwaltung gewährt, Ermessen ist einfach Vertrauen; und wie könnte es einer Organisation geschenkt werden, nur deren Trägem, jenen Menschen, die zugleich auch allein Organe der Staatsgüte sein können - damit sie dies sein dürfen? So werden in diesem Vertrauen Kategorien personaler Güte sichtbar, ja verwaltungsrechtlich faßbar. So aber wie das kontrollierende Parlament der überwachten Administration gegenüber Vertrauen durch Einräumung eines Ermessens gewährt, so gibt diese, in den weitaus meisten Fällen, dieses selbe Vertrauen weiter an die verwalteten Bürger. In all dem zeigt sich also ein Doppeltes: Zum einen erweist sich Ermessen wirklich weithin geradezu als Synonym für ein Vertrauen, dessen besondere Nähe zur Staatsgüte, die es schenkt, nicht zweifelhaft sein kann. Andererseits aber ergibt sich daraus für dieses seI be Vertrauen, daß es nicht eine Einbahnstraße ist, vom Bürger zum Staat, als welche es im Verfassungsgrundsatz des Vertrauenschutzes weithin aufgefaßt wird; vielmehr gibt es auch die Umkehr, das Vertrauen des Staates in seine Gewaltunterworfenen, welches vor allem im Ermessen geschenkt wird. Vertrauen zeigt sich also insgesamt als eine Grundkategorie des öffentlich-rechtlichen Austausches, die eigenen Kategorien folgt, denen einer sehr globalen Vorleistung, einer auch nur entfernten Erwartung - und in all dem liegt viel von einem echten Geschenk. Dann allerdings wäre Vertrauen nicht nur Ausdruck staatsgewendeter Grundfreiheiten des Bürgers, sondern eine echte Staatsgrundsatznorm. Das Ergebnis dieses Kapitels ist also doch eine These, die immerhin viel für sich hat: Ermessen ist ein Raum der Güte.
3. Begünstigende Verwaltungsakte: Normative Sonderregelung für "Verwaltungsgeschenke"
a) Normativer Mittelpunkt der Rechtsstaatlichkeit ist das Allgemeine Verwaltungsrecht, in seinem Zentrum wiederum die Normen über den Verwaltungsakt. Eine Unterteilung von fundamentaler Bedeutung ist hier die
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zwischen belastenden und begünstigenden Verwaltungsentscheidungen. Bei der oft allzu leicht hingeworfenen Erwähnung eines Staates, "der nichts verschenken" dürfe, wird, soweit ersichtlich, auf diese Grundsatzentscheidung, die wohl sogar verfassungsrechtlichen Charakter trägt, nicht näher eingegangen. Und doch ist sie Ausdruck gesetzlicher Überzeugung, daß der Staat "eher schenken darf als belasten". Denn die wohlbekannten Erleichterungen für die Verwaltung bei Erlaß und Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte, gegenüber belastenden Entscheidungen, deuten doch klar darauf hin, daß die Gemeinschaft weit eher den Bürger bevorzugen als ihn benachteiligen darf. Dies hatte schon zu jener Zeit gegolten, in welcher diese Grundregel noch eindeutig und ausschließlich aus dem Begriff der Rechtsstaatlichkeit abgeleitet worden war. Wenn nun in neuerer Zeit immer häufiger die Grundrechte als ihre Basis herangezogen werden, so gewinnt die Unterscheidung erst recht prinzipielle Notwendigkeit: Der begünstigende Staatsakt greift eben, ex definitione, nicht in den Schutzbereich der Freiheitsrechte ein, bei solchem Verhalten müssen der Staatsgewalt also nicht so enge Schranken gezogen werden wie bei belastenden Verwaltungsakten. Dabei mag hier zunächst noch das Problem ausgeklammert werden, ob nicht in vielen begünstigenden Verwaltungsakten zugleich belastende Wirkungen liegen, wenn etwa die Konkurrenzlage verschoben wird. Bei den "rein begünstigenden" Verwaltungsakten jedenfalls trifft das hier Festgestellte zu. Nun mag man allerdings darin noch nicht sogleich auch ein "reines Geschenk" sehen, sehr oft wird nur eine Normanwendung geleistet, die eben ausschließlich besser stellt als vorher, das Rechtsverhältnis zwischen Bürger und Verwaltung also zugunsten des ersteren verschiebt. Aber auch ein derartiges "Verwaltungsgeschenk", das keineswegs wesentlich oder in seinen Folgen sogleich monetarisiert abschätzbar sein mag, bleibt begrifflich, nach den hier aufgestellten Kategorien, eben doch ein "Geschenk der Macht"; denn es gibt in sehr vielen Fällen überhaupt keinen Anspruch darauf, allenfalls könnte ein solcher gerade noch aus dem Gleichheitssatz abgeleitet werden. Im Vorstehenden wurde aber bereits dargelegt, daß die Anwendung des Gleichheitssatzes zwar eine typisch demokratische Modifikation der Staatsgüte darstellt, zu dieser aber nicht unbedingt im Gegensatz stehen muß. Im übrigen ist unbestritten, daß bei begünstigenden Verwaltungsakten die Gleichheitsbindung jedenfalls ungleich weniger streng die Verwaltung verpflichtet als im Falle belastenden VerwaltungshandeIns. Allein schon die Existenz besonderer normativer Regelungen für belastende und begünstigende Verwaltungsakte zeigt also zumindest, daß der Staat privilegieren darf, solange er nicht diskriminiert; und beide Begriffe sind noch längst nicht deckungsgleich. b) Der wesentliche Unterschied zwischen der Ordnung der belastenden und der begünstigenden Verwaltungsakte hat verfassungsrechtliches Ge10 Leisner
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wicht, er betrifft, über die Gesetzesunterworfenheit der Verwaltung, den Rechtsstaat im Kern: Der belastende Verwaltungsakt, der sich als Eingriff definiert, bedarf der gesetzlichen Grundlage, nicht aber der begünstigende Verwaltungsakt. Im einzelnen mag dies umstritten sein, für gewisse Bereiche, etwa der Pressesubventionen, sogar die gesetzliche Grundlage auch hier gefordert werden; aber dies geschieht nur, soweit in der Begünstigung des einen zugleich die Belastung des anderen, des Konkurrenten, gesehen wird. An einem Grundprinzip des Allgemeinen Verwaltungsrechts ändert sich nichts: Für den rein begünstigenden Verwaltungsakt genügt jene haushaltsrechtliche Grundlage, welche der Verwaltung das Recht zum Erlaß gibt, ohne dem Bürger mit Außenwirkung einen Anspruch darauf zuzugestehen. Dieser fundamentale, wiederum finanzverfassungsrechtlich verankerte Grundsatz der Trennung von Lenkungsgesetzen und Leistungsgesetzen bedarf jedoch nun seinerseits in einem Rechtsstaat der Begründung. Kann sie wirklich nur darin gesehen werden, daß hier eine gewisse Machtverschiebung von der Ersten zur Zweiten Gewalt stattfinde, welche letztere hier in ihrer Gestaltungsfreiheit in besondere Rechte gesetzt werden soll? Gewiß mag darin etwas wie ein bleibender Domaine reserve in Erscheinung treten, als Relikt der einst umfassenden staatlichen Souveränität, welche der Exekutive - im heutigen Sinn - des Fürsten zukam. Doch die Vorstellung vom rein begünstigenden, überhaupt niemanden belastenden, weil nur schenkenden Verwaltungsakt ist, gerade im Steuerstaat, nicht nur wirklichheits-, sondern verfassungsfremd: Immerhin müssen doch die so verteilten Geschenk-Mittel irgendwie eingesammelt werden, und dies geschieht mit dem härtesten aller Zwänge, dem der verwaltungsaktIich belastenden Steuerbeitreibung. Ist der staatliche Haushalt wirklich ein großer Mechanismus der "Geldwäsche", in welchem wundersam die Ergebnisse zahlloser, schwerer Belastungen durch normative Eingriffe verwandelt werden in normbefreite Mittel? Die Analogie zu schweren Straftaten läge dann näher als es scheinen mag. Wenn der Grundsatz aber doch heißt "Schenken im Rahmen", "Belasten nur auf Grundlage" des Gesetzes, wenn darin eine normative Verfestigung großflächiger Begünstigungspraxis liegt, so kann dies nur mit einem begründet werden: Hier kann eben umgeschichtet werden vom eingreifenden in den schenkenden Staat, und dessen Macht darf sich ebenso im Eingriff wie im Geschenk bewähren, ja das Geschenk legitimiert sogar noch den mittelbeschaffenden Eingriff und bedarf doch nicht der gesetzlichen Grundlage. Dann aber steht fest, daß nach Grundentscheidungen demokratischer Staatlichkeit der Favor civis zwar etwas anderes ist gegenüber der eingreifenden Ordnungs gewalt als beim Staatsgeschenk, das aber neben jener selbstgewichtig steht und von der strengen Gesetzesbindung gelöst; es ist von dort nur mehr ein Schritt zur Erkenntnis, daß in der "Geschenkgrundlage Haushaltsgesetz" allgemein ein "verfassungsnormatives Regime der Staatsgeschenke" zum Ausdruck kommt - was
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aber wäre dies wiederum anderes als die Anerkennung einer Staatsgrundsatznorm Staatsgüte? Sie fande dann ihre Verankerung im Allgemeinen Verwaltungsrecht der Legalität ebenso wie im Finanzverfassungsrecht. c) Das früher ungeschriebene Allgemeine Verwaltungsrecht hatte bereits bei der Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte die Staatsmacht weit freier gestellt als bei ihren Eingriffen; die Verwaltungsverfahrensgesetze haben dies aufgenommen. Wenn es nun ein Ermessen, und in der Praxis sogar meist ein besonders weites gibt, in dessen Raum die Verwaltung begünstigende Verwaltungsakte zurücknehmen kann, aber nicht muß, selbst wenn sie sich als rechtswidrig herausstellen, so fragt es sich doch, ob darin nicht ein schwerwiegender Bruch der Legalität liegt. Gegen Normen verstoßen ja dann offensichtlich auch derartige begünstigende Verwaltungsakte, nur daß dies eben nicht zu ihrer Aufhebung führt; es geschieht also nichts anderes, als daß insoweit die normative Ordnung der gesetzmäßigen Verwaltung außer Kraft gesetzt, jedenfalls aber durchbrochen wird, werden kann. Daß hier aber wiederum vielfache Überlegungen aus einer oft reinen Staatsgüte in dieses selbe Ermessen einfließen, wurde im vorhergehenden Kapitel bereits deutlich. Hier zeigt sich also, daß die Rücknahmeregelung bei rein begünstigenden Verwaltungsakten nicht allein deshalb mehr an Ermessensfreiheit zugesteht als bei belastenden Verwaltungsakten, weil dort kein Kläger vorhanden und also auch kein kontrollierender Richter zu erwarten ist. Vielmehr steht dahinter ersichtlich die Grundentscheidung, daß der Staat eben doch etwas zu verschenken hat, verschenken darf - in Staatsgüte den rein begünstigenden Verwaltungsakt. d) Der Ermessensfreiheit des Staates zu solcher Begünstigung entspricht, auf der anderen Seite, das Fehlen jedes Rechtsanspruchs auf die Begünstigung. Hier zieht sich eben die normativierte Staatsgewalt mit ihren kontrollierenden Gerichten zurück. Es gibt auch keinen Grundsatz, daß im Zweifel wenigstens zu begünstigen wäre, so wie andererseits im Zweifel nicht eingegriffen werden darf. Die Freiheit des staatsgütehaften Helfens und Schenkens ist auch bei der verwaltungsaktlichen Tätigkeit der Verwaltung insoweit eine vollständige. Daß sie sich intern, staatsorganisatorisch, verantworten muß gegenüber dem die Mittel bereitstellenden Parlament, ist nur ein Minimum korrekter Staatsorganisation, welches der Staatseinheit Rechnung trägt. Denn schließlich ist es der Staat als solcher, die jeweilige Körperschaft des Öffentlichen Rechts, welche die gegenleistungsfreie Begünstigung gewährt, nicht etwa nur deren Exekutivgewalt. Auf diese Weise wird lediglich klargestellt, daß der Staat zwar schenken darf, daß er jedoch "stets ausdrücklich schenken soll", nicht in irgendeiner willkürlichen Verteilung, sondern in rational nachvollziehbar Güte; denn auch derartiges gibt es eben, ein letztes Willkürverbot muß selbst für die Staatsgüte gelten. Der verwal-
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tungsrechtliche Vertrag darf ja auch deshalb an die Stelle des Verwaltungsakts in gewissen Bereichen treten, weil es dort etwas frei zuzugestehen gibt, bis hin zum wirklichen normfreien Helfen. Der Verwaltungsakt im normfreien Raum - das ist eigentlich ein Widerspruch in sich in einem Rechtsstaat. Und doch bricht hier letztlich ein Gegenprinzip ein zur Normbindung: anspruchsfreies gewährendes Handeln. e) Der Raum für die verwaltungsaktliche Gewährung von Staatsgüte in rein begünstigendem Verwaltungshandeln ist deshalb oft so schwer genau auszuloten, weil nur zu oft in Verwaltungsakten belastende und begünstigende Elemente im Gemenge liegen. Dann aber kann von einem "reinen Verwaltungs geschenk" der Begünstigung doch wohl nicht gesprochen werden, wenn diese mit belastenden Auflagen verbunden ist. Liegt dann nicht immer noch etwas vor wie ein irgendwie doch belastender Normvollzug, mag auch der Benachteiligung eine Begünstigung gegenüber stehen? Die Entwicklung des Allgemeinen Verwaltungsrechts zeigt auch hier einen bedeutsamen Zug, der sich aus dem Begriff der Staatsgüte heraus deuten läßt: In zunehmendem Maße wird dabei nicht eine volle Einheit eines solchen teils belastenden teils begünstigenden Verwaltungsakts angenommen, vielmehr werden die belastenden Auflagen von begünstigenden Inhalt klar getrennt, sie allein sind auch gerichtlicher Kontrolle und Korrektur zugänglich. Nur für sie gelten dann die strengen Normbindungen der belastenden Verwaltungstätigkeit, während der begünstigende Verwaltungsakt nicht sogleich darauf kontrolliert werden muß, ob hier Staatsgüte bewiesen werden durfte. Dies zeigt, daß die bei den Regelungskomplexe belastender und begünstigender Verwaltungsakte grundSätzlich getrennt bleiben, daß Staatsstrenge, um es verkürzt auszudrücken, nicht durch Staatsgüte ohne weiteres kompensiert werden darf. Darin liegt wiederum die Entscheidung, daß normfreie Begünstigung durch Staatshandeln als etwas Selbständiges aufgefaßt wird, das anderen Gesetzen gehorcht als der Staatseingriff, mit diesem also nicht frei "verrechnet" werden darf. Es ist daher in solchen Fällen nicht so, daß überall streng eingriffsbeschränkende Legalitätsnormen herrschen, vielmehr tritt die frei gewährende Staatsmacht selbständig neben die ordnendeingreifende Gewalt der Gemeinschaft. "Güte unter Auflage" wird damit nicht als solche zum normgebundenen Eingriff, sie darf weiter ihren eigenen nicht Gesetzen gehorchen, sondern Prämissen folgen, denen der Staatsgüte. Hilfe unter Auflagen denaturiert daher das Verwaltungshandeln nicht zum Eingriff, ganz im Gegenteil ist die beschränkende Auflage eher eng auszulegen, als eine Marginalie der Verwaltungsgeschenke. f) Diese Überlegungen zum Ausnahmecharakter von beschwerenden Auflagen, welche mit begünstigenden Verwaltungsakten verbunden sind, lassen
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sich noch in einem anderen Sinn in Richtung auf eine Verwaltung als Organ des "gütigen Staates" vertiefen. Nach allgemeiner Auslegungslehre sind Ausnahmen zwar grundsätzlich eng auszulegen. Kommt es jedoch zu staatlicher Begünstigung auf die Weise, daß Ausnahme von einem Verbot gewährt werden soll, so ist nach heutigem Grundrechtsverständnis davon auszugehen, daß dieses Entgegenkommen eher weit auszulegen ist; denn hier entfaltet sich die freiheitsgewährende Kraft der Grundrechte, mag man sie nun in einem in dubio pro Libertate sehen oder anders begründen. Immer dort also, wo ein Verwaltungsakt nicht das belastende Gesetz vollzieht, sondern eine Ausnahme zuläßt, welche das Gesetz vorsieht, muß letztlich doch zugunsten des Bürgers entschieden werden, der Ausnahmecharakter also zur Erweiterung der begünstigenden Verwaltungsakt-Entscheidung führen. Dies läßt sich nun vielleicht sogar zu einem Grundsatz hochrechnen, der hinausläuft auf ein "im Zweifel für Staatsgüte" , wenn nämlich die Ausnahme etwa als rein begünstigender Verwaltungsakt gewertet wird. Nicht nur in der Leistung, auf welche kein Rechtsanspruch besteht, kommt dann der gütige Staat zum Ausdruck, sondern auch darin, daß er von seinen Verboten Ausnahmen zuläßt und geradezu normativ gebietet, daß diese weit, zugunsten des Bürgers, ausgelegt werden. Liegt nicht auch darin etwas wie ein "Verwaltungsgeschenk"? Möglicherweise sind auf diese Konstellationen des Verwaltungshandelns jene Grundsätze anzuwenden, welche vorstehend für den begünstigenden Verwaltungsakt entwickelt wurden, so daß auf diese Weise gewissermaßen die Staatsgüte in die Eingriffsstaatlichkeit hinein sich zu entwickeln scheint. Die Regelungen des Allgemeinen Verwaltungsrechts über die Verwaltungsakte gelten gemeinhin als besonders strenger Ausdruck der Gesetzesbindung der Verwaltung. Bei näherem Zusehen, das hat sich hier ergeben, steht hinter ihnen jedoch, gerade hinter ihren begrenzenden Wirkungen, eine "Im-Zweifel-Güte", im Zweifel ein Geschenk. Gewiß bedeutet dies nun nicht, daß die Einräumung oder Belassung eines Freiheitsraumes des Bürgers als solche Ausdruck des Verhaltens eines gütigen Staates wäre, der Bürger hat ja darauf ein grundrechtsverbürgtes Recht. Doch daß sich der eingreifende Staat im Zweifel eher weiter noch zurückziehen soll, als das Gesetz es vorsieht, eröffnet dem Staat jedenfalls dort einen Raum von Verwaltungsgüte, wo er auf Auflagen verzichtet, welche er einem wirklichen Staatsgeschenk der Verwaltung hinzufügt. Auf diese Weise wirkt dann die Freiheitsvermutung zugunsten des Bürgers im Ergebnis oft als eine ganz allgemeine, geradezu implizite Erweiterung des Raumes helfender Staatsgüte, in einer eigentümlichen Verbindung von Legalität und Verwaltungsgeschenk. Es ist, als minimierte die Verfassungsordnung die Schranken, welche ihre Gesetze dem gütigen Staat ziehen. Und dem ist eine größere Zukunft gewiß: Immer mehr wird es nicht darum gehen, wie weit der Staat
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eingreifen darf, sondern wie weit er Hilfe gewähren sollte, die Gesetzesbindung also zurücktritt vor der Staatsgüte. In der Vergangenheit ging der Kampf um den belastenden Verwaltungsakt, den die Legalität bändigen sollte. Vielleicht gehört die Zukunft der Problematik eines begünstigenden Verwaltungsaktes und den Schranken seiner Auflagen. Damit aber bewegt sich die Verwaltung aus der Konstellation der ordnenden in die der gewährenden, schenkenden Macht hinein.
4. Verhältnismäßigkeit (Zumutbarkeit), Härteregelungen Raum für Staatsgüte a) Die Verhältnismäßigkeit hat sich zu einem obersten Prinzip des Staatshandelns entwickelt, zu einem Verfassungsgrundsatz von einer Allgemeinheit, welche heute wohl die aller anderen Prinzipien übertrifft. Sie hat normativen Charakter, wirkt aber wesentlich normabschwächend. Entwickelt aus dem normativen Eingriffsrecht par excellence, dem Polizeirecht, hat sie sich entfaltet zu einer allgemeinen Gesetzes-Grenze: alle Normen des Rechtsstaats stehen unter dem Vorbehalt dieser Verhältnismäßigkeit. In ihr liegen, was schon bei einer Betrachtung des Abwägungsstaates deutlich wurde, zwei letztlich völlig verschiedenartige Grundentscheidungen: Kein Eingriff der Staatsgewalt ist zulässig, wenn es eine mildere Problemlösung gibt (Erforderlichkeit); selbst wenn ein Eingriff an dieser Zulässigkeitshürde nicht scheitert, muß stets und zusätzlich noch geprüft werden, ob er dem Bürger nicht mehr an Nachteilen, insbesondere an Freiheitsverlust bringt als dem Staat, der Allgemeinheit an öffentlichem-InteresseGewinn. Diese letztere Abwägung mag schwierig, grundsätzlich-rational kaum nachvollziehbar sein - Gleichgewichtigkeit und Gleichartigkeit von öffentlichen und privaten Interessen, von Gesetz und Freiheitsraum sind ein Axiom der Rechtsstaatlichkeit. In all dem liegt, auf den ersten Blick, zwar nichts anderes als eine typische allerallgemeinste Regelung des staatlichen Eingriffsrechts, dessen Begrenzung, nicht aber ein Bereich, in welchem sich normfreie Staatsgüte in Staatsgeschenken entfalten könnte. Dennoch muß diese Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, die Zumutbarkeit, auch im Zusammenhang mit der Staatsgüte näher betrachtet werden. Denn schon die tägliche Praxis der Verwaltung, welche Verhältnismäßigkeit als Prinzip des Allgemeinen Verwaltungsrechts zugrunde legt, das ins Verfassungsrecht hinaufgewachsen ist und von dort zu ihr zurückkommt, zeigt deutlich Züge, welche dem hier untersuchten Phänomen des gütigen Staates nahe kommen, wenn nicht zuzuordnen sind: Im Namen dieser Zumutbarkeit werden in der praktischen Gesetzeshandhabung ohne Unterlaß Zugeständnisse dem Bürger gemacht,
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welche dieser im Ergebnis als Ausdruck normabschwächender Milde, ja nur zu oft als wirkliches Staatsgeschenk auffassen muß. Wird ein umweltschützendes Gebot eingeschränkt oder gar aufgehoben, weil es dem Grundeigentümer allzuviel an Belastung bringt, den Nutzen aus seinem Gut überwiegend oder vollständig wieder aufhebt - während sein Nachbar, in einer anderen tatsächlich-ökonomischen Lage die volle Strenge des Gesetzes hinzunehmen hat - so wird jenes rechtsstaatliche Verhalten der Verwaltung von beiden Adressaten als Ausdruck staatlichen Entgegenkommens gewertet; und nur selten wird sich der eine wie der andere davon überzeugen lassen, daß dies Ausdruck strikten Rechts und nicht behördlichen Wohlwollens ist. Die Übergänge zu letzterem bleiben auf jeden Fall in der Praxis in aller Regel fließend, und meist, wenn der Vergleichsfall nicht ganz nahe liegt, gibt es ja auch niemanden, der sich darauf berufen oder gar dagegen klagen könnte - also auch keinen kontrollierenden Richter. Dann aber ist der Raum erreicht, welcher dem gütigen Staat geöffnet erschien. b) Diese Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne der Zumutbarkeit weist auch in einem entwicklungsgeschichtlichen Sinn eine besondere Nähe zur Staatsgüte auf. Diese hat sich aus der strengen Eingriffs-Legalität heraus entwickelt, als deren dienende Fortsetzung, ihre Korrektur und vielleicht schon Überhöhung in einem neuen Staatsverständnis. Eben dies ist eindeutig auch etwas wie ein Entwicklungsgesetz der Zumutbarkeit: Sie ist gewissermaßen das letzte Kind der Rechtsstaatlichkeit, historisch wie dogmatisch eine äußerste Legalitätsschranke der normativ begründeten Eingriffe. Dann aber spricht, schon allgemein entwicklungsgeschichtlich, vieles dafür, daß sich gerade darin grundsätzlich, und nicht nur in täglicher Praxis, ein Entfaltungsraum öffnet für jene Staatsgüte, welche ja ebenfalls erst in den letzten Jahrzehnten als solche bewußt zu werden beginnt. Diese Verhältnismäßigkeit kommt aus einer vertiefenden Bewußtwerdung der Freiheitsrechte und ihrer Dogmatik, sie hat von zentralen Freiheitsrechten ihren Ausgang genommen und durchdringt nun zunehmend auch alle anderen Grundrechte. Wenn etwas Richtiges ist an der so oft übersteigerten "Wandlungsdogmatik", so das Empfinden - weit mehr als die Erkenntnis - daß hier ein neues Koordinatensystem der gesamten Rechtsstaatlichkeit, vor allem der Verwaltungstätigkeit entsteht. Dann aber sollte vielleicht diese Zumutbarkeit nicht als "noch eine" Schranke der Gesetzesanwendung verstanden werden, sondern vielmehr als ein Raum, in welchem ein anderes Prinzip, das der helfenden Macht des Staates, neben die Macht der Gesetze tritt. Dies könnte dann sogar Untersuchungen der nächsten Jahrzehnte orientieren: Immer wenn neue, allgemeine Verwaltungsprinzipien aufkommen, in der Verfassung aufgehängt werden, müssen sie darauf untersucht werden, ob in ihnen nicht neue Staatsgrundprinzipien ihren Ausdruck finden, welche sich dann auch induktiv aufbauen lassen, so wie vielleicht hier im Falle der Staatsgüte.
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c) Nun läßt sich allerdings einwenden, dieser Grundsatz der Zumutbarkeit, welcher in der Verwaltung stärker ausgeprägt ist als in Gerichtsentscheidungen, die striktem Gesetzesrecht folgen, komme keineswegs aus Überlegungen zu einem neuen, gütigen Staat. Vielmehr gehe es hier um den Kernbereichsschutz der Freiheitsrechte, deren Wesenszentrum so eben unüberwindbar gesichert werde; dies orientiere doch die gesamte Abwägung, angewendet werde, im streitigen Verhältnis zwischen Macht und Bürger, ein Wertesystem, in welchem nichts geschenkt, sondern nur respektiert werde. Dann bliebe solche Staatszurückhaltung voll im Koordinatensystem der eingreifenden Legalität, hier hätte der Staat in der Tat nichts zu verschenken, sich nur in Achtung zurückzuziehen. Dies mag der Ausgangspunkt des "verhältnismäßigen Staates" sein. Doch gerade dort vollzieht sich auch der Umschlag in ein "ganz anderes Denken": Im Namen der Verhältnismäßigkeit "darf sich die Hoheitsgewalt in Güte zurückziehen", der Staat macht damit dem Bürger ein typisches Hoheitsgeschenk, er gibt ihm Verwaltungshilfe durch Nichteingreifen, befreit ihn von Gebots- und Verbotsnormen, mit der praktischen, meist so auch empfundenen Wirkung einer Begnadigung oder allgemeinerer Verwaltungsamnestie durch Verwaltungspraxis. Motiv für ein solches Verhalten ist gewiß nicht immer Menschlichkeit oder gar strenge Moral; doch die Wirkungen auf den Bürger sind häufig eben die von wahren Staatshilfen, ja er wird es als Ausdruck der Staatsmoral empfinden, daß er verschont wurde, mehr vom Gesetz als in dessen Namen. Da mag hinter solcher Verhältnismäßigkeit letztlich nur ein Rückzug vor der Wirklichkeit stehen, ein Ausdruck, eine Anwendung des ultra posse nemo tenetur. Doch gerade hier steht die Moral nicht im Gegensatz zur Realität, es ist ihr Gebot, diese zu respektieren. Jede Regung der Güte wird ja auch von der besonderen tatsächlichen Lage ausgehen, in der sich ihr "Objekt" befindet, jener Mensch, dem Hilfe zu gewähren ist. Der gleitende Übergang aus der Zumutbarkeit in das hoheitliche Staatsgeschenk ist daher vorgezeichnet. d) Praktisch wie dogmatisch zeigt sich dies in der Problematik der Grenzen der Zumutbarkeit. Sie wird als unbestimmter Rechtsbegriff verstanden. Doch in der täglichen Rechtsanwendung kommt hier kaum anderes zum Ausdruck als echtes Ermessen der Verwaltung, was bereits als Raum der Staatsgüte erkannt wurde. Der Begriff ist so allgemein, die Rechtsgüter und Werte, welche es hier zu achten gilt, werden von der Verfassung nur derart umrißhaft vorgegeben, daß der Praxis doch gar nichts anderes übrigbleibt, als sie in weithin freier Entscheidung nicht zu finden, sondern zu greifen. Wo der Vergleich nicht hilft, der so allgemeine Gleichheitssatz keinen Maßstab gewährt, da wird eben die Annahme der Unzumutbarkeit, der Rückzug der Normen, zur freien Staatsentscheidung, zum eindeutigen Hoheitsgeschenk, zum Ausdruck der Staatsgüte. Hier ist denn auch alles in ständiger
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Bewegung. Immer wieder wird die Verwaltung, wie zur Probe, etwas machen wie ein "Zumutbarkeitsgeschenk". Man mag dies als Ausdruck der (Nicht-) Eingriffsgewalt deuten, doch praktisch ruft eine solche Bevorzugung eben in der Regel keinen Kläger, also auch keinen Richter; dann aber kann offen bleiben, ob der Staat hier mehr entgegenkommt - oder nur nicht entgegentritt. Grenzen der Zumutbarkeit werden sich nie in dogmatischer Klarheit bestimmen lassen; mit jeder Steigerung des Verhältnismäßigkeitsdenkens muß daher jener Raum größer werden, in welchem Eingriffsdenken sich mit Staatsgüte verbindet, um schließlich in diese überzugehen. Und darin liegt sicher, die bisherige Entfaltung der Verhältnismäßigkeit zeigt es, eine bedeutsame Zukunft. e) Hier kommt übrigens eine eigenartige Struktur der Kategorie Zumutbarkeit zum Tragen: Einerseits verlangt sie den strengen Einzelfallbezug der Entscheidung, zum anderen erscheint aber ein ebenso klarer Globalbezug innerhalb eben dieser Einzelfallbetrachtung. Zumutbarkeit mag bereichsweise typisiert, sie kann aber nie durchgehend normativiert werden, weil sich ihre Grenzen, wie dargelegt, generell nie bestimmen lassen. Hier entwickelt vielmehr der Einzelfall seine eigene Gesetzlichkeit, vor ihr treten die Normen zurück. Dieser Rückzug des Gesetzes vor dem Fall vermag am Ende die Normstaatlichkeit in der Demokratie als solche zu verändern, den Allgemeinen Willen der Gesetze zum Einzelwillen der Verwaltung zu machen. Doch gerade darin öffnet sich diese Entwicklung der Staatsgüte: Sie bedeutet einen Rückzug der Normen gegenüber dem Einzelfall. Hier erhebt sich schon die Frage, ob es grundsätzlich-dogmatisch überhaupt etwas wie "Normen aus Einzelfällen" geben kann, oder gar Einzelfälle als Normen, ob nicht in der Isolierung auf den Einzelfall bereits eine metabasis eis allo genos liegt, von den Normen weg zur normfrei entscheidenden, damit aber gewährenden, helfenden, schenkenden - Staatsgüte. Stellt man sich auf den Boden einer solchen Auffassung, so wäre die Verhältnismäßigkeit im Sinne der Zumutbarkeit bereits nichts mehr anderes als Ausdruck der Staatsgüte, sie, welche eben, im letzten "Normfall", im Einzelfall entscheidet. Daß daneben, und damit verbunden, im Einzelfall wiederum ein Globalbezug hergestellt wird, in dem nun alle Facetten, sämtliche Interessen- und Bedürfnislagen dieses Falles berücksichtigt, in ihrer Kumulation erfaßt werden, steht einem solchen Ergebnis keineswegs entgegen, damit nähert sich eine so verstandene Zumutbarkeit nur noch mehr staatsgütigein Verhalten. Dieses muß ja, wie bereits vertiefend dargelegt, wesentlich auf die konkrete Bedürfnislage eingehen, Hilfe darf der Staat nur dort gewähren, wo sie insgesamt angezeigt ist. Für isolierende, typisch normorientierte Anwendung der Hoheitsgewalt, welche im wesentlichen Kumulationen nicht kennt
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- wie die Problematik der Häufung von Steuerbelastungen zeigt - ist hier kein Raum. Gefördert wird der einzelne Bürger, geholfen wird ihm als einem konkreten Subjekt, das durch all seine Bedürfnislagen charakterisiert, ja geradezu abgegrenzt wird. Das distinktive Denken ist die typisch normative Anwendungskategorie, während Staatshilfe gewährt wird in integrativer, alle Bedürfnislagen berücksichtigender Problemlösung - weshalb denn auch die Verwaltung hier weit mehr an Informationen verlangt und erhält als bei befehlend-normativem Eingreifen. In dieser Verbindung von Einzelfallbezug und globaler Berücksichtigung aller Bedürfnisse begegnen sich nun aber eindeutig Zumutbarkeit und Staatshilfe. Das Eigenartige daran ist, daß es das Normdenken selbst ist, das sich hier, gewissermaßen normativ, der Staatsgüte und ihrer bedürfnisorientierten Ausprägung öffnet; dieser wird ein "normativer Raum" erschlossen. Der Staat der Gesetze kann eben nur in deren Kategorien denken, etwas wesentlich Nicht-Normatives allein dadurch in seine Strukturen aufnehmen, daß er Räume einer Unbestimmtheit nicht nur beläßt, sondern sogar normativ eröffnet, in denen er dann als gütiger Staat wirken darf. Der oberste Verfassungsgrundsatz der Zumutbarkeit wird damit zu etwas wie einer Globaldelegation an die Staatsgüte, vor allem in der Verwaltung. Damit wird der Gegensatz zwischen dem helfenden und dem eingreifenden Staat eingeebnet, und es kann dann letztlich nur mehr darum gehen, auch der Staatsgüte Orientierungspunkte und vielleicht am Ende doch etwas wie Normen zur Verfügung zu stellen, was insbesondere in der Leistungsgleichheit ja schon seit langem versucht wird. Doch dies alles hebt den Charakter des Staatsgeschenks nicht auf, so wie ja auch die Eltern immer noch Schenkende bleiben, auch wenn sie ihre Kinder gleich bedenken. Daß diese Gleichheit nicht gleichgesetzt werden kann mit strenger Normbindung, wie sie die Legalität sonst verlangt, bedarf hier keiner Vertiefung. f) Nun bleiben allerdings, gerade die Zumutbarkeit zeigt es, Denkformen in normativen Eingriffsschranken und gewährender Staatshilfe doch immer eng verbunden. Nach strenger Grundrechtsdogmatik macht der Staat im Namen der Zumutbarkeit Halt vor den Schutzbereichen der Bürger, welche er anerkennt, nicht schenkend verleiht. Für denselben Bürger wirkt sich dies aber praktisch aus als ein ,,konstitutionell-normatives rahmenmäßiges Freiheitsgeschenk des Staates an ihn", da er oft kaum unterscheiden kann, ob sich der Staat hier im Namen gesetzlicher Schranken zurückzieht, oder ihm damit wohlwollende Hilfe angedeihen läßt. Für das Freiheitsverständnis kann dies gewiß zum Problem werden, und das ist auch bereits geschehen, vor allem in der Diskussion um die realen Grundlagen der Freiheit, welche der Staat dem Bürger in Teilhabe gewähren sollte. Da es bisher nie gelingen konnte, darauf präzise rechtliche Ansprüche zu verleihen, bleibt dies eben immer doch - ein Staatsgeschenk. Hier aber zeigt sich nun, daß
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dies wohl deshalb gewährt werden könnte, damit eben Freiheit sich entfalten könne. Wie aber soll dann noch diese Staatsgüte anders verstanden werden denn als eine "Freiheitskonzession" - und ist nicht gerade sie das Ende aller Freiheit? Gerade bei der Betrachtung der Zumutbarkeit und ihres Verhältnisses zur fördernden Staatstätigkeit zeigt sich also jene Geflihrdung der Freiheit durch gewährende Staats macht, von welcher noch die Rede sein wird; nur schwer ist eben hier noch zu entscheiden, ob der Staat nur mit seinen Geboten und Verboten vor bestimmten Bedürfnislagen des Einzelfalles Halt oder ob er darin bereits ein bedürfnisbefriedigendes Staatsgeschenk macht, in all jener Entscheidungsfreiheit, welche einem solchen Verhalten wesentlich sein muß. Ist aber einmal Freiheit(swahrung) zum Staatsgeschenk geworden, so entfaltet sich darin ein völlig neues Grundrechtsdenken, in den Kategorien von Schutz und Hilfe für die Freiheit, nicht mehr in deren Achtung. Am Ende stünde dann "Freiheit im Namen der Staatsgüte", und weiter als zu diesem gefahrlichen Punkt soll hier nicht gedacht werden. g) Probleme der Verbindung von eingreifender und gewährender Verwaltung werden auch noch auf einer anderen Ebene deutlich: dort, wo der wohlwollend-gewährende Staat es dem Bürger, zuerst einmal oder zugleich, durch seine Leistungen ermöglicht, die Restriktionen zu ertragen, welche seine Eingriffe auferlegen. Der Staat verpflichtet hoheitlich zum Schulbesuch - und zugleich erleichtert oder gar ermöglicht er diesen durch Subventionierung entsprechender Transporte; die· Hoheitsgewalt verpflichtet den Eigentümer, den Betriebsinhaber zur Beachtung vielfacher umweltschützender Auflagen - und zugleich kommt sie ihm, in subventionierender Steuergestaltung oder direkt durch Mittelzuweisung, in einer Weise entgegen, auf welche ein einzelner gewiß keinen Anspruch hat, die also ein echtes Umweltgeschenk an ihn darstellt. So verhilft der wohlwollende Leistungsstaat dem eingreifenden Hoheitsstaat zu seinem Funktionieren, für den Bürger schafft er die tatsächlichen Voraussetzungen einer Freiheit, welche sich trotz all dieser Gebote und Verbote noch halten kann. Mehr noch: Eingriffsregelungen sind geradezu darauf zugeschnitten, daß sie durch die vielberufenen "flankierenden Maßnahmen" begleitet werden, welche der Hoheitsstaat bereithält - letztlich eben immer in etwas wie Staatsgüte. Denn nur durch sie werden zahllose Eingriffe erträglich, zumutbar. Ist es also nicht doch so, daß der Hoheitsstaat nicht mehr überleben kann ohne die Hilfe des helfenden, des gütigen Staates, welche dieser nicht nur, oft nicht so sehr dem Bürger erweist als sich selbst, seiner eigenen Hoheit? Jedenfalls bleibt aber eines: In der Zumutbarkeit überholt bereits die Hilfe den Eingriff. h) Ein letzter Bereich sei hier noch angesprochen, in dem deutlich, im Rahmen des Allgemeinen Verwaltungsrechts, aber auf verfassungsrecht-
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liches Gebot hin, Staatsgüte und Staatshoheit sich wirksam verbinden: in der normabschwächenden Härteregelung, in einer Gesetzesabmilderung, in der letztlich Staatsmilde liegt. Daß der Gesetzgeber bei schwerwiegenden Eingriffen Härteregelungen vorsehen muß, will er dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit entgehen, entspricht ebenso gesicherter Verfassungslehre wie, ganz allgemein, Existenzgefahrdung sich immer mehr zur Schranke, jedenfalls der wirtschaftlichen, bald wohl aller Grundrechte entwickelt. Darin liegt nun sicher eine normative Eingriffsschranke, damit ein wesentlicher Bestandteil der staatlichen Systematik der Eingriffsregelungen. Zugleich kommt hier Staatsgüte deutlich zum Ausdruck: Dies entspricht nicht nur dem untechnisch-täglichen Verständnis der Härteregelungen, sie sind gerade deshalb Ausdruck der hier erörterten Zumutbarkeit, weil dabei im Einzelfall nicht bedürfnisblind, interessenfern entschieden werden soll; der Begriff der Härte ist die Gegenkategorie zu jener Güte, welche durch sie abgemildert wird. Härteregelungen ist es auch eigen, daß sie ein weithin unbestimmtes Blankett der Verwaltung vorgeben, das diese im wesentlichen doch stets in einer Richtung ausfüllt: durch verständnisvolles, helfendes Nachgeben und/oder, jedenfalls aber in enger Beziehung dazu, sogar durch den Einsatz materieller Hilfe. Gerade im Härtefall begegnen sich staatliche Eingriffs-Zurückhaltung und Staatsleistung; gerade hier wird die Staatsaufgabe des Schutzes über die der Ordnung deutlich gestellt, der Einzelfall tritt voll in seine Rechte. Der Versuch einer durchgehend normativierenden Dogmatisierung der Härtefälle muß letztlich fehlschlagen; hier bleibt ein unausschöpfbarer Rest von Staatsautorität zurück, der näher bei Begnadigung und Amnestie steht als bei einem Normverständnis, das doch letztlich den Einzelfall dem allgemeinen Interesse opfern darf, wenn nicht gar muß. Ein Staat, der keine Härte zeigen darf, sieht sich zur Milde verurteilt - zur Staatsgüte. So zeigen denn viele Gestaltungen des herkömmlichen Allgemeinen Verwaltungsrechts, welche sich im Namen der Rechtsstaatlichkeit bis auf die Verfassungsebene hinauf entwickelt haben, überall den gütigen Staat im Vordringen, gerade auch dort, wo er gebieterisch waltet - wird man bald sagen: wo er noch verbieten darf?
IV. Sozialhilfe - vornehmster Ausdruck der Staatsgüte Wer an den "gütigen Staat" denkt, wird zuerst an die Sozialhilfe denken. Ist dies nicht geradezu der Prototyp des Staatsgeschenks - gegenleistungslos erbracht aus einer wahrhaft moralischen Verpflichtung? Hier findet doch Elementarhilfe in einer staatlichen Großveranstaltung statt, für Millionen von Menschen, mit höchster politischer, staatsprägender Brisanz. In all dem begegnet mehr als eine Materie des Besonderen Verwaltungsrechts, hier ist
IV. Sozialhilfe - vornehmster Ausdruck der Staatsgüte
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etwas entstanden wie ein Prototyp für das gesamte Recht der Administration, in der letztlich, über sozialstaatliehe Erwägungen, etwas wie "Sozialhilfe überall" stattfindet. In diesem Sinn könnte man das Recht der Sozialhilfe geradezu als etwas bezeichnen wie ein "Halb-Allgemeines Verwaltungsrecht" . Hier begegnet auch ein Bereich, der gerade in letzter Zeit in rascher Entwicklung steht, zu immer weiterem Ausbau: Nicht mehr nur Bürgerhilfe wird geleistet, sie erweitert sich zur Fremdenhilfe, zur Menschenhilfe. Hier wird universalistisch gedacht, in einer letztlich Staatsbürger-gelösten Ergänzung oder Korrektur der siegreichen Marktwirtschaft, mit deren Bedeutungssteigerung auch die Sozialhilfe entscheidend an Gewicht gewinnt. Da ist nicht mehr nur Regimeprägung einer menschenfreundlichen Volksherrschaft, sondern Staatsprägung: Durch Sozialhilfe wird heute eine der vornehmsten Aufgaben des Staates erfüllt, gerade in der Marktwirtschaft, die derartiges sonst nicht zu leisten vermöchte, eine wahrhaft notwendige Staatsaufgabe, die mit dem Wesen des Staates diesem vorgegeben ist. Diese großdimensionierte Sozialhilfe ist nicht nur für gängige Bürgervorstellungen ein wahres Staatsgeschenk, nähere Betrachtung erweist sie als bedeutendsten Ausdruck einer von der Verwaltung gewährten Staatsgüte. 1. Sozialhilfe als Staatsgeschenk
a) Diese elementare Lebenshilfe war stets ein Geschenk in ihrer langen, karitativen Entwicklung, und so wird es bleiben, selbst wenn Sozialhilfeempflinger sich zu Forderungsbürgern entwickeln und sich zu Vereinen zusammenschließen. Dieser im Ergebnis sogar ganz reine "Geschenkcharakter" war schon mit der Vorstellung vom früheren Almosen verbunden, der deutschen Version des griechischen "Mitleids". Für den Christen mochte dies die Erfüllung einer religiösen Pflicht sein, doch sie wird ihm zum Verdienst, das er dem göttlichen Richter präsentiert, wenn er um dessen Gnade bittet - Gnade also um Gnade. Der Geschenkcharakter folgt auch, und dies von jeher, aus der Bedürfnisbefriedigung, welche hier primär, ja ausschließlich das Handeln von Menschen und Organisationen bestimmt. Nicht nur Legitimation, sondern im modemen Staat geradezu Rechtsgrund für all diese Milliardenleistungen ist ganz einfach die Befriedigung elementarer Bedürfnisse, die ihrerseits wieder den Prototyp des "reinen Bedürfnisses" darstellen, das sich eben den Schenker ruft. Alle Versuche, dieses Geschenk nun zu einem Anspruch werden zu lassen, gegen eine Gesellschaft, welche sich dadurch von ihren Sünden und Fehlentwicklungen soll freikaufen müssen, gelegentliche Tendenzen, den früheren Bettler zum Opfer der Gesellschaft zu stempeln, die ihm gegenüber nicht Bedürfnisse, sondern ihr schlechtes Gewissen zu be-
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friedigen habe - all dies wird vom Recht kaum aufgenommen, weitestgehend wohl stets offen gelassen werden; von diesen Verrechtlichungsversuchen wird noch die Rede sein. Daß Sozialhilfe den Antrag voraussetzt, der "verschämte Arme" ihr ebensowenig teilhaftig wird wie derjenige, welcher die Voraussetzungen solcher Elementarhilfe nicht darzutun vermag, ändert nichts am Geschenkcharakter dieser Staatsleistung: Von jeher konnte ja auch nur jenem Bettler gegeben werden, der die Hand aufhielt. b) Gewiß ist nun Sozialhilfe kein Einzelfallgeschenk, welches ohne Blick auf den nächsten Bedürftigen gewährt würde; gerade hier begegnet man einer außerordentlich hoch gesteigerten Schematisierung. Doch anders können große Bürokratien gewaltige Finanzmittel nicht verwalten, nicht einmal zweckentsprechend verteilen. Hier erreicht, wie schon in manchen anderen Bereichen, auf welche hinzuweisen war, die Staatsgüte jene Legalität, ohne die eine Demokratie in keiner ihrer Veranstaltungen vorstellbar ist, und welche hier zur Geschenk-Gleichheit führen muß. "Jedem ein Brot" war dies nicht auch schon früher, ja von jeher eine karitative Grundregel, und zwar gewährt mit jenem Blick nach oben, zu jenem Schöpfer, der dies anordnete, über die Gesichter derer hinweg, denen Leistung gewährt wurde - eben in Gleichheit, ohne Ansehung der Person? Hier begegnet man nicht nur einer traditionellen Grundstimmung allen organisierten Helfens, es sind eben die gleichen Bedürfnisse, welche die gleiche Hilfe verdienen. c) Ordnungsmäßiges, streng normiertes Verfahren schließt den Geschenkcharakter umso weniger aus, als dies eben ein notwendiges, organisatorisches Zugeständnis an den Geber ist, an jene Großorganisation Staat, welche Geschenke verteilt. Eines ist ja ein elementarer Grundsatz allen Schenkungsrechts: daß gerade jeder Schenkende weitestgehende Schenkungsfreiheit genießt, auf seine Art Wohlwollen gewähren darf. Auch für den Staat muß dies gelten, für alle seine Untergliederungen, welche hier eingreifen, vor allem auch für die Kommunen. Wichtig dabei ist nur eines: Diese Spiegelung des Gebenden in seinem Verfahren darf nirgends eine Grundhaltung ausschließen, welche die gesamte Veranstaltung trägt: die einer wirklichen Staats-Güte. Verteilende Großorganisationen werden hier nicht perfekt handeln können, keinen Güte-Nachschlag im Einzelfall im Namen der Bedürfnisbefriedigung, der Staatsmoral gewähren können, eben wegen der Knappheit der Mittel. Doch allenthalben lassen sie sich jene letzte Freiheit, die im Vorbehalt der Gewährung von Hilfe im außerordentlichen Fall zum Ausdruck kommt; er ist gewissermaßen im Begriff der Sozialhilfe bereits mitgedacht. d) Um ein wirkliches Staatsgeschenk handelt es sich in diesem Fall, um eine Gabe, die, wie kaum in einem anderen Falle, von der gesamten
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Gemeinschaft kommt, in ihrem Namen als solcher gewährt wird. Hier verfolgt das Staatsgeschenk nicht, wie bei so vielen Subventionen, sein Ziel der Förderung des öffentlichen Interesses über die bestimmter, sektoraler Privatinteressen, hier gibt es nicht einmal mehr etwas wie ein allgemeines Bürger-Interesse; der Adressatenkreis wird in einem ganz allgemeinen Menschen-Interesse bedient. Was aber könnte dies anderes sein als Ausdruck der Staatsgüte? Folgerichtig ist es, die gesamte Gemeinschaft, welche hier auftritt, nicht als Schuldnerin zu sehen, sondern als schenkende Macht, welche mit jenen Mitteln bezahlt, die sie für die ganz allgemeine Erfüllung von Staatsaufgaben einsammelt, über Steuern und andere Abgaben. So allgemein wie die steuertypische Staats-Forderung ist die Sozialhilfe typische Staats-Ausgabe. Daß ihre Verwaltung im kommunalen Bereich geleistet wird, unterstreicht diesen menschen-nahen Gemeinschaftsbezug; hier soll ganz unmittelbar, auf kürzesten Wegen, geleistet werden, um der Effizienz willen, damit sich der öffentliche Geschenkcharakter nicht auf langen, bürokratisierten Verwaltungswegen verliere. In der Sozialhilfe kommt so im engeren Sinne des Wortes etwas zum Ausdruck wie eine Sozialstaatlichkeit: Hier wird der Staat wesentlich zum Helfer, zum Schenker.
2. Gegenleistungsfreie Sozialhilfe Als wesentliches Bestimmungsmerkmal aller Staatsgüte zeigte sich schon bald in diesen Betrachtungen die Gegenleistungsfreiheit. Hier ist sie in reiner Form verwirklicht: a) Vom Empfänger dieser Geschenke erwartet der helfende Staat, die ihm nahe kommunale Gemeinschaft nichts. Er mag die Strafgesetze verletzen Staatsleistung erreicht ihn dennoch, sie kann ihm nicht unter der Auflage gewährt werden, daß er sich untadelig verhalte. Er mag die öffentliche Sicherheit und Ordnung verletzen oder noch durch sein Verhalten polizeiwidrig belasten, damit sogar öffentliche Kosten auslösen - ihm wird dennoch geholfen, selbst wenn er damit immer weiter zum Schuldner des Staates und seiner Verwaltungen wird. Von ihm wird keine Fähigkeit oder gar Bereitschaft zur Fortbildung erwartet, zur Überwindung einer Bedürftigkeitssituation, welche er zu vertreten oder die er gar verschuldet hat. Sozialhilfe hat in keiner Weise Anreizcharakter, denn sie darf unter keinen Umständen versagt werden, solange ihre Voraussetzungen nicht betrügerisch vorgespiegelt werden, in Wahrheit also nicht bestehen. Dieses Staatsgeschenk ist auch nicht Ausdruck einer Entwicklungshilfe, welche nur als
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Hilfe zur Selbsthilfe gewährt würde. Sie verfolgt keine wirtschaftspolitischen Ziele. Dies sind nun wirklich Leistungen, für welche der Empfänger keinerlei Gegenleistung zu erbringen hat; hier ist das sonst fast alle Staatsleistungen irgendwie wenn nicht Prägende, so doch Beeinflussende do ut des vollständig außer Kraft gesetzt. Daß dies flächendeckend, für Millionen von Empfängern geschieht, ist eine staatsethische Großtat, welche das leichte Wort von der kalten Bürokratie, von den mechanistischen Gesetzen Lügen straft. Wahrhaft erstaunlich ist es, und ein weiterer Beweis für eine über alles hinweggehende Güte, daß Begründungen für eine der größten Leistungen der Gemeinschaft noch nicht einmal eingefordert, geschweige denn angeboten werden: Wo gäbe es schon in Staats- oder Verwaltungslehre vertiefende Begründungsversuche, dem Grunde nach, für Sozialhile? Hier ist Staatsgüte geradezu schon selbstverständlich geworden. b) Als erstrebte Gegenleistung könnte man nun nennen die Verpflichtung zu solidarischem Gemeinschaftsverhalten, auch deIjenigen, welchen die Gesellschaft nichts bietet, die sich in sie aber doch einfügen sollen. Doch davon kann nicht ernstlich die Rede sein. Gewährt wird die Sozialhilfe, ob sich nun der Empfänger sozial oder asozial verhält, in jedem Sinne dieses bitteren Wortes. Worin sollte er denn auch Solidarität in der Gemeinschaft beweisen müssen, wenn er deren Strafgesetze brechen darf und dennoch Hilfe erhält? Sozialhilfe wird auch dem Ausländer gewährt, der sich sonst in hilfloser Bedürftigkeit befände. Hier mag es sich sogar um wirkliche "Zufallsglieder" der staatlichen Gemeinschaft halten, von denen nicht eigentlich Solidarität erwartet werden darf, jedenfalls nicht in einem vollen, bürgerrechtlichen Sinn. Wo immer diese Staatsgeschenke einen rechtlichen Rahmen erhalten haben, erscheint dies doch immer als Ausdruck von Menschen-, nicht von Bürgerrechten. Es ist eben allein das Faktum der Gemeinschaftsbeziehung, welcher Art immer diese sein mag, aus der dann ein solches Recht entsteht, doch es gilt letztlich ja gar nicht ein ex facto oritur ius, aus den Tatsachen kommt nur eines: Staats güte. c) Nun könnte die Gegenleistung wohl darin zu finden sein, daß der schenkende Staat auf solche Weise eigene, öffentliche Interessen verfolgt, dann würde er ebensowenig als Schenkender handeln wie jener Täter, dem eine Spende an gemeinnützige Organisationen vom Richter abverlangt wird. Erkauft der Staat öffentliches Interesse durch Sozialhilfe? Hingewiesen wird nicht selten auf deren Zweck, "Armenpolizei" auf solche Weise zu betreiben, so wie früher "herumlungernde Bettler" von den Straßen zu entfernen waren, damit die Öffentliche Ordnung nicht Schaden leide, der Staat nicht als eine Polizeiordnung für Landstreicher diskreditiert
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werde. Doch solche Überlegungen, welche sicher für viele legitimierend hinter der Sozialhilfe stehen, schließen deren Geschenkcharakter, schließen sie als Staatsgüte nicht aus: Da ist zunächst schon nicht von einer wirklichen Gegenleistung zu sprechen, allenfalls wird ein objektiver Ordnungseffekt auf solche Weise erreicht, von dem im übrigen auch keineswegs sicher ist, ob und wie er eintritt. Keinesfalls ist die Staatsleistung zielgerichtet auf ein bestimmtes Verhalten, welches die Wahrung der Öffentlichen Ordnung sicherstellen soll. Die Frage, ob gebettelt werden darf, wo und in welcher Fonn, wird im allgemeinen nach ganzen Grundsätzen entschieden als nach solchen der Sozialhilfe, und diese kann auch jenem nicht versagt werden, der sich um solche Verbote wenig kümmert. Neuerdings wird beweglich auf die zunehmende Armut hingewiesen, auf eine Situation, welche sich naturgemäß mit dem allgemein steigenden Wohlstandspegel und der von diesem ausgehenden Wirkung auf den Begriff der Elementarbedürfnisse ständig weiter verschärft. Zweifellos ist jede Gemeinschaft sozial, ordnungsmäßig, letztlich sogar in ihren Chancen gewaltmäßiger Durchsetzung dieser Ordnung bedroht, wenn sie von immer mehr Elementarbedürftigen gebildet wird, Beispiele aus der Dritten Welt belegen es, und der Marxismus fügt dem kaum verhohlene Revolutionsdrohung hinzu; er fordert hier ja Leistungen, er bittet nicht um Geschenke. Doch der Staat der Mehrheitsdemokratie mag dies soziologisch sorgsam beobachten, er wird es nicht machtmäßig fürchten; sobald diese Schicht die Mehrheit beeinflußt, wird sie ohnehin Staatsgeschenke in Staatsverpflichtungen verwandeln. Vor Erreichung dieses Extremzustandes hat es die Volksherrschaft nicht nötig, gütige Angst zu beweisen oder ängstliche Staatsgüte. Sie bleibt gütig in schenkendem Gewähren.
3. Grund der Sozialhilfe: nicht eingreifendes Ordnen, sondern gewährende Güte
Daß Veranstaltungen der Staatsgüte mit ordnendem Eingreifen im Gemenge liegen können, wenn in letzterem Bereich "Hoheitsgeschenke" durch den Rückzug der Ordnungskraft der Nonnen gewährt werden, wurde bereits deutlich. Doch hier begegnen solche Überschneidungen kaum: Gehandelt wird im Bereich der Sozialhilfe deutlich aus staatlicher Güte heraus, nicht um etwas zu ordnen, die öffentliche Sicherheit zu schützen. Gegeben wird hier den Bedürftigen aus wirklicher, ja aus reiner Menschlichkeit, nicht aus Angst vor Unruhen. Darüber besteht voller Konsens; er wäre nie zu erreichen, wollte man so teuer nur "sozialen Frieden" erkaufen. Dann müßte die Rechnungsprüfung dies sogleich rügen, denn es stünden 11 Leisner
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dafür wohl andere, insbesondere auch polizeiliche Mittel zur Verfügung. Und auch angebliche sozialpsychologische Erkenntnisse könnten Staatsleistungen solchen Umfangs kaum rechtfertigen. Der Konsens zur Sozialhilfe hat sich eben doch gebildet um deren Teilwort "Hilfe", welches deutlich den Geschenkcharakter zeigt, die Gegenleistungslosigkeit. Noch klarer kam dies zum Ausdruck in der früher traditionellen Bezeichnung "Fürsorge". Es ist schon ein schwerer Schlag, nicht nur gegen das Sprach-, sondern gegen das Gemeinschaftsgefühl, daß dieses schöne Wort unserer Sprache dort nicht mehr gebraucht werden darf, wo es seine beste Bedeutung gefunden hatte. Und vielleicht brauchte von Staatsgüte schon deshalb früher nicht die Rede zu sein, weil es eben ein solches Wort gab, auch und gerade in diesem zentralen Staatsbereich. Im täglichen wie im juristischen Sprachgebrauch bezeichnet Fürsorge wohl stets zuallererst das Verhalten der Eltern gegenüber ihren Kindern; in ihm aber liegt, trotz aller moralischen und sozialen Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft, immer auch und ganz wesentlich ein Geschenk in Güte, mit dem die Eltern über das hinausgehen, was ihnen Verwaltung oder Gerichtsbarkeit vorschreiben könnten. Darin zeigt sich sogar stets auch etwas von einer vorauseilenden Bedürfnisbefriedigung, in welcher Vorsorge existentielle Bedürfnisse präventiv schon gar nicht entstehen läßt. Daß der Staat in dieser Tätigkeit nicht ordnen, sondern wirklich primär Gutes tun will, ergibt sich auch aus seinem vielfachen und umfangreichen Zusammenwirken mit privaten Wohltätigkeitsorganisationen, gerade in der Betreuung von Sozialhilfefallen. Für den hoheitlich ordnenden Staat könnte dies kein primäres Tätigkeitsfeld sein: die Wohlfahrtseinrichtungen dürften ihn bei der Erfüllung einer solchen Hoheitsaufgabe wohl auch satzungs gemäß gar nicht unterstützen; sie handeln nach dem Gesetz in einer Selbstlosigkeit, hinter welcher Altruismus steht, nicht die Erfüllung öffentlicher Aufgaben. Daß der Hoheitsstaat der Steuern sie insoweit durch Gemeinnützigkeit privilegiert, was er nur darf, wenn damit zugleich auch seine eigenen Aufgaben erfüllt werden, bedeutet nun nicht, daß diese hier in hoheitlichem Ordnen bestünden, im Gegenteil: Es zeigt Staatsgüte als Staatsaufgabe, vor allem aber den eigentlichen Primärzweck der Sozialhilfe: nicht Ordnung, sondern eben - Hilfe. 4. Der Rechtsanspruch auf Sozialhilfe
a) Nun ist allerdings der Bereich der Sozialhilfe, gerade neuerdings, bis in Einzelheiten hinein durchnormativiert worden, und dies gilt nicht allein für Zuständigkeiten und Verfahren; gewährt wird von der Staatsrnacht neuerdings auch ein Rechtsanpruch auf diese Hilfe. Er findet seine Grundlage nicht nur im einfachen Recht, sondern in höchstrangigen Verfassungs-
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nonnen, der freien Entfaltung der Persönlichkeit, ja sogar, und vor allem, in der Menschenwürde. Ist der Staat damit nicht nonnativ zu solchem Verhalten gezwungen, schließt dies nicht jede Regung einer nonnbefreiten oder auch ennessensgeöffneten Staatsgüte vor vorneherein aus? Immerhin ergibt sich der Anspruch ja unmittelbar aus elementaren Bedürfnislagen, welche ihrerseits wieder als allgemeine Rechtsbegriffe von der Verwaltung nonnativ auszufüllen sind. Liegt also in dieser höchstrangig-nonnativen Verankerung nicht ein voller Übergang der staatlichen Fürsorge in den Bereich einer Ansprüchlichkeit, in der von Güte in keiner Weise mehr die Rede sein kann? Wenn in solcher Weise aber gerade ein Prototyp heutigen Verwaltungsverhaltens, der Staatstätigkeit schlechthin, nonnativiert erscheint, muß dies dann nicht ausstrahlen auf alle Staatstätigkeit, in dem Sinn, daß auch dort alle Regungen einer wie immer verstandenen Güte sogleich in Nonnen gegossen und zu staatlich-hoheitlichen Ordnungen werden? Hat sich der Staat damit nicht selbst zugleich auch Grenzen seiner Güte gesetzt, durch eine Nonnativierung, deren Vorgaben er nun eben beachten, auf die er sich berufen darf - damit er nicht allzu gütig werde? b) Diese Rechtsverpflichtung, welche nicht selten ihrerseits als eine besondere, moralisch begründete Errungenschaft der modemen Rechtsstaatlichkeit gepriesen und als eine solche auch noch erweitert werden soll, ist nun allerdings, und dies wieder in rechtlichen Fonnen, derart relativiert, daß in ihr der Charakter einer frei helfenden Güte durchaus noch erhalten bleibt: Sozialhilfe ist nach der Dogmatik des Öffentlichen Rechts ein Staatsgesehenk, eine Staatsleistung, von der die obersten Gerichte festgestellt haben, daß ihr eine Leistung der Begünstigten nicht gegenübersteht. Deshalb gibt es auf sie auch keinen grundrechtlichen Eigentumsanspruch, welcher eben eigene Leistung voraussetzt. Wie sich diese Feststellung vereinbaren läßt mit dem andererseits doch wieder grundrechtsbegründeten Verfassungsanspruch auf Sozialhilfe, ist bisher, soweit ersichtlich, nie überzeugend begründet worden. Das Problem liegt hier schon darin, daß immerhin nach der Verfassungsrechtsprechung auch das Grundrecht des Eigentums Privater einen Menschenrechtskern enthält, welcher wiederum auf jene Nonn zurückführt, aus welcher Sozialhilfe als Rechtsanspruch begründet wird, aus der Menschenwürde. Insoweit zumindest müßte dann dieses Staatsgeschenk doch auch einen grundrechtlichen Eigentumsanspruch zur Folge haben. Die gegenwärtige Rechtsprechungslage kann also nur so gedeutet werden, daß dem Grunde nach ein solcher Anspruch verfassungsnonnativ verfestigt ist, der Höhe nach jedoch zur Disposition des Staates steht; darin aber findet dann die Staatsgüte ihren eigentlichen Entfaltungsraum, als etwas jedenfalls in der Verfassung nicht Nonnativiertes. 11·
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Dem entspricht auch die gesetzliche Ausgestaltung dieses Anspruchs: Er wird stets und grundsätzlich nur nach vorhandenen Haushaltsmitteln erfüllt; zwar sind prinzipiell solche vom Haushaltsgesetzgeber in seine Pläne einzustellen, doch praktisch ist dies, und damit die Bestimmung der Sozialhilfe-, der Elementarbedürfnisschwelle, eine politische Entscheidung, und so wird dies auch gesehen. Denn elementare Bedürfnisse, die ihrerseits Grundlage des Rechtsanspruchs auf Sozialhilfe sind, mögen noch so überzeugt als unbestimmte Rechtsbegriffe normativiert werden, sie lassen sich nur in ermessenshafter Freiheit bestimmen, im Grunde nur in politischer Entscheidung "greifen". Dann aber bleibt der gewährende Staat doch darin frei, durch Bestimmung dieser Schwelle seine Hilfen zu manipulieren, und dies geschieht nicht in rechtlich-ökonomischer Erkenntnis, sondern in politischem Willensakt, eben dem eines schenkenden Gemeinwesens. Also bleibt der Sozialhilfe ihr Geschenkcharakter und damit ihre Staatsgüte eben doch erhalten. In der Bestimmung des Existenzminimums versucht das Recht den unmittelbaren und globalen Ausgriff auf die Realität der allgemeinen Wirtschaftslage. Hier sind aber die Grenzen strikter Normativierungsmöglichkeiten überschritten: Staatshilfen nach allgemeiner ökonomischer Lage - dem liegt nicht mehr eine juristische Operation zugrunde, in welcher Realität abgebildet würde, hier ist praktisch diese Wirklichkeit nichts mehr anderes als ein Anlaß, eine Orientierung vielleicht für Staatsgüte. c) Für ein solches Verständnis spricht nicht zuletzt auch der Normcharakter derjenigen Verfassungsbestimmung, auf welche letztlich der Rechtsanspruch auf Sozialhilfe sich gründet: der Menschenwürde. Daß sie nun wirklich ein Normgebilde sui generis darstellt, zeigen alle Kommentierungen dieses Verfassungsartikels. Obwohl hier doch der höchste, alles normativ durchdringende Gemeinschaftswert angesprochen wird, hat eben dies in der juristischen Praxis nur eine unverhältnismäßig geringe Bedeutung erlangt, in welcher Form von Ansprüchlichkeit immer man diese Bestimmung einsetzen mag. Vieles spricht dafür, daß in dieser Menschenwürde zwei völlig heterogene Elemente zusammenfließen: einerseits eine alleräußerste normative Schranke allen staatlichen Ordnens, welche eben Unmenschliches dem Staat verbietet und in der Gemeinschaft - andererseits ein allerallgemeinstes Programm der Staatstätigkeit und des Gemeinschaftsverhaltens insgesamt, allenfalls noch eine normative Orientierung zur Sinnerfüllung aller Normen. Geht man von diesem doppelten Verständnis aus, so kann nicht zweifelhaft sein, daß der Anspruch auf Sozialhilfe sich anspruchsnormierend lediglich auf alleräußerste Grenzsituationen bezieht. Wenn aber der Satz von der Menschenwürde nicht nur in solchen Extremlagen anspruchsbegründend wirkt, so muß er darüber hinaus verstanden werden als ein Staatsprogramm, in welchem die Politik weitesten Raum gewinnt - in Richtung auf Staatsgüte. Ist sie eine Staatsgrundsatznorm, als welche sie hier verstanden wurde, so paßt sie in dieses normative Konzept, ohne daß damit
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ihre Ausprägungen, insbesondere die Sozialhilfe, verkümmern müßten zu etwas wie "Güte nach Norm", was es im engen Verständnis nie geben kann. Dann aber zeigt sich gerade die höchstrangige Bestimmung der Verfassung als ein Programm der Staatsgüte in Sozialhilfe. 5. Sozialhilfe als globalisierte Härteklausel
Von der generellen Abmilderung staatlicher normativer Strenge durch Härteklauseln war schon die Rede, am Ende der Betrachtungen zum Allgemeinen Verwaltungsrecht. Die Sozialhilfe gibt Anlaß dazu, dies nochmals konkretisierend aufzugreifen. Das Wesen dieser wahrhaft gewaltigen Staatsleistungen liegt in Existenzsicherung. Sozialhilfe verfolgt daher - und hier ist das viel mißbrauchte Wort "letztlich" am Platze - dasselbe Ziel wie viele und die wichtigsten Härteregelungen, gerade im Bereich des Wirtschaftsrechts, wie insbesondere die allgemeinste dieser Sicherungskategorien, das Verbot der Existenzgefährdung im Berufs- und Gewerberecht. Dort soll ja vermieden werden, daß durch Vernichtung wirtschaftlicher Existenzen gerade jener Bedürftigkeitsfall auftrete, in dem dann doch wieder geholfen werden müßte, meist durch Sozialhilfe. Diese letztere steht also in engem Zusammenhang mit allen Normen, welche wirtschaftliche Existenzvernichtung oder auch nur -gefährdung verhindern wollen. Gewiß gehen die Härteregelungen, in den von ihnen erfaßten Ausnahmelagen, noch über die Voraussetzungen der Sozialhilfe zugunsten der Betroffenen hinaus. Dennoch wird man auch die Sozialhilfe verstehen dürfen als etwas wie eine globalisierte Extrem-Härteregelung, welche durch viele andere derartige Bestimmungen im Grunde nur fortgesetzt, verbessert, ja konkretisiert wird. Dann aber wird auch die gemeinsame Grundlage deutlich, aus welcher all dies kommt: Es ist dies nicht der Normativismus der Gesetze des Rechtsstaats, sondern Hilfsbereitschaft des gütigen Staates, der seine Normen zurücknimmt und dem Bürger gibt. Wer diese letzte Einheit von Härteregelungen und Sozialhilfe erkennt, welche ja auch in der Praxis tägliche Wirklichkeit ist, wenn etwas durch Härteregelungen verhindert werden soll, was "nicht einmal dem Sozialhilfeempfänger zuzumuten wäre" - dann erscheint Sozialhilfe erst recht als Ausdruck eines Staatsgrundprinzips, das alles Verhalten der organisierten Gemeinschaft, insbesondere ihrer Verwaltung prägt - der Staatsgüte.
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V. Beamtenrecht zwischen freier Staatsfürsorge und der Verrechtlichung von Gegenleistungsbeziehungen 1. Beamtenrechtliche Fürsorge als Hilfe Die Fürsorgepflicht des Dienstherrn prägt das gesamte Beamtenverhältnis; nur in ihr findet das besondere be amtliche Treueverhältnis seine Legitimation. Hier zeigt sich, in einem wichtigen Mittelpunkt des Besonderen Verwaltungsrechts, ein höchst normativierter Bereich, der zugleich doch ein eigentümliches Verhalten in Staatsgüte herkömmlich, wenn auch heute vielleicht nur mehr abgeschwächt zum Ausdruck bringt und damit sogar wiederum zu einem Prototyp staatlichen, ja gesellschaftlichen Ordnens wird: 2. Beamtenrechtliche Fürsorge - ein Geschenk? Das Beamtenverhältnis ist, nach seinen verfassungsrechtlich bindenden hergebrachten Grundsätzen, ein Dienst- und Treueverhältnis. Die Beamtengesetze entwickeln daraus eine Dienstpflicht, welche volle Hingabe des Beamten gegenüber dem Dienstherrn verlangt. Dem entspricht dessen Fürsorgepflicht, die ebenso weit gehen, also eine "volle" sein soll. Begrifflich muß darin nichts liegen von Wohlwollen oder Geschenk: Leistung und Gegenleistung werden vielmehr in einer für Beschäftigungsverhältnisse sonst atypischen Globalität gegenübergestellt. So wird heute die Alimentationspflicht des Dienstherrn verstanden, ja es wird sogar zunehmend die bisher global betrachtete Beamtenleistung aufgespalten in Einzelleistungen "nach Zeit", etwa in den Überstundenregelungen. Dann muß folgerichtig auch die Gegenleistung des Dienstherrn, die Alimentation, als eine Bündelung einzelner, zu unterscheidender Leistungen aufgefaßt werden. Dies geschieht denn auch durch die zunehmende Verrechtlichung der "Fürsorgeleistungen", wie sie vor allem in den Beihilferegelungen zum Ausdruck kommt. Wird damit nicht nur ein do ut des verdeutlicht, eine vertragsähnliche Austauschbeziehung, in welcher kein Raum ist für ein Denken in Geschenken? Und doch führt noch immer die Alimentation zurück auf frühere Vorstellungen von "Gnadenerweisen, die, aus der Spätfeudalzeit entwickelt," nach heutigen Vorstellungen von etwas wie Staatsgeschenken geprägt sind: Der Dienstherr hat den Beamten zu alimentieren nach dessen Bedürfnissen. Dies rückt seine Leistungen von vorneherein in die Nähe jener Gaben, deren Rechtsgrund sogar in etwas liegt, was auf Staatsgüte zurückführt, eben in der Befriedigung von Bedürfnissen, wie sie der mildtätige Staat auch sonst seinen Bürgern, wenn auch längst nicht in derart gesteigerter Form, gewährt. Hier erweist sich eben doch das besondere Gewaltverhältnis
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der Beamten nur als eine Steigerung eines allgemeinen Gewaltverhältnisses, in dem letztlich Fürsorge geboten wird, so wie ja auch dieser Begriff derselbe ist, von der Sozialhilfe bis zum Beamtenrecht. Gerade dagegen wendet sich ja heftige Kritik am Beamtenstatus: daß hier eben Selbstbedienung der Organe innerhalb der Staatsorganisation stattfinde, nach jeweiligen Bedürfnissen, die oft beliebig gesteigert, "neu hergeholt" würden, nicht hergebracht, wie es die Grundsätze des Beamtenrechts sein sollten. Die Öffentlichkeit vermutet darin eben doch etwas wie Geschenke, schon in der Unbestimmtheit der globalen Alimentationsleistung: Was sich nicht rechtlich genau definieren läßt - ist nicht eben dies bereits, virtuell wenigstens, ein Staats geschenk? Dem freien Belieben, in welchem solche Gaben seitens des Dienstherrn gewährt werden, entspricht doch auch sonst die gesamte Struktur dieses Status, der viele genau geregelte Beamtenpflichten kennt, deren Verletzung in eingehenden Disziplinarnormen regelt, den Dienstherrn aber nur in einigen, allerdings zentralen Bereichen - wie Besoldung, Beihilfen, Urlaub an Fürsorgepflichten im einzelnen bindet. Der Dienstherr läßt sich die Freiwilligkeit seiner Leistungen nicht nehmen - Beilhilferegelungen können von ihm nahezu beliebig verändert werden, trotz einem ausgebauten Laufbahnrecht gibt es kein Recht auf den Laufbahnfortschritt der Beförderung. In der Praxis nähert sich der Beamte bittend dem Dienstherrn, wenn er dessen Hilfe im Namen der Fürsorgepflicht erreichen will; die Rechtsprechung ist äußerst zurückhaltend in der Konkretisierung dieses Begriffes. Die tatsächliche Grundstimmung im Beamtenverhältnis - und dies ist wichtig - ist eben, nach wie vor, geprägt von dem souveränen Beschäftiger, auf dessen Güte der Dienstnehmer nur hoffen kann, außerhalb seiner gesetzlich festgelegten Leistungen. Und gerade aus dieser Hoffnung heraus, daß der Dienstherr ihn in Notlagen, bei Auftreten besonderer Bedürfnisse, "nicht fallen lassen wird", ziehen noch immer zahllose Bürger diese Beschäftigungsform allen anderen vor, selbst dann, wenn ihnen die tägliche Praxis zeigt, daß sie von solcher wirklicher Staatsgüte wenig nur zu erwarten haben. Kein Zweifel kann also bestehen, daß in dem verfassungsrechtlich auf Tradition gestützten Treueverhältnis viel von einer früheren Staatsgüte noch immer mitschwingt, daß die Hoffnung auf sie heute sogar erhöhte Bedeutung erlangt, in einer immer weniger absehbaren Entwicklung. 3. Verrechtlichung der Dienstherren-Güte
Von besonderem Interesse sind Anzeichen für eine Staatsgüte im Beamtenverhältnis schon deshalb, weil hier einerseits die historische Verbindung zu früheren, eindeutig von Staatsgüte geprägten Beziehungen des Öffentli-
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Staatsgüte in Entwicklungen des geltenden Rechts
chen Rechts noch lebendig ist, andererseits etwas wie ein alimentierendes "Selbstgeschenk des Staates an sich", innerhalb seiner Organisation, der Staat also geradezu als eine "in sich schenkende, sich selbst beschenkende Organisation" verstanden werden könnte. Jedenfalls aber ist dies die doch engste Beziehung zwischen Bürger und Staatsgewalt, die das geltende Recht kennt, ja zwischen Gewaltunterworfenen und einem demokratisch gewählten Parlament, das sich hier noch immer nicht in die Vorstellung eines Vertragspartners zwingen läßt, dem hoheitliche Beliebigkeitsrechte bleiben sollen, selbst bei den zentralen Leistungen und ihrer Besoldung. Dennoch entwickelt sich gerade hier - und vielleicht eben wegen dieser besonders engen Bindung - ein bemerkenswerter Gegenzug der Verrechtlichung aller be amtlichen Beschäftigungsbezüge. Er muß hier nicht in allen Einzelheiten nachgezeichnet werden, jeder wird sogleich an entscheidende Verrechtlichungsentwicklungen denken, wie sie etwa in der Verstärkung der Rechte des Personalrats, in Einsichtsrechten in Personalakten oder Konkurrentenklagen zum Ausdruck kommen. Wird in solcher Verrechtlichung nicht "der Staat aus den Bereichen seiner Staatsgüte verdrängt", mit normativen Mitteln in ein typisches Dienstvertragsverhältnis der Gegenseitigkeit getrieben, welches auf beiden Seiten jenes schenkende Sich-Verströmen ausschließt, wie es in der früheren Treue, der gegenseitigen Hingabe, noch deutlich zum Ausdruck kam? Gewiß ist es nicht Sinn solcher Regelungen, dem Staat sein "Recht zur Güte" gegenüber seinen Beamten zu nehmen, die Entwicklung kommt, ganz umgekehrt, daraus, daß dort zu wenig an Bedürfnisbefriedung, letztlich doch an Staatsgüte bewiesen worden ist, so daß das Gesetz klare und oft deutlich als solche erkennbare Minimumstandards schaffen mußte. Auch kommt darin ersichtlich eine Angleichung an private Beschäftigungsverhältnisse des Arbeitsrechts zum Ausdruck, welche einen als Anomalie gesehenen Beamtenstatus einem klar normierten Austauschverhältnis annähern sollen - in einem Beginn von Rechten, einem Ende von Geschenken und Wohlwollen. So läßt sich sicher diese Entwicklung auch deuten als ein beginnender Abschied von einer Grundhaltung der Staatsgüte; dies ist um so erstaunlicher, als es in derselben Periode sich verstärkt, in welcher überall sonst, und nicht zuletzt in jenem privatrechtlichen Dienst-Austauschverhältnis, dem man sich hier nähern will, umgekehrt schenkende Fürsorge erweitert wird. Jene Verrechtlichung des Beamtenverhältnisses, welche die Staatsdiener zu Bürgern machen soll wie alle anderen Beschäftigten auch, wendet sie sich nicht mächtig gegen einen Staat, der letztlich dann auch dem Bürger keine Geschenke mehr machen darf? So sehr war bisher das Beamtenrecht, das Öffentliche Recht überhaupt, in Selbstbeschäftigung mit Gleichheitskorrekturen seiner Organisation befaßt, mit der Perfektionierung seiner Normsysteme, daß solche Fragen, soweit ersichtlich, nie ernstlich
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aufgeworfen wurden. Sie stellen sich jedoch bei einer antithetischen Betrachtung, die auszuloten hat, welcher Zug auf Dauer der stärkere sein wird, der allgemein soziale oder der einer speziellen Beamtentreue, und wie sich im Bereich des öffentlichen Dienstrechts eine Synthese eines Tages erreichen lassen könnte.
4. Auswirkungen - oder Erbe - der beamtlichen Fürsorge für ein Sozialrecht des Schenkens Trotz all dieser Verrechtlichung - und wohl gerade mit deren Formen bleibt das Beamtenrecht, in dem zuerst Fürsorge konkretisiert worden und doch im letzten noch immer unausschöpfbar ist, ein Prototyp für die Entwicklung all dessen, was den Namen Fürsorge verdient, damit aber der Sozialstaatlichkeit als solcher. Sie wird nun - dies kann man ausnahmsweise in diesem Bereich einmal prognostizieren - eine Synthese finden müssen, und wohl auch finden können, zwischen dem bedürfnisbefriedigenden Geschenk des gütigen Staates und dessen normativen Grundstrukturen. In der Anwendung all jener Kategorien wird sich dies zeigen - und es geschieht schon heute - welche den Begriff der Staatsgüte konstituieren, und in ihrer weitgehenden Vergesetzlichung: Bleiben wird in sozialen Staats veranstaltungen, in erster Linie in der öffentlich geförderten Sozialversicherung, stets eine letzte Bedürfnisneigung, die mehr bringt als einen Vorbehalt außergewöhnlicher Fälle. Trotz immer strengerer Schematisierung wird eine grundsätzliche Einzelfallöffnung dieses Sozialrecht prägen, ein nicht um Hilfe bitten Müssen, das auch dann zum Staat und seinen gesellschaftlich ihn fortsetzenden Instanzen kommen darf, wenn ein Recht darauf nicht anerkannt ist, im normativen Sinn. Es ist als wolle der Staat den Beamtenstatus bis auf wenige Relikte abschaffen - und zugleich alle seine Bürger zu seinen Beamten neuen Stiles, zu Bediensteten in einem größeren gesellschaftlichen Verbund machen, der ihm dann die Mittel für seine Aufgabenerfüllung gewährt und diese sicherstellt. Und der deutsche kommunistische Teilstaat war auf diesem Wege schon weit vorangeschritten, seine Rechtsüberzeugungen beeinflussen das vereinigte Deutschland. Allzuweit allerdings wird sich eine solche Tendenz zunächst wohl kaum vom Staat des gütigen, des freien Schenkens entfernen. Denn der·Verrechtlichung sind gerade in diesen persönlichen Bezügen, in der Unvorhersehbarkeit der geforderten Verrichtungen, deutliche Schranken gesetzt. Wird nicht die Verrechtlichungstendenz stehen bleiben bei einer nur rahmenmäßigen, oft lediglich verfahrensmäßigen Jurifizierung, welche im übrigen den frei
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schenkenden Staat - und bald die frei schenkende Solidargemeinschaft nicht nur im Kern bestehen läßt, sondern dieser ihrer Souveränität sogar noch das Alibi der Gesetze verschafft? Hier müßten wieder Untersuchungen allgemeiner Art zu Grenzen der Verrechtlichung einsetzen, wie sie bereits oben ansatzweise, vor allem zum Begriff des Ermessens, geboten wurden. Vor allem wird sich immer die letzte Souveränität des Staates, über seiner Organisation und der der zahllosen privaten Glieder der Gesellschaft, darin aufrechterhalten und weiter bewähren, daß der Staat es eben ist, welcher die Bedürfnisse des Bürgers souverän festlegt; und hier droht auch der vielleicht größte Souveränitätsverlust des Nationalstaates, weil nämlich eine Europäische Gemeinschaft diese Bedürfnisstandards vielleicht eines Tages weithin außerrechtlich, in freier Marktfluktuation wird bestimmen lassen. Bis dorthin mag aber noch Zeit vergehen, die Mitgliedsstaten werden sich, in ihrer weiten Selbständigkeit in sozialen Angelegenheiten, den Freiraum ihres schenken Dürfens bewahren. So wird vielleicht der vielkritisierte, angeblich seinen ihm in Treue verbunden Dienern allzuviel schenkende Beamtenstaat zwar immer weniger gewähren, in letzter Souveränität sich aber doch als schenkender öffentlicher Versicherungsstaat der Fürsorge für alle Bürger entfalten. Es gibt schon etwas wie eine Steigerung vom Beamtenstaat über den Sozialversicherungsstaat zum allgemeinen Fürsorgestaat, wie er schon als Etat-providence von Visionären verkündet, von Kritikern gefürchtet wird. Was wäre er anders als der hier beschriebene gütige Staat?
VI. Erziehung - Staatsleistung jenseits der Gesetze 1. Erziehung als Geschenk
a) Private und staatliche Erziehung ist eine Leistung, die nach all jenen Kategorien erbracht wird, welche hier für den helfenden Staat entwickelt wurden. Im folgenden liegt allerdings der Akzent nicht so sehr auf dem Ergebnis einer solchen Erziehung, der Bildung, als vielmehr auf deren Vermittlung. Dies setzt übrigens bruchlos die Gedanken zum Beamtenstatus fort: Das Erziehungsverhältnis, wie immer es begründet wird, weist ähnliche Strukturen und Entwicklungen auf, wie der Beamtenstatus in neuerer Zeit - nicht umsonst bilden ja sie beide den Mittelpunkt der Kategorie des Sonderrechtsverhältnisses. Vielleicht liegt die Begründung dafür gerade in jenem eigenartigen, geschenkähnlichen Leistungsverhältnis, das nun im folgenden näher zu betrachten ist. Erziehung ist wesentlich Leistung ohne Gegenleistung. Dies gilt nicht nur in dem Sinn der Schulgeld- oder Studiengebührenfreiheit, sondern grundsätzlich und allgemein: Es gibt keine einklagbare Verpflichtung der
VI. Erziehung - Staatsleistung jenseits der Gesetze
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Erzogenen, entsprechend der ihnen vennittelten Bildung den sie Vennittelnden gegenüber tätig zu werden, oder auch nur, ganz allgemein, in der Gemeinschaft ausbildungskonfonn sich zu betätigen. Gerade demgegenüber wird die Berufs- und die kulturelle Freiheit immer stärker betont, Erziehung und Bildung sind Chancen, nicht Verpflichtungen. Darüber, daß hier massive, vor allem auch finanzielle, Leistungen der Bürgerschaft einzelnen Gliedern der Gemeinschaft erbracht werden, ohne jede Gegenleistungsverpflichtung, wird, soweit ersichtlich, nirgends vertiefend nachgedacht - es sei denn in allerallgemeinsten und recht vorsichtigen Aufrufen, der Gemeinschaft doch etwas von dem zurückzugeben, was sie geleistet hat; sie bleiben rechtlich völlig bedeutungslos. Hier steht die Betrachtung also vor Staatsleistungen, in Höhe jeweils eines kleinen Vennögens, welche den jungen Bürgern erbracht werden, und die im Ergebnis, angesichts ihrer Gegenleistungslosigkeit, nichts anderes sind als ein Geschenk. Nicht einmal allgemeine Zuneigung oder Solidarität wird mit solcher' Begründung von ihnen verlangt, geschweige denn finanzielle Leistungen, sieht man von den heute schon weithin theoretischen Ansprüchen an die Eltern auf Unterhalt ab. Bedürfnisorientiert wird diese Erziehung, wenn auch in gleichheitsorientierter Standardisierung durch den Staat, in aller Regel gewährt. Vollständig läßt sie sich nie gleichschalten und einebnen. Hier geht es um die Befriedigung geistiger Bedürfnisse, nach intellektueller Aufnahmefähigkeit vor allem, und gerade dort, wo der moderne· Staat seinen Erziehungsauftrag betont, geht er davon aus, daß er damit legitime Bedürfnisse der jungen Generation erfüllt. Erziehung ist eine Leistung, die sich wohl überhaupt nicht anders begründen läßt als aus geistigen, beruflich-ökonomischen und, ganz allgemein, aus menschlichen Bedürfnissen. Der Hinweis auf eine Verpflichtung zur Weitergabe dessen, was der vorhergehenden Generation auch ihrerseits gewährt wurde, greift hier kaum durch: Moderne Bildungspolitik will ihre Leistungen ja nicht nur denen an die vorhergehenden Generation entsprechen lassen, sondern diese ständig steigern - entsprechend eben den "Bedürfnissen der Gegenwart". Also handelt es sich auch in diesem Sinn um ein bedürfnisbegründetes Geschenk. Die Erziehungs-Hilfe - denn dies trifft den Begriff - wird wesentlich im Einzelfall gewährt, auf seine Bedürfnisse zugeschnitten. Trotz aller kollektiven Erziehungsversuche wird hier immer ein wesentlicher Individualbezug bleiben; gerade modeme Pädagogik betont dies. Wenn überdies Chancengleichheit herzustellen ist, so müssen engere Kategorien gebildet werden, denen unterschiedliche Hilfe zu bieten ist, bis hin zur Förderung des einzelnen, besonders schwachen jungen Bürgers; und ein als elitär kritisiertes Denken wird umgekehrt fordern, daß dem geistig besonders Leistungsfähigen hier auch noch gegeben werde. Wie immer - es geht nach dem Einzelfall.
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C. Staatsgüte in Entwicklungen des geltenden Rechts
Erziehung wird schließlich, wesentlich, nicht auf Antrag gewährt, sondern von Amts wegen aufgezwungen oder doch bereitgestellt, so daß diese Gelegenheit nur ergriffen, nie erbeten werden muß. Erziehung ist, kommt sie vom Staat, ein Staatsgeschenk, welches an den jungen Bürger herangetragen wird, und sei es mit dem hoheitlichen Zwang der Schulpflicht; auch darin ist all dies Ausdruck eines Schenkens. b) Der Inhalt dieser Hilfe wird von allen Erziehenden, insbesondere aber vom Staat, in einer Freiheit bestimmt, die ihresgleichen im Recht der Staatsleistungen sonst nirgends hat. Hier greift der Gesetzgeber nur durch äußerste Rahmensetzung oder eine Mittelbereitstellung im Haushalt ein, die aber Inhalte und weithin auch Formen der Erziehung nur am Rande beeinflussen können. Im übrigen werden die Bildungsinhalte durch jene Exekutive festgesetzt, welche hier als Zentrum der Staatsrnacht auftritt, sich in der Erziehung geradezu etwas wie einen neuen domaine reserve nicht nur aufrechterhalten hat, sondern ständig weiter ausbaut. Dieses staatliche einseitige Bildungsdiktat welches sich über staatsbestimmtes Verfahren zum Erziehungsdiktat steigert, und zudem in der Allseitigkeit seiner Inhalte und Zielsetzungen ständig zunimmt, weil es entsprechend neuerer Pädagogik eben den "ganzen Menschen" erfassen will, findet in der Verfassung seine Verankerung nur in einem vagen Auftrag ohne jede greifbare Schrankenqualität: in der "Verantwortung" des Staates für Schule und Erziehung. Daraus ergibt sich weder ein Rechtsanspruch auf solche Leistungen noch irgend eine nähere Bestimmung derselben - und sie sind ja auch, ihrem ganzen Wesen nach, normativ, wenn überhaupt, so lediglich innerhalb eines Rahmens bestimmbar, der häufig nur durch Floskeln gezogen wird. Die eigentliche Erziehungsleistung wird immer, bei diesem allerallgemeinsten staatlichen Auftrag, von den Lehrpersonen erbracht werden, vielleicht heute gar noch von den Erziehungsempfängern, die sich gegenseitig bilden. Hier wirkt jene typisch souverän-hoheitliche staatliche Macht der unentgeltlichen Leistung, über welche die Staatsgewalt zwar diskutieren, jedoch nicht wirklich mitbestimmen läßt. Die staatlichen Motive bleiben, rechtlich gesehen, völlig im Dunkeln, sie stehen im Belieben der Macht, die sich praktisch hier nicht einmal auf Willkür hin kontrollieren läßt. Wird Staatshilfe irgendwo deutlicher zum Staats geschenk? c) Ein großes "Gratis" steht über aller Erziehung. Hier unterscheidet sie sich von einer Bildung, die weiter reicht und auch in vielen Bereichen erkauft werden muß. Die Eltern, deren Pflicht die Erziehung der Kinder zuallererst nach der Verfassung sein soll, erhalten weithin nichts, jedenfalls aber nur einen unvollständigen Ausgleich für ihre Aufwendungen; und dieser wird wiederum von einem Staat gewährt, der damit das finanzielle Geschenk der Erziehung letztlich als Gemeinschaftsbelastung übernimmt. Daß der Erzogene nicht verpflichtet ist, mit der Erziehung etwas zu begin-
VI. Erziehung - Staatsleistung jenseits der Gesetze
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nen, damit eine Gegenleistung an Eltern, Staat und Gesellschaft zu erbringen, wurde schon festgestellt. Selbst eine unmittelbare Gegenleistung in Form von Schulgeld oder Studiengebühren will die modeme Demokratie nicht mehr kennen. Mag dies auch mit Chancengleichheit bis hin zur Einebnung der Bildungschancen begründet werden - damit wird doch wiederum nur der reine Geschenkcharakter staatsgebotener Hilfe in den entscheidenden Erziehungsbereichen aller Schul arten, über Jahrzehnte hinweg, unterstrichen. Das angelsächsische Erziehungssystem bringt hier, weithin, einen Austausch unter Privaten zum Tragen - aber auch nicht einem Staat gegenüber, dessen Erziehungsleistungen dort ebenfalls Geschenk bleiben. Auflagen werden dem in aller Regel nicht hinzugefügt, eine Verschuldung von Jungbürgern gegenüber ihrem Staat, der ihnen etwa Studienkredite gewähren wollte, wäre auch höchst problematisch, insbesondere im Hinblick auf eine Staatsverbundenheit, welche dann durch Schuldnerschwierigkeiten noch weiter abgeschwächt würde. Schenkungen unter Auflagen werden also hieF kaum geboten; und daß im übrigen vom Beschenkten erwartet wird, er werde mit dieser Gabe etwas beginnen, was den Intentionen des Schenkers entspricht, ist ja auch sonst eine Selbstverständlichkeit des Rechtslebens. Wie immer man also staatliche Erziehung betrachten mag, sie zeigt stets den helfenden Staat; neben der Sozialhilfe ist sie wohl die größte und wirkmächtigste Veranstaltung einer Staatlichkeit zwischen Hilfe und Geschenk gerade in dem, was heute ein "moderner Staat" genannt wird.
2. Erziehung als Ausdruck echter Fürsorge
a) Den Eltern obliegt zuallererst die Erziehungspflicht; sie wird aber im Sinne einseitiger Leistung verstanden, zum Recht der Eltern wird sie nur darin, daß diese sich gegen Leistungen Dritter, auch des Staates, wenden dürfen. Von jeher ist diese Pflichterfüllung als helfendes Geschenk verstanden worden, als solche ist sie durch keine Staatsgewalt erzwingbar, ihrem Wesen nach: Wo Eltern nicht erziehen wollen, kann sie keine Polizei dazu letztlich anhalten. Stets kam darin zentral jene Fürsorge zum Ausdruck, welche aus der Familie heraus entsteht und sich in Kirche und Staat lediglich ergänzend fortsetzt. In der religiösen Tradition ist dies stets als eine - zunächst - gegenleistungslose Gabe verstanden worden; das Vierte Gebot erlegt den Kindern nur eine ganz allgemeine spätere Verpflichtung auf, die im übrigen dem Schöpfer gegenüber zu erfüllen ist. Nie konnte ein Zweifel darüber bestehen, daß diese elterliche Erziehung Ausdruck der Güte der Menschen sein soll, welche am nächsten stehen, daß damit dieses Geschenk wesentlich Ausdruck eines moralisch "guten" Verhaltens ist.
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C. Staats güte in Entwicklungen des geltenden Rechts
b) Diesen Grundcharakter der gütigen Hilfe hat die elterliche Erziehung aller Pädagogik vennittelt und mitgegeben: Theoretisch wie praktisch wird diese überall als Ausdruck eines gütigen, sich verströmenden Schenkens betrachtet. Geprägt sind die Erziehungsleistungen daher durch ein "Entgegenkommen", das keine Anträge erwartet, durch ein Helfen, das keine ordnende Strenge einsetzt, durch eine Menschlichkeit, die gerade hier über alle Nonnen hinwegschreiten will. Der ständige "Kampf der Schule gegen die Gesetze", der Lehrenden gegen Erziehungsauflagen und -inhaltsfestlegungen, zeigt immer nur eines: Alle Pädagogik, modeme zumal, will sich einen Freiraum von Nonnen schaffen, im Namen der vielberufenen "pädagogischen Freiheit" ist dies sogar zum Rechtsbegriff geworden. Was aber prägt dann diesen Raum doch nicht wieder die Wertungen und Zielsetzungen ordnender Nonnen, sondern eine diese übergreifende Güte, ein Denken und Handeln in Gnade, in Streben nach Sozialisierung im weitesten Sinne, längst noch bevor Resozialisierung erforderlich werden kann - all dies aber weist nur, geht es von staatlichen Organen aus, auf eines hin: auf Staatsgüte. Ein Staat, der Erziehung leisten will, muß sich in Güte jenseits seiner eigenen Gesetze bewähren. c) Gerade dies erfolgt denn auch in der Erziehungsorganisation, dort wo der Staat als "Erziehungsmaschine" wirkt: Schon in der Erziehung seiner Lehrpersonen, welche er diesen in organisatorischem Zwang angedeihen läßt, nimmt der Staat auf all dies ständig Bedacht: er erzieht sie zu jener Pädagogik, in welcher sie dann seine gütig-helfenden Leistungen weitergeben sollen. Die pädagogischen Fakultäten sind als solche, bis in die Einzelheiten ihrer Zielsetzungen hinein, Ausdruck nicht des hoheitlich ordnenden, sondern des gütig gewährenden Staates. Immer deutlicher kommt die Staatsgewalt dort, wo sie nun eben doch den schulischen Rahmen durch Hoheitsgewalt halten muß, insbesondere in ihren Disziplinarmaßnahmen, dem Gebot einer verständisvoll-gütigen Erziehung nach: Auch ohne jede verfassungsrechtliche Grundlage wird im Schulbereich nach einem Prinzip des "in dubio pro zu erziehenden Jungbürgers" gehandelt. Die Strenge der kalten Gesetze soll er nicht bereits in der schulischen Disziplin kennenlernen. Soziale Leistungen von schwer übersehbarem Ausmaß bietet der Leistungsstaat des Erziehens, gewissennaßen als flankierende Hilfen für so manchen Zwang, den er eben doch am Ende ausüben muß, von HobbyAngeboten und Ausflugsverlockungen bis zu jenen Schulspeisungen, in welchen sich frühere Annenspeisungen in würdigerer Fonn fortsetzen. Nicht nur also, daß der Staat Erziehung als Hilfe anbietet, er macht dies noch durch weitere echte Geschenke attraktiv.
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Der Bildungs-Erziehungsstaat - denn seine erzieherischen Anstrengungen setzen sich bis in zahllose Bildungsangebote fort, die auch ihrerseits meist Geschenkcharakter tragen - will in all dem höchsten, wahrhaft moralischen Ansprüchen genügen. Eine Verfehlung dieses Zieles wird in der Gemeinschaft als nun wirklich unmoralisch, als ethisch verwerflich angesehen. Wie in kaum einem anderen Bereich werden Fehlleistungen der Staatlichkeit, im eigentlichen Sinne dieses Wortes, hier als Fehler gebrandmarkt, die ja auch nicht mehr gut zu machen sind, da die Hilfeempfänger diesen Einwirkungen entwachsen. Wie wohl in keinem anderen Bereich besteht Konsens darüber, daß hier ein Staatsdefizit Fürsorgepflichten verletzt, welche eben der vielberufene "Vater Staat" ebenso erfüllen muß wie die Eltern. 3. Von der geschenkten zur geforderten Erziehung? Eine überall zu begegnende, allgemeine Tendenz will Staatsleistungen, welche bisher in souveräner Freiheit geboten werden, zu einzufordernden, vielleicht gar einklagbaren Berechtigungen wandeln. Seit jeher kämpfen sozialistische Strömungen um die Verwirklichung eines solchen "Rechts auf Bildung", nicht allerdings so sehr über die Gerichte, als vielmehr durch Entscheidungen parlamentarischer Mehrheiten. Selbst den Eltern gegenüber werden Kindesrechte laufend ausgebaut, und an den Staat richten sich immer schärfer Forderungen auf Kindergartenplätze und örtlich nahe, modeme Schulen, auf Studienplätze und effizientere Hochschulen. Liegt darin nicht ein Vordringen der Normen auch in diesem, bisher so wesentlich normfemen Bereich, eine Verrechtlichungstendenz, welche insbesondere das Hochschulrecht bereits weitgehend umgestaltet hat, und durch welche das besondere Gewaltverhältnis der Erziehung in ein Bündel von Rechten aufgelöst werden soll? Ist nicht auch hier die Verrechtlichung der Staatsleistungen die Antwort auf deren immer mächtigere Entfaltung - in der Hoffnung übrigens, daß damit einer neuen, unheimlichen Macht entgegengetreten werden könne, im Namen der Normen? Steht nicht auch hier am Ende dann das bereits beschworene "Recht auf Fürsorge"? Selbst wenn dem so ist - auch hier bleibt dies weithin ein Widerspruch in sich. Nur ganz allgemeine verfahrensmäßige und organisatorische Leistungen lassen sich rechtlich erzwingen, im Raum der Schulen ist noch immer die Organisationsgewalt des Staates mit all ihren Freiheiten die stärkere geblieben, im Namen der Mittel, welche hier eben letztlich doch geschenkweise verteilt werden. Gerade in der Erziehung zeigt s1ch, ganz allgemein, daß sich Fürsorge nicht im letzten verrechtlichen läßt: Eltern lassen sich nicht durch Richterspruch ersetzen, gerade in dem nicht, was Fürsorge bedeutet. Ihre Erziehung kann inhaltlich-normativ nicht näher bestimmt werden, nur äußerste Exzesse lassen sich ordnend verhindern, mit
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Staatsgüte in Entwicklungen des geltenden Rechts
einer Polizeigewalt, die im Grunde dort schon nicht mehr Erziehung gestalten, sondern Kriminalität bekämpfen muß. Vom Kindergarten- bis zum Studienplatz steht rechtlich das Staatsverhalten, nach wie vor, unter dem großen Vorbehalt des (politisch) Möglichen, der in parlamentarischer Entscheidung bewilligten Mittel. Nur in äußersten Randbereichen erzwingt hier die Gleichheit staatlichen Mitteleinsatz, alles andere bleibt freie Entscheidung, daher werden denn auch alle Verrechtlichungsbemühungen gerade im Erziehungsbereich, immer wieder enttäuscht. Keine Norm kann in der Erziehung dem Staat seine Freiheit des Schenkens aus der Hand nehmen. Und wenn hier noch so viel erreicht, wenn Schulhausbau in Namen der Erziehungsverantwortung erzwungen, immer neue Hochschulstrukturen in Erfüllung von Rechtsverpflichtungen geschaffen würden - mehr als allgemeines Verfahren, ein alleräußerster Rahmen, läßt sich rechtlich hier nie erzwingen. Wie der Lehrende vor seinen Schülern sich verhält, den staatlichen Erziehungsauftrag umsetzt, ist und bleibt seine Entscheidung. Er schenkt Erziehung, setzt damit die Hilfe des Staates um und fort; und ob der Staat durch seine Lehrerausbildung hier den optimalen Fort-Schenkenden hervorbringen kann, wird immer problematisch und sicher in engen Grenzen nur möglich bleiben.
4. Lehrer als Beamte Um dieses alte Problem wird weiter gestritten werden, mit vielen alten Argumenten, vor allem aber mit dem einer pädagogischen Freiheit, welche sich nicht durch staatliches Ordnen gängeln lassen will im Beamtenstatus, da doch gütiges Helfen in einer modernen "Staats-Privatheit" gefordert sei. Was immer hier die beste Lösung sein mag - diese Auseinandersetzung zeigt, aus der Sicht des in Erziehung helfenden Staats, etwas wie verkehrte Fronten: Gerade diejenigen Kräfte, welche allenthalben versuchen, Erziehung zu verrechtlichen, hier Ansprüche auf Staatsleistungen zu schaffen und durchsetzen zu lassen, schlagen an diesem Punkt einen Weg in die Gegenrichtung ein: Nun soll mit einem Mal in den Vordergrund gerückt werden, daß Erziehung doch nicht Normanwendung sei - während ihre Gegner darauf hinweisen, daß eben diese Pädagogik an staatlichen Schulen in ein Normengeflecht eingebettet sei und daher selbst als hoheitliche Veranstaltung zu gelten habe. In der Tat: Folgt man hier einer Tendenz zur pädagogischen Freiheit, hebt man in ihrem Namen den Beamtenstatus der Lehrer eines Tages allgemein auf, und sei es auch nur, damit ihnen das Streikrecht zuteil werde, so bedeutet dies das Eingeständnis, daß sich in dieser Erziehung eben nicht
VI. Erziehung - Staatsleistung jenseits der Gesetze
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allzu viel verrechtlichen läßt, daß der große Rest des Erziehens menschliche Beziehung bleibt, als solche aber auch von Güte geprägt, selbst und gerade wenn dies im Namen des Staates geschieht. Dies mag sich dann in neueren Tendenzen zu einem Antiautoritarismus verstärken, auch sie drängen Gesetz und Recht immer weiter aus der Schule. Was dort dann bleibt, kann nur mehr gütiger Staat sein - so schwach dann vielleicht, wie eben Güte zu sein pflegt ...
5. Der Staat der Paideia a) Erziehung ist deutlich geworden als das große Staats geschenk in der modemen Gemeinschaft. Es wird gewährt aus echter Güte heraus. Hier schreiten die Staatsorgane von menschlich-moralisch neutralem, kühlen Helfen nun wirklich fort zu einer warmen Nähe, welche der Güte selbst in einem engeren Sinne eigen ist. Wenn überhaupt irgendwo der Staat seine Organisation "auf Güte hin" gestaltet, auf Einverständnis, welches über die Gesetze hinweggeht, so ist es der Erziehungsbereich. Er wird dazu immer mehr gezwungen, weil immer weniger Eltern Zeit, Geduld und Mittel haben, dies alles in traditioneller Fürsorge einzusetzen, und weil oft gerade der Staat ihnen diese Möglichkeiten nicht mehr beläßt. Selbst wenn es keinen totalen Erziehungsstaat geben sollte staatliche Erziehungshilfen sind auf raschem Vormarsch, und so allseitig, daß dies auf die gesamte Staatstätigkeit, auf das Wesen des Staates selbst ausstrahlen muß. b) Schon heute ist ja in der Tat der "erzieherische Staat" in vielen Bereichen Wirklichkeit, in anderen wird er angestrebt, mit großen Anstrengungen. Wenn Staat-Bürgernähe gewünscht wird, so bedeutet dies doch zuallererst, daß dem Staat eine Belehrungspflicht, ja die Verpflichtung zur Hinführung eines uninformierten, gerade deshalb staatsskeptischen Bürgers zu seinen Wertungen und Gesetzen obliegt, eine Bürgererziehung zum Staat in allen Bereichen, durch alle Instanzen, insbesondere die der Verwaltung. Dies mag dann geradezu in einem "Seminar-Staat" enden, der nicht nur ununterbrochen seine Bediensteten auf Bürger-Pädagogik hin schult, sondern am Ende auch noch diese Bürger selbst. Der "Info-Staat" ist dazu bereits aufgebrochen, aus zaghaften Ansätzen staatlicher Öffentlichkeitsarbeit heraus wird ihm ein immer allgemeineres Recht, und eine entsprechende Pflicht, zur Erziehung der Bürger angesonnen, die es in die Nähe des Staates zu ziehen gilt. Diese Formen allgemeinöffentlicher Pädagogismen können sich sogar noch darauf berufen, daß sie doch nicht nur die Freiheit des Bürgers achten, sondern diese auch noch verstärken, indem den Gewaltunterworfenen über gezielte Informationen immer mehr "reale Grundlagen ihrer Freiheitsausübung" zur Verfügung 12 Lc:isner
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Staatsgüte in Entwicklungen des geltenden Rechts
gestellt werden. Zu wenig ist heute erkannt, daß im Begriff der Information aber weit mehr liegt, nicht nur ein Angebot, als welches dies meist allein erscheint, sondern auch ein werblicher Effekt, der zur Erziehung im weiteren Sinne wird. Nach der Überzeugung der Vertreter einer Info-Staatlichkeit bedeutet all dies eine ständige Verdrängung staatlichen Zwanges, in einer Verwandlung des Staates der gewaltunterworfenen in den Staat der erzogenen Bürger. Dann kann wirklich alle Staatsgewalt als solche bereits begriffen werden als Erziehung, wo nötig und möglich umgewandelt werden in eine solche. Dann wird jener Zwang, von dem so oft behauptet wird, er könne Resozialisierung nicht erreichen, verwandelt in eine Erziehungshilfe zum Bürgerdasein, in einer großen Sozialisierung, die nicht darauf wartet, daß sie als Resozialisierung erforderlich wird. Wird dann nicht der ganze Staat aus Sozialhilfe und Erziehung heraus und beides berührt sich doch, wenn es nicht weithin zusammenfallt - zu einer großen Veranstaltung der Hilfe, zu der öffentlichen Hilfsorganisation schlechthin, die als solche ordnet, nie mehr mit wirklicher Gewalt? c) Eine solche Entwicklung ist vor Jahrtausenden bereits vorgezeichnet worden in wahrhaft klassischer Form, in dem in Platon gipfelnden Erziehungsdenken der Griechen, wie es Werner Jaeger in naher Vergangenheit wieder klassisch dargestellt hat. Für Platon ist der Staat die große Erziehung schlechthin, die in ihrer alles überschauenden Macht wahrhaft gute, in einem moralischen Sinn, der bis in die Güte hineinreicht. Sie bewegt sich durch hebammenhaft-maieutische Hilfe zur geistigen Selbstentfaltung in jener wirklichen geistigen Güte auf die Menschen zu, welche unübertroffen die wahrhaft heiter-gütigen Gespräche des Sokrates in den Werken des frühen und mittleren Platon ausstrahlen. Da ist ein Staat gegenwärtig, der auch in seinen Strafen noch hilft - zum Guten, zur Besserung. Die härtesten Gesetze, selbst wenn sie Todesstrafen bringen, sind noch immer Ausdruck einer Macht, die ganz aus Güte heraus handelt, aus ihr besteht. Ein höheres Lied ist der Staatsgüte nie gesungen worden als im Kriton. Gewiß hat sich dann der Philosoph, vielleicht unter Eindruck und Druck mancher Enttäuschungen, in späterer Zeit anderen Formen der Paideia genähert. In seinen "Gesetzen" wird sie von unerbittlichen Wächtern gehalten, den Bürgern aufgezwungen, der allmächtige Staat der totalen Erziehung kehrt zurück. Nicht selten ist dies als ein Abfall verstanden worden, von der heiteren Güte des Sokrates zur finsteren Gewalt der Normen, hier müßte man nun sagen: vom gütigen Staat wieder zurück in den Staat der unbarmherzigen Gesetze, in einer erneuten Wandlung der Erziehung zur Strafe, die sie doch beim früheren Platon hatte ersetzen sollen. Und oberflächliche Freiheitsbegeisterung mag darin einen Verrat an Werten sehen,
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welche Staatsgüte hatte entfalten sollen, und die am Ende doch nun wieder aufgezwungen werden. Hier ist nicht der Ort, auf Entwicklungen in der Lehre Platons, ihre Gründe, aber auch ihre Grenzen näher einzugehen. Vielleicht sollten die "Gesetze" auch gar nicht den Gegensatz zwischen dem gütigen Staat der Erziehung und dem finsteren Wächterstaat herausstellen, sondern diesen letzteren nur als eine Reservegewalt verstehen, welche aus der wesentlichen Staatsgüte herauswächst und diese in überzeugender Ordnung vollendet. Wie immer dies Berufene deuten mögen: Aus der Sicht dieser Betrachtungen, deren Thesenteile hier schließen, ist im Denken Platons, von den frühen Dialogen bis zu den "Gesetzen", bereits all das vorgezeichnet, was hier in oft mühsamer Betrachtung vieler Einzelphänomene nachgezeichnet werden sollte: daß ein wahrhaft gütiger Staat immer eine politische Hoffnung der Menschen war, daß er gerade heute, in demokratischem Gewande, wie zu Zeiten des Philosophen, viel davon verwirklicht hat, vor allem aber Freiheit gibt, darüber nachzudenken wie Sokrates - wie dieser Staat noch gütiger werden, Gewalt und Gesetz weiter zurückdrängen könnte. Damit ist auch bereits der zweite Teil der Untersuchung eröffnet: Nun fordern Platons "Gesetze" heraus, mit der Frage, ob denn nicht doch nur die Ordnung, bis hin zur Gewalt, all das halten kann, was Staatsgüte verspricht; und ob dann das Hohe Lied auf die Staats güte nicht doch ausklingen muß in einer Rückkehr zu den Quellen des Staates, zu seiner ordnenden Macht. Wenn sie aber zuerst kommt und als letzte bleibt, ist dann nicht eine Relativierung der hier festgestellten und vertieften Erscheinungen eines "gütigen, helfenden Staates" angesagt, die eben doch auch und gerade in der Demokratie stets unter dem Höchsten stehen muß, was diese Staatsform kennt - unter deren gleichen Gesetzen?
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D. Staatshilfe als Staatsallmacht In den beiden Hauptteilen Bund C dieser Betrachtungen wurde gezeigt, wie weit bereits das Feld ist, auf dem sich der fördernde, der helfende Staat betätigt, und - das war nun entscheidend - daß er dort in weithin freiem Belieben tätig wird, motiviert aber, häufig ganz deutlich, durch etwas, das hier Staatsgüte genannt wurde. Dieses Motiv mag nicht immer eindeutig faßbar sein, gelegentlich vage und im Hintergrund bleiben - politisch entfaltet es mehr als konsensschaffende Schubkraft: Es wird überall zum Legitimations-, nicht selten bereits zum Organisationsprinzip. Doch nun gilt es, in einer Gegenthese, die aber im Grunde die herkömmliche Ausgangsthese darstellt, nachzuweisen, daß diese große neue Antithese der Staatsgüte bisherige Staatlichkeit, insbesondere den Staat der Gesetze und ihrer Ansprüche, zwar auf Dauer umgestalten könnte, daß sie vielleicht sogar auf dem Wege dahin ist; es muß aber auch aufgezeigt werden, was eine derartige Groß-Entwicklung relativiert, was ihr insbesondere in Grundsätzen herkömmlicher Staatlichkeit entgegensteht und entgegenwirken wird. Bevor sich die Betrachtungen dem in den Hauptteilen E und F zuwenden, bleibt aber nochmals in diesem Hauptteil herauszustellen, worum es in dieser Groß-Entwicklung geht, im Kampf der Güte gegen die Gesetze: nicht um weniger, wohl aber um eine "ganz andere" Macht, die weit absoluter werden könnte als alle bisherige "obrigkeitliche Gewalt", als alle, insbesondere die demokratische Hoheitsmacht. Dann erst wird der Einsatz klar, um den die Nonnen sich gegen die Güte wenden - müssen. Am Anfang dieses Hauptteils sollen dessen drei Thesen stehen: - Der helfende Staat reicht weit über die Staatsgüte und deren Legitimationskräfte hinaus; seine Förderungsgewalt erfaßt die ganze Staatstätigkeit. - Diese Staatshilfe wird, in allem und jedem, zur Staatsrnacht. - Staatshilfe steigert sich zu neuen Fonnen der Staatsallmacht.
I. Von der Staatsgüte zur gütefreien Staatshilfe
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I. Von der Staatsgüte zur gütefreien Staatshilfe 1. Entmoralisierung des helfenden Staates
Die bisherigen Betrachtungen suchten hinter den Staatsveranstaltungen, die sie sich zum Gegenstand wählten, stets ethische Motive, Legitimationen aus Staatsgüte; und diese ließen sich in vielen, wichtigen Bereichen auffinden, überzeugend etwa bei Sozialhilfe und Bürgererziehung. Nachzuweisen war, daß in der Öffentlichkeit eine Erwartungshaltung sich immer mehr verbreitet, nach der solche Motive in den Vordergrund treten, von Legitimations- zur Organisationsprinzipien werden sollen. Dies darf aber nun nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Begriff der Staatshilfe, in seiner abgeschwächten, liberalen Darstellungsform der Staatsförderung, darüber heute noch immer, und vielleicht endgültig, weit hinausreicht. Hilfe in Bedürfnislagen kann, sie muß aber keineswegs aus Güte stets erfolgen, sie kann auch, soll häufig nur zu einer Egalität führen, welche der Gleichheitsstaat mit hoheitlichen Mitteln nicht herstellen könnte. Und dieses Zwielicht des gütigen Staates, zwischen Moral und egalitärer Herrschaft, liegt nicht nur über allen Veranstaltungen des Förderstaates, es ist wohl als solches, gerade in der Demokratie, gewollt und es läßt sich nicht aufhellen durch eine einfache Gleichsetzung von Demokratiemoral und Gleichheit, mag diese auch immer wieder versucht werden: Güte, damit aber auch gütiges Staatshandeln, schreitet eben auch über die Gleichheit hinweg; Gleichheit ist ein Macht-, ja ein Gewaltbegriff, sie kommt nicht primär aus dem Willen zum Geben. Das erwähnte Zwielicht ist aber, im Grunde, ein solches zwischen Staatsgüte und jener Staats-Ordnung, welche noch immer Hauptaufgabe der Gesetze und der aus ihr fließenden Hoheitsgewalt der Demokratie war. Die Betrachtung muß sich also der Frage stellen, ob die mit dem Bekenntnis zur Staatsgüte versuchte Staatslegitimation letztlich nicht doch ein Kryptobegriff ist, hinter dessen Schleiern die alte, vor allem aber die eigentliche Staatsmacht nur in neuen Formen wirkt, aber mit alten Zielsetzungen, welche sie letztlich dennoch, legitimationsmäßig wie organisatorisch, beherrschen: Divide et impera - Organisieren und Herrschen: Ordnen durch politische Macht, nicht durch überzeugende Güte. Dies ist dann eine ganz andere, in ihrer Härte bis an den Zynismus heranreichende Sicht des doch mit so viel menschlicher Begeisterung allenthalben geforderten Staatseinsatzes: Es findet eine Entmoralisierung des helfenden Staates statt, seine Förderung wird zum Machtinstrument, vielleicht zur reinen Machtverantstaltung. Das Bedürfnis der Menschen, der Bürger, nach Humanität und Güte wird eingesetzt - vielleicht mißbraucht - gerade dort, wo es bereits intensiv wirkt, wie bisher beschrieben, zu einer Machtver-
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D. Staatshilfe als Staatsallmacht
schleierung größten Stils, hinter der sich nur neue Fonnen des Ordnens verbergen. Und weil es gerade diese Hoffnung auf gütige Hilfe ist, in welcher der so oft vom Staat enttäuschte Bürger doch immer wieder zu ihm kommt, weil er seine Gewalt auf diesem Wege glaubt zurückdrängen zu können, ist es dann nichts als eine besondere List der Vernunft des Förderstaates, seine Macht hinter solchen Legitimationen zu verstecken, ja sie mit den Kräften der moralischen Überzeugung entscheidend auszuweiten? Hier würde dann Staatsethik zur Machtcamouflage größten Stils. 2. Die Weite der "Staatsförderung" Beispiele für "Hilfe ohne Güte" Staatliche Förderung ist heute längst nicht mehr auf Existenzsicherung, auf Befriedigung elementarer oder doch in einer Demokratie unbedingt zu gewährender Hilfe für die Bürger beschränkt. In dem Begriff der Förderung als solchem liegt bereits eine Erweiterung auf viel anspruchsvollere Ziele einer allgemeinen Verbesserung der Lebensqualität, die kaum mehr mit Vorstellungen der Güte oder einer wie immer verstandenen Staatsethik in Verbindung gebracht werden können. Diese Staatsleistungen umfassen den gesamten Raum der ökonomischen Subventionen, mit all ihren Anreizen und Verschonungen, bis hinein in den kaum mehr übersehbaren Bereich der allein auf Gleichheitsordnung gerichteten Transferleistungen, über deren präzise Abgrenzung nie Konsens zu erreichen sein wird. Letztlich hören Staatshilfe und Staatsförderung nur dort auf, wo die "eigene Leistung" des Bürgers sie überflüssig macht, wo diese letztere allein die Rechtsbeziehungen bestimmt - in einem Privatrecht des Austausches, soweit dieses noch nicht durch öffentliches, insbesondere sozialisierendes Ordnen mit seinen Leistungsgeboten unterwandert ist. In diesem weiteren Sinne läuft dann alles öffentliche Recht auf eine Art von Staatshilfe, auf Staatsförderung des einen gegenüber dem anderen Bürger hinaus. a) In zwei eng verzahnten Bereichen wird eine solche Staatsförderung ohne Staatsgüte besonders deutlich: im Steuerrecht und im Recht der wirtschaftlichen Staatssubventionen. Subventionen mögen wie Staatsgeschenke empfunden werden - im Rechtsstaat dürfen sie es nicht sein, und dies wird noch im folgenden vertieft werden. Der Staat gewährt diese Leistungen in hoheitlicher Fonn, wenn auch vielleicht in privatrechtlicher Abwicklung, doch durch diese Macht werden sie nicht zum Geschenk im Rechtssinn. Ihr Ziel bleibt auf Ordnung gerichtet (vgl. dazu näher unten Eil). Die Steuerverschonungen wirken in sehr vielen Fällen, wenn nicht durchgehend, als staatliche Subventionen in einem weiteren Sinn; es bleibt sich
II. Staatshilfe als Staatsrnacht
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gleich, ob der Bürger Geld erhält, oder sein Geld an den Staat nicht abzuführen braucht; immer wieder, etwa bei der Förderung der Eigenimmobilien oder beim Kindergeld, wird von einem dieser Systeme ohne Schwierigkeiten auf das andere umgeschaltet. Auch dies mag nicht selten als Ausdruck staatlicher Güte verstanden werden, hinter ihm stehen aber Ordnungsziele, und, wie noch zu vertiefen sein wird, echte Machtansprüche. Im staatlichen Verzicht auf Bagatellansprüche im Abgabenrecht wird wohl kaum jemand einen Ausdruck von Staatsgüte sehen. Und die Begünstigung der Mildtätigkeit als Gemeinnützigkeit, steuerliche Anreize zu karitativem Tun, mögen eine Bürgergüte zum Ziel haben, auf welcher ein größerer, gütiger Staat in der Tat aufruhen könnte, gerade in der Demokratie. Doch werden hier nicht primär Anreize zur Güte als Zwangsersatz eingesetzt, ist dies wirklich Ausdruck der eigenen Güte des Staates und nicht nur eine Ordnung des Bürgerverhaltens, wie bei so vielen anderen Bürgerbetätigungen auch? Es ist schon eine Grundsatzfrage, ob ein solcher mittelbarer oder gar ein direkter Zwang zur Bürgergüte, der vom Staat ausgeht, überhaupt noch als Ausdruck der Staatsgüte gesehen werden kann. Da fordert die Staatsgewalt, mit gerichtlichen Sanktionen, bis hin zu Bußen und Strafen, vom Arbeitgeber eine Fürsorge, die an sich gewiß Ausdruck der Güte ist, doch entspricht diese "befohlene Güte", einem ethischen Gebot, wenn der Bürger sich ihr nicht entziehen kann, empfindet sie der Arbeitgeber nicht durchgehend zuallererst als einen staatlichen Zwang, der ihm gerade die Möglichkeit nimmt, eigene, freie Güte aus ethischen Gründen seinem Arbeitnehmer zu erweisen? Der Staat zwingt den Vermieter zu einem Verhalten gegenüber seinem Mieter, das in früheren Zeiten allenfalls als freundliches Entgegenkommen erschienen wäre. Auch hier wieder wirken im Grunde nur "Befehle zur Güte"; ihnen wird nicht aus ethischer Überzeugung gehorcht, sondern in Unterwerfung unter eine Staatsgewalt, welche mit wirtschaftlichen Sanktionen droht. In den bedeutendsten Bereichen des Zusammenlebens spricht also vieles, wenn nicht alles dafür, daß "Staatsgüte nicht durch Staatszwang durchschlägt", daß sie vielmehr durch den Machteinsatz ersetzt und aufgehoben wird - befohlene Güte als Macht.
11. Staatshilfe als Staatsmacht Das öffentliche Recht ist das Recht der politischen Macht, nicht einer technischen Effizienz, welche nur deren optimale Erscheinungsform ist. Lange hat es gedauert, bis Staatshilfe als Form von Staatsgewalt in der Dogmatik des öffentlichen Rechts erkannt wurde; Marxisten müßten eigent-
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lieh sagen - und sagen es nicht - : der Staat als moderner Sklavenhalter. Immer wieder ist versucht worden, Unterschiede zwischen dem Einsatz "obrigkeitlicher Gewalt" und dem gewaltausstrahlenden Staatsgeschenk zu konstruieren. Zwischenbegriffe wurden eingeschaltet, wie die "Angewiesenheit" des Bürgers auf solche Geschenke oder gar deren Unentrinnbarkeit - nie konnten sie hinreichend präzisiert werden. In einer Marktwirtschaft mit schärfstem Wettbewerb kann eben der Bürger, handelt er nur vernünftig, auf kein Geschenk verzichten, am wenigsten auf das des Staates. Eine Freiheit des Verzichtes aus Unvernunft ist Unsinn. Wenn der erste Schritt längst getan ist, daß nämlich tatsächliches Verhalten des Staates bei Einwirkungen auf Grundrechte dem hoheitlichem Eingriff gleichgestellt wird, so muß der zweite Schritt folgen: auch die Staatsförderung ist grundsätzlich Staatseingriff; der Staat verteilt immer Danaergeschenke. Wann wird dies einmal offen bekannt und nicht immer gewunden gefragt werden, ob man solchen Anreizen widerstehen, solche Gaben nur zum eigenen Wohl gebrauchen könne? Daß Schenken eingriffsträchtig ist, hat die Weisheit des Zivilrechts von Alters her erkannt und daher müht sie sich um den Begriff des "reinen Geschenks", das nur Vorteile bringt. Kann es ein solches beim Staat überhaupt geben, ist das Wort von ihm, der nichts zu verschenken hat, nicht wenigstens in dem Sinne zutreffend, daß er reine Geschenke eben doch nicht macht - eben weil er "Macht ist", so stets nur Macht kauft? Hier mag auf einiges nur allgemein hingewiesen werden, was den Machtcharakter der Staatsförderung verdeutlicht:
1. Hilfe - stets aus Machtwillen Staatsförderung ist, nach Voraussetzungen, Motiven, vor allem aber nach ihrer Wirkung, wesentlich und zuallererst Ausübung von Macht über die Geförderten. Ihr Verhalten wird damit nicht angeregt, sondern regelrecht erkauft, mit Finanzmitteln der Macht, die nicht ihnen, sondern der Förderinstanz zur Verfügung stehen, zu Zwecken, welche diese setzt und deren Verfolgung sie, möglichst eng, überwacht. Die Förderung unterscheidet sich von der Anordnung nur dadurch, daß sie dem Adressaten einen weiteren, insbesondere organisatorischen Raum der Einzelabwicklung beläßt, obwohl die Förderinstanzen in diesen auch immer häufiger eindringen, was im folgenden noch zu vertiefen sein wird. Und im übrigen ist zwar ein Antrag Voraussetzung - doch das Verwaltungsrecht des hoheitlichen HandeIns kennt ja auch die Figuren der nur auf Antrag ergehenden wie der zustimmungspflichtigen Verwaltungsakte. Die öffentlich-rechtliche Dogmatik behandelt im übrigen das Förderungsverhältnis auch insoweit wie das der hoheitlichen Anordnungen, als sie die Zulassung zur Förderung, im Rahmen der Zweistufentheorie, als Verwaltungsakt anerkennt, nur die
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wesentlich weniger bedeutsame Abwicklung des Verhältnisses meist als privatrechtsähnliche Beziehung, vielleicht sogar als einen Austausch erfaßt; doch ähnliches könnte ja auch im eigentlichen Hoheitsbereich erfolgen, in dem der verwaltungsrechtliche Vertrag den Verwaltungsakt, vor allem in seiner Abwicklung, ersetzt. Staatsförderung ist also schlechthin Ausdruck der Staatsgewalt; alles andere ist Verniedlichung oder Demagogie, welche Bürgernähe vortäuschen will. Dies muß nun nicht bereits die Motivationslage des fördernden Staates bestimmen; er kann durchaus nicht aus Machtpolitik handeln, sondern aus Staatsmoral, bis hin zur Staatsgüte, in den vorstehenden Hauptteilen wurde dies deutlich und jedenfalls entspricht es den gängigen Vorstellungen der Allgemeinheit. Doch hier schließt sich nun eine andere Frage an: ob nicht gerade diese Güte, wenn sie denn "mitschwingt" in einer Förderung, wiederum Ausdruck der Macht ist, nur deren Verstärkung dienen soll; und in dem "nur" liegt das Entscheidende: Ist die Staatsgüte nicht lediglich Vorwand, Versuch legitimierender Verschleierung? Auf die Erklärungen der Fördergewalt kann es doch nicht ankommen; und das Verhalten der Geförderten, welches zum Verständnis der gesamten Förderbeziehung heranzuziehen ist, gibt auch nur einen zwielichtigen Aufschluß: Zwar nähern sie sich dem Staat in der Haltung des Bittstellers um Staatsgüte; aber genauso könnte dies verstanden werden als Haltung des Untertanen, der von der Obrigkeit eine Gunst erbittet, wohl wissend, daß er darauf keinen Anspruch hat, daß sich hier also Macht ihm gegenüber in ganz offener, unverblümter Weise auswirken kann, in der Gewährung der Förderung, in deren Auflagen wie in der Versagung. Damit wäre die gesamte, politisch oft so lautstark verkündete Motivation und Legitimation der vorstehend näher behandelten Ausdrucksformen der "Staatsgüte" mit eben denselben Problemen belastet, welche in der Philosophie der Ethik wie in der Moraltheologie seit Generationen gestellt werden, wenn von Güte, Milde, Barmherzigkeit die Rede ist, ihren Motiven und ihrem Verdienst. Spätestens seit Friedrich Nietzsche steht die These im Raum, daß all dieses moralische Verhalten nichts anderes sei als eine Kryptoform des Willens zur Macht, als dessen Perversion in der Selbstgerechtigkeit der "Guten". Selbst wo sich der ethische oder gar religiöse Hintergrund solchen Verhaltens aufhellen läßt, wird auch laufend aufgedeckt, was mit Güte, ja mit Moral nun wirklich nichts mehr zu tun hat: Selbstbestätigung, Selbstrechtfertigung, andererseits Machtbedürfnis über den Annehmenden, der gerade mit dem Geschenk im Geist des Schenkenden diesem unterworfen wird. Es bedarf nur einer Lektüre der großen russischen Romanliteratur des Ende des vergangenen Jahrhunderts, um auf Schritt und Tritt diesen unbarmherzigen Fragen an die Barmherzigkeit zu begegnen.
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Wenn aber derartiges sogar in der Individualethik ein schweres Problem darstellt, um wieviel mehr wird dann geradezu grundsätzlich der Begriff der Staatsgüte bei einer Institution problematisch, die ihrem Wesen nach getragen ist durch den Willen zur Macht, die vielleicht "gut" auch handeln will, aber eben nur solange es ihre Fördergewalt, ihre Macht als solche stärkt. Staatsgüte wäre so nicht Motiv und Legitimation, sondern allenfalls ein technisches Instrument der Machtausübung, mit Wirkungen im Geist der Geförderten. Liegt es dann aber nicht nahe, in Staatsgüte nichts anderes zu sehen als doch wieder Macht, und nur sie, wenn dies von einer Institution ausgeht, die auf Machtentfaltung und Machterhaltung gerichtet ist, sich ihrem Wesen nach dadurch legitimiert, daß jede Einzelheit bei ihr durch den Willen zur Macht bestimmt wird - dem Staat? Dann bliebe eben die Frage nach der Staatsgüte eine solche nach einem wahrhaft vordergründigen, d.h. nur für die angesprochene Bürgerschaft bestimmten Motiv, sie wäre nur vor-gewendet - ein wahrer Vorwand der Macht, die beste Möglichkeit, diese hinter Moral zu verschleiern. Hier wird eine größere Dimension der Thematik der Staatsgüte sichtbar, für das gesamte Öffentliche Recht - vor allem aber das Staatsrecht, in dem diese Ordnungen von jeher stehen - die bereits seit mehr als drei Jahrhunderten der Staatstheorie bewußt ist: der Staat zwischen Ordre moral und Omnipotenz - hebt nicht doch hinter den Schleiern der Staatsgüte nur der Leviathan sein Haupt, ist Staatsgüte mehr als Staatsklugheit: Staatsraffinement?
2. Förderung: Vorwand der Machtausübung Eindringen in die Privatheit
Hier ist nicht der Ort, die Problematik des "Gutes Tuns als Machtausübung" grundsätzlich, moralphilosophisch zu vertiefen. Doch gerade Betrachtungen zum gütigen Staat legen die Frage nahe, ob seine Förderung, seine vielfachen Hilfen, nicht in erster Linie Machtausübung darin darstellen, daß sie der Staatsgewalt einen Vorwand zum Machteinsatz bieten, indem sie den Gewaltunterworfenen ihre Allgegenwart und durchschlagende Wirksamkeit vor Augen stellen, vor allem aber die Staatsinstanzen selbst zu Wissenden - oft geradezu Allwissenden - werden lassen. Förderung führt, auf breiter Front, zum Eindringen des Staates in die persönlichen, vor allem in die wirtschaftlichen Lagen der Bürger. Geholfen kann nur werden, wenn die Bedürfnisse bekannt sind, daher muß der Förderstaat zum Ausspähungsstaat werden. Schon bevor Förderung einsetzt, müssen die Voraussetzungen dafür geklärt werden, und zwar weit über den Bereich hinaus, in dem anschließend geholfen wird. Umfragelawinen, nur zu oft verschleiert hinter Verbands- und Kammerhilfen, welche beim Bürger den
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Eindruck des Privaten, der Vertretung eigener Interessen erwecken, berichten im Grunde den Staat, dem angeblich doch geborenen Feind der Privatheit, über all deren Regungen. Eine Fragebogenflut erinnert Ältere an Zeiten, in denen sich harte Besatzungsgewalt dieses Instruments vor allem bediente. Nicht Güte, Hoheitsgewalt tritt hier auf allen Ebenen in Erscheinung: in der Verpflichtung gegenüber Kammern, Verbänden, Banken als kaum mehr erkennbare "beliehene Unternehmer" für die Hoheitsgewalt tätig zu werden, als rechtliche Verpflichtung, die von diesen Instanzen an ihre Mitglieder weitergegeben wird. Greift dann, auf solcher Grundlage, die Förderung endlich ein, so verstärken sich die Informationsanforderungen der Hoheitsgewalt, mit obrigkeitlichen Mitteln, wiederum geradezu lawinenhaft: in ständigen Berichtspflichten, welche Zwischen- und Endergebniskontrollen auslösen können, deren Damokles-Schwert jedenfalls über alle Empfanger einer vermeintlichen Staatsgüte hängen. Sie wird nun nicht mehr als eine solche, sondern als schwerwiegender; hoheitlich erzwungener Aufwand gefühlt. Das Datenschutzproblem wird in der Staatsförderung elegant umgangen: Wer die Mittel der Gemeinschaft für seine eigenen Interessen wünscht, muß doch, gewissermaßen als privatrechtSähnliche Gegenleistung, die erforderlichen Informationen bieten, schon damit dem demokratischen Dogma ständiger Kontrolle genügt werde. So führt Staatsförderung auf breiter Front zu einem impliziten Verzicht auf informationelle Selbstbestimmung, auf ein wesentliches, gerade in letzter Zeit besonders betontes Grundrecht. Im Ergebnis wirkt sich dies relativierend auf andere, zentrale wirtschaftliche Grundrechte aus, insbesondere auf die Berufsfreiheit, vor allem unter den Aspekten der Werbe- und Wettbewerbsfreiheit, aber auch auf das private Eigentum am Betrieb. Eine Vernetzung der Förderdaten erscheint ja schon deshalb als unumgänglich, weil es sonst nie möglich sein würde, Doppelförderung zu verhindern - ein weiteres Menetekel des demokratischen Staates der Hilfen. Wie aber soll dann verhindert werden, daß diese Informationen, von meist zentraler wirtschaftlicher Bedeutung für die Betroffenen, nicht doch alle hoheitlichen Schaltstellen des Staates erreichen, nicht nur dessen gebende Hände? Je mehr Förderung, desto mehr Staatswissen; am Ende steht die allwissende Güte - verdient sie diesen Namen noch?
3. Die Lenkungsauflage - Lenkung durch Staatsgüte Die Auflage ist ein Zentralbegriff des gesamten öffentlichen Förderungsrechts. Der demokratische Staat will damit einerseits seine systemimmanenten Kontrollen sicherstellen, zum anderen als ein Partner der Bürger
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erscheinen, denen gegenüber er seine austeilende in eine Austauschgerechtigkeit verwandelt. Daß die Auflagen in gewissen, wichtigen Bereichen kaum mehr erkennbar sind oder gänzlich fehlen, wie bei Sozialversicherung oder, weithin, im Raum der öffentlichen Erziehung, ändert nichts daran, daß sie in anderen Räumen, insbesondere bei der so wichtigen Wirtschaftsförderung, immer mehr in den Vordergrund treten. Über die Lenkungsauflage - denn dies ist das richtige Wort - ist geschrieben, ihre grundsätzliche Bedeutung aber bisher kaum erkannt worden: daß mit ihr der Staat der vermeintlichen Güte sich in den harten Eingriffsstaat zurückentwickelt. Die Macht der Auflagen, eines Staates, der gerade hier seine Eingriffe in Bedingungen zu verwandeln sucht, ist aber offenkundig: Sie vervielfachen sich mit jener Bürokratie, welche die Fördergewalt hervorbringt, damit sie die Staatsleistung überwache. Diese Bürokratie kann sich selbst nur legitimieren in einem Spiralvorgang von Geschenk zu Auflage und wieder zurück, denn nur zu deren Kontrolle benötigt man jene Bediensteten, welche überwachen, immer neue Leistungsbedingungen ersinnen, Selbstbefriedigung betreiben und ihre Arbeitsplätze sichern. So treten denn schon, in vielen Bereichen, die Leistungen hinter den Auflagen zurück, das Staatsgeschenk wird - ein Paradox geradezu als Gegenleistung für die Auflagenerfüllung angesehen, vielleicht gar als eine solche, in der Erfüllung der immer zahlreicher lastenden Informationspflichten. Der Auflage ist es eigen, daß sie als solche nicht als Eingriff empfunden werden soll - der Empfänger braucht ja die Staatsgüte nicht anzunehmen, ja nicht einmal zu beantragen, welche unter der Auflage gewährt wird. Die ständigen Versuche, im öffentlichen Recht, aus der "Antragsverpflichtung gegen sich selbst" des Bürgers und ihren Notwendigkeiten einen Staatseingriff zu konstituieren, erreichen schon deshalb nicht überzeugend die Allgemeinheit, weil der Begriff der Unentrinnbarkeit bisher nie überzeugend definiert werden konnte - wann "muß denn schon" um Staatshilfe gebeten - und dann, auf ihrem Rücken, die lastende Auflage mitakzeptiert werden? Auflagen sind keineswegs immer isoliert als solche angreifbar; in vielen Fällen zeichnet sich der gebende Staat in der Weise frei, daß bei ihrer Nichterfüllung dann eben die gesamte Förderung auf dem Spiel steht, zum Gegenstand eines etwaigen Rechtsstreits gemacht wird. Damit verliert sich die Erkenntnis, daß die Auflage als solche einen Eingriff bedeutet. Alle Anstrengungen, dies deutlich werden zu lassen, vor allem eben in der Möglichkeit des isolierten rechtlichen Angriffs auf sie, würden helfen, den Eingriffscharakter der Staatshilfen zu verdeutlichen; doch die Freizeichnungstechnik des Zahlenden, der eben angibt, wird sie immer wieder unterlaufen.
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Die Auflagen sind, bei aller Staatsförderung, stets wesentlich zielorientiert, sie sollen den Förderungszweck verwirklichen. Dies aber gewährt (zu ihrer Gestaltung) dem Förderstaat einen sehr weiten, oft übermäßigen Raum, aller teleologischen Ausrichtung ist dies schon eigen, nur selten wird sie zu einer wirklichen Bindung. Im wirtschaftlichen Bereich erscheint überdies etwas wie ein genereller "Vorhalt" nötig, eine Vorsicht, welche der Leistungsstaat als eine Art von Kreditgeber von den Banken gelernt hat, und doch erst recht dort anwenden darf, wo er hilft a fonds perdu. So wird denn das Recht der Lenkungsauflagen wohl kaum je mit jener Genauigkeit ausgestaltbar sein, welche die Austauschgerechtigkeit des Privatrechts herkömmlich prägt. Daß hier aber dem Staat größere Gestaltungsräume bleiben, wird sich eben, in aller Regel, nicht auswirken im Sinne größerer "Freiheit zur Güte", sondern als Auflagengewalt zur Förderung als Machtinstrument. So entfesselt den Bürger nicht die Fördergewalt aus den Bindungen seiner bedrohlichen Bedürfnisse, sondern die Macht der Geschenke.
4. Förderung - Legitimation der Macht des Nehmens
a) Das Geschenk als Alibi, ja als Lösegeld der Ausbeutung - diese Erscheinung hat der Antiklerikalismus schon vor Jahrhunderten den Kirchen, der Sozialismus dem Kapitalismus bereits vor weit über einem Jahrhundert erfolgreich zum Vorwurf gemacht. Nehmen bedeutet Macht, erfolgt in den härtesten Formen durch ihre Ausübung. Abgemildert wird sein Odium oft dadurch, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil an den Verpflichteten, Betrogenen oder gar Ausgeplünderten wieder zurückgelenkt wird in "Geschenkesform" - so wie es der Staat in Casinos und Lotterien täglich mit Erfolg praktiziert, wo der Gewinn als Geschenk des Glücks erscheint. Diese Machtvernebelung übt der Leistungsstaat in größtem Umfang. Seine härteste Gewaltausübung, mit obrigkeitlichem Zwang wie eh und je, setzt er in der Abgabengewalt ein; schon heute ist sie der Prototyp der staatlichen Machtausübung, alle Tendenzen gehen dahin, sie vielleicht eines Tages als einzige staatliche Gewaltausübung erscheinen zu lassen. Sie aber gerade wird heute nur durch eines mehr gerechtfertigt: durch den Verteilungsauftrag des Staates, der längst hinter der angeblichen "Befriedigung allgemeiner öffentlicher Interessen" steht. Die Legitimationskraft des Mitteleinsammelns für Staatsgeschenke ist größer noch als die privater Sammlungen für karitative Veranstaltungen, und wenn diese nur zu oft mehr erbringen, als das, was dann die Bedürftigen wirklich erreicht, so gilt dies erst recht für die größte derartige Organisation, den Staat: Was er mit seiner Macht einsammelt, sollte zwar generell, es muß aber keineswegs und
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es wird nie voll kontrolliert nur die Bedürftigen erreichen - weil es ganz allgemein auf das größte, einheitliche Staatsziel hin ausgegeben wird: für größere Macht. b) Doch der Staat begründet auf solche Weise nicht nur den unmittelbaren steuerrechtlichen Zugriff, seine obrigkeitliche Gewalt par excellence, gegenüber dem Bürger, diese geschenkliche Begründung reicht viel weiter, bis hinein in normativ-staatliches Ordnen der Beziehungen zwischen den Bürgern, ohne daß auch nur ein Heller von ihnen die Staatskassen erreichen muß: Der Staat geht auf breiter Front über zu einem hoheitlichen Transferzwang zwischen den Bürgern, er erzwingt ihre Solidarität. In einer damals spektakulären Entscheidung zur Mineralölbevorratung wurde dies, an einem begrenzten Beispiel, noch in seiner grundsätzlichen Bedeutung erkannt; im Namen der Solidarität sollten Branchenangehörige sich gegenseitig unterstützen. Doch inzwischen ist eine solche "erzwungene Güte zwischen Konkurrenten" längst über alle begrenzenden Ufer getreten. Allenthalben werden ordnende, hoheitliche Staatseingriffe auf solche Weise erzwungen, ohne daß es den Staat eigene Leistung kostet: Erzwingung von Bürgergüte läuft in größtem Umfang ab, im Mietrecht und im Arbeitsrecht, ja bis hinein in familienrechtliche Bezüge. Was wird dem Einzelnen hier wirklich auferlegt? Geschenkähnliche Leistungen gegenüber anderen, im Namen des schwammigen Begriffes einer Solidarität, von der bereits die Rede war. Dahinter aber steht eine Legitimation des staatlichen Ordnens durch den Zwang zu Geschenken, welche sich die Gewaltunterworfenen untereinander zu gewähren haben. Damit wird dann nicht nur die Finanzmacht, es wird die gesamte normative und administrative Ordnungsgewalt des Staates auf solche Weise gerechtfertigt durch Geschenk und Güte. Daß dies weit über Grundsatzlegitimation hinausreicht und durchaus zu organisatorischen Verfestigungen führt, zeigen die zahllosen anspruchsmäßigen Verfestigungen, welche der Staat dann verhältnismäßig billig für sich selbst - über seine Gerichte durchsetzt. Insgesamt tritt also die Staatsrnacht als solche in das Zwielicht zwischen Staatsgüte und hoheitlicher Gewalt, indem sie aus ersterer vor allem die Legitimation, aus letzterer meist schwerpunktmäßig die Organisation der staatlichen Veranstaltungen gewinnt. c) Um aber zum Leistungsstaat zurückzulenken: Er ist ganz wesentlich nicht austeilende, sondern verteilende Macht, denn er muß die ausgeteilte Masse ja durch Nehmen sich zuerst zueignen, in den Mitteln oder, ganz allgemein, durch Übernahme von Aufgaben; denn auch dies sollte nicht unterschätzt werden. Dieser Verteilungsstaat legitimiert all seine ständig steigende Macht letztlich im Geist der Bürger nur durch eines: Er ist für sie eben doch der Schenkende, von dem jeder eine Gabe zu empfangen glaubt
III. Durch Staatshilfen zur Staatsallmacht
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oder erhaschen möchte. Laufend wächst die Skepsis, daß sich dies als Rechtsanspruch vor den Gerichten erstreiten lasse; zugleich nimmt die Hoffnung auf eine Staatsgüte zu, welche eben doch zu solchem Geben übergehen werde, auch wenn es nicht geschuldet ist. Und daß dabei vorgängig genommen werden muß, wird hingenommen in der weiteren großen Hoffnung, daß es andere seien, welche hier zu bezahlen haben, und aus dieser Erwartung heraus lebt der Umverteilungsstaat - und wäre er nicht eine Ordnung der Güte? So legitimiert sich am Ende alle Hoheitsgewalt, in ihren zentralen Erscheinungsformen des Nehmens wie des Ordnens, immer letztlich nur aus einem: aus Staatsgüte oder der Hoffnung von Bürgern auf sie. Wo aber liegen dann die Unterschiede zwischen dem gütigen und dem harten Macht-Staat, ist Güte mehr als Macht-Camouflage?
III. Durch Staatshilfen zur Staatsalimacht 1. Die Grenzenlosigkeit staatlichen Reifens
Der Förderstaat setzt Hoheitsgewalt ein, er legitimiert deren Ordnen noch weit über die Leistungsstaatlichkeit hinaus. Darin läßt sich Staatshilfe im Namen der Staatsgüte geradezu hochrechnen zu einer virtuellen Grenzenlosigkeit, damit zu einer Totalität der Staatsrnacht im Namen der Staatsgüte. In Zusammenfassung von vielfach bereits Angedeutetem hier noch einmal das Wichtigste: Staatshilfe erscheint als gewaltfreie Veranstaltung. Wird sie nicht geradezu als freiheitskonform, als "Hilfe zur Selbsthilfe" gewährt? Führt sie nicht zurück aus dem Gerichtssaal zu Bitten, in denen aber bereits Unterwerfung liegt? Gehört ihr nicht eine Zukunft, in welcher die Menschen werden lernen müssen, kleiner, bescheidener zu werden, sich von antiautoritären, emanzipatorischen Illusionen zu verabschieden, in der Erkenntnis, daß nicht sie, sondern nur ein Größerer seine Persönlichkeit stets wird entfalten können: der Staat? Staatshilfe ist potentiell allgegenwärtig. Gegen sie gibt es keine Selbständigkeit des Bürgers mehr, wenn sie ein Attribut verdient, so ist es das der Allmacht. Der Eingriff der Hoheitsgewalt wird nie allseitig wirken können - vorbehalten ist diese Allgegenwart den Möglichkeiten der zahllosen, sich vervielfältigenden Staatshilfen. Als Allmacht zeigt sich die Staatshilfe in dieser ihrer virtuellen Grenzenlosigkeit, die zur Allgegenwart wird, welche kaum noch der Staat, sicher aber der Bürger zwar fühlt, nicht aber mehr zu durchschauen vermag. In ihrer Unentrinnbarkeit verstärkt sich seine Abhängigkeit - damit aber die
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Staatsrnacht. Staatshilfe macht dankbar, gerade da sie nicht einer Institution geschuldet ist, der gegenüber es sonst nur Duldung gibt, nie Dank. Und Staatshilfe macht geduldig, sie läßt alle Gedanken an Rebellion, oder gar an Revolution vergessen. Mögen gelegentlich einzelne besonders Betroffene demonstrieren für Staatshilfen - diese Proteste kommen nie aus der Grundüberzeugung eines Kampfes um Freiheit, sie haben immer etwas ängstlich Bittendes. Und wird dem nicht entsprochen, so gehen die Demonstranten entmutigt nach Hause, sie erstürmen keine Bastille - es gibt sie auch nicht mehr. Diese Staatshilfe ist grundsätzlich normfrei - mit Ausnahme der Regeln, welche sich der Gebende in Freiheit selbst setzt. Damit ist sie in ihrem Kern eben doch rechtsfrei, da sie sich ja auch gegen den Staat der Normen wendet, im Namen der Güte, wie dies in den ersten Hauptteilen eingehend dargelegt wurde. Hier also kommt wohl etwas wie das Ende des Rechts in Macht - in allgegenwärtiger Allmacht. Staatshilfen sind grenzenlos auch darin, daß sie immer weiter gehen, immer neue Bereiche erfassen können. Das Abgabenerfindungsrecht des Staates wird betont, doch es findet viele Schranken an der ökonomischen Realität - das Hilfserfindungsrecht der Staatsgewalt ist schrankenlos. In dieser Unbegrenztheit wird Staats macht als Staatsgüte - zur Staatsallmacht. 2. Die Allmacht gütiger Gewalt
Wenn aus der virtuellen Grenzenlosigkeit des staatlichen Gebens potentielle Allgegenwart der Staatsgewalt erwächst - und sie genügt als eine mögliche, voll erfaßt werden kann sie ohnehin ebensowenig wie die des Schöpfergottes - so wächst gerade hier der Staat hinauf zu dem, was letztlich alle Beschäftigung mit der Macht als solcher zeigen sollte: zum letzten Ziel wahrer Allmacht auf Erden. Mit dem Begriff des "allmächtigen Staates" kann allerdings eine Analyse gegenwärtiger staatlicher Machtentwicklungen nicht beginnen. Seit Jahrhunderten ist dieser Weg verschüttet durch den Kampf gegen eben diesen Begriff und die Illusion, daß im Rechtsstaat letztlich die siegreiche Antithese gegen den allmächtigen Staat erreicht wird. So muß denn das Thema "allmächtiger Staat" auf anderen Wegen erreicht werden: in der Behandlung von Befreiungen der öffentlichen Gewalt von ihren Fesseln, worin sie zur Macht ohne Schranken werden will. So sind denn in den vorhergehenden Betrachtungen immer und wesentlich Machtphänomene der Entfesselung behandelt worden: Befreiung von Kontrollen und Kontrollierbarkeiten im Unsichtbaren Staat; Entfesselung
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von präzisen Nonnen im Namen einer allgemein abwägenden Verhältnismäßigkeit; Befreiung der Staatsgewalt von den Maßstäben und Banden der Wirklichkeit durch eine Staatswahrheit, welche die Staatsgewalt selbst setzen und allein erkennen kann, welche sie dann letztlich nicht nur zu ihrer, sondern zur Realität schlechthin werden läßt. Und hier nun wird die letzte Entfesselung beschrieben: im Namen der Staatsgüte, des helfenden Staates, aus den die Staatlichkeit bindenden Gesetzen. Ist es denn nicht das Gute, welches hier getan werden soll, das frei macht von allen Kontrollen, in der Spontaneität des Augenblicks, der über jede Planung, jede Bindung hinweggeht, nach jeweiliger Möglichkeit entscheidet, wie sie die Mittel eben bringen - nach dem jeweiligen politischen Willen, der sie bereitstellt? Darin war ja derjenige, den die meisten Bürger noch immer als ihren Herrn anerkennen, darin war Christus ganz Hilfe, eben dadurch aber ganz frei - ganz Allmacht. So nun erreicht der gütige Staat, der zugleich der allmächtige ist, die höchste Legitimation seines höchsten Vorbildes: des gütigen Gottes.
3. Der gütige Staat - der gütige Gott auf Erden: Transzendente Legitimation der Staatsgewalt als Staatsgüte
Die vorstehend beschriebenen Schritte der bisherigen monographischen Betrachtungen zur Macht behandelten immer Erscheinungen auf Erden, die an das anknüpfen, das erreichen wollten, was dem Allmächtigen an Eigenschaften zugeschrieben wird: Unsichtbarkeit, Gerechtigkeit (über den Nonnen), Wahrheit - und hier nun Güte. Und dieser "Gott alles in allem" er allein ist dann allmächtig, also auch auf Erden der Staat. Die Staatsgewalt folgt den Spuren ihres Vorbildes, der göttlichen Allmacht: In Güte steht sie weit höher, im Grunde unendlich hoch über dem Bürger, der zu ihr als der gütigen Gewalt der unerschöpflichen Mittel aufschaut. Aus ihren Höhen neigt sie sich dann zu ihm herab - die Staatshoheit im eigentlichen Sinn des Wortes wird neu geboren. Das freie Belieben des Herrn des Weinbergs, nicht zum Lohn, sondern zum Geschenk, wird erst wirklich zur Güte, die Freiheit des Schenkens wächst zur Staatsallmacht hinauf. Der Staat wird für den Bürger, wieder, immer noch mehr, zum Schicksal, auch damit erreicht er den Raum des Göttlichen, wie ihn die Menschen sich vorstellen und nur zu oft erhoffen. Dieser Staat dringt dann vor von der Schicksalsgemeinschaft zum Schicksal seiner Bürger. Der gütige Staat folgt den Lehren des Evangeliums, er macht sich Freunde unter seinen Bürgern mit dem ungerechten Mammon, den er jenen 13 Leisncr
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Gerechten nimmt, die auf seine Ordnung der Normen vertrauen und damit verdienen wollten. Und da ist dann, die Wahlen werden es zeigen, mehr Freude über einen Ungerechten, der sich zur Mehrheit bekehrt hat, als über viele Gerechte, welche die Träger der Staatsgewalt, in letzter Hoffnung auf ein "Doch-noch-Ordnen", jedenfalls wählen werden. Dieser gütige Staat ist wahrhaft groß, unendlich, weil unabsehbar, unvorhersehbar in seinen Möglichkeiten und überall in seinen leistenden Wirkungen. Diese staatliche Hilfe bringt Freude zum Bürger über das Unverdiente, über den geschenkten Gaul; so wird er den Herrschenden aufs Maul, nicht vertiefend in dasselbe schauen. Das Staatsgeschenk hat etwas Heiliges an sich, wie alle Hilfe, die stets in Kirchen gespendet wurde und vor ihnen. In seinen Geschenken der Macht findet der Staat Anschluß an die älteste Machtorganisation der heutigen Zivilisation, an die Kirche. Die Staatshilfe hat einen Mittelpunkt von wahrer Gnade, sie bringt alles zum Tragen, was von der göttlichen Gnade in langer Tradition stets erwartet wurde - "Gnade vor Recht". Ja in ihr liegt etwas vom Wunder, daß der Staat der sonst so beschränkten Macht, vielleicht der Machtlosigkeit schlechthin, eben immer noch wirken darf mit seinen Mitteln, und darin wird dann dieser grundsätzlich total Ohnmächtige, wie der Herr der Christen, zum Mächtigsten aller. Da sich dieser gütige Staat auf einem Thron gebender Majestät einrichtet, alle Hilfsbedürftigen zu ihm hinaufschauen, kann er nun verzichten auf alles Staatstheater, auf äußere Formen und Pomp. Hier bläst er sich nicht auf, er verströmt sich, er entleert sich - aber eben doch in immer neuer Macht. Diese Hilfe allein legitimiert den Staat zu wirklicher Strenge, wie sie sonst gegenwärtige Zeiten nicht mehr kennen wollen. Wer hier sich gegen den Staat verschwört, seine Güte mißbraucht und die einer Gemeinschaft, aus welcher die Mittel dazu kommen, ist vielleicht kein Verbrecher, aber er begeht Schlimmeres: Mißbrauch, das neue Wort für eine soziale Sünde, die nicht vergeben werden kann. Die Staatshilfe zeigt schließlich in all dem die bei den Seiten, welche rechtliche Betrachtung von jeher beim Staat sucht: das objektiv-Überpersönliche, Transpersonale, bis hin zur Transzendenz, in dem beschriebenen Gutes Tun als solchen - und zugleich die wesentlich subjektive humanmenschliche Güte, die oft ohne Rücksicht auf Wirkung sich einfach verströmt; und auch hier wird wieder das Evangelium erreicht: "Wer ist denn mein Nächster?" - ein Beliebiger, dessen Bedürfnis eben begegnet außerhalb jeder Ordnung, im Grunde über ihr, in göttlich-gütiger Gegenwart wird es befriedigt, im Staat durch Allgegenwart - bis hin zu gottähnlicher Allmacht.
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Doch diese Macht der Geschenke bleibt, trotz aller Anbindungen an quasi-jenseitige Hoffnungen bei ihren Bürgern - im letzten doch ganz im Diesseits, in jenem süßen "Belieben des Gebens", das eben die neue Staatlichkeit prägt. Hier ist wirklich eine neue staatliche Welt, wie die der Meistersinger, von der es heißen kann "Wie fang ich nach der Regel an? - Du stellst sie selbst und folgst ihr dann", im großen Vorbehalt der politisch jeweils gewollten Mittel. Hier ist die große Flächendeckung der Macht der Geschenke; sie wirkt nicht wie der Eingriff, wesentlich punktuell, einen "Katalog des Gebens" gibt es nicht wie einen solchen der Grundrechte ebensowenig wie es einen Katalog der Sozialen Freiheitsrechte je geben wird. Selbst im Gießkanneneffekt, den die Macht der Geschenke nur allzuoft hervorbringt und durchaus wünscht, liegt nicht so sehr Gleichheitszwang, als eben jenes Belieben des Gebens, das es sich am Ende leicht macht. Und es bleibt dem immer die letzte Reserve des Schenkens, der unbestimmten, unbestimmbaren Förderung für die Zukunft - wer weiß schon, was kommt, was die Herrschenden wollen werden. Das rechtstaatliche "in dubio pro Libertate" bedeutet nicht ein letztes "im Zweifel für das Schenken". Hervortritt vielmehr die Allmacht eines Staates, der "doch nie muß", immer nur darf. Ist es nicht das, was am Ende aller Staatsgüte steht, was ihr vielleicht bereits im Herzen liegt, an all ihrem Ausgang - eben doch die alte, gewaltige Macht, nur in Formen, die sich hemmungslos zu entschleiern bereit sind, aber allein im Geben? Was dieser kürzere Hauptteil bringen sollte, war eine grundsätzliche Antithese zu all dem, was die vorhergehenden Abschnitte an Hoffnung auf, ja oft an Begeisterung über eine neue Staatsgüte hatten erkennen lassen. Und was hier versucht wurde, war weniger Entlarvung als vielmehr Desillusionierung, gegenüber der wohl größten Fata Morgana der Gewaltlosigkeit, der die Gegenwart folgt. Dabei ist es noch durchaus die Frage, ob nicht doch irgendwo eine wirkliche Oase der Staatsgüte liegt - sich finden könnte. Hier aber bleibt die Betrachtung stehen im Grundsätzlichen, nach jener Antithesentheorie, die nicht vorschnell Synthesen suchen will. Eines aber ist nun noch zu leisten: der begründende Nachweis der Antithese, daß das in diesem Hauptteil Dargelegte, die tödlichen Gefahren der vermeintlichen oder wirklichen Staats güte für alle Freiheit, schon erkannt ist, in den Institutionalisierungen des öffentlichen Rechts wie in den Grundprinzipien der demokratischen Ordnung.
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E. Angebliche Staatsgüte: Verschleierte Macht Die in vorhergehenden Hauptteilen wort- und moralreich angepriesenen, angeblichen oder wirklichen, Entwicklungen zu einer neuen Staats güte gilt es nun im einzelnen zu entzaubern: nicht nur, damit offenbar werde, wie sich in aller Güte des Gebens stets auch Macht verbirgt. Gezeigt werden soll vielmehr, daß gerade in jenen Einzel-Institutionalisierungen der neuen angeblichen Staatsgüte zielmäßig überwiegend, in Spezialgestaltungen oft ausschließlich machtmäßig gedacht, und diese neuen Formen gütiger Gewalt dem selbstbewußten Bürger als Staatsgüte, wie es im alten Katechismus hieß, "zum Glauben vorgestellt" werden. Zumindest soll sich erweisen, daß hier innere Antithesen schlummern, welche, in waches Bewußtsein erweckt, die volle Doppeigesichtigkeit, den ganzen tiefen Zwiespalt heutiger Staatlichkeit deutlich werden lassen. Der hier vertretenen Staatslehre der Antithesen entsprechend muß dann allerdings die Synthese dem Leser und damit der Zukunft überlassen bleiben. Wenige antithetische Striche mögen jeweils, ohne Wiederholung der jeweiligen Güte-Thesen, im folgenden genügen.
I. Beispiele angeblicher Güte als Macht Die Hauptthese des folgenden - die Antithese zur angeblichen Staatsgüte - lautet: Macht soll hier nicht milder ausgeübt werden, sondern effizienter, billiger, einfacher für ihren Träger, sie soll sich darin entfalten. 1. Entpönalisierung, Resozialisierung, Begnadigung: Wege zur wirksameren Macht
a) Die Geschichte des Strafrechts und des Strafvollzugs ist bisher nur zu häufig nicht geschrieben, sondern staatsrechtlich ver-schrieben worden: Dargestellt, und meist bekämpft, wurden hier Formen der Gewaltausübung, wie wenn es nur darum ginge, die ihr unterworfenen Bürger zu molestieren, zu quälen. Der Staatsgewalt als solcher wurden oft Züge von Sadisten geliehen, wie sie es doch nur unter ihren menschlich-allzu menschlichen Vollzugsorganen geben konnte. Ins Kollektivverbrechen entartende neueste Staatlichkeit konnte solche Entwicklungen begünstigen. Doch sie sind, gottlob, seltene Extreme. Realität und Ziel der Macht ist ein anderes: Jenes
I. Beispiele angeblicher Güte als Macht
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Herrschen und Aufzwingen des eigenen Willens, dem es um eine eigenartige Form der Verwirklichung desselben geht, meist auch noch zu einem angeblichen gemeinsamen Nutzen. In solcher Sicht ist dann aber Strafe nie als solche Sinn oder gar Ziel der Macht; stets wird sie als Instrument zur Unterwerfung eingesetzt. Wo dies aber unvollständig, schlecht funktioniert, vielleicht gerade das Gegenteil eines herrscherlichen Zustandes begünstigt, muß die Strafe zurückgenommen werden, und darin liegt nicht Rückzug der Herrschaft oder gar moralische Güte, sondern reines, wenn auch keineswegs nacktes Effizienzstreben. Der resozialisierte Bürger ist das weit bessere, nützlichere Machtsubjekt als der Häftling, welcher der Macht Geld kostet, jene Mittel einer Gewaltanwendung, welche sie weit wirksamer in anderen Bereichen, etwa subventionierend, verwenden könnte. Gefangnisse sind Wagenburgen des Widerstandsrechts, weit mehr als dessen Aufweichungsräume. So muß der Staatsund Gesellschaftswiderstand gerade des schweren Straftäters überwunden werden nicht durch ihn bekämpfende, Leiden zufügende Staatsgewalt, sondern durch Öffnung zu ihrem gelobten Land, in welchem Milch und Honig freiwilliger Staatsunterworfenheit fließen. Wirksame Macht muß statt Strafen Resozialisierung wünschen, sie allein, und wo sie an ihr verzweifelt, wird sie sich an jenen Zweig der Medizin wenden, welcher Unheilbarkeit kein Fremdwort ist - an die Psychiatrie; die ganz wenigen, wirklich Unheilbaren werden dort - betreut. Entstanden sind damit neue Formen milder Gewalt, welche allein aber dem Kaiser das geben können, was des Kaisers ist: nicht Qualen seiner Untergebenen, sondern die Münzen des wieder in die Gesellschaft integrierten Bürgers. Staatsgüte ist dann nichts als ein Weg in die Staatseffizienz. b) Staatliches Strafen zeigt ein Doppelgesicht, dessen eine Seite der Entpönalisierung zugewendet ist: Sie setzt im wesentlichen stets an bei den kleinen Taten, welche Staat und Gesellschaft mehr belästigen als gefährden. Dort gilt es im wesentlichen nur zu kanalisieren, das Ausufern zur größeren asozialen Bewegung zu verhindern; das Bagatelldelikt darf die Macht nicht schikanieren können. Doch diese schwächt sich selbst ab, wenn sie es überall erbarmungslos verfolgt; sie muß klar unterscheiden zwischen einem Ausdruck gesellschaftsbedingter Staatsferne, den sie ignorieren darf, wie den Kleindiebstahl, dessen Folgenbeseitigung jedenfalls in eigentümlichem Liberalismus der Macht ihren eigenen Bürgern überlassen wird, die sich dann eben versichern mögen - und jenen schwereren Delikten, gegen welche sie nicht nur all die schwerfallige bürokratische Gewalt ihres Machtapparats, sondern überdies noch, in der Demokratie, die Empörung des Volkszorns einsetzt, die öffentliche Erschütterung der immer wieder beschworenen sprachlosen Bürger. Oben an stehen da Taten gegen die Zen-
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E. Angebliche Staatsgüte: Verschleierte Macht
tren der Macht, bis hin zur "Volksverhetzung", und weiter reicht diese unbedingte Strafnotwendigkeit als Machtinstrument bis zu den schweren Wirtschaftsdelikten oder gar jenen Mafienbildungen, in denen der Bürger Staatsgewalt zu usurpieren unternimmt. Überall dort ist Erbarmungslosigkeit im Staat der Güte - bei den kleinen Fehltritten aber ein Ignorieren, welches mit Verzeihen wenig gemein hat, in welchem sich lediglich die Macht zurücknimmt, aus Niederungen, welche sie nicht gefährden und ihr wenig bringen. Wird der Staatsapparat sich seiner selbst bewußt als wirtschaftlich-finanzielle Organisation der Machtverwirklichung, so muß er entpönalisieren und resozialisieren, einfach nur um stärker zu werden, dort, wo die wahren Schlachten mit Gegengewalten geschlagen werden, und es gilt, diese aufzulösen, schon bevor sie die Schlachtfelder erreichen. Strafen werden also einerseits zu Wegen der Einverleibung des Bürgers durch die Macht, zum anderen sollen sie die Gewalt entlasten, damit sie mächtiger werde. Wo ist da Staatsgüte?
2. Polizei als Helfer - erleichterter Machtdurchsetzung a) Polizei als Freund des Bürgers hat, so könnte man immerhin sagen, nicht gütige Hilfe zum Ziel, sondern Machtverstärkung durch Bürgerzutrauen. Zieht sich die Ordnungsrnacht zurück, oder begleitet sie heiter Revoltierende, so will sie ihnen nicht dienen - und darin dem Staat - ihren rechtsbrechenden, gewalttätigen Willen nicht übersehen, sondern ihn möglichst rasch wieder einbinden in die Netze der Staatsrnacht. Nicht mildere Ordnung ist das eigentliche Ziel, weniger Härte gegenüber Gefahren für die Ordnung - sondern mehr Ordnung durch erhöhte Bürgerakzeptanz. Dem Störer wird nicht deshalb weicher begegnet, um ihm Güte zu beweisen auch wenn er gerade dies denken soll - sondern weil ihn leichterer Polizeivollzug leichter zurückführt in die Ordnung. So hat all dieser Polizeirückzug denn auch seine Grenzen: Wo immer Polizeigüte den guten Bürgerwillen nicht zu wecken vermag, da greift die Staatsgewalt dann mit einem Mal in voller Härte zu, wenn eben das Experiment Machtakzeptanz gescheitert ist. Eine Reservegewalt mag sich verstecken - doch liegt darin bereits ihre Abschwächung, bis hin zur Güte? Etwas von vorläufiger Güte steht hinter aller Polizeipräsenz unserer Tage, ein kaum verhohlenes "und bist Du nicht willig ...". Hier geht es um Machttechnik der Effizienz, nicht um Machtabschwächung. Moderne Polizeistaatlichkeit hat ostasiatische Kampftechniken erlernt: den Schwung des Gegners aufnehmen - damit er um so schwerer falle; und wenn auch er dieses Spiel beherrscht, so wird er allzu schwer nicht stürzen.
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Und überhaupt: gerade in der Polizei güte beweist der Staat sich selbst seine Güte, sein Gutes - er erweist es nicht dem Bürger. b) Ziel der Polizeirnacht ist Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung - eben weil geordnete Zustände leichter beherrschbar sind, nicht aber, weil hier irgend jemandem Gutes getan werden soll. Gleichgültig ist letztlich auch, wie diese Ordnung dann aussieht, ob sich etwa die Gesellschaft auf viele kleine Ordnungsverletzungen eingestellt hat. Im Begriff der Ordnung liegt immer zu allererst das Anliegen einer Statik, einer Bewegungsarmut, welche den Überblick erleichtert, der sicher über kleinere Entwicklungen hinweggleiten kann. Welche Ordnung hier aufrechterhalten bleibt, ist kein Polizeiproblem mehr, es geht nur darum, daß der Zustand überschaubar, beherrschbar stets bleibe. Und dies vor allem mit begrenzten Mitteln. Denn Polizei ist als solche nie "produktiv" gewesen, in keiner Staatsordnung, immer war sie kostspielig und daher odios nicht nur für Beherrschte, sondern auch für Herrschende, welche Ruhe haben wollten und Geld einnehmen in erster Linie. So ist denn moderne Polizei bereit, selbst Verluste an Sicherheit, ja letztlich an Ordnung einzutauschen gegen "Ruhe als erste Bürgerpflicht"; sie aber wird dem Staatsorgan gewährt, das nicht eingreift, nicht belästigt, welches "darüber hinwegsieht". Darin handelt es nicht gütig in erster Linie, sondern effektvoll für die Macht, gerade dann, wenn es Güte vorgibt. So ist denn die Polizei als Freund und Helfer nicht menschen-, sondern ordnungsorientiert, und die Bürger sind leichter beherrschbar, wenn sie an die gütige bewaffnete Obrigkeit glauben dürfen. c) Polizei zieht und hält sich zurück, nicht so sehr in verständnisvollem Entgegenkommen zum Bürger, sondern weil es die vorhandenen Mittel dieser, wie dargelegt stets odiosen, Macht nicht gestatten, mehr noch zu schützen als die Zentren der Macht. Bei ihrer Polizei hat die heutige Staatsmacht die List des liberalen Staatsspiels erkannt: Rückzug der sichtbaren Macht ist an sich gut; wenn er zu Nachteilen führt, sind diese eben abzuwägen gegenüber dem Vorteil der Machtabschwächung als solcher. So nimmt die Gesellschaft denn vieles an Unordnung und Unsicherheit hin, wenn nur kein Staatsgewaltiger sich zeigt, sie verkraftet im wahren Sinne des Wortes diese Schwächen und Gefährdungen in gesellschaftlicher Eigengesetzlichkeit weithin, jedenfalls macht sie dem Staat daraus keinen Vorwurf mehr. So können sich denn dessen Herrschende in ihren eigentlichen Zwingburgen fester einrichten, von denen aus sie an langen Zügeln vieles, scheinbar so weit Entferntes lenken. Entscheidend ist allein, daß diese Macht noch bleibt, existiert, irgendwo sichtbar in Erscheinung tritt, und sei es auch in den Höhen ferner Festungen, welche die Medien dem Bürger wie Gralsburgen zeigen. Gerade weil er vom Ordnungshüter in Uniform in seinen kleineren Kreisen nicht mehr auf Kontrollgängen belästigt wird, können sich die Herrschenden immer mehr uniformierte und zivile Agenten leisten,
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welche sie umgeben und sichern - denn ihre Sicherheit ist nunmehr letztlich Sicherheit und Ordnung im Staat. Der Prozentsatz der Institutionenund Personenschutzbeamten um die Macht wird zunehmen, die Gefahrenabwehr in der Gesellschaft bleibt dieser selbst überlassen, und dies ist auch so viel billiger für die Staatsgewalt. Im Kern hat all dies wenig mit Güte zu tun, und so mag denn dabei auch gelegentlich - ein wenig geholfen werden.
3. Sozialhilfe: die billige Ordnung Die öffentliche Fürsorge wird von jeher durch hohe ethische Worte getragen; darin liegt das Erbe einer Religion, welche der diesseitigen Güte ihre Himmel öffnete. Dann legitimiert sich im letzten Güte eben doch als Austauschvorgang: das irdische Geschenk gegen das göttliche. Fehlt im säkularisierten Staat diese Begründung, in einer Ordnung, die sonst doch so ganz auf kommerziellen Austausch gegründet ist, so bedarf es anderer, moralischer Begründungen, im letzten von der Sozialhilfe als einer Menschenpflicht; irgend wann müssen doch den Menschenrechten auch Menschenpflichten entsprechen. Doch dahinter verbirgt sich ein ganz anderes Gesicht der Sozialhilfe, es ist nicht zur Güte gewendet, sondern zur reinen, kalten, zur rechnenden Macht. Sie überzeugt den nichtgläubigen Bürger, in jedem zahlungspflichtigen Glied der Gemeinschaft spricht sie jenes höchst irdische Kalkül an, welches mit ethischen Überzeugungen meist in unklarem Gemenge liegt: Effizienter ist es und billiger zu zahlen als zu verfolgen, erst recht kostet es weniger, ein wenig zu zahlen als dauernd vieles verhüten zu wollen. Sozialleistungen aller Art als Obolus der Besitzenden, mit dem diese ihre Ruhe sich erkaufen, ihre ganze Ordnung - wäre dies nicht Begründung, vor allem aber Organisationsprinzip für die Verteilung aller sozialen Geschenke? Im ursprünglichen Sinne des Wortes wird hier eine Infrastruktur geschaffen für Gesellschaft und Staat, auf deren harten Kruste es sich geordnet leben läßt, über den tiefen Feuern verglühender, unglücklicher Existenzen. Wer hier nicht rechtzeitig schenken will, wird bald teuer bezahlen und sehr viel mehr an Geld einsetzen müssen, vor allem aber an odioser Macht. In häßlichster Form müßte sie sich offenbaren, gegen die Ärmsten, Schwächsten sich wenden. Aus der Ruhe des Machtbesitzes sähe sie sich geworfen, in den Urwäldern gesellschaftlicher Untiefen müßte sie Kriege führen, die nie zu gewinnen wären. Was also die Staatsrnacht als soziale Leistungen einsetzt, vom existenzerhaltenden Geschenk bis zur gesellschaftlichen Integration, trägt ein GüteSiegel auf der Stirn, doch in Wahrheit ist es Beruhigung durch Moneten, nicht mit Bajonetten; diese Ruhe mag nicht überall bereits Ordnung sein,
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doch sie schinnt ab gegen Unordnung überall. In der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts hat ein für allemal die Macht den Kampf ihrer Polizei gegen die Annut verloren. Verteilende Geschenke sind nicht nur die billigste, sie sind die einzige Macht, die noch greift "ganz unten". Dort mag nicht die ökonomische Basis liegen von Staat und Gesellschaft, die soziale und menschliche findet sich dort sicher, wird sie erschüttert, so ist das gesamte Gebäude gefährdet; und Marxismen haben es an so vielen Stellen zum Einsturz bringen können. Ist es wirklich Güte, wenn die Staatsrnächtigen .gegen Hungerrevolten nicht Kosakenregimente einsetzen, sondern Sozialämter? Eine lokal fest verwurzelte Administration macht denjenigen ebenfalls seßhaft, der sich dort seinen Lebensunterhalt abholen kann; nicht einmal große Militärrnächte haben je Nomaden wirksam zu kontrollieren vennocht. Sozialleistungen bleiben dennoch Geschenke, erkauft werden kann mit ihnen nicht eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft, wohl aber wird sie erstrebt, in vielen, wenn auch unvorhersehbaren Fällen ennöglicht. Darauf aber ist sie gerichtet, in ihrer ganzen Organisation, nicht auf zielloses Gutes Tun. Schon in der Sozialhilfeverwaltung gerät auch der Bedürftigste, Gesellschaftsfernste in den Bereich und den Zugriff der Macht, er muß sich ihr beugen, auch wenn er bei ihr nur sein Scherflein abholt. Und immer sind diese Verwaltungen zugleich ein Weg für ihn in "höhere Ordnungen". Daß die Grenzen zur Sozialversicherung fließend werden, ist im Grunde nur eine List wiedereingliedernder Vernunft: von der Sozialhilfe über eine Sozialversicherung, in welcher der Staat noch immer Geschenke bereit hält, bis hin zu höherem Verdienst, über welches dann der Sozialversicherungspflichtige seinerseits zum Beschenker der Ärmeren wird - diesen Weg zeichnen die sozialen Gewalten des Staates vor, noch immer hat sich ihre Hoffnung erfüllt, daß er von vielen beschritten wird. Nicht umsonst, und nicht nur um zu begütigen, erscheint denn auch die Sozialhilfe ganz wesentlich als eine Übergangslösung zu besserem Leben, aus eigener Leistung, in eine Staats- und Gesellschaftsordnung hinein, welche sich dann wieder vom Nonnalbürger ihre Macht und Ordnung bezahlen läßt, in Sozialversicherungsbeiträgen, in Steuern. Diese kleinen Geschenke erhalten nicht die Freundschaft, wohl aber die Verbindung zu jener Macht, welche sich hier Zugriffsobjekte vorbereiten, in elementarer Fonn durch Sozialkontakte erhalten will. Güte dagegen mag zwar im Notfall besonders hervortreten, doch dieser definiert sie nicht, imme.r will sie gegenwärtig sein, nicht nur in Übergangslagen. In all den einzelnen Ausprägungen ihrer Verrechtlichung ist denn auch die modeme Sozialhilfe nicht mehr organisiert als Schenkung, sondern als Sicherung eines sozialen Minimalstatus, nicht mit primärem Blick auf den
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Bedürftigen, sondern auf eine Ordnung, die er aus seiner bedürftigen Lage heraus nicht soll stören müssen. Ist also im Bereich der Sozialleistungen, der Sozialhilfen, Güte etwas anderes als Werbung für Veranstaltungen beruhigender Macht?
4. Das Geschenk der Bildung: Vorbereitung des Machtzugriffs a) Die modeme Macht, die demokratische zumal, ist gänzlich und ständig beschäftigt mit der Sicherung ihrer Bürgerbasis; darin ist sie stärker, in diesem Blick nach unten als gottgewollte Ordnungen, die den Blick nach oben richteten. Die erste und wichtigste Aufgabe dieser Macht ist die Erhaltung der Zugriffsobjekte, welche sie schmeichelnd Subjekte nennt, Bürger. Der Wille zu dieser Macht, die Freude an ihr liegt sogar weithin, oft ausschließlich darin, daß es deren viele gebe und willige. So erschöpft sich die Macht in der Freude am Zugriff. Keine Großveranstaltung trägt dorthin sicherer, zukunftsträchtiger als der öffentliche Bildungs- und Erziehungsstaat der Gegenwart. Beschrieben wurde er oben als eine Großorganisation selbstlos helfender öffentlicher Güte, so wird wirklich sichtbar der "Vater Staat", in welchem der Bürger sogar Züge der Liebe zu seinen eigenen Kindern zu entdecken glaubt - welch schöne Vermenschlichung der Macht! Und doch, steht dahinter nicht etwas ganz anderes, dem all dies meist nur Vorwand, allenfalls noch schmückende Werbung ist? Zunehmend sollen doch die Schulen und alle öffentlichen Bildungseinrichtungen ausgerichtet werden auf jenen gesellschaftlichen Nutzen, dem die Staatsgewalt noch immer rasch den eigenen Herrschaftsnutzen unterschieben konnte. Schulen der Nation werden so allenthalben aufgebaut, bis hin zur bewaffneten Macht und ihrer Inneren Führung. Täglich werden, still oder in lauten Veranstaltungen, Treueide abgenommen auf Verfassung und Macht, auf das, was die jeweils Herrschenden dann ergreifen oder festhalten dürfen. Wird in diesen Schulen denn wirklich Kenntnis und Bildung geschenkt, nicht zuallererst jener willfahrige Bürger vorbereitet, der sodann vom Erlernten ein Leben lang Steuern zahlen wird? Was ist "gut" an einer Macht, welche sich hier nur Zugriffsobjekte vorbereitet, auf deren Leistungen aller Art sie sich dann Jahrzehnte lang wird stützen dürfen? Steht wirklich zu erwarten, daß sie schenken wolle, wo sie doch Einkünfte in jeder Form erwarten darf, wenn auch mit zeitlicher Verschiebung? Hier läuft etwas ab wie ein Generationenvertrag zwischen Macht und Bürger, in welchem jene vorfinanziert, was ihr später zurückbezahlt wird, damit sie weitere Generationen finanziere. In diesem Bildungssystem setzt die Staatsrnacht ein wahres Perpetuum mobile in Gang, dessen Selbstgesetzlichkeit
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sich aus der geistigen Freude und den wirtschaftlichen Zukunftshoffnungen der Gewaltunterworfenen speist. Pädagogische Fonnen mögen dort Güte verbreiten und Verständnis, doch zunehmend wird es vom Jungbürger nicht mehr als Geschenk gesehen, sondern eingefordert als eine Leistung, die er später wird zurückzahlen müssen. Da ist nicht mehr die Erzieherromantik der gütigen Lehrergesichter, der junge Bürger blickt in die kühlen Züge rationaler Wissensvennittler, über welche der Staat in Gehirne und Körper investiert. Wie bei allen Sozialleistungen ist auch hier wieder - Infrastruktur, diesmal nicht in soziale Tiefen, sondern in die Tiefe der Zukunft. b) Alles was demokratische Macht berührt, wird unter ihren Händen "politisch", vor allem Bildung und Erziehung. In Betrachtungen zur "Demokratie" wurde dies am Beispiel der "politischen Bildung" und der "Inneren Führung" in der Annee bereits belegt. Dort sind auf breiter Front Großveranstaltungen der Volksaufklärung und Propaganda entstanden, zur Machtbefestigung. Vorgeblich dient es dem Schutz einer Staatsfonn, nicht konkreter Macht und ihrer Träger; doch wie so oft läßt sich das Gegenwärtige des Willens machttragender Menschen aus diesen Institutionen nicht eliminieren. Und es mag nicht mehr voll gelingen, diese Institutionen dem konkreten Machterhalt dienstbar zu machen - virtuell sind sie auf ihn gerichtet, jedenfalls aber auf eine Ordnung, welche nicht Güte will, sondern den Erhalt eines bestimmten Machtsystems. Eingesetzt wird dazu auch wieder weit weniger Güte als vielmehr - schiere Macht. Schulen und Bildungsgänge müssen eben durchlaufen werden; an der Härte ihrer immer höher durchorganisierten Prüfungen führt kein Weg vorbei. Güte ist hier kaum je Ziel, nur selten ein Mittel der Macht. Nützlichkeit ist überall, über sie schiebt sich in Erziehung und Bildung deren letztes Ziel, die Macht. Meinungsfreiheit wird eine Volksherrschaft nie dort bekämpfen können, wo sie sich ausdrückt im großen Strom aktiver Bürgerüberzeugungen. Doch kanalisieren - oder vergiften - kann sie sie an ihren Quellen, in ihren ersten geistigen Rinnsalen, in den Schulen, sodann in einer Bildung, deren Richtung sie orientiert. Meinungsverödungen, Tabuisierungen, Vergangenheitsvergessen - in all dem wirkt die Staatsrnacht in weite Zukunft hinein, sie braucht nur den langen Atem. Tröstlich ist dies selbst für konkrete politisch Herrschende: für eine kürzere Generation mögen sie aus der Macht geworfen werden, was sie einst säen konnten, wird sie später in diese zurückführen; Beispiele dafür bieten Bildungsentwicklungen, von der Aufklärung bis zum Ende des zweiten Jahrtausends in Deutschland. Was also schenkt hier der Staat in Güte? Nur eines sich selbst: künftige Machtobjekte, zukünftige Macht.
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c) Alternative zu machtferner Bildung und Erziehung wäre ein Bildungssystem, das allein durch Private funktionierte und für Private, also in voller Machtfeme allenfalls größere Gesellschaftsentwicklungen aufnähme und forttrüge, ohne Anbindung an konkrete Politik. Dies ist Idee und noch immer weithin auch Praxis der angelsächsischen Bildungssysteme, und daher ist dort so viel mehr an Freiheit, so wenig Machtbefestigung durch Bildung. Doch gerade dies will der Machtstaat kontinentaleuropäischer Prägung seit der Französischen Revolution nicht kennen, eben weil seine Erziehung und Bildung zu Machtinstrumenten geworden sind, und nur insoweit darin auch zum Staats geschenk. Im angelsächsischen Raum hat ja auch umgekehrt diese Bildung kaum etwas von einem Schenken, sie wird gekauft, erkauft durch Mühen und Opfer von Eltern und lemwilligen Kindern, welche sodann wieder ihre Schulen und Universitäten finanzieren werden, damit ist alles Geschenk verschwunden, alle Bildung wird zur Investition. Doch es ist eine Investition durch Private für private Zwecke, an ihr mag der Staat allenfalls entfernt teilhaben, höchst indirekt. Mit seinem öffentlichen Schulsystem hat der kontinentaleuropäische Machtstaat ein ganz anderes System hervorgebracht: Er setzt materielle und sogar geistige Geschenke ein, aber nicht aus Güte oder zu ihr, sondern zur Erhaltung seiner Ordnung und bald auch für die Interessen von deren jeweiligen Trägem - für die Mächtigen. Bildung und Erziehung durch den Staat - das bedeutet heute, unter dem Mantel der Staatsgüte, Zukunftskalkül der Macht. 5. Insgesamt: Effizienzsteigerung durch Moralisierung der Macht Die wichtigsten Erscheinungen, in denen der Staat zur "gütigen Macht" zu werden scheint, können also auch ganz anders gedeutet werden: als Effizienzsteigerung und Verbilligung der Herrschaftsausübung, als geschickte Machttechnik ohne jeden ethischen Anspruch. Und darin könnte dann eine Minimierung jenes Herrschaftswiderstandes gelingen, den auch eine "demokratische Gesellschaft" im Namen säkularisierter Nächstenliebe noch immer dem Staat entgegensetzt - dem, was sie als Reste herrscherlicher Rechte der Staatsgewalt möglichst beseitigen will. Vielleicht läuft hier geradezu etwas ab wie eine neue Auflage des alten Staats-Kirchen-Kampfes. Denn Bollwerk bildete einst die religiöse Gemeinschaft gegen die weltliche, gerade in ihrem Verzeihen und Helfen, darin, daß sie eben nicht nach Blut lechzte, nicht nach Gewalt. Geblieben ist von all dem in der geschichtlichen Entwicklung eine vom Religiösen zur Ethik gewandelte Grundhaltung der Hilfsbereitschaft - als Kern jedes Herrschaftswiderstands. Nicht umsonst hat sich dieser denn auch noch in der Aufklärung, in der neuen Welt, gegen den Staat gewandt und seine Gewalt, in den
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aus christlichem Denken geborenen Grundrechten der Amerikaner. Wenn es nun dem modemen Staat als einem gütigen gelingt, eben diese moralischen Kräfte, welche bisher seine Gegenrnacht grundlegten, für sich in Anspruch zu nehmen oder gar sie sich anzueignen, so kann er darin ganz allgemein Herrschaftswiderstand abbauen, der sich ja schwerlich gegen das richten wird, woraus er selbst nicht zuletzt erwächst: gegen eine menschliche Nähe und Güte, welche alle Gewalt überhöht. So wird dann der modeme Staat in all seinen Institutionen, in welchen er sich aus ordnender Strenge zu helfender Güte zu entwickeln scheint, zu einer großen, systematischen Technik der Minimierung des Machtwiderstands, damit der Effizienzsteigerung der Herrschaft. Wenn diese all jenen Gegenkräften Rechnung trägt, sie in sich aufnimmt, ihren Frieden mit ihnen schließt, mit denen sie Jahrhunderte lang den nicht zu gewinnenden Krieg wider die christliche Religion geführt hat, so wird diese Macht zu einem großen Komprorniß Gegensätze versöhnender ausgewogener Vernunft, auf dem sie nur um so fester gegründet sein wird. Das stärkste an der Moral war in der Gemeinschaft stets ihre AppellFunktion, bis hin zu einer unklar-propagandistischen Kraft. Sie legt die modeme Macht nun in ihre Institutionen und damit überspielt sie das Widerstandsproblem, mit dem sich ihr Staatsrecht hoffnungslos quält; sie löst am Ende sogar die größeren Grundrechtsprobleme, indem sie den Gegensatz von Individuum und jenem Staat auflöst, der den Einzelnen gütig-umsorgend umarmt. Wo hätte es denn auch je Widerstand gegen Güte gegeben, Ansprüche gegen sie? So wird der Staat am Ende in Staats güte durch seine eigenen traditionellen Gegenkräfte getragen, gestärkt. Beherrschbarkeit nimmt zu, in perfektionierter Machttechnik wie in einer Moral, die nun auf Seiten des Staates steht.
11. Subventionen: Nicht Güte - mittelsparendes Machtinstrument Staatliche Finanzhilfen für Private müssen bei Versuchen einer Grundlegung allgemeiner Staatsgüte geradezu als der Prototyp von Hilfen erscheinen, welche der Staat zur Befriedigung von Bedürfnissen existenzsichemd gewährt, als Geschenke, ohne Gegenleistung. Und doch vermag nähere Betrachtung gerade hier etwas ganz anderes nachzuweisen: effizienten Machteinsatz, unter sparsamer Verwendung öffentlicher Mittel, also eine neue, betriebswirtschaftlich rechnende und kreditierende, aber keine gütige Staatlichkeit. 1. Subventionsvergabe - typische Machtausübung
In einer Begriffsrenaissance von Wohlfahrtsstaatlichkeit mochte es vor Jahrzehnten scheinen, als komme eine "neue, helfende Staatlichkeit"
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herauf, welche den alten, odiosen Gewalteinsatz des "Polizeistaates" endgültig ablöse: im Namen der Daseinsvorsorge. Am deutlichsten schien ihr Hilfs-, ja Geschenkcharakter in der staatlichen Förderung in Erscheinung zu treten, und dort wieder in der Form der Wirtschaftssubventionen, die im folgenden denn auch im Mittelpunkt stehen sollen. Doch die Begriffseuphorie hielt nicht lange an, mag sie auch neuerdings im Schlagwort vorn Service-Staat wiederbelebt worden sein: Aus der Daseinsvorsorge hat sich, trotz geistreicher Versuche, eine Dogmatik der Staatstätigkeiten nicht entwickeln lassen; vielmehr wurden diese Veranstaltungen zunehmend doch wieder eingebaut in die traditionelle Dogmatik des Eingriffsstaates - weil eben immer deutlicher erkannt wurde, daß es sich nur um neue Formen des alten Einsatzes staatlicher Macht handelte. Die rechtliche Austauschbarkeit von Subvention und Ordnungsgewalt durch Eingriffe ist heute grundsätzlich anerkannt, mag sich der gebende Staat hier auch noch immer manche Freiheitsräume bewahren können, welche ihm als einern zugreifenden verschlossen blieben. Deutlich sind die Subventionen für die Politik nichts als die Kehrseite von Ordnungs verfügungen, und so wird denn, gerade in Gesetzgebungsverfahren, unbefangen darüber diskutiert, ob man mehr fördernd oder gebietend-verbietend vorgehen solle. Entscheidend bleibt, daß es dieselben Staatsgewalten sind, welche, wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung, durch ordnende Eingriffe oder fördernde Mittelhingabe Macht ausüben über Private und nachgeordnete öffentliche Instanzen. Zwar mögen der Exekutive bei Subventionierungen weitere Freiheitsräume eröffnet sein als wenn sie, streng gesetzesgebunden, eingreifend tätig würde, doch die Parlamente bewahren sich auch hier eine stärkere nicht nur kontrollierende, sondern bewilligend-zustimmende Macht, in der Mittelbereitstellung. Und da diese sogar noch in engeren zeitlichen Abständen eingesetzt zu werden pflegt als bei Erlaß gesetzlicher Ordnungsnormen, kompensiert gewissermaßen die zeitliche Nähe für das Parlament einen Verlust an normativer Entscheidungsmöglichkeit, welche bei der Schaffung von Eingriffsgrundlagen unzweifelhaft größer ist. Insgesamt mögen daher die Volksvertretungen davon ausgehen, daß Subventionsstaatlichkeit - denn diesen Begriff kann man gewiß bilden, da sich diese Form der Machtäußerung auf die gesamte Staatlichkeit anwenden läßt nicht Machtverlust bedeutet, sondern nur eine andere Form des Machteinsatzes, vielleicht sogar eine noch effizientere, sparsamere. Wenn Macht eine Frage der Wirksamkeit ist, so könnte sie sich hier durchaus noch steigern. Dies alles gewinnt sogar staatsgrundsätzliche Dimension: Gewiß wären die Vertreter des Volkssouveräns nicht bereit, auf die Hoheitsrnacht ihrer Gesetzgebung zu verzichten, könnten sie nicht über den Einsatz von Fördermitteln mit neuer, vervielfachter Macht in den immer bedeutsameren priva-
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ten Bereich nahezu unübersehbar hineinwirken. Dort mag dann ein Klientelismus Triumphe feiern, dem sich das streng eingriffsbindende Gesetz nur selten hingeben darf. Staatsgewalt kann in der Demokratie, so scheint es doch, jedenfalls im Gesetzgebungsbereich, von den Volksvertretungen nur wirksam zurückgedrängt werden, wenn ihr andere Formen eröffnet, die Macht der Parlamente umgeleitet, aber nicht beschränkt wird; dies geschieht in Formen des fördernden Staates als einer neuartigen Staatsgewalt, und immerhin schon mit einiger Tradition.
2. Subventionen: im Interesse der Macht - kein Staatsgeschenk a) Definiert sich Subvention wirklich als Staatsgeschenk - ist sie nicht nur eine andere Form der Erfüllung von Staatsaufgaben? In der bisherigen Dogmatik, welche die Staatstätigkeiten ordnen soll, ist noch immer kein gesicherter Platz für das eigentliche Staatsgeschenk als solches, auch nicht in der Lehre von den Subventionen. Diese werden vielmehr behandelt und eingeordnet in den Zusammenhang der Erfüllung von Staatsaufgaben: Gefördert darf nur werden, was der Staat entweder selbst leisten müßte, durch eigene Veranstaltungen, oder zumindest eingreifend ordnen dürfte. Klarer als bisher müßte daher im Subventionsrecht herausgearbeitet werden, daß solche staatliche Förderung nichts anderes sein kann als die Erfüllung echter, wenn auch vielleicht nicht notwendiger Staatsaufgaben. Und wenn diesem Begriff alles unterfallen kann, womit sich der Staat beschäftigt, in welcher Weise auch immer - Staatsaufgabe nach "Staatszugriff' - so wandelt sich erst recht die Subvention vom Staatsgeschenk zur staatlichen Aufgabenerfüllung; dies aber begründet und definiert den Einsatz von Staatsmacht, einer Staatsgewalt, die nur zur Aufgabenerfüllung verliehen wird. Die herkömmliche Lehre von den Staatsaufgaben erweist also Subventionen als Machtinstrument; wären sie es nicht, sie müßten verschwinden. b) Staatliche Förderung erscheint als eine Form effizienter, ja darüber hinaus besonders sparsamer Erfüllung von Staatsaufgaben. Hier folgt die Staatstätigkeit einem Kriterium, das primär nichts mit Güte zu tun hat und Geschenk: dem der Effizienz, wie dies auch bereits vorstehend bei anderen Veranstaltungen nachgewiesen wurde, welche den Schein der Staatsgüte vor sich hertrugen. Wenn Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit oberste Grundsätze staatlichen Handeins sind, mit hohem Verfassungsrang, wovon heute die herrschende Lehre ausgeht, so wird hier nichts geschenkt, sondern ein zentrales Rechtsgebot des Rechtsstaats erfüllt, indem zugleich die Wirksamkeit der Macht entscheidend gesteigert wird - wiederum also: mehr Macht. Der Nachweis fällt leicht: Subventionen sind in den meisten Fällen, wenn nicht geradezu begrifflich-notwendig, Anstöße und Überbrückungen. Mit der Kraft der Anreize sollen hier private Anstrengen angeregt, hervor-
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gebracht und in Kontinuität gesichert werden. Die Realisierung von Staatsaufgaben übernimmt so, zu einem wesentlichen Teil, der geförderte Private, der damit die Staatsgewalt überdies auch dort noch entlastet, wo sie besonders odios wirken müßte: im steuerlichen Zugriff wie in einer Verwaltungstätigkeit, die sich sonst um allzu vieles, vor allem Ökonomisches, kümmern müßte. Eine Staatsgewalt die gewinnt ohne wegzunehmen, die belassen wird in der Ruhe überwachter Verteilung und doch alles in ihrem Griff hat, ohne Eingriff - wäre dies nicht ein wesentlicher Machtzuwachs? So mögen es denn auch viele, die meisten Subventionsempfanger empfinden: als Bindung, nicht als Geschenk. Wie gäbe es denn sonst auch eine Gemeinschaft, deren Glieder "weg streben von Geschenken"? c) Erste und wichtigste Aufgabe aller Staatsrnacht ist Sicherung und Verbreiterung ihrer Herrschaftsbasis. Diese liegt heute in der Bürgerschaft der Abgabenverpflichteten. Ein, wenn nicht das Primärziel aller Subventionen ist jedoch die Anregung zu einer Wirtschaftstätigkeit Privater, an welcher der Staat sogleich und unmittelbar Teil hat, über seine Steuergewalt. Ausgaben für mehr Einnahmen - oder auch nur zur Einnahmensicherung betriebswirtschaftlich, ja steuerrechtlich betrachtet ist dies nichts anderes als ein Fall von werblichen Betriebsausgaben. Sie bleiben denn auch letztlich dem Staat nur bei fehlgeschlagener Subventionierung, in aller Regel kann er sie abziehen von seinen Machtaufwendungen, damit diese verbilligen: Staatsgewalt wird durch sie ja effizienter, mächtiger. Der Bürger wird auch darin "im Sinne des Staates" tätig und zu dessen Zwecken, nicht nur indem er diese durch seine Wirtschaftstätigkeit erfüllt, in einem großen Outsourcing der staatlichen Aufgabenerfüllung; er schafft auch ständig im Interesse seines stillen Teilhabers, des Steuerstaates, der in Größenordnungen bis zur Hälfte am Ergebnis (vor Steuern) beteiligt ist. Schon der privat schenkende Bürger wird moralische Bedenken tragen, eine gemeinnützig-schenkende Leistung allein als ein von ihm getanes Gutes zu betrachten, weiß er doch, daß steuerliche Abzugsfähigkeit hier den Staat zu einem großen Teil zum Schenker macht. Und da soll eine Subvention aus Staatsgüte erwachsen, wo sie doch nur auf einen funktionierenden Wirtschaftsbereich gerichtet ist, der Steuern in die Kassen bringt? Sind also Subventionen wirklich etwas anderes als Geschenke im Interesse des Schenkers - was das Recht sonst nicht kennt?
3. Förderung: streng gebunden - als Geschenk?
Wäre Staatsgüte wirklich im Vordringen, so müßten ihre Veranstaltungen immer mehr befreit werden von Fesseln, insbesondere von strengen normativen Bindungen - das Gegenbild zeigt die Entwicklung des Subventions-
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rechts: Allenthalben werden Vorgaben verschärft, Bewilligungsbedingungen verfeinert, Zielsetzungen in einer Weise verallgemeinert, welche den Kontrollinstanzen schärferen Zugriff erlaubt, bis zur Rückzahlungsverpflichtung. In all dem mag gewiß etwas liegen von einer Selbstgesetzlichkeit gerade hier sich selbst perfektionierender Bürokratie. Doch im Ergebnis jedenfalls tritt darin der Machtcharakter dieser Staatsleistungen nur immer noch deutlicher hervor. Bewiesen wird so dem Empfänger, daß nicht nur "nichts mehr geht ohne den Staat", er muß diesen vordringen lassen bis in seine Geschäftsgeheimnisse. Immer schärfere Verwendungskontrollen werfen grundsätzlich die Frage auf, ob Verwendungsfreiheit nicht letztlich zum Wesenskern eines Geschenkes gehört, das sich eben nicht durch übermäßige Auflagen zum Ausdruck fremdbestimmenden Handeins wandeln darf. Die Verwendungskontrollen machen sogar im Ergebnis nicht Halt vor der Überwachung des gesamten privaten Verhaltens des Geförderten, ja vor der Beurteilung seiner eigenen Leistungen. Da diese in der Regel Voraussetzungen sind für staatliche Hilfen, muß die gebende Macht gerade sie ins Visier nehmen, orientieren, korrigieren, was ihr sonst in einem wirtschaftsliberalen Gemeinwesen versagt bliebe. Daß sich die Rechnungsprüfung des Staates, über die Brücke der Kontrolle von subventionierenden Staatsleistungen, dann im Ergebnis auch auf das gesamte private Verhalten erstreckt, ist nur der letzte formale Akt einer alles durch gebundene Subventionen überwachenden Staatsgewalt. Über die Verschärfung solcher Bindungswirkungen dringen auch nicht etwa immer mehr Elemente von Staatsgüte, sondern Äußerungsformen eingreifender Staatsgewalt in die Subventionen: Ihre Gewährung oder Versagung, ja sogar Ausgestaltungsformen der Förderung, erscheinen als Verwaltungsakte, eröffnet wird damit der Weg zu einer öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeit, die in ihrem ganzen Denken auf die Beurteilung von Hoheitstätigkeit ausgerichtet ist. Die Rücknahme von Subventionen erfolgt in ähnlicher Weise, sie erscheint meist für den Betroffenen geradezu als schwer belastender Bußgeldbescheid. So dringt das hoheitliche Verwaltungsrecht über die vermeintlichen Staatsgeschenke vor in den Raum der grundSätzlich hoheits fernen Privatheit - ein entscheidender Machtgewinn, sogar in hoheitlicher Form. Gehalten und rechtlich vollendet wird all dies im System einer Gleichheit, welche immer mehr das Subventionsrecht prägt, zu dessen wichtigstem, wenn nicht einzigem Kontrollkriterium wird. Dies setzt den vorgeblichen Staatsgeschenken ein Primärziel, das in solcher Weise jedenfalls verallgemeinerte Staatsgüte nicht verfolgen dürfte. Auch für sie mag die Egalität als eine Orientierung gelten, welche die Aufstellung von Vergabekriterien erleichtert, offensichtliche Ungerechtigkeiten vermeidet und sich das Fernziel der Hebung von Bedürftigen auf eine gewisse gleiche Ebene 14 Leisner
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setzt. Von all dem war bereits die Rede, es zeigten sich aber auch gewisse immanente Spannungen zwischen der Gleichheit und einer im Einzelfall helfenden Güte. Hier im Subventionsrecht gewinnt jedoch das Gleichheitskriterium eine völlig andere, eine machtmäßig beherrschende Kontur: Durchgesetzt wird damit jene Gleichheitsstaatlichkeit, zu der schon in früheren Betrachtungen nachgewiesen wurden, daß sie in ihrem innersten Wesen Macht ist, nichts als Erleichterung einer Gewaltausübung, welche über widerstandslos werdende Gleiche ohne Reibungsverluste ausgeübt werden kann. Eben diesem Zweck - hier aber deutlich als einem Primärziel - sieht sich auch der Subventionsstaat verpflichtet, deshalb denkt er bei aller Förderung zuerst nicht an den hilfsbedürftigen Einzelfall, sondern an ganze Kategorien, an Wirtschaftsbereiche, die es in Gleichheit zu bedienen gilt. Machtmäßige Beherrschung - hier gerne Ordnung genannt - ist also das Ziel der Subventionen, weit eher jedenfalls als Hilfe in einem Einzelfall, der sogleich rechtlicher Kritik der Gleichheitsverletzung unterliegen müßte. Wenn der Gleichheitsstaat das stärkste und beste Instrument moderner Macht bleibt, so ist seine bereichsweise Durchsetzung durch Subventionen, die Beachtung der Egalität als eines obersten Kontrollgrundsatzes des gesamten Subventionsrechts, mehr als ein Indiz für die Staatsrnacht der Geschenke.
4. Subvention: grundsätzlich Ausnahme
Nun mag es allerdings scheinen, als finde der hier beschriebene Machtzuwachs durch Subventionen gerade in der Gegenwart rasch zunehmende rechtliche, vor allem aber politische Schranken: Den Kampf gegen die Subventionen hat sich eine postliberale Staatspolitik auf die Fahnen geschrieben. Sie befürchtet hier grundsätzliche Rechts-, ja Verfassungsverstöße durch die bereits behandelte Verschiebung der Konkurrenzlagen; sie sieht aber auch, in wachem machtkritischen Bewußtsein, über Förderung gerade jenen Staat der Geschenke im Vormarsch, dessen Gewalt sie auch auf diesen Wegen nicht dulden, sondern zurückdrängen will. Schwer ist heute absehbar, wie weit sich diese zu Subventionsphobien gelegentlich gesteigerten Sorgen in einer immer weiter ausgebauten Sozialstaatlichkeit werden zerstreuen lassen, die eben ohne "Hilfe überall" nicht auskommt. Sicher aber ist, daß hier ein waches Gewissen schlägt wider die Macht der Geschenke, die Staatsrnacht des Staatsgeschenks. Gerade dies läßt sich ja auch mit Effizienzkriterien begründen: Bei allzu großer Macht der Geschenke droht eben eine Auflösung von finanziellen Machtreserven, und wo wäre je der Verarmte mächtig gewesen, ein Staat,
II. Subventionen: Nicht Güte - mittelsparendes Machtinstrument
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der um Subventionsgelder bei seinen leistungsfähigeren Bürgern betteln muß? So verlangt ein inneres Spannungsverhältnis der Staatsrnacht Zurückhaltung bei Staatsgeschenken, ja sie könnte eine "Förderung nach Prosperität" nahe liegen, die aber in einem Widerspruch enden müßte: Gerade in günstigen wirtschaftlichen Lagen, beim fließen der Steuergelder, sind Hilfen weniger nötig. All dies ist aber eben rein machtmäßig, nicht in Staatsgüte gedacht. Diese Zurückhaltung im Einsatz der Macht des Schenkens läßt sich überdies gerade als Ausdruck einer Sorge erkennen, es könnte vielleicht die Macht in Güte sich auflösen - als Staatsrnacht degenerieren. Dies wäre ein weiterer Beweis dafür, daß Subventionsrecht in seinen Ausprägungen, wie auch in seinen Grenzen, in der Kritik, der es unterliegt, stets nur eines zeigt: nicht Staatsgüte, sondern ein Denken in Kategorien der Macht. Die Subventionsgewalt muß dennoch, aus den stets zu erwartenden Schüben gegen "allzuviel Staatshilfen", nicht einen totalen Verlust der "Macht der Geschenke" erwarten. Gerade in der Beschränkung der Subventionierung auf gezielt abgesteckte, engere Bereiche, in der Steigerung der Ziel genauigkeit, die damit erstrebt wird, wächst das Machtpotential der angeblichen Geschenke: nicht nur darin, daß die staatlichen Hilfen nun wirksamer, weil eben zielgenauer eingesetzt werden, womit bereits einem Kriterium nicht der Güte, sondern der Macht primär Genüge getan wird. Macht hat sich bisher in der Geschichte des Hoheitsstaats nicht nur gezeigt im flächendeckenden Zugriff, in der allseitig-gleichen Beherrschungsintensität. Das Gewicht der Gewalt kommt eindrucksvoll gerade in einzelnen "Eindrücken" zum Ausdruck, welche sie in engen Bereichen hinterläßt. Konstituierend für die Macht ist, wie kaum eine andere Äußerung, ihr Einsatz im spektakulären, exemplarisch erscheinenden Einzelfall; aus verstärkter punktueller Gegenwart wirkt Machterwartung in größte Breiten. Selbst die eingeschränkte, geradezu einzelfallmäßig wirkende Subvention kann also immer noch diesen Machteindruck im einzelnen Wirtschaftsbereich, unter der Bürgerschaft als solcher hervorbringen, in der Hoffnung, daß dieselbe Wohltat, in notwendiger Gleichheit verbreitert, vielen zuteil wird. Macht ist eben nicht nur Gegenwart der Gewalt, sondern deren Furcht, Erwartung, Hoffnung. Der "große Schlag" hat sie immer entscheidend befestigt, von der Guillotine bis zum günstigen Staatskredit im Einzelfall. So erweisen sich eben die Subventionen doch nicht als Ausdruck der Staatsgüte, sie zeigen den Machtstaat, den Proteus der Gewaltformen, der aber stets ins moralische Zwielicht der Staatsgüte ausweichen kann.
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E. Angebliche Staatsgüte: Verschleierte Macht
111. Steuerverschonung - ein Hoheitsgeschenk? 1. Steuererleichterung: ein Geschenk? Staatliches Entgegenkommen im Steuerbereich, in den Abgabennormen selbst, in der Anwendungspraxis der Verwaltung oder im Verfahren vor Finanzgerichten, wird sicher vom Steuerbürger nicht selten als ein wahres Geschenk empfunden. In aller Regel hat er darauf weder einen Anspruch, noch durfte er auch nur damit rechnen. Noch immer besteht kein Konsens darüber - und dies ist eben eine politische Frage - ob man Steuerverschonung als eine Form der Subvention durchgehend oder nur in den Bereichen auffassen darf, wo sie gewollt und objektiv feststellbar die Wirkungen staatlicher Förderungen hervorbringt. Die Frage kann hier jedoch offen bleiben; jedenfalls mag staatliches Steuerverhalten eher mehr noch als Förderung von vielen in die Nähe des ,,staatsgeschenks" gerückt werden - die ständige politische Diskussion um die Steuerprivilegien zeigt es. Dennoch stehen der Annahme, hier werde aus Staatsgüte gehandelt, gewichtige Bedenken entgegen. Die Steuerstaatlichkeit ist heute der harte Kern des Hoheitsstaates, erster und wichtigster Ausdruck seiner Macht; Hoheitsgewalt wird nirgends härter eingesetzt. Staatsrnacht kennen, fühlen, fürchten die meisten Bürger vor allem, wenn nicht ausschließlich als Steuergewalt. Wer aber hat diesen Steuerstaat als solchen, den eigentlichen Machtstaat unserer Zeit, schon je als eine Instanz der Güte gesehen, aus Güte heraus handelnd? Hier tritt der ordnende Obrigkeitsstaat par excellence in Erscheinung, bestimmt durch Machtinstrumente und gerichtet auf den Machterhalt in einer durch Abgaben geprägten Ordnung, welche überdies alle entscheidenden finanziellen Mittel für sämtliche Staatsveranstaltungen zur Verfügung stellt. Wäre hier Staatsgüte festzustellen, so müßte sich diese Grundhaltung in der Tat über die Gesamttätigkeit des Staates verbreiten, gibt es sie hier nicht, so bleibt er grundsätzlich und überall ordnende Hoheitsrnacht, gebietend und verbietend. Eine Betrachtung der Steuerzwecke zeigt, daß ein wie immer gearteter primärer Gütebezug dort grundsätzlich nicht feststellbar ist: Soweit Fiskalzwecke der Mittelbeschaffung überwiegend oder gar ausschließlich verfolgt werden, stehen dahinter all die zahllosen, im einzelnen kaum überschaubaren Staatszwecke, die Erfüllung der völlig heterogenen Staatsaufgaben. Daß hier ein Gesamtzug zur Staatsgüte sich so eindeutig feststellen ließe, daß bereits der Fiskalzweck der Steuererhebung ebenfalls durch Güte geprägt wäre, wird niemand annehmen. Nicht anders steht es um die vielfältigen Lenkungsziele, welche die Abgabengewalt verfolgt. Auch hier steht gebietendes und verbietendes Ordnen im Vordergrund, die Aufrechterhaltung von
III. Steuerverschonung - ein Hoheitsgeschenk?
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ökonomischen oder rechtlichen Situationen, welche nur marginal auf moralische Erwägungen einer Staatsgüte zurückgeführt werden können. Dort jedenfalls, wo subventionsähnlich wirkende Steuererleichterungen gewährt werden, ist dies ebenso wenig Ausdruck der Staatsgüte wie das Subventionsrecht als solches (vgl. oben 11). So tritt denn die Steuerstaatlichkeit als solche in Erscheinung als eine eindeutige Veranstaltung ordnender Macht, nicht bedürfniserfüllender Güte, mag sie auch gelegentlich Mittel für diese letztere bereitstellen; im allgemeinen Haushalt fließen diese zunächst dem Machtstaat zu, nicht einem gütigen Gemeinwesen. Der Steuerstaat ist nicht gütiger Staat, sondern Machtstaat. Nur so will er wirken. 2. Steuererleichterungen: stets im öffentlichen Machtinteresse a) Steuerverschonungen sollen nicht primär dem Steuerbürger dienen, sondern der leichteren Durchsetzung der Staatsgewalt, ihrer Festigung. Nicht aus einer wie immer gearteten Staatsmoral heraus werden sie gewährt, sondern in fiskalischem Effizienzdenken. Bekannte Beispiele belegen dies eindeutig: So kann auf die Erhebung von Bagatellabgaben im Verwaltungsvollzug verzichtet werden, und ein Bagatellprivileg wirkt bis hinein in zentrale Überlegungen zur Steuergesetzgebung: Was wenig bringt, wie die Vennögensteuer, ist geradezu mit Blick auf seine Abgabenfunktion eine problematische Gestaltung. Verfahrenserleichterungen, Pauschalierungen, Verzicht auf Belege oder Nachprüfung in all dem macht der Steuerstaat sicher praktisch dem Bürger häufig "Steuergeschenke", welche der Verpflichtete auch so versteht. Doch sie werden nicht zu seiner Unterstützung erbracht, sondern zur Erleichterung der Beitreibung, aus Effizienzgründen, in einem deutlichen Input-Output-Denken im staatlichen Steuerbetrieb. Geschenkcharakter soll dies nicht haben, tritt er zu deutlich hervor, so greifen doch wieder verfeinernde Kontrollen ein. b) Nicht selten kommt es allerdings zu echten Steuergeschenken, im Wege vorgezogener oder alsbald erfüllter Wahlversprechen, oder als Ausdruck einer fortlaufenden Wählerbegünstigung, ohne welche Wahlen nicht zu gewinnen wären, wie etwa im Falle der Privilegienmg von Sportverbänden durch Gemeinnützigkeit oder mancher Steuererleichterungen für Autofahrer. Doch dies hat nicht das geringste zu tun mit Staatshandeln aus Güte gegenüber Bedürftigen: Gütig ist der Steuerstaat hier nur gegenüber seinen Mächtigen, er erhält ihnen ihre Wähler, meist sogar allen Konkurrenten um die Macht. Dann wird darin diese als solche befestigt, das demokratische Regime in bürgernaher Ausgestaltung. Im übrigen wirkt dort ein oft unver-
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E. Angebliche Staatsgüte: Verschleierte Macht
hohlener Klientelismus, welcher schenkt, um sich auf Wahl zetteln bezahlen zu lassen. Von einem gütigen Steuerstaat zu sprechen - ist dies nicht nur ironisch gemeint? c) In all dem wirkt übrigens das einheitliche, höchste Machtinteresse aller Steuerstaatlichkeit: daß die Abgaben möglichst wirksam beigetrieben werden können, daß Steuerwiderstand minimiert werde; und insoweit verbindet sich das öffentliche Interesse mit jenen fiskalischen Belangen, welche herrschende Auffassung im öffentlichen Recht noch immer nicht als öffentliche Interessen anerkennen will: daß der Steuereingang effizient gestaltet werde, ist das wohl höchstrangige öffentliche Interesse - ein Interesse der Macht. Zentrale Kategorien des geltenden Steuerrechts sind denn auch eben darauf gerichtet, wie etwa der Grundsatz der Besteuerung nach Leistungsfahigkeit: Es wird nicht nur, betriebswirtschaftlich korrekt, dort genommen, wo arn meisten zu holen ist, vor allem soll derjenige verschont werden, welcher weniger hat - nicht primär weil ihm etwas geschenkt werden soll, sondern damit gleiche Fühlbarkeit der Steuerbelastung entstehe, die Macht also "überall gleichmäßig" wirke. Gerade der Grundsatz der Besteuerung nach Leistungsfahigkeit erweist das geltende Steuerrecht nicht als eine Ordnung der Geschenke, sondern als eine solche der Macht, die darin nur ihren eigenen Interessen dient: Machtobjekte und Machtinstrumente sich perfektionierend zu erhalten. Wiederum zeigt sich: Vor der Gleichheit mag manche Steuererleichterung als Geschenk erscheinen - im Grunde ist es nur ein Geschenk der Macht an sich selbst, nicht Staatsgüte. 3. Die Privilegienkritik: Beweis für Macht, nicht Güte
Kaum andere Gestaltungen stehen, gerade in der Demokratie, derart im Mittelpunkt ständiger und immer heftiger werdender Kritik als vermeintliche oder echte Steuererleichterungen für einzelne Kategorien von Bürgern. Angriffe gegen solche Privilegien machen selbst vor vielen Bedürfnislagen nicht mehr Halt, denen man dadurch gerecht werden will; allenfalls letzte, elementare Existenzsicherung vermag demgegenüber eine Steuerverschonung zu legitimieren. Wenn hier also überhaupt Geschenke geduldet werden, so allenfalls gegenüber den nun wirklich "Ärmsten der Armen", eben im Wege eines Existenz-, ja eines Elementarschutzes. Auf ihn jedoch kann ein Grundprinzip der Staatsgüte, wenn es denn ein solches geben soll in moderner Staatlichkeit, gewiß nicht beschränkt werden. Denn dann erschiene dies wieder lediglich als Ausdruck einer Armenpolizei, welche eben "Unordnung von der Straße her" verhindern will. Dies letztere ist jedoch ein traditionelles und legitimes Ordnungsanliegen aller entwickelten Gemeinschaften, eine zentrale Aufgabe und Begründung aller Macht.
III. Steuerverschonung - ein Hoheitsgeschenk?
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Gäbe es etwas wie einen allgemeinen Grundsatz der Staatsgüte, käme er als Rechtfertigung für Steuererleichterungen als solche in Betracht, so würde sich dagegen nicht so allgemein Kritik richten: Ihr Gegenstand ist eben nie Güte, sondern Macht, Machtmißbrauch durch Privilegierung. Darin drückt sich das typisch-demokratische Mißtrauen der Gleichen aus; es wird nicht danach gefragt, ob hier geholfen werden soll oder darf, sondern allein nach einem etwaigen gleichheitswidrigen Mißbrauch der Staatsgewalt. Wieder zeigt sich also: Verschonung durch die Steuergewalt ist ebenso Machtphänomen und Machtinstrument wie die Abgabenerhebung selbst. 4. Steuererleichterungen: enge Ausnahmen von der Steuergleichheit Gäbe es einen Grundsatz der Staatsgüte, welcher sich zunehmend, induktiv wie deduktiv, in der gesamten Staatlichkeit verbreitete, einen bedeutsamen Ausdruck daher auch in der staats zentralen Besteuerungspraxis finden müßte, so dürfte all dies nicht Ausnahme bleiben, eine neue Regel müßte entstehen: im Zweifel für die Bedürfnisse, ohne ständigen Blick auf Leistungsgleichheit. Doch davon kann gerade im Steuerbereich nicht die Rede sein, nicht einmal in Ansätzen. Steuerverschonung, ja jede Form der Steuererleichterung, ist und bleibt Ausnahme gegenüber der Steuergleichheit, ihr Ausnahmecharakter wird immer deutlicher erkannt, stärker betont. Ihre Funktion ist nichts als die Bestätigung, die Begründung der Regel gleicher Abgabenbelastung. Die bereits erwähnte dauernde Kritik sorgt dafür, daß es so bleibe, daß sich das Steuerrecht immer mehr dahin entwickle. Wo immer ein einfacheres Abgabenrecht gefordert wird, nie geht es dabei um ein gütiges, menschliches Steuerrecht, nicht ansatzweise ist davon die Rede. Durchschaubar soll es werden, als Grundlage der Bürgerdispositionen, leichter kontrollierbar auf Gleichheitsverstöße, legitimationsstärker in der Herstellung möglichst schematischer Egalität. Erleichterungen sind dann eindeutig als Ausnahmen zu markieren, welche immer weiter zu verengen sind. Vorübergehend nur sollen alle diese Gestaltungen wirken, prekär im Sinne eben gerade noch gewährter Härteregelungen. Dies alles zeigt, daß hier nicht aus einer Güte heraus gestaltet wird, welche ja wesentlich "nicht prekär" geboten werden dürfte. Die Ausnahmegestaltung rechtfertigt sich vielmehr nur aus Gründen machtmäßiger Opportunität, aus Gesichtspunkten der Machteffizienz. Die Abgabengleichheit, der oberste Grundsatz dieses Rechtsbereichs, schlägt so grundsätzlich gegenüber allen möglichen Ausprägungen einer
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E. Angebliche Staatsgüte: Verschleierte Macht
Staatsgüte und meist vollständig durch. Daß diese Egalität gerade hier so stark betont wird, nicht aber Gesichtspunkte, welche "irgendwie Güte zum Tragen bringen könnten" - dies zeigt, wie in diesem Zentrum der Staatlichkeit die Prioritäten staatsgrundsätzlich gesetzt sind: Es geht um Macht, um sie allein, um Güte nur insoweit, als sie die Macht befestigt. Daß sich Staatsgüte letztlich nicht finden läßt, in den doch am nächsten liegenden institutionellen Ausprägungen wie in den allgemeinen zentralen Formen staatlichen Gebens und Nehmens, haben die vorstehenden Ausführungen gezeigt. Güte ist also primär weder Gestaltungsprinzip noch Ziel der Staatstätigkeit. Dies soll nun noch an zwei Beispielen allgemeiner erwiesen werden, in welchen vordergründige Betrachtung Spuren, ja Ausdrucksformen einer Staatsgüte entdecken könnte.
IV. Konkurrenz als Ordnungsprinzip: Kampf ohne Güte Die einzelnen Institutionalisierungen moderner Staatlichkeit, welche auf eine neue Staatsgüte zunächst gerichtet erschienen, haben sich in den vorstehenden Betrachtungen als Instrumente einer Machttechnik erwiesen, welche nicht schenken, sondern ihre Effizienz steigern, ihre Anstrengung minimieren will. Nun gilt es jedoch, eine allgemeinere Organisationsform unter diesem Blickwinkel zu betrachten - man mag sie Institutionalisierung nennen oder nicht - in welcher güteferne Machtentfaltung in Effizienzsteigerung besonders deutlich hervortritt: jenen Wettbewerb, in dem sich, wie kaum sonst irgendwo, Staat und Gesellschaft nicht nur parallel entwickeln, sondern gegenseitig beeinflussen. Zeigt sich nicht gerade hier etwas wie eine große Gegeninstitution zu aller Staatsgüte? 1. Wettbewerb als modernes "Gesamtmodell" für Staat und Gesellschaft
Der Wettbewerb als friedliche Auseinandersetzung hat, zwischen Bürgern, gesellschaftlichen Gruppen und staatlichen Einheiten, weithin die früheren Funktionen des Krieges übernommen: Er organisiert Machtentfaltung, stellt ihr die zulässigen Mittel zur Verfügung - und zugleich führt er ihr immer neue effizienzsteigernde Kräfte zu und legitimiert sie schließlich in den Augen der Akteure und ihres größeren Umstandes. Damit erfüllt er sämtliche Funktionen der früheren kriegerischen Auseinandersetzungen, in einer Bewegung wahrer Zivilisierung, in jedem Sinne des Wortes; entwikkelt in gesellschaftlichen Bereichen des Handels, geordnet sodann im staatlichen Zivilrecht, erfaßt er zunehmend die ursprünglich und so lange Zeit konkurrenzlose Ordnung eines öffentlichen Rechts, dessen konstitutiver
IV. Konkurrenz als Ordnungsprinzip: Kampf ohne Güte
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Begriff der Hoheit sich gerade aus wettbewerbsferner Überhöhung definierte. In den vergangenen Jahrzehnten hat diese Entwicklung in einem historischen Groß-Phänomen sich gesteigert und zu einem Durchbruch geführt, in welchem der friedliche Krieg den bewaffneten überwand: Die Wettbewerbsordnungen siegten allenthalben über die bewaffnete Machtbedürfnisse befriedigende Hoheit des Staates. Mit wirtschaftlich überlegener Macht und ständig sich steigendemder Effizienz verdrängte die auf Wettbewerb gegründete Wirtschaft den Hoheitsstaat aus vielen seiner angestammten Bereiche in Privatisierung; und selbst dort, wo seine alten Machtformen sich halten konnten, haben sie sich zu orientieren an den Regeln privater, betriebs wirtschaftlich organisierter und geordneter Konkurrenz. Mehr noch: Was an Staatsgewalt überhaupt noch erhalten bleiben kann in diesem vom privaten zum öffentlichen Bereich fluktuierenden Spiel der Kräfte, findet Aufgabe und Legitimation vor allem, wenn nicht ausschließlich, in Herstellung und Aufrechterhaltung von "Wettbewerbsordnungen". Diese Konkurrenz ist also etwas wie ein Gesamtmodell für Gesellschaft und Staat, in welchem sie, in einem ganz neuen, völlig unmarxistischen Sinn, nun endlich doch einig werden sollen. Dieses Modell entfaltet Kräfte bis hin zur Begeisterung, es erreicht die gesellschafts- und staatsethische Dimension darin, daß es als gerecht angesehen wird - als gut im ethischen Sinn. Wesentlich ist es ein Austauschmodell, eine Ordnung der Zuteilung vielleicht, nicht aber der Verteilung, über deren Iustitia distributiva hier gerade die Iustitia commutativa gesiegt hat. Ihrem ganzen Wesen nach steht also eine solche Ordnung einer Staatsgüte gegenüber, welche Bedürfnisse verteilend befriedigen will. Markt und Wettbewerb auf ihm sind daher darauf zu untersuchen, ob nicht ihr Gesamtmodell zum Gegenmodell wird zu einer aus Staatsgüte entfalteten Gesellschafts- und Staatsordnung. Ein Gegenmodell könnte dies insbesondere darin sein, daß es im Wettbewerb nicht primär um den Einsatz gewonnener Ergebnisse geht, sondern um deren Erzielung, nicht um Endzustände befriedigter Bedürfnisse, sondern um das Funktionieren effizienter Apparate. Für Staatsgüte ist Effizienz Voraussetzung, für den Wettbewerb die entscheidende Folge. Die Ferne des Konkurrenzdenkens zu einem solchen in Güte zeigt sich, ganz allgemein, schon darin, daß es für den Wettbewerb gleichgültig bleibt, auf welche Weise er hergestellt wird, durch schenkende Macht oder eingreifende Gewalt, oder einfach durch "Leistungsbereitschaft von unten" in Selbstgesetzlichkeit - entscheidend ist immer nur, daß dieses Modell funktioniert; alles andere, vor allem die letztlich "gerechte" Verteilung, wird dann, dies ist dort Überzeugung, hinzugegeben werden, wie von selbst hinzutreten. Güte oder Konkurrenz - als Spannung oder Gegensatz - dies ist denn auch geradezu eine Kernfrage im Nachdenken über Staatsgüte.
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E. Angebliche Staatsgüte: Verschleierte Macht
2. Die Staatsethik der Konkurrenz: Egoismus eigener Leistung Das modeme Konkurrenzdenken überläßt zuteilender Staatsgüte keineswegs alle moralische, insbesondere staatsethische Legitimation; es baut sich eine eigene auf, weniger ausdrücklich vielleicht, sicher weniger emotional: Wertschätzung eigener Leistung, Freude und Stolz darin. Staatsgrundsätzlich gewendet bedeutet dies das Bekenntnis zu einem freiheitsrechtlichen Individualismus, der möglichst wenig zusammenfassen möchte zum Kollektiv. Dieses Konkurrenzdenken kennt keinen Nächsten, und wo es ihn zur Kenntnis nehmen muß, auf seinen engeren Märkten, dort ist er der Gegner, der Feind, um so mehr, je näher er kommt. Zum Begriff dieser wettbewerbskonstitutiven "eigenen Leistung" gehört es jedoch, daß sie nicht so sehr von außen ermöglicht, als vielmehr vom Wettbewerber selbst hervorgebracht wird, aus eigener Kraft. Geschenkte Konkurrenzfähigkeit ist letztlich ein Widerspruch in sich. Schafft der Staat Möglichkeiten der Existenzgründung, bringt er neue Märkte hervor, so darf dies doch nie geschehen im Wege eines bedürfnisbefriedigenden Geschenkes im Einzelfall, es würde dies ja sogleich zur staatlichen Bedürfnisprüfung, zur Wirtschaftskonzession, zum Gegenpol jeder liberalen Wettbewerbsordnung. Verleihungen, Beleihungen, Leihen, Geschenke - all dies ist diesem Gesamtmodell wesensfremd. Die Staatsrnacht schafft Rahmen, sie befriedigt nicht konkrete Bedürfnisse, über den Einzelfall muß sie, bei aller Herstellung und Überwachung von Wettbewerbsbedingungen, stets hinwegsehen; nur der Markt kennt, beurteilt ihn - und verurteilt. Wollte die Staatsgewalt Konkurrenzlagen bis in Einzelfälle hinein herstellen oder überprüfen, sie würde allzu tief in den Raum des unübersehbar-ökonomischen Bereiches der Märkte hineingezogen, ihre finanziellen und rechtlichen Mittel wären weit überfordert. So zieht sich denn auch modeme Kartellaufsicht verständlicherweise immer weiter zurück; entsprechend der außerstaatlichen, überstaatlichen Globalisierung der Märkte überwacht sie nurmehr die Einhaltung allerallgemeinster Rahmen. Staatsethisch steht hinter all dem nicht mehr eine Staatsrnacht, welche die Verbindung zum Nächsten herstellt, durch eigene Geschenke aufrechterhält und die Bürger zu entsprechendem Verhalten untereinander zwingt. Moralische Grundlage ist das isolierte, wirtschaftlich freie Individuum, Staatsrnacht ist legitim überhaupt nur soweit, wie es dieses in seiner Wettbewerbsfreiheit erhält. In diesem Sinne ist das Kartellrecht mit seinen Begrenzungen und Verboten Ausdruck einer wirklichen Staatsideologie, es steht in unauflöslicher Spannung zur einer Sozialstaatlichkeit, deren Ziel altruistisches Miteinander bedeutet. Staatsgüte kann kein ethisches Staatsprinzip sein, solange der Wettbewerb die Kassen des Staates füllt und damit seine Macht erhält.
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3. Wettbewerb - das unbarmherzige Gegeneinander
Hier endet alle Harmonisierung: Konkurrenz will immer verdrängen und siegen, nie schenken und helfen. Es ist eben doch wie im Kriege: Mag auch der Endsieg, die völlige Vernichtung des Gegners, tatsächliche Unmöglichkeit sein - sie ist und bleibt das Ziel der Auseinandersetzung, in welcher alle Optimierungsgebote sich eben darauf richten. Das Wirtschaftsimperium ist ebenso die Idealvorstellung, wie das Weltreich es stets war. Volle Markbeherrschung wird ebenso immer angestrebt - marxistische "Monopolbildung" - wie das Römische Imperium; und beides war in jüngster Vergangenheit im Osten Wirklichkeit. Davon träumen immer noch viele Menschen, nicht vom wogenden Wettbewerb. Nun hat sich gewiß gerade in den vergangenen Jahrzehnten hier eine tiefe geistige Wandlung vollzogen, in einem deutlichen Abschied von solchem imperialen Denken in Verdrängung und Vernichtung, in Weltmonopol und Weltstaat. Die Realität des Möglichen zwingt die Staaten in ein Nebeneinander, die Wettbewerber in die faktischen, wenn nicht sogar rechtlichen Aufteilungen der Märkte. Entscheidend ist, daß das System der Märkte und der Konkurrenz erhalten bleibt, daher ist auch ein Nebeneinander der Konkurrenten zu bewahren, wo nötig herzustellen. Doch von dort ist ein unendlich weiter Abstand zu einer bedürfnisbefriedigenden, schenkenden Staatsgüte. Das Nebeneinander der Konkurrenten bedeutet in nichts eine Zuwendung, wie sie aber gütigem Handeln wesentlich bleibt. Ziel ist nicht die Befriedigung der Bedürfnisse des Nächsten, sondern Luftzufuhr zu ihm, damit das System als solches überlebe. Gewiß soll er nicht auf die Höhe tüchtigerer Konkurrenten gehoben werden, seine Existenz soll lediglich deren Machtmißbrauch begrenzen und kontrollieren lassen. In all dem liegen unüberbrückbare Abstände, ja Gegensätze eines Denkens in staatlich ermöglichtem Wettbewerb und in Staats güte. Wohl hat die Staatsgewalt das Recht, zuzeiten die Pflicht, Konkurrenzlagen zu verschieben. Doch dabei blickt sie nicht primär auf die Bedürfnisse der Wettbewerber und ihres jeweiligen Einzelfalles, sondern auf die Funktionsfähigkeit des Systems im ganzen. Sterben und verderben läßt hier der Staat erbarmungslos, solange nur noch etwas wächst auf den Märkten neben den mächtigsten Konkurrenten; es geht um Mechanismen, nicht um eine Menschlichkeit, zu welcher gerade jenes Wort nicht passen kann. 4. Konkurrenzlagenverschiebung - eine Aufgabe der Staatsgüte?
Seit die Staatsgewalt ihren Frieden machen mußte mit den stärkeren Kräften des Wettbewerbs, hat sie es sich doch immer noch vorbehalten, deren Konkurrenzlagen zu verschieben, durch hoheitliche Eingriffe oder
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E. Angebliche Staatsgüte: Verschleierte Macht
eigene ökonomische Bemühungen. So ist es ihr denn sogar gelungen, den Begriff der Wettbewerbsfreiheit weithin aus der staatsrechtlichen, grundrechtlichen Diskussion zu verdrängen, oder ihn gar auf die Bewahrung individueller wirtschaftlicher Bürgersituationen zu beschränken. Damit gewann sie die Wendung zu einer Staatsgüte, welche in Altruismus Grundrechte des einen gegen die des anderen sicherte, nicht so sehr das Wettbewerbssystem als solches offen bewahrte. Die Folge war denn auch, daß es eine Dogmatik der Konkurrenzverschiebungsverbote bis heute nicht gibt; die Staatsrnacht bleibt weithin Herrin der Konkurrenzlagen, in deren Gestaltung und Abgrenzung sie denn auch sozialstaatliche, als Staatsgüte erscheinende Gestaltungen mit einfließen lassen mag. Auf diesen verschlungenen Wegen bahnen sich doch, wie es scheint, Verbindungen an zwischen der kalten Wettbewerbsordnung und der menschlich warmen existenzbewahrenden und bedürfnisbefriedigenden Sozialstaatlichkeit. So kann das Konkurrenzdenken dem Vorwurf des egoistischen Leistungshochmuts entgehen, ja es wird sogar der Gleichheit, dem höchsten Staatsprinzip, geistiger Tribut noch gezollt. Doch die Antithetik zwischen Wettbewerbsdenken und einem solchen in Staatsgüte wird, dafür spricht heute alles, immer wieder aufbrechen, immer stärker. Zuerst einmal geht es ja darum, Mittel zu beschaffen, nicht nur um individuell nach Leistung reicher zu werden, sondern auch und vor allem, um verteilen zu können. Der Primat des Konkurrenzsystems kann nur und wird mit Sicherheit die notwendige Folge auf Dauer sein, dann aber wird der Staat mit einer etwaigen Staats güte warten müssen, bis ihm der Wettbewerb die Mittel in die Kassen spült, und die Staatsgewalt wird sich daher immer weitergehend aus dem Wettbewerb zurückziehen müssen, es können, selbst im Namen einer Moral, die ja dann die gewonnenen Ergebnisse verteilen darf. Angesagt ist also ein Niedergang der Konkurrenzverschiebungen durch den Staat, eine immer stärkere, immer weitergehende Achtung der Selbstgesetzlichkeit der Märkte; sie aber dürfen als solche Staatsgüte nicht kennen.
5. Konkurrenz - das effiziente Machtmodell In einem entfernt sich Konkurrenzdenken entscheidend von allem Denken in Staatsgüte: Es blickt auf Ergebnisse, ökonomische vor allem, auf Effizienz der dazu eingesetzten Mittel, eben darin wird es zum Machtmodell par excellence, nicht nur zum beruhigend-selbststeuernden Gesellschaftsmodell. Gerade für die Staatsrnacht bedeutet es unschätzbaren Effizienzgewinn: Sie vermag nun ihre Veranstaltungen und Anstrengungen "auszulagern" in die Gesellschaft, wo die Bürger unter sich agieren, in einem der Staatsrnacht gewissermaßen vorgelagerten Machtsystem ihr viel
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Härtevermeidung: Nicht Güte, sondern verbilligte Effizienz
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an Kontrollen, Anstrengungen, Reibungsverlusten abnehmen. Dieser private Wettbewerb ist darin ein einziges großes Outsourcing der Staatsgewalt. Und es bringt ihr denn auch betriebswirtschaftlieh viel - Geld, das sie nicht selbst zu verdienen braucht, das sie einfach nur nimmt, darin das Wesen staatlicher Gewalt in schönster Weise bewährend. Damit aber ist jene Staatsmacht, welche Konkurrenz herstellt, kontrolliert, erhält im eigentlichen Sinne, primär orientiert auf den gütefernen Wettbewerb hin, nicht auf die gütegeprägte Vergabe aus ihm gewonnener Mittel. Wenn es dann überhaupt noch, in solchen Grenzen, Staatsgüte gibt, so ist sie eine Folge bereitstehender, in Wettbewerb hervorgebrachter Mittel, insoweit ist sie sekundär im eigentlichen Sinne, eine Folgeerscheinung des primären Staatsziels der funktionierenden Wettbewerblichkeit. Darin liegt mehr als eine Phasenverschiebung, es ist dies zugleich eine Rangordnung der Staatsziele, und in ihr kann die Staatsgüte nicht oben anstehen, sie ist Folgeerscheinung. Staatsaufgabe im primären Sinn bleibt die Ordnung, nicht die Verteilung der in ihr gewonnenen Mittel. Die Staatsgewalt findet zu ihrem Wesen zurück, zu dem einer primär effizienz-, d. h. machtorientierten Ordnung. Staatsgüte also als Folge, nicht Wesen moderner Staatlichkeit.
v. Härtevermeidung: Nicht Güte, sondern verbilligte Effizienz 1. Ausnahmen als Bestätigungen der Machtregeln
Durch Härteregelungen werden strenge Normen relativiert, Machtstrukturen durchlöchert, die generelle Anordnung verliert sich in Einzelfall-Hilfen - so konnte es aus der Sicht einer systematischen Staatsgüte erscheinen. Doch hier nun eine Gegeninterpretation, die vielleicht um so vieles näher liegt: Ausnahmen bestätigen die Regel, sie bekräftigen sie und, was noch weit wichtiger ist, sie legitimieren sie überzeugend, machen sie damit in ihrer Härte erst durchsetzbar. Seit die Verfassungsrechtsprechung es dem Gesetzgeber im Namen der Rechtsstaatlichkeit zur Pflicht gemacht hat, Ausnahmeregelungen für Härtefälle aufzunehmen, oder wenigstens sorgfältig zu erwägen, erstarrt diese Form einer Norm-Flexibilisierung immer mehr zum Regelungs-Ritual. Wo immer Gebote oder Verbote eine strenge Ordnung schaffen sollen, wird ihnen, bald schon wie in einer legislatorischen Pflichtübung, die Übergangsregelung angefügt oder die dauernde Härteklausel. Was sollte dann gegen die Norm noch erinnert werden, gegen eine streng auslegende und anwendende Praxis? Der Gesetzgeber selbst hat der Kritik den Wind aus den Segeln genommen, den Grundrechten Genüge getan, deren Verletzung
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E. Angebliche Staatsgüte: Verschleierte Macht
in "argen Fällen" normativ verhindert. Aus normativer Abschwächung wird normative Verstärkung: Überzeugend läßt sich ein Gebot gerade dann durchsetzen, wenn es seine Ausnahmen bereits in sich aufgenommen hat. Darin hat sich der Gesetzgeber selbst allseitige, sorgfältige Prüfung und Ausgewogenheit bescheinigt; und nun steht nichts mehr entgegen, in dem von ihm selbst definierten "Normalfall" mit aller Strenge zuzugreifen - mit aller Macht. Damit wird zwar ein Grundprinzip des Rechtsstaats auf den Kopf gestellt, aus dem Zwang zur schonenden Ausnahme wird die grundsätzliche Verschärfung; doch so weit liegt dies nicht ab von der Tradition der Rechtsstaatlichkeit: Nirgends stand in ihr zu lesen, daß sie den milden Staat wollte, die Abschwächung seiner Macht - klare Ordnung ist damit gewollt, und warum nicht streng und besonders wirksam? Dem neueren Öffentlichen Recht ist dies wohl bewußt, wenn es immer mehr seine Thesen auf die Grundrechte gründet, nicht mehr auf eine Rechtsstaatlichkeit, in welcher eben menschen-nahe Machtausübung nicht in gleicher Weise mitgedacht ist. So ist denn Härteregelung rechtsstaatlich gedacht, aber nicht notwendig in Güte, zu ihr. Härteklauseln wirken nicht nur darin norm- und auf diese Weise machtbefestigend, daß sie den staatsdefinierten Normalfall in der Strenge seiner Behandlung abdecken, sie legitimieren die Regelung insgesamt, vor dem ethischen Gewissen des Normanwendenden wie des Normunterworfenen. Immer muß ja die Härteregelung gesehen werden im Zusammenhang mit der Gesamtordnung des normierten Bereichs. Erscheint sie als einseitig, so schwächt sich ihre Überzeugungskraft ab, bis hin zum Verdacht der Gleichheitsverletzung, des normativ-demokratischen Todesurteils über alle Staatsgewalt. Hat diese jedoch die möglichen ungleichen Fälle, wenn auch meist in unklarer Form, bereits ausgenommen, ihrem Machtanspruch virtuell entzogen, so kann der Vorwurf der harten Macht sie so hart nicht mehr treffen; und dies gilt erst recht dann, wenn solche Ausnahmen in Härtefällen nicht als Privileg erscheinen, mit dem Verdacht der Gleichheitswidrigkeit belastet, sondern geradezu als Ausdruck einer neuen, gütigen Normalität, als welche sie denn auch im ersten Teil dieser Untersuchung dargestellt wurden. Hier bedient sich also die harte Macht der List einer Staatsgüte, die sie auch noch zu ihrer Härtung einsetzt, im hinnehmenden Bewußtsein ihrer Bürger.
2. Mehr Macht durch Güte in Härterallen - in Abwägungsfreiheit
Härteklauseln sind nie präzis - diesen Preis zahlt der Rechtsstaat der genauen Normen für seine durchschaubar-vorhersehbare Ordnung. Ihre wesentliche Unbestimmtheit verlangt sinnerfüllende Ausübung einer Staatsgewalt, welche den Härtefall im einzelnen feststellt, dadurch erschließt sie sich neue, unabsehbare Gestaltungsfreiheit. Diese kann sich zu einem
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Quasi-Gesetzgebungsrecht einer Exekutive steigern, welche im Erlaßwege oder durch ständige Praxis Gesetzgebungen relativiert. Darin bereits liegt eine kaum meßbare Machtverstärkung, in der Verlagerung der Entscheidungsgewalt zu einer ihrem innersten Wesen nach effizienzgeneigten und der Effizienz verpflichteten Zweiten Gewalt. Sie könnte in Güte hier vollziehen, so wie es oben angedacht wurde, doch niemand zwingt sie dazu, und die Praxis aller Verwaltungen zeigt denn auch größte Zurückhaltung im Gebrauch dieser normativen Möglichkeiten; ihr eigentliches Gewicht liegt daher eher in der Verstärkung der Staatsgewalt als in deren begütigender Abmilderung. All dies ist eben in Kategorien des Funktionierens gedacht, der optimalen Effizienz, nicht einer helfenden Güte, welche ihre Mittel sich erst noch bei einer wirksamen Staatsgewalt beschaffen müßte. Vor allem aber wird Härte stets in Abwägung definiert werden, selbst und gerade in jenen Einzelfällen, in denen die Klauseln ihre eigentliche Bedeutung entfalten sollen. Wo aber steht geschrieben, daß diese Abwägungen wesentlich oder gar überwiegend Überlegungen der Güte und Hilfe zum Tragen bringen sollen - und nicht etwa Beurteilungselemente aus Effizienz der staatlichen Verwaltung, der Machtausübung überhaupt, der Aufrechterhaltung der Ordnung? Ist damit nicht immer auch eine Abwägung gegenüber möglichen Folgerungen angesprochen, bis hin zu jenen Kosten, die in einem effizienten Machtapparat eben nicht Sinn und Nutzen einer allgemeineren Regelung durch teuere Ausnahmefälle gefährden dürfen? So wird denn der Härtefall nicht notwendig immer dort angenommen werden, wo ein gütiges Herz ihn fordern könnte, aus den Bedürfnissen des Einzelfalles heraus, sondern es sind doch nur zu oft Überlegungen zur Vermeidung kostspieliger Prozesse, kostenträchtige Auswirkungen auf die Arbeitsplatzsituation und die sozialen Belastungen, welche den Ausschlag geben; der Staat will eben zuallerst immer sparen, nicht schenken, seinen Apparat perfektionieren, nicht begütigend pardonieren. Härten erzeugen Reibungswiderstand, nicht nur im mechanischen Bereich, seine Vermeidung steht im Zentrum der Dogmatik der Härten und der Praxis zu ihrer Vermeidung. Und daß damit zugleich auch die Vermeidung jener Härten gemeint ist, welche sich aus einem moralischen Widerstand der Bürger ergeben können, nimmt den Härteklauseln nichts von ihrem primären Effizienzbezug: Effizient ist eben eine Herrschaft, welcher moralische Widerstände nicht entgegengesetzt werden können.
3. Härtevermeidung: nur realitätsnahe Norm-Flexibilisierung Bei Härteregelungen, wie übrigens auch Übergangsbestimmungen, ist an sich eine spezielle Güteneigung in der Ausübung der Staatsgewalt kaum feststellbar. Es handelt sich um Gestaltungsformen der Flexibilisierung all-
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gemeinerer Ordnungsregelungen, letztlich um Vorbehalte, unter weIche die Normgeltung und damit die Machtausübung gestellt wird. Darin liegt gewiß ein Zugeständnis an die Wirklichkeit besonderer Interessen- und Bedürfnislagen, die nicht ignoriert werden dürfen, soll die Macht nicht im Zusammenstoß mit dieser Realität ineffizient werden, oder sie nur mit unverhältnismäßiger Anstrengung unter hohen Kosten beherrschen können. Insoweit wird hier sicher den Bedürfnissen von Einzelfällen Rechnung getragen, wie dies auch bei Veranstaltungen wirklicher Staatsgüte der Fall ist. Doch bei dieser letzteren kommt noch ein anderes hinzu: eine Motivation, eine Grundstimmung jedenfalls des freien Schenkens, weIches auf Gegenleistung, auf Machtgewinn verzichtet. Gerade dies aber fehlt bei Regelungen zur Härtevermeidung: Sie zielen auf möglichst reibungsloses Funktionieren der Machtapparate, weIche den Zusammenstoß mit der Wirklichkeit eines Einzelfalls vermeidet, der nicht voll norrnkonform beherrschbar wäre. So sind diese hier betrachteten Gestaltungen denn letztlich nichts als Norrnkorrekturen, weIche die Gesetze elastisch der Wirklichkeit und ihren Bedürfnissen anpassen. Die Wortwahl verschleiert dies: Bei Härtevermeidung denkt man unwillkürlich an ein Verhalten, weIches auf das Gegenteil gerichtet ist - also auf Güte. Doch nicht darum geht es hier, wie bei allen bisher in diesem Hauptteil betrachteten Erscheinungen: Es geht um besseres und um billigeres Funktionieren einer Macht, die zwar Härte bringen könnte, diese aber dann sogleich mit dem Brechen von Widerständen bezahlen müßte und mit hohen Kosten. Moral macht sich bezahlt - in Effizienz. In diesem Sinn mag sie dann auch Staatsgüte heißen.
VI. Korruptionsbekämpfung - Angst vor Staatsgüte 1. Marktwirtschaft: die gekaufte Macht
Eine Marktwirtschaft kennt im Grunde nur Handel, sie will ihn überall, Gerechtigkeit sieht sie allein in der Iustitia commutativa, im Austausch. Ist dies jedoch Grundprinzip der Wirtschafts- und Rechtsbeziehungen zwischen den Bürgern, beruht das gesamte Zusammenleben in einer staatlichen Gemeinschaft darauf, weIche sich dem öffnen muß, bis in ihre Verfassung hinein, so kann dies nicht nur wirken auf der horizontalen Ebene der gleichgeordneten Privaten. Notwendig muß es dann zu einer Vertikalwendung der Marktwirtschaft kommen, die in den Hoheitsbereich des öffentlichen Rechts hinein wirkt, in Tausch- und Kaufvorgängen der Macht. Die Demokratie ist insgesamt zuallererst eine Organisationsform dieses Austausches von Mächtigkeiten - in ihren Wahlen: Die Mächtigen versprechen
VI. Korruptionsbekämpfung - Angst vor Staatsgüte
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"Leistungen gegen Stimmzettel", ja es findet, über ständiges Wählen und Meinungsforschen, ein ununterbrochener Austausch statt, von Machterweisen gegen Vertrauensbezeugungen. Demokratisch legitim erscheint dies allgemein, und doch ist es, bei näherem Zusehen, nichts anderes als ein großer Vorgang gekaufter Macht. Selbstverständlich ist es daher, daß ein derartiges System enden muß in dem, was es selbst als einen schweren Rechtsbruch brandmarkt: in Korruption. Den Gesetzgeber kann man nicht korrumpieren - und doch geschieht es tagtäglich in Lobbyismus, jedenfalls in einer Inaussichtstellung von Wählerstimmen; der erbitterte Kampf der Demokratien gegen den offenen Gesetzeskauf über Parteienfinanzierung kann daran wenig ändern. Auf der Ebene des Gesetzesvollzugs, gegenüber der Verwaltung, "degeneriert" dann allerdings diese demokratiekonforme Austauschgerechtigkeit des Markts zu offenen Korruptionsphänomenen. Da müssen nicht Briefumschläge übergeben werden, ja nicht einmal die kaum zu überwachenden Vorteile vielfacher Art für Machtinhaber, ihre Familienangehörigen und Freunde; es genügt versprochene und bewiesene Freundschaft, vielfache Formen von Unterstützung und Einfluß, die sich "schon irgendwann auszahlen werden", in der Karriere von Ministern und Beamten. Nichts anderes ist dies als ein Handel mit Macht, als ein sich-Freunde-Schaffen der Mächtigen mit dem ungerechten Mammon. Sollte es wirklich in einer Marktwirtschaft so verwerflich sein, ist es nicht nur ihre Fortsetzung mit anderen Mitteln einer bezahlten Macht? Gerade in der Demokratie darf das öffentliche Recht dies nie anerkennen; die demokratischen Institutionen der kanalisierten Machtkäufe lassen sich nur halten, wenn der schwarze Markt der Korruption entschlossen bekämpft wird, wenn dem Beamten, jedenfalls offen, das streng verboten bleibt, was jedem Volksvertreter erlaubt ist - kurz: Die Demokratie steht und fällt mit einer harten Disziplinargewalt, welche sich der neidigen Augen der Vielen bedient, die - nicht ebenso gut Macht sich kaufen können. Deshalb wird auch, in großen Demokratien wie der amerikanischen, das Korruptionsproblem zum zentralen Staatsproblem überhaupt. Man möchte daraus zunächst die Folgerung ziehen, daß sich eben aus solcher Frontstellung Staatsgüte überall begründen und verstärken läßt: Hört denn nicht gerade mit ihrem Einsatz jener gefährliche Machtkauf auf, weil eben die Hilfsbedürftigen nichts zu bieten haben, keine Bestechungsleistungen, in welcher Form immer, erbringen können? Darin liegt sicher ein grundsätzlich legitimierender Zug zur Staatsgüte. Und doch steht die Antithese ganz nahe: Gerade Staatsgüte könnte neue Korruptionsängste wecken.
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E. Angebliche Staatsgüte: Verschleierte Macht
2. Korruption: pervertierte Güte Wenn der Beamte sich bewegen läßt durch die Bedürfnisse des Bürgers, erweicht wird durch dessen Not, die er lindern kann durch gütige Normanwendung, insbesondere in seinem Ermessen, so wendet er den Gewaltunterworfenen Vorteile zu. Ein allgemeiner Grundsatz der Staatsgüte mag dies als rechtmäßig erscheinen lassen, doch Vorteilszuwendung bleibt dies, der keine Gegenleistung gegenübersteht, und sie ist auch nicht als solche aus der Macht legitirnierbar, deren Erhaltung und Festigung. Bezahlt wird der zuwendende Beamte in seiner Überzeugung, moralisch gehandelt zu haben, und dies mag staatsethisches Denken natürlich nicht als Vorteilsannahme qualifizieren. Doch mit der Entfaltung eines derartiges Wohlwollens, wie es oben näher beschrieben wurde, werden zwei höchst bedenkliche Entwicklungen in Gang gesetzt: - Grenzen lassen sich solcher Güte - alle bisherigen Betrachtungen zeigen es - schon deshalb schwer ziehen, weil dies durch ein Recht geschehen müßte, über welches die Staatsgüte gerade hinwegschreiten will. Wird sie als ein Staatsgrundsatz von hohem Wirkungsgrad aufgefaßt, so kann sie nur in einer Verallgemeinerung der Staatshilfen, der Staatsgeschenke enden. Liegt in diesen aber, was ebenfalls die bisherigen Untersuchungen nahe legen, Ausübung von Macht, so wird sich kaum vermeiden lassen, daß sich in solche, immer mehr vorgebliche Güte, eben doch auf leisen Sohlen die Korruption schleicht: Zunächst wird dem schenkenden Staatsorgan die Befriedigung der guten Tat zuteil, doch bald wird sein Träger beginnen, sich dieses Verdienst in einen Verdienst umzumünzen, der ihm Vorteile bringt, bis ins Materielle. Und was noch schwerer wiegt: In den Augen dritter Bürger, die zusehen müssen, wie hier auf breiter Front "Wohlwollen" erwiesen wird, muß der Verdacht aufsteigen, daß dies eben doch nicht ohne irgendwelche Gegenleistungen erfolge, die, wie bei aller Korruption, selbstverständlich unter der Hand gewährt werden, sich allenfalls vermuten lassen. Korrupte Staatlichkeit hat sich nie bisher in großem Umfang überzeugend beweisen lassen; strafrechtlich ist sie im Einzelfall äußerst schwer aufzudecken, als größeres Verwaltungs- oder gar Staatsphänomen letztlich immer nur zu vermuten. Doch eine wie immer definierte Staatsgüte wird gerade hier gefahrlich: Einerseits schafft sie niedrigster Korruption den ethischen Vorwand, zum anderen vergiftet sie, im Verdacht grundlos erwiesenen Wohlwollens, die Quellen des Bürgervertrauens. Mildtätigkeit und Korruption lagen in der Geschichte immer schon so nahe beieinander, bis hin zu den größten Kirchenstiftungen, mit denen irdische Güte himmlische Leistungen erkaufen wollte. Eine Demokratie, deren Grundlagen zusammenbrechen, macht sie nicht Front, in allem und jedem, gegen alle Formen käuflicher Macht muß sie nicht auch einer solchen Staatsgüte den Kampf ansagen?
VI. Korruptionsbekämpfung - Angst vor Staatsgüte
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- Korruption als Pervertierung der Staatsgüte mag nun ein entschlossener Vertreter dieser letzteren auch noch hinnehmen, wird damit nur die Staatsgewalt zurückgedrängt, Macht überhaupt minimiert. Und in der Tat scheint ja damit der oben beschriebene Grundmechanismus der "Marktwirtschaft käuflicher Gewalt " überspielt zu werden: Nicht mehr Macht wird gekauft, Güte wird ausgeteilt, sämtliche Regeln des do ut des verlieren ihre Wirksamkeit. Jenes Denken in Machtkategorien, das nach den vorstehenden Betrachtungen sich doch immer wieder stärker zeigt als alles gütige Helfen - tritt es nun nicht endgültig zurück, wenn in gegenleistungsloser Güte sein Mechanismus, der Machtkauf, zerstört wird? Doch gerade daran wird die marktgestützte Demokratie nicht glauben, sie wird, wie dargestellt, eben doch weitere Machtkäuflichkeit, Bezahlung der Staats güte vermuten. Keinesfalls kann sie ihren marktwirtschaftlichen Grundmechanismus der Käuflichkeit aller Leistungen im Namen eines solchen Prinzips einfach grundsätzlich außer Kraft treten lassen. Im Namen demokratischer, marktlegitimierter Macht wird sich also gerade die Volksherrschaft mit allen Kräften gegen eine Entwicklung wenden, welche, nun wirklich in Staatsgüte ablaufend und immer mehr auf diese zu, ihre Macht im Innersten bedroht, am Ende zerstört. Anders gewendet: Korruption ist nicht an sich schlecht, sondern nur darin, daß sie abläuft, wo die Demokratie sie nicht mehr dulden kann, daß in ihr die Machtkäuflichkeit allzu sehr verallgemeinert, allzu offenkundig wird. Doch noch gefahrlicher fast wird sie der Volksherrschaft darin, daß in Staatsgüte nicht einmal mehr diese doch letztlich demokratisch systemgewollte Korruption stattfindet, daß die Staatsgüte vielmehr nicht pervertiert, sondern in ethischem Rigorismus wirklich gegenleistungslos gewährt wird. Dann nämlich tritt die andere, noch weit schwerere Gefahr für die demokratische Staatsrnacht auf: Ihre marktmäßigen Mechanismen funktionieren nicht mehr, sie legitimieren Machtäußerungen nun nicht weiter, machen sie sogar letztlich unkontrollierbar. Der Kampf gegen die Korruption ist daher in der Demokratie eine große Bemühung um Machtsäuberung - doch sie kann nicht gelingen, wenn heimlich in Güte bezahlt wird und für sie; und alles Gütige hat eben immer auch etwas Heimliches an sich. Umgekehrt aber darf Staatsgüte die Macht auch nicht völlig kauffrei, korruptionsunanfallig stellen, sonst verliert sie jede Marktlegitimation, auf deren Austauschdenken sich die Volksrnacht aber stützt. "Echte" Staatsgüte zerstört die Macht der Demokratie, indem sie ihr die Austauschlegitimation rationaler Modernität entzieht; verschleiernde Staatsgüte gefahrdet ihre letzten ethischen Fundamente, macht sie zum verdächtigen Regime, durch verdächtige Geschenke. Doch keine dieser Grundlagen darf gegenwärtiger rationaler Staatlichkeit fehlen. Und wo zuviel Staatsgüte ist, da wird die Macht erst recht käuflich. Oder gäbe es das nicht: "sich Wohlwollen erkaufen"? IS"
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Was hier, nun bereits ganz allgemein und nicht nur in der Analyse von Einzelinstitutionen, offenbar wird, ist eine Staatsgrundsätzlichkeit der Volksherrschaft, welche sich gegen Staatsgüte wenden muß, aus höchstrangigen Überlegungen, aus einem wahren Verfassungsdenken heraus. Dieses Kapitel legt ein Ergebnis nahe: Der Staat, gerade der demokratisch sich legitimierende, hat eben doch im letzten "nichts zu verschenken", alles ist in ihm macht-effizienzmäßig gedacht, nicht in Güte zu wollen. Belegen ließe sich dies, so mag man das vorstehend Ausgeführte zusammenfassen, in den wichtigsten Einzelbereichen und Institutionalisierungen, auf welche sich ein Staatsgrundsatz der Staatsgüte vielleicht stützen ließe, aber auch aus allgemeineren, bereits in Verfassungsgrundsätzlichkeit hineinwachsenden Erscheinungen von rechts prinzipiellem Gehalt. So gilt es nun also, in diese Verfassungsgrundsätzlichkeit nochmals, am Ende, "aufzusteigen"; denn ein derartiges Prinzip der "gütigen Macht der Geschenke" könnte sich zu einer gefährlichen neuen Kryptomacht entwikkeIn - schließlich könnte sie sogar nicht nur die faßbaren, vorhersehbaren, kontrollierbaren Machtstrukturen der Rechtsstaatlichkeit unterminieren und zerstören, sondern damit vielleicht sogar Macht und Staatlichkeit letztlich auflösen. Gerade in dieser Gefahr steht die Volksherrschaft seit langem, und deswegen liegt es nahe, daß sich aus ihren Grundannahmen heraus Gegenzüge wider Staatsgüte nicht nur deshalb entwickeln, weil hier eine Wachablösung von Machtformen drohte, sondern weil auf solche Weise die einzig legitime demokratische Macht, die durch Freiheit begrenzte, rechts staatlich kontrollierbare, ins Wanken gerät, durch Machtverfestigung in einer Diktatur der Geschenke - Machtauflösung in sich verströmender Staatsgüte. Wie begegnet demokratische Staatsgrundsätzlichkeit derartigen Entwicklungen?
F. Freiheitliche Demokratie: Staatsform gegen Staatsgüte Der Staat des lahrtausendwechsels entwickelt sich zunehmend im Sinne einer flexiblen Gleichheitsordnung, die sich zwar ökonomischen Zwängen und politischen Bewußtseinslagen anpaßt, gerade deshalb aber das gesteigerte Selbstbewußtsein der Vielen machtmäßig abbilden muß. Dies kann nur gelingen in Orientierung an den vier Grundannahmen einer solchen Machtausübung und Machtlegitimation: Sie muß demokratisch erfolgen über Mehrheiten, auf immer mehr Gleichheit zielen, dabei aber Rationalität in rechtsstaatlichem Ordnen einsetzen, und schließlich in all dem ein Minimum an Freiheit bewahren, welches sie als Maximum ausgeben kann. Gegenstand dieser Betrachtungen war es, ob sich auf dieser Ebene wahrer Staatsgrundnormen - und mag man sie auch vorsichtig Prinzipien nennen - eine neue allgemeine Grundstimmung der rechtlichen Entwicklung, die Staatsgüte, zu einem weiteren, beherrschenden Grundsatz entfalten läßt. Herkömmliche staatsrechtliche Dogmatik wird ja bei der Aufzählung der vier genannten Staatsgrundnormen die Sozialstaatlichkeit vermissen; hier sollte gezeigt werden, daß sie als ein immer nur abschwächend-kompensierendes Prinzip nicht gedacht werden kann, sich vielmehr allenfalls in Ausdrucksformen einer Staatsgüte praktizieren läßt, in deren Namen sie übrigens ja heute, wenn auch oft vorsichtig verschleiert, allenthalben auftritt. Nun hat sich zwar in den ersten Teilen der Untersuchung gezeigt, daß sich, jenseits aller von vorneherein einsichtiger Spannungen zwischen einer Staatsgüte und herkömmlicher Staatlichkeit, doch Entwicklungen feststellen lassen, welche, aus unterschiedlichsten Bereichen heraus, etwas wie einen gemeinsamen Zug zur Staatsgüte nahelegen mögen (vgl. oben B. und c.). Sodann aber ließ sich nachweisen, daß in all dem doch wieder nicht so sehr gütig-schenkend gedacht wird als vielmehr machtmäßig - in der Macht der Geschenke (vgl. oben D.). Dieses Macht- als Effizienzdenken wurde sodann in einer antithetischen Betrachtung gerade jener Bereiche einsichtig, aus denen sich angeblich Staatsgüte entwickeln läßt (v gl. oben E.). Nun soll am Ende gezeigt werden, daß unbeschadet all solcher Entwicklungen und Denkkategorien im einzelnen gerade die eben erwähnten Grundannahmen der freiheitlichen Demokratie systematische Staatsgüte ausschließen. Damit ist auch die Frage gestellt, ob Sozialstaatlichkeit denn nun wirklich als eine weitere derartige Grundannahme gedacht werden kann, ob es sich nicht nur um eine Form der Machttechnik handelt, welche zwar "begüti-
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F. Freiheitliche Demokratie: Staatsform gegen Staatsgüte
gend" deren Härten mildern mag, darin aber nicht bis zu einer wirklichen Staatsgrundnorm emporwachsen kann. Und wenn es dies letztere, etwa in Form einer Staatsgüte, nicht geben kann, wenn die Grundannahmen der freiheitlichen Demokratie dies schlechthin ausschließen, und zwar vor allem, weil diese eben machtmäßig gedacht und ausgestaltet bleibt, so ist auf die ebenfalls bereits gestellte Frage zurückzukommen, ob in der Sozialstaatlichkeit nicht doch nur andere, neue Machtformen sich entfalten, ob sie sich nicht nur eben deshalb als angebliches Staatsgrundprinzip bisher in der Dogmatik hat halten lassen - als Macht der Geschenke. Dann aber lenkt diese Untersuchung zu Ergebnissen zurück, welche frühere Betrachtungen zur Machttechnik bereits nahelegen - daß diese immer mehr sich in einem ausprägt: in der Entfaltung von Formen verschleiernder Gewaltausübung, vom Unsichtbaren Staat über die Gerechtigkeitsverkleidung der Abwägung und verschleiernde - nicht verschleierte - Staatswahrheit bis eben nun hin zur Verschleierungsethik der Staatsgüte. Darin wird das methodische Antithesenprogramm abschließend durchlaufen: Staatsgüte als angebliche Antithese gegen herkömmliche Staatsgewalt - freiheitliche Demokratie ihrerseits als Antithese gegen solche Staats güte.
I. Demokratie: Machtausübung in Treuhänderschaft auf Zeit für die Vielen Im folgenden werden Überlegungen aufgenommen und vertieft, welche bereits im ersten Hauptteil (oben A) angedeutet wurden, um die größere Dimension des Betrachtungsgegenstands zu verdeutlichen; hier sind sie nun systematisch zu vertiefen, im Lichte auch dessen, was sich zu möglichen Ausdrucksformen einer Staatsgüte bisher ergeben hat. 1. Geliehene Macht macht kein Geschenk
Demokratische Macht "gehört" den Staatsorganen, den tatsächlich Herrschenden so wenig wie die Maschine den bedienenden Technikern. Zur Verfügung gestellt ist sie ihnen durch Entscheidung und Vertrauen der Machtunterworfenen; noch so stark mag sie sich in Eigengesetzlichkeit entfalten, sich von dieser ihrer Basis abheben und sie den Herrschenden immer mehr unterwerfen - sie bleibt geliehene Macht, muß sich immer wieder zur Verfügung der Leihenden stellen, wird in ängstlichem Blick auf deren überwachende Machtnähe ausgeübt. Diese in der Demokratie selbstverständliche Grundannahme einer nicht aus eigenem Recht, sondern treuhänderisch ausgeübten Herrschaftsgewalt mag nun in den meisten Fällen ebenso unstreitig konsensgetragen sein, wie
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ihr geliehener Charakter sich in der Praxis kaum zeigt. Diese geliehene Macht ist in der Realität ein eigentümliches Eigentum auf Zeit, eben doch aneigenbar, appropriationsfahig, wenn auch stets verlustfahig. Kommt aber nicht, unabhängig von der noch näher zu betrachtenden Kurzfristigkeit, aus diesem Begriff einer "geliehenen Macht" eine Beschränkung, welche bei einer Betrachtung der Staats güte von Gewicht wird: Geliehene Macht macht kein Geschenk? Sie muß als solche ja dem Treugeber bleiben, jedenfalls zurückgegeben werden können, ihm oder eben anderen, welche er mandatiert. Nichts darf hier gewissermaßen "verloren gehen", alles Hingegebene hat seinen Gegenwert zu erbringen, und sei es auch nur in der Begründung und Befestigung der treuhänderisch anvertrauten Macht. Ein sich Verströmen wie es aber in ethischem Verständnis aller Güte stets wesentlich war, darf hier nicht stattfinden, jene eigentliche Schenkungsfreiheit herrscht nicht, denn sie würde ja, nach privatrechtlichem Vorbild, Verfügungsfreiheit voraussetzen - Macht-Eigentum im vollen rechtlichen Sinn; eben dies aber kann es in einer Demokratie nie geben. Damit aber fehlt allen Veranstaltungen der Staatsgüte jedenfalls stets eine wenn nicht zentrale, so jedenfalls krönende Legitimation gütigen HandeIns: daß sie den Verlust eigener Mittel im menschlich helfenden Geschenk in Kauf nimmt, über mögliche Gegenleistungen hinwegblickt. Man mag dies dann noch "Schenkung" nennen doch im Grunde ist es nichts als ein Austauschvorgang: Machtbefestigung gegen Staats geschenk, im letzten ein Erkaufen der Macht. Daraus ergibt sich aber notwendig ein für diese Betrachtung wichtiges Ergebnis, welches schon vorstehende Untersuchungen nahegelegt haben: Alle Sozialgüte, sei sie nun als Sozialstaat ausgegeben oder über diesen noch hinausgehend, ist durch und durch machtmäßig stets gedacht, sie ist nur eine Verschleierung der Macht der Geschenke. Anders wäre sie als treuhänderisch anvertraute Gewalt gegenüber den Vielen gar nicht zu rechtfertigen. Staatsgüte wäre dann nichts als eine Verschleuderung des Treugutes, auf dessen Bewahrung für sich und künftige Generationen der Treugeber, das Volk, jedoch unentziehbaren und unverzichtbaren Anspruch hat. Die aktuelle Diskussion um die Interessen, ja Rechte künftiger Generationen gegenüber einem Umweltschutz, welcher ihre Appropriation durch die gegenwärtig herrschende Generation nicht zulassen darf, ist unmittelbar analogiefahig für ein letztes demokratisches Verbot der Staatsgeschenke in Staatsgüte: Sie würde nichts anderes bedeuten als eine Blankoerlaubnis, heutiges Gemeinschaftsgut dem Konsum der gegenwärtig herrschenden Generation freizugeben - anstatt es in "Kredit auf Gegenleistung" in die Zukunft, in die Gesamtinteressen des sich fortsetzenden Volkes als Treugeber zu investieren. Der Gedanke der geliehenen Macht ist gerade im Umweltschutz neuerdings in einer mächtigen Bewegung allgemein bewußt und politisch hoffä-
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hig geworden. In der Tat hat er nicht so sehr demokratische Wurzeln, als er sich vielmehr gerade in demokratischem Denken nunmehr verwirklichen läßt, bis hinein in dessen theologische Grundlegungen: Den heute lebenden Menschen ist die Macht, sich die Erde untertan zu machen, nicht als Eigentum zum Konsum und zum Verschenken überlassen, sie ist ihnen nur geliehen zu einer Benützung, welche ihre Fortdauer investiv zu sichern hat. Wer in solch größeren Dimensionen denkt, kann es dem Staat nicht gestatten, zu verschenken im eigentlichen Sinn, weder im Kleinen noch erst recht in einer größeren Dimension, welche das Geschenk etwa als Sozial ordnung ausgeben und damit die Verschleuderung von Treugut verschleiern möchte. So darf es zwar nicht heißen: "Der Staat hat nichts zu verschenken" - denn der Fürst als sein Repräsentant durfte und dürfte es noch heute, ist ihm doch Macht geschenkt worden von oben, die er in Geschenken weitergeben darf. Die Demokratie dagegen sieht sich zwar gottähnlich, aber nicht Gott gleich: Sie herrscht auf Erden und fordert rasch das Anvertraute zurück, ja man könnte den Niedergang der fürstlichen Gewalt auch so begründen, daß sie durch "fürstliche Gnaden" abfiel von ihrer eigentlichen Legitimation: daß eben auch dem Herrscher von Gott alles nur anvertraut war, daß auch er nichts zu verschenken hatte. Dann wäre Staatsgüte auch in der Vergangenheit nichts anderes gewesen als eine schöne, moralisch verbrämte Verschleuderung fremden Gutes. Heißen aber muß es jedenfalls heute: Nicht der Staat - die Demokratie hat nichts zu verschenken, von ihrer geliehenen Macht und aus dieser heraus. 2. Entpersönlichte kollektivierte Macht: schenkungsunfähig Demokratische Macht, durch sie beschaffte Mittel, sind kein Gegenstand von Geschenken, der demokratische Volkssouverän ist aber auch gar keine Schenkerpersönlichkeit. Wie bereits dargestellt, liegt das Wesen demokratischen Herrschens in einer Entpersönlichung, welche einen kollektivierten Machtträger hervorbringt. Dies gilt jedenfalls für eine Basis, an welcher das Volk als eine solche entpersönlichte Kollektiveinheit erscheint. Diese Entpersönlichung setzt sich dann fort in der demokratischen Staatsorganisation; in ihr wird immer nur "gehandelt für ... " eben dieses Volk. Staatsgüte müßte also handeln für diese zusammengefaßten Vielen, sie aber sind des Schenkens gar nicht fahig. Hier fehlt es an jener individualisierbaren Persönlichkeit, welche allein Adressat ethischer Appelle sein kann. Schenkung mag als rechtlicher Vorgang nicht wesentlich personengebunden sein, es gibt sie auch, als unentgeltliche Zuwendung, von Organisation zu Organisation, von Gesellschaft zu Gesellschaft. Doch abgesehen davon, daß derartige Vorgänge dann satzungsmäßig vorgesehen oder doch
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erlaubt sein müßten, was in größerem Umfang im Gesellschaftsrecht kaum vorstellbar ist, allenfalls bei mildtätiger Gemeinnützigkeit in Betracht kommt: den Staat im Namen einer allgemeineren Staatsgüte zu einer "Schenkungsgesellschaft" fortzubilden, das würde denn doch den Volksbegriff zur bedenklichen Fiktion werden lassen. Die Vielen sind zusammengeschlossen, schließen sich zusammen zur Verfolgung gemeinsamer Interessen, zu kollektivem gegenseitigen Schutz. Darin mag Austausch liegen, und so ist es denn in den Lehren vom Sozialvertrag auch stets verstanden worden. Daß aber die Vielen als solche kollektiv Gutes tun, darauf vielleicht ihre gesamte kollektivierte Tätigkeit richten wollten, daß sie als solche schenken, als Volk - dies alles paßt nicht in die bisherigen Schemata demokratischer Staatsbegründung. Diese große Zahl ist eben als solche nicht "moralisch erreichbar", sie ist kein Partner in Beziehungen, in welchen sich Güte verströmt. Immer geht es hier um die Verfolgung von "Interessen möglichst aller", und dazu mag man gewiß die Beseitigung von Existenzgefahrdungen einzelner Glieder rechnen, an welcher alle anderen lebendiges Interesse haben; doch damit ist nicht das Zentrum des Helfens und Schenkens erreicht, die moralische Dimension ist hier noch keineswegs angesprochen. Man kann sich dieser auch nicht über die Rousseausche Fiktion des Allgemeinen Willens nähern, in dem dieser eben als moralisches Wollen zur Güte verstanden wird. Die Volonte generale ist eine Fiktion der Entscheidungsfindung, keine ethisch ansprechbare Instanz, hier siegt die Mehrheit über die Minderheit, es wird weder der Mehrheit noch der Minderheit etwas geschenkt. Gerade wenn man versucht, die moralisch begründete Kategorie des Helfens auf die entpersönlichte, kollektivierte Gewalt des Volks souveräns zu übertragen - und auch nur sie kann ja durch seine Organe verwaltet, weitergegeben werden - kommt die ganze Problematik einer Ethisierung der Staatsgewalt als solcher, des moralischen Anrufs an das Unpersönliche, deutlich zum Vorschein. Es bedürfte schon noch bedeutender Entwicklung einer "Kollektivethik", bevor derartiges gerade in einer Demokratie vorstellbar würde. In der Volksherrschaft kann der Wille als solcher kollektiviert vorgestellt werden, nicht aber, daß er als solcher gut sei - schon deshalb kann es dort Staatsgüte im eigentlichen Sinne nicht geben. 3. Organisierter Sozialneid will nehmen, nicht schenken
Der Austausch zwischen den Bürgern, Gewähren und Versagen, läuft in der Gesellschaft ab, im wesentlichen staatsfern, auch in der Demokratie. Sie aber greift sodann ein mit ihrer Macht, wenn es darum geht umzuverteilen. Darin legitimiert sich ihre gesamte Organisation der Gleichheitsstaat-
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lichkeit als perfektionierter, machtmäßig abgestützter Sozialneid der Bürger untereinander. Gewiß wird nun der einen Gruppe gegeben, was der anderen entzogen wird; doch nähere Betrachtung erweist, daß dieses Geben und Verteilen keineswegs die Wesenszüge des gütigen Schenkens an sich trägt. Rechtlich ist es in der Herstellung der Gleichheit bereits anspruchs mäßig verfestigt, und damit eben gerade nicht Ausdruck einer frei handelnden Güte. Vor allem aber ist dieses Geben ein Sekundäreffekt gegenüber jenem Nehmen, in welchem primär demokratische Macht, die gesamte Staatlichkeit der Volksherrschaft, eingesetzt wird. Und die erste Befriedigung allen Neides, des Sozialneids vor allem, liegt ja nicht in der Herstellung "gerechter Zustände", über die es ohnehin nie vollen Konsens geben kann, der man sich immer nur in diskutablen Zwischenschritten wird annähern können. Den unmittelbar die Machtinteressen befriedigenden Primäreffekt erzielt dagegen der Sozialneid bereits dort, wo genommen wird, wo sich seine Macht im "Gleichschneiden" ergeht, gleich in welche Scheunen sodann das Geschnittene verbracht wird. In einem Extrembeispiel ist dies vor kurzem noch deutlich gewesen: Der Volksdiktatur in ihrer kommunistischen Ausprägung des Ostens ging es nicht primär darum, Schlösser zu nehmen und Kunstbesitz, um dies vielen Neidigen zugänglich zu machen oder gar es unter sie zu verteilen - genommen werden sollte es und dann verfallen, oder "irgendwo aufbewahrt" werden. Derartige Grundmuster prägen zumindest kontinentaleuropäische Demokratien von jeher. Vertiefend diskutiert wird und sodann "entscheidend" bleibt das Nehmen zur Verteilung; darin liegt der erste Akt der "sozialen Gerechtigkeit", und merkwürdigerweise verlassen so viele schon beim zweiten Akt des Verteilens das politische Theater. Der erste Akt ist ja auch leicht in all seinen Szenen erfaßbar und erfreulich, gehen hier doch Mittel ein, und insoweit ist er eben voll konsensgetragen. Über die Verteilung des Eingenommenen aber wird sogleich im zweiten Akt immer kleinlicher Streit entstehen, Konsens darüber besteht nur selten, Verfassung und Gesetze stellen dafür nicht so deutlich Mechanismen zur Verfügung wie zum Ablauf des ersten Aktes des Nehmens in Sozialbindung und Enteignung. Die ethische Diskussion darüber braucht also hier gar nicht geführt zu werden, ob in der egalitären Volksherrschaft des organisierten Sozialneides überhaupt Staatsgüte sich entwickeln kann, ob Neid als eine wesentlich unmoralische oder doch ethisch bedenkliche Grundhaltung dem nicht schon grundsätzlich entgegensteht. Selbst wer den kreativen Sozialneid verteidigt, die uralte erste und größte Sünde nun als Verdienst ansieht, wird doch erkennen müssen, daß diese Geisteshaltung am Nehmen interessiert ist, wie einst am Sturz des allmächtigen Gottes, nicht primär am verteilenden Geben. Jene Macht, welche sie einsetzt und auch legitimieren muß, richtet sich nicht zunächst darauf, daß einige mehr erhalten sollen - wie viel kann es denn im einzelnen überhaupt sein -, sie wird sichtbar und darin begrün-
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dungsfähig, daß sie zunächst einmal nur nimmt. Staatsgüte setzt ihren Hauptakzent umgekehrt, auf Geben und Helfen, auf Bedürfnisbefriedigung, nicht auf Egalisierung der Bedürfnisse. Die demokratische Macht mag bestrebt sein, sich auch für diese letztere die Mittel im Sozialneid zu beschaffen, doch im wesentlichen bleibt sie bei dessen erster Phase des Nehmens stehen. Und Güte wäre ja auch eine problematische Begründung für ein wesentlich ungütiges Wegnehmen; bei diesem muß immer primär rechtlich, machtorientiert gedacht werden, nicht "über die Normen hinweg in Einzelfällen", wie dies aber der Staatsgüte nach den bisherigen Ergebnissen wesentlich ist. So ist die eigentliche Schubkraft demokratischer Machtausübung, so kann der organisierte Sozialneid nicht gerichtet sein auf Geschenke, sondern auf Entzug durch Hoheitsgewalt. 4. Demokratie: "Kurzfristige Staatsform revozierbarer Hilfe"
Wenn sich Staatsgüte gerade in der Demokratie verbreiten soll, aus der Höhe einer wahren Staatsgrundnorm, so steht dem eine Grundstruktur dieser selben Staatsform entgegen: ihre kurzfristige Organisation der Machtausübung, ihre Bereitschaft, Anordnungen stets, auch schon nach kürzester Zeit, wieder rückgängig zu machen, mit einem Wort: eine wesentliche Prekarietät der Machtausübung als solcher. Damit soll sicher Beschränkung einer Staatsgewalt erreicht werden, die sich nicht nur ständig in Frage stellen läßt, sondern sich periodisch selbst in Frage stellt. Bei machtgetragenen Ordnungsentscheidungen, gesetzgeberischen oder verwaltungsmäßigen Gestaltungen, mag dies an sich schon nicht unproblematisch sein, ständig reduzierbare Ordnung droht den Ordnungszweck zu verfehlen. Doch noch immer kann man ihn dort grundsätzlich verfolgt sehen, selbst wenn sich die Bürgerschaft eben auf dauernde Wandlung, ja auf ständigen Wechsel einstellen muß - weil sie dies eben selbst so gewollt habe. Noch weit weniger paßt dies jedoch zur Grundstruktur einer wie immer im einzelnen zu definierenden Staatsgüte. Im Geschenk liegt es, daß es eine für den Schenkenden "verlorene Leistung" sein soll, welche auf Dauer und grundsätzlich unwiderruflich in den Bereich des Beschenkten übergeht, in ihm weiter wirkt. Die Widerrufsmöglichkeiten der Geschenke sind denn auch im herkömmlichen Schenkungsrecht sehr begrenzt. Schenkung ist eben wesentlich nicht Kredit, und, wie bereits ausgeführt, Kreditgewährung hat mit Güte nichts zu tun, sie wird eher als belastende Zukunftsbindung empfunden. Staatsgüte will gewiß nicht etwas wie ein "An schubGeschenk", sondern doch stets etwas wie eine Leistung mit Dauerwirkung. Gerade das, was durch sie wesentlich gesichert werden soll, die "Existenz", auf welcher Ebene immer, ist etwas wesentlich Dauerndes, nicht Revozier-
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bares. Der gütig Gebende handelt denn auch aus einer Grundhaltung heraus, die ihn gewiß nicht daran denken läßt, daß und wann er das Zugewendete wieder kürzen oder gar entziehen könnte. Der Staatsgüte ist dies, in all ihren Spielarten, meist wesentlich, da sie wiederkehrende Leistungen erbringt, und wenn es sich um einmalige handelt, so soll ihnen eine gewisse andauernde Wirkung zukommen. Endgültigkeit erlangen sie schon darin, daß sie Einzelfallbezug aufweisen, darin also etwas Abgeschlossenes regeln wollen. Mit der Kategorie einer "demokratischen Herrschaft auf Zeit" hat all dies wenig gemein. Die Prekarietät solchen Verhaltens ist mit der ethischen Unbedingtheit staatsgütigen HandeIns schwer vereinbar. So überdauern ja auch gerade Sozialhilfegestaltungen, welche dem noch am nächsten kommen, wechselnde Mehrheiten und gewandelte rechtlich-politische Bewußtseinslagen. Staatsgüte muß, soll sie nicht nur Ausdruck einer Machtenfaltung sein, die dann allerdings notwendig demokratisch in Perioden beschränkt wird, wesentlich andauern; gerade dadurch hebt sie sich ab von den ebenso wesentlich kurzfristigen Machtäußerungen, welche ihre Wirkung gerade auch darin erreichen sollen. Das Volk fluktuiert ständig, und daher auch alle Machtausübung in seinem Namen. Im Gutes Tun prägt sich eine beruhigende, sichernde Kontinuität aus, die auf Bewahrung angelegt ist, nicht auf Rücknahme. Ständige oder doch periodische Effizienzkontrollen gehören zu den Kategorien der Macht und ihrer Regulierung; Güte verströmt sich, sie nimmt selbst die Gefahr der Korruption in Kauf, wird sich daher stets überwachenden Machtinstrumenten entziehen wollen. Grundstimmungen mögen dies sein, doch sie zeigen, auf welcher Seite, wenn überhaupt, eine Staatsgüte anzusiedeln wäre - gewiß nicht auf der Seite der Macht. Wenn sie aber in Reduzierbarkeit ausgestaltet wird, entsprechend den "demokratischen Spielregeln der Machtausübung", dann wird sie erst recht und ganz offen zum Ausdruck verschleierter politischer Mächtigkeit. Staatsgüte, das unbedingte, unwiderrufliche Staatsgeschenk, fügt sich also nicht ein in das System widerruflicher, jedenfalls ablösbarer Macht, wie es aber der Demokratie wesentlich ist.
5. Demokratie: nie eine gütige Staatsform Wenn gerade die Volksherrschaft Staatsgüte für sich in Anspruch nehmen wollte, so könnte dies allenfalls geschehen im Namen jener Solidarität, welche eben die Vielen zum einen Volk zusammenwachsen läßt. Staatsgüte, welche dessen Ausdruck ist, befördert und sich dadurch legitimiert, könnte, in einem höheren Sinn, als ein Machtinstrument erscheinen, das den Souverän bildet und erhält - und doch ein wirklich gütiger Ausdruck des Helfens bleibt. Voraussetzung wäre aber immer, daß dieses Volk, in dessen Namen
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dann allüberall gütig von seinen Staatsorganen und privaten Helfern gehandelt würde, eben auch als solches gütefähig wäre, gütegeneigt. Doch gerade davon kann, gerade nach geschichtlichen Erfahrungen, jedenfalls in solcher Allgemeinheit, gewiß nicht die Rede sein. Politisch hat sich, "das Volk" zusammengefunden nicht als eine gütige Instanz des Schenkens, ja nicht einmal primär als eine gütige Macht der Geschenke. Gekämpft hat es gegen andere, vor allem feudale Mächte, sich endlich an deren Stelle setzen können - um mit ihren selben Mitteln meist noch härter, weiter herrschen zu können. Darin aber hat sich mehr ausgeprägt als eine politische Kampfphase: Das "gütige Volk" bleibt unauffindbar in seinen bedeutsamen geschichtlichen Phasen. Eher könnte eine Geschichte des grausamen Volkes geschrieben werden, von den Volksaufständen des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit bis hin zur blutigen Unbedingtheit der Revolutions- und Guerillakriege der neuesten Zeit. Das Volk verschont oicht und verzeiht selten. Zurückhaltung bei Amnestien belegt dies gerade in jüngster Gegenwart. Es kann eben nicht "über sich selbst stehen", wie ein Monarch aus den Höhen eines Gottesgnadentums heraus Verzeihung üben und Güte; ganz Gesetz ist es und ganz Macht. Die marxistische Geschichtstheorie mag man als einseitige Übersteigerung ablehnen; doch deutlich hat sie immerhin eines werden lassen: ihr Volk als einen grausamen Diktator, der selbst bis zur Blutgier vorgeht gegen seine Feinde, in dessen Namen vor allem Mächtige stets das schiere Gegenteil von allem praktizieren durften, was Staatsgüte meint. Und wo derartiges dennoch, in ihrer volks ge stützten Dauerherrschaft, gewissen Gruppen des "herrschenden Proletariats" zugute kam, da war dies eher Ausdruck einer parafeudalen Gewaltausübung als einer basisverpflichteten Volksherrschaft. Die Angehörigen dieses Volkes sehen zwar ständig auf den Nächsten, vor allem auf ihn, aber weit mehr in Sozialneid, in Gleichheitsstreben, als in einer Güte, die helfen will. So muß denn die Geschichte des gütigen Volkes erst noch geschrieben werden, eines Volkes, das aus Güte sogar auf Herrschaft verzichten wollte. Und solange dies nicht überzeugend geschieht, bleibt gerade in der Demokratie all das, was mit dem Anspruch der Staatsgüte auftritt, allenfalls ein mehr oder weniger raffiniertes Herrschaftsinstrument, nicht aber Ausdruck einer Ethik, welche weder begrifflich noch historisch bisher je mit den Vielen hat verbunden werden können. Wie immer man also die Grundstrukturen der Volksherrschaft betrachtet sie stehen gegen Staatsgüte, nicht für ihre grundSätzliche Bewährung in der Gemeinschaft. In dem Maße, in welchem mehr Demokratie gewagt wird, wird sich Staatsgüte verlieren. Denn Demokratie wagt in der Tat, wie alle wahre Macht; Güte kennt diesen Begriff nicht, Schenken ist ein Wagnis,
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welches sich bereits in sich selbst überhöht; im Bereich der Güte ist dies kein Begriff.
11. Der Rechtsstaat: Recht gegen Güte 1. Geordnete Macht, nicht gestattete Güte Ausgangspunkt aller Rechtsstaatlichkeit und noch heute ihr Kern ist: Normen sollen gelten, nicht Menschen befehlen. Mit der Herrschaft der Gesetze steht und fällt alle Rechtsstaatlichkeit. Machtordnung ist die wesentliche Funktion der Normen als solcher, in einer Bündelung von positiven oder negativen Anordnungen, die den Einzelfall überhöhen. Der Rechtsstaat findet nur darin seinen Sinn, daß ihm jene "Gewalten" in rechtlicher Einordnung unterworfen sind, welche demokratische Macht ausüben. Alles Denken in solchen Kategorien ist also gerichtet nicht notwendig auf Minimierung, wohl aber auf eine Ordnung von Mächtigkeiten, wie sie das Recht bringen soll. Mit diesem dominierenden Normbegriff der Rechtsstaatlichkeit mag eine Staatsgüte sich im Einzelfall vereinbaren lassen, doch immer wirkt sie in etwas wie einer Normnische der Gestattung. Begrenzt und gehalten wird diese durch ein System, welches nicht in Güte gedacht ist, sondern in Wille und Erkenntnis. Alle bisherigen Betrachtungen zur Staats güte, sämtliche Versuche, sie als einen übergreifenden Staatsgrundsatz zu begreifen, mußten jedoch stets - das Normübergreifende solcher Wirkungsweisen in den Mittelpunkt stellen. Der Ausspruch des Herren der Christen, daß die Liebe das Gesetz vollende, bleibt Geheimnis für ein Recht, welches noch immer von caesarischer Tradition geprägt ist, für den Kaiser nimmt, nicht Gott gibt. Das Recht des Rechtsstaates ist vollständig güteneutral. Wenn unter seiner Geltung, das heißt seiner Macht-Anordnung, nichts von Güte gewährt wird - es gilt dennoch, und vielleicht gerade deshalb so durchgehend und unbedingt, wie es die Rechtsstaatlichkeit verlangt. Auch nicht teleologisch läßt sich Staatsgüte dem Begriffsinhalt dieses Gesetzesrechts der Rechtsstaatlichkeit zuordnen, das sich überall hin normativ ausbreiten will, bis in die Ordnung der Verwaltungs- und der richterlichen Tätigkeit. Doch damit nicht genug: Diese Form der Machtordnung steht in diametralem Gegensatz zu einer wie immer näher bestimmten Staatsgüte in einem: in einem Allgemeinbezug der Normgeltung, welche den Einzelfall gerade nicht will dominieren lassen, sondern ihn in die Zusammenhänge des normierten Bereiches zwingen, dort einer Lösung zuführen soll. Diese Rechtsstaatlichkeit ist und bleibt die große Absage an eine Einzelfallgerechtigkeit, in welcher sich aber gerade Staatsgüte ausdrücken müßte. Der Rechtsstaat ruht auf dem Dogma, daß ein Primat des Einzelfalles nur enden kann in
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einer Degeneration der Macht in Willkür. Staatsgüte findet also keinen normierten, ja nicht einmal einen normierbaren allgemeineren Weg durch den Rechtsstaat hindurch in die Spitze der Staatsform - diese Legalität versperrt alle derartigen Bahnen. In ihr mag Staatsgüte, in gänzlich normativ begrenzten Räumen, geduldet werden; doch die Gesetze dieser Ordnung erschöpfen sich weder in gestatteter Güte, noch können sie wesentlich als deren Ausdruck gedeutet werden. Und führen sie zu liberalem Rückzug der Macht, so dringt in diese staatsfreien Räume die Freiheit des Bürgers vor, nicht ein "anderer Staat", der der Staatsgüte. Aus dem Gesetzesbegriff selbst heraus, damit aus dem Wesen eines höchsten, unabänderlichen Staatsgrundsatzes, ergibt sich daher die Unmöglichkeit einer größeren, grundsätzlichen, übergreifenden Staatsgüte als Staatsgrundnorm. Der Gegensatz von Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit ist stets in der Dogmatik des öffentlichen Rechts gesehen worden, dort, wo sie vertieft wurde; jahrzehntelange Harmonisierungsbemühungen, Versuche einer "Vermenschlichung" der "kalten Rechtsstaatlichkeit" im Sozialstaat haben dogmatisch letztlich wenig gebracht, eines jedenfalls nicht: eine Zauberformel, welche Machtordnung und Staatsgüte hätte harmonisieren können. Das große, traditionelle deutsche Staatsrecht ist und bleibt geprägt von einem Liberalismus, der wenig Staat will, Staatsgüte als solche aber nicht kennt. Sämtliche heutige Staatsveranstaltungen sind bestimmt durch Normen und ihre Anwendung. Wenn sie über aller Staatsgüte stehen - damit im Grunde gegen diese - dann kann in diesem Begriff eine neue Staatsgrundnorm nicht gefunden werden.
2. Normatives Systemdenken gegen auflösende Staatsgüte Im Rechtsstaat stehen die Normen nicht "irgendwie nebeneinander", dort werden die ordres de Moufti zur Ordnung - zum System. Systematisches Denken liegt in allen Gesetzen, seit sie in Katalogen verkündet wurden, in Stein oder Erz. Immer waren dies erste Kodifikationen, normativ konnte nur gedacht werden in Systemen, in übereinander sich ordnenden Zusammenhängen. Der Rechtsstaat erstrebt eine Lückenlosigkeit, damit eine Unentrinnbarkeit seiner Herrschaft, welche es ihm gerade gestattet, durchsetzende Gewalt in durchgehender Geltung zurückzudrängen; nur aus einem System heraus können normativ Täler aufgefüllt werden mit Bergen, alle Lücken geschlossen werden. Wie keine andere der traditionellen Staatsgrundsatznormen ist diese "überall im Staat" und allseitig, sie hält ihn eben in ihrem systematischen Denken, aus welchem allein sich andere Staatsgrundsatznormen, wie Demokratie und Republik, überhaupt zu normativer
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Geltung entfalten lassen; schon bei der Sozialstaatlichkeit ist dies nicht mehr gelungen - nicht umsonst: Staatsgüte ist eben, alle bisherigen Betrachtungen zeigen es, wo immer es etwas derartiges geben mag, wesentlich systemfeindlich, ja systemauflösend. Man mag sie an vielen Stellen feststellen, doch mehr ergibt solche Induktion nicht, als ein eher rechtstatsächliches als rechtsnormatives Resultat. Der Versuch einer Rechtsanalogie, von diesen Teilbereichen ausgehend, wurde zwar in den ersten Hauptteilen dieser Untersuchung unternommen, gerade er muß sich aber die Kritik gefallen lassen, nicht voll, allenfalls noch sektoral zu überzeugen. In ein eigentliches System dagegen läßt sich "die Staatsgüte" so wenig bringen wie "die Sozialstaatlichkeit". Damit ist sie aber nicht nur nicht normgeneigt, sie bleibt normunangemessen. Aus Einzelfall-Lösungen läßt sich am Ende, in Jahrhunderten vielleicht, ein System entfalten; der Weg des klassischen Römischen Rechts beweist es. Doch dies war eben ein Einzelrecht prätorischer Befehle, nicht hoheitlicher Güteerweise. Die systemsprengende Kraft der Einzelfallgerechtigkeit muß die Geltung der einzelnen Norm ebenso auflösen wie die Herrschaft des Rechtsstaates. Damit wird sie am Ende doch nicht staatskonstitutiv, sonder staatsauflösend - und eben dies ist ihr "rechtlicher Charme", wenn es etwas derartiges geben kann. Wenn Staatsgüte das Recht vollenden soll, so geschieht dies in der Auflösung eines Systems, mit dem es stirbt.
3. Normative Vorhersehbarkeit: Rationalität gegen Güte Doch der Gegensatz zwischen Staatlichkeit und Staats güte liegt nicht nur im Formalen einer Systemfahigkeit, welche der Staatsgüte nicht eigen sein kann, ohne welche aber der Rechtsstaat nicht gedacht werden darf. Sein materieller Kern ist Bewährung und Sicherung einer Rationalität im Recht, welche er seit seinen aufklärerischen Anfangen, selbst im Machtstaat und diesem gegenüber, hat bewahren können. Da soll dieser eben zuallererst nachvollziehbar handeln - und deshalb und gerade daraus vorhersehbar sich geben in all seinen Machtäußerungen. Ihre Wirkung mag die Macht in der Geschichte immer wieder darin gefunden haben, daß sie gerade unvorhersehbar zuschlug, mit kleinen Anstößen daher große Bewegungen in Gang setzte, um sich die Sanktionsfurcht vor dem unvorhersehbar und unabsehbar zuschlagenden Herrn verbreitete. Die Wendung des Rechtsstaates zu dem jederzeit in der Gegenwart Meßbaren und für die Zukunft in Vorausschau Erkennbaren bedeutet eine systematische Aufwertung des Intellektualismus in der Macht, der diese zu Erkanntem verden läßt und es aus Erkennen speist, damit den politischen Willen zurückdrängt. Darin aber wendet sie sich zugleich auch gegen eine Staatsgüte, welche Ziel und Legitimation
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nur finden kann in einem "Willen zum Guten", wie es eben die Ethik fordert. Sämtliche Triebkräfte des eigentlichen staatsgütigen Verhaltens, welche diesem sogar die Kraft geben sollen, sich über Normbefehle hinwegzusetzen, werden in dieser rational geprägten Ordnung zurückgedrängt, ja immer wieder gebrochen. So wie sich die Rationalität der Aufklärung seinerzeit primär wendete gegen eine moralisch geprägte Kirchlichkeit, welche in Sünden dachte, in Vergebung und - Güte, so kann der aufklärerisch-rationale Rechtsstaat derartige .Motive, Gestaltungen, Legitimationen ganz grundsätzlich nicht kennen, spricht er doch nicht die Willens-, sondern die Erkenntnisseite des Rechts an. Noch weit ferner steht all dies einer Gefühlsprägung, ohne welche Staatsgüte ebenfalls nicht vorstellbar ist. Menschlichkeit und Rechtsstaat hat, soweit ersichtlich, noch nie jemand in wesentlichen Zusammenhang bringen wollen, allenfalls kann dies im Extrem-Verbot der Unmenschlichkeit gelingen. Einzelfallnahes Verständnis vermag auch der Rechtsstaat kennen, vielleicht sogar grundsätzlich fordern; doch dies ist und bleibt untergeordnet der übergreifenden Rationalität und erkennbarer Machtausübung, die sich in Vorhersehbarkeit fortsetzt und vollendet. Güte dagegen, in welcher Form immer gewährt, kann nicht vorhergesehen, vorhersehbar ausgestaltet, auf sie kann daher auch nie wirklich vertraut werden; das Schönste, Menschlichste an ihr ginge darin verloren. Gerechtigkeit aus Rationalität ist, jenseits allen Systemdenkens, an sich schon mit einzelfallregelnder Bedürfnisbefriedigung nicht vereinbar, denn nicht das Bedürfnis ruft sich die Hilfe, es appelliert an eine Güte, welche diese gewährt, aus einem im letzten irrationalen menschlichen Gefühl. Von der Bürokratie, welche der Rechtsstaat braucht, während die Staatsgüte durchbrechen will, bis in die Ermessensentscheidung, welche der Rechtsstaat möglichst eng an seine Normen binden, die Staatsgüte von ihnen befreien möchte - überall treten Rechtsstaat und Staatsgüte nicht in Spannung, sie stehen gegeneinander.
4. Öffentliche Interessen gegen private Schenkungsfreiheit Der Rechtsstaat ist wesentlich ein Ordnungsgefüge öffentlichen Rechts, nicht privater Beliebigkeit. Diese ist im privaten Bereich durchgehender Grundsatz, verfassungsrechtlich verfestigt im Begriff der Privatautonomie. Sie setzt nicht nur private Mittel nach Belieben ein, sie setzt sich auch ihre Zwecke selbst; ihre Freiheit geht damit noch weit über die eines Ermessens im staatlichen Raum hinaus, das immerhin an öffentliche Zielsetzungen gebunden ist. Private Interessen werden von den Bürgern definiert, von ihnen allein, und da dies zu jedem Augenblick nach wechselndem privaten Willen geschieht, hat der Begriff der Vorgabe hier keinen eigentlichen Sinn. 16 Lcisncr
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Ganz anders das öffentliche Recht der Rechtsstaatlichkeit. Es wurde zuzeiten sogar aus dem öffentlichen Interesse definiert - und sollte dadurch vom Privatbereich abgegrenzt werden - welches durch Gesetze vorgegeben war. Für den Rechtsstaat ist es wesentlich, daß öffentliche Interessen nicht von Staatsinstanzen nach Belieben gesetzt, sondern nur vom Gesetzgeber und im Rahmen von dessen möglichst engen Vorgaben verfolgt werden dürfen. Grundsätzlich ist da kein Raum für eine Beliebigkeit, wie sie aber eben doch der Staatsgüte wesentlich ist, und auch nicht für eine Moral, welche stets in einem Spannungsverhältnis stehen wird, zu "Interessen" und "Belangen"; diese Begriffe zielen auf einen möglichst gleichgewichtigen Ausgleich, dem gebenden und vergebenden Staat muß also aus seinen Veranstaltungen "etwas zurückkommen", was sich mit jener Präzision feststellen läßt, welche die Rechtsstaatlichkeit eben fordert. Von all dem aber kann bei einem Handeln aus Staatsgüte kaum die Rede sein, nimmt man den Begriff ernst. Man mag all diesen Veranstaltungen das Etikett des öffentlichen Interessen anheften - Bedürfnisbefriedigung als solche kann doch nie "im öffentlichen Interesse" liegen. Stets muß also ein entscheidender Schritt weitergegangen werden: Es müssen öffentliche Interessen der Familienförderung, der Existenzsicherung, der Sicherheit und Ordnung im Falle der Obdachlosigkeit und ähnliches mehr bemüht werden, um solche Leistungen im Namen öffentlichen Interesses legitimieren zu können. Dieses öffentliche Interesse muß jedoch, so will es der Rechtsstaat, ein Rechtsbegriff bleiben, mit Präzision auslegbar und bestimmbar durch die Staatsorgane, vorhersehbar in seinen Auswirkungen für den Bürger. Kann von all dem in Fällen schenkender Staatsgüte noch die Rede sein? Hier droht doch die für alle Rechtsstaatlichkeit schwere Gefahr, daß das öffentliche Interesse als Rechtsbegriff vollends verschwimmt, in einer Allgemeinheit, welche nicht nur dem Parlamentsgesetzgeber Beliebigkeit gestattet, sondern sogar noch einer Verwaltung, welche sich um Einzelvorgaben des Gesetzes nicht mehr zu kümmern hat, sich vielmehr ihre GüteZwecke selbst setzt, öffentliche Interessen in ihrer Vergabepolitik mehr behauptet als nachweist. Der Bezüge des öffentlichen Interesses zur Rechtsstaatlichkeit mögen heute noch nicht in allen Richtungen geklärt sein - ein gewisser Primat des öffentlichen Interesses bestimmt sicher das Wesen sämtlicher Staatsveranstaltungen. Praktisch wirkt sich dies in aller Regel als ein retardierendes Moment bei aller Staatstätigkeit aus, welche über präzise gesetzliche Ermächtigungen in irgend einer Weise hinausgehen könnten, bei denen daher insoweit die Legitimation zweifelhaft wäre. Sehr häufig wird denn auch das öffentliche Interesse, soll es jenseits präziser Normordnungen angenommen werden, aus einer gewissen allgemeineren Traditionalität abgeleitet, nach der es "eben schon immer so gewesen sei", daß der Staat diese oder jene
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Ziele auch verfolgt habe. Dieser schmale Weg ist nun aber zur Einführung eines neuen Prinzips der Staats güte nur schwerlich geeignet, soll mit ihr doch gerade über jene streng zurückhaltende Verfolgung öffentlicher Interessen hinweggegangen werden, wie sie dem früheren liberalen Staat und seiner streng obrigkeitlichen Rechtsstaatlichkeit eigen war. Aus all diesen Gründen erweist sich also der für den Rechtsstaat schlechthin konstitutive Begriff des öffentlichen Interesses weit eher als Schranke denn als Einbruchsstelle für die Betätigung eines "gütigen Staates". Dies schließt vor allem jene nicht nur nonn-, sondern sogar interessenfreie Grundeinstellung des Schenkens aus, welche diesem Begriff aber, aus seinen privatrechtlichen Ursprüngen heraus, immer wesentlich geblieben ist. Wichtigster Ausdruck des Schenkens war in diesem Rechtsbereich ja stets nicht die Gewährung von Leistungen unter Lebenden, sondern die Schenkung von Todes wegen, vor allem in ihrer testamentarischen Ausprägung. Die letztwillige Verfügungsfreiheit hat sich geradezu als Prototyp der Schenkung im Recht durchsetzen können. Ihr aber ist es wesentlich, daß der Austauschcharakter weitestgehend zurücktritt, beschränkt ist er hier auf das, was der Erblasser vielleicht an "vorgezogener Dankbarkeit" vom künftigen Testamentserben erwarten kann, und darüber hinaus mag er allenfalls noch "Interessen" darin verfolgen, daß das von ihm Geschaffene "nicht untergeht". Abfällt von diesem Schenkungsvorgang jedoch ganz wesentlich der geschäftliche Austauschcharakter, mehr noch: Von der Verfolgung der im Privatrecht doch so wesentlichen wirtschaftlichen Interessen kann kaum mehr die Rede sein; die private Schenkungsfreiheit zeigt sich deutlich als ein weithin interessen-abgelöster Vorgang. Man vergleiche dies nun mit der streng interessenbezogenen Grundhaltung des öffentlichen Rechts, welches grundsätzlich die Staatsveranstaltungen beherrscht. Von einer auch nur irgendwie vergleichbaren "Schenkungsfreiheit" kann hier doch kaum ausgegangen werden. Das öffentliche Interesse ist wesentlich ein Gegenbegriff zu jenem Belieben, welches im Falle des staatlichen Gebers rasch in den Vorwurf der Willkür umschlägt. Wenn diese aber stets dort anzunehmen ist, wo das Verhalten durch keinen sachlichen Grund mehr gerechtfertigt erscheint, so müßte sich eine aus Staatsgüte heraus handelnde Staatsinstanz stets auf die für sie vernichtende Kritik gefaßt machen, es sei für alle Güte doch wesentlich, daß sie gerade nicht aus sachlichen, vielleicht überhaupt nicht aus rationalen Gründe heraus handle. Und jedenfalls geht in der Kühle des öffentlichen Interesses die Wänne der privaten Schenkungsfreiheit verloren, welche eben höchster Ausdruck einer Freiheit ist, die es aber für den Staat nicht geben kann gerade nicht im Rechtsstaat. Nicht umsonst ist das Zentrum der privaten Schenkungsfreiheit, die Testierfreiheit, sogar grundrechtlich verankert, als wesentlicher Bestandteil der Einrichtungsgarantie des Erbrechts; ähnliche 16·
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Gestaltungen sind für das öffentliche Recht auch nicht in Ansätzen ersichtlich. Wenn der Staat sich umorganisiert, Behörden fusioniert, Gemeinden zusammenfaßt, so vollzieht sich all dies im Rahmen seiner Organisationsgewalt, also streng aufgaben- und damit normgebunden, Grundsätze letztwilliger Verfügungen sind darauf auch nicht ansatzweise anzuwenden. In diesem Sinn trifft also das viel zitierte Wort zu, daß der Staat nichts zu verschenken habe - es muß sogar abgewandelt werden: der Rechtsstaat hat nicht zu schenken, sondern nur zu organisieren, zu ordnen. Der letzte Grund liegt darin, daß das öffentliche Interesse nicht nur etwas anderes bedeutet als private Interessen, sondern daß es deren Gegenbegriff darstellt: Privatinteressen werden in Freiheit verfolgt, eine Staatsfreiheit kann es nicht geben, ist doch der Staat der geborene Gegner der Freiheit und wird als solcher gerade in Rechtsstaatlichkeit diszipliniert. In dieser durchgehenden rechtsstaatlichen Bindung verliert er aber die Kraft zur Güte, er kann sie sich nicht einmal in Einzelbereichen als solche bewahren. Stets muß er austauschen, aus seinem Primat der öffentlichen Interessen heraus - die Wahrung dieser Interessen eben mit seinen Staatsleistungen nachvollziehbar erkaufen. Wenn es eine Handlung gibt, zu der man kein "Recht" braucht, so ist es die schenkende Leistung. Ist das Schenken nicht nur Außernormatives, sondern geradezu Außerrechtliches? Dann kann es im Rechtsstaat in der vom Recht geprägten Ordnung, keinen Platz haben, keinesfalls zu einem allgemeinen, gar noch zu optimierenden Rechtsgrundsatz werden.
5. Gewaltenteilung gegen Staatsgüte Der Rechtsstaat bedeutet nicht nur einen Ordnungsrahmen für alle Staatstätigkeit, welcher er vor allem die eben erwähnten allgemeinen Grundsätze, insbesondere die der Norm-Rationalität vorgibt. Nach einer bis ins neunzehnte Jahrhundert zurückreichenden Grundvorstellung bringt er auch Organ-Abgrenzungen, ist damit eine Grundnorm des Staatsorganisationsrechts im engeren Sinn. Im Mittelpunkt steht dabei die Gewaltenteilung, und so ist daher seit langem von dem "gewaltenteilenden Rechtsstaat" die Rede. Entscheidend ist dabei die Trennung von Legislative und Exekutive, deren Bindung an den allgemein-normativen - auch in diesem Sinne "allgemeinen" - Willen des Gesetzgebers. Eine Staatsgüte, wie sie in den ersten Hauptteilen dieser Untersuchung entworfen wurde, müßte dies wesentlich schwächen, wenn nicht aufheben. a) Bliebe die Bindung der Verwaltung an das Gesetz so streng erhalten, wie es die Rechtsstaatichkeit fordert, so "müßte die Verwaltung stets auf die Güte des Gesetzgebers warten", nur in seinem normativen Rahmen
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dürfte sie helfen, Bedürfnisse des Einzelfalles erfüllen. Von diesem seI ben Einzelfall aber ist der Gesetzgeber "zu weit entfernt", als daß er mit Blick auf ihn entscheiden könnte, und das Maßnahmegesetz muß im Rechtsstaat eng begrenzte, im wesentlichen auf Staatsorganisation gerichtete Einzelerscheinung bleiben. Wollte umgekehrt die Verwaltung auch dort in helfender Güte tätig werden, wo sich der Gesetzgeber in die nahezu notwendige Entfernung seiner normativen Entscheidungsformen zurückzieht, so müßte dies hinauslaufen auf einen "allgemeinen Verwaltungsvorbehalt des Gutes Tuns im Einzelfall", in allen speziellen Fallkonstellationen. Dies aber würde nichts anderes bedeuten als eine generelle Entfesselung der Verwaltung von der Normbindung. Die Verwaltung würde, in einem nun aber gänzlich neuen Sinn, zur eigenständigen Staatsgewalt, der wesentlich politische Spitzenbereich der Exekutive würde sich in einen breiten Staatsgüte-Bereich der Verwaltung hinein fortsetzen, welche neben dem Gesetz in gütegeprägter Eigendynamik entschiede. Damit wäre zwar das Rad der Staatsgeschichte zurückgedreht hinter jene Französische Revolution, welche der selbständigen Exekutive endgültig ein Ende machen wollte, zurück in ein Ancien Regime, welches in der Tat, wie bereits dargestellt, eine ganz andere institutionelle Sensibilität für Staatsgüte entwickelt hatte, als sie dem Rechtsstaat möglich ist. Er aber würde in seinem Kern getroffen, in jener Legalität der strengen Unterordnung der Verwaltung unter das Gesetz. Schon mit diesem guten Grund läßt sich also, jedenfalls für die deutsche Verfassungsordnung, die Auffassung vertreten, daß die Ewigkeitsgarantie der Rechtsstaatlichkeit, ihre Unabänderlichkeit, wie sie die Verfassung proklamiert, einem allgemeinen Staatsprinzip der Staatsgüte entgegenstünde. b) Die Gewaltenteilung im Rechtsstaat bindet auch die Gerichte an das Wort des Gesetzgebers. Gerade sie aber wären es, welche, als institutionalisierte Einzelfall-Gewalt, Staatsgüte zum Tragen bringen müßten, selbst über den Einzelbefehl des Gesetzes hinaus, jedenfalls an ihm vorbei oder "durch ihn hindurch". Gewiß ist dies den westlichen Rechtsordnungen nicht unbekannt, können doch ihre Richter stets auch entscheiden im Namen allgemeiner Rechtsgrundsätze der Sittenwidrigkeit, von Treu und Glauben oder im Namen des Verbots des Rechtsrnißbrauchs. Diese GeneralklauseIn wirken als allerallgemeinste Entscheidungsvorbehalte zugunsten der Dritten Gewalt, und dies soll, nach allgemeiner Überzeugung, auch eine Gewaltenteilung gestatten, welche nicht zuletzt darin zur Gewaltenverschränkung führt. Nun könnte man ein "Handeln in Staatsgüte" den Gerichten im Namen eines weiteren derartigen, höchst generellen Vorbehalts gegenüber der Strenge des präzisen Normbefehls gestatten. Es wäre dann eine in dieser Form gänzlich neue, wiederum allerallgemeinste GeneralklauseI entstanden,
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diesmal zugunsten der Judikative. Ihre Kontroll- und Korrekturmöglichkeiten im Namen einer solchen Generalklausel müßten mit dem koordiniert werden, was diese selbe Allgemeinklausel der Verwaltung (vgl. vorstehend a) gestattete. Enden könnte dies nur in einem Rückzug der Gerichtsbarkeit aus der Kontrolle der Zweiten Gewalt und damit erneut in einer Abschwächung der Gewaltenteilung in ihrer klassischen, vom deutschen rechtsstaatlichen Denken geprägten Form, welche gerade die Kontrolle der Verwaltung durch die Gerichtsbarkeit verlangt. Abgesehen von dieser Wandlung der Rechtsstaatlichkeit - mehr als fraglich bliebe, ob die Duldung der Generalklauseln im Rechtsstaat, wie sie bisher die Verfassungsrechtsprechung, nicht immer voll überzeugend, immerhin glaubte gewähren zu können, sich auch noch auf eine derartige Generalklausel der Staatsgüte erstrecken könnte. Im Gegensatz zu dem bisherigen Verständnis derartiger letzter Ordnungsnormen würde es dabei ja nicht nur zu einer Korrektur in Extremfällen kommen, primär und durchgreifend müßte der Richter die Staatsgüte gewissermaßen am Ausgangspunkt seiner Begründungsüberlegungen einsetzen, nicht im Sinne letzter Schranken, sondern einer "ersten Dynamik". Und führen müßte dies schließlich zu einer nahezu völligen Zerstörung der herkömmlichen Begriffsjurisprudenz, zu ihrer Ablösung durch eine Interessenjurisprudenz, welche die Normlagen nur in ihrem helfenden Verständnis im Einzelfall mehr sehen würde. Strikte Begriffsjurisprudenz aber ist, nicht zuletzt zur Bewahrung der Gewaltenteilung, ein Konstitutivelement der Rechtsstaatlichkeit. Insgesamt führt also kein Weg an einer grundsätzlichen Erkenntnis vorbei: Die Steigerung der Sozialstaatlichkeit zur Staatsgüte müßte notwendig das Ende der klassischen, herkömmlichen Rechtsstaatlichkeit bedeuten, jenes vielleicht ersten Staatsgrundsatzes der Gegenwart, der sogar demokratieübergreifend wirkt, den Bürger selbst dort noch mit seinen Normen schützt, wo ihm die demokratischen Volksvertreter nicht mehr helfen können. Mit dem Ende des Rechtsstaats in Staatsgüte käme etwas herauf wie ein ganz neuer Staat.
6. Staatsgüte im "Privaten Staat"? Privatisierung des Staates, in ihren beiden Hauptformen der Aufgabenund der Organisationsprivatisierung, wird heute mit solcher Intensität betrieben, in einer derartigen, oft bis ins Komplexhafte gesteigerten Ablehnung alles "Obrigkeitlichen", "Hoheitlichen", jeder Über-Unterordnung, daß am Ende schon etwas sichtbar werden könnte wie ein "Privater Staat". Wenn nun schenkende Güte von jeher ein Recht, ein schönes Vorrecht des Privaten war, gegenüber normgebundener, rechtsstaatlich gefesselter Hoheitsgewalt - wäre dieser Private Staat dann nicht ein geradezu idealer
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allgemeiner Raum, ja eine generelle Legitimation für staats-privates Schenken, für Staatsgüte? Könnte dann nicht der Vater Staat seinen Bürgern gegenüber zu laufendem Schenken übergehen, ohne selbst sterben zu müssen, würde nicht alle Steuer zur - Schenkungsteuer? Nicht zuletzt dies ist ja der große Schwung mit welchem Privatisierung antritt: daß in privaten Formen eben "ganz anders", "unbürokratisch" geholfen werden könne, als in den vor allem "normativ verkrusteten Strukturen" der streng gesetzesgebundenen Rechtsstaatlichkeit. Dennoch - gerade der "Private Staat" wäre kein Staat der Güte: a) Die Privatisierung ist nichts anderes als eine Flucht des Staates aus der Hoheitsgewalt, ins Privatrecht, und vielleicht noch weiter, zu Privaten, Beliehenen oder Selbständigen. Die rechtsstaatliche Problematik solcher Vorgänge ist bereits zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erkannt, sie sind scharf kritisiert und überzeugend abgelehnt worden. Sie eröffnen eine lange Verlustliste für den Bürger, der sich rechtsstaatlich gesichert wähnte: weniger organisatorische Kontrollen innerhalb der Verwaltung, weniger demokratisch-politische Überwachung der Staatstätigkeit, weniger gerichtlich überprüfende Sicherung, weniger grundrechtliche Garantien - und all dies um eines nur zu oft vagen betriebswirtschaftlichen Effizienzstrebens willen. So steht denn zu erwarten, daß auch dies eine von so vielen amerikanischen Staats-Moden bleiben wird, die spätestens dann wieder abflauen, wenn in den Vereinigten Staaten das Niveau des europäischen Staatsdenkens auch die Praxis prägt. Einen solchen "Privaten Staat" als Domäne der Staatsgüte errichten zu wollen, müßte im übrigen bedeuten, daß dieses helfen Dürfen, wenn nicht Müssen, gerade aus jenen Bereichen verbannt würde, in denen doch die Hoheit dem Staat das Recht geben sollte, Gutes zu tun als "der Herr" im Weinberg. Dann eben wäre Staatsgüte gerade kein Privileg mehr des Staates, sondern in seinem Bereich, wie in dem der Bürger, eine allgemeine Möglichkeit des HandeIns. Und wo doch nicht privatisiert werden könnte, sähe sich die Güte aus eben diesen Bereichen mit der Begründung ausgeschlossen, sie könne ja in privatisierten Räumen wirken. b) Dies alles müßte jedenfalls für den Bereich der "echten Privatisierung" gelten, jener Aufgabenprivatisierung, in welcher sich der Staat erst wirklich "enthoheitlichen" würde. Die Stärke der Privatisierungsforderungen liegt ja gerade in ihrer Ambivalenz, die eben nie ganz deutlich werden läßt, ob es insgesamt weniger Staat oder nur mehr Staat in privaten Formen geben soll. Wo aber die Staatlichkeit ihren privaten Bürgern die Erfüllung ihrer bisherigen Aufgaben überantwortet, die sie geradezu in die Gesellschaft verlagert, da verliert sie auch entscheidende Möglichkeiten, gütiges Handeln, Kreditieren und Helfen von ihnen zu verlangen - sie kann darauf dann nur hoffen. Jener Sozialstaat, der doch im Namen der Staatsgüte
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intensiviert werden sollte, ist gerade entstanden, weil die Hoffnung zu trügen schien, im Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts werde die Gesellschaft, der so viele frühere öffentliche Wohlfahrtsaufgaben überantwortet wurden, diese ihrerseits in helfender Güte erfüllen; der Staat mußte erneut, ja sogar mit Hoheitsgewalt, eingreifen, um die schlimmsten Entwicklungen zu verhindern oder doch zu verlangsamen. Mit welcher Überzeugung sollte dann heute erwartet werden dürfen, daß Staatsgüte gerade aus Aufgabenprivatisierung Kraft und Betätigungsraum gewinnen könnte? Es müßte denn der gesetzgebende Staat all diese Bürger, welche nun an seine Stelle träten, zur Aufgabenerfüllung in gemeinnütziger Güte zwingen. Woraus aber käme die Hoffnung, daß dies stärker wirken könnte, als wenn es in seiner eigenen, in der Staatsorganisation selbst geschähe, und müßte nicht eine so vorgehende Gesetzgebungsgewalt mit dem egoistischen Widerstand einer Gesellschaft rechnen, welche in ihrer Privatheit noch nie Schenkungsbegeisterung so allgemein entwickelt hat? Läßt aber der Staat, in wahrer Aufgabenprivatisierung, seine Bürger völlig frei, ob sie nun Gutes tun wollen oder nicht - woraus vielleicht, wiederum nach amerikanischer Erfahrung, wirklich mehr an Güte erwächst - so ist dies dann eben das Ende jeder Art von Staatsgüte, es gibt nurmehr private Güte, wie es sie immer gegeben hat. So bedeutet also Aufgabenprivatisierung mit Notwendigkeit - weniger Staatsgüte, mehr privates Handeln in schenkender Hilfe vielleicht, aber eben ohne jede rechtsstaatliche Sicherung und Sicherheit. c) Die Organisationsprivatisierung, staatliches Handeln in privaten Rechtsformen, ist heute von der Euphorie betriebs wirtschaftlicher Effizienz getragen, nur darum wird dies angestrebt, eingeführt, ständig ausgeweitet. Die Mittel sollen besser ausgewählt, gezielter eingesetzt, flexibler umgeschichtet werden, sach- und zeitnäheres Controlling soll die schwerHillige öffentliche Rechnungsprüfung ablösen. Hinter all dem stehen leere öffentliche Kassen, die Notwendigkeit, größere Effekte mit bescheidenerem Mitteleinsatz zu erzielen, vor allem aber Fehlleitungen, durch Schwerfälligkeit oder politische Dynamik, zu vermeiden. Güte kommt in all diesen Zielkatalogen nirgends vor. Angestrebt wird vielmehr eine Effizienz, welche in allem und jedem die Unmittelbarkeit der Zielausrichtung verstärkt, verlorene Spenden, verströmendes Helfen eben nicht kennen darf. Wo immer derartiges praktiziert wird, muß es gerade im Rahmen privatrechtlicher Organisationsprivatisierung der Staatlichkeit sogleich eingeschränkt oder aufgehoben werden, nur streng ziel gerichtet dürfen auch Hilfen, Geschenke gewährt werden, ihr Input muß in feststellbarem Output dem helfenden Staat wieder zurückkommen. Ein wie immer geartetes Blanko für gütiges Staatshandeln steht damit doch in unauflöslichem Widerspruch; wenn schon der Staat nichts zu verschenken hat - der private Unternehmer hat noch
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weit weniger zu verschenken. Als Privatmann mag er sich dies erlauben, aber der lediglich organisationsprivatisierte Staat ist eben kein Privatmann, er wird es nie sein. Wenn Staatsbetriebe zu Serviceunternehmen umgewandelt werden, so geschieht dies eben vor allem, damit sie mehr leisten und auch mehr Steuern zahlen, nicht damit sie in Gemeinnützigkeit sich als Hilfsorganisationen betätigen. Die Organisationsprivatisierung des Staates, insbesondere im kommunalen Bereich, soll nicht etwa freigemeinnützige Träger hervorbringen, sie soll mehr Geld einfahren. Gewiß läßt sich dagegen einwenden, wenn Hilfe in Fällen der Bedürftigkeit als Staatsziel erkannt werde, welches hier in sozialer Befriedung zu erreichen sei, so könne gerade dies, bei günstigerem Mitteleingang privatisierter Staats betriebe, besser erreicht werden als in den schwerfälligen hoheitlichen Strukturen; dann aber werde Effizienz, wie die Privatisierung sie anstrebe, auch zu effizienterer Hilfe, zu mehr Staatsgüte führen. Doch gerade dem steht ein grundsätzlicher Einwand aus jener Betriebswirtschaft entgegen, welche hier doch effizienzsteigernd eingesetzt werden soll: Organisationsprivatisierung hat immer nur ein Effizienzziel: Gewinnmaximierung. Effizientere Staatstätigkeit bedeutet, daß hier billiger gehandelt werden soll, damit dieselben Wirkungen mit weniger Mitteln erreicht werden - dies aber steht in diametralem Gegensatz zur Mentalität und jeder Praxis des Schenkens. Gerade das betriebs wirtschaftlich effiziente Privatmanagement kann doch nicht primär oder auch nur sekundär güteorientiert handeln. Der Private mag gütig sein, doch in aller Regel handelt er so nicht satzungsgemäß-organisatorisch; Gesellschaftsverträge, Satzungen privater Unternehmen sind stets primär, wenn nicht vollständig profitorientiert, sie schenken in aller Regel nur soviel, wie der Staat es ihnen erlaubt und zugleich auch wünscht; dies aber ist nicht Ausfluß betriebswirtschaftlichen Effizienzdenkens, sondern bereits einer Gemeinnützigkeitspolitik, der sich eben die Privaten anschließen, aus Werbungs-, also Profitgründen; sie selbst handeln nicht primär in organisierter Güte. In den ersten Teilen dieser Betrachtungen wurde immer wieder deutlich, daß gerade der Hoheitsstaat sich einer Güte verpflichtet fühlen könnte, in welcher er wahrhaft als "Gott auf Erden" handelt, sich eben aus seiner Hoheit, von oben, zum bedürftigen Bürger herabbeugt. Staatsgüte hat also stets etwas von einer wesentlich hoheitlichen Legitimation, wenn es sie überhaupt geben kann. Wo der Staat in Organisationsprivatisierung diese selbe Hoheit aufgibt, bewegt er sich aus der Staatsgüte in die Staatseffizienz. Seine Privatisierung führt gerade in jene private, gesellschaftliche Kälte, welche sozial mildernde Wärme nicht mehr kennen darf. Der Rechtsstaat aber, der schon dem Hoheitsstaat die Güte verbietet, kann sie ihm auch nicht in einer privaten Staatlichkeit doch wieder gestatten, welche überdies deshalb problematisch wird, weil sie die Rechtsstaatlichkeit unter-
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miniert - und doch keine wirkliche Güte hervorbringen kann. Fast scheint es, als könne es rechtlich organisierte Güte überhaupt nicht geben, weder in privaten noch in öffentlichen Rechtsformen - eben weil ihr der Staat des Rechts entgegensteht, der Rechtsstaat.
111. Die gütefeindliche Gleichheit Wenn es eine Staatsgrundsatznorm gibt in der gegenwärtigen Demokratie, so ist es die Gleichheit, in ihren drei klassischen Stufen: Egalität vor dem Gesetz ist seit Generationen eine rechtsstaatliehe Selbstverständlichkeit; in der Chancengleichheit hat die materielle Gleichheit bereits entscheidende Ausprägungen gefunden; die vollständige materielle, die Gleichmachungs-Gleichheit ist ein Staats-Endziel, eine stets in immer weiterer Annäherung zu erstrebende, eine optimierungsfähige und -bedürftige Staatsgrundsatznorm. Was ihr entgegensteht, sich mit ihr nicht verträgt, kann nie Staatsgrundnorm der heutigen Volksherrschaft werden. Dies aber gilt, nähere Betrachtung soll es nun zeigen, für die Staatsgüte. 1. Gleichheit: Norm, nicht Einzelfall
Ziel der Gleichheit ist Vergleich, auf seiner Grundlage Zusammenfassung von Einzelfallen zu Tatbestandsgruppen, welche einheitlich behandelt werden. Die Norm, das allgemeine Gesetz, ist der wesentliche Ausdruck der Gleichheit: Wie der Allgemeine Wille von Gleichen gebildet wird, so will er auch überall Gleiches bewirken, Machtbildungsgleichheit drängt zur Machtentscheidungsgleichheit. Gewiß beläßt die Gleichheit dem Staat die Differenzierungsfreiheit der Bildung normativer Tatbestände; doch deren Einzelfallprägung wünscht sie nicht, in allem und jedem will sie "möglichst zusammensehen" . Einer wie immer im übrigen definierten oder ausgestalteten Staatsgüte aber ist eines sicher wesentlich: eine besondere Einzelfallnähe, eine Motivation aus der Befriedigung konkreter Bedürfnisse. Vom gütigen Staat erwartet der Bürger sicher nicht, daß er jedem gegenüber diese schenkende Güte zeige - was bliebe denn sonst für seinen besonderen Fall übrig, letztlich auch an Mitteln? Gleiche Hilfe, gleiches Wohlwollen, gleiche Güte - dies hat doch keinen Platz im Verständnis solcher Begriffe. Normsetzungsethik, Normbefolgungsmoral mag kantianisch gedacht sein, doch sie endet in einer Kälte, die nicht mehr in Güte motiviert - und den Christen wird nach seiner Überzeugung der Ewige Richter nicht fragen, ob er seinem Nächsten dasselbe oder auch nur das Gleiche erwiesen habe wie allen anderen auch.
1II. Die gütefeindliche Gleichheit
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sondern was er an Besonderem geleistet habe - und eben dies verlangt der Gläubige auch von seinem Staat, soll er ihn gütig nennen. Gewiß wird nun Staatsgüte nicht selten gerade dort gefordert, wo es gelten soll, "Unterprivilegierte" auf ein bestimmtes, in Gleichheit festgelegtes Niveau zu heben; doch all dies ist bereits in Normen gedacht - damit aber in Ansprüchen, es zielt auf etwas, das "sein muß", nicht sein soll, entsprechend dem Wesen der Ethik. Das Ziel, Gutes zu tun, bleibt hier sekundär, wenn es überhaupt noch verfolgt wird. Es geht um Ordnung, meist um angebliche oder wirkliche Neuordnung in Staat und Gesellschaft. Staatsgüte versucht normübergreifende Lösungen, sie will an den Gesetzen vorbeilaufen und ihrer Gleichheit; damit aber läuft sie gegen die Gleichheit. Gleichheitsneutrales Staatshandeln kann es begrifflich nicht geben. Für die Egalität gilt grundsätzlich: Wer nicht für sie ist, ist gegen sie. Gewiß muß den "Armen" geholfen werden, in christlicher Nächstenliebe, doch derselbe Herr der Christen sagt diesen auch, sie würden eben Arme stets unter sich haben; ihre Güte 'darf nicht darauf zielen, Armut in einer neuen Gleichheitsordnung aufzuheben, wie dies gegenwärtige Sozialstaatlichkeit seit Generationen versucht. So mag denn die Gleichheit zu dem gleichen Handeln motivieren, wie es auch aus einer Staatsgüte kommen könnte - doch es ist eben nicht dasselbe, weil beides aus verschiedenen Motivationen und auf gänzlich unterschiedliche Ziele hin gerichtet ist. Gleichheit ist, ihrem Wesen nach, nicht nur güteblind, sie ist ein Grundsatz der Antigüte par excellence. Dies läßt sich nun, in Beleuchtung einiger Aspekte möglicher Staatsgüte, noch näher begründen.
2. Hilfe aus Güte - immer ein "Privileg" Alle sind gleich unter der Volksherrschaft - aber allen kann man nie helfen, Hilfe ist wesentlich ein Privileg, sie bedeutet bevorzugte Behandlung. Dies ist ja auch, ausdrücklich oder unausgesprochen, die Grundnorm aller Staatshilfen: daß sie gewährt werden, "soweit eben die Mittel reichen", gewiß nicht allen gleich, sondern nach einer "Leistung", die hier in Bitten und Antragstellungen meist sich erschöpft. Weil also alle Staatshilfen wesentlich Privilegien stets schaffen, soll ja auch die Gleichheit ihr erster und wichtigster Kontrollrnaßstab sein - und praktisch hat sie noch immer, trotz aller Konkurrentenklagen, gerade an diesem Punkt versagt; wo eben Staatsgüte versucht wird, schwächt dies die Gleichheit. Dies zeigt aber auch, daß das Feld solcher Güte stets sehr begrenzt bleiben wird, denn weit läßt sich die Staatsgrundnorm der Egalität eben nicht zurückdrängen. Als Privileg wird die Staatsgüte, in all ihren Ausprägen, auch vom Bürger empfunden, dies zeigte sich immer wieder, und deshalb ist er, der
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Modeme, Selbstbewußte, hier jedenfalls auch stets zu Dank bereit, bis zur Untertänigkeit, weil er eben weiß, hier ist ihm ein Hoheits-Privileg gewährt worden. Vor dem Antiprivilegien-Prinzip der Gleichheit aber tut er besser daran, dies zu verstecken. Seit dem Samariterbeispiel der Bibel ist Güte untrennbar verbunden mit jenem "Nächsten", der unter die Räuber fällt, dem man am Wege begegnet - zufällig. Und zur Güte gehört seither, im allgemeinen Verständnis, nicht so sehr ein Charity begins at horne, was nur mühsam den Egoismus verschleiert, sondern der zufällige Anlaß, in dem sie sich in ihrer ganzen Spontaneität zeigen kann. Die Gleichheit aber ist zufallsfeindlich und so ist es auch ihr Staat. Eines darf dieser nie kennen: Willkür - gerade sie aber ist es, welche dem Nächsten hilft, nicht danach fragt, ob die dafür aufgewendeten Mittel anders, nach Gleichheitsgrundsätzen verteilt, besser verwendet wären. Zwar wird auch der modeme Staat seinem Willkürverbot immer wieder untreu, vor allem dort, wo die demokratische Hinneigung zum Volk in Populismus entartet, wie in Bürgereinladungen beim Staatsoberhaupt. Doch all dies bleibt Marginalie; jener Zufall, in welchem aber der gütige Staat dem Bedürftigen "ganz helfen sollte", wird in den verkrusteten Mühlen der Bürokratie zu einem Staub zermahlen, der sich überall hin gleich verteilen läßt. Daß Güte stets eine Privilegienneigung in sich trägt, zeigt sich schon darin, daß sie eben auch zur Ungleichheit führen kann, dies mit Selbstverständlichkeit in Kauf nimmt. Sie ist nicht wesentlich - hier zeigt es sich deutlich - "auf Herstellung von Gleichheit gerichtet", auf diese Zweckerreichung beschränkt. Jene Bedürfniserfüllung, welche sie anstrebt, kann grundsätzlich auf allen Ebenen geleistet werden, und so hilft sie dann dem einen mehr als dem anderen, sie mag Unterschiede durchaus verstärken, nicht notwendig einebnen. Dies erweist sich selbst dort, wo sie zur Selbsthilfe gewährt wird, wobei sie dem einen eben weit mehr im Ergebnis bringt als dem anderen - all dies aber ist ihr dann letztlich gleich -, gleichgültig. Nur über eines geht sie nie hinweg: über die Bedürfnisse, welche sie rufen, alles andere, den Zustand, den sie am Ende erreicht, blendet sie aus ihrer Motivation aus wie aus ihrem Verfahren. Sie ist "nahe" nicht zu etwas, zu einem bestimmten Ziel, sondern ganz einfach da. Sie fragt nicht danach, was sie letztlich hervorbringt, und seien es eben auch Ungleichheiten, Privilegien. Zumindest wäre also Staatsgüte ein Fremdkörper in der Gleichheitsordnung der Demokratie, mit ethischer Intensität angereichert könnte sie geradezu eine Krebszelle von Privilegierungen werden, wie sie der eine schenkende und testierende Bürger täglich dem anderen gewährt.
III. Die gütefeindliche Gleichheit
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3. Bedürfnisse: stets wesentlich ungleich Güte mag privilegieren, doch nicht deshalb wird sie gewährt, es ist allein das Bedürfnis, welches sie ruft. Gerade die Bedürfnis-Struktur, auf welche sich eine Staatsgüte einrichten müßte, sollte sie denn zur Staatsgrundnonn werden, ist ihrem Wesen nach, und bis in Einzelheiten hinein, ungleich. Daran nimmt eine Güte keinen Anstoß,. welche dem Nächsten helfen will, ohne Blick auf den Übernächsten. Der Gleichheitsstaat aber muß zuallererst versuchen, seine "Annen" nonnativ zu definieren, nach Gleichheitsgesichtspunkten; dann aber orientiert sich sein Handeln nicht mehr am Einzelfall, es ist eben doch auf "soziale Gleichheit" gerichtet, in eben dieser nonnativen Definition der Bedürfnisse, und dann ist die eigentliche Güte aus solchen Veranstaltungen verschwunden. Sie werden sogar zu einer Härte gegenüber jenen, welche durch die Raster der Staatsförderung fallen, sie werden dort als Belastung, wenn nicht als Eingriff gefühlt, vor allem dann, wenn sie gegen eine Gleichheit verstoßen, die sie doch, ausweislich ihrer nonnativen Bedürfnisbestimmung, hatten gewährleisten wollen. Solche Kritik würde nur abprallen an einem Staatshandeln, welches, wie das Verhalten des Herrn im Weinberg, ganz einfach "nur gut ist", so daß es kein neidiger Blick aus den Augen der anderen Gleichen treffen könnte. Wenn der Staat nicht die Bedürfnisse vor vorneherein "nonnativ gleichschneidet", so können sie, an sich, durchaus ganz unterschiedlich sein, und das Wesen einer Staatsgüte bestünde gerade darin, daß die Staatsgewalt sie in dieser ihrer natürlichen, außernonnativen Struktur aufsucht und ihnen "gerecht wird". Man denke nur an höhere Bildungsbedürfnisse besonders leistungsfähiger Glieder der Gemeinschaft, die sich allerdings nonnativ nie überzeugend werden definieren lassen, oder gar an ästhetische Bedürfnisse einer kleinen Spitzengruppe von Literaten und Künstlern, denen der Staat schenkender Mäzen sein möchte. Einst wurde ein solches Verhalten fürstlicher Gnade als wahre Staatsgüte gefühlt, heute gerät es in die Gefahr mafioser Vorteilszuschiebung, und so kommt es zu immer häufigeren AlibiVersachlichungen in oft recht zweifelhaften Jurierungen, in denen dann das letzte an früherer Staatsgüte sich in einer oft nur Pseudo-Gleichheit verliert. Auch hier verdrängt also vordringende Gleichheit frühere Äußerungen wahrer Staatsgüte, und im übrigen geht es auch nicht mehr so sehr um "höhere Bedürfnisse" der Kunstschaffenden, als vielmehr um deren funktional-egalitäre Entlohnung. Bei der Definition der Bedürfnisse, welchen der Staat helfend gerecht werden soll, gerät dieser ohnehin in gleichheitsbedingte Schwierigkeiten, welche ihn stets noch weiter von eigentlicher Staatsgüte entfernen. Die "Annen" werden, zur Gewährung von Staatshilfen, immer häufiger ausgewählt nach der Lautstärke ihrer Bitten - Staatsgüte nach Antragsintensität;
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erfüllt werden nicht wirkliche, sondern Antragsbedürfnisse. Wahre Staatsgüte müßte demgegenüber versuchen, gerade dem oft beschworenen "verschämten Armen" zu helfen, ganz allgemein dem bescheidenen Bedürftigen. Gerade dies verhindert eine Egalität, welche immer mehr zur Gleichheit gleicher Lautstärken des Bittens wird. In sie fließen dann zunehmend Forderungen ein, welche bereits selbstbewußt auf Gleichheit hinweisen, sich dem Staat nicht mehr in wirklichem Bitten nähern. Von der Struktur jener Staatsgüte, wie sie in den ersten Teilen dieser Betrachtungen skizziert wurde, entfernt sich all dies immer mehr, aus einer Bedürfnisdefinition heraus, welche den Grundsätzen der Egalität, und sei es auch nur denen der gleichen Wirklichkeit entspricht: nach Forderungsintensität. Staatsgüte müßte eigentlich versuchen, beispielhaft "zu wirken, nicht so sehr flächendeckend". Denn ihre Wirkung auf die Bürgerschaft, deren Staatsvertrauen sie verstärken sollte, geht ja auch von einzelnen solchen Gnadenerweisen aus, selbst wenn darauf nicht alle hoffen dürfen oder gar ein Recht haben. Und die begrenzten Mittel erlauben eben ganz wesentlich "wirklich gut zu sein" nicht im Einzelfall, sondern in einzelnen wenigen Fällen. In beispielhafter Staatsgüte würden zwar indirekt auch alle, wenn auch mit begrenzten Mitteln, "erreicht" - doch gerade dies würde zum Privileg, zur willkürlichen Auswahl von Bedürftigen, denen gewährt würde, was anderen versagt bleibt. Das "Beispiel-Bedürfnis" wird für eine wie immer aufgefaßte Staats güte stets wesentliche Bedeutung haben, doch der Gleichheitsstaat will nicht Beispiele, sondern das Durchgehende - für alle. Denn er muß nicht zeigen, daß Bedürfnisse befriedigt werden könnten - sie sollen befriedigt werden. Noch einmal sei hier betont: Der Güte ist es wesentlich, auch der des Staates, daß sie auf jedem Bedürfnisniveau zu helfen bereit ist, ja daß sie nicht einmal danach fragt, ob ein "höheres" Bedürfnis sich als solches, aus der Funktion der zu fördernden Tätigkeit für die Gemeinschaft, begründen läßt. Staatsgüte müßte also in jedem Sinne "gestufte Bedürfnislagen" hinnehmen, in ihrer Förderung geradezu dahin "hochrechnen". Doch abgesehen davon, daß ihr dies die begrenzten Mittel gar nicht gestatten würden, wollte sie auch nur einigermaßen gleichheitskonform handeln - der Gleichheit liefe es zuwider, Stufungen mit staatlicher Hilfe weiter zu entwickeln, die sich außerstaatlich gebildet haben. Was vom Gleichheitsstaat allenfalls noch erwartet werden kann, ist, daß er sie ignoriert, bestehen läßt, die Gleichheit verbietet ihm ihre Verstärkung. Der demokratische Staat darf alles sein, nur eines nicht, im Namen der Gleichheit: großzügig im Einzelfall. Seine "großen Lösungen", die auch er braucht, müssen Gleichhaltsgehalt haben, und sei es auch nur darin, daß sie vielen, potentiell allen zugute kommen. Den großen Einzelfall, das größere Einzelbedürfnis - wie sollte es der Gleichheitsstaat kennen dürfen?
III. Die gütefeindliche Gleichheit
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4. Geschenke - gegen Gleichheit
Selbst wenn in Staatsgüte "allen das Gleiche" geboten wird, bleibt dies noch immer ein Geschenk; dieser Begriff jedoch ist, seinem Wesen nach, schlechthin gleichheitsfeindlich. Hier geht es um ein freies Geben, nicht um ein vergleichendes Rechnen vom einen Bürger zum anderen. In dieser Staatsgüte will die organisierte Gemeinschaft zu einer Art von Freiheit vordringen, welche allerdings die Grundrechte dem Staat, als dem Gegner der Bürgerfreiheit, grundsätzlich versagen. In diesem Aufschwung zur "Staatsfreiheit" zeigt sich aber doch sogleich die immanente unauflösliche Spannung zur Freiheit, die eben, in welcher Fonn immer sie .erstrebt wird, in Gegensatz tritt zur Gleichheit; diese aber kann ein Geschenk, einen Zentralausdruck der Privatautonomie in Freiheit, beim Staat nicht dulden. Geschenke, wo und wie immer gewährt, sind als solche anspruchsfeindlich, Gleichheit dagegen setzt sich das Ziel, alle Staatsleistungen in Ansprüche umzumünzen, im wahren Sinne des Wortes. Wenn und weil der Nächste das Gleiche erhält, muß ihm auch ein Anspruch darauf zustehen. Je weiter sich die Gleichheit durchsetzt, in Staatsgüte Vergleichbares geboten wird, desto mehr, und in gleicher Intensität, nimmt der Anspruchscharakter des Hingegebenen zu - damit aber fällt es wiederum aus der Staatsgüte. Gaben an wenige, Auserwählte, verdienen noch den Namen des Geschenks; wird zwischen ihnen das Netz der Gleichheit geknüpft, so hören sie auf, Hilfen zu sein, sie verwandeln sich in geschuldete Leistungen. In diesem Begriff liegt aber, im klassischen Leistungsdenken des Privatrechts, überhaupt nichts von "Förderung", hier wird nur übertragen, was gerecht ist nach Gleichheit, was als geschuldet schon in der Rechtsordnung vorgezeichnet erscheint. Dem Leistungsstaat gegenüber gilt dies sogar in besonderer Intensität, und gerade in einer Ordnung grundsätzlicher Privatautonomie: Da er hier in einer prinzipiellen Situation der Subsidiarität immer stehen bleibt, mag es dem Bürger nur zu oft scheinen, als "komme er mit seinen Leistungen zu spät", als hätte eigentlich diese Förderung schon längst gewährt werden müssen: Staatsförderung als verspätete Erfüllung einer Forderung. Leistung vom Staat - das ist für ein unterschwelliges, heute aber weitverbreitetes Verständnis der Gleichsetzung von Realität und Staatlichkeit kein Geschenk, sondern Geschuldetes. Allen das Gleiche - damit wird erst recht und entscheidend der Bereich der Geschenke verlassen. Quod omnes tangit ab omnibus decidetur - die alte Maxime bedeutet auch: Was alle angeht, weil alle es erhalten, wird zur Entscheidungsmaterie aller, in der Demokratie zum rechtlichen Anspruch. Deutlich ist dies im Arbeitsrecht, in den Beziehungen zwischen den Bürgern bereits vorgezeichnet: Jenes Weihnachtsgeld etwa, das nach einer geradezu kulturellen Tradition nun wirklich
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ein Geschenk im eigentlich Sinn des Wortes sein sollte, hat sich sogleich zum Anspruch verdichtet, als es generell, einer gesamten Belegschaft, gewährt wurde - Geschenk plus Gleichheit ist Anspruch. Wie könnte es dem Staat gegenüber anders sein, der doch mindestens der Intensität der Gleichheit unterworfen ist wie der arbeitgebende Bürger; die Gleichheit verbietet dem ordnenden Staat beliebige Erweiterung des Geschenkbegriffes. Das Geschenk hat sicher, historisch betrachtet, etwas Patriarchalisches an sich, in seiner Fürsorge für die Familie, "die eigenen Leute", die Nahestehenden - Nächsten. Doch in der Freiheit der Hingabe ist es, spätestens im neunzehnten Jahrhundert, zum Ausdruck eines Liberalismus geworden, in welchem das Bürgertum seine Privatautonomie auslebte - verströmte. Mit solchem Denken bleibt das Schenken unlösbar verbunden - so wie die Gleichheit mit dem Sozialismus erstarkt ist, der gerade hier sich gegen den Liberalismus entwickelt hat. Das Geschenk war Ausdruck von etwas wie einer "typisch autoritären Güte", wie sie das liberale Bürgertum anderen erwies, und seinem Staat. Sozialisten dagegen haben stets in Ansprüchen gedacht, Sozialismus ist im Grunde nichts als die Verwandlung des Almosens in den Bürgeranspruch. Dort hat der gütige Arbeitgeber ebensowenig einen Platz wie der gütige Staat. Daher bekämpft dieses Denken mit aller Kraft Einzelleistungen von Unternehmensleitungen nach wirtschaftlicher Lage des Betriebes, ja selbst nach der Bedürftigkeit von dessen Arbeitnehmern; dies hat ja stets etwas Geschenkhaftes an sich. Es steht gegen jene Gleichheit, welche im gleichen Tarifvertrag für Alle ihren höchsten Ausdruck findet. Ein Staat, der im Namen des Geschenkes zurückbleibt hinter der Gleichheit - er kann vielleicht ein Sozialstaat noch sein, ein Staat der Sozialisten gewiß nicht. Selbst, ja gerade moralische Betrachtung zeigt den unüberbrückbaren Abstand von Geschenk, also Staatsgüte, und Gleichheit. Gewiß kann Hilfe als Motiv der Staatsgüte auch dann moralisch gedacht werden, wenn sie nicht in gleicher Weise allen gewährt wird. Doch ist dies nicht nur Ausdruck einer Individualmoral, welche an den Toren der Staatlichkeit Halt machen muß, wo die Kollektivethik beginnt? Von vielen, wohl bereits von einer großen Mehrheit, wird dies so verstanden, daß ein Geben, das nicht alle Gleichen gleich erreicht, schlechthin unmoralisch wird. So ist es der Gleichheit bereits gelungen, die Moral zu besetzen, und damit verdrängt sie einen Staat aus ihr, der hier "wie eine Einzelperson schenken" möchte, im Rahmen einer im Gleichheitsstaat unannehmbaren Individualethik. Der Staatsgüte geht aber damit die Überzeugskraft ihrer wichtigsten Motivation verloren, was sie trägt, wird ihr zur Kritik. Gleichheit verbietet schließlich Willkür in jeder Form, das rational nicht nachvollziehbare Verhalten. Gewiß findet der gütige Staat eine rationale Begründung im Bedürfnis seiner Bürger; doch seine Leistung hat, eben
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weil sie Geschenk bleiben will, doch etwas Willkürliches, jedenfalls aus Gleichheitsdenken heraus Kritikables, die rationale Egalität vennag es nicht nachzuvollziehen. Und liegt nicht in aller Güte wirklich etwas - Irrationales? So ist die Gleichheit am Ende die Negation der Geschenke, Grundlage für Ansprüche, staatsrechtlicher Gegenpol zu aller Staatsgüte. In einem Staatswesen, welches, rasch zunehmend, auf Gleichheit gegründet ist, aus ihr allein sich letztlich legitimiert - wo sollte da der gütige Staat einen freien Platz des Schenkens finden?
IV. Freiheit - von Güte und auch zur Nicht-Güte Antithetik von Gleichheit und Freiheit ist die Grundlage der Demokratie, aller entwickelten Staatsfonnen, am Ende des zweiten Jahrtausends. Die Hoffnung, daß ihre Synthese gelinge, oder daß doch stets eine lebendige, produktive Spannung zwischen diesen Polen bestehe, trägt alles organisierte Zusammenleben. Das Opfer der Freiheit an die Gleichheit wäre nur eine Wiederholung des gescheiterten Experiments des Ostens. Substantielle Freiheit muß also bleiben, wie weit immer man sie auch zurückdrängen mag. Wenn nun ihr Gegenpol, die Egalität, gegen Staatsgüte steht, so müßte eigentlich die Freiheit für den gütigen Staat stehen, er müßte gerade ihr Ausdruck sein. Wenn sich nun aber im folgenden zeigen sollte, daß auch, ja gerade die Freiheit güteneutral oder gar gütefeindlich erscheint, so kann diese Staatsgüte als Staatsgrundnonn kaum gedacht werden, da ihr die beiden Grundprinzipien heutiger Staatlichkeit entgegenstehen. 1. Freiheit: das Recht auf hilfefreie Autonomie
Freiheit steht nicht dem Staat zu, er ist ihr geborener Feind; auf Libertät zum Schenken kann sich also selbst der liberale Staat nie berufen. Freiheit ist allein Bürgerrecht; sie schützt den Raum, wo sich eigene Kräfte entfalten, wo nicht geholfen wird, vor allem nicht vom Staat. Mit seinen Hilfen bindet er, enger oft als er es als Hoheitsstaat vennöchte. Schon deshalb steht Freiheit grundsätzlich gegen Staatsgüte. a) Freiheit ist, seit den Ursprüngen ihres Denkens, eines immer gewesen, durch und durch: Forderung, Anspruch auf Staatsfeme. Deshalb ist der Status negativus, die Abwehrhaltung gegen die Staatlichkeit, das unverzichtbare Wesen der Freiheit, ihr Primärinha1t; wenn über etwas Konsens heute besteht, dann über diese These. Daran ändert nichts die nur zu oft recht unklare Lehre von den beiden anderen Status des Bürgers gegenüber seinem Staat. Der Status activus, das 17 Lcisner
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F. Freiheitliche Demokratie: Staatsform gegen Staatsgüte
Recht der "Teilnahme am Staat", am staatlichen Herrschen, erscheint zwar als ein Kontrapunkt zur Staatsfeme, will er doch dem Bürger den Staat öffnen. Doch dies geschieht, bei näherem Zusehen, nicht damit er "staatsnah" werde, den Staat auf sich einwirken lasse, sondern damit er, ganz umgekehrt, nun auf den Staat selbst einwirke, darin seine Freiheit organisatorisch bewähre; der Status activus ist nichts als die organisatorische Form des Freiheitsschutzes. Wo diese, wie etwa in der Wahlpflicht, umschlägt in ,,Zwang zum Herrschen", da wird dies auch zum Zwang zur Freiheit, zur Degeneration dieses Staatsgrundsatzes. Wesentlich ist dem Status activus immer eines: Man kann in ihn treten, man muß es nicht, darin vor allem bleibt er Freiheit. Der Status positivus, das Forderungsrecht gegen den Staat, scheint nun die Staatsgüte zu erreichen, ihr freiheitlicher Ausdruck zu sein. Doch eben dieser Schein trügt: Gesichert wird damit, wenn überhaupt etwas, der Anspruch des Bürgers auf Gewährung von Freiheitsgrundlagen; und die Problematik dieser Konstruktion wird sich im folgenden noch deutlich zeigen, weshalb denn dieser Status positivus auch immer hinkende Freiheit geblieben ist. Doch wenn überhaupt etwas Libertäres ist in dieser Forderungsstellung, so eben das Recht des Bürgers zu verlangen, nicht das Recht des Staates zu geben. Auch darin muß der Staatsunterworfene frei bleiben, ob er diese Staatsleistungen in Anspruch nehmen will, ob er sie fordern möchte; über eine Freiheit des Staates zur Staatsgüte sagt all dies überhaupt nichts aus. Nimmt man also Freiheit in all ihren dogmatisch bisher entwickelten Ausprägungen ernst, so führt aus keiner von diesen ein Weg zur freien staatlichen Güte des Schenkens. Alle diese Status wollen letztlich immer nur eines bringen: Staatsfeme, Autonomie, hohe Mauem zwischen Bürgern und Staat. b) Der These von der Freiheit als wesentlicher Staatsfeme des Bürgers wird von jeher die Antithese vom Menschen als animal sociale entgegengehalten, vom gemeinschaftsgebundenen und -verbundenen Lebewesen, welches, als ein gemeinschaftsisoliertes gedacht, von Anfang an nicht lebensfähig sei. Diese Theorie ist ebenso alt wie oberflächlich; sie kommt dem Wesen der Freiheit nicht näher und steht ihr in keiner Weise entgegen. Denn vier Aspekte vor allem gilt es zu beachten, wenn von dieser notwendigen Gemeinschaftsgebundenheit des Individuums die Rede ist: - In einer freiheitlichen Ordnung bedeutet Eingebundenheit in die Gemeinschaft gerade nicht primär Bindung, sondern Angebote der Gemeinschaft an das Individuum, welche dieses in möglichst freier Wahl annehmen kann - oder nicht. Natürlich müssen die Grundbedürfnisse befriedigt werden - aber auch nur werden können; und bezeichnenderweise hält
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sich der liberale Staat gerade darin zurück, daß er Wohnung, Kleidung, Nahrung dem Bürger nicht oktroyiert, sondern sie als vielfache Angebote bereithält. Freiheit und Angewiesenheit auf die Gemeinschaft sind insoweit keineswegs Gegensätze, die Freiheit bewährt sich gerade in solchen Gemeinschaftskontakten. - Gemeinschaftskontakte sind selbstverständliche Notwendigkeit, nicht aber überall Gemeinschaftsbindung. Beziehungen zu Staat und Gesellschaft sollen vielmehr - so allein will es die Freiheit - nicht primär und notwendig "binden", sondern "befähigen" - und dies zu möglichst viel Freiheit, zu Kontakten der Bürger untereinander - oder zu einer Isolation, wie es eben der Einzelmensch will. Allzu schnell also schaltet die Lehre von der notwendigen Gemeinschaftsbindung um auf Zwang, ohne daß die Gemeinschaftsbeziehungen als Möglichkeiten, als Befähigungen zu noch mehr, zu sozialer Freiheit gesehen würden. - Der grundlegende Irrtum der Auffassung. die notwendige Gemeinschaftsbeziehung bedeute notwendigen Gemeinschaftszwang zeigt sich vor allem aber in einem: daß in jedem Gemeinschaftskontakt das "angeblich Notwendige" betont wird. die Unausweichlichkeit des Gemeinschaftseinflusses auf den Einzelmenschen - und daß gar nicht. und zunächst einmal. gefragt wird. wie denn dieser notwendige Einfluß der Gemeinschaft beschaffen sein soll. Darauf aber gibt die Freiheit die Antwort: notwendige Gemeinschaftskontakte darf es immer nur in einer Weise geben. welche sich irgendwie auf ein do ut des zwischen Bürger und Staat zurückführen läßt. Der Bürger der Demokratie ist nicht zu denken als ein von der Natur Zwangsverpflichteter. sondern als ein Individuum. das in der Ordnung einer Gegenseitigkeit steht. in welcher Freiheiten getauscht werden. nach dem Ursprungsmuster allen Rechts. dem Privatrecht. Damit wird aber die angebliche natürliche Einbindung des Individuums in den Gemeinschaftszwang zu nichts anderem als zu einer Ordnung des gegenseitigen Gebens und Nehmens, welcher nicht der Zwang wesentlich ist. sondern der wechselseitige Freiheitsgewinn auf dem größeren Markt der Gemeinschaft. In rascher Entwicklung nähert sich denn auch gerade die moderne Gemeinschaft der allgemeinen Bewußtwerdung solcher freiheitlicher Zusammenhänge der angeblichen Gemeinschaftsbindung - dies ist Hintergrund und auch Legitimation der großen Emanzipationsbewegung unserer Tage: Die Frauen werden aus säkularen Bindungen entlassen. welche jahrtausendelang als "natürlicher Gemeinschaftszwang" erfaßt wurden. Die Kinder selbst. das Paradebeispiel der "natürlichen Einbindung in die Gemeinschaft". werden von solchen Zwängen immer mehr. immer früher bereits freigestellt. aus Herrschaftsobjekten der natürlichen Zwangseinheit Familie macht sie moderne Erziehung zu Subjekten. deren Freiheitsrecht vom ersten Tage an zu achten 17·
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F. Freiheitliche Demokratie: Staatsform gegen Staatsgüte
ist, in einer Bildung, welche nicht notwendigen Gemeinschaftszwang, Gemeinschaftsangewiesenheit zum Ausdruck bringen soll, sondern nichts ist als Vorbereitung zur Freiheit, in die der junge Mensch möglichst rasch zu entlassen ist - die Gemeinschaft als Befähiger, nicht als Zwangs befriediger. Diese geistige Revolution zu mehr Freiheit wird, dafür spricht alles, in den nächsten Jahrzehnten Triumph auf Triumph feiern. - Nicht vergessen werden darf schließlich, daß die angebliche "Gemeinschaftsangewiesenheit des Individuums" seit den Anfängen freiheitlichen Denkens nie etwas anderes gewesen ist und sein sollte als eine zu minimierende Restgröße: Prinzip und Ziel war immer die Freiheit vom Staat und also auch von einer Gemeinschaft, welche sich an die Stelle des Staates setzen möchte. Angewiesenheiten, Unausweichlichkeiten sind seit Jahrhunderten immer mit einem Unterton des Bedauerns konstatiert worden, welches sie zurückdrängen, möglichst eliminieren wollte, aus ihnen gewiß nicht den ersten Grundsatz des Zusammenlebens gewinnen möchte. Das zu Minimierende und ständig weiter Minimierte, das mit Bedauern Festgestellte kann und darf also auch nicht Grundlage einer Staats- oder gar Gemeinschaftstheorie sein, es ist ein immer weiter zu beschränkender Restbestand, der ständig durch neues Freiheitsbewußtsein umgeformt wird in einer Ordnung gebender und nehmender, darin freier Individuen. Die alten Theorien vom notwendigen Gemeinschaftszwang waren nie richtig, nun sollten sie endlich auch grundsätzlich aufgegeben werden. Status positivus wie Status activus haben gar keinen Selbststand, sie sind nichts als Unterstützung, flankierender Schutz der eigentlichen Freiheit, des Status negativus; berechtigt sind sie nur, wo sie ihn stärken, so und nicht anders will es die Freiheit, welche die Demokratie meint. c) Daraus aber ergibt sich eine notwendige Folgerung: Staatsferne ist nicht Utopie, sondern Staatsziel, in diesem mächtigen Paradox allein hält sich heute noch der Staat. Dann aber ist der nächste, ein entscheidender Schritt zu tun: Staatsferne, ja Gemeinschaftsferne, möglichst gegenüber allen Veranstaltungen, welche einwirken könnten, ohne daß sie der großen Austauschordnung konform wären, welche die Beziehungen IndividuumGemeinschaft bestimmt: Freiheit also auch, soweit wie irgend möglich, von jeder Staats- und Gemeinschaftshilfe, Freiheit als Recht auf maximale HilfLosigkeit. Es gilt ins Bewußtsein zu heben, daß Freiheit zwar auch das Recht gewährt, zu bitten, vor allem aber auch die Berechtigung, Hilfe, welche Art immer, abzulehnen, im Namen eigener Fähigkeiten, eigener Kraft. Freiheit bedeutet auch das Recht, ohne Hilfe auszukommen, selbst wenn der Annahmeverweigerer unter dem angeblich existentiellen Minimum bleiben sollte,
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wie es die Gemeinschaft vorsieht. Die wahrhaft furchtbare Großartigkeit der Freiheit zeigt sich in dem Recht jedes Bürgers, unter Brücken zu leben und dort auch zu sterben. Immer wieder sind die gesichert Besitzenden schockiert durch die große Freiheit des Obdachlosen, jenes Aussteigers, welcher der Gemeinschaft, vor allem dem Staat, den Rücken kehrt, aber immer größer wird die Zahl derjenigen Bürger, welche nur verdienen möchten und gewinnen - um eben auszusteigen, nur etwas anders. Denn zugleich mit dem Entsetzen über eine Persönlichkeitszerstörung, die nur zu oft Folge eines solchen Verhaltens ist, kommt immer wieder der große Respekt auf vor demjenigen, der verwirklicht, auf seine Weise, wovon so viele täglich träumen. Der Clochard ist also nicht Skandal einer freien Gesellschaft, sondern vielleicht ihr verschleiertes Ideal, und ihre Aufgabe ist es, solche Freiheit zu belassen, nur eines zu verhindern: daß unter ihr der Freie sterbe. Dies aber ist eine ganz grundsätzliche, eine sehr mutige Absage an den gütigen Staat, und es ist in keiner Weise Staatszynismus, der da auch den Bettler leben läßt, den extrakommunitären Menschen, der in eigenartiger, aber letztlich in höchster Weise Freiheit verwirklicht. Wer aber den Wohlfahrtsstaat der warmen Suppe überall wünscht, der vergißt, daß sich diese wahrhaft freien Bürger in den Wärmestuben nicht ihrer Freiheit schämen, sondern der Notwendigkeit, diese Güte der Gemeinschaft anzunehmen. Jeder höhere Grundsatz ist aufgehängt in einem ganz femen Ideal - so auch die Freiheit: Sie kommt aus dem Ideal einer Staatsfeme, welche sich auch in der Ablehnung, in der Feme zu jeder Staatshilfe, zu jeder Staatsgüte bewährt, daraus zieht die Freiheit ihre letzte, höchste Legitimation. d) Wenn überhaupt der freie Bürger Hilfe annimmt, so vor allem zur Selbsthilfe, und dies bis in die schlimmen Lagen der Pflegebedürftigkeit hinein. Gerade sie aber zeigt: Er will, soll und muß auch diese Hilfe in dieser Extremsituation sich bereits erkauft haben, sie soll ihm nicht in Güte geschenkt werden, Pflegeversicherung ist nicht Ausdruck der Staatsgüte, sondern Absage an sie. Und noch etwas erweist sie deutlich: daß die Freiheit Hilfen immer nur als etwas Vorübergehendes kennt, bis dann die eigene Kraft wieder einsetzt - oder gänzlich aufhört im Tode. Die Freiheit ist eine Ordnung von Selbsthilfe-Menschen, und gerade darin steht sie gegen eine Staatsgüte, die zu eigener Initiative gelegentlich auch befahigen mag, der dies aber nie wirklich wesentlich ist. Die Antithese von Freiheit und Staatsgüte ist so wohl grundsätzlich klar geworden: Staatsfreiheit bedeutet auch Freiheit von Staatsgüte, welche der freie Bürger weder erstrebt, noch gerne annimmt. Was aber nicht freudig getragen wird von der ganzen Bürgerschaft, kann nie Staatsgrundsatz sein.
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F. Freiheitliche Demokratie: Staatsform gegen Staatsgüte
Freiheit bedeutet die möglichste Rückführung aller Gemeinschaftsbeziehungen auf Austausch, der Staatsgüte ist all dies. gerade dies völlig fremd, sie kommt aus anderen Motiven und Tiefen, denen eines unbedingten HelfenWollens, von gewiß hoher ethischer Qualität - und doch stößt sie hier auf einen ethischen Gegenbegriff: die Freiheit. Diese Freiheit ist wesentlich hilfsskeptisch, und sie nimmt Hilfe grundsätzlich nur an, um ihrer möglichst bald - nicht mehr zu bedürfen. Und jene Armen, "welche ihr immer unter euch haben werdet" - das sind nicht die Bürger eines demokratischen Staates der Freiheit, und hier bleibt auch die alte Distanz zwischen Aufklärung und gewissen christlichen Auffassungen erhalten. Staatsgüte ist selbsthilfeneutral. sie will immer und unbedingt schenken, überall. Ist dies nicht, in solcher Allgemeinheit und Unbedingtheit gedacht. schlechthin freiheitsfeindlich?
2. Vom gütigen zum indiskreten Staat Gefährdung der Intimsphäre a) Schutz der Intimsphäre ist nicht irgend ein Freiheitsaspekt, den man nun gerade. mit geschärftem Freiheitsbewußtsein und im Zuge technischer Entwicklungen. neu entdeckt hätte; hier liegt der vielleicht wichtigste Freiheitsbereich überhaupt: Der Bürger ist nur dann frei. wenn er als solcher und sein Freiheitsraum anderen nicht bekannt ist, es jedenfalls nicht sein muß, wenn er vielmehr selbst entscheidet, welcher Einfluß andere auf ihn nehmen sollen, aufgrund von Wissen, welches sie über ihn erlangt haben. Die eigentliche Freiheit ist die der Mauer, über welche niemand blicken kann; sie abzubauen oder abzureißen ist erster, vornehmster, entscheidender Ausdruck der Güte überhaupt, auch der des Staates. Geheimnis ist nicht nur, von China bis zur europäischen Arkanstaatlichkeit. Machtinstrument und Machtabwehrinstrument, es ist der innerste Kern einer Freiheit. den eben niemand kennen darf als ihr Träger. Denn wer etwas über ihn weiß, wird und muß versuchen, diese selbe Freiheit zurückzudrängen, gerade in einer Austauschordnung. weil er dann eben auch ihre Schwächen kennt. Dies alles ist in den letzten Jahrzehnten deutlich erkannt worden, im Datenschutz vor allem; nicht selten werden hier Übertreibungen beklagt meist wohl zu Unrecht, denn der Schutz der Intimsphäre, der Privatheit läßt sich gar nicht übersteigern. Er ist es. mit dem sich der Gewaltunterworfene vom Gewaltträger Staat wesentlich unterscheidet: Im Staat muß alles Transparenz sein. im Namen der Rechtsstaatlichkeit. darin ist der Staat wirklich. gegenüber dem Bürger, der "ganz andere". Der Bürger jedoch unterliegt gerade nicht dem Gebot der rechtsstaatlichen Durchschaubarkeit, der gläserne Bürger bedeutet das Ende der Freiheit. nicht einmal den gläsernen
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Abgeordneten darf es geben, ist er doch die Figur, welche Herrscher wird aber Bürger bleibt. Es ist ja auch im letzten nur die Neidgesellschaft, welche solche Transparenz erzwingen möchte, damit sie durch fremde Fenster sehen und in fremde Wohnungen - einbrechen könne. Die unsinnige Begründung, wer vor dem Gesetz nichts zu verbergen haben, könne alles offenbaren, wer Geheimnisse hüte, habe Unrecht gehandelt - dies alles ist nichts als die totale Negation der Freiheit, die antirechtsstaatliche Vermutung für Rechtsbrüche, ohne jeden Beweis, und damit ein Rechtsstaat, der sich selbst ad absurdum führt. Wer das Geheimnis des Bürgers aufhebt, zerstört dessen Freiheit bereits darin, daß er notwendig Vorbereitungen trifft, um zum Eingriff überzugehen, der dann offen die Freiheit zurückdrängt. Jedem Wissen ist es eigen, daß es zu seiner Verwertung drängt; das moderne Steuerrecht hat bereits den "Staat der Zufallsfunde" mit der Allmacht der Argusaugen begabt. b) Wer also Bürgergeheimnisse aufdecken muß, wird notwendig Freiheit gefahrden, ja sogar zerstören. In erster Linie ist dies jedoch ein Sozialstaat, welcher sich zum gütigen Staat erheben will. Hier müssen ja zuallererst die Bedürfnisse der zu Fördernden erhoben werden. Nachforschung ist angesagt, der Staat wird von sich aus aktiv, er nähert sich dem Bürger, ohne daß dieser etwas von sich aus zunächst betriebe oder beantragte - in diesem Sinne hebt die gütige, Güte vorbereitende Staatlichkeit die Staatsferne zum Bürger noch viel weitergehend, viel früher noch auf, als wenn sie warten muß, bis sie Aktivitäten ihrer Gewaltunterworfenen durch Eingriffe verbietet oder in Grenzen hält. Die soziale Investigation muß also durch Staatsgüte immer weiter gesteigert werden, denn nur in ihr findet sie ihren Aktionsraum. Bedürfnisse gilt es aber nicht nur oberflächlich zu ermitteln, Hilfe kann, ihrem Wesen nach, keinen Schematismus dulden, sie wird und muß in den Einzelfall eindringen, freiheitsfeindlich. Wer Einzelfallgerechtigkeit wünscht, nicht nur unter ihrem Vorwand eigene Normen setzt, sondern sich wirklich am Unverwechselbaren orientiert, der muß, in einer normgeprägten Welt zumal, alles und jedes erheben und wissen. Im Wesen staatsgütiger Einzelfallgerechtigkeit liegt also eine schwere Freiheitsbedrohung, die Spannung zwischen dieser Zielsetzung und der Freiheit ist bisher, soweit ersichtlich, noch kaum erkannt worden. Die Freirechtsschule nahm das "Freie" in ihrem Namen zu Unrecht in Anspruch: Freiheit gab sie dem Staatsorgan, sie nahm sie dem Bürger. Freiheit ist demgegenüber weit besser gesichert durch die Norm, welche alles, was über sie hinausreicht, dem Zugriff des Staates entzieht, also nur pauschale, schematisierte Erhebungen zuläßt, alles andere dem Bereich der Privatheit, des Einzelfalles zuweist. Dies Privacy aber kann es für den gütigen Staat schlechthin und ganz grundsätzlich nicht geben; er ist immer auf der Suche, immer unterwegs, Gutes zu tun.
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c) Wenn gar noch Staatsgüte zur Staatsgrundnorm ausgebaut werden soll, so droht unabsehbare Vertiefung und Verbreiterung staatlicher, wesentlich hoheitlicher Investigation. Zwar mag der Staatsgüte immer ein punktueller Charakter bleiben, doch wenn sie den ganzen Staat trägt, so wird sie System annehmen müssen, und dies gilt dann auch, was noch viel gefahrlicher ist, für die Datenerhebung der Ausforschung. Der gütige Staat kann nur in einer Globalisierung von Hilfen gedacht werden. So erreicht die Staats indiskretion, welche damit notwendig verbunden ist, eine völlig neue Dimension. Sie bewegt sich auf allen wirtschaftlichen wie sogar immateriellen Bereichen gleichermaßen, um den bedürftigen Einzelfall sachgerecht abgrenzen zu können, sie muß in einer Weise in die Tiefe gehen, wie dies der eingreifende Staat vermeiden müßte, im Namen der Freiheit. Was aber noch gefährlicher ist: Hier schließen sich die Staatsgewalten, hier ballen sich alle ihre Organe und Behörden notwendig zusammen, Vernetzung zu zentralen Datenbanken ist angesagt, eine notwendige Folge zugleich effizienter und nicht doppelter Hilfe. Die Gewaltenteilung wird hinter diese Notwendigkeiten einer gütigen Gesamtstaatlichkeit notwendig zurücktreten, ja es muß sich etwas wie eine Staatseinheit - welche viele heute nicht zu Unrecht bedroht sehen - neu dann entfalten, wenn es wirklich zum gütigen Staat kommt; denn gütige Staatsgewalten sind letztlich nicht vorstellbar. Der indiskrete Staat kann dann nicht eine Ausnahmeerscheinung bleiben, welche durch Ausforschung lediglich Härten vermeiden will, überall muß er sich auskennen, und am Ende sogar bei den nicht-Bedürftigen; denn nur auf dem Hintergrund ihrer Lage vermag er das wirkliche Bedürfnis aufzuspüren und zu bedienen. So wie er als Staatseinheit vorgeht, muß er auch die Einheit der Bürgerpersönlichkeit in all ihren Facetten erfassen, die Gesamtlage feststellen, in einer Vertiefung, wie sie heute nicht einmal das hoheitliche Steuerrecht erreicht, bei welchem übrigens die viel kritisierte Konzentration jeweils auf Einzelsteuern, ihre Voraussetzungen und ihre Erhebung, der globalen Indiskretion entgegenwirkt, welche die Gesamtpersönlichkeit des Steuerbürgers in den Blick nehmen müßte. Solche Zurückhaltung wird der gütige Staat nicht mehr kennen, schon weil es hier um sein Geld geht, nicht nur um irgendwelche Einflußmöglichkeiten, auf welche er auch unschwer, da und dort, verzichten könnte. So wird denn auch heute bereits, in den klassischen, am meisten ausgebauten Förderbereichen, etwa in der Studien- und Stipendienförderung, in einer Weise recherchiert, welche der so gefährlich erscheinende Hoheitsstaat kaum irgendwo kennt, und dies noch nicht einmal unter dem Schutz des Steuergeheimnisses: Antragsteller, Eltern und Verwandte müssen hier ihre Vermögens verhältnisse offen legen, jede Änderung sofort melden, damit ihr gesamtes Leben dem Staat öffnen. Und darüber wacht eine Gemeinschaft,
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deren Argusaugen möglichem staatlichen Mißbrauch gegenüber den Staat selbst zum Argus werden lassen - gegenüber seinen Bürgern.
3. Von Staatsgüte über Mißbrauchsbekämpfung gegen die Freiheit a) Wandelt sich die Staatlichkeit zu Staatsgüte, so muß die Bekämpfung von Mißbräuchen ihr erstes, schwerstes Anliegen sein; Mißbrauch wird dann notwendig zum Zentralbegriff dieser organisierten Gemeinschaft, Mißbrauchs-Mißtrauen ist überall. Denn mit dem Begriff der Hilfe geht dieser Begriff notwendig einher - nur sie kann in noch viel höherem Maße mißbraucht werden als Rechte, und Güternißbrauch wiegt weit schwerer als Rechtsrnißbrauch. Bei diesem letzteren wird dann einfach "das Recht aberkannt", der abus de droit wirkt als absolute Schranke, und sie läßt sich nicht immer leicht, aber doch stets im letzten, von eben den Organen ziehen, welche - Recht sprechen. Ganz anders der Mißbrauch staatlicher Förderung, der Staatshilfen überhaupt. Dies ist ein weithin unklarer, schwimmender Begriff, der sich überdies kaum eindeutig aus seinen Wirkungen definieren läßt, sondern umfangliche, schwierige Investigation, ja Inquisition zur Folge haben muß. Die Verwendung des Staatsgeschenks läßt sich ja keineswegs mit Präzision nachvollziehen, kontrollieren, nur die Voraussetzungsseite ist einigermaßen überwachbar, und auch dies nur um den Preis schwerster, ständiger Indiskretionen. Während nun aber der Rechtsrnißbrauch sich vor allem in den Rechtsfolgen eines bestimmten Verhaltens zeigt, fällt diese Kontrollmöglichkeit beim Mißbrauch der Staatsgüte weithin aus; mehr ist eben dort nicht festzustellen, als etwa daß "doppelt erbeten wird", und dann ist da niemand, der sich gegen solchen Mißbrauch sogleich wendet, er muß also vom Geber in mühsamer Kleinarbeit nachgewiesen werden - und diese selbe Instanz soll aus der Großzügigkeit der Güte heraus handeln? So schwer der Mißbrauchsbegriff zu definieren, der Mißbrauch letztlich festzustellen ist, so notwendig ist der Kampf gegen ihn bei jeder Veranstaltung der Staatsgüte, die sich gerade darin dann alles andere zeigt als - gutmütig; sie wird pedantisch bis zur Kleinlichkeit, sie schematisiert immer mehr, setzt zunehmend ihren Apparat ein, der klappert. Und dies muß notwendig geschehen: Güte darf nicht mißbraucht werden, es wäre dies weit schlimmer als eine Rechtsüberschreitung; ein exces de pouvoir ist eine Panne im Rechtssystem, ein exces de bonte, ein Güternißbrauch, wäre eine Katastrophe der Staatsgüte. Bei allen möglichen, möglicherweise nicht geförderten Adressaten, in der Bürgerschaft überhaupt, muß solcher Mißbrauch sogleich einen moralischen Gegenreflex auslösen, der die ethische
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Legitimation völlig aufhebt, aus der heraus in Staatsgüte gehandelt wird: Wenn jemand sein Recht mißbraucht, so trifft dies allenfalls den Nachbarn, nur selten einen größeren Kreis; Mißbrauch von Staatshilfen bedeutet, daß jeder Bürger sich betrogen fühlt und bestohlen. Der Mißbrauch zerstört daher vollständig die Basis jeder Staatsgüte. Und wird er irgendwo aufgedeckt, so trägt das demokratische Mißtrauen in alle ähnlichen, vielleicht in alle Veranstaltungen der Staatsgüte schlechthin, überall delegitimierend. Die Gleichheit läßt ohnehin Staatsgüte zum Problem werden, davon war bereits die Rede. Im Mißbrauch jedoch wird der Gleichheitsverstoß vollends unerträglich; wenn auch nur irgend etwas von dieser Staatsgrundnorm noch in eine Ordnung aus Staatsgüte hinüber wirken kann, so muß im Namen der Egalität der Mißbrauch der Staatshilfen verhindert werden, mit allen Mitteln. Staatsgüte verliert jede Legitimation, wenn sie in Selbstbedienung endet, wenn diese toleriert würde oder auch nur vorstellbar wäre; nichts hat die modeme Sozialstaatlichkeit derart herabgesetzt in den Augen der Bürger wie der Sozialmißbrauch. Alles was gut ist an der Staatsgüte, schlägt hier in sein absolutes Gegenteil um, wenn konstatiert wird abusus optimi pessimus; keine Staatskritik ist härter als die an der Staatsgüte. Und sie würde durch Mißbrauch ohnehin schon darin ab absurdum geführt, daß dann die Mittel ja niemals ausreichen könnten. b) Mißbraucht werden kann sicher auch der hoheitliche Eingriff, doch hier ist es die handelnde Staatsgewalt, nicht der Profit suchende Bürger, welcher auf Mißbrauch kontrolliert wird, und dazu sind in den letzten Jahrhunderten viele und feine Mechanismen entwickelt worden. Der von der Hoheitsgewalt geschützte, begünstigte Bürger mag gelegentlich auch diese Staatsleistungen mißbrauchen, man denke nur an den bösen Nachbarn des Baurechts, der sich durch das Eingreifen der Bauaufsicht einen kostenträchtigen Zivilprozeß ersparen kann, an den mißgünstigen Wettbewerber, welcher den Staat im Namen eines "verwalteten Wettbewerbs" gegen den Konkurrenten einsetzt, um ihn nicht selbst bekämpfen zu müssen. Doch gegenüber dem Sozialstaat gewinnt dies völlig andere Dimensionen. Gewährt er seine Hilfen auf breiter Front, virtuell überall, so muß er auch allenthalben Mißbräuche bekämpfen, Antimißbrauchs-Mechanismen aufbauen, er wird im Überwachungsstaat enden. In diesen Anstrengungen wider die Erschleichung von Staatshilfen kämpft er gegen die Hydra einer unbegrenzt phantasiestarken Bürgerschaft. Mehr noch: Je mehr er ihr mit seinen Geschenken zu Hilfe kommt, desto sicherer treibt er sie in immer neue Erschleichungen - wer nähme nicht das Kostenlose? So könnte der Staat der Güte enden in einer totalen Entmoralisierung der Bürgerschaft - im Namen der Moralisierung des Staates in Güte.
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In Kauf nimmt jedenfalls eine solche Großorganisation die immanente, in der Historie so häufig bewiesene Uneffektivität des gütigen Staates. Gewiß war "unter dem Krummstab gut leben", in ferner, kirchlich beherrschter Vergangenheit; doch im Kirchenstaat ihrer letzten Jahrhunderte hat dies zu einer beispiellosen, in Staatsgüte sich auflösender Staatsdegeneration geführt, zur Auflösung der Ordnungen in Geschenken, Mißbräuchen, Korruption - und all dies nun wirklich im Namen eines "überall Schenkens" nie etwas Versagens. c) Im Freiheitskapitel ist über all dies zu handeln, denn der Mißbrauchskomplex, wie er sich bei Staats güte entwickeln kann, muß zur schweren Gefahr für alle Freiheit führen: daß sie allenthalben, längst nicht mehr nur bei Staatsleistungen, im Namen angeblicher oder wirklicher Mißbräuche zurückgedrängt wird. Es beginnt schon mit der Beschränkung jener Freiheit, welche sogar der Staatsgüte gegenüber doch immer noch bleibt: der Freiheit zu bitten. Wenn diese Bitten nur ausgesprochen, Anträge nur gestellt werden dürfen "zu etwas", so liegt darin bereits eine Funktionalisierung dieses Freiheitsrestes, der im Grunde den bittenden Bürger völlig aus der Freiheit wirft. Denn sie ist nicht "zu etwas gewährt" - sie ist schlechthin frei, wohin immer sie sich orientiert, was immer sie mit Staatsleistung beginnen will - gerade diese Freiheit aber kann ihr der gütige Staat nicht lassen. Diese grundsätzlich und schwerstwiegend anti libertäre Funktionalisierung der Freiheit wird dann aber, in einer Gemeinschaft der Staatsgüte, nicht bei der Staatsorientierung der Anträge und der Mittelverwendung stehen bleiben, sie wird funktionalisierend alle Freiheit erfassen - und denaturieren. Dazu wird man dann die alte Pflichtendogmatik wieder einsetzen, als angebliche Gegenbegrifflichkeit einer "Kompensation der Freiheit", die aber doch nie, und aus gutem Grunde nicht, im liberalen Staat wirken konnte; der Staatsgüte gegenüber wird alle Freiheit sogleich zielgerichtet, weil jene ja "auf etwas hin" gewährt wird, zur Abdeckung von Defiziten, zur Befriedigung bestimmter Bedürfnisse. Der letzte Schritt der Mißbrauchs-Ordnung gegen die Freiheit ist dann schon vorgezeichnet: Sie wird nicht nur funktionalisiert und darin denaturiert, sie wird einfach beschränkt, zurückgedrängt aus einem MißbrauchsMißtrauen heraus, das sich, mit dem psychologischen Mechanismus allen Mißtrauens, zur Bekämpfung von "unbekannten, möglichen Feinden" rasch zur Staats-Phobie gegen Freiheitsrnißbrauch steigern wird. Die Freiheit wird also degenerieren, wo sie mit Staatsgüte zusammentrifft und von dieser "gerichtet" wird; wo sie sich dennoch halten kann, sieht sie sich ständigem, kaum definierbarem Mißtrauen ausgesetzt. So wird irgendwann einmal das nie voll durchgesetzte in dubio pro Libertate umschlagen, im gütigen Staat,
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in ein in dubio contra Libertatern; und dies wird dann durchgesetzt werden, wenn es nicht heute schon auf dem Weg ist. Was könnte die Freiheit schwerer treffen?
4. Staatsgüte: Gefahr der Materialisierung der Freiheit
a) Freiheit ist das wesentlich Immaterielle; erst in der Entscheidung des Bürgers und über diese wird sie von außen her faßbar, gewinnt sie materiellen Wert, kann sie Gegenstand monetarisierender Entschädigung, kalkulierbaren Schadensersatzes werden. Freiheitsbeschränkung, die doch an sich schwerste Schädigung überhaupt in einem freiheitlichen Staat, hat sich als solche nie entschädigen lassen, die Entschädigungslosigkeit jahrzehntelanger Freiheitszerstörungen im Osten Deutschlands hat dies, wieder einmal, bewiesen, hier wurde die Entschädigungsfrage nicht einmal mehr ernsthaft gestellt, oder auf eine Bagatelle von Entschädigung reduziert; mehr eben gibt der freiheitliche Staat nicht für das, was ihm das Teuerste sein müßte die Freiheit. Sie ist wertlos, weil Chance, gerade aus ihrem Wesen heraus. Dieses an sich unglaubliche Paradox beherrscht die monetarisierte Rechtsordnung seit vielen Jahrhunderten, und der Liberalismus, eine wahre Ideologie der Freiheit, hat dies nur noch bestätigt: Gedanken sind zollfrei warum? Weil sie wertlos sind, Denkmuster ohne Wert. Doch die Freiheit mußte dies hinnehmen, dabei konnte sie doch ihre große Dynamik nur in ihrer grundsätzlichen Immaterialisierung halten; sie ist eben ein "Wert je nach Gebrauch", nicht ein "Wert nach Gebrauch", durch diesen. Faßbar wird sie letztlich doch nur in ihrem Ergebnis, im Gewonnenen, im Eigentum, und wenn sie sich in ihm völlig verliert, so hat sie ihr Wesen verloren. Gerade ein solches Denken wird ihr in einem gütigen Staat zur schweren Gefahr: Helfen kann der Staat seinen Bürgern fast immer nur im Materiellen. Die meisten Staatshilfen sind schlechthin monetarisierte Leistungen. Staatsgüte läßt sich schwer einsetzen zu jener Aktivierung der Persönlichkeit im Sinne der allgemeinen Handlungsfreiheit, die doch vor jedem materiellen Erfolg kommen muß - und dann ja die Staatshilfen, gerade die monetarisierte Staatshilfe wiederum überflüssig werden ließe. Der Schul- und Bildungsbereich bedeutet davon eine große, eine nicht unwichtige Ausnahme, gerade dann, wenn dort zu allgemeiner Bildung Staatshilfe gewährt wird, wenn es nicht nur zur Vermittlung von Ausbildungen kommt, die ihrerseits bereits fast schon etwas wie einen monetarisierbaren, konkreten Eigentumswert darstellen. Der Leistungsstaat wird also, in Güte oder nicht, stets zu einer Materialisierung der Freiheit führen müssen.
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b) Darin aber gerät die eigentliche, die unbewertbare Freiheit in Gefahr. Verstärkt wird ein allgemeines Bewußtsein, nach welchem diese Freiheit aufgeht in einem Haben - in einem erhalten Können. Bevor sie sich überhaupt als solche bewegt, als Freiheit in Erscheinung tritt, richtet sich dabei der Blick des Güte erbittenden Bürgers bereits auf das Ergebnis, auf gewährte Güte, nicht auf aktivierte Freiheit. Dann entfaltet sich das Verhältnis Freiheit-Eigentum nicht mehr so, wie es die Verfassungsrechtsprechung will, daß nämlich das Eigentum letztlich nur Freiheit ist, geronnene Libertät. Das Verhältnis kehrt sich vielmehr um: Freiheit ist nichts mehr anderes als antizipiertes, erhofftes, vielleicht in Staatshilfen bereits vorweggenommenes Eigentum. Was erst Ergebnis der Freiheit sein sollte, der Besitz, wird nicht nur zu ihrer Folge, sondern geradezu ihre Voraussetzung: die materiellen Güter. Am Ende steht dann das Sterben der Freiheit in Eigentum, eine Freiheit nurmehr des Besitzens und des Schlafens, wie sie der schatzbewachende Drache dem Siegfried entgegenhält. Gegenüber der großen Geschenkmaschine mit ihrem unendlichen materiellen LeistungsOutput - was bedeutet da noch die immaterielle Freiheit? Das Unfaßbare eines Könnens, das im Erhoffen untergeht. c) Nun schreckt dies allerdings jene Staatstheorie nicht, welche die materiellen Grundlagen der Freiheit hat entdecken und sichern wollen. Unbekümmert schreitet sie fort vom Freiheitsschutz zur Freiheitsgewährung, immer im Namen eines Schutzes von Schwächeren, welche sich selbst diese Freiheiten, angeblich oder wirklich, nicht schaffen können. Abgeprallt ist an dieser Entwicklung, welche von der mächtigen Sozialstaatlichkeit unserer Tage getragen war und im Grunde nur diese dogmatisiert, die Kritik, sie denke den Marxismus in abgemilderter Form fort, ihn, der ja folgerichtig die materiellen Grundlagen der Freiheit allein im Blick behält und vorgibt, darin erst, Güter verteilend, reale Freiheit zu gewähren. Die Theorie von den realen Grundlagen der Freiheit ist ein großes, aber ein freiheitsgefährdendes Erbe, welches der Marxismus der liberalen Staatstheorie hinterlassen hat, hier zeigt sich ihre ursprünglich gemeinsame historische Wurzel. Wenn Staatsgüte sich darauf beschränkte, nur diese realen Grundlagen der Freiheit zu gewähren, wenn sich ihre Materialisierung darin erschöpfte, so wäre Staatsgüte vielleicht wirklich nichts als eine Plattform der Freiheit. Doch gerade als eine solche läßt sie sich nicht halten, gerade diese Theorie zeigt die unaufhaltsame Materialisierung der Freiheit: Hier werden Freiheitsergebnisse verteilt vor Freiheitsbetätigung - schon dogmatisch ein höchst bedenklicher Vorgang. Nicht aus sich heraus kann also diese Libertät wirken, den armen Einwanderer in die Vereinigten Staaten zum Millionär machen, wie es die große Freiheitslegende der Amerikaner wollte, wie es die Freiheitsstatue verkündet: Freiheit soll schon vorhanden sein müssen, wenn auch bei anderen, und transferiert werden, damit sie
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erstmals zugunsten der Bedürftigen wirke. Dort aber ist sie nur eine kleine Zwischenphase zwischen ihren "realen Grundlagen" und ihren ebenso "realen Ergebnissen", und bald wird diese "Zwischenraum-Freiheit" kaum jemand mehr wirklich schätzen; die Deutschen im Osten waren darin nicht nur weiterhin marxistisch geprägt, sie waren konsequent auch im Sinn dieser westlichen Freiheitstheorien. Grenzen, bis zu denen "reale Grundlagen der Freiheit nötig" sind und zu gewähren in Staatsgüte, lassen sich nie und nirgends überzeugend auffinden. Sie liegen gerade nicht in einer materiellen Existenzsicherung, denn sie zielt auf den quietistisch dahinvegetierenden Menschen, nicht auf den aktiven Freiheitsbürger. Am Ende bleibt hier nichts mehr als Konsumfreiheit, nicht jene "Handlungsfreiheit", die ein so stiefmütterlich behandeltes, und doch so schönes Wort des Staatsrechts war, von seinen liberalen Anfangen an. Wenn sich Grenzen diesen Bedürfnissen nicht ziehen lassen - und dafür wird schon der immer geschicktere Bürger des Sozialstaats sorgen dann wird auch jener kleine Rest der Freiheit in Materiellem untergehen, der vielleicht noch zwischen immer weiter gesteigerter Staatsgüte-Leistung und bescheidener Eigenleistung des Bürgers liegen mag. In all dem kommt es zu einer geradezu globalisierenden Funktionalisierung der Freiheit: Der gütige Staat muß sich die Entscheidung darüber anmaßen, wo er, bis wohin er helfen darf, soll, muß - damit dann der "Freiheitsmotor des Bürgers einsetze" - wo doch gerade über all dies nur einer entscheiden sollte: der Bürger in seiner Freiheit. Die eigentliche und die größte Freiheit ist die, sich ihre materiellen Voraussetzungen selbst zu schaffen, nach dem Bild und Gleichnis der eigenen Persönlichkeit. Gerade in der Theorie von den realen Grundlagen der Freiheit, welche es dann gelten könnte, in Staatsgüte zu schaffen, liegt eine durchgehende Materialisierung der Freiheit und damit des geistigen Menschseins; und Recht hat dann jener Marxismus, der alles eben doch auf Geld und Gut zurückführt, auf Staatsleistung - auf Staatsgüte. Sie als Staatsgrundnorm erfassen, diesen Gedanken auch nur in einzelne Institutionen demokratischer Staatlichkeit hineintragen, bedeutet nichts anderes als den Vätern des Marxismus und ihren gefallenen Helden bestätigen, sie hätten - doch gesiegt.
5. Freiheit: ein Programm für Starke gegen schwächende Hilfen
a) Die demokratische Freiheitsordnung der Grundrechte beruht, in allem und jedem, auf dem Credo, auf der wirklichen Ideologie, daß Freiheit alles bringt, daß alles ihr am Ende hinzugegeben wird, Stärke vor allem und
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Wohlstand. Konsensgetragen ist dies bei der Betrachtung des Kollektivs, der Gemeinschaft als solcher. Daß die Freiheit hier Wohlstand erzeuge, daß aus diesem Wohlstand Stärke erwachse, bis hin zur militärisch gestützten Weltherrschaft, das hat das amerikanische Beispiel bewiesen. Aufruht dieser große Konsens aber auch auf einer individuellen Betrachtung des einzelnen Bürgers, der all dies trägt: Nicht nur Staaten macht diese Freiheit reich und stark, stark durch Reichtum, reich durch Stärke, eben dies soll auch für jeden Einzelnen gelten, und daher ist dies ein Credo der Stärke, eine Ideologie für Starke, nicht für Schwache, welche der gesicherte Geleitzug zurückläßt. Zu wenig wird darüber nachgedacht, daß, schon ökonomisch gesehen, eine vollständige Trennung volkswirtschaftlicher und betriebswirtschaftlicher Betrachtung nicht angeht: Wenn die kollektiv gesehene Bürgerschaft aus Freiheit zur Stärke findet, und darin erst recht ihre Freiheit befestigen und über die Welt tragen kann, so muß dasselbe für jeden einzelnen ihrer Bürger gelten: Freiheit macht nicht nur stark, sie kommt aus Stärke. Sie nimmt gewissermaßen das Ergebnis der individuellen und kollektiven Macht im Bürger bereits vorweg. Deshalb muß die Demokratie den starken Bürger wollen, und überall zielt sie auf ihn: Er soll sich nicht in müder Lethargie zurückziehen und auf Hilfe warten, sondern agieren, diskutieren, über seine Angelegenheiten und die der Gemeinschaft; den Aktivbürger will die Volksherrschaft, der nicht nur wirtschaftlich den Dynamismus der Starken ausstrahlt, sondern ihn in den Staat hineinträgt, ihn, der dem Staat etwas schenkt, seine Zeit und seine Kraft, weil er so viel davon hat - der aber nicht auf Staatsgeschenke wartet, um sie bettelt; den Widerstandsbürger schließlich wünscht sich diese Staatsform, nicht den Schwachen, der nicht einmal die realen Voraussetzungen einer Freiheit mehr schaffen kann, in deren Namen er demonstrieren könnte. b) Und was erstrebt Staatsgüte, was ist ihr "Gegenstand", ihr Objekt? Mit Bedauern muß man die Frage hier so stellen. Sie setzt auf den Schwachen, immer und überall nur auf ihn. Selbst stärker werden soll immer nur er, nicht, ja nicht der Starke stärker. Sobald seine Schwäche überwunden ist, zieht sich der helfende Staat zurück; wenn der Samariter den Geschundenen abgeliefert hat im allumsorgenden Krankenhaus, geht er seines Weges. All dies kommt dem Staat als Machtinstanz gelegen: Denn der Schwache wird ihm nicht Widerstand leisten, seine Häuser nicht mit Mauem umgeben, welche sie zu Festungen gegen den Staat werden lassen, das Horne zum Castle - wie es aber ursprünglich einmal Grundrechtlichkeit wollte. Und Staatsgüte für Eliten - ist dies kein Widerspruch in sich? Wen ein gütiger Gott schon so stark geschaffen hat - unter erstaunlicher Verletzung
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irdischer Gleichheit ... - sollte er denn wirklich auch auf Erden noch den gütigen Staat finden? Staats güte ist nicht nur Camouflage der Macht, sie ist, ganz offen, Instrument des Machtstaats, der sich mit Schwachen umgibt, mit ihnen allein. Die Elite muß ihm Randgruppe bleiben, ist sie denn nicht - staatsgefahrdend, nicht zuletzt darin, daß sie sich nicht will für Schwächere einspannen lassen? c) Hier beschreitet allerdings schon heute ein gütiger Staat, so scheint es, gute Wege: Seine Hilfe macht in aller Regel kaum stärker, eher immer noch schwächer, gerade wenn sie auf breiter Front gewährt wird. Dann können Leistungen ja gar nicht mehr beschränkt werden auf eine Hilfe zur Selbsthilfe, in welcher der gütige Staat sich selbst könnte überflüssig machen; die Staatsgüte trifft dann auf den notorisch inaktiven wie auf den aktiven Bürger, und sie wird dem ersteren um soviel mehr zuwenden, als seine Bedürfnisse eben größer sind, immer größer werden, weil er Freiheit nicht zu ihrer Befriedigung einsetzt, da ja der Staat neben ihm steht. Hilfe sieht sich darin nicht betrogen, sondern bestärkt. Eine Hilfe, welche nach Stärke fragt, ist Widerspruch in sich. Sie will einfach helfen, stärkeneutral, freiheitsneutral; und sie kann sich dabei sogar darauf berufen, daß sie ja die Freiheit erst recht dann schlagen müßte, wenn man von ihr Differenzierungen nach Stärke verlangte - müßte sie dann nicht, in höchster Indiskretion, alle Stärkezentren jedes Bürgers aufsuchen, ausspähen? d) Die Freiheit ist eine große Antithese zu all dem, und damit zur Staatsgüte schlechthin. In unserer politischen Geschichte ist sie immer von Starken gekommen, von schwer gepanzerten englischen Baronen, von schwer bewaffneten, starken Schweizer Bauern, vom geistig und materiel starken französischen Bürgertum der Revolutionszeit. Sie alle wollten, im Namen ihrer Stärke, nicht um Güte bitten, sondern Rechte durchsetzen. Ihre Aktionen, ihr ganzes Verhalten war völlig und grundsätzlich hilfeneutral, anspruchsorientiert. Der gütige Staat aber muß und will auch den einzelnen Bürger immer schwächer werden lassen, und er bedient sich dazu seiner großen List der Vernunft, der Gleichheit, in welcher er die Ansprüche der Starken gleich kleinschneidet denen der Schwächeren, der Schwachen. Auf Dauer muß darin ein Denken in Freiheit sich abschwächen, am Ende diese nicht untergehen, sondern vergessen werden. 6. Staatsgüte als Zwang - gegen Freiheit
a) Gegen die Starken in der Gemeinschaft, zugunsten der Schwächeren, setzt die Staatsgüte nicht nur nivellierende Geschenklichkeit ein, sie drängt die Freiheit der Starken zurück, indem sie ihnen ständig Mittel entzieht, in einer laufenden Umverteilung der Freiheit. Mittel müssen ja bereitgestellt
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werden für all dieses Gute, welches der Staat zu tun sich vornimmt, der erste Akt der Staatsgüte ist ein immer radikalerer Abgabezwang auf Stärkere. Der Freiheit wirkt dies bewußt diametral entgegen. Ihrem Wesen entspricht es doch, daß sie nicht um sich herum Wüsten schafft, in denen sie sich bewegen kann, weil sie niemandem begegnet, sondern daß sie sich ständig messen darf mit den Kräften anderer, diese überwindend, zurückdrängend, daß sie eben stärker werden darf als der Nächste. Dies ist der unauslöschliche, in primitivierender Kritik als Egoismus gebrandmarkte Zug der Freiheit zur Selbstverstärkung, bis hin zu· einer kaum geahnten, nicht vorhersehbaren Kettenreaktion von Kräften im einzelnen Bürger und in der Gemeinschaft. Gezügelt mag sie werden, aber nut damit sie nicht zerstöre, nicht mit dem Primärziel, ihr jene Energien zu entziehen, welche sie doch freisetzen soll. In der modemen Sozialstaatlichkeit ist das Bewußtsein für die moralische Kraft, für das ethische Wesen des kategorischen Imperativs nahezu völlig verloren gegangen: daß jeder so zu handeln habe, daß seine Maxime zur Richtschnur für alle werden könne. Der Starke kann dies überzeugt als Maxime seines Lebens verkünden - würden dann nicht alle anderen auch stark werden wie er? Gesellschaft, Medien und Staat predigen es täglich anders, in gebetsmühlenhaften Wiederholungen der Kritik gegen die "rücksichtlose Gesellschaft". Fast scheint es, als trage der kategorische Imperativ zur Maxime der Schwachen: Laßt uns alle schwach werden - dann hilft gleichmäßig der gütige Staat. Daß der kategorische Imperativ individuell gedacht war, daß er keinen allgegenwärtigen Helfer voraussetzte, daß dies eine Maxime der Stärke sein sollte - all dies ist kaum mehr bewußt. So droht die Staatsgüte zur moralischen Denaturierung der kantischen Moral zu werden, die doch als der höchste Ausdruck individueller Freiheit am Anfang von deren Entwicklungen in neuester Zeit gestanden hatte. Die Freiheit droht sie zu zerstören in einer ständigen Umverteilung von Freiheiten, durch Umverteilung von deren Ergebnissen, in den massiven, laufenden Freiheitseingriffen der Abgabengewalt. Was wäre eine Freiheit, deren Ergebnisse man in solchem Umfang ständig entziehen dürfte, in einer Weise, aus der dem Betroffenen kaum etwas greifbar zurückkommt, weil es unmittelbar in die Taschen der Schwächeren fließt? Mehr noch: Darin liegt letztlich eine Negation des Freiheitsbegriffes als solchen, der bereits an der Wurzel gebrochen wird, muß er doch immer höheren Wegezoll leisten, nicht damit man sich frei auf sicheren Straßen bewegen könne, sondern damit andere sich weniger zu bewegen brauchen. Freiheit blickt, sprechen wir es aus, nicht auf den Nächsten, sie will sich selbst verwirklichen. Wer sie unter einen immanenten Vorbehalt der Hilfe für Schwächere stellt, wird diesen Einschränkungen kaum faßbare Grenzen 18 Leisner
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setzen können; von dieser unter solchem Vorbehalt stehenden Freiheit wird dann so wenig erhalten bleiben wie von einer Eigentumsfreiheit, welche sich unter den Vorbehalt des Gesetzes gestellt sieht. Staats güte als Großmechanismus der Umverteilung von Freiheiten muß notwendig den nahezu omnipotenten Steuerstaat hervorbringen, dessen Freiheitsgefährdung so oft schon klar erkannt worden ist. Der gütige Staat ist letztlich nicht selbst der Gute, er zwingt seine Bürger in eine Güte, welche sie aber in Freiheit gerade nicht wollen - müssen. b) Ganz deutlich und unmittelbar tritt der gütige Staat an zur Beschränkung der Bürgerfreiheit, wenn er den einen zur Güte zwingt gegenüber dem anderen. Damit erzwingt er ein bestimmtes Verhalten, und dies ist unvereinbar mit der Freiheit. Sie ist ihrem Wesen nach das Ungerichtete, sie gewährt eben auch das Recht, gerade nicht gütig zu handeln, sondern in hartem Egoismus sich selbst zu verwirklichen. Wer ihr die Richtung der Güte aufzwingen will, funktionalisiert diese Freiheit, letztlich liegt darin ihre grundsätzliche Negation. Schon jede Aufforderung zur Güte, zur Hilfe für den Nächsten, beginnend mit dem Staatsappell, sollte eigentlich in einem Staat der Freiheit keinen Platz haben. Gütig wird der Bürger dann handeln, wenn ihm dies seine individuelle Ethik vorschreibt, oder seine Religion. Der Staat oder von ihm angeregte Medien als Moralprediger - das ist keine Erscheinung freiheitlicher Demokratie. Gemeinnützigkeit, welche Güte nahelegt, darin gleich beide Seiten fördern will, den gütigen Stärkeren wie den bedürftigen Schwächeren, ist durchaus problematisch im Blick auf die Freiheit, denn sie lenkt diese, verwandelt sie in ein Hilfsorgan des gütigen Staates, und gerade darin wird sie nur zu oft zum "freiwilligen Zwang". Doch darin bleibt die Staatsgüte, wird sie denn ernst genommen, ja nicht stehen, sie nötigt, mit Gerichts- und Polizeigewalt, den Bürger-Arbeitgeber, den Bürger-Vermieter zu einem ganz bestimmten Guten, zu einer ganz bestimmten Güte, welche er seinem Partner erweisen muß - darin aber liegt eine schwerwiegende Funktionalisierung der Freiheit: Der Eigentümer muß sie nun eben auch im Interesse des Mieters gebrauchen, der Arbeitgeber unter Beachtung der Belange des Arbeitnehmers, vielleicht sogar noch einer staatlichen Gemeinschaft, welche mehr Arbeitsplätze fordert - damit ihr mehr Geld bleibe, um von Staats wegen gütig zu sein. Man hat darin einen allgemeinen Gesellschaftsvorbehalt der Freiheit sehen wollen, welche in "sozialen Bezügen" nicht egoistisch mißbraucht werden dürfe; hat man aber darüber nachgedacht, daß eine Freiheit unter so allgemeinem Gesellschaftsvorbehalt, im Namen der Staatsgüte, doch den Namen der Freiheit kaum mehr verdient, daß Staatsgüte dann nichts anderes mehr ist als erzwungene Bürgergüte - Zwang zum Guten?
IV. Freiheit - von Güte und auch zur Nicht-Güte
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Die klassische Rechtsordnung des Privatrechts kennt derartigen Zwang zur Güte nicht, ihm ist sie auferlegt worden in klarer nicht Fortentwicklung, sondern Veränderung der herkömmlichen Strukturen des Privatrechts. Sittenwidrigkeit, Rechtsmißbrauch mochten immer Grenzen darstellen in den Beziehungen zwischen den Bürgern; doch nie beinhalteten sie das Verbot, Schwache noch weiter zu schwächen, oder gar das Gebot, dem Schwachen zu helfen, aus Güte. Selbst das Ergebnis wirtschaftlicher Vernichtung wurde von diesem klassischen Privatrecht stets in Kauf genommen, die Mittel nur sollten den guten Sitten, Treu. und Glauben entsprechen; wer dies befolgte, dürfte stärker werden, in Freiheit. Die Gleichheitsordnung des herkömmlichen Privatrechts hat nie einen Zwang zur Güte zwischen den Bürgern gekannt, systematisch ist dies, an vielen Stellen, dem als liberalistische Beliebigkeitsordnung kritisierten Zivilrecht von Staats wegen durch Machtentscheidung der Herrschaft aufgezwungen worden. Zu denken geben sollte, daß das öffentliche Recht im Begriff ist, die privatrechtlichen Grundlagen des Rechts als einer Austauschordnung auf breiter Front zu überrollen, einer Rechtsordnung zwischen Bürger, in der sich in langer Vergangenheit viel von jener Freiheit, jenseits von äußerem Zwang, doch immer noch erhalten konnte, die man heute von Staats wegen, durch Verfassungsgebot, im öffentlichen Recht durchsetzen will. Wann wird das allgemeine Bewußtsein sich dafür schärfen, daß die Freiheit in ganz anderer, viel stärkerer Weise im klassischen Privatrecht gewährleistet war - und es noch heute ist - als ein öffentliches Recht sie zu sichern vermöchte, welches sie neuerdings im Namen der Staatsgüte auch noch hoheitlich beschränkt? Dieses Kapitel mag denn auch zu einer grundsätzlichen Erkenntnis führen: daß das Recht in all seinen Ausprägungen, gerade auch das öffentliche Recht des Staates, wieder zurückfinden sollte zu den Ursprüngen allen rechtlichen Denkens, zu den ganz einfachen und doch in ihrer Komplikation unerreichten Beziehungen zwischen Bürgern, die nur eines wirklich zu ordnen vermag: Austauschgerechtigkeit in Freiheit, nicht Staatsgüte als neue Macht. Am Ende dieser Betrachtungen zu den Staatsgrundnormen der gegenwärtigen Demokratie in ihrem Verhältnis zu einer möglichen Staatsgüte als Staatsgrundnorm hat sich gezeigt, daß insbesondere Freiheit und Staatshilfe wahrhaft zwei Welten sind. Jene Freiheit, aus welcher die gegenwärtige Verfassungslage ihre grundsätzliche Legitimation ableitet, bildet ein völlig anderes Koordinatensystem, als es das des überall helfend eingreifenden Staates wäre - denn so muß man die Staatsgüte sehen. Auf Freiheit läßt sich dieser Staat nur gründen, wenn sie überall ist, wahrhaft Staats grundlage und Staats ziel zugleich. Für Staatsgüte gilt das Gleiche im umgekehrten Sinn: Überall muß sie die Freiheit funktionalisieren, einsetzen zu ihrer IS"
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F. Freiheitliche Demokratie: Staatsform gegen Staatsgüte
Umverteilung, nicht nur der Güter, sondern eben der Freiheit. Hier zeigt sich eine ganz tiefe Antithetik - mit ihrer Betrachtung soll die Untersuchung enden.
G. Staatsgüte: eine unüberbrückbare Antithese zur freiheitlich-egalitären Demokratie J. Das Denken in Antithesen In allen bisherigen Betrachtungen, zur Demokratie, zu den Ordnungskräften moderner Staatlichkeit wie zum Wesen der Macht, wurde immer, wenn auch in vielfachen Verbindungen, Verschlingungen, in Gegensätzen gedacht, in jener Dialektik, aus der heraus sich eben, seit der Aufklärung, der moderne Verfassungs- und doch Machtstaat entwickelt hat. Abgelöst wurde von ihm die monoteistisch gedachte Monokratie auf Erden, ein Ancien Regime, zu dem kein Weg mehr zurückführt, nicht nur weil sich die Kräfteverhältnisse in der modernen Gesellschaft verschoben haben, sondern weil sich ihr Denken gewandelt hat: Es kommt aus einer Kritik, welche Gegensätze nebeneinander stellt, dieses Nebeneinander erträgt, aus ihm und seiner Wechselseitigkeit gerade Dynamik und Kraft schöpft, in einer Hoffnung, die das System seinen Bürgern mit Blick auf das Jenseits nicht mehr geben kann. So sei hier an die drei Grundannahmen einer Antithesen-Theorie erinnert, in welcher dieses Denken aufgenommen und systematisiert werden muß: - Die gegensätzlichen Positionen, Kräfte, ja Mächte stehen nebeneinander und so bleiben sie stehen, entwickeln sich in einer Parallele, die sich nicht einmal im Unendlichen schneidet: So die Staatsgüte neben der egalitären Freiheit, die sich gegenseititg nicht nur nicht kennen, sondern negieren. - These und Anti-These verstärken sich aber wechselseitig, selbst ohne daß sie sich in einer dialektisch gefundenen Synthese durchdrängen: Die Staatlichkeit ist und bleibt auf beiden gegründet, auf einer Spannung zwischen Gegenpolen, die sich halten, auf der sie gerade ihr Machtgebäude errichten muß. - Wenn es überhaupt zu einer Synthese kommt - und dies ist nicht notwendig, vielleicht wäre sie, voll verwirklicht, das Ende der Machtkräfte - so muß, so kann diese nur in ständig wechselnder Flexibilität gelingen, worin die Volksherrschaft ihre alte Legitimation einer Volonte de tous les jours wiederfindet; und gerade diese Synthese wirkt dynamisierend, sie treibt in eine Einbahn des Fortschritts, welche der Reaktion, der RückWirkung nicht bedarf, weil sie ihrerseits ins Unendliche sich fortsetzen will und kann, von keiner Mauer des Erreichten in ihre Vergangenheit zurückgeworfen.
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G. Staatsgüte: Antithese zur freiheitlich-egalitären Demokratie
11. Macht der Geschenke Spannung von Macht und Moral Unüberbrückbare Spannung, unvereinbare Antithesen haben sich gerade in den hier zu Ende gehenden Untersuchungen zur Macht gezeigt: Hier der ordnende Machtstaat der Gesetze, welcher seine inneren Spannungen von Gleichheit und Freiheit auf diesem Wege ausgleichen will - dort eine wahrhafte Vita nuova des Staates, aus einem bedürfnisbefriedigenden Helfen, das aus ethischen Gründen selbst über alle Normen hinweg geht, dem sie allenfalls sekundäre Instrumente sind. Beides steht unauflöslich nebeneinander und wird doch stets, ja zunehmend gleichzeitig, in einem Parallelismus verfolgt, der blind ist für den Nebenweg. Keine der beiden Denkformen im Grunde sind es eben doch nur die bisher, wenn auch ohne erforderliche Vertiefung, als Rechtsstaat und Sozialstaat bezeichneten - kann allein den heutigen Staat erfassen, nicht in einer von ihnen allein läßt er sich voll denken, vor allem aber total legitimieren, wirklich überzeugend. Seine notwendige Dynamik, wie er sie weder allein in der Statik des Gesetzes noch im Quietismus der Hilfen finden kann, kommt ihm aus jenem ständigen Hin und Her, von der These der Norm zur Antithese der Geschenke. Eine Synthese, wenn überhaupt, ist nur darin in Sicht, daß beides, jeweils auf seine Weise, eines stützt und befestigt: den Machtstaat. Und so wächst dieser sogar in dem, was alle Bürger und alle Herrschenden am Ende doch als einen wirklichen Gegensatz empfinden: in der Spannung von Macht und Moral - sie wird zu immer noch mehr Macht gesteigert, mögen auch ethisch Denkende darin eine späte Herrschaft der Philosophen sehen, den Sieg ihrer Moral über die Gewalt. Wohl könnte es sein, daß in dieser unaufgelösten Spannung sich im letzten nicht Kraft findet und entlädt, daß sie vielmehr im Grunde Ausdruck einer Schwäche degenerierender Machtstrukturen ist: Nichts soll eben aufgegeben werden von dem, was Traditionen gebracht, angehäuft, verkrustet haben, alles wird zur Errungenschaft, der Rechtsstaat wie der Sozialstaat, und darin könnte eines Tages die Dynamik der Staatlichkeit selbst erstarren, so daß dann über alle Machtmechanismen das eine Machtwort tritt, welches in Theokratie auf Erden zurücklenken will. Die Macht der Geschenke ist kein Dritter Weg zwischen Gewalt und Freiheit, sie ist selbst ganz und gar Macht, ja Gewalt; das sollten diese Blätter belegen. Hier kann keine Synthese gelingen, wie sie staatsrechtliche Naivität seit Jahrzehnten zwischen Rechtsstaat und Sozialstaat sucht, ökonomische Simplifizierung in der sozialen Marktwirtschaft. An einem großen, vielleicht bedrückenden Beispiel haben die Betrachtungen zur Staatsgüte vielmehr eines wieder einmal gezeigt: Moderne - und wohl auch Postmoderne - des Staates können nicht auf Dritten Wegen sich bewegen,
III. Staatsgüte: Letzte Steigerung der inneren Spannungen der Macht
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nicht in einer Zusammenschau gedacht werden, die längst gefunden wäre, gäbe es sie denn. Arbeitgeber und Arbeitnehmer. werden einander weiter gegenüberstehen, der Bürger der Polizei des Staates, der eine immer eine personifizierte Absage an den anderen - und so auch das Staatsgeschenk und der Staatseingriff. Wenn überhaupt etwas sie eint, so ist es nur eines: daß sie beide dasselbe hervorbringen - Macht.
IH. Staatsgüte: Letzte Steigerung der inneren Spannungen der Macht Die ganze Größe des Machtbegriffs, des Staates als ersten Vertreters der Macht, liegt nun eben darin, daß es dieser höheren Fonn der Gewalt gelingt, ihre eigenen inneren Spannungen auszuhalten und gerade in ihnen immer stärker zu werden. Frühere Betrachtungen haben dies gezeigt in der Antithese von Wille und Erkenntnis, die aber beide die Macht tragen. Der Abwägungsstaat errichtet seine Macht über den zahllosen Gegenpositionen, welche er in Ausgewogenheit zusammenführen will - im Grunde: nebeneinander stehen läßt, ,jedem das Seine" - jedem "eben etwas" zusprechend. Der erkennende wie der abwägende Staat verzichten auf das Durchschlagende der Gewalt und gewinnen doch spannungsgeladene, spannungsgetragene Macht, gerade darin. Im Unsichtbaren Staat geht dieses Ertragen von Spannungen noch weiter: Hier akzeptiert die Gewalt sogar ihr absolutes Gegenbild - sie sucht die, angebliche oder wirkliche, Nicht-Gewalt, einen Unsichtbaren Staat, der vielleicht gar nicht mehr ist, jedenfalls dem Bürger sein Sterben, bis in die Inexistenz, ständig vorspielt - und doch gerade darin lebendiger bleibt als eine Gewalt, die in dauerndem Durchbrechen am Ende zerbricht. Hier nun war es die Gegensätzlichkeit von Güte des Schenkens und Gewalt des Eingriffs, welche die moderne Macht auszuhalten in der Lage ist, und dies ist nicht nur List der Vernunft, es ist eine wirkliche Fonn von Vergeistigung. Mehr noch als aus einer - immer blassen - Erkenntnis kommt der Macht aus einer Güte, welche sie offen als ihr Instrument einsetzt, eine unvergleichliche Legitimationskraft: In einem wirklichen Gegensatz kann sie ihre Beschränkung verkünden - und zugleich sich aus neuen Tiefen-Kräften der Ethik aufladen. Nun bleibt eigentlich nur mehr eine Frage: Kann sich eine derart in Spannung hochwölbende Macht ihre venneintlichen oder gar wirklichen Beschränkungen zunutze machen, zu eigen, um - allmächtig zu werden wie jener Gott, den sie auf Erden nicht mehr repräsentieren, sondern ersetzen will: unsichtbar und darin unangreifbar; abwägend und darin auf die Gewalt des Durchgriffs verzichtend; wahr und also nicht Ausdruck beherr-
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G. Staatsgüte: Antithese zur freiheitlich-egalitären Demokratie
schenden Willens; gütig schließlich in einem Sich-Verströmen, in dem dennoch der Staat nicht abstirbt? Diese vier zentralen Attribute monotheistischer Göttlichkeit - kann sie die Macht des Staates der entwickelten - oder der späten - Demokratie so weit hochsteigern, daß die fünfte und krönende Eigenschaft des Uralten Heiligen Vaters erreicht wird: Allmacht? Dieses Wort ist doch schon angelegt in den bei den letzten großen Spannungen, die hier betrachtet wurden: im All-Wissenden und im All-Gütigen; das erste ermöglicht, das zweite rechtfertigt die Allmacht.
IV. Die letzte Frage: Staatsgüte und Gewalt - Synthese zur Allmacht? 1. Allmacht - nicht Allgewalt
Staatsallmacht ist nicht mehr nur ein Wort der Staatskritik, es ist bereits ein Begriff des Staatsrechts. Die höchste Säkularisierung religiöser Begrifflichkeiten stellt es dar, kommt es doch von jenem Gott, dem der Staat auf Erden nachzuleben sich anschickt. Viel Hoffnung liegt in diesem Wort, vor allem aber eine: daß dieser Allmächtige - sei es im Jenseits oder auf Erden - seine unendlichen Kräfte gerade nicht voll einsetzen werde, damit alles Menschliche erdrückend, alle Freiheit. Dies war bereits christlich-theologische Überzeugung in der Lehre von einem Gott, der den Menschen eben doch wesensmäßig freie Entscheidung belassen werde - es ist dem Staat gegenüber auch mehr Hoffnung als Gewißheit, daß dessen immer und überall erkannte Allmacht, mag sie nun mit Worten wie Aufgaben-, Organisations-, Gestaltungsfreiheit verniedlicht werden, eben doch nicht ganz je zum Einsatz kommen werde. Beschränkt sich dieser vielleicht doch allmächtige Staat denn nicht geradezu selbst, in seiner Verfassung, in welcher er sich den Bürgern nähert, fast schon wie einer von ihnen? Und liegt hier nicht eine ganz große Analogie zu jener transzendenten Selbstbeschränkung Gottes, in welcher dieser sich in der Inkarnation zu den Menschen neigt? Allmacht wird hingenommen, wo die Hoffnung bleibt, daß sie sich selbst beschränke, gerade um ihrer Allmacht willen, die sich zu höchst darin zeigt. Omnipotenz kann eben, so scheint es wohl, von Menschen nicht als Alles leistend gedacht werden, sondern nur als Alles vermögend, beherrschend, gerade herrschend über eine noch immer belassene Freiheit. Könnte da nicht der allmächtige Staat gedacht und entschärft werden als eine Macht, die sich darin beschränkt, "daß nichts mehr außerhalb von ihr sei", daß sie, wie ihr alter Gott, "alles in allem" sei, räumlich, zeitlich und, jedenfalls virtuell, auch kausal - aber eben in potentia, wie die Scholastik es ausdrücken würde, nicht in actu? Ist dieser Staat, dessen Allmacht so
IV. Staatsgüte und Gewalt - Synthese zur Allmacht?
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doch zu ertragen, ja zu erstreben wäre, nicht nur eine Ordnung, welche alle Gegenkräfte machtmäßig in sich einbezieht - indem er sie bestehen läßt als autonome Provinzen, die sich wohl auch bekriegen mögen, darin aber dem Gesamtreich nur noch mehr Macht vermitteln, nur noch mehr Überzeugungskraft, gerade in diesem ihrem höchsten, ihrem föderalen Mit- und Gegeneinander? Ist nicht Staatsallmacht dort, wo Moral, Erkenntnis, abwägende Gerechtigkeit, ja der offene Widerstand gegen den in Unsichtbarkeit verdärnmenden Staat hingenommen, geduldet - und eben gerade nicht aufgelöst werden, weil die größte Kraft dieses Staates darin liegt, daß er zwar dies alles vermöchte, aber auf all dies verzichtet, zu allerletzt in einer höchsten Güte, welche nicht zugreift, sondern emporhebt?
2. Über Verfeinerungen der Macht doch zur vernichtenden Allmacht? Am Ende solcher Betrachtungen häufen sich nicht Erkenntnisse, sondern Fragen. Liegt in all dem, was hier noch einmal zusammenfassend angedeutet wurde, denn wirklich die größere Güte einer sich selbst beschränkenden Allmacht, in welcher die Omnipotenz des Staates denn doch erträglich würde? Sind all dies nicht doch nur Techniken der Macht, auf ein einziges Ziel gerichtet: daß diese alternativlos werde, um den neuen Begriff für Allmacht zu gebrauchen? Neue Kategorien, ja Nomenklaturen, schieben sich ja allenthalben in die alten Worte, mit denen einst Herrschaft offen und ehrlich als Gewalt beschrieben wurde. Stehen wir heute nicht vor Hochentwicklungen der Staatslehre, hin zu einer Machttechnik - und vielleicht sind beide schon eines - über welche eben doch eine Allmacht erreicht wird, die nur dann diesen Namen verdient, wenn sie gefährlich ist, vernichtend für die Freiheit des einzelnen Menschen? Der Leviathan ist die furchtbare Verkörperung menschlicher Angst vor dieser Allmacht auf Erden. Kein Zufall ist es, daß er gedacht und beschworen wurde in jenem Augenblick, in welchem erstmals die göttliche Allmacht in Rationalismus zu verdämmern begann, die irdische Allmacht sie zu ersetzen sich anschickte, im schrankenlosen Willen des Englischen Parlaments, welcher die omnipotente Volonte generale Rousseaus um Generationen vorwegnahm. Das Monstrum wurde dann, in der Französischen Revolution, in die glänzenden Kleider der Freiheit gehüllt, doch rasch ist es ihnen wieder entschlüpft, nicht als gewaltspeiender Drache, sondern als geschmeidige Schlange, welche mit den Schuppen ihrer Gesetze begann, langsam die Freiheit zu erdrosseln. Dieses schöne Ungetier hat die Staatslehre des neunzehnten Jahrhunderts gepriesen, ja angebetet - bis es im zwanzigsten Jahrhundert sein scheußliches Haupt der Gewalt wieder erhob. Mit dieser Angst vor der Omnipotenz des Staates wird entwickeltes Staats-
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G. Staatsgüte: Antithese zur freiheitlich-egalitären Demokratie
denken auch in Zukunft leben müssen. Nur auf eines kommt es dabei an: daß sich diese Legisten der Macht nicht immer wieder täuschen lassen von dem erkennenden, weisen Staat oder von der gütigen Staatlichkeit. Sie wird sich stets von neuem verharmlosen, in Spannungen, welche sie sogar noch selbst aufbaut und verstärkt. Und doch bleibt die Gefahr, daß gerade ein derart in Antithesen, Spannungen und Kritik unangreifbar gewordenes Monstrum nach der Staatsallmacht greift. All diese Antithesen, wie sie hier beschrieben wurden, mag man mit herkömmlichen Denken nicht auflösen können; bleibt nicht doch eine letzte, vernichtende Synthese möglich: die Staatsallmacht, das Ende aller Freiheit?
3. Die Hoffnung: UIÜähigkeit der Herrschenden zur Allmacht Eine Hoffnung bleibt, gegenüber diesem sich immer weiter perfektionierenden Staatsdenken, das am Ende noch nach der Staatsallmacht greifen könnte: All diese Instrumente, wie sie hier in kaum mehr überschaubarer Vielfalt sich gezeigt haben - sie alle kann kein lebender Mensch, und schon gar nicht können sie die kleiner gewordenen Gestalten unserer Tage zu wahrer Staatsallmacht orchestrieren. Dem Gläubigen wird dies selbstverständlich erscheinen: Seinen Gott kann kein Mensch kopieren. Und am wenigsten ist wohl die Demokratie Gottes Abbild auf Erden, allmachtfähig wie er. Die Herrschenden, welchen sie ihre Macht anvertraut, sind letztlich machtmäßig Traditionslose, dies ist eine Staatsform der Parvenus, welche stets von neuern, immer aber wesentlich un-gebildet an die Macht kommen, aus Zufällen meist heraus, nicht aus ewigem Rat, aus langer Planung und Erziehung. Die Demokratie wirft ihre Herrschenden stets in die Ängste unvorhersehbarer Abberufungen, und daher ist sie die wesentlich unberatbare Staatsform, wie sich immer wieder in diesen Betrachtungen gezeigt hat, ruht sie doch nicht in der ratsuchenden Sicherheit der Fürsten, sieht sie doch im Rat nur Taktik, nicht einen Weg zu Erkenntnis und Moral. Dies ist eine zusammengelaufene Staatsform, nicht eine zusammengesehene - eine zusammensehende. In Unvorhersehbarkeiten bewegt sie sich - und gerade darin ist sie Gott so unähnlich und seiner Allmacht so fern. Getrieben wird sie ständig von wechselnden Listen ihrer mäßigen Vernunft, sie gereichen ihr oft zum Guten, doch kaum je ist sie sich dessen wirklich bewußt. Etwas Instinktives, etwas vom Volksgefühl ist eben in dieser modernen Staatlichkeit, die nichts hat und nichts haben will von unendlich planendem Überblick. Gutmütig ist sie zu Zeiten - nicht aber wirklich und dauernd gut. Kein Staatsrecht, keine politische Wissenschaft wird also die Herrschenden unserer Epoche so viel an Machttechnik lehren können, daß sie all
IV. Staatsgüte und Gewalt - Synthese zur Allmacht?
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diese Spannungen erkennen, sie bewußt aushalten, daraus Kraft ziehen, aus ständigen Abwägungen, in einer wahrhaft göttlichen Mäßigung ihre entscheidende Kardinaltugend gewinnend. In der atemlosen Hektik der Machtverfolgung werden sie immer allzu rasch Macht beweisen und durchsetzen wollen, aus einem tagtäglichen Willen heraus - der immer wieder an seinen vielfachen Antithesen scheitern wird, an einer Kritik, die er ruft, bevor er die "Allmacht" erreichen kann. So werden diese Herrschenden unserer Tage vielleicht in bürgerbefragender Machtsorge weiter die Ordnung dem Geschenk opfern - doch eben darin werden sie unglaubwürdig, korrupt, macht-schwach. Die Erkenntnis werden sie hinter den Willen zur Macht zurücktreten lassen, das abwägende Gesetz dem ordre de Moufti ausliefern. In all dem aber stößt dann "die Macht" an ihre große Antithese, die Anarchie, und sie muß an ihr immer wieder sich brechen. Gerechtigkeit, Erkenntnis, Moral - die Herrschenden werden nicht die Kraft haben, sie in wirklicher Spannung einzubauen, sie zu ertragen in ihren Machtstrukturen, so daß sie ihnen zu einer ruhigen, alles überhöhenden Allmacht verhelfen könnte - die dann vielleicht nicht einmal mehr allzu gefährlich würde, wenn der Leviathan, und sei es auch nur die schöne geschmeidige Schlange der Macht, darin zur Ruhe käme. Nicht dies wird sich vollziehen, nach aller Voraussicht, sondern diesen allmächtigen Staat wird es schon gar nicht geben, weil es eben nicht Menschen als Träger und Gefäße der Allmacht gibt, weil jede Machttechnik ihre Antithese rufen wird, ihre Antirnacht. Und so ist dies eine tröstliche Beruhigung in den Ängsten vor dem Levianthan.
4. Noch eine Hoffnung: Grenzen der Machtverschleierung
Viel war von Verschleierung der Macht in diesen Betrachtungen die Rede, die Untersuchungen zum Unsichtbaren Staat, zum Abwägungsstaat und zur Staatswahrheit - hier schließlich zur Staatsgüte - hatten immer ein Thema: die Camouflage der Macht, die sich hinter all diesen schönen Worten und gütigen Taten eben doch nur versteckt. Ein Staat vielleicht der Doppeldeutigkeiten, bis hin zu einer Ordnung der Lügen - das war eines der Generalthemen all dieser Betrachtungen, und gerade in der letzten, zur Staatsgüte, hat sich dies immer wieder zum ethischen Vorwurf gesteigert: daß die Macht gerade im Guten das Schlechte suche, ihre Gewalt in der Macht der Geschenke. Doch auch hier ist nun die Antithese gefordert, gegen den Leviathan der Mensch, Hoffnung aus ihm: daß sich die Macht eben doch nicht immer nur verstecken kann, daß es ganz wesentlich, nicht geben kann eine "Macht nur hinten herum", daß irgendwann die Schleier zu kurz fallen, daß wirklich ein König in neuen Kleidern einherschreitet ...
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G. Staatsgüte: Antithese zur freiheitlich-egalitären Demokratie
Der allmächtige Gott hat sich immer "zeigen" müssen - seinem auserwählten Volk erschien er, seinen Gläubigen in Zeichen und Wundem, den Alten als Zeus in Blitz und Donner. Auf die Allmacht wurde gehofft, sie wurde herbeigebetet, doch furchtbar stand sie immer vor den Menschen im Tod und in der Angst vor dem Gericht. Der modeme Staat hat diese Schreckensmacht verloren, hat sie sich selbst genommen - gerade in den hier in vielen Nuancen beschriebenen Verfeinerungen seiner antithetisch aufgebauten Macht; ihr fehlt der Schrecken zur letzten Allmacht; es muß aber wirklich ein Allmächtiger sein, der allgütig sein darf. Der Staat jedoch will gütig sein - noch bevor er allmächtig ist, und eben diese Güte zur Allmacht steigern; dies wird und kann ihm nicht gelingen, seine Güte wird ihm als Schwäche ausgelegt werden, immer wieder, und sie ist eine solche. Hier führt auch der Weg zurück vom Leviathan zu den Menschen, die ihn eben nicht perfekt spielen können, weil es ihnen nicht gelingt, so völlig sich zu verschleiern. Wenn sie getragen, ja getrieben sind von einem Willen zur Macht, wenn ihr Wille immer wieder in Macht durchbrechen will, so wird er sich gerade darin schwächen, bevor er Allmacht erreicht. Als Wille muß er sich eben zeigen, die allmächtige Kraft der Verschleierung, welche der unsichtbare Gott ausübt - Menschen ist sie versagt. Und so wird der Wille zur Macht zur Grenze der Allmacht, zum Schutz der Freiheit vor ihr.
S. Keine allmächtigen Menschen: Grenzen der Macht
So kann denn die Frage nach der Allmacht, die letzte, welche sich einer Betrachtung staatlicher Macht, der Macht als solcher, stellen muß, doch in einige Beruhigung münden: Machttechnik mag entfaltet werden, in all dem, was hier betrachtet wurde, nicht zuletzt, am gefährlichsten vielleicht, in Staatsgüte. Doch letztlich bedeutet jene Macht, welche all dies dem Staat bringen soll, daß er "darüber steht", daß er herrscht, wie immer dies geschieht. Letztlich aber steht eben nicht "Staat über Bürgerschaft", sondern "Mensch über Mensch", so wird es empfunden. Macht aber werden die Gewaltunterworfenen - die Menschen als solche - im großen nicht mehr hinnehmen. Unterwerfen mögen sie sich Herrschaftsmechanismen, in einem gewissen Gleichmut, der auf die Vergänglichkeit dieser Belastungen hofft, sie geschichtlich ja auch weiß. Unter allmächtige Menschen aber werden sie sich nicht beugen, dafür ist ihnen schon allzu viel an Freiheit geschenkt worden. Vielleicht ist es nicht zuviel gesagt: Wenn der alte Gott stirbt, stirbt auch die Allmacht auf Erden. Menschen konnten immer nur im Blick auf den allmächtigen Gott allmächtig werden im Diesseits.
IV. Staatsgüte und Gewalt - Synthese zur Allmacht?
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Oder sollte es zum gewaltigen Umschlag kommen: daß die Menschen, in Freiheit hochentwickelt, den sichtbar Allmächtigen auf Erden, den Staat erschlagen, im Namen ihrer Freiheit - und daß sie dann, gerade deshalb, wieder an den Unsichtbaren Allmächtigen im Jenseits glauben können? Dann wäre dieser zwar doch wieder ein "Gott nach ihrem Bild und Gleichnis" - aber es wäre ein Gott der Allmacht und der Allfreiheit. Und über aller Macht würde dann wieder sichtbar, was dort in zeitloser Ruhe immer stand: "Wie im Himmel also auch auf Erden".
Sachverzeichnis Die Zahlen verweisen auf die Seiten, Schwerpunktausführungen kursiv Abgeordnete 262 f. Abschreckung 111, 114, 125 Absolutismus 41 Abwägung 223, 279 Abwägungsstaat 150 Aktivbürger 271 f. Alimentation der Beamten 166 ff. Allgemeiner Wille (Volonte generale) 71, 153, 233, 250 Amnestie 123f., 156,237 Amtsermittlung 138 Analogia entis 13 Antithesentheorie 14, 28, 110, 195 f., 230, 278 Arbeitgeber 183, 256, 274 - Fürsorgepflicht des 183 Aristokratie 54 f. Aufklärung 240 f. Auflage 148 f. Augustus 14 Auslegung 50, 108 Ausnahme 41Jf., 149, 215 Austauschgerechtigkeit 32, 68, 188, 224 f., 243, 262, 275 - s. auch lustitia commutativa Autonomie 36 f., 41, 103 - durch Staatshilfen 102 f. Beamte 58 - und Korruption 226 ff. Beamtenrecht 166Jf. Bedürfnis 34Jf.
Bedürfnisbefriedigung 53, 71, 141, 153, 155, 158, 162, 168, 242, 250, 253Jf.
Begnadigung 120Jf., 152, 156 Begriffsjurisprudenz 52, 246 Begründungszwang 47 Beihilfen 166 f. Beliehene Unternehmer 187, 247 Beruf 95f. Berufsbeamtentum 42 Berufsfreiheit 187 Beschwerde, formlose 135 f. Bettelei 160 f. Beurteilungsspielraum 53/., 138 Bildung - Bildungsinhalte 172 - Recht auf 175 - s. auch Erziehung Bossuet 14 Brüderlichkeit 65 ff., 128 Bürgernähe 21, 70ff., 137 Bürokratie 58f., 126, 142, 158, 188, 209, 241 Chancengleichheit 117 Civitas Dei 13 Clausewitz 113 Daseinsvorsorge 206 Datenbanken, Vernetzung 264 Datenschutz 187 Demonstration 126 f. Demagogie 18,95, 185
Sachverzeichnis Demokratie 17ft.. 21, 26, 31, 54 ff., 62 ff., 95 ff. u. passim - und Amnestie 124 - und Korruption 225 ff. - und kurzfristige Machtausübung 235ft.. 282 - und Moral 181 ff. - und Schwächerenschutz 77 ff. - und Solidarität 64ft. - und Sozialneid 232ft. - und Sozialstaat 72 ff. - gegen Staatsgüte 229ft.. 236ff. - treuhänderische Machtausübung 230ft. - und Wahlen 67ft.. 83 Digesten 16 "Dulde und liquidiere" 61 Effizienz 15f., 19,57, 137, 197, 204ff., 21Of., 213ff., 221 ff., 229, 236,247ff. Eigentum 42,65, 84, 151, 163, 187, 231 f., 268, 274 - und Freiheit 269 - Ost 268 Eigentumsdelikte 113 Eingriff 34f., 59, 61, lOOff., 153ff., 184, 206 - tatsächlicher 34 Einzelfall 37ft.. 57f., 128. 133, 141, 153, 158,224, 238ff., 245, 250, 253 Eltern 154 Elternpflichten 171 ff. Emanzipation 259 Enteignung 42, 234 Enteignender Eingriff 42 Entfaltung der Persönlichkeit 163 Entschädigung 268 Entpersönlichung der Macht 14,59f. 232f Entpönalisierung 112 f., 196 ff. Entwicklungshilfe 159
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Entwicklungsländer 22 Erbrecht 243 Erforderlichkeit 150 Ermessen 52. 136, 140ft.. 147, 152, 226,241 Ermessensreduktion 142 Erziehung 117 , 170ft.. 202ft.. 260, 268 Ethik 28, 39, 57, 181 ff. u. passim - und Recht 16, 19 - und Politik 26 f. Ewigkeitsgarantie 245 Exces de pouvoir 265 Existenzgefährdung 156, 165,233 Existenzminimum 164. 260, 270 Experimentierklause1 45 Familie 259 Finanzausgleich 64 Förderung 181ft. u. passim - s. auch Subvention Französische Revolution 41,57. 204, 245,281 Fraternite s. Brüderlichkeit Freiheit 36,41,47, 56f., 59f., 64ff. u. passim - und Autonomie 103 f. - und Eigentum 269 - von Eingriffen loof. - und Gleichheit 17, 65, 257 - und Güte 257ft. - und Privatautonomie 241 - reale Grundlagen der 154 f., 269 f. - und Staatsleistungen 101 f. Fürsorge 162 f. Fürsorgepflicht des Dienstherren 166 ff. Gefahr 126f. Gemeinnützigkeit 162, 183, 208, 213, 233, 249 Generalklauseln 50, 78, 245 f. Gerechtigkeit 73ft.
288
Sachverzeichnis
- soziale 24 Geschenk 42, 65, 184 - s. auch Schenkung Gesellschaft und Staat 118 f. Gesetz 16, 29 u. passim - s. auch Norm Gewaltenteilung 124, 134, 244ff. Gewaltmonopol 29, 125 Gleichheit 38,40,65, 77, 80, 92f., 123, 181,222,250, 253ff. - der Förderung 69, 105, 145, 158, 209ff. - und Freiheit 17, 65 - gegen Güte 250ff., 266 - Lasten- 67 - materielle 82 - und SoziaIneid 233 f. - und Sozialstaat 81 f. - Steuer- 215f. Gnade 46, 120ff., 157, 174, 194 Gnadenerweis 54 f. - s. auch Begnadigung Gottesidee, christliche 88 f. Grundrechte 14,34,41 f., 145, 149ff., 155, 205, 221, 247, 255 - Kernbereich 152 - soziale 48 Härtefälle 42, 156, 165, 215, 221ff., 229f.,264 Haushaltsrecht 57, 73, 146 Haushaltsvorbehalt 51,53, 83, 164, 176
Hilfsdienste, zivile 129 f. Humanisierung des Arbeitslebens 21 Humanitäre Intervention 85
In dubio 46ff. - pro Libertate 47, 140, 149, 195 - mitius 46, 48 - pro reo 46
- Staatsgüte 149 Information, Begriff 177 f. Informationelle Selbstbestimmung 187 Iustitia commutativa und Iustitia distributiva 73 f., 113, 217 Innere Führung 129,202 Integrationslehre 66 Interessenjurisprudenz 52, 246 Intimsphäre 262ff. Jaeger, Werner 178 Jakobiner 65 Kartellrecht 218 f. Kelsen 82 Keynesianismus 98 Kirchen 42 f.. 63, 89 ff., 194 - karitative Tätigkeit 90f. - Öffentlichkeitsanspruch 91 f. - s. auch Lex Charitatis Kirchenrecht 43 Kirchenstaat 267 Kirchensteuer 90 Kodifikation 239 Kommunen 103, 122 - Autonomie 36 Kommunismus 30 Konkurrentenklagen 168 Konkurrenz s. Wettbewerb Konkurrenzlagen, Verschiebung von 145f., 210, 219f Kontinuität 56, 208 Kooperation Staat-Bürger 105 ff. Korruption 18, 137, 224ff., 236 Kredit 235 - Staatsleistung als 32 f., 231 Kruzifix-Urteil 90 Kunstförderung 253 Landesverteidigung 43 Law and Order 94
Sachverzeichnis Lehrer als Beamte 176/ Leistung, eigene 218 Leistungsfähigkeit im Steuerrecht 214 Lenkungsauflage 187ff. - s. auch Auflage Leviathan 186, 281ff. Lex Charitatis 13, 29, 42f., 81 Liberalismus 23, 26, 40, 87 f., 100, 197, 239, 248, 256 Lobbyismus 135, 225 Lotterie 189 Lückenfüllung 44, 53, 108, 141, 239 Ludwig XIV 14 Macchiavellismus 93 f. Machttechnik 229 f., 281, 284 Marktwirtschaft 47,68, 79, 84, 102, 104, 157, 184,220, 224, 227, 278 Marxismus 23, 27, 34, 111, 116, 161, 183f., 201, 219, 237, 269f. Mehrheit 17f., 161,229,232,236 - s. auch Allgemeiner Wille Meinungsfreiheit 203 Menschenrechte 22, 36, 160, 200 Menschenrechtskern 163 Menschenwürde 85ff.. 163 f. Menschlichkeit 20ff., 29, 87, 139, 161. 219,241 Mildtätigkeit 42f.• 75. 80. 91 Milieutheorie 111, 116 Mißbrauch 194, 265ff. Militär - als Katastrophenhilfe 129ff. Militärstaat 29 Monarchie 29. 54f., 63, 96, 121,232 Monetarisierung - der Freiheit 268 f. - von Staatsleistungen 34, 79 Moral s. Ethik Napoleon 14 19 Leisner
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Nationalsozialismus 66 Naturrecht 88 Neoliberalismus, Wirtschaftspolitik des 26 New Deal 68 Nietzsche 99 Norm 57ff.. 250f., 238ff. Normenflut 44, 59f. Obdachlosigkeit 242, 261 Öffentliches Interesse 71, 138,241ff. Offenheit - der Gesetze 45 - des Staatsrechts 30 Opportunität - im Polizeirecht 127 f., 130 Orden 55 Ordnungswidrigkeiten 113 f. Ordre moral 16, 186 Organisationsgewalt 132 Pädagogische Fakultäten 174 Pädagogische Freiheit 176 Pädagogik 174 Paideia 177ff. Parteien 69 Parteienfinanzierung 225 Pascal 16 Pauschalierung 213 Persönliche Gewalt 54 ff.. 60 Personalrat 168 Pflegeversicherung 261 Platon 178 f. Politik - als Beruf 95 f. - als Freund-Feind-Beziehung 18, 135 - Moralisierung der 26 f., 92 f., 95ff. Politische Bildung 203 Polizei 125ff.. 198ff. Polizei einsätze - Bezahlung 128
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Sachverzeichnis
Präambeln 143 Prävention 112, 125 Pressesubventionen 146 Privatautonomie 41,241, 255f. Privatheit 186f., 209, 248, 262f. Privatisierung 53,59, 137, 247 - der Polizei 128 f. Privatrecht 275 Privileg 251 f. Prognosespielraum 45 Public Private Partnership 139 Rationalität 227,229,240/ - der Macht 29 - wirtschaftliche 33 Rechnungsprüfung 142, 161, 209 Rechtsgrundsatz und Norm 133 Rechtskultur 27, 62, 97 ff. Rechtsmißbrauch s. Mißbrauch Rechtsstaat(1ichkeit) 64, 129, 137, 139f., 142, 146, 148 ff., 163, 221 f., 228f., 238jj., 262f., 278 - soziale(r) 93 - und Sozialstaatlichkeit 84, 239 Rechtstechnik 16 Resozialisierung 33, 115jj., 125, 196ff. Richter 39,50, 70, 114, 136f., 142, 160, 245f. Römisches Recht 240 Römische StaatIichkeit 13,92,219 Rousseau 66, 233, 281 Rücksichtnahme im Vertragsrecht 139 Schenkung 46f., 235, 237f., 243, 255 Schenkungsfreiheit, private 158, 241jj. Schenkungsteuer 247 Schwächerenschutz 18,25, 32, 36, 71, 77jj., 81, 110, 132, 141,269, 271f. Schule 202 Schulgeldfreiheit 170 ff. Schulsystem, privates 204
Selbsthilfe lO2f., 252 Service public 134 Service-Staat 134, 249 Sinnerfüllung 50, 52, 108, 222 Sittenwidrigkeit 245 Smend 66 Sokrates 178 f. Solidarität 24, 26, 64jj., 69ff., 76, 160, 171, 190 Sozialbindung 234 Sozialdemokratie 23 f. Sozialer Friede 75 Soziale Gerechtigkeit 73jj., 234 Soziale Grundrechte 80 Soziale Marktwirtschaft 278 - s. auch Marktwirtschaft Sozialhilfe 86ff., 156jj., 173, 178, 200jj., 236 Sozialneid 233/ Sozialismus 22jj., 55, 78, 93, 98, 189, 256 Sozialstaat 23, 25/, 29, 48, 72jj., 138, 141, 157, 159,210,220, 229ff., 240, 247, 251, 263 f., 266, 270, 273, 278 - und Sozialstaatlichkeit 79jj. - und Menschenwürde 85 ff. Sozialversicherung 64, 83 f., 100, 104, 169,201 Sozialvertrag 233 Sparsamkeitsgrundsatz 47 Staat 28/, 62/, 68 u. passim - Legitimation 78 ff. - "Privater" Staat 246ff. Staatsalimacht 29, 180, 191jj., 280jj. Staatsaufgaben 50/, 207,212, 247f. Staatsformenlehre 48 f. Staatsgrund(satz)normen 27,30, 229, 239 Staatsmoral 27, 93jj., 152, 185 Staatsoberhaupt 121 Staatsrenaissance 66, 72
Sachverzeichnis Staatszielbestimmungen 27, 48 f., 80, 108 Status activus 257f. Status negativus 36, 257 Status positivus 36, 258 Steuererfindungsrecht 192 Steuerrecht 64, 189f., 263 Steuerstaat 60, 212ff. Steuerverschonung 182f., 212 ff. Steuerzwecke 212 Strafe 46, 57, 11Off. Strafrahmen 114 Strafrecht 11 Off. , 196 Strafvollzug 196 f. Subventionen 56, 182, 205ff. Suum cuique 35, 73, 82 Subsidiarität 103, 255 Systemdenken 239f. Systemdurchbrechung 41 f. Tarifvertrag 256 Testierfreiheit 243 f. Tradition 29, 242 - s. auch Monarchie Transferleistungen 182, 190 Transparenz 262 Treu und Glauben 245 Übergangsregelungen 42 Umweltschutz 104, 151, 155 Unentrinnbarkeit 106, 184, 188 Uniformen 63 Verbände 64 Verfahren 158 Verfassungsschutz 15 Vergeltung 111 Verhältnismäßigkeit 128, 150ff. Vermieterpflichten 183 Vermögensteuer 213 Verteidigung 131 f. 19·
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Verteilung 190ff., 217, 234 - s. auch Transferleistungen, lustitia distributiva Vertrag 41 Vertrauen 68, 143 f. Verwaltung 45 - und Gesetz 244 f., s. auch Rechtsstaat - als Staatsgewalt 134, 245 Verwaltungsakt - belastender, begünstigender 144ff. - zustimmungpflichtiger 184 Verwaltungsrecht, allgemeines 132 ff. Verwaltungsrechtlicher Vertrag 136, 148, 185 Verwaltungsverfahrensrecht 138 f. Verwaltungsvorschriften 142 Verwendungskontrolle 209 Völkerrecht 21 Volk 232f., 236 f. Vorhersehbarkeit 240f. Wahlen 18, 21, 67ff., 83, 194 Wahlgeschenk 68ff. Wahlversprechen 68ff. Weihnachtsgeld 255 f. Wettbewerb 184, 216ff., 266 - s. auch Konkurrenzlagen Wettbewerbsfreiheit 220 Wille zur Macht 186 Willkür(verbot) 147,252 Wissenschaft 45 Wohlfahrtsstaat 49, 62f., 116 Wohlwollen 18, 127,226 - als Verwaltungs grundsatz 134ff. Zumutbarkeit 36, 150ff. Zwei-Reiche-Lehre 90 Zweifel 44f. - s. auch In dubio