Staat und Geheimnis. Der Kampf um die (Un-)Sichtbarkeit der Macht
 9783848758623, 9783845299952

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Wissenschaftlicher Beirat: Klaus von Beyme, Heidelberg Horst Bredekamp, Berlin Norbert Campagna, Luxemburg Wolfgang Kersting, Kiel Herfried Münkler, Berlin Henning Ottmann, München Walter Pauly, Jena Volker Reinhardt, Fribourg Tine Stein, Göttingen Kazuhiro Takii, Kyoto Pedro Hermilio Villas Bôas Castelo Branco, Rio de Janeiro Loïc Wacquant, Berkeley Barbara Zehnpfennig, Passau

Staatsverständnisse herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 125

Jörn Knobloch [Hrsg.]

Staat und Geheimnis Der Kampf um die (Un-)Sichtbarkeit der Macht

© Titelbild: Spia (Spion), aus: Ripa, Cesare: Iconologia, Padua 1618, S. 493.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-5862-3 (Print) ISBN 978-3-8452-9995-2 (ePDF)

1. Auflage 2019 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Editorial

Das Staatsverständnis hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder grundlegend gewandelt. Wir sind Zeugen einer Entwicklung, an deren Ende die Auflösung der uns bekannten Form des territorial definierten Nationalstaates zu stehen scheint. Denn die Globalisierung führt nicht nur zu ökonomischen und technischen Verände‐ rungen, sondern sie hat vor allem auch Auswirkungen auf die Staatlichkeit. Ob die »Entgrenzung der Staatenwelt« jemals zu einem Weltstaat führen wird, ist allerdings zweifelhaft. Umso interessanter sind die Theorien der Staatsdenker, deren Modelle und Theorien, aber auch Utopien, uns Einblick in den Prozess der Entstehung und des Wandels von Staatsverständnissen geben, einen Wandel, der nicht mit der Glo‐ balisierung begonnen hat und nicht mit ihr enden wird. Auf die Staatsideen von Platon und Aristoteles, auf denen alle Überlegungen über den Staat basieren, wird unter dem Leitthema »Wiederaneignung der Klassiker« im‐ mer wieder zurück zu kommen sein. Der Schwerpunkt der in der Reihe Staatsver‐ ständnisse veröffentlichten Arbeiten liegt allerdings auf den neuzeitlichen Ideen vom Staat. Dieses Spektrum reicht von dem Altmeister Niccolò Machiavelli, der wie kein Anderer den engen Zusammenhang zwischen Staatstheorie und Staatspraxis verkörpert, über Thomas Hobbes, den Vater des Leviathan, bis hin zu Karl Marx, den sicher einflussreichsten Staatsdenker der Neuzeit, und schließlich zu den Wei‐ marer Staatstheoretikern Carl Schmitt, Hans Kelsen und Hermann Heller und weiter zu den zeitgenössischen Theoretikern. Nicht nur die Verfälschung der Marxschen Ideen zu einer marxistischen Ideolo‐ gie, die einen repressiven Staatsapparat rechtfertigen sollte, macht deutlich, dass Theorie und Praxis des Staates nicht auf Dauer von einander zu trennen sind. Auch die Verstrickungen Carl Schmitts in die nationalsozialistischen Machenschaften, die heute sein Bild als führender Staatsdenker seiner Epoche trüben, weisen in diese Richtung. Auf eine Analyse moderner Staatspraxis kann daher in diesem Zusam‐ menhang nicht verzichtet werden.

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Was ergibt sich daraus für ein zeitgemäßes Verständnis des Staates im Sinne einer modernen Staatswissenschaft? Die Reihe Staatsverständnisse richtet sich mit dieser Fragestellung nicht nur an (politische) Philosophen, sondern vor allem auch an Stu‐ dierende der Geistes- und Sozialwissenschaften. In den Beiträgen wird daher zum einen der Anschluss an den allgemeinen Diskurs hergestellt, zum anderen werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse in klarer und aussagekräftiger Sprache – mit dem Mut zur Pointierung – vorgetragen. So wird auch der / die Studierende unmit‐ telbar in die Problematik des Staatsdenkens eingeführt. Prof. Dr. Rüdiger Voigt

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Inhaltsverzeichnis

I.

Einleitung

Jörn Knobloch Der Staat und der Kampf um die (Un-)Sichtbarkeit der Macht

II.

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Die Unsichtbarkeit der Macht

Michael Zantke Machiavelli und das Geheimnis politischer Macht

35

Christoph S. Widdau Geheimnis und Öffentlichkeit in Hobbes’ Politischer Philosophie des Gemeinwesens

57

III.

Der Kampf um die Offenbarung der Macht

Christoph Schmitt-Maaß Sichtbarmachung der (geheimen) Macht. Fénelons „Télémaque“ im Spannungsfeld von Absolutismus und Frühaufklärung

73

Andreas Nix Carl Schmitt und das Arcanum der Macht

91

IV.

Der Staat und seine Geheimnisse in der Demokratie

Dannica Fleuß Zur Balance von Transparenz und Verborgenheit: das komplementäre Verhältnis von öffentlicher und nicht-öffentlicher Kommunikation in Jürgen Habermas‘ Demokratietheorie

117

Daniel Schulz Politik und Geheimnis. Der demokratische Verfassungsstaat zwischen Handlungsermächtigung und Unverfügbarkeitsbehauptungen

141

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V.

Der aktuelle Kampf gegen die (un)sichtbare Macht

Alexander Weiß Gute und schlechte Geheimnisse. Zur politischen Theorie des Geheimnisses im Anschluss an Niklas Luhmann

167

Vincent August Öffentlichkeit in der Transparenzgesellschaft: Merkmale, Ambivalenzen, Alternativen

191

Heinz Kleger und Eric Mülling Digitale Bürgersouveränität? Künstliche Intelligenz, zivile Widerstände und kritische Öffentlichkeit

217

Autorenhinweise

237

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I. Einleitung

Jörn Knobloch Der Staat und der Kampf um die (Un-)Sichtbarkeit der Macht

Ein Staat ist sichtbar. Wie eine Person bekommt er einen Namen,1 somit jedermann bekannt sein sollte, welcher Staat mit dem jeweiligen Namen, als genuiner Zusam‐ menhang von Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt, gemeint ist.2 Die Benen‐ nung des Staates markiert in Ort und Zeit eine soziale Koexistenz, die sich so für sich und andere öffentlich macht.3 Dennoch besitzt sie ein Geheimnis – das ihrer Macht. Nichts präsentiert und fokussiert unsere Vorstellung von Macht so wie der Staat, doch auch er entschlüsselt das Phänomen nicht.4 Im Unterschied zur ausmess‐ baren Größe des Staatsvolkes oder der geografischen Lokalisierung des Staatsgebie‐ tes lässt sich die Staatsgewalt, als drittes seine Macht begründendes Element der Staatsdefinition, nicht einfach erfassen. Die Gewalt ist ein paradoxer Begriff, weil sie in einem negativen Bezug mit sich selbst steht, denn Gewalt im Staat soll mit Gewalt ausgeschlossen werden.5 Hierzu fixiert der Staat seine Macht als ein überle‐ genes Gewaltpotenzial, um andere Gewalten zu verhindern.6 Doch diese Macht ist keinesfalls so öffentlich, wie der Staat es seinem Namen nach ist. Im Gegenteil, die Sichtbarkeit der Macht bildet immer ein Risiko für die Machthaber, da sie als unge‐ recht, unfähig oder ungenutzt erscheinen kann.7 Erfolgreiche Staatsmacht ist meist unsichtbar, denn sie beruht auf einem mittelbaren und kollektiv geteilten Wissen. Das Wissen über den Staat geht über die persönliche Erfahrungsebene hinaus und berührt das Gesamtdasein einer sozialen Koexistenz. Ein solches Wissen ist geprägt durch Wahrheit, Nichtwissen und Irrtum, wobei diese Formen definieren, was Men‐ schen untereinander und voneinander wissen können oder dürfen.8 Zudem muss das kollektive Wissen zwischen den Menschen kommuniziert werden. Die können be‐ stimmen, was kommuniziert wird und was nicht. Die Optionen des Verschweigens

1 Vgl. die immer noch prominente Phrase vom Vater Staat (Schimank 2009). 2 Luhmann 2000, S. 190. Die bekannte dreigliedrige Definition des Staates geht auf Jellinek 1929 zurück. 3 Die Ausdifferenzierung politischer Macht und damit ihre Sichtbarkeit hat die Machtlage der Ge‐ sellschaft revolutioniert (Luhmann 2003, S. 91). Zum modernen Staat und seiner Geschichte vgl. Breuer 1998, Creveld 1999, Möllers 2011, Reinhard 1999, Rosanvallon 2000. 4 Vgl. Anter 2013, S. 11. 5 Luhmann 2000, S. 192. 6 Weber 1980, S. 516ff. 7 Luhmann 2003, S. 81ff. 8 Vgl. Simmel 1983, S. 395ff.

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wie die der bewussten Täuschung sind stetig mitlaufende Möglichkeiten im Prozess der Kommunikation. Die eingeschränkte Publizität des Staates und seiner Macht führt uns zum Begriff des Geheimnisses, der die Unsichtbarkeit der Macht des Staates in beiden oben ge‐ nannten Dimensionen abbildet. Das Geheimnis integriert analytisch das Nichtwissen (also die Information) und die Nichtmitteilung (Kommunikation), denn es ist eine „Nichtmitteilung beziehungsrelevanten Wissens wider Erwarten“.9 So verknüpft es die Beobachtungs- und Wahrnehmungsdimension mit der Informationsdimension,10 demzufolge existiert das Geheimnis simultan als erkenntnistheoretisches und kom‐ munikationstheoretisches Phänomen.11 Vor diesem Hintergrund muss die Konstituti‐ on des modernen Staates als ein immer auch umstrittenes Verhältnis zum Geheimnis verstanden werden. Im Buch wird dieses Verhältnis vor dem Hintergrund des Kamp‐ fes um die Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit der Macht problematisiert. Um die Dy‐ namik dieses Spannungsfeldes einordnen zu können und deutlich zu machen, wie wichtig diese Perspektive zum Verständnis des gegenwärtigen Staates ist, möchte ich zur Einleitung kurz die historischen Eckpunkte des Verhältnisses in der Neuzeit skizzieren.

1. Die Sichtbarkeit des Herrschers und seiner Macht Zunächst kannte die Organisation der Herrschaft keine Ambivalenz hinsichtlich der Öffentlichkeit der politischen Macht. Die Macht im Mittelalter kam direkt von Gott und nur durch seinen Willen gelangten die Fürsten an ihre Position. Dies vollzog sich in einer transparenten Welt, in der die Zeichen Gottes deutlich waren, denn er offenbarte sich nicht nur häufig, sondern seine Offenbarungen wurden auch verstan‐ den.12 In dieser „geklärten Welt“ ließ Gott seinen „Kandidaten“ an seinen Eigen‐ schaften teilhaben, stattete ihn mit Weisheit, Gerechtigkeit, Stärke und Huld aus, was die anderen Menschen sehen konnten, weshalb sie seine Herrschaft akzeptier‐ ten.13 Eben weil die Zeichen Gottes nachvollziehbar waren, setzte sich der durch die Gnade Gottes erwählte Herrscher gegenüber den potenziellen Konkurrenten durch. Diesem Selbstverständnis einer direkten Autoritätsverleihung von Gott auf den irdi‐ schen Machtvollstrecker folgten auch die Kaiserwahlen im deutschen Reich.14 So 9 10 11 12 13 14

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Westerbarkey 1998, S. 15. Vgl. Werron 2011, S. 218. Westerbarkey 1991, S. 22f. Gestrich 1994, S. 36. Gestrich 1994, S. 37. Gestrich 1994, S. 37. Unter anderen auch Münkler weist darauf hin, dass im Mittelalter eine Synthese von christlich-theokratischen und antiken demokratischen Ansätzen für die Legitimi‐ tät politischer Macht existierte. „Wohl dominierte in der Ordnungskonzeption des Mittelalters die theokratische These […], doch war durch die Wahlinstitution der beiden politischen Spit‐

beriefen sich die Zeitzeugen auf Gottes Hilfe, um zu verdeutlichen, warum die Gunst der Fürsten z.B. auf Herzog Friedrich von Schwaben fiel und dieser 1155 zum deutschen Kaiser Friedrich Barbarossa gewählt wurde.15 Indes wird auch in den Darstellungen der Zeitzeugen bereits deutlich, welche umfangreichen Verhandlun‐ gen zu diesem Ziel notwendig waren. „Eine Reihe erhaltener Quellen bezeugt näm‐ lich direkt oder indirekt ein intensives Werben Friedrich Barbarossas gerade um die Personen aus dem Kreis der Bischöfe und dem welfischen Lager, deren Unterstüt‐ zung für seine Königswahl von fundamentaler Bedeutung war. Dies geschah teilwei‐ se anlässlich persönlicher Treffen vertraulichen Charakters, in denen offensichtlich Leistungen vereinbart wurden, die die fraglichen Personen veranlassten, die Königs‐ kandidatur Friedrichs zu unterstützen.“16 Entgegen der Darstellung einer geordneten, lichten und von Gott bestimmten weltlichen Ordnung nutzten die politischen Akteu‐ re wohl in allen Zeiten das Geheimnis, um ihre Interessen und Ziele durchzusetzen. Die Sicherung der Macht musste sich auch hier der Kunst des Verborgenen bedie‐ nen, damit das Konzept der direkten Vollstreckung göttlichen Willens wirkungsvoll wurde. Eine Offenbarung göttlichen Willens, welche in politische Legitimation über‐ setzt werden konnte, ist ein interpretativer Akt, der Kontingenz erlaubt. Entspre‐ chend möglich war es, sich selbst als Vollstrecker der göttlichen Ordnung zu verste‐ hen bzw. unmöglich, diese Legitimationsquelle auf Dauer selektiv zu fixieren. Durch die Unschärfe des Konzeptes der Offenbarung der Macht in einem durch viele starke Fürsten geprägten Herrschaftssystem existierte stetig die Gefahr eines Gegenkönigs. Aber auch der Konflikt zwischen Papst und Kaiser, die sich beide als unmittelbar von Gott auserwählt ansahen, verdeutlicht, wie unsicher die Legitimationsquelle und wie wichtig die Sicherung der eigenen Machtbasis war. „Beide Seiten hatten ihre Ansprüche aus biblischen Geschichten und dicta abgeleitet, deren Aussagekraft nicht stringent genug war, um die jeweils andere Partei zu überzeugen.“17 Vor die‐ sem Hintergrund einer variabel ausdeutbaren Quelle der eigenen Macht ließ sich kei‐ ne eindeutige Situation fixieren, weshalb der Konflikt zwischen Papst und Kaiser zunächst radikalisiert wurde. Doch erst nachdem das kaiserliche Heer nach der Er‐ oberung von Rom 1167 durch eine Seuche stark dezimiert wurde, hatten wohl alle Beteiligten realisiert, dass „Gott keine Lösung des Konflikts durch Machtausübung unterstützte“.18 Es wurde eine zwingende strukturelle Relation von der einzigen Autoritätsquelle und ihrer privilegierten Adresse implementiert, wodurch Gott wie auch die Fürsten privilegiert wurden: „In der Körperwelt werden alle anderen Körper durch den

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zen des Mittelalters, des Königs- bzw. Kaisertums und des Papsttums, die demokratische Herr‐ schaftslegitimation in sie immer schon eingebunden“ (Münkler 1982, S. 63). Althoff zitiert hier unter anderen den Bischof Otto von Freising (1997, S. 217). Althoff 1997, S. 218f. Althoff 1997, S. 235. Althoff 1997, S. 235.

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obersten Körper, nämlich den Himmel, nach der Ordnung der göttlichen Vorsehung regiert und alle Körper durch das von Vernunft geleitete Geschöpf.“19 Diese natür‐ lich erscheinende Hierarchie von Fürst und Volk findet ihre Entsprechung in der christlichen Vorstellung des Verhältnisses vom Hirten und seinen Schafen. Zusätz‐ lich bietet die christliche Religion auch Hilfen zum Schutz gegen Verfehlungen an. So diskutiert Thomas von Aquin die Gefahr der Tyrannis, die er aber als kontrollier‐ bar einschätzt, da Gott derjenige ist, in dessen Hand das Herz des Königs ruht.20 Der Fürst muss das Gemeinwohl im Blick haben, denn letztlich erhält er seinen „ewi‐ gen“ Lohn von Gott, dem er in der Ausübung seines Herrscheramtes dient.21 Dieser Hinweis zeigt, dass im frühen und hohen Mittelalter das Geheimnis nor‐ mativ keine Legitimität besaß. Selbst die Unmittelbarkeit einer individuell erfahre‐ nen Offenbarung war notwendigerweise sichtbar, denn die inneren Dinge einer Per‐ son ließen sich immer in ihrer Äußerlichkeit sehen.22 Personen ohne ein verborgenes Innenleben waren für sich und andere immer sichtbar und das schloss auch auf der Ebene kollektiver Beziehungen Geheimnisse aus. So musste auch die Macht trans‐ parent sein, indem „die mittelalterlichen Autoritäten […] in erster Linie auf eine in Symbolen und öffentlichen Verfahren erfahrbare Herrschaftsausübung“ setzten.23 Der Herrscher war darauf angewiesen, sich zu zeigen und die politische Partizipati‐ on zielte auf die Möglichkeit, den Herrscher persönlich zu sehen und die ihm durch Gott gegebenen „Qualitäten“ zu erkennen.24 So erfolgt auch die konkrete Umset‐ zung der Macht in Form von Politik im Lichte der transparenten von Gott gewollten Ordnung ohne jegliche Geheimniskrämerei. Dementsprechend muss die politische Symbolik klar und deutlich zeigen, dass der Herrscher diese Ordnung präsentiert. Dazu fällt der Prozess der Symbolisierung mit dem Symbol zusammen, denn in die‐ ser „Realsymbolik“ treffen das Heilige und das Profane wie auch das Innere und das Äußere zusammen.25 Jedem ist es daher möglich, das, was er sieht, auch als das zu verstehen, was es ist. Die Insignien der Macht markieren die heilige Autorität des Herrschers und sein Auserwähltsein, was von jedem als solches identifizierbar ist. Gestrich sieht hier eine Nähe von Realsymbolik und magischer Identifizierung.26 In dieser rein personalisierten Herrschaftsform lassen sich das Auserwähltsein durch Gott sowie sein Wille und seine Gnade nur persönlich erfahren. Dies wäre al‐ lenfalls der normativ akzeptierte Platz für das Geheimnis in dieser Zeit, wenn die Menschen ein uneinsichtiges Innen akzeptiert hätten. Doch das Zusammenfallen von

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Aquin 1999, S. 7f. Aquin 1999, S. 26. Aquin 1999, S. 31. Gestrich 1994, S. 38. Wegener 2006, S. 39. Gestrich 1994, S. 38. Gestrich 1994, S. 40. Gestrich 1994, S. 40.

innen und außen schließt die konzeptuelle Basis für die Existenz eines Nichtwissens aus. Und obwohl das Geheimnis keine besondere Funktion in dieser lichten Welt be‐ saß, weil es kein Teil einer direkten „Kommunikations- und Machtstrategie Gottes“ bzw. seines Stellvertreters sein konnte, war es dennoch auch in einer personalisierten Herrschaft funktionell notwendig.27 Es wurde in geheimen Absprachen, Bündnissen und Verhandlungen im politischen Tagesgeschäft praktisch relevant, obgleich es als normatives Konzept nicht ausformuliert wurde.28 Gleichzeitig öffnet das Beispiel den Blick auf zwei für die künftige Entwicklung des Geheimnisses wichtige Verän‐ derungen in der Politik: Erstens die „wachsende Bedeutung des Mehrheitsprinzips, dessen Ursprünge wohl im Bereich kirchlicher und städtischer Entscheidungsfindun‐ gen liegen“.29 Erst dieses Prinzip zwingt die Politik zur Kollektivität, denn in der personalisierten Herrschaft müssen jenseits transparenter Hierarchien und Loyalitä‐ ten nun vermehrt Mehrheiten organisiert werden. Dazu wird das Geheimnis als Ins‐ trument des kollektiven Handelns funktional wichtiger, zumal das Konkurrenzkon‐ zept der Öffentlichkeit noch nicht entwickelt bzw. normativiert ist. Die zweite wich‐ tige Veränderung ist die Suche nach Schlichtungsmöglichkeiten, wie den Schiedsge‐ richten, als Mechanismen der Formalisierung kollektiven Handelns. Ihre Formalisie‐ rung entzog Machtkonflikten den Zwang zur Eskalation und schuf transparente Ver‐ fahren einer Konfliktschlichtung.30 Die formalisierten Verfahren begrenzen die Wir‐ kung von Geheimnissen, wobei dafür die Akteure auch bereit sein müssen, die Be‐ deutung ihres Geheimnisses der Machtlegitimation durch Gott für die Sphäre der praktischen Politik zu relativieren. Erst als der Papst und der Kaiser bereit waren, ihre von Gott abgeleiteten absoluten Herrschaftsansprüche insoweit zu relativieren, damit diese zum Gegenstand kollektiver Verhandlungen werden konnten, bekamen die formalisierten Schiedsgerichte die reale Chance, etwas zu verhandeln. Die erste Veränderung erlaubt den Bedeutungszuwachs des Geheimnisses, die zweite grenzt seine Reichweite wiederum ein. In diesem Spannungsfeld schickt sich das Geheim‐ nis an, im modernen Staat eine enorme Karriere zu machen. Dies korreliert mit dem allgemeinen gesellschaftlichen Bedeutungszuwachs des Geheimnisses im Ausgang des Mittelalters. Den Menschen war die Gewissheit der Wesenserkenntnis abhandengekommen, was sie vor neue erkenntnistheoretische He‐ rausforderungen stellte, die unter anderem dadurch gelöst wurden, dass die Allmacht

27 Geheimhaltung, Verstellung und Betrug waren ebenso in der frühmittelalterlichen Gesellschaft möglich, doch trafen sie dort auf eine besondere Hilflosigkeit, weil die Menschen ohne die Differenzierung von außen und innen ein besonderes Vertrauen in die Sichtbarkeit des Seeli‐ schen entwickelten. Hinterging man dies, führte das zu einer enormen Irritation, die eine Posi‐ tivierung des Geheimnisses ausschloss (Gestrich 1994, S. 38). 28 Hölscher 1970. 29 Althoff 1997, S. 241. 30 Althoff 1997, S. 234ff. Althoff sieht die Tendenz einer Entwicklung von der Mediation zur Schiedsgerichtsbarkeit seit dem 12. Jahrhundert für beobachtbar.

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Gottes in seiner Schöpfung sich nicht vollends offenbarte und damit selbst verbarg.31 Weil Gott nun selbst verborgen ist, wird eine Unschärfe möglich, die den Interpreta‐ tionsspielraum wie auch die bearbeitbaren Abweichungen vom Ideal vergrößert. Der Spielraum für Wissen, welches nicht mitgeteilt wird oder verborgen bleibt, wächst mit dem Wissen über dieses verborgene Wissen. Dadurch wird es auch gesellschaft‐ lich immer relevanter. Das Geheimnis wurde sozialisiert, weil es einerseits eine suk‐ zessive Auseinandersetzung mit Wissensverboten gab, andererseits sich eine zuneh‐ mend prosperierende Ökonomie des Geheimen entwickelte.32 Alchemie, medizini‐ sche Arkana, Kryptografie, Spionage und Informationsbeschaffung auch von Tech‐ nologien waren die neuen Bereiche, die nicht nur ein exklusives Wissen – und damit andererseits ein Nichtwissen – produziert haben, sondern auch die Möglichkeiten besaßen, die Kommunikation dieses Wissens zum Gegenstand kommerzieller Prakti‐ ken zu machen.33 Fortan umwehte die Aura des Göttlichen das geheime Wissen, denn hinter allem stand ein „sympathetischer“ Zusammenhang mit den himmlischen „Wesenheiten“, der nur aufgedeckt werden müsste, um näher an Gott zu sein.34 Dementsprechend gewinnen nicht nur die Sozialisierung des Geheimnisses und sei‐ ne symbolische Aufladung am Ende des Mittelalters an Bedeutung, sondern auch die systematische Suche nach diesem. Der Wille, das Geheimnis aufzudecken, führt zu einer veränderten Erkenntnistheorie, die den stetigen Zweifel normativ legitimiert.

2. Das Geheimnis der Herrschaft im absolutistischen Staat Die Innovation der Staatsbildung in Europa bestand in der formalisierten Fixierung der Herrschaft durch die Sichtbarmachung der Macht. Indem sich der Fürst zum ex‐ klusiven Friedensstifter erklärt, monopolisiert er die Verantwortlichkeit. Fortan herrscht eine „absolute Verantwortlichkeit“ aus der sich der absolutistische Staat als historische Antwort auf die Frage nach dem Frieden entwickelte.35 Dieser zwang al‐ le Untertanen gleichermaßen, sich der Gewalt des Monarchen zu unterwerfen, damit der Herrscher die alleinige Verantwortung für Frieden und Sicherheit übernehmen kann.36 „Der Staat der frühen Neuzeit suchte sich aus den Fesseln einer als gesamt‐ gesellschaftliche Bedrohung empfundenen Vielgestaltigkeit ständischer Bindungen und Verfahren in die Exklusivität individueller Entscheidungsfindung zurückzuzie‐ hen.“37 Nicht nur der Herrscher zeigt sich seinen Untergebenen. Auch die Unterge‐ 31 32 33 34 35 36 37

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Gestrich 1994, S. 41. Jütte 2012. Jütte 2012, S. 61ff. Gestrich 1994, S. 44. Koselleck 1973, S. 13f. Koselleck 1973, S. 14. Wegener 2006, S. 39.

benen müssen sich dem Friedensstifter offenbaren, um vom Vorteil des Friedens zu partizipieren. Aus dieser Notwendigkeit zur gegenseitigen Enthüllung entwickelt sich die Verbindung zwischen Herrschern und Beherrschten zur Interdependenzbe‐ ziehung mit dem Staat als transparenter Außenseite. Dieser Schritt weg vom plura‐ listischen und aufgelockerten Verantwortungsgefüge der Menschen in der Vormo‐ derne erfolgt nicht völlig freiwillig, denn die Suche nach Sicherheit nötigt die Frie‐ denssucher, um des Friedens willens diese Beziehung und diesen Staat zu akzeptie‐ ren.38 Damit ging auch einher, dass der Herrscher, der Fürst als Friedensrichter, nicht mehr auf die Macht verzichten konnte. Sollte er untätig sein, könnten die friedenssu‐ chenden Untergebenen von seiner „Unschuld der Macht“ enttäuscht werden, wes‐ halb der Herrscher unter „Handlungszwang“ geriet.39 Er musste nicht nur handeln, bzw. Handeln vortäuschen, sondern er war nun auch gezwungen, stetig die Effekte seines Handelns bei den Untergebenen zu antizipieren, woraus sich ein „Zwang zur Voraussicht“ ergab.40 Diese Erwartbarkeit treibt die Sichtbarkeit der Herrschaft und damit des Staates voran. Doch im Unterschied zur Ordnung des Mittelalters, die einen transparenten Gott vollstreckenden Fürsten in das Zentrum der Herrschaft rückte, forcierte der neuzeit‐ liche Staat nun eine scharfe Differenzierung von innen und außen.41 Das sichtbare Außen des absolutistischen Staates setzt sich vom unsichtbaren, nur den Eingeweih‐ ten zugänglichen Inneren des Staates ab. Dieser für die eigenen Bürger wie auch die anderen Staaten unsichtbare innere Bereich ist der Ort, in welchem die Macht des Staates bereitgestellt wird. „Wesentliches Instrument zur Gewinnung und Sicherung dieser Exklusivität, Garant ihrer inneren Souveränität, wurde der Staatsspitze die Geheimhaltung des eigenen überlegenen Wissens, die Täuschung der Gegner, die Aura des nunmehr als Ausweis von Hoheit akzeptierten Geheimnisses und seine überraschende Exekution.“42 Mittels dieser Teilung der politischen Institution in eine sichtbare und eine unsichtbare Ebene entstehen auch zwei getrennte Perspektiven, die miteinander vermittelt werden müssen. Das ist der Augenblick, wo aus dem Ge‐ heimnis ein systemisch-relevantes Handlungskonzept der Politik wird, denn es diffe‐ renziert hierfür zwischen Wissen und Nichtwissen wie auch zwischen Kommunika‐ tion und Nichtkommunikation. Das Geheimnis vermittelt die notwendige Sichtbarkeit des absolutistischen Herr‐ schers und stellt sich der Herausforderung einer simultanen Verarbeitung der Sicht‐ barkeit und Unsichtbarkeit der politischen Herrschaft. Eine radikale Lösung bleibt ausgeschlossen. Der absolutistische Staat kann nicht die Sphären des Innen und Au‐ ßen radikal voneinander abschotten. Würde er sich auf die reine Präsentation nach 38 39 40 41 42

Koselleck 1973, S. 15. Koselleck 1973, S. 16. Koselleck 1973, S. 16. Koselleck 1973, S. 32. Wegener 2006, S. 39.

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außen konzentrieren, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis die Herrschaft in ihrer Pro‐ fanität entschlüsselt werden könnte. Dies wäre der Zeitpunkt, die Legitimation der‐ selben zu hinterfragen. Die Macht der Herrschaft hat nichts Exklusives mehr, ent‐ sprechend ist es möglich, dass sie von jedem ausgeübt werden kann. Hingegen wür‐ de das bloße Exerzieren der Macht im Inneren ohne Öffentlichkeit keine Adressier‐ barkeit des Friedensstifters erlauben und seine Leistung wäre so nicht erkennbar, zu‐ rechenbar und infolgedessen auch nicht honorierbar. Die Gleichzeitigkeit des Innen und Außen gehört zum neuen Wesen des absolutistischen Staates. In ihm tritt die Adressierung der Herrschaft im Souverän nach außen wie auch die praktische Ope‐ rationalisierung der Macht im Inneren in ein ambivalentes und zunächst auch pro‐ duktives Verhältnis. Die Ambivalenz verhilft dem Geheimnis in der Politik zum Durchbruch, denn sie wertet das spezifische Herrschaftswissen auf, indem sie das Wissen um dieses exklusive Wissen gesellschaftlich verfügbar macht. Dadurch wird das Geheimnis als kollektives Wissen des Nichtwissens entlang der Innen-/AußenDifferenz zur Legitimation der absolutistischen Herrschaft in dreifacher Art instru‐ mentalisierbar: Erstens rückt das Geheimnis in den Mittelpunkt der Außendarstellung der Herr‐ schaft. Zu diesem Zweck erfolgt die Symbolisierung des Geheimnisses. Bei der Dar‐ stellung und Präsentation der absolutistischen Herrscher wurden Allegorien und Em‐ bleme genutzt, in denen das Geheimnis der Herrschaft entsprechend dargestellt wur‐ de. Die Herrscher bewegten sich in den Allegorien und Emblemen dazu simultan in offenen und verdeckten, nicht von jedem zu entschlüsselnden Zusammenhängen. Sie zeigen sich in lebendigen Bildern, auf denen die barocken Herrscher mit Götteralle‐ gorien und Apotheosen ihren spezifischen Zugang zum geheimen Wissen um die verborgene Ordnung kundtun.43 Während der „Pöfel“ die auf den Darstellungen ver‐ borgenen Zusammenhänge nicht entschlüsseln konnte, somit allein die Außenseite der Präsentation des Herrschers verstand, war diese Form der Geheimnisinszenie‐ rung der gebildeten Elite zugänglich.44 Die Ausgeschlossenen können nur den Vor‐ hang auf der berühmten Darstellung des Leviathans sehen, hinter dem sich die Herr‐ schaft organisiert. Die Eingeweihten hingegen verstanden den jeweiligen Kontext von Bild, Motto und Epigramm und erhielten damit eine Vorstellung von der Bedeu‐ tung des Herrschers und eine exklusive Einsicht in die Ordnung der Welt, was ihnen auch eine Handlungsorientierung und eine Moral vermittelte.45 Nach außen wurde die „Inszenierung“ der Geheimnisse zum Selbstverständnis der absolutistischen Herrschaft, die um sich und damit auch dem Staat als das Ins‐ trument dieser Herrschaft eine künstliche „Aura“ schuf.46 Diese Form der Symboli‐ 43 44 45 46

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Gestrich 1994, S. 45ff. Gestrich 1994, S. 46. Gestrich 1994, S. 46. Gestrich 1994, S. 54f.

sierung des Geheimnisses spielt mit der öffentlichen Anzeige einer für die Herr‐ schaft relevanten Differenzierung von innen und außen, wobei die Absicht die Ver‐ mittlung eines Wissens um das Nichtwissen, als Einheit der Differenz von innen und außen, von Wissen und Nichtwissen bzw. von öffentlich und geheim ist. In den bild‐ lichen Darstellungen werden die allgemeine Existenz der verborgenen Dimension absolutistischer Herrschaft expliziert und ihr systemischer Charakter unterstrichen. Zweitens verweist das Geheimnis auf die wirksame Grenze von innen und außen in Form eines Wissens, welches nicht von allen gewusst wird. Hierbei geht es um die Mitteilung bzw. Nichtmitteilung des spezifischen Wissens. Während die Einheit der Differenz im Rahmen der Inszenierung des Geheimnisses im Absolutismus der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, muss die Nichtkommunikation des relevan‐ ten Herrschaftswissens funktionieren, um dessen Funktionalität zu bewahren: „Das wichtigste Geheimnis war deshalb […], dass die eigentlichen Geheimnisse nicht verraten wurden, dass niemand wissen sollte, dass es sie gab; denn sonst hätten sie ihre Wirksamkeit verloren.“47 Die öffentliche Konkretion des geheimen Herrschafts‐ wissens muss unter allen Umständen verhindert werden, denn sollte es öffentlich be‐ kannt werden, verliert es seine Aura und ist als rein technisches Wissen der Verstel‐ lung, des Betrugs oder der List identifizierbar. Entsprechend wichtig ist die Exklusi‐ on des spezifischen Wissens aus der Öffentlichkeit, wofür es funktionierender Schranken der Kommunikation bedarf. So wird das nicht weiter verbreitete Wissen zur „secreta politica“ – einem Herrschaftswissen, welches nur bestimmten Gruppen zur Verfügung steht.48 Im Unterschied zur Systematisierung von Gestrich handelt es sich hier nicht um zwei verschiedene Geheimnisbegriffe, einen öffentlich inszenier‐ ten und einen tatsächlichen, sondern um zwei verschiedene Aspekte des einen abso‐ lutistischen Herrschaftsgeheimnisses. Die öffentliche Symbolisierung spielt mit der Darstellung der Einheit der Differenz von Wissen und Nichtwissen. Das wirkliche Geheimnis der Herrschaft und sein Schutz vor der Öffentlichkeit setzen indes an der Effizienz der Geheimhaltung, also der strengen Kontrolle der Kommunikation des Herrschaftswissens an. Allein das kollektive Wissen um das Nichtwissen bedient nur eine Strukturebene des Geheimnisses und erst mit der bewussten Nichtmitteilung von Informationen wird die duale Struktur des Geheimnisses komplettiert. Nur die Aufrechterhaltung der Kontrolle über die Mitteilungen des Herrschaftswissens ent‐ lang der Innen-/Außen-Differenz erlaubte eine absolutistische Legitimation des Herrschers und seines Staates entsprechend der Theorie der Staatsräson. Sie ermög‐ lichte die „soziale Distanzierung des Fürsten“.49 Drittens zielt das Geheimnis auf den Inhalt des eigentlichen Herrschaftswissens ab. Der Kontext von Wissen und Mitteilung wird darin nun selbst als notwendiger 47 Gestrich 1994, S. 55. 48 Hölscher 1970, S. 132. 49 Gestrich 1994, S. 58.

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Zusammenhang normativiert und in eine „Klugheitsregel“50 der politischen Hand‐ lungslehre eingebaut. In diesem Sinn macht Machiavelli auf die Wirksamkeit von Verschwiegenheit und Verstellung als Mittel für gute Politik aufmerksam.51 Im 17. Jahrhundert entstand dann die Lehre der arcana imperii als eine Reihe von Instru‐ menten, „die dem Fürsten um der Staatsräson willen zugestanden wurden, auch und gerade wenn sie bei einem Privatmann aus moralischen Gründen verworfen wur‐ den“.52 Das Arkanum wird zu einem zentralen Begriff der neuzeitlichen, staatsför‐ dernden politischen Handlungslehre und bildet eine „Theorie der Praxis staatlicher Geheimhaltung“53, die das Moment der Kunstfertigkeit politischen Handelns mit der Notwendigkeit des Schutzes staatlicher Informationen zusammenbringt.54 Die Bedeutung des Geheimnisses in allen drei Ebenen fundiert die Legitimität des absolutistischen Herrschers und damit die Legitimität des Staates insgesamt. Genau deshalb verliert das Geheimnis auch infolge der Delegitimation des Absolutismus an Geltung. „Die geheime Kabinettspolitik, das zur Routine gewordene rationale Kal‐ kül, sollte im achtzehnten Jahrhundert so sehr zur Zielscheibe der Publizität fordern‐ den Kritik werden wie das absolutistische System selber.“55

3. Der Kampf um die Sichtbarkeit der Macht Die Erosion des absolutistischen Staatsverständnisses und seiner Legitimation der Herrschaft beginnt im abgeschlossenen Bereich des Privaten. Eben diesen Bereich hatte der absolutistische Staat seinen Untertanen als Rückzugsmöglichkeit überlas‐ sen, was politisch als Einschränkung der Bürger zu verstehen ist. Getragen vom „Selbstvertrauen der Vernunft“56, wagt sich der Bürger schrittweise aus diesem Raum ans Licht hinaus, wobei jeder Schritt ein „Akt der Aufklärung“57 ist. Die Ent‐ deckung der Vernunft fordert die überkommenen Geheimnisbereiche heraus. Nicht, weil es noch wie im Zeitalter des Geheimnisses erkenntnistheoretisch um die Suche nach dem einen verborgenen Prinzip geht, jenes heiligen Grals bzw. jenes Steines der Weisen, denen sich die Geheimnisökonomie so vehement verschrieben hatte. Im Zeitalter der Aufklärung zielt die Vernunft nicht mehr auf eine Idee, in der sich die „absolute Wesenheit der Dinge erschließt“, sondern auf eine Tätigkeit des Er‐ werbs.58 Dieses Handeln auf der Suche nach Erkenntnis löst in einem ersten Schritt 50 51 52 53 54 55 56 57 58

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Gestrich 1994, S. 58. Machiavelli 1978, S. 71ff. Hölscher 1970, S. 133. Wegener 2006, S. 49. Vgl. Campagna 2017. Koselleck 1973, S. 32. Cassierer 2007, S. 23. Koselleck 1973, S. 41. Cassierer 2007, S. 12.

alles Gegebene, alles Überkommene und Tradierte in seine letzten Bestandteile auf, um die darin mitschwingenden „Motive des Glaubens und Fürwahrhaltens“ genau zu identifizieren.59 Nach der Auflösung erfolgt dann der Aufbau eines neuen Gefü‐ ges, eines „wahrhaften Ganzen“, welches durch eine transparente Regel bestimmt, eine für alle durchsichtige Struktur besitzt.60 Die Transparenz bzw. der Wille zum Transparentmachen motiviert die Menschen, gemeinsam die Grenzen bestehender Herrschaftsverhältnisse kritisch zu hinterfragen. Die aufstrebenden Bürger konnten sich mit ihrem Zweifel und der anschließenden Kritik am absolutistischen Herrschaftsgeheimnis jedoch nicht in einem Medium der Öffentlichkeit bewegen, weil es dies in der dafür nötigen Form noch gar nicht gab.61 So vollzog sich die Artikulation der Kritik am Absolutismus durch die Kritik am Geheimnis der Herrschaft zunächst selbst in geheimen Zirkeln.62 Infolgedessen war das 18. Jahrhundert nicht nur das Zeitalter der Aufklärung, sondern auch das Zeital‐ ter der geheimen Gesellschaften.63 Aufklärung und Geheimnis werden zu einem ge‐ schichtlichen „Zwillingspaar“.64 Wie aber kommt es, dass die das Geheimnis derart pflegenden geheimen Gesellschaften, die Geheimlogen, eine Bewegung anstoßen, die das Geheimnis der Herrschaft in Form des absolutistischen Staates zugunsten einer transparenten Machtrepräsentation kritisiert? Warum braucht es das Geheim‐ nis, um das Geheimnis zu hinterfragen? Die Simultanität von Geheimnis und Aufklärung hat ihre Ursache zunächst in der tatsächlichen Macht des absolutistischen Staates. Ihm gelang es, eine Reihe potenzi‐ ell-politischer Gegner vom Zugang zur Herrschaft fernzuhalten. Dies traf sowohl Mitglieder des marginalisierten Adels als auch Vertreter des neuen, starken Bürger‐ tums sowie Intellektuelle. Aus dieser heterogenen Gruppe formte sich eine neue Ge‐ sellschaftsschicht, die im absolutistischen Staat keinen Platz hatte und im „Hinter‐ grund“ eine Institutionalisierung erfuhr.65 Sie bilden eine „indirekte Gewalt“, die im Verborgenen agieren muss, weil der absolutistische Staat jede direkte politische Ak‐ tion als eine Bedrohung ansieht und dementsprechend darauf reagiert.66 Das Ge‐ heimnis schützt die vom Staat bedrohte Gruppe, ermöglicht ihre Artikulation – aus der heraus sie sich als Herausforderer der bestehenden Ordnung begreift. Im Gegen‐ satz zu seiner Funktion im Kontext absolutistischer Herrschaft, wo das Geheimnis ein legitimer Modus politischen Handelns zur notwendigen Verschleierung der 59 60 61 62 63 64 65 66

Cassierer 2007, S. 13. Cassierer 2007, S. 13. Hölscher 1970, S. 118. „Aber nur im Geheimen, nur durch die Verschwörung der ‚Stillen im Lande‘, die erst im zwei‐ ten Schritt an die Öffentlichkeit dringt, wird die Transformation des Absolutismus zur bürgerli‐ chen Aufklärung erreicht“ (Maye/Meteling 2009, S. 91f.). Assmann 2013, S. 59; vgl. Hermand/Mödersheim 2013. Koselleck 1973, S. 49. Koselleck 1973, S. 53. Koselleck 1973, S. 53.

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Macht ist, wird es in den Geheimbünden normativ auf seine funktionale Sicherung der Grenze von Moral und Politik reduziert.67 Es fungiert als „Grenzscheide zwi‐ schen Moral und Politik: es schützt und umgrenzt den sozialen Raum, in dem sich die Moral verwirklichen sollte“.68 Derart im geheimen Innenraum des Staates ge‐ schützt konnten die Bürger ihre wahre Freiheit verwirklichen: „Die Freiheit im ge‐ heimen wird zum Geheimnis der Freiheit“ an dem alle Miteingeweihten über alle Standesgrenzen hinweg partizipieren können.69 Das Geheimnis schützt die Einge‐ weihten nicht nur, sondern schwor sie auch zu einer moralischen Gemeinschaft zu‐ sammen. Aus dieser moralischen und unpolitisch verstandenen Gemeinschaft wuchs die Antipode zum absolutistischen Staat, von dem sie sich eben durch ihre morali‐ sche Konstitution absetzen konnte. Der Prozess der Absetzung folgte aber keiner po‐ litischen Motivation, sondern der moralischen Distanzierung der Bürger von der Po‐ litik.70 Die Politik wie auch die Herrschaftsorganisation war so angreifbar und die Kritik an den gegenwärtigen Zuständen fand eine Adresse. So verwickelt die Gesell‐ schaft den absolutistischen Staat in einen „dualistischen Prozess, indem sie sich von ihm distanziert, ihn scheinbar neutral kritisiert, als moralischen Richter verurteilt und als geheimer Exekutor zugleich das Urteil zu vollstrecken sucht“.71 Mit ihrer „Verschwörung“72 setzen die Bürger zur vollkommenen Delegitimation des absolu‐ tistischen Staates an. Und was macht der absolutistische Staat? Dieser hat sich mit seinem Geheimnis der Macht in eine „Falle“ manövriert, denn seine eigene Undurchsichtigkeit wirkte sich kontraproduktiv auf die Möglichkeiten seiner Rechtfertigung aus.73 Weil der Absolutismus bewusst auf eine Trennung von Politik und Moral gesetzt hatte, wo‐ durch das Wesen der Politischen allein auf die „Eroberung und Erhaltung der Macht um ihrer selbst willen“ reduziert wurde, war es ihm unmöglich, seine bloß „realisti‐ sche Herrschaftskunst“ gegen die Ideale der moralischen Gesellschaft zu verteidi‐ gen.74 Die absolutistische Herrschaftsform konnte ihre Legitimität nicht erneuern, was wiederum den Staat als Herrschaftsorganisation in seinen Grundlagen heraus‐ forderte. Die sich in den Geheimgesellschaften verschworenen Bürger machen sich nun auf, die Legitimität des absolutistischen Staates anzuzweifeln, indem sie dessen Herrschaftsgeheimnis hinterfragen. Und sie tun dies nicht mehr im Schutze ihrer Ge‐ heimbünde, sondern sie tragen die Kritik in einen neuen Bereich kollektiver Interak‐

67 68 69 70 71 72 73 74

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Koselleck 1973, S. 58. Koselleck 1973, S. 60. Koselleck 1973, S. 60. Koselleck 1973, S. 80. Koselleck 1973, S. 80. Weber 1999. Rosanvallon 2000, S. 22. Rosanvallon 2016, S. 171.

tion – der Öffentlichkeit. „Ohne sich ihres privaten Charakters zu begeben, wird die Öffentlichkeit zum Forum der Gesellschaft, die den gesamten Staat durchsetzt.“75 Als ein politisch-sozialer Begriff avanciert sie im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem Kampfbegriff, mit welchem die Vertreter des Bürgertums ihrer Forderung nach politischer Emanzipation Ausdruck verleihen konnten.76 Ihre durch die Logik der Aufklärung enthemmte Kritik hinterfragt öffentlich und gnadenlos sämtliche Ta‐ bus, woraus ein Strudel der Öffentlichkeit entsteht, in den alles hineingerissen wird.77 Doch nicht nur im kritischen Sinne entwickelt sich die Öffentlichkeit zum politischen Begriff. Er nimmt auch für Demokraten und Republikaner eine exponier‐ te Stellung ein, weil sich mit ihm die Freiheit verknüpfen lässt. Derart erweitert, las‐ sen sich mit der Öffentlichkeit wichtige politische Forderungen transportieren. Drei sind von besonderer Bedeutung:78 1. Da alle vorbehaltlos und inklusiv am öffentlichen Geschehen teilnehmen können, transportiert der Begriff auch die Idee der politischen Gleichheit. 2. Öffentlichkeit zielt auf die aktive Teilhabe und nicht nur eine passive Rezeption, weshalb sie mit der Forderung nach Partizipation verbunden werden kann. 3. Da Öffentlichkeit mit dem Redlichen bzw. Wahrhaftigen gedacht wird, bildet sie eine Relation mit der normativen Rechtfertigung. Somit verlangt Öffentlichkeit auch die Verantwortung der politischen Herrschaft, sich öffentlich zu legitimie‐ ren. Dank dieser Verknüpfungen kann die Öffentlichkeit eine umfassende politisch-ein‐ setzbare Deutungs- und Ordnungsleistung anbieten. Ihre Einbettung in einen spezifi‐ schen historisch-politischen Diskurs und ihr Potenzial für Sinnverweisungen ermög‐ lichen ihr sowohl den Status einer normativen Leitidee als auch den eines Ordnungs‐ begriffes. Normative Leitideen transportieren Ziele, Werte und Prinzipien von politischen Ordnungen, die dazu dienen, kritisch über die Legitimation solcher Ordnungen zu reflektieren.79 Öffentlichkeit steht als normative Leitidee im Mittelpunkt einer auf‐ strebenden, stark politisierten sozialen Gruppe, die damit die überkommene politi‐ sche Ordnung hinterfragt. Dem Bürgertum diente sie als Instrument der Feindbe‐ stimmung und damit als Delegitimationsformel für den absolutistischen Staat. Erst durch diese Emanzipationsbewegung wird die Öffentlichkeit zu einer neuen, weitrei‐ chenden Legitimationsformel, in der sich ein umfassend gewandeltes Verständnis der politischen Praxis ausdrückt. Sie avanciert zu einem allgemein-kognitiven Diffe‐ 75 Koselleck 1973, S. 41. 76 Hölscher 1970, S. 118. Zu den folgenden Erörterungen vgl. auch Knobloch 2011 und Knobloch 2017. 77 Koselleck 1973, S. 97. 78 Hölscher 1970, S. 123. 79 Göhler u.a. 2009, S. 375.

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renzierungsangebot, das für weitere soziale Bereiche Gültigkeit beansprucht.80 Ge‐ genüber Leitideen behandeln Ordnungsbegriffe grundlegende Strukturierungen der Politik, die als Leitkategorien die empirische Analyse gliedern und oft auch normati‐ ve Komponenten integrieren.81 Öffentlichkeit als ein Prinzip politischen Handelns klassifiziert bestimmte Arten von Interaktionen, die sich normativ als öffentlich qua‐ lifizieren lassen. Diese Art wandelt sich zu einer Grundkategorie des sozialen Le‐ bens, da sie fortan als ein Medium verstanden werden kann, welches die Prozesse der kollektiven Willens- und Vertrauensbildung sowie der Kontrolle von politischen Entscheidungsträgern in einer Demokratie umfasst.82 Das Medium zeigt sich als „heimlicher Souverän“, als eine „unsichtbare Hand“ des politischen Systems.83 Aber nicht, weil die Öffentlichkeit funktional dazu in der Lage ist, sondern weil sich im Kampf gegen den absolutistischen Staat in ihr die Souveränität der Kritik manifes‐ tiert, an der jeder partizipiert.84 Theoretisch lassen sich beide Begriffsdimensionen trennen. Öffentlichkeit dient ohne normative Verweisungen ausschließlich zur Beschreibung eines notwendigen Mediums der gesellschaftlichen Selbsterfahrung, während sie in Form eines bloßen Freund-Feind-Schemas ausschließlich evaluativ genutzt werden könnte.85 Im ersten Fall hätte sich der Ordnungsbegriff vollständig von der normativen Leitidee getrennt und reüssiert als empirisch-analytische Kategorie von Struktur. Hingegen radikali‐ siert die zweite Verwendung die ursprüngliche, wertende Intention des Begriffes in der Reflexion politischer Interaktionen, wodurch sie verkennt, dass Öffentlichkeit in modernen Gesellschaften eine funktionelle Eigenlogik besitzt. Im ersten Fall geht es dann höchstens noch um die Konstitution einer Norm, die eine Funktion hat, wäh‐ rend im zweiten Fall der Wert der Öffentlichkeit in der Politik unter Ausblendung funktioneller Voraussetzungen verteidigt wird. Dass sich jedoch die Öffentlichkeit zu einem populären Ordnungsmodell politischer Gesellschaften weiterentwickelt hat und als Leitidee einen enormen Einfluss auf die Institutionalisierung der westlichen Demokratien ausübt, verweist auf die Gleichzeitigkeit beider Begriffsdimensionen. Ein normativ legitimiertes Verfahren übt wichtige Funktionen innerhalb der politi‐ schen Herrschaftspraxis aus, welche jedoch erst die Voraussetzungen dafür geschaf‐ fen hat. Die durch Öffentlichkeit geprägten Institutionen der Presse, der Gerichte und des Parlamentes sind somit keine einfachen Manifestierungen einer normativen Leitidee, sondern in die funktionale Differenzierung der liberalen Demokratien ein‐ gebettet, die in Westeuropa eben von der Idee der Öffentlichkeit geprägt sind.86 Nur 80 81 82 83 84 85 86

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Habermas 1990, S. 69ff. Göhler u.a. 2009, S. 375. Hölscher 1970, S. 136f. Luhmann 2000, S. 279. Koselleck 1973, S. 91. Strum 2000, S. 121ff. Vgl. Strum 2000, S. 154ff.

dank der Simultanität beider Dimensionen, die von den oben diskutierten Ansätzen nicht genügend beachtet wird, entwickelt sich die Öffentlichkeit zu einem erfolgrei‐ chen Mechanismus, der innerhalb einer Demokratie Veränderungen im politischen Raum in legitime Zustände transformieren kann. Für das Geheimnis bedeutet dieser Erfolg nichts Gutes. Die radikale Souveränität der Kritik in der Öffentlichkeit hat die Legitimität des Geheimnisses als Modus poli‐ tischer Herrschaft vollkommen untergraben. Das bekommt auch der Staat als Träger und Instrument politischer Herrschaft zu spüren. Er kann sich nicht mehr auf eine geheimnisvolle Staatsräson berufen, die ihn als scheinbar neutralen Gewaltmonopo‐ listen vor allen anderen beschützt. Die radikale Kritik hinterfragt seine Neutralität und sieht in dem Geheimnis lediglich die Verschleierung von illegitimen Machtan‐ sprüchen. Denn die „Traktate der Staatsräson“ sollten auch ein „Milieu“ schaffen, welches sich an dem „Projekt zur Beherrschung der Untertanen beteiligte“.87 Eben diese Untertanen fordern nun eindringlich die Verwirklichung der Volkssouveränität in der Herrschaft. Ihnen geht es dabei nicht in erster Linie um die direkte Partizipati‐ on des Demos, sondern vielmehr um die Schaffung von Vertrauen durch Transpa‐ renz, indem das Volk als Publikum seine Repräsentanten überwachen kann.88 Hier‐ für mussten Staat, Regierung und auch die immer wichtiger werdende Legislative ihre Handlungen und Entscheidungen lesbar gestalten. Publizität ist die Vorausset‐ zung für eine „Politik der Lesbarkeit“, die eine egalitäre Kontrolle der politischen Herrschaft erst möglich macht und sukzessive zur nachhaltigen Demokratisierung von Staat und Gesellschaft führt.89 Wer stattdessen etwas zu verbergen hat, ist ent‐ weder ein Übeltäter oder einfach unfähig.90 Das Transparenzgebot hat aus der Kritik heraus neue Bedingungen für die Legiti‐ mität von Macht und Herrschaft diktiert. Überzeugend setzt die normative Leitidee einer sichtbaren Macht die Forderung nach kollektiver Kontrolle durch den Demos in die Praxis politischer Herrschaftssysteme um. Durch den Erfolg dieser Idee verän‐ dern sich die grundlegenden Vorstellungen über die Konstitution politischer Ord‐ nung. Aus der Idee der sichtbaren Macht entwickelt sich der Ordnungsbegriff der Öffentlichkeit, der das Koordinatensystem möglicher politischer Institutionalisierun‐ gen fixiert. Es gehört zum Signum der Moderne, dass ihre konstituierenden, innova‐ tiven Ideen kein eingeschriebenes Limit besitzen. Der Individualismus oder die Frei‐ heit sind potenziell unbegrenzt, wodurch die soziale Praxis in Krisen gestürzt wird, die stetig das Projekt der Moderne herausfordern.91 So ist es auch mit der Idee von der Sichtbarkeit der Macht bzw. der Öffentlichkeit geschehen. Die positiv, weil herr‐ schaftskritisch gedachte Funktion der Kontrolle lässt sich auch gegen das Volk selbst 87 88 89 90 91

Rosanvallon 2016, S. 172. Rosanvallon 2016, S. 198. Rosanvallon 2016, S. 209. Vgl. Bentham in Rosanvallon 2016, S. 206. Vgl. Wagner 1995.

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einsetzen. Dies führte zum Totalitarismus, in dem die Öffentlichkeit totale Kontrolle ermöglichte, weil sie jedes Geheimhalten unmöglich machte.92 Sie wird zur Quelle einer „Macht, die alles sieht“.93 Aus dieser Erfahrung heraus wurden auch der Öf‐ fentlichkeit notwendige Restriktionen im politischen System eingeräumt.

4. Die Ambivalenz des Geheimnisses im modernen Staat Anhand des kurzen historischen Abrisses ist deutlich geworden, dass sich die Prä‐ missen der Organisation der politischen Herrschaft von der Sichtbarkeit zur Unsicht‐ barkeit und dann wieder zur Sichtbarkeit hin bewegt haben. Auch der zeitgenössi‐ sche Staat als Institution politischer Herrschaft, die Macht organisiert und stabili‐ siert, beugt sich der Dominanz des Transparenzgebotes und räumt dem Geheimnis keine Legitimation mehr ein. Dass auch für den ehemaligen Träger legitimer Ge‐ heimnisse fortan der Ordnungsbegriff der Öffentlichkeit gilt, hat zwei normativ be‐ gründete Ursachen. Zum einen ist der moderne Staat in der Demokratie zu einer de‐ mokratischen Institution geworden. In ihm manifestiert sich die Idee der kollektiven Selbstregierung. Somit drängt auch hier das demokratische Ideal jede Form der In‐ transparenz zurück, da diese als Negation des demokratischen Ideals verstanden wird.94 Zum anderen dominiert im modernen Staat die Idee der rationalen Herr‐ schaft, die durch Formalisierung und Fixierung Transparenz herstellt.95 Der formaloperative Symbolismus stellt im neuzeitlichen Staat die Legalität sicher und fixiert den Wandel im „Modus der Legitimität“.96 Die normative Leitidee der Formalisie‐ rung beruht auf der Klassifikation als Verfahren und Methode.97 Sie arbeitet mit „starken Einschließungs- und Ausgrenzungsregeln“98, die die Fülle infrage kom‐ mender Reaktionsmöglichkeiten des Handelns beschränken und stabile Erwartungs‐ haltungen konstruieren, die kollektives Handeln in komplexen Settings erlauben bzw. reproduzierbar machen. Formalisierung ist Teil eines normativ gewollten Pro‐ zesses der Organisation kollektiven Zusammenlebens. Ihre wesentliche Idee ist eine spezifische Vorstellung von Zweckrationalität. Diese geht eine Verbindung mit der Herrschaft ein, um eine rationale Ordnung der Gesellschaft bzw. der sozialen Bezie‐ hungen umzusetzen.99 Zweckrationalität wird zum Leitbegriff der Modernisierung, die mittels Formalisierungen die Welt berechen- und handhabbar gestalten will.100 92 93 94 95 96 97 98 99 100

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Rylkin 2003. Bobbio 1988, S. 107. Rosanvallon 2016, S. 207; vgl. Knobloch 2017. Vgl. Knobloch 2016. Breuer 1998, S. 25 und S. 162. Wagner 1995, S. 57f. Wagner 1995, S. 59. Vgl. Luhmann 1999, S. 32f. Weber 1991, S. 250; Wagner 1995, S. 57.

Aus beiden Gründen ergibt sich die enge Relation von Sichtbarkeit der Macht und modernem Staat. Zwar werden Geheimnisse aufgrund ihrer Illegitimität und ihres ir‐ rationalen Charakters abgelehnt, dennoch bleiben sie dem Staat in einer spezifischen Ambivalenz erhalten, denn sie kehren als funktionales Erfordernis in zweifacher Weise zurück: Erstens in Form der Informalität, denn die Fixierung der Macht stößt an ihre Grenzen, wenn es um die Reichweite von Formalisierungen geht. Eine voll‐ kommene Konventionalisierung des menschlichen Handelns ist weder in Organisa‐ tionen noch in Gruppen oder Institutionen möglich. Es bleibt ein Rest an notwendiginformalem Handeln in einer formalisierten Umwelt erhalten. Diese schriftlich nicht fixierten, unbewussten, nicht formalisierten, unausgesprochenen sozialen Regeln lassen sich auf allen Ebenen der Organisation menschlichen Zusammenlebens nach‐ weisen.101 Zweitens gilt das Geheimnis weiterhin in bestimmten, den Schutz des Staates betreffenden Sonderbereichen, in denen die Öffentlichkeit ausgegrenzt wird. In Deutschland sind dies das Staatsgeheimnis und die Geheimschutzordnung des Bundestages, wobei beides Instrumentarien des Geheimnisschutzes sind.102 Wäh‐ rend sich das Staatsgeheimnis primär auf die äußere Sicherheit bezieht und unter an‐ derem den Landesverrat sanktioniert, sucht die Geheimschutzordnung des Bundesta‐ ges auch eine Absicherung nach innen. Die Geheimschutzordnung des Bundestages formalisiert Techniken, um parlamentsinterne Geheimnisse zu schützen. Weiterhin verbindet sie bestimmte Positionen mit unterschiedlichen Geheimhaltungsgraden. Mithilfe der Geheimschutzordnung werden die Informationsvorsprünge der Exekuti‐ ve gegenüber dem Parlament aufgehoben, welches damit einen Zugang zu sensiblen Informationen der Regierung erhält, die sich nun auf den Schutz dieser Informatio‐ nen durch das Parlament verlassen kann bzw. soll. Des Weiteren nutzt der Staat Ge‐ heimdienste im Inneren wie im Äußeren zur Aufklärung und Abwehr existenzieller Gefahren.103 Diese limitierte Legitimität von Geheimnissen umreist einen kleinen Bereich un‐ sichtbarer Machtbeziehungen. Die Sichtbarkeit ist hier entweder natürlich einge‐ schränkt, weil sich nicht alle Bereiche sozialer Interaktionen öffentlich verregeln las‐ sen, oder bewusst verhindert, um den Selbstschutz der Institution zu gewährleisten. Beides ist nicht problematisch, da die unsichtbaren Bereiche von der sichtbaren Macht erlaubt werden. So können sich unsichtbare Machtbeziehungen nicht selbst‐ ständig machen und sich zu autonomen politischen Einheiten entwickeln. Allerdings ist dieser Status quo einer eingeschränkten Erlaubnis von Geheimnissen in der Poli‐ tik derzeit unter Druck geraten. Der Kampf zwischen unsichtbarer und sichtbarer Macht wird wieder intensiver. Jedoch ist die Qualität des Kampfes diesmal eine an‐ 101 Dazu gehören z.B. informale Institutionen, informale Verfassungen, ungeschriebene Verfas‐ sungen oder auch die Zivilreligion. Knobloch 2016, S. 8ff. 102 Rösch 1999, S. 92ff. 103 Vgl. Krieger 2017.

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dere. Im Unterschied zu den oben behandelten historischen Verschiebungen wird der Staat nicht mit dem Hinweis auf die Legitimität bzw. Illegitimität von sichtbarer oder unsichtbarer Macht herausgefordert. Stattdessen unterstützt der Staat zwei kon‐ träre Veränderungen der politischen Praxis, die jeweils eine Ausweitung der Un‐ sichtbarkeit wie auch der Sichtbarkeit politischer Macht vorantreibt. Zum einen wird durch die zunehmende Informalisierung der Politik in den Governance-Ansätzen die staatliche Steuerung der Öffentlichkeit entzogen, wobei auch der Einfluss transnatio‐ naler Institutionen diesen Trend unterstützt.104 Zum anderen erhalten Geheimdienste in einem immer unsicherer werdenden Umfeld mehr Autonomie und größere Hand‐ lungsspielräume im Inneren wie im Äußeren.105 Dieser Ausweitung unsichtbarer Machtbereiche durch den Staat steht die Ausdehnung der Öffentlichkeit gegenüber. Durch die Massenmedien und das Internet sind viele ehemals unsichtbare Bereiche des Sozialen einer ständigen Beobachtung unterworfen. Dies trifft auch auf die poli‐ tischen bzw. staatlichen Akteure zu, wobei die Expansion der Datengenerierung vom Staat gestützt wird. Nachrichtenportale, Blogs und Foren haben die Öffentlichkeit schon so dynamisiert, dass Raum und Zeit als Größen durch sie marginalisiert wer‐ den. Damit steigert sich die Aufmerksamkeit und Beobachtungsfähigkeit der Öffent‐ lichkeit ins unermessliche, worunter auch die Institutionen des Staates fallen. In der „Transparenzgesellschaft“ ist die Transparenz keine potenzielle Möglichkeit mehr, sondern längst zu einem „systemischen Zwang“ geworden.106 Damit geht nicht nur die Privatheit verloren, sondern es entstehen auch Möglichkeiten einer totalen öf‐ fentlichen Kontrolle durch eine umfassende sichtbare Macht, die keine Geheimnisse mehr zulässt.107 Der Staat ist in beiden Feldern aktiv, weshalb die Kritik an der jeweiligen Seite kondensiert. Indes könnte auch gemutmaßt werden, dass die Polarisierung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit ihre Schlagkraft eingebüßt hat. Indem der Staat der Gegenwart sich in seiner Machtorganisation über die Differenz von sichtbarer und unsichtbarer Macht hinwegsetzt bzw. hinwegsetzen kann, macht er vielleicht deut‐ lich, dass die Differenz an ihr historisches Ende gekommen ist. Demnach wäre die Machtorganisation des Staates nicht mehr durch die Forderung nach Transparenz und Intransparenz zu kritisieren. Die Suche nach neuen Kriterien zur Kritik der Machtorganisation des Staates im Kontext „voyeuristischer Tyrannei“108 der Trans‐ parenzgesellschaft und des „zersetzenden Gifts des Argwohns“109, der mit dem Ge‐

104 Vgl. Degg 2006. 105 Der Kampf gegen den Terror, die Bekämpfung transnationaler Gewaltakteure wie auch die in‐ nenpolitischen Spannungen im Kontext der neuen Kulturkämpfe stellen ein enormes Betäti‐ gungsfeld für die Geheimdienste dar. 106 Han 2013, S. 6. 107 Vgl. Mülling 2019. 108 Rosanvallon 2016, S. 319. 109 Rosanvallon 2016, S. 205.

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heimnis zusammenhängt, hat jedoch erst begonnen. Die Erkenntnisse des vorliegen‐ den Bandes sind ein erster Beitrag dazu.

5. Vorblick Die einzelnen Teile des Buches verfolgen das Verhältnis von Staat und Geheimnis entlang des Spannungsfeldes von unsichtbarer und sichtbarer Macht sowohl ideen‐ geschichtlich als auch systematisch.110 Der dieser Einleitung folgende zweite Teil behandelt die historische Entdeckung des Geheimnisses durch die versteckte Macht‐ organisation im neuzeitlichen Staat. Michael Zantke analysiert das Arcanum in der politischen Handlungslehre von Machiavelli. In dessen Werk finden sich tatsächlich Ansätze einer legitimen Geheimnistheorie in der Politik, die jedoch, wie das gesam‐ te Werk von Machiavelli, gleich nach seinem Tod zum Gegenstand der Legendenbil‐ dung wird. Christoph S. Widdau spürt dem Geheimnis in der Politischen Philosophie von Thomas Hobbes nach. Da der Staat für Hobbes eine „rationale Erfindung“111 ist, der sich vor allen anderen öffentlich rechtfertigen kann, muss er sichtbar sein. Den‐ noch besitzt der Staat gegenüber dieses Sichtbarkeitszwanges der Formalisierung eine unsichtbare Macht, die immer dann aktiv wird, wenn das Gemeinwesen in Ge‐ fahr ist. Der nächste Teil setzt sich mit der erneuten Verschiebung im Verständnis des Staates auseinander und beleuchtet die Forderung nach der Offenbarung seiner Macht. Hierzu untersucht der Beitrag von Christoph Schmitt-Maaß die Forderung nach der Sichtbarmachung von Macht in der Frühaufklärung. Anhand des Romans „Télémaque“ von Fénelon werden die Form und die Umstände der Aufdeckung ab‐ solutistischer Herrschaft illustriert. Die Geschichte dieses Werkes bedient die ge‐ samte Komplexität des Geheimnisses zwischen Geheimnisverrat und Verschwörung der Kritiker, wie es für die Aufklärung typisch war. Im Beitrag von Andreas Nix werden die offenen Fragen der durch die Aufklärung rationalisierten Sichtbarkeit der Macht für den Staat diskutiert. Bezogen auf die Staatstheorie von Carl Schmitt, des‐ sen Schriften zum Brennpunkt der Auseinandersetzung um den modernen Staat ge‐ worden sind, konzentriert sich Nix auf die durch die Offenbarung der Macht provo‐ zierte Gegenbewegung. In Schmitts Gegenentwurf leuchtet nochmal die Ambivalenz des Geheimnisses in der aufklärerischen Kritik des Staates auf. Der vierte Teil lotet das Verhältnis von Geheimnis und Demokratie aus. Hierzu verteidigt Dannica Fleuß in ihrem Beitrag die Theorie von Jürgen Habermas, der die Öffentlichkeit zur nor‐ mativen gesellschaftlichen Leitidee aufwertet. Er fördert eine deutliche Akzentver‐ schiebung nicht nur bei der normativen Gewichtung der Differenz von öffentlich/ 110 Ohne hier einen Graben zwischen den beiden Herangehensweisen zu entdecken (Bubner 2002, S. 18). 111 Bubner 2002, S. 129.

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geheim, sondern auch mit der Forderung, dass vornehmlich die Bürger, nicht mehr der Staat, über die Anwendung der Differenz entscheiden dürfen. Für Habermas bleibt trotz des Publizitätsideals letztlich der Bürger Souverän verborgener kommu‐ nikativer Praxen. Daniel Schulz fokussiert das problematische Verhältnis von Ge‐ heimnis und Demokratie auf den Verfassungsstaat. In seinem Beitrag analysiert er die verschiedenen Geltungsbedingungen von Geheimnissen im liberalen Konstitu‐ tionalismus und beschäftigt sich eingehend mit unverfügbaren Geltungsvorausset‐ zungen im demokratischen Verfassungsstaat. Der abschließende Teil des Buches hebt das Geheimnis und den Kampf um die Unsichtbarkeit der Macht in den aktuel‐ len Kontext. Alexander Weiß entwickelt eine systemtheoretisch begründete Theorie des Geheimnisses, die in der Lage ist, zwischen guten und schlechten Geheimnissen zu differenzieren. Damit lässt sich die, durch den neuen Status der Transparenz radi‐ kalisierte, Selbstbeobachtung der Gesellschaft normativ neu ordnen. Daran anschlie‐ ßend setzt sich Vincent August in seinem Beitrag dafür ein, zwischen Transparenz und Öffentlichkeit zu unterscheiden. Durch die ideengeschichtliche und aktuelle Re‐ flexion zeigt der Beitrag, dass die Differenz von öffentlich/geheim nicht mehr die Wirklichkeit der Machtpraktiken abbildet. Stattdessen verschmelzen Transparenz und Geheimnis zu einer neuen, nicht mehr gegensätzlichen Einheit. Gegen die damit einhergehenden gesteigerten Möglichkeiten unsichtbarer Machtorganisation positio‐ niert sich der Beitrag von Heinz Kleger und Eric Mülling. Sie entwickeln mit dem Begriff der digitalen Bürgersouveränität ein emanzipatives Konzept, welches die Bürger in der durch neue Technologien bestimmten Transparenzgesellschaft dazu befähigt, über die Verwendung ihrer Daten selbst zu entscheiden. Damit reagieren sie auf die vollkommen veränderten Kontrollmöglichkeiten, die getragen durch die technologischen Fortschritte in Allmachtsfantasien abgleiten können. Die Menschen müssen souverän und kompetent bestimmen, was von ihnen transparent sein darf und was nicht. Nur so zwingen sie den Staat, nicht mit dem potenziell gläsernen Bürger oder gar einem Transhumanismus zu spielen.

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II. Die Unsichtbarkeit der Macht

Michael Zantke Machiavelli und das Geheimnis politischer Macht

1. Die Legende von Machiavelli Mit dem Namen Niccolò Machiavelli schwingt der Klang des Okkulten und Ge‐ heimnisvollen. Als erster „Whistleblower“ der Geschichte hat er die Geheimnisse der politischen Herrschaft verraten und die Wahrheit über das unmoralische Herr‐ schaftshandeln seinerzeit an die Öffentlichkeit gebracht. Dies setzte ihn einer unge‐ hemmten öffentlichen Kritik aus, die sich aber weniger auf die zur Schau gestellte Gewaltsamkeit politischen Handelns konzentrierte, denn den Renaissancemenschen war diese durchaus vertraut, erschien ihnen legitim und imponierte sogar oft. Statt‐ dessen war es die Gegensätzlichkeit zwischen dem öffentlichen Schein und den poli‐ tischen Taten der Herrschenden, die er aufgedeckt hatte, und für deren Amoralität fortan sein Name stand. Der Verrat des Verräters wurde aufs Heftigste angegriffen, indes das Skandalon der von ihm ans Licht gebrachten Wirklichkeit politischen Han‐ delns kaum ins Gewicht fiel. So haben besonders protestantische Geistliche ihre Ver‐ dammungsurteile gegen Machiavelli damit begründet, dass dieser den Herrschern empfohlen hatte, gesellschaftliche Tugenden wie etwa Frömmigkeit nur zu heu‐ cheln, in der Wirklichkeit jedoch auch entgegen dem religiösen Wertekanon zu agie‐ ren. Zudem fürchteten Hugenotten und englische Protestanten die Verschwörungen ihrer katholischen Gegner, die sie als Schüler Machiavellis betrachteten.1 Indes wa‐ ren es die Jesuiten, die Machiavellis Werke 1559 auf den päpstlichen Index für ver‐ botene Schriften setzen ließen, nachdem diesen 1531 die Druckerlaubnis des Papstes erteilt worden war. Dieses Engagement deuteten wiederum die Kritiker des Jesuiten‐ ordens als Versuch, die offengelegten eigenen Herrschaftspraktiken zu verschleiern. Die Protestanten sahen in Machiavelli den Lehrmeister ihrer katholischen Feinde und das leibhaftige Böse. Unabhängig von Machiavellis wirklicher Intention war es ihm mit seinem Geheimnisverrat gelungen, sowohl die vermeintlichen machiavellis‐ tisch Beherrschten als auch die herrschenden Machiavellisten derart zu erzürnen, dass die Anzahl seiner Kritiker die Anzahl seiner Bewunderer in den Jahrhunderten nach seinem Tod bei Weitem überwog. Dagegen blieb die Anzahl derjenigen, die in Machiavellis Werken bloß eine realistische Beschreibung des politischen Handelns sahen und dies auch öffentlich eingestanden, überschaubar.

1 Vgl. Beck 1935.

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Vor diesem Hintergrund vollzog sich auch die Legendenbildung um Machiavelli, die für eine nachträgliche Identifikation des Autors mit seiner Fürstenfigur gesorgt hat. In diesem Machiavellismus steht er repräsentativ für eine Herrschaftsform ba‐ sierend auf Gewalt und Verschwörung. Durch diese Identifikation wird in der Le‐ gende das Werk vom Autor radikal getrennt. Während der Autor immer weiter zu‐ rücktritt, wird das Werk beliebig instrumentalisiert, sowohl von den Kritikern als auch den Befürwortern einer realistischen und intransparenten politischen Hand‐ lungslehre. So lässt Maurice Joly in seinem „Dialog in der Unterwelt zwischen Ma‐ chiavelli und Montesquieu“ Machiavelli als literarische Figur zu Wort kommen und umreist die arcana totaler Herrschaft, weshalb im frühen 20. Jahrhundert Machiavel‐ lis Schriften zur Chiffre des Totalitarismus wurden.2 Demgegenüber entwickelt man in den Reihen der deutschen Nationalrevolutionäre einen „revolutionären Machia‐ vellismus“, in dem die radikalen linken und rechten Bewegungen miteinander ver‐ schmelzen und als Geisteswaffen im politischen Kampf geführt werden sollten.3 Die positiven Bezüge dieser konservativen Revolutionäre zu Machiavelli beruhten auf dessen Patriotismus, seiner Vision des Volksheeres, aber vor allem jedoch auf der Idee, dass zur Schau gestellte Moral, Religion und – projiziert auf die eigene Zeit – auch Ideologien im politischen Kampf nur einen öffentlichen Verblendungszusam‐ menhang herstellen. Längst ist an dieser Stelle die Differenz von Autor und Text und der stetigen Neu‐ interpretation bzw. konzeptuellen Adaption vollkommen unübersichtlich. Grund die‐ ser Unschärfe ist die Wirkung der Theorie Machiavellis als politische Handlungsleh‐ re, die zwar kritisiert werden kann, jedoch gleichzeitig in das fortdauernde politische Handeln hineinwirkt. Eine notwendige Trennung ist daher aus der Perspektive der politischen Praktiker schwierig, wenn nicht unmöglich, weshalb die Kritiker Ma‐ chiavellis oft selbst machiavellistisch handelten. Bekanntes Beispiel hierfür ist der preußische König Friedrich der Große. Als Kronprinz verfasste er einen „Anti-ma‐ chiavel“, in dem er die Lehren aus „Il Principe“ Schritt für Schritt zu widerlegen versuchte.4 Doch mit der Annexion Schlesiens offenbarte sich der junge König kur‐ ze Zeit nach der Veröffentlichung seiner Schrift bereits als rationaler Eroberer im Stile des geächteten Florentiners. Dennoch muss zwischen Werk und Autor, zwi‐ schen Theorie und Legende unterschieden werden, vor allem, wenn wie hier das Ge‐ heimnis untersucht werden soll. Während in der durch Machiavelli offengelegten Geheimlehre der Regierungskunst die Gegensätzlichkeit des öffentlichen Scheins und den tatsächlichen, geheimen Motiven des Herrschers, das ambivalente Reden und Handeln sowie die Instrumentalisierung des Glaubens als Kernelemente fungie‐ 2 Joly 1948. Gleichzeitig schafft Joly unfreiwillig eine literarische Grundlage für die sogenannten „Protokolle der Weisen von Zion“. 3 Vgl. Fischer 1933. 4 Kronprinz von Preußen 1741.

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ren, wurde in der Rezeption und Weiterentwicklung seiner Schriften in den Jahrhun‐ derten nach seinem Tod den geheimen Formen der Machtentfaltung ein weitaus hö‐ heres Gewicht eingeräumt. Für Machiavelli hingegen hatten die unsichtbaren Mittel und Wege der Macht keinen Vorrang vor den sichtbaren. Ich will daher zeigen, dass Machiavellis Ruf als Bewunderer sowie Förderer der Tyrannen und als Großmeister der Verschwörung einer virulenten Legendenbildung entsprungen ist. So wird Ma‐ chiavellis ausdrückliche Distanzierung gegenüber Verschwörung und Tyrannis in der Legende meist verschwiegen, ebenso wie seine deutlichen Affinitäten zur Republik und zur verfassungsmäßigen Gewaltenteilung. Stattdessen, so meine These, voll‐ zieht sich mit der Legendenbildung um Machiavelli auch eine Veränderung des Ge‐ heimnisses von einem rein technischen Konzept politischen Handelns hin zu einer für alle Formen der Verschwörung offenen Symbolik des Okkulten. Ich rekonstruiere zunächst die Stellung des Geheimnisses in Machiavellis Lehre des politischen Handelns. In einem zweiten Schritt prüfe ich, ob in der Theorie Ma‐ chiavellis auch ein über die unmittelbare Politik hinausgehendes Geheimniskonzept vorhanden ist. Anschließend wendet sich der Beitrag der Wirkung des Geheimnisses im Rahmen der Anwendung von Machiavellis politischer Theorie zu. Hierbei wird untersucht, ob sich die Technik des Geheimnisses auch in der Instrumentalisierung von Machiavelli nachweisen lässt. Erst durch diesen Nachweis könnte der Status des Geheimnisses bei Machiavelli systematisch aufgeklärt und geprüft werden, ob die Identifikation seines Namens mit der Geheimpolitik gerechtfertigt ist.

2. Das Geheimnis in Machiavellis Handlungslehre In erster Linie stellt die technische Handhabung des politischen Geschehens den Kern von Machiavellis politischer Lehre dar. So stützte Carl Schmitt seine Bestim‐ mung der Diktatur auf diese „Technizität“: „Diese technische Auffassung ist für die Entstehung des modernen Staates wie für das Problem der Diktatur von unmittelbarer Bedeutung. Aus dem Rationalismus dieser Tech‐ nizität ergibt sich zunächst, dass der konstruierende Staatskünstler die staatlich zu organi‐ sierende Menschenmenge als ein zu gestaltendes Objekt, als Material ansieht. […]. Ist das Volk aber das Irrationale, so kann man nicht mit ihm verhandeln oder Verträge schlie‐ ßen, sondern muss es durch List oder Gewalt meistern. Der Verstand kann sich hier nicht verständigen, er räsoniert nicht, sondern diktiert.“5

Weiterhin unterscheidet Machiavelli stets zwischen verschiedenen Szenarien, die un‐ terschiedliche Anforderungen an die Technizität stellen. Bei der Gründung und Er‐ haltung der Republik braucht es andere Techniken als im Falle der Monarchie; in

5 Schmitt 1921, S. 10.

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Zeiten der sittlichen Integrität des Gemeinwesens werden andere Mittel erforderlich als in Zeiten des sittlichen Verfalls usw. Machiavelli analysierte die technische Machbarkeit der jeweiligen Szenarien und versucht, diese zunächst weitgehend wertfrei zu beurteilen. Wenn er über die technischen Erfordernisse eines tyranni‐ schen Staatsstreichs gegen eine freie Republik spricht, heißt das nicht, dass er dieses Szenario als wünschenswert betrachtet. Ein ruchloser politischer Einzelkämpfer wie Cesare Borgia verkörpert keineswegs sein Ideal des Herrschers. Borgia ist für Ma‐ chiavelli der zeitgemäße politische Typus, der in einer Epoche des moralischen Ver‐ falls das Volk mit List und Gewalt zur Ordnung bringt. Er ist der notwendige, nicht der ideale Typus. Der von Machiavelli konstruierte „Principe“ ist auf dieses konkre‐ te Szenario hin ausgelegt. Machiavelli stellt weder Unmoral noch Tyrannenherr‐ schaft als Königswege des politischen Handelns dar. Er favorisiert die freie Republik und das sittlich integre Gemeinwesen. An zentraler Stelle der Discorsi weist er da‐ rauf hin, dass Religionen und Staaten, Republiken wie Monarchien nur dann stabil sind, wenn sie auf ihre sittlichen Ursprünge zurückgeführt werden: „Es ist klarer als der Tag, dass diese Körper ohne Erneuerung keine Dauer haben. Das Mittel zu ihrer Erneuerung ist, wie gesagt, ihre Zurückführung auf ihren Ursprung: denn zu Anfang müssen alle Religionen, Republiken und Königreiche notwendig etwas Gutes haben, kraft dessen sie ihr ursprüngliches Ansehen und ihr erstes Wachstum wiedererlan‐ gen. […]. Die Gesetze aber müssen belebt werden von der Tugend eines Mannes, der den Mut hat, sie gegen die Macht ihrer Übertreter zur Geltung zu bringen.“6

Machiavelli ist also kein Befürworter der Tyrannis, nur weil er über die Bedingun‐ gen ihrer Realisierbarkeit nachdenkt. Er schreibt keine Geheimlehre für Tyrannen, wie eine Kapitelüberschrift klarmacht: „So lobenswert die Gründer eines Königrei‐ ches oder einer Republik sind, so fluchwürdig sind die einer Tyrannenherrschaft.“7 Ob er, wie Rousseau vermutete, den Völkern die geheimen Machenschaften der Ty‐ rannen offenbaren wollte, um sie zu befreien, darf jedoch bezweifelt werden.8 René König kritisierte Machiavelli als „Ästhet der Gewaltsamkeit, der diese aus ihrer blicklosen Einsamkeit erlöst und ihren Waffen eine goldene und diamantenge‐ schmückte Fassung gibt, so dass sie von nun an in wunderlicher Anrüchigkeit zu strahlen beginnt und mit ihrem dunkel verführerischen Glanze auch die fernsten noch in ihren Bannkreis zieht.“9 Diese Kritik ist zum Teil berechtigt, insbesondere im Hinblick auf „Il Principe“ und die Darstellung Cesare Borgias.10 Hier hatte Ma‐ chiavelli, Marianne Weickert zufolge,11 seine typische Textstruktur verlassen. Aus einem Traktat erwuchs die literarische Figur Il Principe, in der Borgia einen wesent‐ 6 7 8 9 10 11

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Machiavelli 2000, 3. Buch, 1. Kapitel. Machiavelli 2000, 1. Buch, 10. Kapitel. Rousseau 2000, S. 101. König 2013, S. 95f. Vgl. Zantke 2017, S. 99ff. Vgl. Weickert 1937.

lichen Anteil verkörpert. Aus einem zu behandelnden Einzelfall – in einer innenund außenpolitisch instabilen Lage, in Zeiten des sittlichen Verfalls – erwuchs eine Heldenfigur, die dem Leser schnell als Machiavellis Prototyp der politischen Herr‐ scher schlechthin erscheint. In erster Linie setzen an diesem Punkt sowohl die Kritik als auch die Legende um Machiavelli an. Allerdings beruhen die Identifizierungen Machiavellis als Bewunderer und Förderer politischer Gewaltnaturen auf derselben isolierenden Lesart seiner Schriften wie hinsichtlich der Tyrannis als Staatsform. Die Gewalt ist aber nur ein Instrument unter vielen, welches sich in bestimmten Situatio‐ nen als nützlich oder gar als notwendig erweisen kann. Natürlich finden sich zur Ge‐ waltanwendung zahlreiche Textbelege in Machiavellis Werken, die ihn – isoliert – als Agenten des Bösen und als Kriegstreiber entlarven könnten. Jedoch räumt er der Gewalt keinen grundlegend höheren Wert ein als gewaltlosen Wegen des politischen Handelns wie der List, der Religion, dem Gesetz und nicht zuletzt auch der Tugend. Er unterscheidet zwischen Republiken, Monarchien, sittlich intakten und dekadenten Zeiten. Gewalt wird als Notwendigkeit des politischen Kampfes benannt. Sie ist je‐ doch nur in bestimmten Situationen nützlich und zielführend. Vergleichen wir dazu exemplarisch zwei Kapitelüberschriften der „Discorsi“: „Ist ein Missstand in einem Staate groß geworden oder Gefahr gegen ihn im Anzuge, so ist es stets heilsamer, die Zeit abzuwarten, als Gewalt zu brauchen“12; „Die diktatorische Gewalt brachte der römischen Republik Vorteil, nicht Schaden. Gefährlich für das Staatsleben ist die Gewalt, die ein Bürger an sich reißt, nicht die welche ihm durch freie Wahl erteilt wird.“13 Von einer „Ästhetisierung der Gewalt“ kann an diesen Stellen nicht gespro‐ chen werden. Die Gewalt ist weder ein herausstechendes Element in Machiavellis Herrschaftslehre noch ein Alleinstellungsmerkmal des Machiavellismus. Was aber ist nun das originell machiavellistische Geheimnis der Herrschaft? Ma‐ chiavelli formulierte Regeln der Überlistung und Inszenierung in der Politik. So le‐ sen wir im „Principe“ über Geiz und Freigiebigkeit, Grausamkeit und Güte des Fürs‐ ten: „Es ist gut, für freigiebig gehalten zu werden, aber ein Fürst, der Freigiebigkeit auf eine Weise übt, dass er nicht mehr gefürchtet wird, der wird Nachteil davon haben. […]. Alle Fürsten sollten wünschen, für huldreich und gnädig und nicht für grausam zu gelten, doch müssen sie sich bei Gnadenerteilungen sehr in Acht nehmen.“14

Die modernen Varianten des Machiavellismusfeindbildes gehen maßgeblich auf die Polemiken des englischen Kardinals Pole und des Hugenotten Innocent Gentillet zu‐ rück. Pole hatte Machiavelli mit dem Teufel assoziiert. Kernpunkt seines Verdam‐ mungsurteils war die Empfehlung Machiavellis, ein kluger Herrscher müsse sich die

12 Machiavelli 2000, 1. Buch, 33. Kapitel. 13 Machiavelli 2000, 1. Buch, 34. Kapitel. 14 Machiavelli 1990, S. 92ff.

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Religion zunutze machen und notfalls die eigene Religiosität nur heucheln.15 Dazu lesen wir in den „Discorsi“ über die Religion der Römer: „Beim aufmerksamen Lesen der römischen Geschichte wird man stets finden, wie sehr die Religion zum Gehorsam im Heere, zur Eintracht im Volke, zur Erhaltung der Sittlich‐ keit und zur Beschämung der Bösen beitrug. […]. Denn wo Religion ist, lässt sich leicht eine Kriegsmacht aufrichten, wo aber Kriegsmacht ohne Religion ist, lässt sich diese nur schwer einführen. […]. In der Tat gab es nie einen außerordentlichen Gesetzgeber bei einem Volke, der sich nicht auf Gott berufen hätte, weil seine Gesetze sonst gar nicht an‐ genommen worden wären. Denn ein kluger Mann erkennt viel Gutes, aber die Gründe dafür sind nicht so augenscheinlich, dass man andere davon überzeugen könnte. Darum nehmen weise Männer ihre Zuflucht zu Gott […].“16

Machiavelli zufolge legten die Römer ihre Auspizien (lat. auspicium: „Vogelschau“) nach politischen Zweckmäßigkeitserwägungen aus. Dabei handelte es sich um eine Art Orakel, bei dem Hühner anhand ihres Fressverhaltens Auskunft über die göttli‐ che Segnung geplanter Feldzüge erteilten: „Fraßen die Hühner, so focht man mit guten Vorzeichen, fraßen sie nicht, so gab man den Kampf auf. Gebot jedoch die Vernunft, etwas auszuführen, so wurde es auch bei ungüns‐ tigen Auspizien unter allen Umständen ausgeführt; nur wandte und deutete man die Sa‐ che so geschickt, dass sie nicht unter Missachtung der Religion zu geschehen schien. […]. Diese Einrichtung hatte ja auch keinen andern Zweck, als dass die Soldaten vertrau‐ ensvoll in den Kampf gingen, denn aus solchem Vertrauen entspringt fast immer der Sieg.“17

Als ein zentrales Kennzeichen des Machiavellismus verstehen wir hier also eine in‐ strumentelle Handhabung des Glaubens der Massen (als Religion oder weltliche Ideologie) zum Zweck der Machtgewinnung und -ausübung eines politischen Ak‐ teurs.

3. Der politische Okkultismus In Machiavellis Werken, die als Inbegriff einer realistischen Politikauffassung be‐ trachtet werden, finden sich darüber hinaus auch Spuren einer magisch-okkulten Weltsicht: „Woher es kommt, weiß ich nicht, aber man sieht aus alten und neuen Beispielen, dass sich in einer Stadt oder in einem Lande niemals etwas Großes ereignet, dass nicht durch Wahrsager, Prophezeiungen, Wunder und andere Zeichen vom Himmel vorhergesagt wurde. […]. Doch könnte es sein, dass die Luft, wie ein Philosoph will, mit Geistern er‐ 15 Vgl. Stolleis 1980, S. 10. 16 Machiavelli 2000, S. 53f. 17 Machiavelli 2000, S. 62ff.

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füllt ist, die die Gabe besitzen, in die Zukunft zu schauen, und dass diese Wesen die Men‐ schen aus Mitleid durch solche Zeichen warnen, damit sie sich zur Verteidigung rüsten. Wie dem aber auch sei, fest steht, dass es wirklich so ist und das stets nach solchen Er‐ scheinungen, neue außerordentliche Dinge geschehen.“18

Zu Machiavellis Lebzeiten, in der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, spielte die Vorstellung solch magischer Geschichtszeichen eine zunehmend wichtige Rolle.19 Das Verborgene könne sich stets durch geheime Zeichen offenbaren. Dieser magi‐ sche Glaube hatte seinen Ursprung in praktischen Erfahrungen. In der Mordnacht von Luzern im Jahr 1332 verabredeten sich Verschwörer zur Ermordung reicher Bürger – mit dem Ziel, deren Macht und Besitz an sich zu reißen. Dabei wurden als geheime Erkennungszeichen rote Kleider und Kleidungsstücke verabredet. Die kon‐ spirative Zusammenkunft wurde jedoch belauscht, ihre Zeichen offenbart, und damit wurden diese zu Erkennungsmerkmalen für ihre Feinde. Auf ähnliche Weise wurde in Baden im Jahr 1513 der geplante „Bundschuh-Aufstand“ vereitelt. Ein Informant behauptete den badischen Behörden gegenüber, die Verschwörer würden sich durch ein aufgenähtes „H“ und heimliche Wortzeichen erkennbar machen.20 Diese realen Beobachtungen im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit erweiterten sich zu einer magischen Wahrnehmung des politischen Geschehens, so wie dies auch in den ange‐ führten Äußerungen Machiavellis zum Ausdruck kam. Valentin Groebner konstatiert dazu: „Im ausgehenden Mittelalter wird im Spannungsfeld zwischen Gemeinnutz und haymlichkeit ein neues Paradigma des Politischen und des Redens über Sicht‐ barkeit und Unsichtbarkeit entwickelt.“21 Ein neuer Begriff etablierte sich um die Wende zum 16. Jahrhundert im deutschen Sprachgebrauch: das Wort „Practick“. Es beschreibt verdeckte Absprachen und geheime Manipulationen. Es steht für ambiva‐ lentes Reden und Handeln. Himmelszeichen stehen, so wie bei Machiavelli, in Ver‐ bindung zu den unsichtbaren Mächten unter den Menschen. Als Meister des „prac‐ ticierens“ galten zeitgenössischen deutschen Autoren die „Welschen“, also Italiener und Franzosen.22 Practick wird zum Synonym des imaginierten Unsichtbaren in der Politik. Diese bedrohlichen Machenschaften nehmen um die Wende zum 16. Jahr‐ hundert in der Wahrnehmung der Zeitzeugen im Umfang und an Geschwindigkeit zu. Man erkennt bereits hier die Ursprünge des modernen Verschwörungsglaubens: „Practick ist, wenn jeder weiß, dass es unsichtbare, geheime, machtvoll böse Manöver gibt, in ungestalt, die man nicht beschreiben, in einer Form, die man nicht sehen kann, für die es aber warzeichen gibt. Im Grunde beruht bis heute jede gute Verschwörungs‐ theorie aus diesem Plot unsichtbarer Kausalität.“23 18 19 20 21 22 23

Machiavelli 2000, S. 157. Vgl. Groebner 1999, S. 63. Groebner 1999, S. 69f. Vgl. Groebner 1999, S. 80. Vgl. Groebner 1999, S. 72. Groebner 1999, S. 74.

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Hinsichtlich seines Glaubens an Wunder und Zeichen heimlicher Mächte kann Ma‐ chiavelli sowohl als Kind seiner Zeit als auch als Vorbote des modernen Verschwö‐ rungsglaubens angesehen werden. Jedoch entwickelte er in den „Discorsi“ ein durchaus realistisches Verständnis von weltlichen Verschwörungen, zumindest für seine Epoche. „Den Fürsten kann also nichts Schlimmeres drohen als eine Verschwörung; denn sie kos‐ tet sie entweder das Leben oder bringt ihnen Schande. Glückt sie, so sterben sie; wird sie entdeckt und die Verschworenen hingerichtet, so glaubt man stets, das Ganze sei eine Er‐ findung des Fürsten, um seine Habsucht und Grausamkeit an dem Blut und Vermögen der Getöteten zu sättigen.“24

Machiavelli hatte aus nächster Nähe die Entlarvung und Zerschlagung der Ver‐ schwörung von Cesare Borgias Söldnerführern miterlebt. Als Gesandter der Repu‐ blik Florenz verfolgte er das Vorgehen Borgias bis zur Hinrichtung der Verschwörer in Sinigaglia im Januar 1503. Borgias politische Taktik, basierend auf überlegenen Informationskanälen, Täuschung und rapider Gewaltsamkeit, wurde eine Hauptquel‐ le für Machiavellis Kunstfigur „Il Principe“. An Borgias Beispiel zeigte sich für Ma‐ chiavelli die Überlegenheit des entschlossenen Einzelkämpfers gegen ein fragiles Zweckbündnis, wie jenes der Kondottiereführer. In den „Discorsi“ widmete Machia‐ velli den Verschwörungen das umfangreichste Kapitel des Buches.25 Er unterschei‐ det darin zwei Varianten: die Verschwörung gegen den Fürsten und die Verschwö‐ rung gegen das Vaterland. Als typische Gründe für eine Konspiration gegen den Fürsten nennt Machiavelli erstens die Rachelust von Untergebenen aufgrund von Beleidigungen der Ehre und unrechtmäßigem Verhalten des Herrschers und zweitens den Wunsch, das Vaterland aus der Tyrannei zu befreien. Er unterscheidet also zwi‐ schen einem individualistischen Freiheitsbestreben und einem patriotischen Frei‐ heitsimpuls als Grundlagen möglicher Verschwörungen. Im ersten Fall können auch übermäßige Wohltaten der Fürsten zur Entstehung von Verschwörungen führen. Wenn ein Herrscher seine unmittelbaren Untergebenen mit allzu großen Reichtü‐ mern und Ehren überhäuft, so Machiavelli, würden dem individuellen Streben nach Ruhm und Macht der Geehrten Tür und Tor geöffnet. Wir finden hier die für Ma‐ chiavelli typische kontrastive Gegenüberstellung von Wirkung und Mittel im politi‐ schen Handeln: übermäßige Wohltaten des Fürsten erzeugen Geringschätzung und Aufruhr; maßvolle Gewalttaten bewirken hingegen die Anerkennung der Überwäl‐ tigten und der Beobachter. Gesellschaftliche Tugenden wie die Freigiebigkeit kön‐ nen in der politischen Kampfarena ins Verderben führen: „Ein Fürst, der sich vor Verschwörungen schützen will, muss also die mehr fürchten, de‐ nen er zu viel Wohltaten erzeigt hat, als die, welche er zu sehr gekränkt hat, denn diesen

24 Machiavelli 2000, S. 325f. 25 Machiavelli 2000, 3. Buch, 6. Kapitel.

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fehlt es an Gelegenheit, jene haben sie übergenug. […]. Die Fürsten dürfen daher ihren Günstlingen nur so viel Ansehen geben, dass zwischen ihnen und dem Thron ein Zwi‐ schenraum bleibt und in der Mitte noch etwas Begehrenswertes liegt […].“26

Machiavelli konstruiert zudem einen Ausnahmefall, der quasi notwendig zur Ver‐ schwörung gegen den Herrscher motiviere: „Verwandt ist der Fall, wo die Not dich zwingt, dem Fürsten das anzutun, was er, wie du siehst, dir selbst antun möchte, und wo diese Not so groß ist, dass sie dir nur die Zeit lässt, an deine Sicherheit zu den‐ ken.“27 Während der Anstiftung, der Umsetzung und im Nachgang der Verschwö‐ rung setzen sich die Verschwörer großen Gefahren aus, sagt Machiavelli, die in den meisten Fällen zum Scheitern der geheimen Unternehmung führen. Um sich gegen einen Fürsten zu verschwören, muss ein Zugang zu dessen nächstem Umfeld beste‐ hen. Diener, Sexualpartner, Prätorianer oder Militärkommandanten, wie im Falle Borgias, sind aus diesem Grund die optimalen Verschwörer gegen einen Fürsten. Für den einfachen Mann besteht aus Machiavellis Sicht kaum eine Möglichkeit, gegen den Herrscher zu konspirieren. Im Vorfeld der Tat wären die Gefahren aufgrund der Treulosigkeit und Unvorsichtigkeit der Mitverschwörer am größten: „Man ist ihrer nicht eher gewiss, als bis man sie auf die Probe stellt, und das ist hier höchst gefähr‐ lich. […]. Daher werden so viele Verschwörungen verraten und gleich zu Anfang unterdrückt; ja es gilt für ein Wunder, wenn eine Verschwörung bei vielen Teilneh‐ mern lange geheim bleibt.“28 Verschwörungen mit einer Beteiligung von mehr als vier Personen seien zum Scheitern verurteilt. Zudem spielt die Zeit eine entscheiden‐ de Rolle. Je weniger von der Konspiration bis zur Umsetzung vergeht, desto eher be‐ stehe Aussicht auf Erfolg. Insofern rät Machiavelli zu einer möglichst kurzfristigen Anstiftung der Mitverschwörer: „Man darf also die Sache nur im Notfall und kurz vor der Ausführung mitteilen. Will man sich aber doch jemandem anvertrauen, dann nur einem einzigen, den man lange geprüft hat, oder den die gleichen Beweggründe treiben.“29 In diesem Fall bestehen zwei Möglichkeiten des Verrats: Entweder der Mitwisser übt absichtlich Verrat oder infolge von Verhaftung und Folter. In diesem Fall habe man noch genügend Mittel, sich zu verteidigen, durch Leugnung oder Ge‐ walt. Gegen mehrere Mitverschwörer schwinde diese Chance. Niemals dürften kon‐ spirative Absichten schriftlich niedergelegt werden. Für die Umsetzung der Ver‐ schwörung sieht Machiavelli weitere absehbare Gefahren, „entweder aus Änderun‐ gen in den Anordnungen oder aus der Verzagtheit des Vollstreckers der Tat, oder aus einem Fehler, den er aus Unvorsichtigkeit macht, oder aus unvollständiger Ausfüh‐ rung, wenn nämlich einige der zu Ermordenden am Leben bleiben“.30 Deshalb rät

26 27 28 29 30

Machiavelli 2000, S. 308f. Machiavelli 2000, S. 314f. Machiavelli 2000, S. 309f. Machiavelli 2000, S. 312. Machiavelli 2000, S. 316.

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Machiavelli für die Ausführung zur Beteiligung von routinierten Auftragsmördern: „Mag ein Mensch noch so festen Muts und gewohnt sein, Menschen zu töten und das Schwert zu führen, er wird doch etwas verwirrt werden. Deshalb wähle man Leute, die in diesem Handwerk erfahren sind […].“31 Die größte und furchtbarste Gefahr für die Verschwörer nach der erfolgreichen Ausführung besteht Machiavelli zufolge in der Liebe des Volkes gegenüber dem ermordeten Herrscher. Hiergegen gebe es „kein Mittel“. Von den Verschwörungen gegen den Fürsten unterscheidet sich die zweite Kon‐ spirationsvariante grundlegend: „Die Verschwörungen gegen das Vaterland [Machia‐ velli meint die Republik, M. Z.] sind weniger gefährlich als gegen die Fürsten, denn bei der Anstiftung ist weniger Gefahr, bei der Ausführung die gleiche, nach voll‐ brachter Tat keine.“32 In der Republik können ehrgeizige Bürger ohne Einsatz von Gewalt und existenzielle Risiken konspirativ zur Macht gelangen. Die Verschwö‐ rung ist in der Republik – so kann man Machiavelli verstehen – institutionell veran‐ kert. Allerdings gelte dies nur für Republiken, „in denen schon einige Sittenverderb‐ nis herrscht“.33 Für den gewaltsamen Umsturz einzelner gegen die Republik dienen bestenfalls eigene Militärformationen der Verschwörer. Sind diese nicht vorhanden, könnte sich eine Verschwörung gegen die Republik nur auf List oder ausländische Hilfe stützen. Bemerkenswert ist der Umfang des Kapitels, der alle weiteren „Discorsi“-Kapitel deutlich überragt. Das lässt vermuten, dass Machiavelli dieses Thema in besonderem Maße beschäftigte. Mit hoher Wahrscheinlichkeit spielte seine Inhaftierung im Jahr 1513 dabei eine wichtige Rolle. Er wurde beschuldigt, an einer Verschwörung gegen die Medici beteiligt gewesen zu sein, musste Folter erleiden, wurde dann jedoch ent‐ lassen. Danach zog er sich auf ein Landgut in San Casciano zurück, wo er seelisch leidend seine Bücher niederschrieb. Während Machiavelli nachdrücklich vor den Verschwörungen warnte, entwickelte er eine Theorie der Konspiration, die sowohl für potenzielle Verschwörer als auch für deren potenzielle Opfer nutzbar ist. Machia‐ velli – und das ist typisch für seine politische Handlungslehre – versucht hier, einen neutralen Standpunkt zu halten, der nüchtern und wertfrei die verschiedenen Szena‐ rien hinsichtlich ihrer optimalen technischen Durchführbarkeit analysiert. Dennoch erwecken seine Ausführungen keineswegs den Anschein, als betrachte er die Ver‐ schwörung als Königsweg des politischen Kampfes. Sein zeitgemäßer Held ist Cesa‐ re Borgia, der sich den Verschwörern mit Stärke, List und Entschlossenheit wider‐ setzt, der Einzelkämpfer, der sich niemandem anvertraut. Dagegen verblasst ihm die raffinierteste Konspiration.

31 Machiavelli 2000, S. 318f. 32 Machiavelli 2000, S. 323. 33 Machiavelli 2000, S. 323.

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4. Verschwörungsmythos und Legendenbildung In den Jahrhunderten nach seinem Tod wurde Machiavelli zum Inbegriff der Unmo‐ ral und des Unsichtbaren in der Politik mystifiziert. Zudem wurde er als Prophet der Verschwörung denunziert, was seinen – hier dargelegten – Überlegungen in keiner Weise entspricht. Kurt Erich Suckert, der unter dem Pseudonym „Curzio Malaparte“ eine Aufsehen erregende Abhandlung über den Staatsstreich veröffentlichte, musste sich gleich auf der ersten Seite seines Buches von dem Vorwurf freisprechen, er sei ein Schüler Machiavellis: „Trotz meiner Absicht darzustellen, wie man sich eines modernen Staates bemächtigt und wie man ihn verteidigt, und trotzdem dies in gewissem Sinne der gleiche Gegenstand ist, den Macchiavelli behandelt hat, ist dieses Buch weit davon entfernt, eine Nachahmung, wenn auch eine moderne, also sehr von Macchiavelli entfernte, des Buches vom Fürsten zu sein.“34

Der Florentiner wurde zum Inbegriff des Staatsstreichs und der Verschwörung. Wir haben es in diesem Punkt mit einem weiteren Element der virulenten Legendenbil‐ dung um Machiavelli zu tun. Maßgeblich verantwortlich waren dafür, neben den zahllosen kirchlichen Verdammungsurteilen, literarische Inszenierungen Machiavel‐ lis im Stile von Christopher Marlowes „Jew of Malta“ aus dem Jahr 1589. Bei dieser literarischen Figur existieren keine Varianten und Optionen, deren technische Mach‐ barkeiten nüchtern verglichen werden. Im Übermachiavellisten kanalisieren sich die übelsten Elemente aus Machiavellis Herrschaftslehre und werden mit neuen Übeln vermengt. Heuchelei, Intrigen und viel Geld verhelfen Barabas, dem „Juden von Malta“, zu seiner Macht. Dieser dämonisch verzerrte literarische Machiavelli er‐ scheint schon hier im Hintergrund aus dem Totenreich. Jahrhunderte später taucht er erneut in den Feuern der Hölle auf und seine Worte hallen in die Welt der Lebenden. Maurice Joly verfasste im Jahr 1864 eine Polemik gegen Napoleon III. Es ist ein To‐ tengespräch in der Unterwelt zwischen Machiavelli und Montesquieu.35 Darin pro‐ phezeit der literarische „Machiavelli“ das Heraufziehen eines totalitären Staates, während „Montesquieu“ den Siegeszug des liberalen Rechtsstaates heraufbeschwört. „Machiavellis“ Position ist deutlich die dominierende und sie nimmt tatsächlich vie‐ le Entwicklungen des frühen 20. Jahrhunderts vorweg. Jolys „Machiavelli“ be‐ schreibt, wie ein liberales Verfassungssystem ausgehebelt werden kann. Der moder‐ ne Despot müsse nur äußerlich die Formen der Legalität beibehalten. Er werde den Beherrschten vortäuschen, dass sie weiterhin die Souveränität des Staates bekleiden. „Machiavelli“ will den Schein einer liberalen Verfassung – zumindest zeitweise – bestehen lassen. Durch die Wahlen werde der Despot an die Macht gelangen, um die

34 Malaparte 1932, S. 5. 35 Joly 1948.

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bestehenden Institutionen von Staat und Gesellschaft dann in ein neues Verhältnis zueinander zu bringen. Parlamente, Presse, Gerichte sowie das Bildungswesen wer‐ den insgeheim direkter staatlicher Kontrolle unterstellt. Der öffentliche Geist müsse so sehr geschwächt sein, dass er an radikalen Ideen das Interesse verliere. Zudem soll die despotische Macht durch einen umfassenden Polizei- und Bespitzelungsap‐ parat gesichert werden. Staatliche Finanzmonopole sollen die Kontrolle über die Wirtschaft übernehmen. Der Herrscher könne durch Manipulation und Zentralisation der politischen und gesellschaftlichen Institutionen die öffentliche Meinung erst in eine gewünschte Richtung lenken, um sich dann die von ihm beabsichtigten politi‐ schen Schritte plebiszitär absegnen zu lassen. So bleibe der Schein der Volkssouve‐ ränität gewahrt und gesellschaftliche Spannungen würden im Keim erstickt. Die Lenkung der öffentlichen Meinung sei das entscheidende Herrschaftsinstrument der Moderne, so Jolys „Machiavelli“: „Das Hauptgeheimnis der Regierungskunst besteht darin, den öffentlichen Geist zu schwächen, und zwar so sehr, dass er sich gar nicht mehr für die Ideen und Prinzipien interessiert, mit denen man heute die Revolutionen macht. […]. Man muss das Talent ha‐ ben, sich von allen Parteien die freiheitlichen Redensarten anzueignen, die sie als Waffen gegen die Regierung brauchen.“36

Durch den zaristischen Geheimdienst Ochrana und einen französischen Dokumen‐ tenfälscher wurde um das Jahr 1900 aus Jolys literarischem „Machiavelli“ die Hauptquelle des modernen Verschwörungsglaubens konstruiert. Die sogenannten „Protokolle der Weisen von Zion“ geben vor, eine weltweite jüdische Verschwörung zu dokumentieren. Aussagen der vermeintlichen „Weisen von Zion“ wurden aus Jo‐ lys Gesprächen in der Unterwelt kopiert. Es sind bis auf wenige Ausnahmen die Re‐ den des literarischen „Machiavelli“, die den Weisen von Zion von dem Dokumen‐ tenfälscher Golovinsky in den Mund gelegt wurden. Und auch in den „Protokollen“ begegnet uns deshalb als ein Kernelement der Strategie zur Eroberung der Weltherr‐ schaft die Instrumentalisierung des Glaubens der Massen: „Wir treten als die Retter der arbeitenden Klassen auf, die gekommen sind, sie aus ihrer Unterdrückung zu befreien, indem wir sie dazu bestimmen, sich unserem Heer von So‐ zialisten, Anarchisten und Kommunisten anzuschließen. […]. Dagegen hat die unter un‐ serem Einfluss heute herrschend gewordene Lehre die Wirkung, dass das Volk, welches blind an das gedruckte Wort glaubt und durch von uns genährte Illusionen irregeführt ist, mit Hass gegen jeden höheren Stand erfüllt ist, weil es die Wichtigkeit der verschiedenen Stände nicht versteht.“37

Wir erinnern uns an Machiavelli und seine Gedanken zu den Auspizien und zur rö‐ mischen Religion. Die Manipulation der öffentlichen Meinung durch eine wahrheits‐ 36 Joly 1948, S. 47. 37 Die Protokolle der Weisen von Zion 1925, S. 40f.

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widrige Inszenierung sowie ambivalentes Reden und Handeln nimmt auch in den Transformationen des Machiavellismus im 19. und 20. Jahrhundert eine zentrale Funktion ein. „Die Protokolle der Weisen von Zion“ entfachten in der Zwischen‐ kriegszeit in Deutschland einen explosiven antisemitischen Verschwörungsglauben, der im Vernichtungsentschluss kulminierte.38 Machiavelli dies zur Last zu legen, wäre völlig verfehlt. Seine Darlegungen zu den Verschwörungen lassen sich zur De‐ konstruktion der fiktiven „jüdischen Weltverschwörung“ heranziehen. Wir haben es hierbei mit zwei völlig unvereinbaren Gedankenwelten zu tun. Machiavelli ging da‐ von aus, dass Verschwörungen eine unangenehme Randerscheinung, keineswegs die Regel des politischen Kampfes sind und dass deren Erfolgschancen eher gering aus‐ fallen (über ein Maß von vier Personen seien sie „unmöglich“!). Ihre erfolgreiche Ausführung hängt zudem maßgeblich von der Minimierung der Zeitdauer ab. Dage‐ gen umspannt die Verschwörung der Weisen von Zion die gesamte Welt über mehre‐ re Jahrhunderte. Ferner wurde diese Superverschwörung nicht etwa von einem der mehreren Millionen Mitverschwörer offenbart, was Machiavelli zufolge der höchst‐ wahrscheinliche Ausgang gewesen wäre. Die Protokolle geben vor, eine Nieder‐ schrift der Verhandlungen der Zionisten in Basel unter Führung der Weisen von Zion zu sein. Machiavelli hatte ausdrücklich verboten, Niederschriften solcher Zusam‐ menkünfte anzufertigen. Wir sehen also, wie deutlich sich die Gedankenwelt Ma‐ chiavellis vom populären Übermachiavellismus des frühen 20. Jahrhunderts unter‐ scheidet. Dennoch dominiert im öffentlichen Bild bis heute das dämonische Bild des literarischen Machiavelli. Machiavellis Kapitel von den Verschwörungen grenzt ihn deutlich vom modernen Verschwörungsglauben ab. Er beschreibt darin eine realisti‐ sche Theorie des unsichtbaren und geheimen Handelns in der Politik, zumindest für seine Zeit. Der Physiker David Robert Grimes veröffentlichte 2016 eine Theorie zur Bestimmung der Wahrscheinlichkeit einer potenziellen Verschwörung.39 Die zwei maßgeblichen Variablen dabei sind, wie schon bei Machiavelli, die Zahl der Mitver‐ schwörer und die Zeit der Geheimhaltung. Natürlich ist Machiavellis Behauptung, mehr als vier Menschen könnten unmöglich eine Verschwörung geheim halten, aus heutiger Sicht unrealistisch. Allerdings entwickelten sich institutionalisierte Formen der Geheimpolitik, die auch größer angelegte Konspirationen ermöglichten, so wie

38 Die erste deutsche Ausgabe von 1920 erschien aufgrund des enormen Absatzerfolges innerhalb eines Jahres in sechs Auflagen, mit einer Gesamtstückzahl von 120.000. Hinzu kamen Rosen‐ bergs Kommentar der Protokolle von 1923 sowie die Ausgabe des Hammer-Verlages von Theodor Fritsch aus dem Jahr 1924. Zur Machtübernahme der Nazis waren von Rosenbergs Ausgabe vier Auflagen und von Fritschs Ausgabe bereits fünfzehn erschienen. Während sich die Einzelauflagen von Rosenbergs Kommentar der „jüdischen Weltpolitik“ auf jeweils 15.000 bis 20.000 beliefen, erreichte Fritschs „Volksausgabe“ der Protokolle Einzelauflagen bis 100.000 Stück. Vgl. Zantke 2017, S. 322ff. 39 Vgl. Grimes 2016.

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in Geheimbünden, erst nach Machiavellis Tod, insbesondere in der Zeit der Aufklä‐ rung.40

5. Arkanstrategien im revolutionären Machiavellismus In den Reihen der Konservativen Revolution wurde Machiavelli in den 1920erund 1930er-Jahren als Vorbild und Lehrmeister angesehen und inszeniert. Diese geistige Nähe mag zweifelsohne auch in der patriotischen Gesinnung des Florenti‐ ners begründet sein. Um jedoch die zahlreichen Zugriffe auf Machiavellis Werk oder auf den Mythos um seine Person durch bestimmte konservativ-revolutionäre Auto‐ ren verstehen zu können, muss ein anderer verbindender Aspekt beleuchtet werden. Diese deutschen Machiavellisten des frühen 20. Jahrhunderts sympathisierten, zu‐ mindest zeitweise, mit dem Nationalbolschewismus. Am deutlichsten kommt die Synthese aus Machiavellismus und Nationalbolschewismus in Hugo Fischers LeninBuch zum Ausdruck.41 Fischer inszeniert den Nationalbolschewismus als modernste Form des Machiavellismus. Mit dem Blick auf Russland, den Bolschewismus und den unmittelbar bevorstehenden Abschluss der Versailler Friedensverhandlungen zi‐ tierte schon der deutschnationale Juraprofessor Paul Eltzbacher Machiavelli: „Wo es um Sein oder Nichtsein der Heimat geht, darf nicht gefragt werden, ob gerecht oder ungerecht, mitleidsvoll oder grausam, lobenswürdig oder schmachbedeckt, sondern alle Rücksichten müssen samt und sonders zurücktreten vor dem Entschluß, dem Vater‐ lande das Leben zu retten und die Freiheit zu erhalten.“42

Im April 1919 veröffentlichte die Zeitung „Der Tag“ eine Artikelserie Eltzbachers: Um der „Versklavung“ und Enteignung durch das Tribunal von Versailles zu entge‐ hen, müsse man im nationalen Interesse die Ausbreitung des Bolschewismus nach Deutschland unterstützen. Er forderte eine weitgehende Nationalisierung der Pro‐ duktivkräfte und die Regierung der Räte, also eine Bolschewisierung zum Wohle der Nation. Eltzbacher war Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), einer Partei deren Mitglieder zu großen Teilen mit dem Kapp-Putsch sympathisierten, zu‐ mal, da auch Kapp Mitglied der DNVP war. In diesem Zusammenhang ist das von Eltzbacher verwendete Eingangszitat Machiavellis im Kontext des Versailler Vertra‐ ges wie folgt zu deuten: Wo es um Sein oder Nichtsein der Heimat geht, muss die politische Rechte auch bereit sein, mit dem ideologischen Feind, dem Bolschewis‐ 40 Vgl. Koselleck 1973. 41 Fischer 1933. „Lenin der Machiavell des Ostens“ wurde in der Hanseatischen Verlagsanstalt Hamburg gedruckt, dann jedoch vernichtet, da dem Verlag die Veröffentlichung des Manu‐ skriptes, welches schon im Vorjahr eingereicht worden war, infolge der nationalsozialistischen Machtübernahme als zu „heikel“ erschien. Das Buch wurde erstmals 2018 von Steffen Diet‐ zsch und Manfred Lauermann veröffentlicht. 42 Eltzbacher 1919, S. 2.

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mus, ins Bündnis zu treten. Doktor Hans von Hentig, ebenfalls zunächst ein rechter Nationalist, schloss sich 1921 dem nationalbolschewistischen Vorstoß der Münche‐ ner KPD-Führer Otto Graf und Otto Thomas an, die auch vom Freikorpsführer Josef Römer unterstützt wurden. Im Zuge seiner Wandlung zum Nationalbolschewisten verfasste der Jurist von Hentig eine kriminologische Untersuchung zur Staatslehre Machiavellis.43 Er betont darin die Elastizität der Gewaltanwendung in Machiavellis Werk. Die Diktatur wurde als notwendiges Übergangsstadium zur Errichtung einer neuen „Kriminalordnung“ dargestellt, die der Sicherung der nationalen Freiheit und Einheit diene. Bei von Hentig und Eltzbacher überschneiden sich die Sympathien für den Nationalbolschewismus mit positiven Bekenntnissen zum Werk Machiavellis. Für diese ersten Nationalbolschewisten war Machiavellis Herrschaftslehre offenbar ein theoretischer wie ästhetischer Bezugspunkt. Die radikale Linke deutete die „nationalbolschewistischen“ Initiativen in den ers‐ ten Jahren der Weimarer Republik mehrheitlich als Täuschungsmanöver der herr‐ schenden Klasse. Eine Ausnahme war schon hier der einflussreiche Kommunist Karl Radek, der in Eltzbacher und anderen Nationalbolschewisten „ehrliche“ Nationalis‐ ten erkannte. Radek reiste 1918 als Emissär der Bolschewiki nach Deutschland – mit dem Ziel, Unterstützer für die Revolution zu gewinnen. Vom Februar 1919 bis zum Januar 1920 wurde er wegen angeblicher Beteiligung am Spartakusaufstand und „Geheimbündelei“ inhaftiert. Ehemalige Mitarbeiter General Ludendorffs, die ein Bündnis mit dem Bolschewismus anstrebten, besuchten Radek während seiner In‐ haftierung in Berlin.44 Zu ihnen zählte auch der Baron Eugen Freiherr von Reibnitz, den Radek als den „ersten Nationalbolschewisten“ bezeichnete. Baron von Reibnitz erwirkte, dass Radek seine Haft in dessen Privatwohnung in Berlin-Moabit absitzen konnte. Dort empfing er auch Oberst Max Bauer, der Radek und die kommunistische Führung für die Unterstützung des geplanten Putsches von Kapp und Lüttwitz zu ge‐ winnen versuchte. Als gemeinsames Ziel formulierte Bauer eine „Diktatur der Ar‐ beit“. Zwar gingen Radek und die Moskauer Führung nicht auf dieses Angebot ein. Jedoch blieb Radek, seit seiner Ankunft in Deutschland, der Idee eines Bündnisses zwischen den revolutionären Arbeitern und den revolutionären Kleinbürgern (den „deutschen Faschisten“) gegenüber aufgeschlossen. 1923, nach dem Tod des Frei‐ korpskämpfers Leo Schlageter, formulierte Radek einen Verbrüderungsappell an die „Kreise der deutschen Faschisten, die ehrlich dem deutschen Volke dienen wol‐ len“.45 Unter Stalin wurde er im April 1932 zum Leiter der „Büros für internationale Informationen“ ernannt. Michael David-Fox zufolge waren Radek und andere Teile der sowjetischen Führung zu diesem Zeitpunkt weiterhin von der Möglichkeit über‐ zeugt, mithilfe konservativ-revolutionärer Intellektueller gegen den westlichen Im‐ 43 Vgl. Hentig 1924. 44 Gutjahr 2012, S. 390. 45 Moeller van den Bruck 1932, S. 75.

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perialismus und möglicherweise auch gegen Hitler kämpfen zu können. Ihren Nie‐ derschlag fand diese zweiarmige Strategie der Sowjets in der Unterstützung der „Ar‐ beitsgemeinschaft zum Studium der sowjetrussischen Planwirtschaft“ (Arplan). Da‐ rin versammelten sich 1932 führende linke und rechte Intellektuelle unter der Lei‐ tung des Wirtschaftswissenschaftlers Friedrich Lenz: Karl Wittfogel, Georg Lukács, Jürgen Kuczynski, Friedrich Pollock vertraten die Linke, Ernst Jünger, Ernst Nie‐ kisch, Hugo Fischer, Hans Zehrer, Josef Römer, Ernst Graf zu Reventlow die extre‐ me Rechte.46 Arvid Harnack, später ein Mitglied der sogenannten Roten Kapelle, war Geschäftsführer der Arplan. Über die Allunionsgesellschaft für kulturelle Bezie‐ hungen mit dem Ausland (VOKS) nahmen die Sowjets Kontakt zur Arplan auf. Die entscheidende Rolle bei der Anwerbung rechter deutscher Intellektueller spielte Alexandr Giršfel´d. Im Oktober 1932 äußerte sich Giršfel´d gegenüber dem Volks‐ kommissariat für auswärtige Angelegenheiten der Sowjetunion zu seiner Strategie, „tief in radikale und rechtsoppositionelle Intellektuellenkreise von politischem Ge‐ wicht einzudringen, um so unsere Einfluss- und Informationsquellen zu erweitern […]“. Allerdings müsse diese Strategie vor der öffentlichen Propaganda verborgen werden, „geheim und verlässlich hinter den Kulissen“.47 Im öffentlichen Rahmen, sowohl in den gemäßigten Gesellschaftsteilen als auch aufseiten der radikalen Mas‐ sen, waren derartige Strategien unhaltbar. Man propagierte Antifaschismus auf der einen und Antibolschewismus auf der anderen Seite. Die Attraktivität einer national‐ bolschewistischen Strategie blieb auf Teile der radikalen Intellektuellen und kleine Kreise im Militärapparat beschränkt. Man kann hier zurecht von einer Arkanstrate‐ gie sprechen. Bei dem Nationalbolschewisten und Arplan-Mitglied Ernst Niekisch finden wir eindeutige Bekenntnisse zu Machiavelli in den 1920er-Jahren. So nutzte er in der Zeitschrift „Widerstand“ das Pseudonym „Niccolo“. Anlässlich des 400. Todestages des Florentiners erschien ein Artikel zu dessen Ehren: „Jeder, der sich auf Politik verstand, verehrte in dem großen Florentiner seinen Meister. Man hielt es nicht immer für gut, dass laut zu sagen und es, außer sich selbst, sonst noch jemandem einzugestehen. […]. Machiavellismus ist die natürliche Äußerungsform staat‐ licher Lebendigkeit; wo er sich regt, ohne auf einer elementaren Verbundenheit mit dem Schicksal des Staates zu beruhen, ist er eine perverse Schurkerei. Nur für den Staat gilt das Gesetz der Politik; das Individuum für sich aber ist hart und unerbittlich dem Gesetz der Moral unterworfen.“48

46 Vgl. David-Fox 2009, S. 120. Demzufolge war auch Carl Schmitt Mitglied, was jedoch – aus‐ gehend von derzeit bekannten Mitgliederlisten – nicht belegbar ist. Neben den oben genannten, sind bisher insgesamt knapp fünfzig Mitglieder der Arplan bekannt. 47 David-Fox 2009, S. 122. 48 Niekisch 1927, S. 66f.

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Machiavelli und Niekisch verbindet die Sehnsucht nach imperialer Größe: „Unsere ganze Innenpolitik […] hat sich zu bescheiden, nur noch Mittel zu diesem höchsten Zweck zu sein.“49 Machiavelli unterschied für die Einrichtung einer neuen Herr‐ schaftsordnung zwischen einer Ordnung, die in festen Grenzen existieren soll, und einer Ordnung, die auf Ausdehnung gerichtet ist. Letzter Fall ist klar Machiavellis Favorit, ebenso bei Niekisch. Folgende Idee scheint Niekisch bei Machiavelli ent‐ nommen zu haben: Im Falle einer imperialen Ordnung, so Machiavelli, müsse man sich „Rom zum Muster nehmen und sich Aufstände und allgemeine Zwistigkeiten gefallen lassen; denn ohne große Menschenzahl und Kriegstüchtigkeit kann ein Staat nie wachsen noch, wenn er wächst, sich behaupten“.50 Auch Niekisch wollte die in‐ neren Spannungen der Gesellschaft konservieren, um die außenpolitische Aktionsfä‐ higkeit des Staates aufs Höchste zu steigern. Aus diesem Grund lehnte er die Forcie‐ rung des Klassenkampfes ab, da dieser in letzter Konsequenz die Negation des so‐ zialen Spannungsfeldes bedeutete. Hugo Fischer formulierte im Jahr 1932 am deutlichsten die Synthese aus Machia‐ velli und dem Nationalbolschewismus. In dem zunächst unveröffentlichten Buch „Lenin der Machiavell des Ostens“ projizierte er Machiavellis Herrschaftslehre ins totalitäre Zeitalter.51 „In der Revolution muss der Politiker versuchen, das Steuer zu führen, während er mit dem Strome treibt, und zwar mit einer bestimmten Strömung. Auf dem Meer der Ereig‐ nisse kann er seine Hauptrichtung nur einhalten, indem er verschiedene, teils gegenläufi‐ ge, Stromrichtungen benutzt. […]. Die Normen befinden sich alle in Fluss, dass ist das Paradoxon der Revolution.“52 […]. „Man muss als Revolutionär verstehen, auch nichtrevolutionär zu handeln, über der eigenen Sache zu stehen. Man muss von seinen eigenen Prinzipien abgehen können; […] man ist vor den Andern und vor sich nicht verpflichtet, nach den Idealen der Revolution zu handeln. […]. Im gegebenen Augenblick verlangt Lenin sogar, dass nach dem Rentabilitätsprinzip, dem Rezept des Teufels, gewirtschaftet wird, und der Kommunist muss so zu reformieren verstehen, dass er den eingefuchstesten Reformisten in den Schatten stellt.“53 […]. „Lenin ist ebensowenig ein Kommunist, wie Richelieu ein Monarchist gewesen ist; beide haben ein politisches Thema ihrer Zeit in al‐ len Variationen durchgespielt, und sie haben aus dem Thema alles herausgeholt, was her‐ auszuholen ist, ohne je ein Opfer an Gut und Blut zu scheuen.“54

Auch Niekisch attestierte den Kommunisten eine machiavellistische Handhabung der Ideologie: „Die Eigentümlichkeit des Kommunismus beruht auf elementaren In‐ stinkten. Für ihn ist die marxistische Theorie nicht unverbrüchliche Heilslehre, son‐ dern hier Maske, dort Waffe. Entscheidend ist für ihn nicht seine Ideologie, sondern 49 50 51 52 53 54

Niekisch 1926. Machiavelli 2000, S. 35f. Vgl. Zantke 2017, S. 81-97. Fischer 1933, S. 98f. Fischer 1933, S. 100f. Fischer 1933, S. 19.

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das, dass er Elementarbewegung ist.“55 Im Falle Ernst Jüngers, der ebenfalls der Ar‐ plan und dem Widerstands-Verlag angehörte, sehen wir, dass auch er eine machia‐ vellistische Handhabung der nationalistischen und marxistischen Ideologien anstreb‐ te, so wie dies sein Freund Hugo Fischer im „Machiavell des Ostens“ formuliert hat‐ te: „Das Wort Nationalismus, ein äußerst brauchbares Feldzeichen, um während der chaoti‐ schen Jahre des Überganges die eigenartige Kampfstellung einer Generation eindeutig festzulegen, ist keineswegs, wie viele unserer Freunde – und auch unserer Gegner – mei‐ nen, der Ausdruck für einen obersten Wert. In diesem Werte liegt unsere Voraussetzung, nicht aber unser Ziel.“56

Im Bestreben, aus der Nation eine „Religion“ machen zu wollen, sah er einen Irr‐ weg. Die Feindschaft zwischen Kommunisten und Nationalisten galt es – aus Jün‐ gers Sicht –, zu überwinden. Gegenüber dem Marxismus nahm Jünger ebenfalls einen instrumentellen Standpunkt ein: Der Marxismus wurde als notwendige Etappe des bürgerlichen Zerfallsprozesses verstanden. Seine „zersetzende“ Wirkung er‐ schien Jünger insofern nützlich. Sich gegen ihn zu stellen, wäre sinnlos, da er mit der bürgerlichen Epoche dem Untergang geweiht sei. Vielmehr galt es, dessen revo‐ lutionäre Momente positiv aufzuheben. Jünger hob die Gemeinsamkeiten von Kom‐ munismus und Nationalismus hervor und führte deren Feindschaft auf die immer noch wirksamen „bürgerlichen“ Kräfte in ihren Reihen zurück. Die einigende Ziel‐ setzung zwischen den „anti-bürgerlichen“ Extremen sah Jünger im totalen Staat, dem die Nation dienend zur Verfügung steht: „Ich bekenne, dass ich in dieser Durch‐ dringung, die zugleich eine ungeheure Konzentration der Kräfte ist, den Stein des Weisen sehe, den der Meister der modernen Politik zu finden hat.“57 Auch Carl Schmitt gehörte in den 1920er- und 1930er-Jahren zu den Bewunde‐ rern des Florentiners. Zwar kann man Schmitt schwer zu den Vertretern des Natio‐ nalbolschewismus zählen, allerdings unterhielt er freundschaftliche Kontakte zum „Widerstand“-Kreis. Hugo Fischers Briefe an Schmitt sind überliefert.58 Darin spricht er über die Arbeit an seinem Lenin-Buch. Zwischen Schmitt und dem natio‐ nalbolschewistischen Kreis um Niekisch, Jünger und Fischer scheinen Anfang der 1930er-Jahre zumindest Sympathien und geistiger Austausch bestanden zu haben, auch wenn Schmitt sich gegenüber den äußerst radikalen Schlussfolgerungen des Kreises versperrte. Eine Gemeinsamkeit bestand hingegen zweifelsfrei in der Be‐ wunderung Machiavellis. Bereits in einem Tagebucheintrag aus dem Jahr 1914 rühmt Schmitt Machiavellis Menschenkenntnis.59 Er bezieht sich auf die „Discorsi“ 55 56 57 58 59

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Niekisch 1930, S. 130. Jünger 1928. Dupeux 1985, S. 260. Vgl. Tommissen 1990, S. 90ff. Vgl. Hüsmert 2003, S. 163.

zur verfassungsrechtlichen Bestimmung der Diktatur.60 Zentral dabei ist der Begriff der Technizität der Staatsgewalt. Anlässlich des 400. Todestages Machiavellis veröf‐ fentlichte Schmitt einen kurzen Aufsatz.61 Darin stellte er fest, dass dessen Lehre aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts keineswegs originell oder dämonisch wir‐ ke. Allerdings hält er sie für zeitgemäß: „Sie ist als besonders unmoralisch verschrien wegen einiger Stellen über die politische Notwendigkeit, Verträge zu brechen und eine fromme Gesinnung zu heucheln. Aber auch diese Immoralität spielt sich nicht auf und macht sich nicht moralisch wichtig, sie bleibt bescheiden und sachlich und hat nichts Enthusiastisches oder Prophetisches, wie der Im‐ moralismus Nietzsches.62 […]. Ein russischer Bolschewist wird die als unmoralisch ver‐ schrienen Stellen wahrscheinlich für harmlose Banalitäten halten und die moralische Em‐ pörung für bourgeoisen Schwindel erklären.“63

Auch in späteren Schriften bezog sich Schmitt auf den Florentiner. In seiner Kritik an Hobbes` „Leviathan“ stellt er Machiavelli kontrastiv gegenüber: „Machiavelli da‐ gegen wurde mit seinem Namen und seinen politischen Schriften als Ganzes selber zu einem Mythos.“64 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges distanzierte sich Schmitt jedoch: „Das Miserable an Machiavelli ist die Halbheit, die darin besteht, von der Macht überhaupt zu sprechen, sie zum Gegenstand des Geredes zu machen. Die Macht ist und bleibt Geheimnis. Die öffentliche Macht ist das undurchdring‐ lichste Geheimnis.“65 Gegen Ende seines Lebens unterzeichnete Schmitt seine Brie‐ fe mit „Plettenberg, San Casciano“ und stellte damit eine emotionale Nähe zum al‐ ternden Machiavelli in der ländlichen Verbannung her. Machiavelli stellte für diese Konservativen Revolutionäre in der Weimarer Repu‐ blik offenbar eine wichtige Bezugsgröße dar, ebenso wie für deren Gegner. Der kon‐ servative Historiker Gerhard Ritter kritisierte während des Krieges Schmitt und an‐ dere Dezisionisten. Ritter sah in ihnen die „radikalen Machiavellisten, die nur das Kämpferische gelten lassen, das Politische schlechthin mit dem Freund-Feindver‐ hältnis gleichsetzen, alle Geltung bürgerlicher Moral in dieser Sphäre bestreiten und damit zuletzt den Sinn des Staates als recht- und ordnungssetzende, wahre Gemein‐ schaft stiftende Macht zerstören oder doch gefährden“.66 René König verfasst 1939 im Exil einen Kommentar zu dem zuvor von Hans Freyer in Deutschland veröffent‐ lichten Machiavelli-Buch.67 Königs Kritik an Machiavelli, die ein Jahr später in

60 61 62 63 64 65 66 67

Schmitt 1921, S. 6f. Schmitt 1995, S. 102-107. Schmitt 1995, S. 103. Schmitt 1995, S. 104f. Schmitt 1938, S. 128f. Schmitt 1991, S. 49. Ritter 1943, S. 181. Freyer 1938.

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einem eigenen Buch niedergelegt wurde,68 richtete sich ausdrücklich auch gegen Vertreter der Konservativen Revolution: „Solches ästhetisches Schweben, solch Fin de siècle- und Dekadenz-Immoralismus liegt jedoch einem großen Teil der gegenwärtigen deutschen Spekulation über den Staat zu‐ grunde (Carl Schmitt), wo er sich paart mit dem schneidigen Rodomontieren blitzender Aperçus der spät erweckten Romantiker (Ernst Jünger), […]. Immerhin verpflichtet uns das massive Auftreten solcher Lehren zu einer ausdrücklichen Stellungnahme.“69

Die Nationalbolschewisten brachten klar zum Ausdruck, dass sie die modernen Ideologien des Nationalismus und Kommunismus so instrumentalisieren wollten, wie es Machiavelli den Fürsten einst hinsichtlich der Religion empfohlen hatte. Der Glaube der Massen sollte den Zwecken der Staatsräson bzw. dem revolutionären Umsturz dienstbar gemacht werden. Hier setzte auch das Machiavellismusfeindbild gegen die Nationalrevolutionäre und Nationalbolschewisten an: Den ideologischen Dogmatikern von links und rechts erschienen die nationalbolschewistischen Initiati‐ ven wohl ebenso „blasphemisch“, wie einst Kardinal Pole die Aussagen Machiavel‐ lis hinsichtlich der Handhabung der Religion durch die Herrschenden.

6. Schlusswort Machiavelli sieht eine Notwendigkeit zur Trennung des öffentlichen Scheins des Po‐ litikers und seinem wahren bzw. geheimen Handeln. Damit wurde tatsächlich eine originelle Arkanlehre formuliert, deren wesentliches Element das Plädoyer Machia‐ vellis für einen instrumentellen Gebrauch der Religion ist. Am Beispiel des deut‐ schen Nationalbolschewismus kann der Zugriff auf dieses Element seiner Herr‐ schaftslehre verdeutlicht werden. So wie einst Machiavelli den instrumentellen Ge‐ brauch der Religion empfohlen hatte, versuchten seine Schüler in den Reihen der Nationalbolschewisten, die modernen Ideologien instrumentell im politischen Kampf zu gebrauchen. An der Auffassung zum Status des Geheimnisses lässt sich die Transformation von Machiavellis Werk in den Machiavellismus veranschauli‐ chen. Während im Werk des Florentiners das politische Unsichtbare nur als ein Teil verschiedener Herrschaftsbereiche behandelt wird, dominieren im Machiavellismus und Antimachiavellismus die geheimen Techniken der Machtentfaltung. Im Gegen‐ satz zur Legende um sein Werk besitzen die konspirativen Formen der Macht kei‐ neswegs einen Vorrang in Machiavellis Herrschaftslehre.

68 König 2013. 69 König 2013.

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Christoph S. Widdau Geheimnis und Öffentlichkeit in Hobbes’ Politischer Philosophie des Gemeinwesens1

1. Einleitung Hatte das Geheimnis bis in das 18. Jahrhundert, so Lucian Hölscher historisch ein‐ ordnend, als „eine durchaus anerkannte und notwendige Dimension politischen Han‐ delns“2 gegolten, wurde es in den folgenden Jahrhunderten zu einem politisch-philo‐ sophischen Problem gemacht, das sich dem „Kampfinstrument[]“3 der Öffentlichkeit stellen musste und heute scheinbar selbstverständlich stellen muss. Ist politisches Handeln geheimes Handeln, wird es nicht selten in dem Sinne als zu verdächtigen erachtet, als es der öffentlichen Sache entgegenstehen könnte; ist nicht veröffent‐ licht, wer als politisch-verantwortlich Agierender wann was zu welchem Zweck mit welchen Mitteln tut, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass mit dem Bekanntwerden dieses Tuns dem Tuenden argwöhnisch begegnet werden wird.4 Seit der mit der Auf‐ klärung verknüpften Hervorhebung der Öffentlichkeit als zentralem politisch-norma‐ tiven Faktor könne jede „politische und soziale Autorität […] legitimerweise mit dem Nachweis kritisiert werden, daß sie nicht der Ausdruck eines öffentlichen Wil‐ lens sei, ihre Handlungsmaximen nicht hinreichend offengelegt habe und sich durch ihre Geheimhaltung selbst ins Unrecht setze“.5 Die Politische Philosophie von Thomas Hobbes entstammt dem 17. Jahrhundert, somit nicht der Hochzeit des Dis‐ kurses über die konstitutive und normative Funktion der Öffentlichkeit für ein Ge‐ meinwesen.6 Geheime, sich (bildlich gesprochen) im Dunkeln und nicht im Licht der Öffentlichkeit vollziehende Politik empörte zu Hobbes’ Zeit – wenn man Hölschers 1 2 3 4 5

Für Hinweise danke ich Heike Winter. Hölscher 1979, S. 7. Hölscher 1979, S. 7. Zur Geschichte des Begriffes Geheimnis siehe einführend Knobloch 2017. Hölscher 1979, S. 7. Ergänzend hierzu Voigt 2017, S. 27f.: „Im 18. Jahrhundert forderte die Auf‐ klärung dann, dass im Zeichen des ‚mündigen Bürgers‛ Politik transparent [zu] werden und den Bürgern Rede und Antwort zu stehen habe. Die bürgerliche Öffentlichkeit verlangte gebieterisch nach Informationen über das politische Geschehen. Seitdem sich fast überall die Demokratie als Staatsform durchgesetzt hat, wird diese Forderung noch deutlicher artikuliert. Seither gilt der Grundsatz, dass die Arkanpolitik früherer Jahrhunderte mit den hehren Grundsätzen und Werten einer modernen Demokratie nicht vereinbar ist.“ Ob sich „fast überall“ Demokratie als Staats‐ form durchgesetzt hat, ist politologisch-empirisch zu klären. 6 Zum aktuellen Stand der Forschung siehe insbesondere den 3. Teil (Political Philosophy) in dem Handbuch Martinich/Hoekstra 2016.

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Ausführungen folgen möchte – nicht. Dass politisches Definieren und Agieren in Teilen nicht öffentlich waren, war entweder kein Stein des Anstoßes oder den Au‐ ßenstehenden und den Beherrschten nicht als ein Problem des Politischen bewusst.7 Diverse Schlagworte politisch-philosophischer sowie politisch-theoretischer Dis‐ kurse der jüngsten Jahrhunderte – wie jener des Diskurses selbst – sind Hobbes be‐ grifflich fremd oder in ihrem Gewicht für ihn nicht vornehmlich entscheidend. Dies impliziert nicht, dass Hobbes etwa nicht sachlich-analytisch an einer in genauer zu bestimmendem Sinne aufgeklärten Öffentlichkeit hinsichtlich zumindest mancher staatspolitischen Belange gelegen gewesen wäre oder er sich für eine im Geheimen operierende Politik hätte aussprechen wollen, deren Bestreben nicht dem öffentli‐ chen Interesse, das selbstverständlich zu definieren ist und von ihm anders definiert wird als von anderen, dient. Wenngleich bestimmte Begriffe in seinem Werk nicht auftauchen oder bloß randständig Erwähnung finden, ist die mit den Begriffen ver‐ knüpfbare Sache darin gegeben. Begrifflich finde sich beispielsweise, so Heinrich Flieger, der für aktuelle politische Debatten zentrale Begriff der public opinion, so‐ mit jener der öffentlichen Meinung, bei Hobbes nicht,8 jedoch habe dieser „alle für das Phänomen öffentliche Meinung signifikanten Faktoren im emotionalen Bereich angesiedelt: Begierden, Machthunger, Ruhmsucht, Raubtierverhalten, Falschheit, Verderbtheit und Unwissenheit“.9 Das Phänomen oder die Sache der öffentlichen Meinung ist demzufolge berücksichtigt und zumindest partiell analysiert. Die Öf‐ fentlichkeit ist eine, um Hölschers bereits zitierte Formulierung abermals aufzugrei‐ fen, „anerkannte und notwendige Dimension politischen Handelns“ im politischen Denken von Hobbes, ebenso, wie es das Geheimnis ist. Die Frage ist, wie sie als Di‐ mensionen anzuerkennen und für Hobbes im Kontext seiner Politischen Philosophie des Gemeinwesens notwendig sind.

2. Der Zweck des Gemeinwesens Hobbes sucht in seiner Politischen Philosophie des Gemeinwesens, wie er sie wir‐ kungsmächtig in seinem 1651 erstmals veröffentlichten Buch „Leviathan“ formuliert

7 Es ist offenkundig auch heute so, dass nicht jede nicht öffentliche Politik Stein des Anstoßes ist. Wohl in jedem Gemeinwesen, jeder Kommune, jedem Staat oder jedem Staatenbündnis gibt es nicht öffentliche politische Vollzüge. Auch in denjenigen politischen Systemen, die systemisch natürlicherweise auf Transparenz und die normative Relevanz der öffentlichen Meinung setzen, gibt es nicht öffentliche Sitzungen von politischen Gremien, nicht öffentliche Protokolle sowie vieles mehr. Somit ist nicht alle Politik öffentlich, obgleich veröffentlicht sein mag, dass sie nicht öffentlich ist. 8 Vgl. Flieger 1975, S. 65. 9 Flieger 1975, S. 75.

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und mit anderen Schriften vorbedacht sowie nachgedacht hat10 und gleich, ob man sie als absolutistisch oder als frühliberal zu kategorisieren wünscht,11 die Konstrukti‐ on eines Macht-, Herrschafts- und Gewaltgefüges zu entwerfen, durch das der von diesem Gefüge eingefasste Mensch „geschützt und glücklich gemacht werden soll“12, wie es in der Einleitung des „Leviathan“ heißt. Vor dem Glück der Einzel‐ nen, das Hobbes als Zweck des Gemeinwesens somit ausdrücklich anspricht und nicht vergisst oder negiert, steht unabdingbar und politisch-logisch der Schutz der Einzelnen voreinander, vor Feinden im Inneren und Feinden im Äußeren. Bekannt‐ lich setzt der Engländer Thomas Hobbes vor dem Hintergrund realhistorischer Er‐ fahrungen des Englischen Bürgerkrieges13 und im Ursprung seines politischen Den‐ kens das Worst-Case-Szenario eines Krieges aller gegen alle, um die Menschen aus diesem Naturzustand in einen Friedenszustand zu überführen, mittels dessen kriege‐ risch-existenzielle Konflikte dauerhaft ausgeschlossen werden sollen. Im Krieg aller gegen alle14 herrscht und gehorcht niemand; es gibt kein funktionierendes bzw. wirksames informelles oder formelles Regelsystem, das die Individuen sozial oder juristisch bindet; nichts ist gesichert außer der Unsicherheit. Die Einzelnen müssen ständig um ihr Leben, ihre Unversehrtheit und ihre Existenzweise bangen und zwar nicht, weil Institutionen und politische Behörden entsprechend gefährdend agieren, sondern weil die Einzelnen einander auflauern und sich belauern. Es gibt im Natur‐ zustand keine politische Kraft, die in der Lage ist, den Krieg zu beenden – aufgrund der dem Menschen natürlich eigenen Gier und Angst sind die Einzelnen im Naturzu‐ stand, wie Hobbes dies einzufangen sucht, einander Feinde. Deswegen bedarf es des politischen Gemeinwesens, das die Destruktivität und Asozialität des Menschen ein‐ zuhegen sucht; diese Einhegung ist erst, so Hobbes’ Annahme, im Gemeinwesen möglich. Otfried Höffe bemerkt in diesem Zusammenhang: „Der Staat folgt […] aus 10 Offenkundig finden sich in der vergleichenden Betrachtung von Hobbes’ politisch-philosophi‐ schen und politisch-theoretischen Schriften Differenzen, Vertiefungen, Umformungen usw.; vgl. hierzu etwa Hobbes 1991, Hobbes 1992, Hobbes 2002 und Hobbes 2015. 11 Siehe hierzu beispielsweise die Einschätzungen in Ottmann 2017 und Holmes 1995. 12 Hobbes 2002, S. 5. 13 Präziser und umfänglicher fasst dies Höffe 1982, S. 31: „Die geschichtlich-politische Praxis, die Hobbes zu verändern sucht, ist die blutige Wirklichkeit der politisch-religiösen Kriege und Bürgerkriege, in Großbritannien der Kampf einer ins Absolutistische neigenden Krone und ei‐ nes auf die alten Rechte (der Steuerbewilligung und der Mitwirkung bei der Gesetzgebung) po‐ chenden Parlaments, verbunden mit den meisten Handelsstädten, vor allem London, auch mit großen Teilen des Landadels (Gentry), überlagert von und kompliziert durch den Streit der an‐ glikanischen Staatskirche mit den Katholiken auf der einen und den Puritanern auf der anderen Seite.“ Weiteres zum realhistorischen und diskursiven Kontext, in dem Hobbes seine Politische Philosophie entwickelt, findet sich in Pečar 2017. 14 Siehe hierzu den berühmten Beginn des 17. Kapitels in Hobbes 2002, S. 151: „Die Absicht und Ursache, warum die Menschen bei all ihrem natürlichen Hang zur Freiheit und Herrschaft sich dennoch entschließen konnten, sich gewissen Anordnungen, welche die bürgerliche Gesell‐ schaft trifft, zu unterwerfen, lag in dem Verlangen, sich selbst zu erhalten und ein bequemeres Leben zu führen; oder mit anderen Worten, aus dem elenden Zustande eines Krieges aller ge‐ gen alle gerettet zu werden.“.

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einem Scheitern der freien Selbsterhaltung.“15 Den ersehnten Friedenszustand herzu‐ stellen und dann ewiglich aufrechtzuerhalten, ist dem Menschen nicht möglich, aber die Bedingungen zu bestimmen, die es erlauben, ihn so lange wie möglich aufrecht‐ zuerhalten, dies ist das vornehmliche Begehr von Hobbes’ Politischer Philosophie. Der Frieden ist das Ziel – ohne ihn ist, zugespitzt formuliert, politisch nichts. Damit der Ausschluss kriegerisch-existenzieller Konflikte ermöglicht werden kann, müsse jeder Einzelne auf sein ursprünglich durch keine Instanz der Sanktion eingeschränktes Recht auf alles verzichten; verzichten auf den Wunsch nach Erfül‐ lung aller seiner Begierden und auf den Anspruch seiner eigenen Meinung als Aus‐ druck der einen Wahrheit. Jeder müsse mit jedem, so Hobbes’ kontraktualistische Idee, einen Vertrag schließen, mit dem man auf ebendieses Recht verzichtet und sich bereit erklärt, in ein politisches Gemeinwesen einzutreten und sich dessen Regierung als einzig legitimer Macht zu unterwerfen.16 Diese politische Macht wird von den nun zu Bürgerinnen und Bürgern des Gemeinwesens Gewordenen gewählt – und die gewählte politische Macht ist sodann im Prinzip uneingeschränkt in der Wahl ihrer Mittel, um das Gemeinwesen als Ort der Sicherheit und des Glücks seiner Mitglie‐ der zu bewahren. Die Zweckbedingung ist hierbei entscheidend. Der Verzicht der Vertragspartnerinnen sowie Vertragspartner setze die Regierung „als einzig übrig bleibende Machtinstanz ein; aber indem er sich als Rechtsverzicht ver‐ steht, konstituiert er zugleich die aus ihm hervorgehende Macht selbst wiederum als rechtliche, das heißt als eine, zu deren Legitimationsbedingungen es gehört, sich des Grundes ihrer Einsetzung zu erinnern“.17

Eingeschränkt wird die einzige Macht ausschließlich durch die Grenze ihres Zwe‐ ckes – sie ist dazu da und initiativ ja nur deswegen da, um das Gemeinwesen in sei‐ ner Existenz zu wahren und den Krieg der Einzelnen zu verhindern. Die Regierung greift hierfür, wenn es in Ansehung des Zweckes als notwendig zu erachten ist, weit‐ reichend in die Belange der Bürgerinnen und Bürger ein, auch in das, was heute als Privatsphäre bezeichnet werden kann; die Regierungspolitik, in ihren Konsequen‐ zen, wirkt konkret und unmittelbar in die Gemeinschaft der Bürgerinnen und Bürger. Diese gehorchen.18 Sie haben sich durch den Vertragsschluss gegenüber den anderen im Gemeinwesen verpflichtet, sich an dessen Entscheidungen, dessen Kopf die ge‐ 15 Höffe 1982, S. 45. 16 Siehe hierzu ergänzend Tugendhat 2012, S. 74: „[...] wie kann man das Einhalten der Regeln sichern? Hobbes glaubte das nur mittels des Staates erreichen zu können, wodurch dann das Strafrecht an die Stelle der Moral tritt, was ja, soweit es reicht, einen guten Sinn hat.“ Siehe zudem Runciman 2016, S. 364: „In the state of nature anything can be justified. In civil society nothing is justified except on the sovereign’s terms.“. 17 Schweidler 2004, S. 143. 18 Besser: Sie sollten gehorchen. Skinner hat jüngst (2016, S. 448) darauf hingewiesen, dass (selbstverständlich) nicht alle gehorchen und dass dies für den Souverän wie für die Gehor‐ chenden ein Problem ist: „Hobbes is usually thought of as the political writer par excellence who insists that the key to peace lies in subjecting ourselves to the laws of an absolute sover‐

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wählte Regierung ist, zu halten.19 Ferdinand Tönnies fasst Ende des 19. Jahrhunderts Hobbes’ Konstruktion eines politischen Gemeinwesens als jene eines Vorbildes auf und bestimmt sie in ihrer Wirkung so: „Die Construction des Staates schlechthin als der universalen und freien Willkür in Be‐ zug auf seine Bürger, als der einen und untheilbaren Herrschaft in Gesetzgebung, Ge‐ richt, Verwaltung aller Art, nicht bloß Heer- und Steuerwesen angehend, sondern Volks‐ wirthschaft, Polizei, Gottesdienst, Unterricht, ward hier zum ersten Male in dem Sinne unternommen, welchen die ganze moderne Entwicklung, zumal der continentalen Län‐ der, eine überwiegende Tendenz zeigt, zu verwirklichen.“20

Man mag in Versuchung geführt werden, diese „universale und freie Willkür“, von der Tönnies spricht, als Ausdruck eines Freibriefs aufzufassen, die Regierungsmacht als eine der uneingeschränkten Geheimniskrämerei zu rechtfertigen. In gewissem Sinne ist es nicht verfehlt, dies anzunehmen. Solange sie dem Gemeinwesen dien‐ lich sind, ist der Einsatz aller Mittel erlaubt; ist der Einsatz eines Mittels nicht dem Gemeinwesen dienlich, ist es auf den Prüfstand zu stellen. Eventuell dürfen gar die sich zum Gehorsam verpflichtet habenden Bürgerinnen und Bürger gegen die Regie‐ rungsmacht aufbegehren. Schweidler schreibt hierzu zurecht: „Vor schrankenloser Willkür des Staates schützt uns somit nur das eine zentrale Postulat, dass eben der Souverän seine Herrschaft über uns verliert, wenn er uns nicht mehr schützen kann.“21 Mit Koch lässt sich sekundieren: „Alles staatliche Handeln, ob offen oder im Geheimen, ist legitimiert, solange der Bürger am Leben und körperlich unver‐ sehrt bleibt.“22 Wie indessen verhält es sich genau mit den Gesichtspunkten Sicht‐ barkeit und Unsichtbarkeit von Macht in der Politischen Philosophie von Hobbes? Die Antwort überrascht mit Blick auf ihn nicht und lautet meines Erachtens: Im Sin‐ ne des Ansatzes verhält es sich hiermit zweckmäßig.

19 20 21 22

eign whose duty is to keep us all in awe. But this is only one half of his argument. If peace is to be preserved, we also need to maintain a high and unremitting level of self-control, even in the face of unsociable people whose conduct is all too likely to prompt us to react toward them with hatred and contempt. At the heart of Hobbes’s civil philosophy lies the demanding insis‐ tence that, since the unsociability of such people cannot be restrained either by the state or by the disciplining forces of civil society, the only way to prevent their behavior from leading to war will be to control ourselves.“. Siehe ergänzend Hidalgo 2017, S. 82: „Im Rahmen der Politischen Theorie von Hobbes dient der Vertrag als grundlegendes Scharnier zwischen dem Schutzversprechen des Staates und der Gehorsamspflicht der Bürger.“. Tönnies 2015a, S. 119. Schweidler 2004, S. 149. Koch 2017, S. 117.

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3. Sichtbare und unsichtbare Macht Die Macht der gewählten Regierung ist gemäß Hobbes hier sichtbar, dort unsichtbar, hier sich in der Öffentlichkeit präsentierend und somit von den Bürgerinnen und Bürgern wahrnehmbar, dort im Geheimen operierend und somit von den Bürgerin‐ nen und Bürgern nicht wahrnehmbar – je nach Bedarfsfall in Ansehung des politi‐ schen Zweckes, nämlich das Gemeinwesen als Garanten des Friedens und, nachran‐ gig, des Glücks zu bewahren, es in Stabilität zu erhalten. Wie angesprochen, liegt es womöglich nahe, in Hobbes einen Denker geheimer Politik zu vermuten, der die Öf‐ fentlichkeit außen vor lasse oder zu lassen suche und sich auf interne Abläufe und Prozeduren, die nicht nach außen dringen sollten, konzentriere. Derart einfach ist es nicht und kann es nicht sein, insofern Politik ohne Öffentlichkeit nicht zu denken ist – auch nicht von Hobbes. Umstritten ist, wie die Öffentlichkeit in der Philosophie der Politik zu denken ist. Wenn Udo Bermbach und Klaus-M. Kodalle darauf ver‐ weisen, dass Hobbes’ Theorie der Repräsentation „auf konkrete Allgemeinheit“23 ziele und Hobbes vom Souverän auch „Transparenz und Begründungskompetenz“24 verlange, dann lässt sich offenkundig nicht eilfertig behaupten, die Öffentlichkeit spiele bei ihm keinerlei Rolle oder er habe sie gar nicht im Blick. Im Mindesten, wenn man Bermbach und Kodalle folgt, muss man von der Fähigkeit des Souveräns ausgehen, die Bürgerinnen und Bürger seines politischen Gemeinwesens über Re‐ geln, Gesetze und Anordnungen aufzuklären und zu informieren. Da manche aller‐ dings wünschen könnten, die Öffentlichkeit sei nicht nur aufzuklären und zu infor‐ mieren, sondern solle die Politik sowohl konstitutiv als auch prozedural mitbestim‐ men, bleibt zu prüfen, wie sich dieses Verhältnis bei Hobbes ausmachen lässt. Es be‐ darf keines aufwändigen Prüfverfahrens, um es bei Hobbes zu bestimmen: Bürgerli‐ che Mitbestimmung und Partizipation an politischer Entscheidungsfindung sind nicht vorgesehen. Oliver Hidalgo bemerkt pointiert: „Die ehedem freien und souve‐ ränen Vertragspartner werden im Gegenzug von jeglicher Beteiligungs- oder Kon‐ trollmöglichkeit abgeschnitten […].“25 Dies liegt darin begründet, dass der Souverän mit seiner Einsetzung als diejenige Macht bestimmt worden ist, die per se die Mei‐ nung der Öffentlichkeit vertritt (bzw. vertreten sollte) und somit der ergänzenden Mitbestimmung und Partizipation nicht bedarf: Der Machthaber ist „als Repräsen‐ tant des Volkes auch die Inkarnation der öffentlichen Meinung“.26 Insofern Teile der Öffentlichkeit gegen die Politik des Souveräns opponieren könnten, ist es offenbar, dass die Inkarnation praktisch nicht zwingend und kein reines Faktum ist; die Inkar‐ nation ist im Grunde der Einsetzung des Souveräns normativ gesetzt. 23 24 25 26

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Bermbach/Kodalle 1982, S. 25. Bermbach/Kodalle 1982, S. 25. Hidalgo 2017, S. 85. Flieger 1975, S. 61.

Überschlagend und gewiss nicht alle relevanten Gesichtspunkte des Kontextes einfangend, lässt sich mit Blick auf Hobbes’ Politische Philosophie des Gemeinwe‐ sens und auf die Frage nach der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Macht in ihr manches bestimmen, auf das nachfolgend jeweils kompakt eingegangen werden wird: Erstens ist die Vergabe von Macht mittels eines Vertragsschlusses und einer Wahl sichtbar, sodass die Konstituierung der Macht als ein öffentlicher Akt begriffen werden darf, mindestens nicht als einer, der bloß im Geheimen vollzogen wird; zwei‐ tens sind Gesetze und formelle Regeln mit Verweise auf Sanktionsfolgen bei Nicht‐ einhaltung als Verlautbartes hör- bzw. sichtbar; drittens ist das Gemeinwesen durch Geheimaktionen der Spionage und des Spähens zu schützen, somit durch etwas, das allein begrifflich gesetzt nicht öffentlich ist; viertens ist Widerstreit, in der Debatte wie durch die publizierte Meinung, im Regelfall zu unterbinden, zumindest dann, wenn sich der Widerstreit als für das Gemeinwesen gefährlich erweist oder erweisen könnte; fünftens sind die Privatheit und die private Freiheit der Bürgerinnen und Bürger als disponibles Gut anzusehen, das mal umfänglicher, mal weniger umfäng‐ lich gewährt werden kann. Offenbar ist, dass in Hobbes’ Politischer Philosophie abseits des Gesichtspunktes der Konstituierung von Macht das Machen auf dem Gebiet der Politik ein nicht der Öffentlichkeit überlassenes und überantwortetes Agieren ist. Um nochmals auf Höl‐ schers Worte zurückzugreifen: Die Öffentlichkeit ist für Hobbes eine „anerkannte und notwendige Dimension politischen Handelns“27, soll jedoch selbst nicht unent‐ wegt politisch handlungswirksam sein. Ihr Stellvertreter agiert.

4. Vertragsschluss und Wahl Insofern gemäß Hobbes’ Politischer Philosophie die dem Naturzustand entfliehen wollenden Individuen miteinander einen Vertrag schließen müssen, um das sie exis‐ tenziell sichernde Gemeinwesen zu begründen, ist offenkundig, dass dieser Schluss ein allen Individuen bekannter ist. Die Bedingung des Gemeinwesens ist eine öffent‐ lich bestimmte und von den die Öffentlichkeit als personale Menge Bildenden aner‐ kannte. Eingedenk des Vertragsschlusses wählen die zu Bürgerinnen und Bürgern Gewordenen dann einen Oberherrn, wie der Stellvertreter des Gemeinwesens in einer Übersetzung des „Leviathan“ genannt wird.28 Diesem Oberherrn wird die poli‐ tische Macht im Gemeinwesen überantwortet und somit die Handhabe, eine Regie‐ rung mitsamt Apparat zu installieren. Er lenkt die Geschicke des sterblichen Gottes, wie das errichtete politische System auch genannt wird,29 und ist in der Konsequenz 27 Hölscher 1979, S. 7. 28 Vgl. z.B. Hobbes 2002, S. 153. 29 Vgl. Hobbes 2002, S. 155.

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des politischen Denkens von Hobbes die Verkörperung und die Exekutive der öffent‐ lichen Meinung, die von ihm mit dem ursprünglichen Willen zur Gemeinschafts‐ gründung identifiziert wird. In der wesentlichen, somit der existenziellen Frage des Gemeinwesens könne es keine Variation in der öffentlichen Meinung geben; die Antwort auf diese Frage sei indisponibel.

5. Gesetze und Sanktionen Mit Bermbach und Kodalle ist in dem vorliegenden Beitrag bereits festgestellt wor‐ den, dass Hobbes vom Souverän „Transparenz“ und „Begründungskompetenz“ ver‐ lange.30 Im Hinblick auf die Bestimmung von Gesetzen und Sanktionen, die ange‐ wandt werden sollen, sofern den Gesetzen nicht entsprochen wird, ist dies im Kon‐ text der Politischen Philosophie von Hobbes einsichtig zu machen. Ein formelles Re‐ gelsystem muss etabliert werden, mittels dessen Durchsetzung der Rückfall der zu Bürgerinnen und Bürgern Gewordenen in den Naturzustand verhindert wird.31 Tön‐ nies verweist unmissverständlich auf die Ausdrücklichkeit und Klarheit der Formu‐ lierung von Gesetzen und Sanktionen, wie sie im Gemeinwesen zu fordern sind: „[...] der Philosoph [Hobbes, C. S. W.] legt großen Wert darauf, daß der Gesetzgeber das Gesetz klar und deutlich begründe und es in knappen, aber gehörig bezeichnenden Aus‐ drücken fasse; die Bürger sollen vorher wissen, wofür sie erwarten dürfen, Rechtshilfe zu finden, wenn sie die Gerichte anrufen. Ebenso soll das Strafgesetz denjenigen vorher wissen lassen, wie die Staatsgewalt mit ihm verfahren wird, der böswillig oder fahrlässig seine Mitbürger oder den Staat selber angreift.“32

Gesetzestransparenz ist darüber hinaus für Hobbes kein beliebiges und kein beliebig austauschbares Element der Politischen Philosophie. Vielmehr sei sie ein Teil der wahren Grundlagen der Lehre vom politischen Gemeinwesen. Jene seien niederzu‐ schreiben, um sie an allen Universitäten zu verlautbaren und zu lehren.33 Strafen des Gemeinwesens seien festzulegen und dürften nicht, so Hobbes in seiner Schrift „Vom Bürger“ („De Cive“), 30 Bermbach/Kodalle 1982, S. 25. 31 Siehe hierzu z.B. Hobbes 2017, S. 181f.: „Was gerecht oder was ungerecht ist, leitet sich aus dem Recht desjenigen her, der herrscht. Was ein rechtmäßiger König daher gebietet, macht er durch seinen Befehl zu etwas Rechtmäßigem, und was er verbietet, durch sein Verbot zu etwas Unrechtmäßigem. Beanspruchen hingegen gewöhnliche Menschen [die einzelnen Bürger] für sich die Erkenntnis von Gute [sic, C.S.W.] und Böse, so wollen sie so viel wie ein König sein. Und wenn das geschieht, kann ein Staat nicht unbeschadet bleiben.“. 32 Tönnies 2015b, S. 292f. 33 Vgl. Hobbes 2017, S. 202. Offenkundig bedürfte es eines umfassenderen, vertiefenden Beitra‐ ges, Gesetzes- und Rechtsfragen sowie die Bedingungen der Publikation von Lehren in der Po‐ litischen Philosophie von Hobbes zu diskutieren, dies unter anderem unter Zugrundelegung weiterer Schriften wie Hobbes 1992.

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„härter vollstreckt werden, als es durch Gesetze vorweg festgelegt ist. Zu einer Freiheit, die für den Staat unschädlich und zu einem glücklichen Leben der Bürger notwendig ist, gehört ganz wesentlich auch, daß man keine anderen Strafen fürchten muß als solche, die vorhersehbar und zu erwarten sind“.34

6. Spionage und Spähen Es dürfte nicht als allzu tollkühn gelten, die These aufzustellen, dass im Geheimen operierende Dienste, die dem Schutz des Gemeinwesens dienen oder dienen sollen, unabhängig von Regierungs- und Staatsformen gesetzt sind und eingesetzt werden. Man mag dies auch so formulieren: dem Gemeinwesen eigen sind. Im Geheimen operierende Dienste sind grundsätzlich im vitalen Interesse eines für Angriffe anfäl‐ ligen Gemeinwesens und erlauben es dem Souverän, innere und äußere Gefährdun‐ gen zu detektieren. Von Spionen und Spähern, die letztlich politisch tätig bzw. poli‐ tisch zweckdienlich sind, spricht Hobbes. Er schreibt hierüber in seiner Schrift „Vom Bürger“: „Zum Schutz des Staates ist es […] notwendig, […] daß es einige gibt, die die Absichten und die Handlungen aller, die dem Staat gefährlich werden können, so gut wie möglich ausspähen und aufspüren. Diese Späher [Spione] sind für diejenigen, die die höchste Ge‐ walt wahrnehmen, dasselbe wie die Lichtstrahlen für die menschliche Seele.“35

Dass die Spione und Späher keine sichtbaren Instrumente der Macht sind und somit den Blicken der Öffentlichkeit vorenthalten werden, versteht sich von selbst.

7. Meinung und Streit Tradiert ist in der Fachliteratur die Einschätzung, dass das politisch-philosophische Denken von Hobbes Frieden statt Wahrheit setze.36 Nicht der Streit um die Wahrheit und deren Gewinnung, sondern die Herstellung von Frieden sei politisch zentral; der Streit um die Wahrheit – intra- und interreligiöse Konflikte können hierfür als ein realhistorisch beeindruckender Beleg gelten – destabilisiere die Ordnung und sei eine Bedrohung für den Frieden.37 Eingedenk dessen und des aufrührerischen Poten‐ zials, das im öffentlichen Disputieren und Diskutieren schlummert, sucht Hobbes öf‐ fentlichen Dissens über die Regierungspolitik und die Belange des Gemeinwesens in 34 35 36 37

Hobbes 2017, S. 208. Hobbes 2017, S. 199. Vgl. z.B. Willms 1970, S. 22. Siehe hierzu Schröder 2015, XXVII: „Hobbes hielt den Meinungsstreit für einen der entschei‐ denden Gründe für politische Unruhen und die daraus letztlich resultierende Zersetzung des Staates.“.

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seinen Wirkungen möglichst klein zu halten.38 Manche Kommentatorinnen und Kommentatoren wie Garrath Williams sehen das Unterbinden als gemäß Hobbes un‐ abdingbar an, sofern dem Zweck des Gemeinwesens gedient werden soll: „For Hobbes it is simply axiomatic that disputation as to who should judge important so‐ cial and political issues spells the end of the commonwealth. For us, it is equally ob‐ vious that only a few extreme forms of dispute have this very dangerous power.“39 Bekannt sind jene Passagen in Hobbes’ Schriften, in denen er mit unmissverständli‐ chen Formulierungen davor warnt, Belange des Gemeinwesens öffentlich zu disku‐ tieren und sie der Menge an Bürgerinnen und Bürgern zur Wahl zu stellen, insofern diverse Angelegenheiten des Gemeinwesens zum Schutz desselben im Dunkeln blei‐ ben müssten: „Beratschlagungen in großen Versammlungen haben […] auch den Nachteil, daß die Plä‐ ne des Staats, deren Geheimhaltung oft von größter Wichtigkeit ist, den Feinden eher be‐ kannt werden, als sie ausgeführt werden können, und eine auswärtige Macht insofern nicht weniger schnell erfährt, was ein Staat vermag und nicht vermag, will und nicht will, als das herrschende Volk selbst.“40

Öffentlich verbreitete Grundlagenkritik am Gemeinwesen und oppositionelle Bestre‐ bungen werden darüber hinaus als auszuschließen ausgezeichnet werden dürfen. Bloß wohldosiert und politisch-taktisch, so Reinhard Brandt, überlasse Hobbes den Bürgerinnen und Bürgern das Wort in der Öffentlichkeit: „Betrachtet man […] die Rechtssituation des Bürgers im Staat, so hat er keine Möglich‐ keit, sich beim Dissens mit dem Souverän in Fragen, die den Staat im ganzen angehen, auf ein Publikationsrecht zu berufen. Der Staat hat das ius in omnia et omnes mit der creatio seiner selbst absorbiert, also auch das der beliebigen allgemeinen Meinungsäuße‐ rung als einer äußeren Handlung. Er spricht für alle und hat das Monopol der Theorie und ihrer Verbreitung. Läßt er die Bürger ihre Meinung und Doktrinen über beliebige Ge‐ genstände äußern, so aus bloßen Gründen der Klugheit im Umgang mit Leuten, die am Räsonnieren pleasure haben.“41

8. Privatheit und Glaube Die für Hobbes’ politisches Denken wichtige Frage nach der Eindämmung von Reli‐ gionskonflikten ist auch eine von Geheimnis und Öffentlichkeit. Hobbes ist sich ge‐ wahr, dass der Machthaber in das Geheimnis der Bürgerinnen und Bürger, woran sie 38 Siehe hierzu Hobbes 2017, S. 108: „Nun kann zwar nicht verhindert werden, daß es zu […] Uneinigkeiten kommt, aber es kann durch die höchste Gewalt dafür gesorgt werden, daß sie den öffentlichen Frieden nicht erschüttern.“. 39 Williams o.J. 40 Hobbes 2017, S. 170f. 41 Brandt 1982, S. 161.

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glauben, keinen Einblick zu gewinnen imstande ist. Insofern ist der Oberherr unab‐ dingbar gezwungen, das Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger unangetastet zu belassen, ihnen die darin gegebenen Geheimnisse einzuräumen. Allerdings stehen mögliche, sich aus diesem Bewusstsein von Glauben oder Nichtglauben resultieren‐ de Praktiken wie auch andere Ausdrücke privater Freiheit unter „kontinuierlichem Vorbehalt des Souveräns“; sie dürfen „durch keine Institutionen und Rechtsgüter ga‐ rantiert werden“42. Denn durch sie kann die Destabilisierung des Gemeinwesens drohen. Solange der Glaube ein privater bleibe, könne der Machthaber nichts gegen ihn tun und, zweckdienlich betrachtet, müsse der Machthaber auch nichts gegen ihn tun. Derlei private Angelegenheiten dürften nur nicht in den Bereich der Öffentlich‐ keit geraten: „In Glaubensangelegenheiten könne es keine Kontrolle geben, da nur Gott in die Herzen der Menschen sehen könne. Insofern sei der Glaube in foro interno frei und politisch un‐ problematisch, solange dieser nicht öffentlich (in foro externo) propagiert werde. Die Sphäre eines individuellen Urteilsvermögens in Glaubensangelegenheiten wird von Hobbes durchaus zugestanden, aber er setzt alles daran, sicherzustellen, dass individuelle private Urteile und Meinungen im Bereich des Politischen neutralisiert werden.“43

9. Schlusswort Politisch-philosophisch ist in Hobbes’ Konstruktion des Gemeinwesens die Meinungs‐ identität von Machthaber bzw. Stellvertreter und Öffentlichkeit gegeben. Diese Identi‐ tät ist begründet im Zusammenhang zwischen dem Gedankenexperiment zum Natur‐ zustand und der sich daran anschließenden Annahme eines Vertragsschlusses zur Kon‐ struktion eines Gemeinwesens. Der Stellvertreter des Gemeinwesens sei die Inkarnati‐ on der öffentlichen Meinung. Praktisch jedoch ist diese Identität kein Faktum. Poli‐ tisch-theoretisch reagiert Hobbes darauf, wie diverse Überlegungen zum bestehenden Problemverhältnis von Macht, Geheimnis und Öffentlichkeit belegen. Peter Schröder stellt trefflich fest, dass Hobbes im Verlauf seines publizistischen Wirkens „zuneh‐ mend klarer erkannt“ habe, „dass nicht die Befehlsgewalt über Staatsdiener und Mili‐ tär die Macht im Staate sicherstellte, sondern der Einfluss auf die öffentliche Meinung der letztlich entscheidende Machtfaktor im Staat war“.44 Eingedenk dieser Annahme und politischer Ereignisse und Tendenzen der Gegenwart – man denke exemplarisch an den Einsatz sogenannter Fake News – erweist sich Hobbes nahezu umstandslos als ein politischer Philosoph und Theoretiker, dessen Berücksichtigung sich nicht auf ide‐ engeschichtliche Verweise beschränken sollte. 42 Hidalgo 2017, S. 85. 43 Schröder 2017, S. 117. 44 Schröder 2015, S. XXIX. Dieses Thema spielt in „Elements of Law“, in „De Cive“ und im „Le‐ viathan“ eine Rolle, eine Hauptrolle im „Behemoth“.

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III. Der Kampf um die Offenbarung der Macht

Christoph Schmitt-Maaß Sichtbarmachung der (geheimen) Macht. Fénelons „Télémaque“ im Spannungsfeld von Absolutismus und Frühaufklärung

Für Volker Kapp

1. Das geheime Buch als öffentlicher Skandal 1699 berichtet Liselotte von der Pfalz (1652-1722, als verehelichte Élisabeth Char‐ lotte d’Orléans zugleich Schwägerin des Sonnenkönigs Ludwig XIV., 1638-1715) von Versailles aus an ihre Tante Sophie von Hannover (1630-1714), dass man ihr das Manuskript des Romans „Die Abenteuer des Telemach“ („Les Aventures de Té‐ lémaque“) nur unter der Hand und unter Aufsicht gegeben habe – mit der Auflage, keine Abschriften anfertigen zu lassen.1 Natürlich hielt sich Liselotte nicht an diese Anweisung, sodass bald am Welfen- und am Preußenhof Abschriften kursierten. Mehr noch: Nachdem 1699 zunächst der anonyme Pariser Druck verboten worden war, erschien in Amsterdam ein Raubdruck, der alsbald in ganz Europa zirkulierte und den Roman zum meistgelesenen Buch des 18. Jahrhunderts (neben der Bibel) machen sollte.2 Warum war der Roman so erfolgreich? Sein Verfasser, François de Salignac de La Mothe-Fénelon (1651-1715), fungierte seit 1689 als französischer Prinzenerzieher und Erzbischof. Den „Télémaque“ verfasste er 1693 bis 1694 für seinen Schüler, den Enkel Ludwigs XIV., Louis Duc de Bourgogne (1682-1712), der nach seinem Vater, dem Grand Dauphin Louis (1661-1711), als Petit Dauphin zweiter in der Erbfolge war. Fénelon schildert in seinem Roman, anknüpfend an Homer, die Reisen des titel‐ gebenden Odysseussohnes durch die mediterrane Welt der Antike und seine Begeg‐ nung mit verschiedenen Herrschern und Staatsformen, immer begleitet durch die Göttin Minerva im Kostüm des väterlichen Freundes Mentor. Vermittels dieser Fikti‐

1 Élisabeth Charlotte d’Orléans an Sophie von Hannover, Brief vom 14.6.1699 (von Ranke 1877, S. 168; vgl. – unvollständig – Bodemann 1891, S. 368). 2 Riley 1994, S. xvi sowie für den deutschsprachigen Raum jetzt Schmitt-Maaß 2018.

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on entwirft Fénelon ein Abbild des französischen Staates unter dem Sonnenkönig Ludwig XIV. in Gestalt des stark reformbedürftigen Staates Salente.3 Natürlich reagierte Ludwig XIV. äußerst empfindlich auf diese kaum kaschierte Kritik an seiner Staatsführung: Er verbot das Buch, entließ den Erzbischof von allen Hofämtern und verbannte ihn in sein Bistum Cambray (Kammerich, heute Belgien). Das verhinderte jedoch nicht die breite Rezeption des Romans; zahlreiche Philoso‐ phen entnahmen ihm während des gesamten 18. Jahrhunderts theoretische und prak‐ tische Hinweise zur Regierungskunst, darunter Voltaire, Rousseau und Friedrich II. von Preußen. Die Strategie Ludwigs, die ein oder zwei Jahrhunderte zuvor noch er‐ folgreich gewesen wäre, fruchtete also nicht: Während Fénelons Roman ursprüng‐ lich nur einem kleinen Kreis am Versailler Hof zur Verfügung stand und weitgehend geheim gehalten werden konnte, wurde er mit Drucklegung der gesamten res publi‐ ca litteraria zugänglich. Die Vertriebswege (Niederlande) und die Tatsache, dass sich Ludwigs Regentschaft ohnehin im Sinken befand,4 sorgten dafür, dass aus dem Skandal eine Faszinationsgeschichte wurde: Markt (Buchhandel) und Prestige (Fé‐ nelons) bzw. Prestigeverlust (Ludwigs) sorgten dafür, dass ein unliebsames Buch nicht länger unterdrückt werden konnte, sondern – im Gegenteil – der Versuch der Geheimhaltung erst recht zum Erfolg des Buches beitrug.

2. Das Geheimnis des Erfolges: Fénelons Absolutismuskritik Fénelon kritisiert im „Télémaque“ (und speziell in den Salente-Episoden des VIII. und IX. Buches) den ludwigischen Absolutismus. Doch er agierte nicht allein. Viel‐ mehr war im Umfeld des burgundischen Prinzen Louis ein ganzer Kreis darum be‐ müht, die absolutistische Machtausweitung des Sonnenkönigs kritisch zu reflektie‐ ren und zu relativieren.5 Ludwig versuchte, mit seinem Regierungsantritt 1643 alle Macht auf seine Person zu konzentrieren und die Kontrollfunktion des Altadels so‐ wie des Parlamentes zu delegitimieren, was zur bürgerkriegsähnlichen innerfranzösi‐ schen Auseinandersetzung der Frondes (1648-1653) führte, die Ludwig jedoch für sich entscheiden konnte und in deren Folge er die alte noblesse d’épée (den Geburtsoder Schwertadel) durch die noblesse de robe (den Amtsadel) ersetzt, deren Ämter käuflich waren. Da Teile des aufstiegsorientierten Bürgertums infolge des Titelkaufs den Handel einstellten – zugunsten einer Imitation altadliger Lebensführung (Be‐ streitung des Lebensunterhalts aus Grundstückerträgen) – drohte die Wirtschaft zu erliegen. Ludwigs Finanzminister, Jean-Baptiste Colbert, – der selbst der robe ent‐ 3 Bereits 1693 hatte Fénelon anonym einen „Lettre à Louis XIV“ publiziert, in dem er die Miss‐ stände in Frankreich klar benannte; 1711 legt er die Grundsätze des gelungenen Regierens dar in den „Tables de Chaulnes“ (vgl. unten). 4 Burke 1992, Kapitel VIII und IX. 5 Mansfield 2017, S. 223-245.

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stammt – entwickelte daher ab 1665 eine exportorientierte Variante des Merkantilis‐ mus, um durch die Produktion von Luxusgütern Gold ins Land zu holen. Im Kreis um den Herzog von Burgund formierte sich Widerstand gegen vier Aspekte dieses ludwigischen Absolutismus: (1.) die Abschaffung der alten Adelsprivilegien und da‐ mit die Suspendierung der Kontrolle des Königs durch den Altadel, (2.) die einseiti‐ ge Konzentration auf die merkantilistischen Luxusprodukte, (3.) die expansive Kriegspolitik des Königs und (4.) die Vernachlässigung des (Frei-)Handels. Da der Kreis um den Herzog von Burgund6 sich mit offiziellen Verlautbarungen zur Re‐ formpolitik zurückhielt, vermitteln Fénelons Erziehungsschriften für den Herzog von Burgund – die „Fables“ (1689-1691), die „Dialogues des Morts“ (1692-1695) und eben der „Télémaque“ (1693-1694) – die Reformpläne in einem narrativen Me‐ dium. Die fiktive Narration erlaubt die Reflexion auf die Notwendigkeit, Reform‐ vorschläge unter das Siegel des Geheimnisses zu stellen. Damit lehrt der „Télé‐ maque“ – und das will ich zeigen – zweierlei: Dass Reformvorschläge einer Ge‐ heimhaltung unterliegen und dass diese Geheimhaltung keineswegs dem Obskuran‐ tismus Tür und Tor öffnet, sondern vielmehr Teil einer rationalen Strategie ist, weil auf diesem Weg Prozesse (Ursache, Lösung und Wirkung) dargestellt werden kön‐ nen. Fénelon präsentiert im „Télémaque“ – aber auch in anderen Schriften – ein Re‐ formprogramm, das in weiten Teilen der Aufklärung zugerechnet wurde und wird. Wie gestaltet sich Fénelons Herrschaftskritik und wie sehen seine Reformvorschläge aus? Er konturiert einerseits das Ineinandergreifen von Luxus, Krieg und Handel, um anschließend die fehlgeleiteten Entwicklungen im ludwigischen Frankreich (Sa‐ lente) aufzuzeigen. So kann er andererseits ein Gegenprogramm entwickeln, das an‐ hand narrativ vermittelter Fallbeispiele entfaltet wird.

2.1. Luxus, Krieg und Handel bei Ludwig XIV. Im „Télémaque“ schildert Fénelon, wie seinem Protagonisten bei seiner Reise durch die fiktive mediterrane Welt der Antike allerorten Luxus, Verweichlichung und Faul‐ heit begegnen (XII).7 Ein guter Herrscher hat dem entgegenzuwirken, indem er ex‐ zessiven Reichtum beschränkt, Pracht begrenzt und nutzlose Vergnügungen verbietet (V). Exemplarisch schildert Fénelon Télémaques Abstieg in die Unterwelt, bei dem 6 Der Kreis bestand – neben Fénelon – aus Paul de Beauvilliers, Duc de Saint-Aignan (1648-1714), Charles Honoré d’Albert de Luynes, Duc de Chevreuse (1646-1712), Claude Fleu‐ ry (1640-1723), Louis de Rouvroy, Duc de Saint-Simon (1675-1755) und Charles-Irénée Castel de Saint-Pierre (1658-1743). 7 Ich zitiere im Folgenden den „Télémaque“ unter Angabe von römischen Buchnummern und la‐ teinischen Seitenzahlen (bzw. nur mit Buchnummern, wenn das Buch insgesamt einem Thema gewidmet ist), in den Fußnoten nach Kapp 1984.

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er den schlechten Herrschern begegnet, die den Luxus einem arbeitsreichen Leben und dem Wohl ihrer Untertanen vorgezogen haben (XVIII). Fénelon richtet sich da‐ mit gegen die merkantilistische Politik Ludwigs XIV. und seines Finanzministers Colbert, die einseitig die Produktion von Luxusgütern zum Export fördert, um Devi‐ sen nach Frankreich zu spülen, aber nur die Bedürfnisse des Hofes und der Stadt be‐ dient. Ebenso entschieden wie den Luxus verwirft Fénelon auch den Krieg. Unter der Formel „alle Menschen sind Brüder“ kritisiert Fénelon vor allem die Angriffskriege als wirtschaftliche Ausblutung des Volkes und damit des Staates (X; XV), warnt aber auch vor den Folgen von Verteidigungskriegen, die immer Leid, Verzweiflung und Versklavung mit sich brächten (VIII). Wenn Mentor-Minerva seinem/ihrem Schützling erklärt, dass alle Kriege juristisch gerechtfertigt werden müssen (X), bringt Fénelon eine klare Kritik an den Angriffskriegen Ludwigs XIV. zum Aus‐ druck. Nicht der absolutistische Alleinherrscher, sondern einzig die Generalver‐ sammlung hat das Recht, den Kriegszustand zu erklären.

2.2. Narrative Gestaltung der Kritik Seine Kritik entwickelt Fénelon im „Télémaque“ anhand dreier Modelle: Das rurale Bätica stellt eine Rückzugsidylle dar, in der alle Güter geteilt werden und wo die Re‐ gierung gemeinsam von allen Familien ausgeübt wird; seine Bewohner kennen we‐ der Luxus noch Krieg oder Handel; leben im inneren und äußeren Frieden; Salente bildet dazu das dekadente Gegenstück, das jedoch dank der Tatkraft Mentor-Miner‐ vas in eine Reformutopie überführt wird. Die Fiktion eines „kommunitaristischen“ Bätica ist notwendig, damit Fénelon die Ortlosigkeit (und Inexistenz) einer solchen ruralen/frugalen Utopie illustrieren kann – sie verkörpert als beste aller möglichen Welten eine schöne jedoch unrealisierbare Idee; ein normatives Paradigma, das jedes Regierungshandeln unnötig macht, weil eine Gesellschaft der Gleichen alles ge‐ meinsam erarbeitet, verwaltet und verbraucht. Salente nimmt dagegen in Buch VIII die Funktion einer Antithese ein: König Ido‐ meneo (den die Zeitgenossen mit Ludwig XIV. identifizierten) hat einen ungerecht‐ fertigten Angriffskrieg begonnen und zu dessen Finanzierung eine Reihe von nutzlo‐ sen Luxusprojekten gefördert, etwa die Huldigung des Herrschers mittels Künsten oder die Produktion unnötiger Luxusgüter. Der gewünschte merkantile Effekt bleibt jedoch aus, weil die Steuerbürden den Handel zum Erliegen gebracht haben. Luxus und Krieg greifen also in der Darstellung Fénelons zwingend ineinander und moti‐ vieren wiederum die inneren Unruhen, die der Bedürfnisbefriedigung (der Grundbe‐

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dürfnisse der ausgebluteten Bevölkerung einerseits, der Luxusbedürfnisse des Hofes andererseits) dienen.8 König Idomeneo beauftragt in Buch X Mentor mit der Konzeption und Ausfüh‐ rung eines Reformprogrammes, dessen positive Effekte in Buch XVII dargestellt werden. Die Reformen Mentors decken sich mit den Vorschlägen, die Fénelon selbst an anderer Stelle ausformuliert hat. Salente hingegen wird in seiner Dekadenz so dargestellt, dass die Effekte konkre‐ ter Verbesserungen sichtbar gemacht werden können. Mentor vermittelt ein erfolg‐ reiches Friedensabkommen und reformiert anschließend den Handel: Statt Luxusgü‐ ter zu produzieren, beschränkt sich der Handel auf die Herstellung einfacher Güter zur Grundversorgung. Zur Bekämpfung der Günstlings- und Mätressenwirtschaft wird die Macht des Königs durch einen Rat beschränkt, der einzig der Fruchtbarkeit (der Bevölkerung und der Landgüter) zuarbeitet. Dazu werden alle unnützen Bewoh‐ ner der Hauptstadt in den ländlichen Raum umgesiedelt, jeder Bürger erhält ein eige‐ nes Stück Land zur Bewirtschaftung (auf die Erträge sind festgelegte und unverän‐ derliche Steuersätze zu entrichten), da einzig die Landwirtschaft die soziale Stabili‐ tät des Landes gewährleistet; der Schulbesuch ist verpflichtend. Sofern neben der Landwirtschaft noch Produktionskapazitäten frei sind, können die Bürger „nützli‐ che“ Güter für den Handel herstellen; unnütze Künste jedoch sind als Luxus ver‐ bannt. Auch soll der Handel angeregt werden durch die Anwerbung ausländischer Händler (die Fénelon nach dem Vorbild der niederländischen Händler formt), deren Freiheiten jedoch strikt zu reglementieren sind. Insgesamt ist die Gesellschaft im re‐ formierten Salente stark reguliert und rigide stratifiziert (sechs Bevölkerungsklassen, die durch eine festgelegte Kleidungsordnung identifiziert werden können).

2.3. Altadlige Opposition zum ludwigischen Absolutismus In seiner Kritik von Luxus und Krieg sowie in seiner Forderung nach Stärkung des Handels hat Fénelon führende Denker der Aufklärung wie Shaftesbury, Hutcheson, Berkeley und Rousseau beeinflusst, aber auch die Kritik von Mandeville, Montes‐ quieu und Voltaire hervorgerufen.9 Doch auch wenn einige Punkte von Fénelons Kritik von den Ständen und noch einmal 1789 aufgegriffen wurden: Seine Vorschlä‐ ge sind in keiner Weise modern oder arbeiten gar der „Republik“ oder „Demokratie“ zu, sondern zielen auf eine Reform, die – einmal durchgesetzt – fixiert werden soll, 8 Anders als Idomeneo, der sich als belehrbar erweist und dessen Land nach den Reformen auf‐ blüht, fungiert der König von Tyrus, Pygmalion, mit seiner Mätresse Astarbé gleichfalls als (al‐ lein negative) Spiegelfigur Ludwigs XIV. (oder des 1691 verstorbenen Ministers François Mi‐ chel Le Tellier, Marquis de Louvois, 1641-1691), wie auch die Tyrus-Episode gleichsam das nicht reformierbare Negativ zu Salente bildet, vgl. Cuche 2009, S. 273-296. 9 Schuurman 2012, S. 179.

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eine Reform zudem, die wesentlich auf die Errichtung einer statischen agrikulturel‐ len Gesellschaft abzielt, während der Rest Europas sich der Dynamik der Handels‐ netzwerke öffnete. Auch sind Fénelons Vorschläge zur Reform von Regierung und Handel nicht zu vergleichen mit zeitgenössischen physiokratischen Vorstellungen, da Fénelon deren Liberalität ablehnt.10 Fénelon setzt hingegen auf ein System der Kontrolle: eine Kontrolle der Bevölkerung (Bevölkerungsklassen) und eine Kontrol‐ le des Herrschers und seiner Macht. Während die Fénelonforschung des 19. und 20. Jahrhunderts an die Fénelonha‐ giografie der Französischen Revolution anschloss und den Erzbischof als Vorreiter der Aufklärung feiert, hat Volker Kapp 1982 aufgezeigt, dass Fénelons Absolutis‐ muskritik auf der altfeudalen Stände- und der katholischen Soziallehre fußt.11 Wenn sich seine antiludwigische Kritik also aus ganz anderen Quellen speist als die Abso‐ lutismuskritik der Radikalaufklärung, so zielt sie doch in dieselbe Richtung und macht auch übereinstimmende Reformvorschläge. Anstelle einer Günstlingswirt‐ schaft propagiert Fénelon im „Télémaque“ ein System der Machtverteilung und der gegenseitigen Kontrollen (durch den König, die Fronde, die Stände und die parle‐ ments). Anstelle eines letztlich willkürlichen Systems von Abhängigkeitsverhältnis‐ sen in der Günstlingspolitik wirbt Fénelon für eine Ausbalancierung der Machtver‐ hältnisse. Statt einer einseitigen Machtkonzentration (die zwar die Macht sichtbar macht, indem sie sie mythologisch überhöht – darauf zielt ja die Inszenierung Lud‐ wigs als Sonnenkönig durch alle Künste) forciert Fénelon eine Sichtbarmachung der Machtverteilung. Diesbezüglich argumentiert Fénelon aus dem Geist der altadligen Opposition der Fronde gegen den ludwigischen Absolutismus, die 1656 unterlegen war und seither einen sukzessiven Abbau ihrer Privilegien hinnehmen musste.

3. Das offene Geheimnis: Leseanweisungen im „Télémaque“ Fénelon erzählt im „Télémaque“ jedoch nicht nur vom besten aller möglichen Kö‐ nigreiche und vom besten Herrscher – vielmehr ist sein Fürstenspiegel (miroir des princes) ein „Fürstenerzieherspiegel“: Fénelon stellt dar, welche Probleme ein Prin‐ zenerzieher bei der Erziehung seines Zöglings gewärtigen muss und wie er diesen Problemen begegnen kann. Damit liefert der „Télémaque“ auf einer autodiegeti‐ schen Ebene zugleich eine Leseanweisung, die das Problem der geheimen Machtver‐ hältnisse im Staat, ihre Offenlegung, ihre narrative Einkleidung und Dechiffrierung thematisiert.

10 Schuurman 2012, S. 199. 11 Kapp 1982.

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3.1. Geheime Machtverhältnisse Mentor bemerkt, während er Idomeneo belehrt, dass dieser ob seiner Rügen erzürnt, und verteidigt sich: „Auch ich [Mentor, C. S.-M.] kann, wenn du [Idomeneo, C. S.-M.] es verlangst, meine Worte mildern, aber es ist für dich nützlich, daß ein uneigennütziger und anspruchsloser Mann im geheimen mit dir die Sprache der Wahrheit rede. Kein anderer wird dies je zu tun wagen: du wirst die Wahrheit immer nur halb und unter einerschönen Hülle sehen“ (XII, 201).

Ein „weiser König“ zeichne sich dadurch aus, dass man ihm „die Wahrheit frei und offen“ sage, er keiner von „jenen schwachen Menschen“ sei, „welche sie [die Wahr‐ heit, C. S.-M.] fürchten und, da sie den Mut nicht besitzen, sich zu bessern, ihr An‐ sehen nur gebrauchen, um die von ihnen begangenen Fehler in einem besseren Lich‐ te darzustellen“ (X, 177). Nur durch Kritik sei es möglich, den Herrscher zur Wahr‐ heit („verité“) und Klarheit („lumière“) zu führen. Indem Fénelon im „Télémaque“ vorführt, wie eine auf Klarheit und Wahrheit basierte Herrscherkritik zur Verbesse‐ rung des Landes beitragen kann, wirkt er jener Intention entgegen, die maßgeblich das Interesse an seinem Roman begründet hatte: Sein Buch ist kein Schlüssel (zur Dechiffrierung der Versailler Verhältnisse) und enthält keine Mysterien (weder des Herrschers noch der Kirche), sondern will in größtmöglicher Deutlichkeit die beste‐ henden Verhältnisse verbessern.

3.2. Psychologie und Moral statt (Heils-)Geschichte Daher unterscheidet sich Fénelons Fürstenspiegel auch erheblich von anderen Fürs‐ tenspiegeln. So hat etwa Fénelons vormaliger Förderer und Amtsvorgänger (der Er‐ zieher des Grand Dauphin Louis, 1661-1711), Jacques Bénigne Bossuet (1627-1704), eine Reihe von Prinzenerziehungsschriften verfasst,12 die alle nach demselben Schema verfahren: Sie leiten aus (heils)geschichtlichen Rückblicken eine Theorie der guten Herrschaft ab (bezogen auf Krieg und Frieden, Rechtsprechung und Justiz, Bevölkerung und Wachstum). Fénelon hingegen begründet die Prinzener‐ ziehung und damit die Regentschaft – und darin besteht das „Geheimnis“ seiner Prinzenpädagogik – nicht geschichtlich, auch nicht heilsgeschichtlich (und schon gar nicht mythologisch), sondern psychologisch und moralisch: Der Prinz muss sich selbst „regieren“ können, ehe er Regent werden kann. Fénelons „Télémaque“ ver‐ körpert folglich das Gegenmodell zu Machiavellis „Il Principe“.13 Indem Fénelon im 12 Traité de la connaissance de Dieu et de soi-même (1670); La Politique tirée des propres paroles de l’Écriture Sainte (1677); Discours sur l’histoire universelle (1681). 13 Hillenaar 1994, S. 21.

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„Télémaque“ auf die moralische Einsicht und die psychologische Formbarkeit des Thronprätendenten setzt, enthebt er die Prinzenerziehung ihrer interessengeleiteten Geheimnisse: Während es in der frühen Neuzeit Usus war, dass der ehemalige Erzie‐ her mit Regierungsantritt erster Berater, wenn nicht gar erster Minister des jungen Regenten wurde, setzt Fénelon auf die Emanzipation des Zöglings vom Erzieher. Anders ausgedrückt: Während Fürstenspiegel und Staatsromane traditionell darauf zielten, ihren Verfasser ins Zentrum der Macht zu hieven (und daher eher Elogen auf den Prätendenten statt Verbesserungsvorschläge unterbreiten), setzt Fénelon auf die pädagogische Selbstaufklärung des Prätendenten.

3.3. Theologische Fundierung Zu dieser Selbstaufklärung des Prätendenten einerseits und zum Machtverzicht des Erziehers andererseits trägt auch die quietistische Überzeugung Fénelons bei, die den „Télémaque“ imprägniert. Den Hintergrund dieser mystischen Richtung des Ka‐ tholizismus bilden Gegenreformation und Gallikanismus, also zwei Tendenzen, die erheblich auf Veräußerlichung des Glaubens setzen (durch Prachtentfaltung und Machtdistribution). Der Ende des 17. Jahrhunderts entstehende Quietismus hingegen geht davon aus, dass der Mensch zunächst sein Ich völlig aufgeben und an Gott übergeben müsse, um danach in völliger Ruhe und Gleichmut zu leben. Fénelons Eintreten für die bekannte Quietistin Jeanne-Marie Bouvier de la Motte-Guyon (1648-1717) führte dazu, dass Fénelon sich zunächst mit seinem ehemaligen Förde‐ rer Bossuet überwarf und schließlich sogar selbst der „quietistischen Häresie“ ver‐ dächtigt wurde.14 Im „Télémaque“ taucht die Leitvokabel des Quietismus, die „reine Liebe“ („pur amour“), nicht auf; sie wird ersetzt durch das Wort „désintéressement“ („Uninteressiertheit“). Im „Télémaque“ wird der Thronerbe belehrt, dass er in der Verrichtung seiner Regierungstätigkeit selbst uninteressiert zu sein hat und sich der Ordnung unterwerfen muss: der göttlichen, nationalen und familiären Ordnung. So‐ wohl der Herrscher als auch seine Minister und alle Mitglieder seiner Regierung ha‐ ben sich bei der Verrichtung ihrer Regierungsgeschäfte eines Eigeninteresses zu ent‐ halten und dürfen nicht ihre Verdienste verherrlichen. Fénelon kaschiert kaum die quietistische Lehre, die exakt zum Entstehungszeitpunkt des „Télémaque“ im Quie‐ tismusstreit von Bossuet bekämpft und von Fénelon verteidigt wird, und doch er‐ weist sie sich als das geheime Zentrum des Romans. Daher „verschwindet“ Mentor am Ende des „Télémaque“ auch, wenngleich er sich in der abschließenden Apotheo‐ se als Minerva zu erkennen gibt, noch einmal alle Regierungsmaximen zusammen‐ fasst und seinen Zögling allein zurücklässt: Der Zögling ist nun – belehrt, erzogen

14 Spaemann 1990, S. 74ff., 188ff.

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und gebildet (im eigentlichen Wortsinn) – in der Lage, getreu den quietistischen Ma‐ ximen interesselos Macht auszuüben, selbst ein Mentor zu werden;15 und genau in diesem Sinn ist das Buch auch im 18. Jahrhundert rezipiert worden.16 Indem Féne‐ lon seine theologische Überzeugung in Romanform säkularisiert und in eine psycho‐ logische Sprache übersetzt, kaschiert er die spirituellen Implikationen.17

3.4. Der Souverän als Sklave Folglich ist Télémaque nicht – wie Mentor-Minerva in ihren Schlussworten verdeut‐ licht – ein absoluter Souverän, der über sein Volk verfügen kann, wie es ihm beliebt, sondern ganz gegenteilig: „Er [der König, C. S.-M.] ist ein Sklave all derer, denen er zu befehlen scheint, er ist nur für sie da, und nur ihnen darf er seine Kräfte widmen; für alle ihre Bedürfnisse muß er sorgen, die Last des ganzen Staates und jedes einzelnen liegt auf seinen Schultern. […]. Die Autorität, die er zu haben scheint, ist nicht sein eigen; er kann nichts für seinen Ruhm, nichts für sein Vergnügen tun; seine Würde ist die des Gesetzes, und er muß ihm gehorchen, um seinen Untertanen mit gutem Beispiel voranzugehen. […]. Er ist ein Skla‐ ve, der seine Ruhe und seine Freiheit dem allgemeinen Wohl [im Original „félicité publi‐ que“] opfert“ (XIV, 438).18

Die Gesetze also – und nicht der Wille und die Macht des Herrschers oder die Ein‐ flüsterungen seines Umfeldes – sind es, die die gute Regierung gewährleisten. Der Herrscher besitzt, wie es an anderer Stelle heißt, „unbeschränkte Macht über seine Untertanen, aber wie sie ist auch er in allem den Gesetzen unterworfen. […]. Der König darf vor den übrigen nichts voraushaben […]“ (V, 78). Anderenfalls droht Anarchie: „Wenn sich die Könige daran gewöhnen, kein anderes Gesetz mehr anzuerkennen als ihren unumschränkten Willen, und ihren Leidenschaften keinen Zügel mehr anlegen, so vermögen sie alles; aber grade dadurch, daß sie eben alles können, was sie wollen, unter‐ minieren sie die Grundpfeiler ihrer Macht; sie richten sich nach keinen bestimmten Re‐ geln, nach keinen Maximen mehr; jeder schmeichelt ihnen nach Belieben; sie haben kei‐ ne Untertanen mehr, es sich nur noch Sklaven […]“ (XXII, 400).

Daher ist es notwendig, die Macht des Herrschers durch die ewigen, von den Göt‐ tern gegebenen (und also letztlich mythisch begründeten) Gesetze zu limitieren, die dem Herrscher jedoch in die Seele (im Original „au cœur“) eingeschrieben sind und

15 16 17 18

Hillenaar 1994, S. 27. Schmitt-Maaß 2018, S. 147 u.ö. Hillenaar 1994, S. 29. Zur Übernahme dieser Formel durch Friedrich II. von Preußen in seinem „Antimachiavell“ (1740) vgl. Schmitt-Maaß 2018, Kapitel 8.1.1.

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mit denen er daher – wenn er eine gute Seele hat – „natürlicher Weise“ übereinstim‐ men muss (VI, 96). In der mythischen Herkunft der durch die Götter gegebenen und zu ehrenden Gesetze liegt auch die Widersprüchlichkeit der „offenen Geheimnisse“ von Fénelons Politik.

3.5. Lektüre und Lektion: der Roman als Erzieher Den Zögling Télémaque (und den intendierten Erstleser, den Herzog von Burgund) zu dieser bitteren Einsicht zu bringen, bedurfte der fiktionalen Einkleidung: „Die ganze Geschichte,“ erklärt Mentor-Minerva am Ende mit Blick auf eine autodiegeti‐ sche Binnenerzählung, „ist eine bloße Fabel“, deren „harte Lehren“ Télémaque „in einer Tugend […] üben“ sollen, nämlich in Geduld: „Wer die Zeit nicht abwarten, sich nicht gedulden kann, ist einem Menschen ähnlich, der unfähig ist, ein Geheimnis zu verschweigen. Beiden fehlt die Stärke der Seele, ihre Ge‐ lüste im Zaum zu halten; […], und je größer seine Macht ist, desto verderblich ist für ihn die Ungeduld. […]. So töricht denkt ein Mensch, der allmächtig zu sein glaubt und der sich von seinen maßlosen Begierden verleiten läßt, seine Macht zu mißbrauchen“ (XIV, 444-446).

Mentor empfiehlt – wie bereits Homer in der „Odyssee“ – die Nachahmung des „lis‐ tenreichen“ Vaters: „Dein Vater ist der Weiseste unter allen Menschen. Sein Herz gleicht einem tiefen Brun‐ nen, und vergebens würde man es versuchen, aus ihm seine Geheimnisse zu schöpfen. Er liebt die Wahrheit und spricht nie etwas, das sie verletzen könnte, aber er sagt sie nur, wenn’s nötig ist, und die Weisheit verschließt seine Lippen gleich einem Siegel, damit ihnen kein unnützes Wort entfahre“ (XIV, 444).

Die Macht des Herrschers kann völlig ohne Mystifizierung und Geheimhaltung ga‐ rantiert werden, sofern er sich den Leitsätzen Fénelons (Mentors) unterwirft, die mit Vernunft und Tugend übereinstimmen; in diesem Sinn fungiert das Buch „Télé‐ maque“ als Offenlegung einer antiludwigischen Politik. Adäquat jedoch ist der Herr‐ scher verpflichtet, „ein Geheimnis treu zu bewahren“ (III, 40), sofern es der „guten Regierung“ dienlich ist. Diese königliche Fähigkeit der Geheimnisbewahrung ist ebenso wichtig wie die Achtung der Justiz und die Güte in der Regierungsausübung. Mehr noch: Das Geheimnis konstituiert eine wesentliche Bedingung der Existenz des frühneuzeitlichen Staates, sie ist „der Grundstein eines weisen Lebens […] ohne d[en] alle Vorzüge des Geistes nutzlos“ sind (III, 40). Die wesentlich durch die Er‐ ziehung zu vermittelnden Tugenden – Umsicht, Weisheit, Vorsicht, Urteilskraft – sind nicht theoretisch erwerbbar, sondern nur praktisch lebbar; die Tugenden sind je‐ doch nicht durch die „Arbeit der Vernunft“ erwerbbar, sondern sind gleichsam spiri‐ tuell gegeben: im „Télémaque“ durch ein platonisch interpretierbares göttliches „lu‐ 82

men naturale“, das in den theologischen Schriften Fénelons näher definiert wird, und auch im Télémaque begegnet als inneres Licht („jene[s] unendliche[] und unverän‐ derliche[] Licht, das sich allem mitteilt, auf alles erstreckt, […] jene[] höchste[] um‐ fassende[] Wahrheit, die den Geist erleuchtet, wie die Sonne die Körper bescheint“, IV, 73) infolge der Versenkung in das eigene Innere und die Notwendigkeit des Ge‐ heimnisses (in der Nachfolge des Heiligen Johannes): die Wahrheit muss als „Ge‐ heimnis des Herzens“ bewahrt bleiben, bis sie sich in einem strategisch günstigen Moment offenbart.19 Mentor hält fest: „Man muss bestimmte Prinzipien von Gerechtigkeit, Vernunft und Tugend haben, um diejenigen zu erkennen, welche verständig und tugendhaft sind. Man muß ferner die Ma‐ ximen einer guten und weisen Regierung kennen, um solche Leute, welche von diesen beseelt sind, von denjenigen unterschieden zu können, die einem falschen Wahn anhan‐ gen“ (XIV, 431).

Adäquat gilt, dass der künftige Souverän sich nur mit Vorbehalten solcher Berater bedienen darf, die bereits hohe Positionen (unter seinem Amtsvorgänger bzw. Vater) erworben haben: Sofern sie „ungerechte und arglistige Leute [von, C. S.-M.] hohem Ansehen“ sind, muss man sich dieser „verbrecherischen Personen“ notgedrungen während einer Übergangszeit bedienen, weil sie „mächtige[] Personen“ sind (XIV, 434). Erst nach und nach kann ihnen der neue Regent Macht entziehen und den Staat reformieren, wenn er nicht „Revolutionen“ riskieren will. Mentor warnt seinen Zög‐ ling: „Hüte dich ja, ihnen dein unbedingtes Vertrauen zu schenken, denn sie könnten es leicht mißbrauchen und dich aufgrund deines Geheimnisses [gemeint ist die Reform des zerrüt‐ teten Staates, C. S.-M.] gegen deinen Willen binden […], behandele sie wohlwollend, verpflichte sie durch ihre eigenen Vorteile, dir treu zu sein, denn nur so wirst du sie an dich fesseln; lasse sie aber nicht an deinen gemeinsten Beratungen teilnehmen. Habe stets ein Mittel in Bereitschaft, um sie nach deinem Willen zu leiten, übergib ihnen jedoch nie‐ mals den Schlüssel zu deinem Herzen und zu deinen Geschäften“ (XIV, 434).

3.6. Herzenstheologie und Machtzirkel Fénelon rekurriert damit sowohl auf seine eigene theologische Ausbildung (die sich auf das Studium am Pariser Priesterseminar Saint-Sulpice vollzog)20 als auch auf die drei Kreise, die sich am Versailler Hof gefunden hatten: der Kreis um den König und Madame Maintenon, der Kreis um den Grand Dauphin Louis und der Kreis um den Petit Dauphin, den Herzog von Burgund, dem Fénelon sich selbst zurechnete.21 Fé‐ 19 Cuche 2000, S. 72. 20 Hillenaar 1994, S. 30f. 21 Mansfield 2017, S. 228f.

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nelon wurde aufgrund seines Eintretens für den Quietismus wie für die Publikation des „Télémaque“ ins Exil geschickt; und bereits der „Télémaque“ ist geprägt von Fi‐ guren, die im Exil oder in der Wüste leben (Aristodemos, Philokles, Polydamas, Té‐ lémaque selbst). Der Grund für ihr Exil liegt in der Ungeduld, die das Ziel der jewei‐ ligen Zirkel gefährdet: Die „Bewahrung der Geheimnisse“ bedeutet nämlich nicht Betrug, sondern bezeichnet die Fähigkeit „ein Geheimnis zu verschweigen, ohne die Unwahrheit zu sagen“, wobei der Geheimniswahrer „unbefangen, ungezwungen und offen“ wirkt, „gleich einem Menschen, der das Herz auf den Lippen trägt“ (XVI, 297). Fénelon spricht sich für die bewusste Geheimhaltung in einem Abschnitt sei‐ nes Romans aus, in dem er die Unzuverlässigkeit des Rates der Verbündeten dar‐ stellt: Angeführt von den beiden alten Königen Nestor (von Pylos) und Philoktet (von Thessalien), werden die Ratsmitglieder durch einen Spion des verfeindeten Daunierkönigs Adrast entzweit. Da Télémaque aber in dieser Situation allein – ohne Mentor-Minerva – vor dem Rat steht, gelingt es ihm nicht, sein Verhalten so zu steu‐ ern, dass er die Verbündeten wirkungsvoll vor dem Spion warnen kann; vielmehr bringt er seine Warnungen in hochmütigem Ton (seiner eigenen Überlegenheit ge‐ wiss) vor und wird folglich verlacht. Erst der Abstieg in die Unterwelt wird ihn be‐ lehren, wie er seinen Affekthaushalt so steuern kann, dass er in jeder Situation Ruhe bewahren und im richtigen Moment ein Geheimnis verschweigen kann. Fénelon ver‐ tritt jedoch hier nicht das Konzept der galanten Klugheit, sondern zielt auf die Resti‐ tution des voraufklärerischen Begriffes von „Geheimnis“, dem nichts Pejoratives an‐ haftet, sondern der eine „anerkannte und notwendige Dimension politischen Han‐ delns“ bezeichnet. „Öffentlichkeit“ adressiert dabei einen bestimmten Personenkreis, an den sich die politische Botschaft richtet, nicht jedoch die Allgemeinheit (oder gar die „bürgerliche Öffentlichkeit“).22 Vielmehr verwendet Fénelon den an der Wende zum 18. Jahrhundert sich ausprägenden Begriff der Öffentlichkeit („publique“) – im politisch-sozialen Sinn, etwa „öffentliche (das heißt staatliche) Wohlfahrt“ – kaum, und wenn, dann im älteren Wortsinn (im Sinne von offen, zugänglich, klar, einsich‐ tig). „Öffentlichkeit“ meint bei Fénelon den Kreis der Eingeweihten, der aufgrund der spirituellen wie ideellen Nähe die Botschaften zu verstehen vermag.

3.7. Der Erzieher als eigentlicher Vater Noch in einer weiteren Hinsicht expliziert Fénelon die Relevanz des Geheimnisses für die gelungene Staatslenkung. Nicht allein muss der Thronprätendent lernen, sei‐ ne Affekte zu kontrollieren, um nicht seine Ziele zu gefährden. Vielmehr muss er das schwierige Verhältnis zu den Eltern unter das Siegel der Verschwiegenheit stel‐

22 Hölscher 1979, S. 7, 13, 56.

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len. Télémaques Mutter Penelope wird angesichts der langjährigen Abwesenheit des Vaters Odysseus von den Freiern bedrängt, sich neuerlich zu verehelichen und damit den Thron von Ithaka an den neuen Regenten zu übergeben – aus Angst, von den Brautwerbern ermordet zu werden, verschweigt Télémaque seine Identität, ehe er sich auf die Suche nach dem Vater begibt, woraufhin ihm die Freier nachsetzen. In seinem Roman schildert Fénelon eine Schlüsselszene, in der Odysseus seinen Sohn den besten Freunden anvertraut – mit der Auflage, das Geheimnis seiner Identität vor den Freiern zu verbergen und den Sohn zur Geheimniswahrung zu erziehen: „[…] daß er lerne, ein Geheimnis treu zu bewahren. Wer einer Lüge fähig ist, ist un‐ würdig, Mensch zu heißen, und wer nicht zu schweigen weiß, verdient nicht zu herr‐ schen“ (III, 40). Daher hat schon das Kind Télémaque gelernt, Geheimnisse zu be‐ wahren: „Nie ist meinen Lippen ein Wort entfahren, welches das geringste Geheim‐ nis hätte aufdecken können“ (III, 41). Nach Fénelon ist die Fähigkeit der Geheimnis‐ bewahrung genuin königlich; mehr noch als seine biologische Abstammung be‐ stimmt sie den eigentlichen Adel des Thronprätendenten.23 Daraus erklärt sich auch Télémaques Respekt für die Götter, auch wenn sie ihm verborgen bleiben wie im Falle von Mentor-Minerva. Dieser „göttliche“ Lehrer vereint die mentalen und gene‐ rischen Eigenschaften des listenreichen Vaters und der gleich gesinnten Mutter und transzendiert sie zugleich auf die künftige Regentschaft. Als „Vater“ des Zirkels um den Herzog von Burgund wie als sein Mentor zugleich beansprucht Fénelon eine Rolle, die ihn in weit höherem Maße zum Erzieher prädestiniert als die natürlichen Eltern. Der Roman legitimiert diesen Anspruch Fénelons ebenso wie er ihn als „of‐ fenes Geheimnis“ chiffriert.24 Die pädagogische und tugendethische Macht, die dem Prinzenerzieher damit zuwächst, konnte jedoch nicht in reale Macht umgemünzt werden: 1711 stirbt der Grand Dauphin und dessen Sohn, Fénelons Zögling (der Pe‐ tit Dauphin), rückt zum potenziellen Thronerben Ludwigs XIV. auf. Umgehend tritt der Kreis um den Herzog von Burgund im November 1711 mit einer stichwortarti‐ gen Programmschrift hervor, die unter dem Titel „Plans de Gouvernement“ (auch „Tables de Chaulnes“) zwischen Fénelon und dem Duc de Chevreuse kursierte.25 Darin halten die beiden ehemaligen Prinzenerzieher in streng geordneten Stichwor‐ ten fest, wie eine Reform des ludwigischen Staates vollzogen werden soll: Sie sehen unter anderem eine Auswechslung der Führungsriege von Militär und Hofstaat vor (1086), eine Reduktion der Ausgaben durch Beschränkung der Staatsämter und Apa‐ 23 Im Gang durch die Unterwelt erfährt Télémaque schließlich, dass er vor allem die Götter ehren soll, da diese an seiner Geburt noch mehr Anteil gehabt hätten als die Eltern (XVIII, 331, im Original „Vater und Mutter“), vgl. dazu (unter anderem mit Blick auf die Editionsgeschichte dieser Passage) Hillenaar 1994, S. 36. 24 Während die Rolle von Vater und Sohn omnipräsent ist, wird die Rolle der „Mutter“ immer wieder durch die Imaginationskraft des Lesers evoziert; sie wird verkörpert durch Madame Guyon, deren quietistisches Vokabular Teile des „Télémaque“ prägt, vgl. Hillenaar 1994, S. 37. 25 Fénelon 1997a, S. 1085-1105.

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nagen (1087, 1088), eine Begrenzung der Adelstitel bei Bevorzugung des Altadels (noblesse d’épée, 1100), Stärkung der Rechte des Kanzlers (1102), Beschränkung des Rates auf ehrenamtliche Beraterposition (1102), Verpflichtung der Parlamente zur tatsächlichen Ausübung ihrer Ämter und Beschränkung des Zugangs für den Neuadel (1102) sowie Errichtung eines Freihandels (1104). Die „Plans des Gouver‐ nement“ wirken wie eine tabellarische Zusammenfassung all jener Grundsätze, die den „Télémaque“ prägen, zeigen jedoch pragmatisch auf, welche Reformen in Frankreich umgesetzt werden sollen, sobald der Petit Dauphin nach dem Tod Lud‐ wigs XIV. zur Regentschaft gelangt. Während die „Plans de Gouvernement“ nur handschriftlich im engsten Kreis zirkulierten, kursierte der „Télémaque“ bereits seit mehr als einem Jahrzehnt auf dem europäischen Buchmarkt. Doch entsprechen sich der „Geheimplan“ zur Durchsetzung der Reformen und der öffentliche Buchdruck exakt. Während der „Télémaque“ jedoch die transkonfessionellen und innerkatholi‐ schen Auseinandersetzungen nur in verschlüsselter Form thematisieren konnte, wer‐ den die „Plans“ konkret: Sie gestehen den Hugenotten Glaubensfreiheit zu (ein über‐ raschendes Votum angesichts von Fénelons Wirken bei der Rekatholisierung im Saintonge, erklärbar jedoch aus den Überlegungen zum Freihandel mit den Nieder‐ landen und den Erfahrungen der wirtschaftlichen Schwächung durch Abwanderung von Glaubensflüchtlingen, 1092) und beanspruchen die Freiheit der gallikanischen Kirchen von Rom (1098).

4. Politik, Moral und Rhetorik: Sichtbarmachung der (geheimen) Macht im „Télemaque“ Doch Fénelon und sein Kreis hatten sich geirrt: Nicht der Sonnenkönig, sondern sein Zögling starb überraschend 1712 – und damit war alle Hoffnung auf Reform des französischen (ludwigischen) Absolutismus zerstört. Mit dem „Télémaque“ hatten Fénelon und der Kreis um den Herzog von Burgund jedoch der Öffentlichkeit (der republique des lettre) Wege zur Reform des absolutistischen Frankreich aufgezeigt, die in den folgenden Jahrzehnten intensiv diskutiert und modifiziert wurden – je‐ doch nicht nur unter positiven Vorzeichen: Fénelons elitäres Verständnis von Macht, Kontrolle und Geheimnis öffnete bereits frühzeitig den Weg zu einer verschwö‐ rungstheoretischen Deutung, auch wenn der Kreis um den Herzog von Burgund als solcher nicht in Erscheinung trat oder benannt wurde. Der „Télémaque“ ist – anders als seine Nachahmer (wie etwa Jean Terrassons „Sethos“, 1731) – kein Geheim‐ bundroman;26 er erzählt also nicht die Geschichte einer verschworenen Gemein‐ schaft, die im Geheimen die Reform des Staates betreibt. Doch ist den Zeitgenossen

26 Simonis 2002, S. 207f.

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durchaus bewusst, dass Fénelon seinen schottischen Privatsekretär Andrew Michael Ramsay (1686-1743) zum katholischen Glauben bekehrt hatte und dass Ramsay – zurückgekehrt nach Schottland – nicht nur das Freimaurertum begründete, sondern aus Fénelons politischen Schriften auch verschiedene eigene Reformschriften entwi‐ ckelte.27 Doch Fénelon setzt ebenso wenig auf die „Mysterien der Kirche“ oder die „Arcanpolitik der Staaten“ wie auf das freimaurerische „Geheimnis einer dritten Ge‐ walt, die nach ihrem eigenen, selbstgeschaffenenen Gesetz“ lebt.28 Vielmehr geht er im „Télémaque“ hinter die für die Evidenz der politischen Ordnung des Absolutis‐ mus konstitutive Trennung von Moral und Politik zurück: Weder tritt Fénelon für eine Säkularisierung ein noch für die moralische Freisetzung des Individuums – die „Aufspaltung des Menschen in das Private und das Etastische“ ist zwar „konstitutiv für die Genese des Geheimnisses“ und die „Dialektik von Aufklärung und Geheim‐ nis […] ist bereits an der Wurzel des absolutistischen Staates angelegt“ (29). Doch Fénelons homerische Erzählung folgt der semantischen „Dialektik von Moral und Politik“, die das Geheimnis als „politische Kehrseite der Aufklärung“ (55f.) dekla‐ riert, eben nicht: Der „Télémaque“ vertritt zwar Ziele der Aufklärung, will aber in seiner Kritik des ludwigischen Absolutismus vor die Zeit von Ludwigs Thronbestei‐ gung zurück. Daher feiert der „Télémaque“ weder das freie Individuum (schon gar nicht das bürgerliche) noch ist er säkulär (sondern rekurriert vielmehr auf eine nicht staatliche frömmigkeitlich-caritative Katholizität).29 Allerdings – und darin besteht die eigentliche ideen- und literaturgeschichtliche Bedeutung des „Télémaque“ – arbeitet Fénelon auch auf der formalen Ebene gegen die Geheimhaltung an. Der seit der Antike überlieferte semantische Gegensatz von publicus und privatus wandelt sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts zum Gegensatz von „öffentlich“ und „privat“ (ebenso wie sich der Gegensatz von „Gewalt“ und „Macht“ wandelt).30 Fénelon verbindet den Begriff von Öffentlichkeit mit Überle‐ gungen zur Klarheit und Verborgenheit im Feld der Rhetorik. Im Anschluss an den antiken Attizismus (Aristoteles, Platon) erhebt Fénelon die Klarheit der Rede (σαφήνεια, perspicuitas) zur Voraussetzung einer glaubwürdigen Rede. Ihr Gegen‐ teil, die Verborgenheit oder Dunkelheit (σκοτεινός, obscuritas), wird von Fénelon abgelehnt (auch wenn die antike Tradition sie als gestalterisches Mittel zulässt). Im Sinne der Verstellung (ειρωνεία, dissimulatio) ist es jedoch möglich, dass die eigent‐ liche Redeweise als uneigentliche verstellt ist – hinter klaren Worten kann also ein verborgener Sinn liegen; das macht die prinzipielle Latenz der rhetorischen Rede 27 Ahn 2011, S. 437. 28 Koselleck 1973, S. 57. 29 Koselleck dürfte das erkannt haben und verzichtet deshalb auf eine intensive Auseinander‐ setzung mit dem „Télémaque“ in „Kritik und Krise“, während etwa für Peter Burke die Publi‐ kation des „Télémaque“ deutlich den Beginn des Niederganges des ludwigischen Absolutis‐ mus markiert. 30 Hölscher 1979, S. 69.

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aus.31 Fénelons Anliegen besteht nun darin, diese Latenz abzubauen, also die Rheto‐ rik des „eigentlichen Sprechens“ auf ihre politische Relevanz zurückzuführen.32 Die politische Strategie der absichtsvollen Maske und der kunstvollen Beredsamkeit – zu Lebzeiten Fénelons eine vor allem am Hof und von den Jesuiten gepflegte Kunst – wird von Fénelon und im Laufe des 18. Jahrhunderts zugunsten einer Tugendethik aufgehoben; dadurch werden „rechte Rede“ und „rechtes Handeln“ (Politik) wieder restituiert.33 Insofern kann Fénelon, dessen Vereinnahmung oder Zurechnung (je nach Perspektive) zum Projekt Aufklärung durchaus zweifelhaft erscheinen mag, zu‐ mindest hinsichtlich seiner rhetorischen Textstrategie als Vorreiter eines neuen Zeit‐ alters gelten. Zumindest auf dieser Ebene – der medialen Ebene des Buchdruckes (und hier besonders: des Druckes eines – vielleicht des – Longsellers des 18. Jahr‐ hunderts) wie auf der Ebene der Textgestaltung – hat Fénelon gegen die Rhetorik der Arkanpolitik Ludwigs XIV. angearbeitet und damit der Aufklärung den Weg gewie‐ sen. Wenn der Revolutionsführer Maximilien de Robespierre (1758-1794) 1791 die Französische Revolution mit dem Ausruf „Wir gründen Salente!“ („Nous fondons Salente!“) als Realisierung von Fénelons Reformvorschlägen in Anspruch nimmt, so zeugt das weniger von Fénelons aufgeklärter Fortschrittlichkeit als von Robespierres restaurativem Verständnis von Reform, das letztlich die Reformprozesse zwar öf‐ fentlich inszeniert (Generalversammlung, Tribunale, Klubs etc.), deren Durchset‐ zung er jedoch einer kleinen Elite überlässt. Zu einem gewissen Grad entsprechen sich daher die Reformpläne der Revolutionäre und des Kreises um den Herzog von Burgund. Doch gerade dadurch, dass Fénelons Erzählung keine „Reformrezepte“ liefert, dem Leser eine Dechiffrierung abverlangt und opak bleibt, hat sie sehr viel länger und intensiver zu wirken vermocht als alle jene reformatorischen Programm‐ schriften, die trocken die Defizite des ludwigischen Frankreich auflisten und Lö‐ sungsansätze benennen. Damit betreibt Fénelon noch keine Rationalisierung der (ge‐ heimen) Macht; noch weniger arbeitet er „demokratischen“ Regierungsvorstellungen zu – vielmehr aktiviert er seine Leserschaft (zunächst den Thronfolger, darüber hi‐ naus aber auch alle Leserinnen und Leser) zur aktiven Reflexion auf den Zusam‐ menhang von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Macht.

31 Haverkamp 2002. 32 Fénelon 1997b, S. 1137-1197. 33 Koschorke 2003, S. 15-34.

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Andreas Nix Carl Schmitt und das Arcanum der Macht

„Die Macht ist stärker als jeder Wille zur Macht, stärker als jede menschliche Güte und glücklicherweise auch stärker als jede menschliche Bosheit.“1 Was ist das für eine eigenartige Kraft, die Carl Schmitt vor das geistige Auge des Lesers heraufbe‐ schwört? Diese Kraft scheint unabhängig vom Menschen zu existieren, eine tran‐ szendente Größe, die Besitz von ihm ergreift. Der Mensch übt Macht aus, doch man könnte meinen, dass er ihr hilflos ausgeliefert ist und die Macht übermächtig wird. Macht kann dem Menschen aus den Händen gleiten und ihn in ihrer extremsten Aus‐ prägung verändern und manchmal auch korrumpieren und vernichten. Macht bedarf immer der Zustimmung derer, die sich der Macht unterwerfen. Dennoch ist Macht nach Schmitt immer mehr als die Summe aller Zustimmungen und auch mehr als nur das Produkt. „Die Macht ist eine objektive, eigengesetzliche Größe gegenüber jedem menschlichen Individuum, das jeweils die Macht in seiner Hand hat.“2 Selbst der mächtigste Machthaber ist an bestimmte Grenzen seiner Machtausübung gebunden. Diese Grenzen werden jedem Machthaber durch die con‐ ditio humana auferlegt. Kein Mensch kann allmächtig sein. Darüber hinaus muss der Machthaber seine Macht teilen, denn er ist auf Informationen angewiesen, die von seinen Beratern, Untergebenen etc. an ihn herangetragen werden. Macht, so Schmitt, verändert den Machthaber und isoliert ihn von seinen Untergebenen. Macht ist somit etwas den Menschen Transzendierendes, dessen er sich zuweilen bedienen kann. Gänzlich einhegen kann er die Macht nicht. „Die Wirklichkeit der Macht geht über die Wirklichkeit des Menschen hinweg.“3 Diese Definition der Macht ist eine für einen Juristen ungewöhnliche. Vielmehr hätte man eine sachlichere und kühlere De‐ finition der Macht erwartet. Was Schmitt hier aber vorlegt, ist eine Definition der Macht, die auf ein metaphysisches Fundament gegründet ist. Das Geheimnis dieser Macht lässt sich tatsächlich nur ein Stück weit aufdecken, wenn man Schmitts Meta‐ physik in den Blick nimmt. Mit Metaphysik ist hier kein ausdifferenziertes theoreti‐ sches System gemeint, sondern eine geistige Positionierung Schmitts, eine innere ganz eigene Abwehrhaltung gegen die Säkularisierung und gegen die Moderne. Auch das ist für einen Juristen ungewöhnlich, ist er es doch gewohnt, kühl und ratio‐ nal abzuwägen und seine Haltung logisch zu begründen. Bei Schmitt steht zu An‐ 1 Schmitt 1954, S. 13. 2 Schmitt 1954, S. 13. 3 Schmitt 1954, S. 27.

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fang seines ganzen Denkens aber eine fundamentale Entscheidung, die sich in ihrem innersten Kern nicht begründen lässt. Diese Entscheidung fällt scheinbar aus dem Nichts und sie trennt das Eine vom Anderen. Um dem Geheimnis dieser Entschei‐ dung auf die Spur zu kommen, müssen wir uns mit Narrativen auseinandersetzen, die auf die Entstehung von politischen Ordnungen abzielen. In Anlehnung an Kant kann man sagen, dass Narrative dort beginnen, wo das Erkenntnisvermögen der Ver‐ nunft an seine Grenzen stößt.4 Wie alle Wissenschaften, so muss auch die Politische Philosophie erklären, wie aus Kontingenz Ordnung entsteht. Hierzu greift sie auf be‐ stimmte Narrative zurück. Wir finden solche Narrative bei Platon und bei Aristote‐ les, bei Augustinus und bei Thomas von Aquin, bei Hobbes und bei Spinoza etc.5 Sie greifen geschichtliche Gegebenheiten auf, schöpfen aus Religionen und aus My‐ then und einige von ihnen blicken auch in die Zukunft, allen gemein ist jedoch, dass sie eine Vorstellung vom Menschen verbreiten. Auch Carl Schmitt greift auf ein solches Narrativ zurück: Es ist die Erzählung vom Hobbes‘schen Leviathan, von der er Zeit seines Lebens tief beeindruckt war.6 Vom „Leviathan“, so Schmitt, gehe eine „mythische Kraft“ aus, denn es ist „in der langen, an bunten Bildern und Symbolen, an Ikonen und Idolen, an Paradigmen und Phantasmen, Emblemen und Allegorien überaus reichen Geschichte der politischen Theorie […] das stärkste und mächtigste Bild“.7 Hobbes war nach Bodin, so Schmitt, der erste, der die Phänomene der Souveränität und der Dezision systema‐ tisch problematisiert hat.8 Erst das hierin verborgene Narrativ, so die These dieses Beitrages, definiert die spezifische Herangehensweise Schmitts, die sein gesamtes Theoriegebäude formt und das Fundament für die nachfolgenden Prämissen bereit‐ stellt. Die Rekonstruktion von Schmitts Machttheorie beginnt demzufolge mit der Identifikation dieser Quellen für seine anthropologischen Prämissen und der Diskus‐ sion ihres Einflusses auf die Gestaltung politischer Ordnungsentwürfe. Anschlie‐ ßend wird das Feld des Politischen beleuchtet. Hier hat Schmitt eine der wichtigsten Thesen seiner Theorie entwickelt. Innerhalb dieses Feldes wird über Macht und Ohnmacht bestimmt. Es geht nicht primär um Freiheit und Ausgleich der Interessen, 4 Vgl. hierzu Kant 1781/1787. 5 Wer meint, solche Narrative seien ein vormodernes Phänomen, der irrt. Auch gegenwärtige poli‐ tische Theorien greifen auf solche Narrationen zurück. An dieser Stelle sei nur als ein Beispiel von vielen John Rawls „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ und die bewusst dazu konstruierte Ge‐ gentheorie von Robert N. Nozick genannt. Sowohl Rawls als auch Nozick versuchen, ihren theoretischen Entwurf mittels vorpolitischer Prämissen abzuleiten. Rawls deduziert aus einem sogenannten Urzustand seinen vor dem Hintergrund der Kantischen Vernunftvorstellung auf Ge‐ rechtigkeit basierenden Staat. Nozick hingegen greift unter anderem auf Lockes Naturzustand zurück, um zu zeigen, dass der aus dem Liberalismus abgeleitete Anarchismus keine Utopie ist. Vgl. Rawls 1971 und auch Nozick 1975. 6 Schmitt selbst bezeichnete Hobbes und Bodin als seine Brüder und Freunde. 7 Schmitt 1938, S. 9. Siehe zu den unterschiedlichen Interpretationen des Frontispizes Schmitt 1938; Brandt 2012, S. 13-41; Bredekamp 1999 und auch Voegelin 1938, S. 43-47. 8 Vgl. Schmitt 1938 und auch Schmitt 2009, S. 14f.

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sondern darum, wer Souveränität besitzt und wer dadurch Entscheidungen fällen kann. Im nächsten Teil wenden wir uns Schmitts politischer Formenlehre zu. Der ab‐ schließende Teil diskutiert Schmitts Metaphysik, die als Klammer sein ganzes Den‐ ken umrahmt und ohne die sein Denken kaum verständlich ist.

1. Anthropologie und Dezision Carl Schmitt hat den Ausgang seiner eigenen Überlegungen dezidiert an bestimmte anthropologische Prämissen geknüpft. Seiner Auffassung nach kann jede politische Theorie daraufhin überprüft werden, ob ihr eine positive oder negative Anthropolo‐ gie zugrunde liegt. „Man könnte alle Staatstheorien und politischen Ideen auf ihre Anthropologie prüfen und danach einteilen, ob sie, bewußt oder unbewußt, einen ‚von Natur bösen’ oder einen ‚von Natur guten’ Menschen voraussetzen.“9

Mit dieser zunächst neutral anmutenden Aussage Schmitts hat er allerdings eine bei ihm bereits seit langer Zeit nachweisbare Präferenz für einen ideengeschichtlichen Strang zum Ausdruck gebracht, der mit einer negativen Anthropologie operiert. Die‐ se Präferenz taucht schon früh in Schmitts Werk auf, denn bereits in seiner Schrift über die „Politische Theologie“, in der er auf die katholischen Konterrevolutionäre zurückgreift, finden sich zwischen den Zeilen nicht nur erste Ansätze, politische Theorien nach ihren anthropologischen Prämissen einzuteilen, sondern auch ganz ei‐ gene dezidierte Richtungsentscheidungen.10 Was bedeutet das aber nun im Konkreten? Versuchen wir das kurz anhand zweier Denker nachzuzeichnen, auf die auch Carl Schmitt in seinen Werken des Öfteren re‐ kurriert. Im Folgenden sollen zwei dieser Narrative beleuchtet werden. Der eine stammt von Thomas Hobbes, den Schmitt stets wohlwollend in seinen Werken rezi‐ piert hat, der andere von John Locke, einem Denker, dem Schmitt weniger zugeneigt war. Thomas Hobbes’ (1588-1679) ontologische Prämissen sind vornehmlich christ‐ lichen Ursprungs (zuweilen werden diese von epikureischen Prämissen flankiert). Hobbes glaubte an einen Schöpfergott, der den Kosmos und alle Geschöpfe darin er‐ schaffen hat. Einst lebte der Mensch ohne Schuld im Paradies. Mit dem Sündenfall beginnt allerdings seine Leidensgeschichte, die bis zum letzten seiner Tage kein En‐ de finden wird. Hobbes’ Anthropologie ist eine negative. Der Mensch ist ein von Leidenschaften und Begehren getriebenes Wesen. Durch den Sündenfall findet sich der Mensch zunächst in einer Welt des Chaos und der Anarchie wieder. Wenn man Hobbes’ Ausführungen genauer folgt, dann kann man Ansätze der Theorie der 9 Schmitt 1932a, S. 55. 10 Vgl. Schmitt 1922.

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mimetischen Rivalität Girards erkennen.11 Da der Mensch ständig seinem Begehren folgt, lebt er in einem System, das anarchisch ist und in dem die Starken die Schwa‐ chen ausbeuten. Genau genommen ist die menschliche Geschichte eine Geschichte des ständigen Aufbaus und Verfalls. Jeder trachtet nach dem Hab und Gut und dem Leben des Anderen. Mithilfe der Vernunft und der Religion kann sich der Mensch zuweilen einen Weg aus diesem Chaos bahnen. Da Hobbes dem Aristotelismus ab‐ geschworen hat, kennt er kein Tugendsystem mehr. Die Vernunft fungiert innerhalb seines Systems nicht mehr als Medium, durch das der Mensch seinen Istzustand durch einen teleologischen Prozess in einen Sollzustand verändern kann. In der Funktion der Hobbes'schen Vernunft ist der Protoutilitarismus schon angelegt. Die Hobbes'sche Vernunft operiert vielmehr nach einem binären gut/schlecht-Schema. Gut ist es für den Menschen, dem Chaos zu entfliehen und sich einem Gemeinwesen anzuschließen, schlecht ist es, im Chaos zu verweilen. Gut ist es, sich den Regeln der Religion zu unterwerfen, schlecht, sie zu missachten. Hobbes entpuppt sich hier als Ordnungspositivist, der Religionen eine utilitäre Rolle im Staat zuspricht. Reli‐ gionen, so Hobbes, machen den Menschen für das Gesetz gefügig, denn Religion dient dazu, den Menschen tauglich zu machen für „Gehorsam, Gesetze, Frieden, Nächstenliebe und das gesellschaftliche Leben“.12 Die normative Auslegung der Re‐ ligion und ihr Wahrheitsgehalt spielen dann nur noch eine sekundäre Rolle.13 Hobbes’ anthropologische Prämissen sind an seine theologischen Überlegungen geknüpft. In der gesamten politischen Theorie Hobbes’ geht es darum, wie man die überschüssigen und destruktiven Triebe des Menschen so kanalisiert, sodass er ein friedlicher und gesetzestreuer Bürger wird. Die Vernunft führt den Menschen somit nicht nur zur Einsicht, Schutz in einer Gemeinschaft zu suchen, sondern auch zum rechten Glauben, der das Gemeinwesen ethisch und moralisch stützt. Die Vernunft führt schlussendlich zum Vertragsschluss mit dem sterblichen Gott, dem Leviathan, dem sich alle Bürger des Gemeinwesens zu unterwerfen haben.14 Wie das christliche Pneuma die Ekklesia durchdringt,15 so durchdringt der Geist des Leviathan alle Bereiche des Gemeinwesens und wie Gott über der Schöpfungs‐ ordnung steht, so steht auch der Leviathan über dem Gemeinwesen und kann gottähnlich, aus einer creatio ex nihilo, nach Belieben Gesetze erschaffen und diese wieder suspendieren, wenn er es für richtig hält.16 Das Moment der Dezision zeigt sich hier in aller Klarheit. Die christliche Theologie hat viel Mühe darauf verwendet, 11 Vgl. hierzu Girard 2002. 12 Hobbes 1651, S. 93. 13 Auf die Funktion der Religion kann hier nicht weiter eingegangen werden. Es sei nur so viel gesagt, dass diese durch den Souverän eingesetzt und legitimiert wird. Der Souverän bestimmt ihre Auslegung und wacht über deren Ausübung. Religion wird so immer zur Staatsreligion. Vgl. hierzu Nix 2018, S. 65-69. 14 Hobbes 1651, S. 145. 15 Vgl. Voegelin 1997, S. 43-47. 16 Hobbes 1651, S. 225.

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zu zeigen, dass Gottes Ordnung eine gute und in gewisser Weise auch rationale und somit nachvollziehbare Ordnung ist. Gott ist kein Demiurg, vielmehr handelt er nach Maßgaben, die er seinem Wesen gemäß in die Schöpfungsordnung hineingeschrie‐ ben hat. Über einen analogen Ordnungsrahmen verfügt auch der durch einen Vertrag ins Leben gerufene Leviathan. Sein Ziel und Zweck ist es, zum einen die Souveräni‐ tät innerhalb des Gemeinwesens nach innen und nach außen zu erhalten und zum an‐ deren dadurch den inneren Frieden und die Wehrhaftigkeit nach außen zu ermögli‐ chen. Sich dieser Ordnung zu unterwerfen und sie zu erhalten, ist gut. John Locke (1632-1704) ist ebenso wie Thomas Hobbes protestantischer Christ. Ebenso wie Hobbes geht auch er von einer Schöpfungsordnung aus, die von einem allmächtigen und allgütigen Gott geschaffen wurde. Vielleicht ist es vor allem die Vertauschung der beiden Gottesprädikate, also das Allgütige vor dem Allmächtigen, die seine Anthropologie von der Hobbes'schen unterscheidet. Der Mensch des Na‐ turzustandes ist anders als der Hobbes'sche Mensch ein Wesen, das friedlich ist und auf Kooperation mit anderen setzt. Die Vertreibung aus dem Paradies hat den Men‐ schen zwar sterblich gemacht und er hat nun mit seinen Trieben zu kämpfen, aber der Mensch ist nicht durch und durch bösartig. An dieser Stelle folgt Locke dem ri‐ gorosen Calvinismus nicht. Locke hält den Menschen wie auch Hobbes für ein vernunftbegabtes Wesen. Bei Locke hat die Vernunft aber ein anderes normatives Ziel. Während bei Hobbes die Vernunft dazu führt, die Autorität des Leviathan anzuerkennen, ist der Locke'sche Mensch hingegen dazu angehalten, jegliche Autoritäten anzuzweifeln und auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen.17 Mit Locke beginnt die Aufklärung, hier hat Kants sapere aude seinen Ursprung. Während die Vernunft im Hobbes'schen politi‐ schen Ordnungsentwurf die Autorität des Leviathan bestätigt, entwickelt Locke ge‐ radezu eine gegenteilige Politische Philosophie. Nicht nur ist Locke der Vater der Aufklärung, sondern auch der Vater der Liberalismus.18 Aus dem quasi anarchischen Naturzustand treten die Menschen mittels eines Vertrages in ein politisches Gemein‐ wesen ein, das einen Großteil der anarchischen Grundordnung beibehält. Hobbes’ Anarchie entsprang einer Höllenvision und war durch die Erfahrungen des Engli‐ schen Bürgerkrieges geprägt – ein Kampf eines jeden gegen jeden. Locke blickt we‐ niger pessimistisch auf die menschliche Natur, allerdings muss auch er das Böse in der menschlichen Natur reflektieren und erklären. Warum es für den Menschen bes‐ ser ist, den Naturzustand zu verlassen, erschließt sich bei Hobbes leichter als bei 17 Locke 1689, S. 351. 18 Zu den Urhebern des Liberalismus wird auch Hobbes gezählt, allerdings nicht, weil er ein ge‐ nuin liberaler Denker war und die Freiheit in den Mittelpunkt seiner Politischen Philosophie gestellt hat, sondern weil er wichtige Unterscheidungen in die Debatten der Politischen Philo‐ sophie eingeführt hat, die vor allem in den Liberalismus eingeflossen sind, wie etwa die Unter‐ scheidung von Rechten und Gesetzen und auch die Reinterpretation der Sphäre von oikos und polis.

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Locke. Bei Hobbes bringt das Verlassen des Naturzustandes Sicherheit und Frieden. Lockes Vertragsschluss führt hingegen nur zu einem Mehr an institutioneller Ord‐ nung. Er legt zwar dar, dass es für den Menschen besser ist, sich einem Gemeinwe‐ sen anzuschließen, weist aber auch darauf hin, dass die menschliche Freiheit da‐ durch eingeschränkt wird. Deshalb muss das Gemeinwesen so beschaffen sein, dass es ein Höchstmaß an Freiheit gewährt. Es ist kaum verwunderlich, dass der Ur‐ sprung des politischen Anarchismus im Liberalismus zu verorten ist. Von Locke führt der Weg geradewegs zu William Godwin und zu den Theoretikern des moder‐ nen Libertarismus wie Nozick oder Rothbard.19 Der Staat ist für Locke ein notwen‐ diges Übel, das macht er in seinen Schriften immer wieder deutlich. Je weniger Staat und je weniger gesetzliche Eingriffe (positive Freiheit) der Bürger zu erdulden hat, desto größer der Spielraum seiner (negativen) Freiheit.20 Das Verhältnis zwischen Recht (negative Freiheit) und Gesetz (positive Freiheit) ist so zu gestalten, dass die Freiheitsrechte der Bürger überwiegen. Bei Hobbes ist das Verhältnis umgekehrt, den Bürgern werden allein in der Sphäre des oikos, also innerhalb der Sphäre der Ökonomie, umfassende Freiheitsrechte eingeräumt. Locke ist hier wesentlich radika‐ ler, der Geist der individuellen bürgerlichen Freiheit durchweht das ganze Gemein‐ wesen. Dies gipfelt in einem der radikalsten Widerstandsrechte, das je formuliert wurde. Wenn die Ungerechtigkeit innerhalb eines Gemeinwesens dermaßen zu‐ nimmt, dass man sich auf keine äußere Autorität mehr berufen kann, dann ist jeder Bürger dazu im Recht, „den Himmel anzurufen“21 und Widerstand zu leisten. Kein Leviathan, mag er noch so groß und mächtig sein, hat das Recht, dem Bürger seine Freiheit zu rauben. Wie geht Locke aber mit dem Zerfall der staatlichen Ordnung und dem Moment der Dezision um? Wie wir gesehen haben, zeigt sich dieses Mo‐ mentum bei Hobbes in aller Klarheit. Schmitt, der an Locke den Vorwurf richtet, er würde das Phänomen der Dezision nicht kennen, irrt. „Der rechtsstaatlichen Doktrin Lockes und dem rationalistischen 18. Jahrhundert war der Ausnahmezustand etwas Inkommensurables.“22 Denn auch Locke ist sich der Tatsache bewusst, dass es Aus‐ nahmesituationen gibt, in denen der Souverän entweder gegen die herrschenden Ge‐ setze handelt oder aber neue Gesetze schafft. Allerdings ist Locke der Auffassung, dass der Souverän bei seinen Handlungen stets das Wohl des Volkes und den Com‐ 19 Vgl. Godwin 1783; Nozick 2013. Nichts fürchtet Schmitt so sehr wie den Anarchismus. Viel‐ leicht liegt hier seine Abneigung vor dem Liberalismus begründet. Da Schmitt ein exzellenter Kenner der Ideengeschichte war, wird ihm die Verbindung von Anarchismus und Liberalismus kaum entgangen sein. Für einen libertären Anarchisten wie Rothbard ist es ein Leichtes, vom Staat als eine verbrecherische Zwangsvereinigung zu sprechen, deren Zwangsmonopol auf Raub (Steuern) und Mord (Kriegsdienst) gründet. Für einen Etatisten wie Schmitt wäre so et‐ was nicht einmal im Ansatz denkbar. 20 Zur Unterscheidung von positiver und negativer Freiheit siehe Berlin 1996, S. 197-256. 21 Dieses Bild ist nicht fatalistisch zu deuten, vielmehr kann es direkt aus Lockes Theologie abge‐ leitet werden. Vgl. Locke 1689, S. 212. 22 Schmitt 1922, S. 19f.

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mon Sense im Blick haben sollte. Locke nennt dies die Prärogative.23 Dies ist aber Schmitt zufolge nicht genug, um das Momentum der Macht in aller Klarheit hervor‐ treten zu lassen. Die Trennung von Recht und Ordnung muss in solchen Ausnahme‐ fällen radikal sein. „Denn nicht jede außergewöhnliche Befugnis, nicht jede polizeiliche Notstandsmaßnah‐ me oder Notverordnung ist bereits Ausnahmezustand. Dazu gehört vielmehr eine prinzi‐ piell unbegrenzte Befugnis, das heißt die Suspendierung der gesamten bestehenden Ord‐ nung. Ist dieser Zustand eingetreten, so ist klar, daß der Staat bestehen bleibt, während das Recht zurücktritt. Weil der Ausnahmezustand immer noch etwas anderes ist als eine Anarchie und ein Chaos, besteht im juristischen Sinne immer noch eine Ordnung, wenn auch keine Rechtsordnung. Die Existenz des Staates bewahrt hier eine zweifellose Über‐ legenheit über die Geltung der Rechtsnorm. Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut.“24

Dies ist eine radikale und absolute Interpretation der Dezision, die einige Fragen aufwirft. Woran ist der Souverän gebunden, wenn die Ordnung, über die er vor der Krisenzeit herrschte, zerfallen ist? Was gibt dem Souverän Legitimität? Woher be‐ zieht der Souverän seine Macht? Bevor wir uns diesen Fragen nähern, müssen wir uns zunächst vergegenwärtigen, wie Schmitt das Politische denkt. Worin bewegt sich der Mensch, wenn er sich politisch betätigt?

2. Das Wesen des Politischen Schmitt will das Phänomen des Politischen von anderen Phänomenen isolieren, um so bestimmen zu können, was das Politische in seinem Kern ausmacht. Wie in all seinen Werken beginnt Schmitt seine Analyse mit einer prägnanten These: „Der Be‐ griff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus.“25 Ebenso ist der Staat von der Gesellschaft zu trennen. In einem „totalen Staat“, also einem Staat, in dem Ge‐ sellschaft und Staat sich durchdringen, „ist […] alles wenigstens der Möglichkeit nach politisch, und die Bezugnahme auf den Staat ist nicht mehr imstande, ein spezi‐ fisches Unterscheidungsmerkmal des ‚Politischen’ zu begründen“.26 Auch hier re‐ kurriert Schmitt wieder auf eine saubere Trennung der Begriffe, um das Wesen des Politischen als eigenständiges Phänomen zu bestimmen. Schmitt moniert, dass der Begriff allzu häufig im Zusammenhang mit anderen Begriffen verwendet wird. Ent‐ weder alles lässt sich politisieren oder aber das Politische wird neutralisiert, indem es in einen Gegensatz zu den anderen gesellschaftlichen Teilgebieten gesetzt wird.

23 24 25 26

Locke 1689, Kapitel 14. Schmitt 1932a, S. 18. Schmitt 1932a, S. 19. Schmitt 1932a, S. 23.

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Das Politische lässt sich somit nicht, wie es die aristotelische Position vorgibt, aus dem gesellschaftlichen Miteinander freier Bürger extrapolieren27 und auch nicht aus dem Staat selbst. Vielmehr ist das Politische eine eigenständige Kategorie, die durch kein anderes Medium erklärt oder vermittelt werden kann. „Eine Begriffsbestimmung des Politischen kann nur durch die Aufdeckung und Feststel‐ lung der spezifischen politischen Kategorien gewonnen werden. Das Politische hat näm‐ lich seine eigenen Kriterien, die gegenüber den verschiedenen, relativ selbstständigen Sachgebieten menschlichen Denkens und Handelns, insbesondere dem Moralischen, Äs‐ thetischen, Ökonomischen in eigenartiger Weise wirksam werden kann. […] Nehmen wir an, daß auf dem Gebiet des Moralischen die letzten Unterscheidungen Gut und Böse sind; im Ästhetischen Schön und Häßlich; im Ökonomischen Nützlich und Schädlich oder beispielsweise Rentabel und Nicht-Rentabel.“28

Welches ist aber nun die Leitunterscheidung des Politischen? Was machen Subjekte, wenn sie sich in der Sphäre des Politischen bewegen? Sie greifen Schmitt zufolge auf eine der einfachsten, aber fundamentalsten Denkkategorien schlechthin zurück, nämlich auf die Unterscheidung von Freund und Feind. Diese Unterscheidung dient der Konstitution von Identität. Sie zieht die Grenze zwischen einem Innen und einem Außen. Die Pointe der Argumentation ist, dass die Unterscheidung von Freund und Feind die wirkmächtigste aller Unterscheidungen ist. Sie kann im Kri‐ senfall alle anderen Unterscheidungen überlagern und so andere gesellschaftliche Sachgebiete ins Politische überführen. Mehr noch: Diese Unterscheidung ist ein on‐ tologisches Existenzial. Die Möglichkeit in der Kategorie des Politischen zu denken, gehört wesensmäßig zum Menschen. „Die seinsmäßige Sachlichkeit und Selbstständigkeit des Politischen zeigt sich schon in dieser Möglichkeit, einen derartigen spezifischen Gegensatz wie Freund-Feind von ande‐ ren Unterscheidungen zu trennen und als etwas Selbstständiges zu begreifen.“29

Diese Unterscheidung bestimmt den Intensitätsgrad von Assoziation und Dissoziati‐ on. Das Politische bestimmt somit durch den Intensitätsgrad der Assoziation das Staatliche. Ohne einen Zusammenschluss von Menschen ist kein Staat zu denken. 27 Genau das aber hat Christian Meier versucht, zu zeigen. Er greift zwar auf Schmitt zurück, al‐ lerdings leitet er den Begriff des Politischen ideengeschichtlich ab. Dadurch erhält der Begriff eine normative Konnotation. Meier zeigt, dass der Begriff seinen Ursprung in der antiken grie‐ chischen Polis hat und dann bis in die Neuzeit und Moderne mehrere Reinterpretationen und Umformungen erfahren hat. Meier will in Anlehnung an Hannah Arendt den Begriff gegen das neuzeitliche Verständnis des Politischen in Stellung bringen. Beim Politischen handelt es sich somit nicht um ein technokratisches Herstellen und Machen, sondern um ein in die Zukunft gerichtetes kontingentes Feld, das durch gemeinsames Handeln einer miteinander verbundenen Gruppe von Menschen besetzt werden kann. „Die äußerste (aber deswegen noch nicht die poli‐ tischste) Möglichkeit davon ist die Freund-Feind-Gruppierung. Im Übrigen ist zugleich und vor allem an die verschiedenen Formen der Gegnerschaft samt der sie eventuell übergreifenden Freundschaft respektive Solidarität zu denken“ (Meier 1983, S. 36). 28 Schmitt 1932a, S. 25. 29 Schmitt 1932a, S. 26.

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Gleichzeitig markiert dieser Zusammenschluss von Menschen auch eine Außengren‐ ze. Es gibt somit Menschen, die der staatlichen Ordnung und somit auch der Rechts‐ ordnung nicht angehören. Das staatliche Gewaltmonopol kann folglich zweierlei Markierungen setzen: Erstens kann es bestimmen, wer innerhalb des Gemeinwesens zur Rechtsordnung gehört und zweitens kann es im äußersten Krisenfall darüber be‐ stimmen, ob Krieg oder Frieden herrscht. Die eigentliche Leistung des Staates ist es aber, und hier scheint wieder Hobbes durch, den inneren Frieden zu wahren. „Die Leistung eines normalen Staates besteht aber vor allem darin, innerhalb des Staates und seines Territoriums eine vollständige Befriedung herbeizuführen, ‚Ruhe, Sicherheit und Ordnung’ herzustellen und dadurch eine normale Situation zu schaffen, welche die Voraussetzung dafür ist, daß Rechtsnormen überhaupt gelten können, weil jede Norm eine normale Situation voraussetzt und keine Norm für eine ihr gegenüber völlig abnor‐ me Situation Geltung haben kann.“30

Auch hier haben wir wieder das klassische Motiv der Dezision vor uns. Eine Ord‐ nung entsteht, weil eine andere Ordnung sie ins Leben ruft. Dem epistemologischen infiniten Regress muss ähnlich wie in der Theologie oder Metaphysik Einhalt gebo‐ ten werden. Von einem Zustand zum nächsten zu springen, führt zum Relativismus und dieser muss um jeden Preis vermieden werden. So wie Aristoteles in seiner „Metaphysik“ auf den unbewegten Beweger schloss31 und Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ Gott als höchstes Ideal entdeckte,32 so muss sich auch die Politi‐ sche Philosophie dem Problem des Anfangs aller Ordnung stellen.

3. Verfassung und politische Form Carl Schmitts Annahmen über die Ursprünge aller staatlichen Ordnung sind schwie‐ rig zu erfassen. Einige seiner Thesen haben sich im Laufe der Zeit gewandelt, andere sind leichter auszumachen. Der einfachste Weg ist hier das Ausschlussverfahren. Wie weiter oben schon dargelegt, folgt Schmitt einer bestimmten ideengeschichtli‐ chen Linie, die mit einer bestimmten Anthropologie einhergeht. Diese führt über Bo‐ din zu Hobbes. Er greift somit genau die ideengeschichtliche Linie auf, die mit der Konstitution der neuzeitlichen staatlichen Ordnung einhergeht. Den anderen ideen‐

30 Schmitt 1932a, S. 43. 31 Vgl. Aristoteles 1995, S. 257-264. 32 Auch Kant hat den infiniten Regress in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ aufgegriffen. Denn würde man annehmen, dass der Kosmos aus Zufall entstanden sei, so ist dem Relativismus Tür und Tor geöffnet. Man müsste dann nämlich „von einem gegebenen Anfange zu einem noch höheren aufsteigen, jeder Teil führt auf einen noch kleineren Teil, jede Begebenheit hat immer noch eine andere Begebenheit als Ursache über sich, und die Bedingungen des Daseins über‐ haupt stützen sich immer wiederum auf andere, ohne jemals in einem selbständigen Dinge als Urwesen unbedingte Haltung und Stütze zu bekommen“ (Kant 1781/1787, S. 569).

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geschichtlichen Strang, der sich parallel dazu entwickelt hat, also die liberale Staats‐ auffassung, lehnt er ab.33 Was aber stört ihn genau an dieser Staatsauffassung? In der „Politischen Theologie“, einem seiner Frühwerke, leitet er das vierte und letzte Ka‐ pitel mit einem Verweis auf die deutsche Romantik ein. So sei Novalis und Adam Müller „eine originelle Vorstellung eigentümlich: das ewige Gespräch“.34 Diese Vor‐ stellung, so Schmitt, sei den katholischen Konterrevolutionären wie Joseph de Maistre, de Bonald und Donoso Cortés vollkommen fremd. Diese drängten viel‐ mehr, vor dem Hintergrund der Kontingenz der Moderne, auf eine radikale Entschei‐ dung, auf ein Entweder-oder. Entweder Glaube oder Atheismus. Wer hier nicht Par‐ tei ergreift, wird zwischen den Fronten zerrieben werden – und genau das ist das Schicksal der Liberalismus. Dieser ergeht sich vielmehr in Diskussionen und endlo‐ sen Debatten, darüber hinaus hält er das Banner der Toleranz hoch und merkt nicht, dass die Feinde schon in seinen Reihen sind und ihn von innen aushöhlen. „Es liegt, nach Donoso, im Wesen des bürgerlichen Liberalismus, sich in diesem Kampf nicht zu entscheiden, sondern zu versuchen, statt dessen eine Diskussion anzuknüpfen.“35 Zwar zitiert Schmitt hier Donoso, doch seine eigene Position ist davon nicht weit entfernt. Aus seiner Sympathie mit den katholischen Konterrevolutionären macht er keinen Hehl. Was ihn an diesen fasziniert, ist ihre Fähigkeit, den Feind bestimmen zu können. Trotz der Kontingenz der Moderne haben sie sich einen Rest an Identität und Autonomie bewahrt. „Die aktuelle Bedeutung jener gegenrevolutionären Staatsphilosophie aber liegt in der Konsequenz, mit der sie sich entscheiden. Sie steigern das Moment der Dezision so stark, 33 An dieser Stelle lässt sich fragen, weshalb Schmitt dem Liberalismus so ablehnend gegenüber‐ tritt. An seiner oberflächlichen Kenntnis des Phänomens kann es nicht gelegen haben, denn Schmitt war mit den Theorien seiner intellektuellen und politischen Opponenten bestens ver‐ traut. Der eine Grund liegt nicht nur in der fundamentalen Entscheidung für einen bestimmten ideengeschichtlichen Strang und damit zusammenhängend für ein bestimmtes Verständnis des Politischen und des Staates, sondern vor allem auch im konservativen Hintergrund, der seine gesamte politische Theorie umrahmt. Dieser Konservativismus wird durch einen dezidierten, vom Katholizismus der damaligen Zeit beeinflussten, Antimodernismus flankiert. Ob er ein Denker der Konservativen Revolution war, ein Protofaschist oder gar Faschist lässt sich ab‐ schließend nicht klären. Was man allerdings nachweisen kann, ist, dass sich in seiner Theorie viele Motive wiederfinden, die durchaus genuin konservativer und auch radikal konservativer Provenienz sind. Einige Marker, die den Konservativismus theoretisch fixieren, sind immer wiederkehrende Motive in Schmitts Schriften, so z.B. das Motiv der Ordnung, die realistische Anthropologie, die Aufwertung des Politischen gegenüber dem Ökonomischen, die Warnung der Vermischung des Moralischen mit dem Politischen, der Technikskeptizismus etc. Darüber hinaus erschien der Liberalismus vielen kontinentaleuropäischen Denkern als eine kulturfremde, aus den angelsächsischen Ländern stammende Theorie. Auch sich selbst als libe‐ ral bezeichnende Denker wie die Vertreter des Ordoliberalismus haben ähnliche Thesen wie Schmitt vertreten. Philip Manow hat gezeigt, dass die Vertreter des Ordoliberalismus, obwohl sie dem Faschismus ablehnend gegenüberstanden und Gegner des Nationalsozialismus waren, nach heutigen Maßstäben dezidiert antiliberale Positionen vertreten haben. Vgl. Manow 2001, S. 179-198. 34 Schmitt 1922, S. 59. 35 Schmitt 1922, S. 63.

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daß es schließlich den Gedanken der Legitimität, von dem sie ausgegangen sind, aufhebt. […]. Schon in den zitierten Äußerungen von de Maistre lag eine Reduzierung des Staates auf das Moment der Entscheidung, konsequent auf eine reine, nicht räsonnierende und nicht diskutierende, sich nicht rechtfertigende, also aus dem Nichts geschaffene absolute Entscheidung.“36

Die Dezisionisten haben einen Kampf auf Leben und Tod zu führen. Sie müssen sich gegen die Zerstörer aller Ordnung zur Wehr setzen. In diesem apokalyptischen Kampf ist der Gegner durch seine Antithetik leicht zu identifizieren und vielleicht sogar zu respektieren. Den Liberalen allerdings gebührt kein Respekt, sie werden im Gemenge des Kampfes zerrieben. Schmitt, der in dieser seiner frühen Schrift noch stark vom katholischen Antimodernismus beeinflusst war, greift allerdings auch in späteren Schriften auf diese Liberalismuskritik zurück. Auch in „Der Begriff des Po‐ litischen“ widmet er der Liberalismuskritik ein ganzes Kapitel. So habe der Libera‐ lismus alle traditionellen politischen Vorstellungen „denaturiert“37 und das Politische als eigenständiges Feld neutralisiert. Diese Neutralisierung geschah vor allem durch die breite Anschlussfähigkeit des Liberalismus.38 Das Politische ging im Zuge des‐ sen eine Vielzahl von Querverbindungen ein, sodass man nun von Sozialpolitik, Wirtschaftspolitik etc. sprechen konnte. Durch diese Querverbindungen wurde das Politische verwässert. Schmitt zufolge ist die Neutralisierung des Politischen seit je‐ her ein Hauptbestreben des Liberalismus schlechthin, denn der Liberalismus ist im Grunde eine apolitische Doktrin, die gegen den Staat entstanden ist. Der Haupt‐ zweck des Liberalismus ist der Schutz des Individuums vor dem Staat. „Die systematische Theorie des Liberalismus betrifft fast nur den innerpolitischen Kampf gegen die Staatsgewalt zum Schutz der individuellen Freiheit und des Privateigentums zu hemmen und zu kontrollieren, den Staat zu einem ‚Kompromiß’ und staatliche Einrich‐ tungen zu einem Ventil zu machen […].“39

Der Liberalismus ist auch nicht mehr dazu im Stande, die eigene Bevölkerung in ihrer Gesamtheit gegen einen äußeren Feind zu mobilisieren. Der Einzelne kann sich dieses kollektiven Aufrufs zum Kampf durch den Verweis auf seine individuellen Freiheitsrechte entziehen. Jeder Eingriff in die Privatsphäre oder in die ökonomische Freiheit des Individuums wird innerhalb des Liberalismus als Gewalt gedeutet. Auch das Motiv der ewigen Diskussion wird von Schmitt wieder aufgegriffen, die Libera‐ len diskutieren und debattieren, ohne jemals irgendeine Entscheidung treffen zu kön‐ nen, so sein Vorwurf. Damit kommt ihnen das Grundmoment des Politischen abhan‐ 36 Schmitt 1922, S. 69. 37 Schmitt 1932a, S. 63. 38 Dass man Dezision auch im Zusammenhang mit dem Liberalismus denken kann, haben wir schon weiter oben gezeigt. Auch Locke kannte den Dezisionismus, doch war dieser an das Mo‐ ralische und an den Common Sense gebunden. An diese Lesart knüpfen auch Hermann Lübbe und Heinz Kleger an. Vgl. hierzu Kleger 1990, S. 61-116 und auch Lübbe 1990, S. 335-336. 39 Schmitt 1932a, S. 64.

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den. Schmitt zweifelt sogar daran, ob der Liberalismus überhaupt eine politische Theorie ist. „Die Frage ist aber, ob aus dem reinen und konsequenten Begriff des Liberalismus eine spezifisch politische Idee gewonnen werden kann. Das ist zu verneinen. Denn die Negati‐ on des Politischen, die in jedem konsequenten Individualismus enthalten ist, führt wohl zu einer politischen Praxis des Mißtrauens gegen alle denkbaren politischen Mächte und Staatsformen, niemals aber zu einer eigenen positiven Theorie von Staat und Politik.“40

Der Liberalismus ist darüber hinaus eine fatale Allianz mit der Sphäre der Ökono‐ mie eingegangen. Liest man zwischen den Zeilen so scheint sich die Ökonomie der Sphäre des Politischen habhaft geworden zu sein. Dies ist aber nur eine Scheinherr‐ schaft. Liberalismus und Ökonomie haben den Anschein erweckt, das Wesen des Politischen zu neutralisieren, sodass der Sinn und Zweck des Politischen in Verges‐ senheit geraten ist. Innerhalb der Sphäre der Ökonomie scheint die Freund-FeindUnterscheidung keine Rolle mehr zu spielen, statt vom Feind spricht man nun vom Konkurrenten. Ebenso fatal sei der Glaube, man könne mithilfe der Ökonomie die Welt befrieden. Verdrängt man das Politische, so wird es sich mit aller Macht seinen Weg bahnen und jeden Gegensatz der neutralen Felder in einen politischen Gegen‐ satz verwandeln. Der wirtschaftliche Konkurrenzkampf wird dann in Krisenzeiten schnell zu einem politischen Gegensatz. Konflikte dieser Art werden Schmitt zufol‐ ge immer mit einer größeren moralischen Intensität betrieben als rein politische Auseinandersetzungen. Diese eigentlich politischen Auseinandersetzungen werden durch euphemistische Begriffe kaschiert, sodass man den Anschein wahrt, sich stets auf nicht politischen Gebieten zu bewegen. „Der Gegner heißt nicht mehr Feind, aber dafür wird er als Friedensbrecher und Frie‐ densstörer hors-la-loi und hors l’humanité gesetzt, und ein zur Wahrung oder Erweite‐ rung ökonomischer Machtpositionen geführter Krieg muß mit einem Aufgebot von Pro‐ paganda zum ‚Kreuzzug’ und zum ‚letzten Krieg der Menschheit’ gemacht werden. So verlangt es die Polarität von Ethik und Ökonomie.“41

Die Vermischung des Ethischen mit dem Politischen ist für Schmitt eine der größten Gefahren überhaupt, denn das Politische wird dadurch moralisch aufgeladen. Der Feind kann nun als böse oder verabscheuungswürdig, der Krieg als gut und gerecht dargestellt werden.42 40 Schmitt 1932a, S. 64. 41 Schmitt 1932a, S. 72. 42 Dasselbe Problem ergibt sich für Schmitt auch in Bezug auf die Rechtswissenschaft und somit auf die Rechtsordnung insgesamt. Bedient sich die Rechtswissenschaft ethischer Kategorien, so ist dem Relativismus Tür und Tor geöffnet. In seiner im Jahre 1960 erschienenen Schrift „Die Tyrannei der Werte“ warnt er eindringlich davor, die Rechtswissenschaft mithilfe der Wertphilosophie zu legitimieren. Wer einen Wert setzt, setzt damit zugleich die Negation des Wertes, denn derjenige, der den Wert setzt, hat eine bestimmte Vorstellung von höher und nied‐ riger, wert und wertlos etc. Ein Jurist, der sich dieser Kategorien bedient, bringt die ganze

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Wie steht Schmitt aber zur Demokratie? Schmitts Vorstellungen von der Demo‐ kratie hängen eng mit seiner Vorstellung von Identität zusammen, was die Vermi‐ schung von liberalen Prinzipien mit der Demokratie ausschließt.43 Gleichheit und Freiheit können nicht nebeneinander existieren, das eine Prinzip muss zugunsten des anderen Prinzips weichen. In der Demokratie muss sich das liberale Ideal der Frei‐ heit dem Ideal der Gleichheit unterordnen. Aber auch das Prinzip der Gleichheit muss spezifiziert werden, denn dem Postulat einer allgemeinen Gleichheit aller Menschen liegt kein Gegensatz zugrunde, sodass es für den Bereich des Politischen und Juristischen unbrauchbar ist. Gleichheit ist ein zutiefst politischer Begriff, der eine Grenze nach außen markiert, denn gleich sind nur diejenigen, die einem politi‐ schen Gemeinwesen angehören; nur „innerhalb eines demokratischen Staatswesens sind alle Staatsangehörigen gleich“.44 Aus diesem primären Gleichheitspostulat las‐ sen sich alle anderen Formen der Gleichheit ableiten. „Der zentrale Begriff der De‐ mokratie ist Volk und nicht Menschheit.“45 In der Demokratie fallen negative und positive Freiheit in sich zusammen, herrschen und beherrscht werden sind eins. Die Herrscher in der Demokratie unterscheiden sich nicht vom Volk, denn erst das Volk legitimiert jede Herrschaft. Schmitt rekurriert hier auf Rousseau und er steht mit sei‐ ner radikalen Interpretation der Rousseau'schen Demokratie nicht allein da.46 „Demokratie setzt im Ganzen und in jeder Einzelheit ihrer politischen Existenz ein in sich gleichartiges Volk voraus, das den Willen zur politischen Existenz hat. Unter dieser

43 44 45 46

Rechtsordnung ins Wanken. „Wer Werte setzt, hat sich damit gegen Unwerte abgesetzt. Die grenzenlose Toleranz und Neutralität der beliebig auswechselbaren Standpunkte und Gesichts‐ punkte schlägt sofort ins Gegenteil, in Feindschaft um, sobald es mit der Durchsetzung und Geltendmachung konkret ernst wird. Der Geltungsdrang des Wertes ist unwiderstehlich und der Streit der Werter, Abwerter, Aufwerter und Verwerter unvermeidlich“ (Schmitt 1967, S. 46f.). Vgl. hierzu ebenso Spaemann 2001, S. 175-185. Spaemann übernimmt hier die Posi‐ tionen Schmitts, zitiert ihn aber an keiner Stelle. Auch in der Verfassungslehre polemisiert Schmitt gegen den Liberalismus. In den liberalen Elementen der Weimarer Reichsverfassung erblickt er eine Schwächung des identitären Prin‐ zips. Vgl. Schmitt 1928, Abschnitt II. Schmitt 1928, S. 227. Schmitt 1928, S. 234. Vgl. Talmon 2013. Man muss der Rousseauinterpretation von Talmon nicht folgen, zumal er die Funktion der volonté générale sehr einseitig wiedergibt, ohne auf die Feinheiten und Diffe‐ renzierungen Rousseaus einzugehen. Von Rousseau aus, so Talmon, würde ein direkter Weg zum Terror der Jakobiner und zu den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts führen. Seine Inter‐ pretation mag an einigen Stellen überzogen sein, doch gilt es, zu bedenken, dass Rousseaus Werk in der Tat oftmals in sich widersprüchlich und darum auch schwer zu deuten ist. Vor al‐ lem das letzte Kapitel des Contrats, das von der Bürgerlichen Religion (religion civil) handelt, kann aufgrund der mannigfaltigen Entlehnungen Rousseaus aus Religion und Philosophie zu mancher Missinterpretation führen. Dass einige der Hauptprotagonisten der Jakobiner bewusst auf Rousseau zurückgegriffen haben, vor allem Saint-Juste, kann nicht in Abrede gestellt wer‐ den und gibt der Talmon'schen Lesart zum Teil Recht. Der Unterschied zwischen Schmitt und Talmon ist allerdings, dass ersterer die identitäre Vorstellung der Demokratie stützt, während letzterer sie kritisiert.

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Voraussetzung ist es durchaus richtig, wenn Rousseau sagt, daß, was das Volk will, im‐ mer gut ist.“47

Das Volk muss die Demokratie demzufolge wollen und auch verinnerlicht haben. Am Beginn der Verfassungslehre spricht er von zwei unterschiedlichen Verfassungs‐ begriffen, einem relativen und einem absoluten. Der absolute Verfassungsbegriff zielt immer auf ein Ganzes ab, auf ein in sich geschlossenes System, das einer ideel‐ len Vorstellung entspricht und gegebenenfalls auch normativ fixiert wurde.48 Der re‐ lative Verfassungsbegriff zielt hingegen auf einzelne Normen ab und betrifft somit nicht mehr eine Gesamtordnung. Wichtig für Schmitts Betrachtung der Demokratie ist der absolute Verfassungsbegriff. Denn hier hat das Volk eine Idee seiner inneren Ordnung. Die Schwierigkeit besteht dabei immer, den Zusammenhang von sein und sollen zu erkennen und abzubilden. Daran kranken die modernen Auslegungen der Verfassung; hier hat Schmitt wie auch in seinen anderen Schriften den Rechtspositi‐ vismus im Blick, allen voran den wichtigsten Vertreter dieser Schule: Hans Kelsen. Der Rechtspositivismus, so Schmitt, verkennt, dass der relativen Verfassungsord‐ nung immer eine absolute vorausgeht. Wie schon in der „Politischen Theologie“ wirft er Kelsen vor, den Gegensatz von sein und sollen nicht im Blick zu haben.49 Der Rechtspositivismus könne demzufolge nicht darlegen, warum eine Verfassung Geltung beanspruchen sollte. „Das politische Sein oder Werden der staatlichen Ein‐ heit und Ordnung wird in ein Funktionieren verwandelt, der Gegensatz von Sein und Sollen wird mit dem Gegensatz von substantiellem Sein und gesetzmäßigem Funk‐ tionieren beständig vermengt.“50 Der Rechtspositivismus hat die Frage nach der Normativität aufgegeben und die Frage der reinen Faktizität in den Vordergrund ge‐ rückt. Dort, wo die Normativität schwindet, erscheint „die Tautologie einer rohen Tatsächlichkeit“51. Verfassungen gelten aber nicht aufgrund reiner Faktizität, son‐ dern weil sie gesetzt wurden und ihnen damit eine gewisse Normativität zugrunde 47 Schmitt 1928, S. 235. 48 Eric Voegelin spricht ganz ähnlich hierzu von verschiedenen Ebenen der Repräsentation. Die deskriptive Repräsentation umfasst die Ordnungsvorstellungen einer Gesellschaft wie sie sich in ihren Institutionen zeigt, die existenzielle Repräsentation umfasst die Ordnungsvorstellung einer Gesellschaft wie sie sich kollektiv zeigt, mit anderen Worten, so wie die Gesellschafts‐ mitglieder sie leben. Die transzendente Repräsentation umfasst die die Gesellschaft transzen‐ dierenden Vorstellungen. Eine oberflächliche politikwissenschaftliche Analyse bestimmter Ge‐ sellschaftsformen würde sich damit begnügen, ein politisches System bezüglich der Funktions‐ weisen der Institutionen zu beschreiben. Man würde dann die verschiedenen institutionellen Ebenen des Systems analysieren wie beispielsweise das Parlament, den Senat etc. Man hat dann aber immer noch nicht die Fundamente der Gesellschaftsordnung freigelegt. Hierzu be‐ darf es weiterer Analysen auf den Ebenen der existenziellen und auch der transzendenten Re‐ präsentation. Dies schließt die Analyse des Zustandekommens der Gesellschaftsordnung durch eine historische Genese sowie die Analyse der Werte- und Moralsysteme mit ein, schlussend‐ lich auch die Analyse der Religion. Vgl. Voegelin 1952, S. 43-65. 49 Vgl. Schmitt 1922, Kapitel III. 50 Schmitt 1928, S. 8. 51 Schmitt 1928, S. 9.

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liegt. „In Wahrheit gilt eine Verfassung, weil sie von einer verfassungsgebenden Ge‐ walt (d.h. Macht oder Autorität) ausgeht und durch deren Willen gesetzt ist.“52 Einem Willen liegt eine seinsmäßige Macht zugrunde. Eine Norm muss somit immer auf eine höhere Instanz verweisen, damit sie Geltung beanspruchen kann. Sie gilt aber nicht aus sich selbst heraus. So kann eine Norm Geltung haben, weil sie durch das Medium der Vernunft auf das Naturrecht verweist oder weil sie von einer menschlichen oder übermenschlichen Autorität gesetzt wurde. Interessant ist, dass Schmitt im Rechtspositivismus einen Ausläufer der Naturrechtslehre sieht. Ist der Verweis auf das Naturrecht im Zuge der Neutralisierung der Rechtswissenschaften einmal obsolet geworden, bleibt nichts weiter übrig als die Normenhierarchie der Verfassung. Nun musste man für die verlorene Begründung der Rechtsordnung eine neue finden und rekurrierte so auf die „Grundnorm“.53 Mit dem Rechtspositivismus einher geht die besondere Form des Gesetzesstaates und somit die Nivellierung der Subjekt-Objekt-Dichotomie. Es herrschen nur noch Gesetze aber keine Menschen mehr.54 Für Schmitt muss das Medium der Macht allerdings immer ein Mensch sein. Wie auch in seinen anderen Schriften warnt Schmitt vor einer Neutralisierung des Politischen durch die Herrschaft der Gesetze. Der Gesetzesstaat tritt vor allem in Zeiten innenpolitischer und außenpolitischer Stabilität auf, dann, wenn harte Ent‐ scheidungen den Lauf der Dinge eher stören. Dem Gesetzesstaat gegenüber steht der Regierungsstaat, dieser tritt vor allem in Krisenzeiten hervor, immer dann, wenn das Gemeinwesen von innen und von außen bedroht wird.55 Ein Gemeinwesen bedarf deshalb mehr als nur eines Korpus von Gesetzen, also eine „relative Verfassung“, sondern es muss vielmehr eine fundamentale Entscheidung für etwas treffen. Und diese Entscheidung für etwas spiegelt sich in der „absoluten Verfassung“ wider. Hier liegt das Wesen des Politischen begründet, der Wille und die Macht des Souve‐ räns. Erst von diesem Punkt aus lässt sich bestimmen, was legitim ist und was nicht. Die Macht in einem Gemeinwesen muss ein Zentrum haben, dieses Zentrum kann weder eine Verwaltung oder Behörde noch ein Gesetzeskorpus sein, das Zentrum kann nur ein subjektiver Wille sein. Dieser Wille setzt die Ordnung in einen Akt ab‐ soluter Souveränität und er kann sie auch wieder suspendieren.

4. Mysterium Fidei Macht, Wille, Dezision, Ordnung und Legalität, dies sind alles Begriffe, die das Denken Schmitts einrahmen. Bis hierher bewegen wir uns noch im Bereich des Ra‐ 52 53 54 55

Schmitt 1928, S. 9. Schmitt 1928, S. 9f. Schmitt 1932b, S. 8f. Vgl. Schmitt 1932b, S. 11f.

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tionalen und Nachvollziehbaren – auch wenn man an einigen Stellen Schmitts Argu‐ mentation nicht folgen mag. Schürft man allerdings tiefer, so scheint sein Denken noch eine andere Dimension zu beinhalten. Um diese Dimension freizulegen, müs‐ sen wir bei seinen frühen Schriften ansetzen, insbesondere bei der „Politischen Theologie“. Schmitt greift hier immer wieder auf den Antimodernismus der katholi‐ schen Konterrevolutionäre zurück, allen voran auf Donoso Cortés. In einer im Jahre 1950 erschienenen Aufsatzsammlung über Donoso Cortés, in der Schmitt vier Auf‐ sätze aus den Jahren 1920, 1927, 1929, 1944 zusammengefügt hat, schreibt er: „Drei harte Schläge haben die Wurzel Europas getroffen: der europäische Bürgerkrieg von 1848, der Ausgang des ersten Weltkrieges von 1918 und der globale Weltbürgerkrieg der Gegenwart. Jedes der weltgeschichtlichen Ereignisse hat dazu geführt, daß plötzlich in ganz Europa von Donoso Cortés gesprochen wurde. Jedesmal gehörte sein Name zum Echo der Katastrophe. Aber jedesmal nur für einen Augenblick, nur für die Schreckse‐ kunde der Gefahr, wenn das Siegel sich löste und der Sinn dem Geheimnis sich öffnete. War dieser Augenblick vorübergegangen, so war mit dem unmittelbaren Schrecken auch jener Name verklungen.“56

Dieses Zitat offenbart einiges über Schmitt selbst. Nicht nur, dass er Donoso stets bewunderte,57 vielmehr sieht er sich in derselben Position wie er. Auch Schmitt ver‐ steht sich als Diagnostiker und Kritiker der Zeit. Und ebenso wie Donosos Mahnun‐ gen verhallen, so werden auch die Warnungen Schmitts nicht gehört und beachtet, schlimmer noch, oftmals missverstanden und missinterpretiert. Schmitt selbst hat sich als christlichen Epimetheus stilisiert.58 Den Begriff hat Schmitt aus einem Ge‐ dicht von Konrad Weiss entlehnt. Weiss, ebenfalls Katholik wie Schmitt, war der Auffassung, dass Geschichte nicht „gemacht“ werden kann, sondern dass Geschichte sich vollzieht. Geschichte kann nur vor dem Hintergrund des göttlichen Heilsplanes verstanden werden. Hier und da kann der Mensch auf bestimmte ihm sich offenba‐ rende Situationen antworten und so eine Rolle in der Geschichte spielen, er wird 56 Schmitt 1950b, S. 7. 57 Neben Donoso Cortés und Thomas Hobbes bewunderte Schmitt erstaunlicherweise auch Alexis de Tocqueville. Er nennt ihn den größten Historiker des 19. Jahrhunderts, der wie kein anderer durch scharfsinnige und kluge Beobachtungen die Zeichen der Zeit deutete und daraus, ohne jeglichen Idealismus, erstaunlich genaue Prognosen für die Zukunft erstellte. Vgl. Schmitt 1950c, S. 27ff. 58 Vgl. Schmitt 1950c, S. 12. Schmitt verteidigt sich hier gegen Eduard Spranger, der ihm 1945 attestierte, zwar ein geistreicher, aber doch undurchsichtiger Charakter zu sein. Mit einiger Larmoyanz und Verwunderung notiert Schmitt: „So bin ich wehrlos, doch in nichts vernichtet. Diesem Manne, dem ich jetzt als ein von ihm in Frage gestellter Mensch gegenüber saß, die‐ sem Philosophen und Pädagogen, hatte ich vor Jahren alle Verehrung und Anhänglichkeit mei‐ ner Seele entgegengebracht. In der Erinnerung an diese Zeit und in dem Bewußtsein, ihm nichts Böses getan oder auch nur gewünscht zu haben, antworte ich ihm wie einem Philoso‐ phen, nicht wie einem Fragebogen. Ich sagte ihm: Mein Wesen mag wohl nicht ganz durch‐ sichtig sein; aber mein Fall lässt sich benennen, mit Hilfe eines Namens, den ein großer Dich‐ ter gefunden hat: Es ist der schlechte, unwürdige und doch authentische Fall eines christlichen Epimetheus.“.

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ihrer aber nie Herr werden. Am Anfang des Schmitt'schen Denkens steht somit eine Entscheidung, ein reiner Glaubensakt, der in seinem Kern weder gänzlich begründ‐ bar noch in seinem Wesen hinterfragbar ist. Es ist der Glaube an die christliche Of‐ fenbarung und an einen göttlichen heilsgeschichtlichen Plan.59 Wenn man Schmitts Zeitdiagnosen in den Blick nimmt, so ist er immer darum bemüht, in der Geschichte bestimmte Muster zu erkennen.60 Was er erkennt, ist allerdings kein fortschreitender Prozess der Geschichte, an dessen Ende der Mensch zu sich selbst kommt und seine Ketten der Unfreiheit sprengt, so wie es die positivistischen und marxistischen Ge‐ schichtsdeutungen vorgeben, sondern es ist vielmehr ein Auf und Ab der Geschich‐ te, ein Drama, in dessen Mittelpunkt der Mensch und seine Beziehung zu Gott steht. Die Moderne begreift er somit als eine Epoche der Auflehnung und Selbstermächti‐ gung des Menschen gegenüber Gott. Die Moderne ist ein Drama und der Mensch muss seine Rolle in diesem Drama spielen. „Der menschliche Geist befindet sich heute in einem kritischen Augenblick. Mit unerwarteter Geschwindigkeit verwan‐ deln sich heute alle Fragen, eingeschlossen die der reinen Physik, in metaphysische Fragen.“61 Erst vor diesem Hintergrund wird der Disput, den Schmitt mit Hans Blu‐ menberg geführt hat, verständlich.62 Blumenberg wollte die Neuzeit und somit auch die Säkularisierung als eine Epoche verstanden wissen, die sich vom Mittelalter emanzipiert hat. Seiner These zufolge gab es durch die Reaktivierung antiker My‐ then und Bilder einen kulturellen und somit geschichtlichen Bruch, der vor allem durch die nun verstärkt zutage tretende Rationalisierung aller Lebensbereiche zu einer Selbstbehauptung des Menschen geführt hat. Der Selbstbehauptung des Men‐ schen folgte die allmähliche Emanzipation von theologischen Narrativen. In einem Kampf um die Deutungshoheit kam es so zur Herausbildung zweier Absolutismen. Dem Absolutheitsanspruch der Theologie stand alsbald der Absolutheitsanspruch des Staates gegenüber. Für Blumenberg ist Schmitts Deutung des Politischen und der politischen Theologie anachronistisch. Wenn Schmitt auf den Primat des Politi‐ schen insistiert und den Dezisionismus in einen Zusammenhang mit der Theologie bringt, versucht er damit nur, das Phänomen der Säkularisierung zu negieren. „Das methodisch merkwürdige an der ‚Politischen Theologie’ Carl Schmitts ist, daß sie selbst überhaupt Wert auf diesen Säkularisierungsnexus legt; denn es wäre ihrer Intention näher liegend, wie ich meine, den umgekehrten Begründungszusammenhang herzustel‐ len, indem sie die theologische Phänomenalität der politischen Begriffe als Folge der ab‐ soluten Qualität politischer Realitäten interpretierte.“63

59 Vgl. hierzu Meier 2009, S. 38ff. 60 Seine Überlegungen diesbezüglich, die er in „Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpoli‐ tisierungen“ dargelegt hat, haben nichts an Aktualität verloren. Vgl. Schmitt 1932a, S. 73-87. 61 Schmitt 1951, S. 841. 62 Vgl. hierzu Meier 2009, S. 269-300. 63 Blumenberg 1974, S. 106 und auch Schmitt 1970.

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Blumenberg ist der Auffassung, dass sich die Absolutheitsansprüche sowohl des Staates als auch der Religion im geschichtlichen Prozess abgenutzt haben. Wenn man im Zuge der Säkularisierung allmählich zu der Auffassung gelangt, dass der Kampf zwischen Gut und Böse sich nicht im Kontext der Geschichte entscheiden lässt, dann verlieren sowohl der Ausnahmezustand als auch das Politische, so wie Schmitt ihre Funktionen versteht, ihren eigentlichen Sinn und Zweck. „Das Ende des Primats des Politischen wird erkennbar an der diffusen Behauptung von seiner Allgegenwart.“64 Genau darin erblickt aber Schmitt die eigentliche Gefahr. Hinter der von Blumenberg sogenannten Selbstbehauptung des Menschen steckt vielmehr eine Selbstermächtigung. Auch die mit der Säkularisierung einhergehende Rationali‐ sierung und somit Neutralisierung sowohl des Politischen als auch des Theologi‐ schen sind für Schmitt eher Fluch als Segen. Der moderne Mensch ist „gottunfähig“ geworden, er hat dem Glauben abgeschworen und ist nun dazu verdammt, sich von Naturwissenschaft und Technik bestimmen zu lassen. Hierdurch hat der Mensch das Wesen der Souveränität aus der Hand gegeben und das Feld des Politischen verlas‐ sen. Die Technik beherrscht den Menschen und nicht der Mensch die Technik.65 Das Phänomen der Macht ist dem Menschen entglitten. Macht ist zu einer unmenschli‐ chen Größe herangewachsen. Durch die modernen Vernichtungsmittel und durch die Hybris des technisch Machbaren hat sich das Potenzial der Macht ins Unermessliche gesteigert.66 Lässt sich dem Abhilfe schaffen? An dieser Stelle müssen wir uns mit Schmitts Interpretation des Katechon (κaτέχον) auseinandersetzen. Schmitt verwen‐ det diesen Begriff einige Male in seinem Werk. So schreibt er in Bezug zu Alexis de Tocqueville: „Damit ist er nicht das geworden, wozu er mehr als jeder Andere prä‐ destiniert schien: ein christlicher Epimetheus. Ihm fehlte der heilsgeschichtliche Halt, der seine geschichtliche Idee von Europa vor der Verzweiflung bewahrte. Eu‐ ropa war ohne die Idee des Katechon verloren. Tocqueville kannte keinen Katechon. Statt dessen suchte er kluge Kompromisse. Er selbst fühlte die Schwäche dieser Kompromisse ebenso wie seine Gegner, die ihn deshalb verachteten.“67 Die Rede vom Katechon versteht man nur vor dem Hintergrund der christlichen Eschatologie. Die christliche Zeitauffassung hingegen ist die einzige Zeitauffassung, die den Men‐ schen mit seiner ganzen Ambivalenz als geschichtliches Wesen in den Mittelpunkt rückt. Da Geschichte in der christlichen Theologie ein linearer und kein zyklischer Prozess ist und Christen die Wiederkunft Christi am Ende der Tage erwarten, muss es eine Erklärung für die Parusieverzögerung geben.68 Die eine Begründung ist das Nichtwissen über den Zeitpunkt des Endes, die andere weniger orthodoxe Position 64 65 66 67 68

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Schmitt 1970, S. 106. Vgl. Schmitt 1950b, S. 11f. Vgl. Schmitt 1954, S. 26f. Schmitt 1950c, S. 31. Bewusst greift Schmitt in seinen Schriften auf den Gegensatz von christlicher, heidnischer und neuzeitlicher Zeitauffassung zurück. Die aus dem Heidentum abgeleitete zyklische Zeitauffas‐

ist die Vorstellung eines Katechon, eines Verzögerers des Endes. Der Katechon ist ein Mensch, der das Böse und das Chaos in der Welt bekämpft und somit das Ende der Zeiten hinausschiebt. Damit ist der Katechon eine äußerst ambivalente Figur.69 In der Einheitsübersetzung im zweiten Brief an die Thessalonicher (2, 3-8) lesen wir: „Laßt euch durch niemand und auf keine Weise täuschen! Denn zuerst muß der Abfall von Gott kommen und der Mensch der Gesetzwidrigkeit erscheinen, der Sohn des Ver‐ derbens, der Widersacher, der sich über alles, was Gott oder Heiligtum heißt, so sehr er‐ hebt, daß er sich sogar in den Tempel Gottes setzt und sich als Gott ausgibt. […]. Ihr wißt auch, was ihn jetzt noch zurückhält, damit er erst zur festgesetzten Zeit offenbar wird. Denn die geheime Macht der Gesetzwidrigkeit ist schon am Werk; nur muß erst der be‐ seitigt werden, der sie bis jetzt noch zurückhält.“

Interessant ist, wie Schmitt das Bild des Katechon deutet. Für ihn ist es eine der fun‐ damentalen Glaubensüberzeugungen des Christentums schlechthin. Ohne den Glau‐ ben an eine Figur, die das Ende der Zeiten hinauszögert, wäre die gesamte Christen‐ heit bereits in Apathie und Fatalismus versunken. Der Glaube an einen Katechon mobilisiert Energien und hilft dabei, gegen das Böse zu kämpfen.70 Liest man zwi‐ schen den Zeilen, so kann man durchaus zur Interpretation gelangen, dass Schmitt mit der Aufgabe des Gedankens an einen Katechon im ausgehenden Mittelalter den Beginn der Säkularisierung datiert. Erst die Aufgabe der Idee des Katechon führte auch zur Aufgabe der katholischen Reichsidee und somit zum Zusammenbruch der politischen Ordnung bzw. des theologisch-politischen Komplexes und zur Aufspal‐ tung der Einheit der Macht.71 Macht, das war der Zusammenfall von auctoritas und potestas, eine metaphysische Größe, die sich in der Neuzeit zu einer reinen Sachfra‐ sung lehnt er ab. Der Zusammenfall der menschlichen Zeit mit den Zyklen der Natur führt zu einer Zurückweisung der Geschichte und zum Fatalismus. Die Neuzeit hingegen ist durch das positivistische Diktum des Fortschritts geprägt und durch die Hybris des technisch Machbaren. Die christliche Zeitauffassung hingegen ist die einzige Zeitauffassung, die den Menschen mit seiner ganzen Ambivalenz als geschichtliches Wesen in den Mittelpunkt rückt. Vgl. hierzu Schmitt 1951. 69 Schmitt selbst schien sich dieser Ambivalenz durchaus bewusst zu sein. Jacob Taubes gibt ein Gespräch mit Carl Schmitt wieder, in dem Schmitt gegenüber Taubes äußert, dass er sich mit der Figur des Dostojewski'schen Großinquisitors identifiziert. Vgl. Taubes 1987, S. 15. Nur zur Erinnerung: Der Großinquisitor verstößt gegen die Gebote des Neuen Testaments, um die insti‐ tutionelle Ordnung der Kirche zu wahren. Er opfert sich, um die Kirche zu retten. 70 Schmitt 1950a, S. 28ff. 71 Dies wird vor allem deutlich, wenn Schmitt von der Einheit der Macht spricht, die erst im Zu‐ ge des ausgehenden Mittelalters aufgespalten wurde. Ursprünglich war Macht die Einheit von potestas und auctoritas, so besaßen sowohl der Kaiser als auch der Papst potestas und auctori‐ tas. Erst mit der allmählichen Trennung von weltlichem und geistigem Reich kam es auch zu einer Trennung von auctoritas und potestas. Nun besaß der Kaiser die potestas, während dem Papst die auctoritas zufiel. Vgl. hierzu Schmitt 1950a, S. 30ff. und auch Schmitt 1928, S. 75f. Vgl. hierzu auch Koenen 1995, S. 69f. Göbel zeigt hier, dass das Bild des Katechon im Zusam‐ menhang mit der Reichsidee sowohl innerhalb der Konservativen Revolution als auch im kon‐ servativen katholischen Milieu weit verbreitet war.

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ge verwandelt hat. Schmitts politische Polemik ist somit in ihrem Kern eine theolo‐ gische Apologie. Hinter dem Arcanum der Macht steht das Mysterium des Glaubens.

5. Schlussbetrachtung Man kann Carl Schmitt auf zweierlei Art und Weise deuten. Zum einen wäre da die Lesart, ihn als konservativen Reaktionär, Protofaschisten oder Steigbügelhalter des Nationalsozialismus zu betrachten.72 Einige Äußerungen in seinen Schriften weisen in der Tat darauf hin. Eine andere Lesart wäre es, ihn als einen konservativen Mah‐ ner zu betrachten, dessen Schriften so einiges für die politische Theorie und die ge‐ genwärtigen Zeitdiagnosen hergeben. Schmitt hat seine Schriften in der auslaufen‐ den Moderne verfasst, einer Epoche, die durch eine noch nie dagewesene zeitliche Beschleunigung auf allen gesellschaftlichen Ebenen geprägt war. Schmitt ist hier in die Fußstapfen der katholischen Konterrevolutionäre als großer Mahner und Ka‐ techon getreten.73 In einer Epoche, in der alles möglich schien, in der man die Welt noch einmal neu hätte erfinden können, hat er, wie viele andere konservative Denker auch, den Finger in die Wunden der Moderne gelegt, manchmal mit weiser Voraus‐ sicht und manchmal als Reaktionär. Lässt man sich auf seine Zeitdiagnosen ohne ideologische Vorbehalte ein, so geben diese auch einiges für unsere gegenwärtigen Problemlagen her. In einer Zeit, in der die sicher geglaubte Weltordnung zum wie‐ derholten Male wankt und ein globaler Konflikt zwischen Staaten durchaus möglich ist, sollte man sich auf das politisch Machbare beschränken. Ein politischer Hyper‐ moralismus, der im Gewand der Gerechtigkeit daherkommt, kann tief fallen, wenn er gezwungen wird, den realpolitischen Fakten ins Auge zu blicken. Es gibt keine Teleologie der Moral in der Geschichte.74 Vielmehr entfaltet sich Moral in begrenz‐ 72 Da Schmitt sich selbst als Christ bezeichnete und er in den Fußstapfen der katholischen Kon‐ terrevolutionäre watete, ist es umso erstaunlicher, dass er mit der neopaganen Häresie des Na‐ tionalsozialismus gemeinsame Sache gemacht hat. Weshalb es ihn trotz seines Antimodernis‐ mus und seiner Abneigung gegen jegliche geschichtsphilosophische Strömung in die Arme einer revolutionären heidnischen Bewegung trieb, bleibt ein Rätsel. Ob er ähnlich wie Heidegger daran glaubte, den Nationalsozialismus in eine bestimmte Richtung zu lenken, und dadurch vor allem die konservative katholische Idee des Reichsgedankens umzusetzen, so je‐ denfalls rückblickend Schmitts eigene Interpretation, kann durchaus bezweifelt werden. Vgl. hierzu Koenen 1995, S. 64ff. Was Schmitts eigene Interpretation des Christentums angeht, so kann man durchaus darauf schließen, dass ihm die Kirche als Institution wichtiger war als die eigentliche Botschaft des Evangeliums. Vgl. hierzu Giesler 2017, S. 14. 73 In Anlehnung an Hugo Ball sieht Taubes in Schmitt einen Denker der Krisenzeit. In Krisenzei‐ ten benötigt man keinen Praktiker, sondern einen Denker, der eine Doktrin hat und der fähig ist, Unterscheidungen zu treffen. Vgl. Taubes 1987, S. 29f. 74 Schmitt macht darauf aufmerksam, dass der technische Fortschritt nicht mit dem moralischen und sittlichen Fortschritt der Menschen einhergehen muss. Vor dem Hintergrund des Ost-WestKonfliktes spricht er hier von der Möglichkeit eines Sieges der einen Partei und einer mögli‐ chen „planetarischen Industrienahme“. „Hier tut sich jene Kluft auf, die den sittlichen und mo‐ ralischen Fortschritt der Menschheit von ihrem industriellen Fortschritt trennt. Die Weltpolitik

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ten Ordnungen, die es so weit wie möglich zu schützen gilt. Jürgen Habermas hat in einem im Jahre 2004 erschienenen Essay die Schlacht um eine zukünftige Weltord‐ nung zwischen zwei unterschiedlichen politiktheoretischen Systemen ausgemacht: Auf der einen Seite steht der am Multilateralismus orientierte Neukantianismus, der darauf abzielt, eine gerechte globale Ordnung zu errichten, die letztendlich in einer Weltregierung mündet. Auf der anderen Seite steht Carl Schmitt und seine Lehre vom souveränen Nationalstaat, der Dezision und der rationalen Machtpolitik.75 Ha‐ bermas’ Hoffnung ist es, dass sich die Welt mittels eines teleologischen Prozesses, der durchaus geschichtsphilosophische Motive beinhaltet, soweit befrieden lässt, dass Kriege zu regionalen Auseinandersetzungen mutieren, die durch polizeiliche Maßnahmen, die von den Vereinten Nationen übernommen werden, beigelegt wer‐ den können.76 Habermas wirft Schmitt in diesem Zusammenhang vor, dass er die emanzipatorischen Kräfte der Moderne verkenne und stattdessen einem reaktionären Antimodernismus verfallen sei.77 Diese Diagnose ist einerseits richtig, andererseits auch grundfalsch. Richtig ist die Diagnose an sich, das heißt, dass wir es in der Tat mit einer Vielzahl von innerstaatlichen und internationalen Konflikten zu tun haben, die das emanzipatorische Projekt der Moderne, so wie Habermas es auffasst, infrage stellen. Wenn man davon überzeugt ist, dass Geschichte ein teleologischer Prozess hin zum Besseren ist, dann muss einem ein Denker wie Schmitt als ein vormoderner Reaktionär erscheinen. Man wird dann seine eigene „Modernität“ und die dahinter‐ stehenden Implikationen kaum hinterfragen. Falsch ist die Diagnose, weil Habermas Schmitt, in kontrafaktischer Analogie zu seinem eigenen Denken, einen gewissen Idealismus unterstellt, also eine Rückabwicklung des Projektes der Moderne, die nun möglicherweise in vollem Gange ist. Liest man Schmitt hingegen, ohne Vorbe‐ halte, als Diagnostiker der Zeit, so ergeben sich folgende abschließende Thesen, die für eine realistische Betrachtung der Gegenwart von Nutzen sein können. (1) Die menschliche Geschichte folgt keiner Teleologie, geschweige denn einer, die voraus‐ sehbar wäre. Sie gleicht viel mehr einem Prozess des Auf und Ab. Phasen der Stabi‐ lität werden durch Phasen der Instabilität abgelöst. Aber auch das ist nicht als vor‐ aussehbares Muster zu deuten. (2) Dadurch gilt es, die Gefahr im Auge zu behalten, dass sicher geglaubte Ordnungen in sich zerfallen und dass es Phasen der Unord‐ nung und des Konfliktes gibt. (3) Die Rolle des Menschen in der Geschichte ist eine ambivalente. Gemäß der christlichen Theologie ist er zum Guten fähig, in ihm steckt aber auch das Potenzial zum Bösen. Menschliches Handeln ist somit nicht immer kommt an ihr Ende und verwandelt sich in Weltpolizei – ein zweifelhafter Fortschritt“ (Schmitt 1978, S. 926). 75 Vgl. Habermas 2004, S. 187-193. Man muss im Übrigen kein Schmittianer sein, um den neo‐ kantianischen Universalismus kritisch zu betrachten. Rawls’ eigene Revision seiner ursprüngli‐ chen Thesen ist hierfür ein gutes Beispiel. Vgl. Rawls 2002. 76 Vgl. Habermas 2004, S. 189. 77 Vgl. Habermas 2004, S. 192f.

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berechenbar, manchmal gänzlich unberechenbar. Das Irrationale, Böse und auch Grausame bleibt eine mögliche Option menschlichen Handelns – bis der Jüngste Tag anbricht. (4) Da der Mensch ein begehrendes Wesen ist, bleibt der Faktor Macht ein wesentliches Momentum in den zwischenmenschlichen Beziehungen ebenso wie das Phänomen der Autorität. Man kann Institutionen schaffen, die die Macht begrenzen, allerdings sollte man immer im Auge behalten, dass diese Institutionen fragil sind und dass das Streben der Menschen nach Macht diese zerstören kann. (5) Das Phä‐ nomen der Macht und das Streben der Menschen nach Macht sind nicht gänzlich er‐ gründbar. Macht bleibt ein Geheimnis. Damit schließt sich der Kreis zum Eingangs‐ zitat: Macht wird in den Händen des Menschen wie in einem Prisma mal in die eine (gute) und mal in die andere (böse) Richtung gelenkt.

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IV. Der Staat und seine Geheimnisse in der Demokratie

Dannica Fleuß Zur Balance von Transparenz und Verborgenheit: das komplementäre Verhältnis von öffentlicher und nicht-öffentlicher Kommunikation in Jürgen Habermas‘ Demokratietheorie

1. Einleitung: das Ideal aufgeklärter Publizität in Habermas‘ deliberativer Demokratietheorie „Publizität“ bzw. „Transparenz“ wurde im Kontext der europäischen Aufklärung zum politischen Ideal und zum entscheidenden Merkmal legitimitätsgenerierender, demokratischer politischer Verfahren.1 Die politische Öffentlichkeit sowie öffentlich gebildete Meinungen und Entscheidungen stellen von nun an „die einzige [legitime, D. F.] Quelle der Souveränität“ dar.2 Das Publizitätsprinzip impliziert zum einen die Transparenz politischer Verfahren der Willensbildung und Entscheidungsfindung, zum anderen die Institutionalisierung einer politischen Öffentlichkeit, in der (ent‐ scheidungsbetroffene) BürgerInnen frei und uneingeschränkt deliberieren können. Die Geheimhaltung von politischen Prozessen oder den in ihnen behandelten Mate‐ rien durch politische Eliten wird als Abweichung vom Ideal konzeptualisiert und ist folgerichtig rechtfertigungsbedürftig.3 Der vorliegende Beitrag diskutiert Jürgen Habermas‘ Interpretation des Publizi‐ tätsideals sowie den Wert, den Habermas in „Faktizität und Geltung“ verborgenen (deliberativen und kommunikativen) Verfahren zuschreibt. In Abgrenzung zu bishe‐ rigen Thematisierungen von Arkanpolitik wechselt er damit in zweierlei Hinsicht die Perspektive: Zum Ersten betrachtet er die normativ zulässigen Abweichungen vom Transparenz- bzw. Publizitätsideal nicht mit Fokus auf die Rechtfertigbarkeit des „geheime[n] Herrschaftswissen[s]“ politischer Eliten bzw. „staatlicher Funktionsträ‐ ger“4. Vielmehr fokussiert er das Publizitätsideal aus der Bürgerperspektive. Zum 1 Wegener 2006, S. 120ff. 2 Knobloch 2017, S. 209; zu Kant vgl. Niesen 2008, S. 220-229. 3 Wegener 2006, S. 120-121; vgl. Voigt 2017, S. 6. Die Dilemmastruktur der Entscheidungsfin‐ dungs- und Politikimplementationsprozesse politischer Eliten fokussierte Debatte macht die Le‐ gitimität ihrer Geheimhaltung von der Materie des Verfahrens abhängig und wird von Dennis Thompson prägnant zusammengefasst: „The dilemma of accountability may be thought of as a political version of the Heisenberg uncertainty principle. Just as physicists can’t measure a parti‐ cle’s position and momentum at the same time (because the process of measuring the position disturbs the momentum), so citizens cannot evaluate some policies and processes because the act of evaluating defeats the policy or undermines the process“ (Thompson 1999, S. 183). 4 Voigt 2017, S. 6.

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Zweiten wird das Recht des Bürgers auf eine unversehrte Privatsphäre zumeist aus liberaler Perspektive im Sinne eines individuellen Freiheits- und Abwehrrechtes, ei‐ nes „right to be let alone“ thematisiert.5 Im Folgenden fokussiert dieser Beitrag im Anschluss an eine Darstellung von Habermas‘ Ideal der deliberativen Demokratie und der Publizität jene – in der Lebenswelt lokalisierten – Sphären demokratischer Kommunikation, die dem Öffentlichkeitsgebot nicht unterstehen. Es wird jedoch ar‐ gumentiert, dass diese vor dem Blick der Öffentlichkeit und des Staates „verborge‐ nen“ kommunikativen Praxen der Bürger ihre Bedeutung nicht primär aus individu‐ ellen Abwehrrechten gewinnen.6 Vielmehr stellt die Existenz verborgener Kommu‐ nikationssphären in Habermas‘ Demokratiemodell eine notwendige Bedingung für die Realisierung deliberativ-demokratischer Ideale dar, da nur so die Sozialintegrati‐ on demokratischer Gesellschaften gewährleistet werden kann. Dieser Aufsatz geht von der Prämisse aus, dass eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Transparenz/Verborgenheit die vielfältigen Funktionen beachten muss, die Habermas deliberativen Kommunikationsverfahren zuschreibt. Vor diesem Hintergrund wird argumentiert, dass eine Auseinandersetzung mit Habermas‘ Idea‐ len von Transparenz bzw. Verborgenheit nicht nur den generierten epistemischen Mehrwert berücksichtigen sollte.7 Der positive Beitrag von Publizität entzogenen „lebensweltlichen“ Interaktions- und Kommunikationssphären wird erst bei Beach‐ tung der sozialintegrativen Funktion von privaten und intimen Kommunikationen sichtbar, die zentrale Ressourcen und Voraussetzungen für die Realisierung des Ha‐ bermas'schen Demokratieideals schaffen. Diese Verhältnisbestimmung und Gewich‐ tung der Ideale von Transparenz und Verborgenheit ist allerdings von den empiri‐ schen Kontextbedingungen demokratischer Gesellschaften abhängig. Die Balance von transparenten und verborgenen Kommunikations- und Deliberationsprozessen muss daher aus Perspektive der deliberativen Demokratietheorie unter Bedingungen einer zunehmend heterogenen und in digitalen Räumen operierenden Kommunikati‐ onsgemeinschaft rekonzeptualisiert werden.

2. Das Ideal der deliberativen Demokratie und das Ideal der Publizität Die Deliberation und ihr dialogisches Verfahren integrieren verschiedene Ansprü‐ che. Das ihr inhärente Geben und Nehmen von Gründen hat dabei nicht nur die Auf‐

5 Wegener 2006, S. 196; Ritzi 2017, S. 181; Warren/Brandeis 1890. 6 In diesem Beitrag werden die öffentlichen und dem Blick der Öffentlichkeit entzogenen Kom‐ munikationssphären bzw. kommunikativen Praxen mit den Attributen „transparent“ bzw. „ver‐ borgen“ bezeichnet. 7 Chambers 2004, 2005; Schwartzman 2011.

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gabe, die Rationalität bzw. Sachangemessenheit von politischen Entscheidungen zu befördern, sondern erfüllt auch sozialintegrative Funktionen.8

2.1. Kontext: verschiedene Funktionen, verschiedene Orte – Deliberationen im politisch-gesellschaftlichen System Habermas‘ Konzeption einer legitimen Demokratie geht von der klassisch-modernen Annahme aus, dass individuelle Autonomie durch die kollektive Selbstgesetzgebung der Bürger realisiert werden soll: Nur dann, wenn Bürger eines Staates sich als Au‐ toren der Gesetze verstehen können, denen sie unterworfen sind, ist die Implementa‐ tion von allgemeinverbindlichen Normen durch den Staat zulässig.9 Habermas über‐ setzt diese im Kern kantische Vorstellung in ein dialogisches Verfahren: Normen und Gesetze sind legitim, insofern sie das Ergebnis eines „herrschaftsfreien Diskurs“ zwischen Freien und Gleichen sind: Das Diskursprinzip fordert, dass „alle mögli‐ cherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen [strittigen Geltungs‐ ansprüchen, D. F.] zustimmen könnten“.10 Diese Diskurse entsprechen idealerweise den folgenden Kommunikationsbedingungen: Sie inkludieren alle Entscheidungsbe‐ troffenen unter symmetrischen Ausgangsbedingungen und lassen dadurch lediglich den „zwanglosen Zwang des besseren Argumentes“ zum Tragen kommen.11 Die Va‐ lidität von Normen ist in dieser Konzeption weniger noch als bei Kant „[...] some‐ thing that can be certified privately; it is tied to communication processes in which claims are tested argumentatively by weighing reasons pro and con“.12 Um die Implikationen dieser abstrakten Konzeption normativer Validität für die Bedeutung des Publizitätsideals einordnen zu können, ist eine knappe Skizze des in „Faktizität und Geltung“ angebotenen Modells legitimer politischer Ordnungen er‐ forderlich. Volkssouveränität wird hier „intersubjektivistisch aufgelöst“13 und in ge‐ sellschaftsweit stattfindenden Verfahren des reason-giving umgesetzt. Diesen Deli‐ berationsverfahren schreibt Habermas drei zentrale Funktionen zu, die berücksich‐ tigt werden müssen, wenn das Verhältnis von deliberativen Idealen und Publizitäts‐ anforderungen im Folgenden eingeordnet wird: eine epistemische, eine ethische und 8 9 10 11

Mansbridge u.a. 2012, S. 11-12. Vgl. Maus 1992, S. 235, zur Bedeutung der Autonomie bei Kant und Rousseau. Habermas 1998, S. 138. Habermas 2009, S. 144, 149. Diese ideale Sprechsituation kann zwar als „Gedankenexperi‐ ment“ bzw. „methodische Fiktion“ fruchtbar gemacht werden (Habermas 1998, S. 392). Die Beurteilung ihrer Umsetzung in der politischen bzw. gesellschaftlichen Praxis sollte jedoch nicht die Prioritäten von Habermas‘ Theorie verwechseln: „[...D]ie Bedingungen, die kommu‐ nikative Vergesellschaftung ermöglichen, [dürfen, D. F.] nicht mit kontingent auferlegten Be‐ schränkungen verwechselt werden“ (Habermas 1998, S. 393). 12 McCarthy 1994, S. 45-46; Leydet 1997, S. 38. 13 Habermas 1998a, S. 626.

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eine sozialintegrative.14 Zum einen ist die normative Legitimität politischer Ent‐ scheidungen sowohl von der Inklusivität und Fairness des Prozesses als auch von der „objektiven“ Qualität des Verfahrensergebnisses (das heißt seiner Sachangemes‐ senheit und seiner moralischen Adäquatheit) abhängig.15 Zum anderen haben Pro‐ zesse des Gebens und Nehmens von Gründen aus gesamtgesellschaftlicher Perspek‐ tive eine – häufig von Demokratietheoretikern vernachlässigte – sozialintegrative Funktion: Sie befördern den Respekt zwischen Bürgern mit unterschiedlichen Präfe‐ renzen und Erfahrungshintergründen sowie die Solidarität zwischen Mitgliedern einer politischen (Kommunikations-)Gemeinschaft und sichern auf diesem Weg die politisch-kulturellen Ressourcen der Stabilität politischer Ordnungen.16 Im Folgen‐ den (Kapitel 3.) wird hervorgehoben, dass diese sozialintegrative Funktion von Deli‐ beration maßgeblich durch dem Blick der Öffentlichkeit entzogene Kommunikati‐ onssphären erfüllt werden kann. Für die institutionelle Umsetzung von demokratischer Selbstbestimmung bedeutet dieses Legitimitätsverständnis, dass „in Rechtform auftreten[de]“ Handlungsnor‐ men17 dem Demokratieprinzip entsprechen müssen. Das Demokratieprinzip schlägt ein „Verfahren legitimer Rechtssetzung“ vor,18 das den folgenden Vorgaben ge‐ nügt:19 „The deliberative paradigm offers as its main empirical point of reference a democratic process, which is supposed to generate legitimacy through a procedure of opinion and will formation that grants (a) publicity and transparency for the deliberative process, (b) inclusion and equal opportunity for participation, and (c) a justified presumption for rea‐ sonable outcomes (mainly in view of the impact of arguments on rational changes in pre‐ ference) [...].“20

In „Faktizität und Geltung“ übersetzt Habermas sein Deliberationsverständnis in ein gesellschaftstheoretisch eingebettetes Modell rechtsstaatlicher Demokratie, in dem inklusive, dialogische Verfahren in verschiedenen „Sphären“ des politisch-gesell‐ schaftlichen Systems für die Realisierung von Selbstbestimmung bzw. Volkssouve‐ ränität sorgen.21 Das in „Faktizität und Geltung“ entwickelte „System der Rechte“ schlägt zu diesem Zweck kein unverrückbares Institutionenarrangement vor, defi‐ 14 Ähnlich Mansbridge u.a. 2012, S. 11-12. „Die deliberative Politik gewinnt ihre legitimierende Kraft aus der diskursiven Struktur einer Meinungs- und Willensbildung, die ihre sozialintegra‐ tive Funktion nur dank der Erwartung einer vernünftigen Qualität ihrer Ergebnisse erfüllen kann“ (Habermas 1998, S. 369). 15 Ausführlich zum Spannungs- und Interaktionsverhältnis zwischen diesen Dimensionen Fleuß 2017. 16 Mansbridge u.a. 2012, S. 11; Habermas 1981a, S. 213; 1991, 1998. 17 Habermas 1998, S. 139. 18 Habermas 1998, S. 141. 19 Habermas bezieht sich hier auf die klassische Darstellung von Bohman/Rehg (1997). 20 Habermas 2006, S. 413. 21 Die gesellschaftliche Einbettung von Deliberationsverfahren sowie ihre Bedeutung für das Ver‐ ständnis des Habermas'schen Ideals deliberativer Demokratie wurde in den vergangenen Jah‐

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niert aber die Parameter („Rechtskategorien“), in denen sich die empirischen Ausge‐ staltungen legitimer institutioneller Ordnungen bewegen können.22 Diese Parameter schreiben sowohl die Einhaltung von Individualrechten (Freiheits- und Abwehrrech‐ ten sowie Prinzipien des Rechtsschutzes) als auch Partizipationsrechte und soziale Grundrechte fest.23 Hiermit sichern sie die sozialen und individuellen Voraussetzun‐ gen von politischer Teilhabe, ohne spezifische Verfahren für ihre Umsetzung in de‐ mokratischen Gesellschaften vorzugeben und lassen erkennen, dass jede Form legiti‐ mer Deliberation sowohl eine rechtliche Einbettung voraussetzt als auch an ihrer Er‐ zeugung beteiligt ist.24 Zu den Kernbestandteilen des in „Faktizität und Geltung“ entwickelten Modells zählt neben dem politisch-administrativen „System“ die „politische Öffentlich‐ keit“.25 Im „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ beschreibt Habermas die Genese und Herausbildung der bürgerlichen Öffentlichkeit, das heißt der „Sphäre der zum Publi‐ kum versammelten Privatleute“ im 18. Jahrhundert.26 Diese Öffentlichkeit ist eine Sphäre des nicht staatlichen, das heißt „Privatleuten vorbehaltenen Bereichs“.27 Sei‐ ner Kritik an Transformationen („Kommerzialisierung“, Dominanz von Partikularin‐ teressen) der politischen Öffentlichkeit zum Trotz enthält das „Bild einer dezentrier‐ ten Gesellschaft“ in „Faktizität und Geltung“ neben einem politisch-administrativen Zentrum und der Lebenswelt (siehe das folgende Kapitel 3.) die politische Öffent‐ lichkeit als „eine Arena für die Wahrnehmung, Identifizierung und Behandlung ge‐ samtgesellschaftlicher Probleme“.28 Die als „politische Öffentlichkeit“ bezeichnete Kommunikationssphäre wird von Habermas selbst als „intermediary between state and society“ konzeptualisiert29 und gilt in „Faktizität und Geltung“ damit als eine zentrale Voraussetzung für die Reali‐ sierung des deliberativ-demokratischen Ideals. Sie besteht selbst aus heterogenen

22

23 24 25 26 27 28 29

ren aus Perspektive des „Deliberative Systems Approaches“ hervorgehoben und konzeptuell weitergeführt (Dryzek 2002; Dryzek/Niemeyer 2012; Mansbridge u.a. 2012; Elstub u.a. 2016; Elstub 2015). „The theory of democracy that appears in Between Facts and Norms departs substantially from earlier Habermasian abstractions about communication. While Habermas remains a critical theorist in principle, his reconciliation to a range of immutable facts about the modern world – the pluralistic complexity of society, the intransigence of political-economic structure – means that his distance from liberal theorists of deliberative democracy is now harder to discern“ (Dryzek 2002, S. 24). Habermas 1998, S. 155. Fleuß 2017, S. 181. Habermas 1998, S. 431. Habermas 1991, S. 86. Habermas 1991, S. 89-90. Habermas 1998, S. 365. Habermas 2006, S. 412.

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kommunikativen Zusammenhängen bzw. „Netzwerken“.30 Habermas schreibt ihr die Funktion zu, alle (potenziell) Entscheidungsbetroffenen in politische Verfahren zu inkludieren. Kommunikations- und Aushandlungsprozesse in der politischen Öffent‐ lichkeit sollen zudem der Interessenartikulation der Bürger dienen und den adminis‐ trativen „Kern“ des politischen Systems für die Bedürfnisse der Bürger sensibilisie‐ ren.31 Nicht zuletzt stellen Institutionen der politischen Öffentlichkeit eine macht‐ kontrollierende Instanz dar, die einen Machtmissbrauch politischer Eliten transpa‐ rent machen kann.32 Die terminologische Entscheidung für den Ausdruck „politische Öffentlichkeit“ impliziert nicht, dass die Öffentlichkeit bzw. Transparenz von Verfahren in anderen Kommunikationssphären von geringerer Bedeutung ist: Die bekannten politischen Institutionen des Systems – Parlamente, Regierungsinstitutionen, Gerichte etc. – be‐ schreibt Habermas als „specialized deliberative arena[s]“33, die, ebenso wie Partei‐ en, Massenmedien und Verbände, dem Öffentlichkeitsgebot unterstehen.34 Habermas deutet legitimitätsstiftende Deliberation damit stets als Prozess, der verschiedene po‐ litische Funktionen erfüllt, in vielfältigen Kommunikationssphären einer Gesell‐ schaft stattfindet und idealiter die Resultate „peripherer“ zivilgesellschaftlicher Aus‐ handlungen in das Entscheidungen implementierende Zentrum des politischen Sys‐ tems einspeist.35

2.2. Der Mehrwert von Transparenz für deliberative Legitimität Habermas verwendet den Terminus „öffentlich“ bzw. „Öffentlichkeit“ damit in zwei verschiedenen Bedeutungen: In einem weiten Sinne kann sich „öffentlich“ als Attri‐ but auf alle (Deliberations-)Verfahren im politisch-gesellschaftlichen System bezie‐ hen.36 Eine spezifische Rolle und Bedeutung schreibt Habermas „der politischen Öf‐ fentlichkeit“ im engeren Sinne des Wortes zu. Um Habermas‘ Perspektive auf die Bedeutung von Transparenz und Verborgenheit für politische Legitimität darzustel‐ len, wird im Folgenden die Rolle des Publizitätsprinzips für deliberative Verfahren an verschiedenen Orten des politisch-gesellschaftlichen Systems – inklusive des

30 Habermas 2006, S. 415. „Das Spektrum reicht von Verbänden, die klar definierte Gruppeninte‐ ressen vertreten, über Vereinigungen (mit erkennbar parteipolitischen Zielsetzungen) und kul‐ turelle Einrichtungen [...] bis zu ‚public interest groups‘ [...] und karitativen Verbänden“ (Ha‐ bermas 1998, S. 431). 31 Habermas 1998, S. 403. 32 Habermas 1998, S. 415. 33 Habermas 2006, S. 415. 34 Habermas 1991, S. 310. 35 Dryzek/Niemeyer 2012, S. 11. 36 Hölscher 1979, S. 8.

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durch die „politische Öffentlichkeit“ bereitgestellten Kommunikationsraumes – erör‐ tert. Die Bedeutung des Publizitätsprinzips wird aus deliberationstheoretischer Per‐ spektive häufig unter Verweis auf eine kantische Argumentation gerechtfertigt: Kant fordert für die Realisierung seines Ideals politischer Selbstbestimmung die Aus‐ übung des freien öffentlichen Vernunftgebrauchs.37 Dies impliziert zum einen die Forderung nach der Transparenz politischer Verfahren der Willensbildung und Ent‐ scheidungsfindung, zum anderen die Institutionalisierung einer politischen Öffent‐ lichkeit, in der Bürger frei und uneingeschränkt über die Vernunftförmigkeit von po‐ litischen Entscheidungen „räsonieren“ können. Aus dieser Perspektive sind sowohl die Transparenz von politischen Verfahren und Entscheidungsmaterien als auch die Existenz einer – mehr oder minder institutionalisierten – politischen Öffentlichkeit empirische Voraussetzungen für die Realisierung vernünftiger demokratischer Selbstbestimmung. Wegener mag Kants Vorstellung überzeichnet darstellen, wenn er bemerkt, Kant nehme eine „Gleichsetzung von Öffentlichkeit und Transparenz mit Wahrheit und Recht“ vor.38 In jedem Fall gelten ihm Öffentlichkeit und Transparenz als notwendige Bedingung einer die Sachangemessenheit und moralische Adäquat‐ heit politischer Entscheidungen befördernden politischen Ordnung. Kants Politische Philosophie setzt in der Begründung des Publizitätsideals zwei Aspekte in einen intrinsischen Zusammenhang: Die Öffentlichkeit von politischen Verfahren mag die Richtigkeit ihrer Ergebnisse nicht garantieren; der öffentliche Vernunftgebrauch hat jedoch eine bedeutsame erkenntnisförderliche Funktion.39 Dass „Öffentlichkeit“ und „moralische Richtigkeit“ bzw. „Tugendhaftigkeit“ assozi‐ iert sind, resultiert nicht nur daraus, dass ein öffentliches Fehlverhalten sozial oder strafrechtlich nachteilige Konsequenzen hätte – vielmehr gilt Kant die Einsicht in die Richtigkeit einer Norm als zentraler motivationaler Faktor für moralisch richti‐ ges Verhalten: Eine Handlungsnorm erkennen, impliziert, ihr gemäß handeln zu wol‐ len.40 Vor diesem Hintergrund kommt Kant zu der Schlussfolgerung, dass das öffent‐

37 Kant 1977; Niesen 2008, S. 220-229, 23. 38 Wegener 2006, S. 121. 39 Niesen 2008, S. 23. Vor dem Hintergrund einer kognitivistischen Grundposition, die von der Wahrheitswertfähigkeit normativer Aussagen ausgeht, gilt diese Aussage für Tatsachener‐ kenntnis und moralische Erkenntnis. Die Konzepte von Öffentlichkeit bzw. Transparenz wurden im Kontext der europäischen Auf‐ klärung mit einer sowohl epistemologisch als auch moralisch aufgeladenen Lichtmetaphorik in Verbindung gebracht: Das „Licht“ menschlicher Vernunfterkenntnis sichert in diesen allegori‐ schen Umschreibungen sowohl Wahrheit bzw. Erkenntnis (ein besonders eindrucksvolles Bei‐ spiel Fichte 1986) als auch moralisch-politische Integrität; vgl. auch Hölscher 1979, S. 129. 40 Kant 1870. Dieser Aussage liegt eine gesinnungsethische Auffassung zugrunde: Unter Abwe‐ senheit „sinnlicher Triebfedern“ würde die Erkenntnis in die Richtigkeit einer Norm folgerich‐ tig in moralisch gutes Handeln, das heißt dem „guten Willen“ bzw. dem kategorischen Impera‐ tiv entsprechende Handlungen, münden.

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liche Geben und Nehmen von Gründen die politische Selbstbestimmung der Bürger realisiert: „Weil das öffentliche Räsonnement der Privatleute überzeugend den Charakter einer ge‐ waltlosen Ermittlung des zugleich Richtigen und Rechten behauptet, kann auch eine, auf die öffentliche Meinung sich zurückbeziehende Gesetzgebung nicht ausdrücklich als Herrschaft gelten [...].“41

Aus deliberationstheoretischer Perspektive wird der maßgebliche Grund für die Wertschätzung von Publizität häufig in ihrem Potenzial gesehen, die Rationalität von Entscheidungsfindungs- und Aushandlungsprozessen zu befördern. Habermas selbst fasst unter Bezugnahme auf Kant zusammen: „Wie die Arkana einer Aufrechterhal‐ tung der auf voluntas gegründeten Herrschaft, so soll Publizität der Durchsetzung einer auf ratio gegründeten Gesetzgebung dienen.“42 Analog zu Kant stellt er eben‐ falls fest, „[...d]ie 'Herrschaft' der Öffentlichkeit [...sei, D. F.] ihrer eigenen Idee zu‐ folge eine Ordnung, in der sich Herrschaft überhaupt auflöst; veritas non autoritas facit legem“.43 Habermas erhält den bei Kant entscheidenden kognitivistischen Ne‐ xus von Sachangemessenheit und normativer Güte in seiner politischen Theorie auf‐ recht. Während Kant jedoch davon ausgeht, dass die Vernünftigkeit von Gesetzen prinzipiell auch durch ein monologisches Verfahren gesichert werden könnte, muss Volkssouveränität bei Habermas durch ein alle Entscheidungsbetroffenen inkludie‐ rendes Verfahren realisiert werden: Die Richtigkeit bzw. Vernünftigkeit von Geset‐ zen muss in gesellschaftsweit implementierten „dialogischen“ Abwägungs- und De‐ liberationsprozessen gewährleistet werden.44 Das Publizitätsprinzip wird auch von kontemporären Deliberationstheoretikern unter Berufung auf Habermas vorausge‐ setzt: „The reasons that officials and citizens give to justify political actions, and the informati‐ on necessary to assess those reasons, should be public. This principle of publicity is a fundamental requirement of deliberative democracy.“45

Aus Perspektive der deliberativen Demokratietheorie erklären zwei zentrale Mecha‐ nismen den positiven Effekt von Transparenz bzw. Publizität und prädestinieren da‐ mit öffentliche Deliberationen im Kontrast zu „verborgenen“ oder „privaten“ dazu, eine legitime demokratische Gesetzgebung zu realisieren. Zum Ersten befördert die Öffentlichkeit einer argumentativen Auseinandersetzung eine kritische Prüfung der vorgebrachten Gründe und Positionen durch die Deliberierenden. Zum Zweiten be‐ fördert sie die Gemeinwohlorientierung der vorgebrachten Argumentationen: „The democratic dynamic makes obviously selfish, narrow or sectarian defenses of public 41 42 43 44 45

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Kant 1977, S. 152. Habermas 1991, S. 118. Habermas 1991, S. 153. McCarthy 1994; Leydet 1997. Gutmann/Thompson 1996, S. 95.

policy, especially public policy concerning moral disagreement or fundamental law, difficult to pursue in public.“46 Chambers hebt allerdings zu Recht hervor, dass eine kontextsensitive Evaluation des Wertes von Transparenz erforderlich ist und dass sich die von ihr angesproche‐ nen Mechanismen in Abhängigkeit von Zielsetzung und Gegenstandsbereich auswir‐ ken können. Dies erschwert eine generelle Aussage über den Wert von Transparenz bzw. Öffentlichkeit im demokratischen Prozess und gilt insbesondere, wenn die Be‐ deutung des Publizitätsideals – wie im Falle von Habermas’ politischer Theorie – für heterogene, gesellschaftsweit stattfindende Kommunikations- und Aushandlungs‐ prozesse beurteilt werden soll.47 Unter bestimmten Bedingungen können die Mecha‐ nismen, die für eine Erklärung des „publicity effects“ herangezogen werden, auch das Gegenteil, das heißt einen positiven Effekt von „secrecy“ erklären. So kann sich Publizität beispielsweise nachteilig auf die formale Qualität der vorgebrachten Argu‐ mente auswirken: „the critical quality of deliberation will decrease as audience size increases“.48 Nicht-öffentliche deliberative mini-publics werden aus diesem Grund von deliberativen Theoretikern häufig als potenzielle „safe havens of deliberation“ betrachtet, in denen insbesondere die kritische Prüfung und sorgfältige Entwicklung von Argumentationen sowie die Berücksichtigung komplexer Zusammenhänge bes‐ ser gelingt als in der breiten Öffentlichkeit.49 Obgleich Chambers Forderung, den Wert von Publizität bzw. „secrecy“ für ver‐ schiedene Kontexte und Funktionen deliberativer Praktiken differenziert zu diskutie‐ ren, dem Tenor dieses Beitrages entspricht, berücksichtigt sie eine aus gesellschafts‐ theoretischer Perspektive entscheidende Funktion von demokratischer Deliberation gar nicht erst: Neben der Sachangemessenheit und ethischen Güte von politischen Ergebnissen haben Deliberationsverfahren im in „Faktizität und Geltung“ dargestell‐ ten Modell die Funktion, die gesamtgesellschaftliche Inklusion aller Bürger in politi‐ sche Entscheidungsprozesse zu gewähren und die Stabilität bzw. Sozialintegration der demokratischen Gesellschaft zu befördern (siehe Kapitel 2.1.).

46 Chambers 2004, S. 390-391. 47 „The democratic public sphere is a huge and amorphous entity that is not really one public sphere but many public spheres made up of countless crisscrossing conversations in a multipli‐ city of venues from talk radio to house committees, newspaper editorials to Greenpeace mee‐ tings. It is of course always risky to make sweeping generalizations about this fictional con‐ struct. Questions of closed versus open doors need to be addressed in each context [...]“ (Chambers 2004, S. 409). 48 Chambers 2004, S. 389. 49 Chambers 2004, S. 400; vgl. unter anderem Niemeyer/Dryzek 2007.

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3. Der positive Beitrag nicht-publiker Kommunikation und Deliberation für demokratische Legitimität und politische Stabilität Im Folgenden wird auf die besondere Bedeutung lebensweltlichen Kommunikatio‐ nen eigegangen. Diese entziehen sich zwar dem Blick der Öffentlichkeit, aber sie er‐ füllen eine besondere Funktion demokratischer Deliberation.

3.1. Nicht-öffentliche politische Verfahren und verborgene Kommunikationsprozesse in der Lebenswelt In der europäischen Aufklärung kam es parallel zur „wachsenden moralischen, rechtlichen und staatstheoretischen Verurteilung des Geheimnisses“ auch zur Grün‐ dung zahlreicher dem Zugriff der Öffentlichkeit entzogener Kommunikationssphä‐ ren („Geheimbünde“ und „Geheimgesellschaften“).50 Dieses scheinbare Paradox wird aus liberaler Perspektive aufgelöst, indem sowohl eine lebendige politische Öf‐ fentlichkeit als auch das „Recht auf Privatheit“ als Mechanismen der Begrenzung und Kontrolle staatlicher Gewalt interpretiert werden.51 Damit steht die Entwicklung von „geheimen“ bzw. nicht-öffentlichen Kommunikationsräumen „zu der Forderung nach der Transparenz staatlichen Handelns eher in einem Komplementär- denn in einem Spannungsverhältnis“.52 Dieses Kapitel widmet sich der Bedeutung vor der Öffentlichkeit verborgener Sphären demokratischer Kommunikation für die Realisierung der in „Faktizität und Geltung“ entfalteten Legitimitätsideale: Lebensweltliche Kommunikationssphären sind eine zentrale Voraussetzung und „Ressource“ legitimitätsstiftender Deliberati‐ onsprozesse. Zugleich stellen sie eine Grenze von öffentlicher Thematisierbarkeit und Kommunizierbarkeit dar. In „Faktizität und Geltung“ versteht Habermas unter der Lebenswelt „ein Netzwerk aus kommunikativen Handlungen“, das die „Gesamt‐ heit legitim geordneter interpersonaler Beziehungen“ umfasst.53 Die „Kernbereiche“ der Lebenswelt bestehen in den basalen Interaktionen und Beziehungen „zwischen Verwandten, Freunden, Bekannten usw.“ und sind folgerichtig „durch Intimität, also Schutz vor Publizität gekennzeichnet“.54 Die präzise Definition von Habermas‘ Konzept der Lebenswelt wird dadurch erschwert, dass er in verschiedenen Werkpha‐ sen und Kontexten kategorial unterschiedliche „Gegenstände“ mit diesem Begriff zu bezeichnen scheint, einen „shifting notion of the ‚life-world‘“ verwendet: Die Le‐ benswelt gilt zuweilen als „Netzwerk“, zuweilen als „Funktionsbereich“, als „Hin‐ 50 51 52 53 54

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Wegener 2006, S. 187. Ritzi 2017, S. 182; Warren/Brandeis 1890. Wegener 2006, S. 187. Habermas 1998, S. 429. Habermas 1998, S. 429.

tergrund kommunikativen Handelns“, als „Perspektive auf die Gesellschaft“ oder als „Handlungssphäre“.55 Für die Zwecke dieses Beitrages werde ich „Lebenswelt“ als Oberbegriff für Handlungs- bzw. Kommunikationssphären verwenden, die außerhalb von Zentrum und politischer Öffentlichkeit liegen, das heißt in der Privat- und In‐ timsphäre der Bürger. In der „Theorie des kommunikativen Handelns“ führt Habermas die Lebenswelt zunächst als „de[n] transzendentale[n] Ort, an dem sich Sprecher und Hörer begeg‐ nen“ ein: Durch die Strukturen der Lebenswelt werden „die Formen der Intersubjek‐ tivität möglicher Verständigung fest[gelegt, D. F.]“. Da jede Form von sprachlicher Auseinandersetzung „innerhalb des Horizonts“ dieser Strukturen stattfindet, ver‐ wehrt sich die Lebenswelt einer Second-Order-Beschreibung, das heißt einer The‐ matisierung aus der Beobachterperspektive: „Mit einem Satz: zu Sprache und Kultur können die Beteiligten in actu nicht dieselbe Distanz einnehmen wie zur Gesamtheit der Tatsachen, Normen oder Erlebnisse, über die Verständigung möglich ist.“56

Auf der einen Seite verwendet Habermas das Konzept der Lebenswelt also, um auf den „horizontbildende[n...] Kontext“ gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse hinzuweisen. Dieser horizontbildende Charakter von lebensweltlichen Zusammen‐ hängen erschwert eine Kommunikation mit Teilnehmern grundlegend verschiedener Kontexte über die eigene Lebenswelt und wird unten (Kapitel 4.) noch einmal aufge‐ griffen. Für die Rekonstruktion und Analyse der Gesellschaften, in denen er selbst agiert, entwickelt Habermas jedoch ein „Alltagskonzept der Lebenswelt“,57 das er auch in seiner politischen Theorie in „Faktizität und Geltung“ überwiegend verwen‐ det. Die Lebenswelt hat aus gesellschaftstheoretischer Perspektive drei zentrale Funk‐ tionen: Sie sorgt für die kulturelle Reproduktion, die individuelle Sozialisation sowie die Sozialintegration der Gesellschaft.58 Insbesondere die sozialintegrative Funktion lebensweltlicher kommunikativer Praxen wird in diesem Beitrag als eine entschei‐ dende empirische Voraussetzung für die Realisierung des deliberativen Ideals thema‐ tisiert. Die „Rationalisierung der Lebenswelt“ sieht Habermas aus historischer Per‐ spektive unter anderem in Prozessen der Säkularisierung, der Entwicklung universa‐ listischer Vorstellungen von Moral und Recht sowie der Entstehung einer politischen Öffentlichkeit manifestiert. Eine „rationalisierte Lebenswelt“ begreift Habermas als zentrale gesellschaftliche Voraussetzung für legitimitätsstiftende demokratische De‐ liberation und damit für das in „Faktizität und Geltung“ entwickelte politische Ideal:

55 56 57 58

Baxter 1987, S. 73-78. Habermas 1981a, S. 192. Habermas 1981a, S. 208. Habermas 1981b, S. 209.

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„Je weiter die strukturellen Komponenten der Lebenswelt und die Prozesse, die zu deren Erhaltung beitragen, ausdifferenziert werden, um so mehr treten die Interaktionszusam‐ menhänge unter Bedingungen einer rational motivierten Verständigung, also einer Kon‐ sensbildung, die sich letztlich auf die Autorität des besseren Arguments stützt.“59

Neben den sozialintegrativen, sozialisationsbezogenen und kulturellen Funktionen, die die Lebenswelt in der alltagssprachlichen Verwendung des Begriffes erbringen soll, hat auch das transzendentale Verständnis des Konzeptes bedeutsame Implika‐ tionen für Habermas‘ Verständnis demokratischer Gesellschaften: Es suggeriert, dass die basalen Strukturen, in und durch die wir miteinander kommunizieren, nicht im eigentlichen Sinne thematisier- bzw. kritisierbar sind. Die Art und Weise, wie das „Geben und Nehmen von Gründen“ in unserer jeweils eigenen Gesellschaft funktio‐ niert, kann – z.B. im Hinblick auf die Funktionsweise der verwendeten Sprache und hinsichtlich kulturell bedingter Aspekte unserer Verständigungspraxis – nicht selbst Gegenstand von Erkenntnis oder (argumentativen) Thematisierungen sein. Dies macht eine Lebenswelt, der wir nicht zugehörig sind, aus prinzipiellen bzw. erkennt‐ nistheoretischen Gründen intransparent. Kapitel 4. dieses Beitrages beleuchtet die Implikationen dieses Verständnisses für aktuelle, durch Pluralismus und Digitalisie‐ rung induzierte, demokratische Herausforderungen.

3.2. Funktionen verborgener Kommunikationsräume: die Lebenswelt als Ressource legitimitätsstiftender Deliberation und Ort der Sozialintegration Demokratische Selbstbestimmung wird in Habermas‘ Konzeption durch eine Viel‐ zahl von politischen Verfahren realisiert. Diese inkludieren alle entscheidungsbetrof‐ fenen Bürger unter Bedingungen rechtsstaatlich garantierter Freiheit und Gleichheit und führen zu sowohl sachangemessenen als auch ethisch akzeptablen politischen Entscheidungen. Während im liberalen Paradigma das primäre Ziel von gesellschaft‐ lichen Ordnungen und Institutionenarrangements darin gesehen wird „to enable indi‐ viduals to enjoy a private life immune from public invasion“, nimmt Habermas von vornherein eine andere Gewichtung vor: Er sieht das vorrangige Ziel demokratischer Institutionen in der Ermöglichung einer öffentlichen Debatte.60 Sphären nicht-öffent‐ licher, verborgener Kommunikation haben aus dieser Perspektive jedoch „eine emi‐ nent politische Funktion“: Herausbildung und Artikulation von Meinungen sollen in einer dem Zugriff staatlicher Autoritäten entzogenen Schutzzone stattfinden, sodass eine „freie“ Bedürfnisartikulation und der Austausch über selbige ermöglicht wer‐ den.61 59 Habermas 1981a, S. 218. 60 Dryzek 2002, S. 12. 61 Wegener 2006, S. 194; Knobloch 2017, S. 211.

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Die Publizität von Aushandlungs- und Rechtfertigungsverfahren befördert aus de‐ liberationstheoretischer Perspektive durch verschiedene Mechanismen die Realisie‐ rung epistemisch hochwertiger politischer Verfahren (siehe Kapitel 2.2.).62 Haber‐ mas weist jedoch darauf hin, dass „resonanzfähige und autonome Öffentlichkeiten [...] auf das Entgegenkommen einer rationalisierten Lebenswelt[...]“ angewiesen sei‐ en:63 „Eine politisch fungierende Öffentlichkeit braucht nicht nur die Garantien rechtsstaatli‐ cher Institutionen, sie ist auch auf das Entgegenkommen von kulturellen Überlieferungen und Sozialisiationsmustern, auf die politische Kultur einer an Freiheit gewöhnten Bevöl‐ kerung angewiesen.“64

Legitimitätsstiftende Prozesse der Meinungs- und Willensbildung werden zwar durch das – exemplarisch in Faktizität und Geltung vorgeschlagene – institutionelle Arrangement ermöglicht. Gelingende Deliberation benötigt jedoch Bürger, die von diesen Voraussetzungen und Strukturen aktiv Gebrauch machen. Damit hat Haber‐ mas‘ Legitimitätsideal Voraussetzungen auf der Mikroebene, d.h. es bedarf Bürger mit geeigneten Einstellungen und Dispositionen. Um diese – letztlich individualpsy‐ chologischen – Voraussetzungen des deliberativen Ideals zu gewährleisten sind die Sozialisations-, Integrations- und kulturellen Reproduktionsfunktionen lebensweltli‐ cher Kontexte essentiell. Daher werden lebensweltliche Zusammenhänge werden als zentrale Ressource für gelingende „deliberativ gefilterte[...] politische[...] Kommuni‐ kationen begriffen.65 Insbesondere die in der Privat- und Intimsphäre der Bürger lo‐ kalisierten lebensweltlichen Kommunikationssphären sind nicht nur dem Zugriff staatlicher Macht, sondern auch den für das politisch-administrative System gelten‐ den Öffentlichkeitsgeboten entzogen. An dieser Stelle werden die Funktionen le‐ bensweltlicher Zusammenhänge unter spezifischer Berücksichtigung ihres nicht-öf‐ fentlichen Charakters erörtert.66 Wie im vorigen Abschnitt diskutiert, geht Habermas in der „Theorie des kommu‐ nikativen Handelns“ davon aus, dass lebensweltliche Zusammenhänge ihre zentralen gesellschaftlichen Funktionen „im Medium der Sprache“ erfüllen, das heißt dadurch, dass „sich die Interaktionsteilnehmer miteinander über ihre Situation verständi‐

62 Inwiefern diese Mechanismen wirksam werden, das heißt die Publizität von Verfahren tatsäch‐ lich einen positiven Einfluss auf die Realisierung des demokratischen Ideals hat, muss kontext‐ abhängig beurteilt werden, da konkrete Deliberationen in verschiedenen, funktional differen‐ zierten Kommunikationssphären stattfinden (Chambers 2004). 63 Habermas 1998, S. 434. 64 Habermas 1991, S. 45. 65 Habermas 1998, S. 366. 66 Die politische Öffentlichkeit gilt in „Faktizität und Geltung“ als Teil der lebensweltlichen Ein‐ bettung von politischen Institutionen und Entscheidungsprozessen. An dieser Stelle betrachte ich ausschließlich in der Privat- und Intimsphäre lokalisierte und damit nicht öffentliche Kom‐ munikationszusammenhänge.

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gen“.67 Indem Bürger diese Verständigungsleistung erbringen, „stützen [sie, D. F.] sich [zugleich, D. F.] auf Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen und bekräftigen [...] deren Integration“.68 Eine essenzielle Funktion demokratischer Kommunikation, die in den einschlägigen Publikationen von Chambers (2004) sowie Gutmann und Thompson (1996) weitgehend vernachlässigt wird, besteht folglich in der Erzeugung von gesellschaftlichem Zusammenhalt und Solidarität:69 „Die sozialintegrative Kraft kommunikativen Handelns hat ihren Ort zunächst in jenen partikularen Lebensformen und Lebenswelten, die mit jeweils konkreten Überlieferungen und Interessenlagen verflochten sind – nach Hegels Worten in der Sphäre der ‚Sittlich‐ keit‘.“70

Chambers geht in dem bereits zitierten Aufsatz davon aus, dass in kleineren Grup‐ pen häufig argumentativ hochwertigere Deliberationsverfahren stattfinden.71 Auf Basis der Auseinandersetzung mit Habermas‘ Verständnis lebensweltlicher Kommu‐ nikationszusammenhänge und ihrer Funktionen wird deutlich, dass nicht nur die ar‐ gumentative Qualität von Deliberationen durch einen „Schutz“ vor Öffentlichkeit gewinnen kann. In geschützten kommunikativen Räumen, z.B. der Familie oder des Freundeskreises, wird auch die Identifikation und Formung von „authentischen“ Präferenzen psychologisch erleichtert. Kommunikationsräume, die Individuen wäh‐ rend dieses Prozesses nicht dem Druck der öffentlichen Wahrnehmung und Bewer‐ tung aussetzen, sind tendenziell geeigneter für die Herausbildung authentischer Prä‐ ferenzen, die im nächsten Schritt in öffentliche Debatten und Entscheidungsverfah‐ ren eingespeist werden können.72 Unter Einbezug von Habermas‘ Funktionsbeschreibung in Privat- und Intimsphä‐ re lokalisierter kommunikativer Praktiken wird eine weitere Funktion nicht-öffentli‐ cher Verständigung deutlich: „Verständigung ist [...] für Habermas eine alternativlo‐ se und unausweichliche Praxis, um ein relativ störungsfreies Integrationsniveau zu gewährleisten und gewaltförmige Muster der Konfliktbewältigung zu vermeiden.“73 Eine nicht-öffentliche Verständigung über Situationsdeutungen und abweichende Positionen ist entscheidend für die Generierung von Empathie für Vertreter abwei‐ chender Positionen und Zugehörige anderer Gruppen bzw. Identitäten. Obgleich Ha‐ bermas insbesondere in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ auf diesen identitätsstiftenden und solidaritätsgenerierenden Charakter von Kommunikationen 67 68 69 70 71 72

Habermas 1981a, S. 208. Habermas 1981b, S. 208. Habermas 1981a, S. 211. Habermas 1991, S. 36. Chambers 2004, S. 389. Niemeyer (2011) untersucht in einer Studie die psychologischen und kognitiven Effekte in mi‐ ni-publics lokalisierter Erfahrungen und adressiert speziell die Identifikation von individuellen Präferenzen und „subjective desires“ sowie den Effekt von Deliberationsverfahren in geschlos‐ senen Settings auf die „intersubjektive Konsistenz“ zwischen beiden Dimensionen. 73 Heming 2000, S. 62.

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eingeht, werden die zugrunde liegenden Mechanismen in der jüngeren Deliberati‐ onstheorie, häufig unter Beruf auf eine Bewegung „back to Habermas“,74 expliziter benannt. Rosenberg hebt hervor, dass Empathie bzw. Solidarität zwischen den Parti‐ zipierenden und qualitativ hochwertige Deliberation sich wechselseitig voraussetzen und bestärken können: „Thus, while communication depends on caring/empathy for the orientation to others it requires, communication also can foster those emotions. Similarly while communication depends on common identification and community for the orientation to the common good it needs, it also can generate them.“75

Die durch verborgene Kommunikationen generierten Funktionsvoraussetzungen des in „Faktizität und Geltung“ vorgeschlagenen Demokratiemodells bestehen maßgeb‐ lich in gesellschaftlicher Solidarität bzw. Toleranz und Respekt für abweichende Po‐ sitionen. Diese sozialintegrative Leistung ist für die langfristige Stabilität von politi‐ schen Gemeinschaften essenziell, auch aber kurzfristiger für die Akzeptanz kontro‐ verser politischer Verfahren und Ergebnisse von Bedeutung. Wie in diesem Ab‐ schnitt skizziert wurde, können diese Leistungen besonders gut in Kommunikatio‐ nen erreicht werden, die durch Intimität gekennzeichnet, also vor dem Blick der Öf‐ fentlichkeit geschützt sind. Habermas geht von einer komplexen Beziehung zwischen diesen Publizität entzo‐ genen Kommunikationsprozessen und (tendenziell öffentlichen) politischen Verfah‐ ren im engeren Sinne aus: „[...D]ie solidaritätsstiftenden Energien dieser Lebenszu‐ sammenhänge übertragen sich nicht unvermittelt auf die politische Ebene des demo‐ kratischen Verfahrens für den Macht- und Interessenausgleich.“76 Eine Gesellschaft mit gelingenden Mechanismen der Sozialintegration, gelingender kultureller Repro‐ duktion und Sozialisation ist damit notwendig, aber nicht hinreichend für eine Reali‐ sierung des deliberativen Demokratieideals. Die adäquate Übersetzung von Kommu‐ nikationsprozessen in lebensweltlichen Zusammenhängen in legitimitätsstiftende öf‐ fentliche Deliberationen ist ein allgemeines Problem. Dieses potenziert sich aus Ha‐ bermas‘ Perspektive in zunehmend pluralistischen, komplexen Gesellschaften, „[...] wo eine Homogenität der Hintergrundüberzeugungen nicht vorausgesetzt werden kann und ein präsumtiv gemeinsames Klasseninteresse dem unübersichtlichen Plura‐ lismus gleichberechtigt konkurrierender Lebensformen gewichen ist“.77 Das folgen‐ de Kapitel thematisiert die Implikationen aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen für die Bewertung verborgener Kommunikationen in demokratischen Systemen.

74 Gemeint sind hier besonders Vertreter der „vierten Generation“ deliberativer Demokratietheo‐ rie (Elstub u.a. 2016), exemplarisch Mansbridge u.a. (2012), Dryzek (2002), Dryzek/Niemeyer (2012). 75 Rosenberg 2007, S. 355. 76 Habermas 1991, S. 36f. 77 Habermas 1991, S. 36f.

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4. Eine neue Balance transparenter und verborgener demokratischer Kommunikation? – Digitalisierung und Pluralismus als Herausforderungen für Habermas‘ Modell Habermas stellt hohe Transparenzanforderungen an den politischen Prozess und geht davon aus, dass die Publizität von Verfahren die Form und den inhaltlichen Gehalt von Deliberationsprozessen positiv beeinflusst. Die Realisierung der von Habermas vorgeschlagenen politischen Ordnung (siehe Kapitel 2.1.) hat empirische Vorausset‐ zungen. Wie Habermas im „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ deutlich macht, ist das Ideal der bürgerlichen Öffentlichkeit, die ein freies Räsonnement der Privatleute ermöglicht und die entsprechenden – in Anlehnung an Kants Politische Philosophie typisierten – politischen Funktionen erfüllt, schon unter den gesellschaftlichen Rah‐ menbedingungen der 1960er-Jahre problematisch.78 Im Kontext seiner Kritik des Funktionswandels der politischen Öffentlichkeit erörtert Habermas: „Einst mußte Publizität gegen die Arkanpolitik des Monarchen durchgesetzt werden: sie suchte die Person oder Sache dem öffentlichen Räsonnement zu unterwerfen und machte politische Meinungen vor der Instanz der öffentlichen Meinung revisionsfähig. Heute wird Publizität umgekehrt mit Hilfe einer Arkanpolitik der Interessen durchgesetzt: sie erwirbt einer Person oder Sache öffentliches Prestige und macht sie dadurch in einem Klima nicht-öffentlicher Meinung akklamationsfähig.“79

Dieser Beitrag hat dafür argumentiert, dass in lebensweltlichen Kontexten stattfin‐ dende nicht-öffentliche, „verborgene“ Kommunikationen eine zentrale Ressource für legitimitätsstiftende Deliberationsprozesse und Volkssouveränität realisierende Ver‐ fahren darstellen und in diesem Sinne Funktionsvoraussetzungen einer deliberativen Demokratie sind. Habermas erörtert im Vorwort der im Jahr 1990 erschienenen Aus‐ gabe des „Strukturwandels“, dass diese verborgenen Kommunikationen nur dann die im Modell vorgesehene Funktion erfüllen können, wenn die Bürger einer Gemein‐ schaft weitgehend „homogene Hintergrundüberzeugungen“ und Einstellungsmuster aufweisen:80 In pluralistischen, komplexen Gesellschaften wird es zunehmend un‐ wahrscheinlich, dass die in privaten und intimen Zusammenhängen generierten Prä‐ ferenzen, Solidaritäten und Identitäten tatsächlich konsensualen, im Interesse aller liegenden deliberativen Entscheidungsfindungsprozessen zuträglich sind. Neben Diskussionen über den demokratischen Umgang mit zunehmend kulturell, sozial und politisch heterogenen Gemeinschaften81 sind vor allem digitalisierungsin‐ duzierte Transformationen liberaler Demokratien ein derzeit hochfrequent zitierter zeitdiagnostischer Topos. Durch Digitalisierungsprozesse transformiert sich nicht 78 79 80 81

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Knobloch 2017, S. 218. Habermas 1991, S. 299-230. Habermas 1991, S. 36f. Vgl. z. B. Mutz 2001, 2006; Mouffe 2017; Rawls 2011; Galston 2017; Valadez 2018.

nur die mediale Basis von Kommunikation; vielmehr finden gesamtgesellschaftliche Transformationsprozesse statt, die auch die lebensweltlichen Voraussetzungen und Ressourcen politischer Debatten verändern.82 Dieses Kapitel beleuchtet das Zusam‐ menspiel beider Aspekte und ihre Implikationen für das oben rekonstruierte Verhält‐ nis der Werte „Transparenz“ und „Verborgenheit“: (1) Eine zunehmende Heterogeni‐ tät von Einstellungsmustern und kulturellen Hintergründen erschwert es in Verbin‐ dung mit der Transformation der medialen Landschaft, im Allgemeininteresse lie‐ gende Entscheidungen aus „lebensweltlichen“ – privaten und intimen – Verständi‐ gungsprozessen zu speisen.83 (2) Die unter Bezugnahme auf Habermas‘ „transzen‐ dentales“ Konzept der Lebenswelt84 theoretisierte Unzugänglichkeit anderer lebens‐ weltlicher Kontexte wirkt potenziell als „Verstärker“ dieses Effekts und erschwert einen produktiven demokratischen Umgang mit ihm. Durch digitalisierungsinduzierte Veränderungen von Kommunikationsmedien verändert sich die Grenzziehung zwischen „privaten“ bzw. „intimen“ und „öffentli‐ chen“ Kommunikationen: Private oder intime Verständigungsprozesse, die zuvor an Raum und Zeit sowie persönliche Face-to-Face-Interaktionen gebunden waren, sind durch ihre anteilige Verlagerung auf Social-Media-Plattformen oder beispielsweise in Onlineforen zumindest potenziell öffentlich einsehbar. Ein interessantes Parado‐ xon besteht darin, dass parallel hierzu in der Forschungsliteratur eine zunehmende „Fragmentierung“ des Diskurses sowie die Bildung von kommunikativen Filterbla‐ sen diagnostiziert werden.85 Diese „kommunikativen Blasen“ oder „Echokammern“ entstehen und persistieren in heterogenen, digitalisierten Gesellschaften, da die indi‐ viduelle kognitive Verarbeitungskapazität bei Steigerung der Menge und Komplexi‐ tät zur Verfügung stehender Information konstant gehalten wird und Nutzer auf al‐ gorithmisch gefilterte Ausschnitte von Diskursen zurückgreifen.86 Die Bildung der‐ artiger „Echokammern“ birgt jedoch nicht nur die Gefahr, dass bestimmte (über po‐ litische Identitäten oder andere Zugehörigkeiten differenzierte) Gruppen sich de fac‐ to nicht mehr miteinander verständigen. Vielmehr droht unter Bedingungen digitali‐ sierter Kommunikationssphären die Gefahr, dass die in verschiedenen kommunikati‐ ven Blasen angewendeten Rationalitäten und Hintergrundüberzeugungen immer we‐ niger an gemeinsame öffentliche Diskurse und Debatten rückgekoppelt werden, so‐ dass bestimmte Gruppen die Einstellungen und Positionen anderer gar nicht mehr nachvollziehen können.87

82 Vgl. zu Digitalisierung als „gesamtgesellschaftlicher Transformation“ Reckwitz 2017; Stalder 2016; Baecker 2017; Silver 2012. 83 Habermas 1991, S. 36-37. 84 Habermas 1981a, S. 123. 85 Exemplarisch Sunstein 2017; Dahlberg 2007; Webster/Ksiazek 2012; Flaxman u.a. 2016. 86 Sunstein 2017, S. 64. 87 Sunstein 2017, S. 63-65.

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Digitalisierungsinduzierte Veränderungen – die Bildung kommunikativer Blasen – wirken damit als Verstärker für die Herausforderungen, die gesellschaftliche Hete‐ rogenität für die Realisierung des deliberativen Ideals darstellen. Unter Rekurs auf Habermas‘ transzendentales Konzept der Lebenswelt kann zudem deutlich gemacht werden, dass diese Entwicklungen demokratische Gesellschaften auf einer funda‐ mentaleren Ebene gefährden können: Sie bedrohen auch die sozialintegrative Funk‐ tion von Deliberation, wenn in verschiedenen lebensweltlichen Kontexten stark dis‐ parate „Sprachspiele“, Rationalitäten und Hintergrundüberzeugungen zur Geltung kommen. Denn Lebenswelten haben aus der Teilnehmerperspektive einen transzen‐ dentalen Charakter, das heißt sie stellen einen „Horizont [dar, D. F.], innerhalb des‐ sen sich Kommunikationsteilnehmer [‚immer schon‘] bewegen, wenn sie sich the‐ matisch auf etwas in der Welt beziehen“.88 Dies impliziert, dass es unmöglich ist, aus den Grundstrukturen der eigenen Lebenswelt herauszutreten und die kommunikati‐ ven Praxen lebensweltlicher Zusammenhänge zu verstehen, in denen grundlegend abweichende Rationalitäten angewendet werden. „Kommunikativ rational“ zu agie‐ ren, setzt neben basalen – für das Geben und Nehmen von Gründen erforderlichen – kognitiven Fähigkeiten auch die Anschlussfähigkeit der vorausgesetzten und vertre‐ tenen Geltungsansprüche und Hintergrundüberzeugungen voraus.89 Wenn diese gro‐ ßenteils sozialisations- und kulturell bedingten Gemeinsamkeiten erodieren, schwin‐ det auch die Möglichkeit, Verständigung durch Kommunikation herbeizuführen. Aus deliberationstheoretischer Perspektive erfordert dies eine konstruktive Auseinander‐ setzung mit verschiedenen „deliberativen Kulturen“ und den korrespondierenden Rationalitäten bzw. Kommunikationsstilen.90 Herausforderungen für das von Habermas in „Faktizität und Geltung“ vorgeschla‐ gene Modell deliberativer Demokratie – und für das Potenzial aktueller Gesellschaf‐ ten, diesem gerecht zu werden – stellen diese Entwicklungen aus zwei Perspektiven dar: Zum einen haben dem Blick der Öffentlichkeit entzogene, verborgene Kommu‐ nikationen in Privat- und Intimsphäre bedeutsame Funktionen für das Gelingen eines sozialintegrativen politischen Prozesses (siehe Kapitel 2.1., 3.2.). Zum anderen kön‐ nen kommunikative Zusammenhänge, die von den Mitgliedern anderer lebensweltli‐ cher Kontexte nicht verstanden werden können, politisch instrumentalisiert werden: Die von Sunstein beschriebene „divided democracy“ ist auch dadurch ausgezeich‐ net, dass kulturelle und milieubedingte Diskrepanzen von politischen Eliten macht‐ politisch genutzt werden: Eine konsensuale oder im – wie auch immer definierten – gemeinsamen Interesse liegende, kooperativ erzeugte Politik soll hier gar nicht er‐ reicht werden; vielmehr findet eine Mobilisierung des eigenen Klientel statt, die ge‐ rade deshalb funktioniert, weil die Rationalitäten und Hintergrundüberzeugungen 88 Habermas 1981a, S. 123; vgl. S. 182. 89 Habermas 1981a, S. 34. 90 Vgl. z. B. Sass/Dryzek 2014; Ercan 2017; grundlegend Young 2002.

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anderer Bevölkerungsgruppen nicht verstehbar sind – oder zumindest als „nicht ver‐ stehbar“ repräsentiert werden. Die verborgene „kommunikative Macht“ lebenswelt‐ licher Zusammenhänge wird damit zu einem aus Perspektive der Bürger intranspa‐ renten Machtpotenzial für politische Eliten.

5. Fazit „Publizität“ gilt seit der europäischen Aufklärung als demokratisches Ideal. Im An‐ schluss an und in kritischer Auseinandersetzung mit Kant entwickelt Habermas eine deliberative Konzeption demokratischer Gesellschaften, die sowohl der Transparenz von Aushandlungsprozessen im Allgemeinen als auch der politischen Öffentlichkeit eine herausgehobene Rolle zuschreibt. Theoretische Debatten zur Transparenz und Verborgenheit von Deliberationsprozessen fokussieren zumeist Verfahren, die im Zentrum des politisch-administrativen Systems stattfinden. Einem in vielen demo‐ kratietheoretischen Traditionen bekannten Argument zufolge darf und soll die Öf‐ fentlichkeit dieser Verfahren in Abhängigkeit von der Materie eingeschränkt wer‐ den.91 Der Fokus explizit deliberationstheoretischer Auseinandersetzungen liegt auf dem Beitrag von Transparenz und Verborgenheit zur Realisierung epistemischer Ideale.92 Der vorliegende Beitrag argumentiert, dass diese Auseinandersetzungen aus zwei Perspektiven ein unterdifferenziertes Verständnis des Wertes nicht-publiker Kommu‐ nikationssphären in Demokratien entwickeln: Es konnte gezeigt werden, dass vor Publizität geschützte Kommunikation weder primär unter Rekurs auf ein individuel‐ les Abwehrrecht zu begründen ist noch lediglich durch die (kontextabhängig erwart‐ bare) Verbesserung der epistemischen Qualität der Ergebnisse zu legitimieren ist. Vielmehr befördert eine sozialintegrative Verständigung in dem Blick der der Öf‐ fentlichkeit entzogenen, „peripheren“ lebensweltlichen Zusammenhänge den gesell‐ schaftlichen Zusammenhalt sowie die Stabilität von demokratischen Systemen.93 „Absolute Transparenz“ und staatliche Überwachungen privater zwischenmenschli‐ cher Interaktionen stellen damit nicht nur eine Rechtsverletzung dar, sondern zerstö‐ ren die Voraussetzungen und Ressourcen für gelingende deliberativ-demokratische Praxis. Hiermit wird eine vom Mainstream gegenwärtiger deliberationstheoretischer Auseinandersetzungen abweichende Gewichtung der Ideale von Transparenz und Verborgenheit vorgenommen: Verborgene kommunikative Praxen sind eine notwen‐ dige Bedingung für die Realisierung legitimer und stabiler Demokratien. Das ab‐ schließende Kapitel des Beitrages geht davon aus, dass zeitgenössische Demokratien 91 Vgl. exemplarisch Thompson 1999. 92 Chambers 2004; Gutmann/Thompson 1996, S. 95-127. 93 Habermas 1981a, S. 213.

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durch pluralistische Bürgerschaften mit heterogenen Einstellungsmustern sowie di‐ gitalisierungsinduzierte Transformationen herausgefordert sind und durch die Kom‐ bination beider Faktoren vor allem ihre sozialintegrative Funktion zu verlieren dro‐ hen. Diese Herausforderung ist nicht nur eine praktisch-politische, sondern impli‐ ziert auch eine normativ-theoretische Aufgabe: Das Verhältnis von öffentlichen und nicht-öffentlichen kommunikativen Praxen und ihre Bedeutung für die Verwirk‐ lichung legitimer Demokratie müssen unter veränderten empirischen Bedingungen rekonzeptualisiert werden.

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Daniel Schulz Politik und Geheimnis. Der demokratische Verfassungsstaat zwischen Handlungsermächtigung und Unverfügbarkeitsbehauptungen

1. Einleitung Für den demokratischen Verfassungsstaat gilt das Verhältnis von Politik und Öffent‐ lichkeit als konstitutiv.1 Für das Verhältnis von Politik und Geheimnis gilt dies of‐ fenbar nicht: Das normativ motivierte Verdikt von Jeremy Bentham – „Secresy is an instrument of conspiracy; it ought not, therefore, to be the system of a regular go‐ vernment“2 – bringt die tiefe Skepsis liberaler Staatlichkeit gegenüber der Existenz nicht öffentlicher Handlungsräume zum Ausdruck und führt aus, was auch in der Friedensschrift von Immanuel Kant als „transzendente Formel des öffentlichen Rechts“ umrissen wurde: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht.“3

Kann es also sein, dass der demokratische Staat in normativer Hinsicht ohne Ge‐ heimnisse auszukommen hat? Schaut man genauer hin, so weist auch der liberale Diskurs bei aller Skepsis dem Geheimnis einen Raum zu. Kants Maxime plädiert schließlich keineswegs für eine absolute öffentliche Diskursivierung der bürgerli‐ chen Gesellschaft, sondern kennt – wie schon Hobbes vor ihm – einen klar vom öf‐ fentlichen Raum abgetrennten Raum der Privatgesinnung verständiger Teufel, die zwischen ihren amoralischen Eigeninteressen und ihrem öffentlichen Gesetzesgehor‐ sam zu unterscheiden vermögen. Daher lautet die Aufgabe eines klugen Gesetzge‐ bers auch, eine Menge von vernünftigen Wesen zu ordnen, „die insgesamt allgemei‐ ne Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber in Geheim sich davon aus‐ zunehmen geneigt ist“.4 Der private Verkehr und die persönliche Gesinnung bleiben also den Augen der Öffentlichkeit entzogen. Während Kant einen Raum des Verbor‐ genen immerhin für unschädlich hält, geht Bentham über ein solches Zugeständnis 1 Aus der Politischen Philosophie der Gegenwart wurde vorwiegend auf den konstitutiven Zu‐ sammenhang von Politik und Öffentlichkeit hingewiesen: Kant 1977, S. 191-251; Arendt 1993; Habermas 1990; Gerhardt 2012; Peters 2007. 2 Bentham 2014. 3 Kant 1977, S. 244f. 4 Kant 1977, S. 224.

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hinaus und glaubt gar an die politische Nützlichkeit abgeschirmter Handlungsberei‐ che. Ausnahmen vom Prinzip der Öffentlichkeit sind demnach für den Erhalt der staatlichen Ordnung notwendig: „It is not proper to make the law of publicity absolute, because it is impossible to foresee all the circumstances in which an assembly may find itself placed. Rules are made for a state of calm and security: they cannot be formed for a state of trouble and peril.“5

Trotz dieser frühen Einsichten der liberalen Theorie in die faktischen Schranken des normativen Öffentlichkeitsprinzips bleibt das Verhältnis von Politik und Geheimnis im modernen demokratischen Verfassungsstaat weitgehend ein „Anathema der Poli‐ tikwissenschaft“.6 Das gilt in normativer, sehr viel mehr aber noch in analytischer Hinsicht. Das Ziel dieses Beitrages ist es daher, die Spuren dieser Geheimnisthema‐ tik für eine politikwissenschaftliche Diskussion zu sammeln und analytisch zu syste‐ matisieren. Auf den ersten Blick können dabei die beiden Anhaltspunkte bei Kant und Bentham als Indizien gewertet werden: Bentham verweist auf die funktionale Relevanz von Geheimhaltung für die Sicherheit der staatlichen Ordnung. Kant hin‐ gegen erkennt die Bedeutung der Privatsphäre und plädiert für einen individuellen Gesinnungsschutz, der auch für die intersubjektiven gesellschaftlichen Strukturen relevant ist. Beide Perspektiven haben auch in die politikwissenschaftliche Geheim‐ nisdiskussion – da, wo sie denn stattfindet – Eingang gefunden: In seiner Studie zur „Pathologie der Politik“ analysierte Carl Joachim Friedrich die „Funktion der Miss‐ stände Gewalt, Verrat, Korruption, Geheimhaltung [und, D. S.] Propaganda“ und stellte fest, dass auch in modernen demokratischen Staaten ein bestimmtes Maß an Geheimhaltung funktional ist – „jeder Versuch, sie etwa durch radikale Reformen abzuschaffen, [hat, D. S.] nur dazu geführt, den Schauplatz für wichtige Entschei‐ dungen zu verlagern; aus den Plenarsitzungen in die Ausschüsse, aus den Ausschüs‐ sen in die Parteigremien usw.“.7 Davon zu unterscheiden sei die – dysfunktionale – Geheimhaltung in autokrati‐ schen Staaten. Auch die Unantastbarkeit der Privatsphäre gilt Friedrich als „typi‐ sches Beispiel für die funktionale Geheimhaltung“.8 Wenn auch mit einer solchen Funktionsanalyse bereits eine Perspektiverweiterung gegenüber einer moralphiloso‐ phischen Engführung zu verzeichnen ist, so blendet sie doch ihrerseits entscheiden‐ de Aspekte des Themas aus.9 Eine funktionale Perspektive erfasst die Frage nach den Begründungsdiskursen legitimer Geheimhaltung mit den eigenen Kategorien nur unzureichend. Die Analyse der politischen Relevanz von Geheimnissen und Ge‐ 5 6 7 8 9

Bentham 2014. Sauer 2001, S. 179ff.; Kreisky/Sauer 1997, S. 7-45; Bok 1982; Bobbio 1988; Westerbarkey 1991. Friedrich 1973, S. 145. Friedrich 1973, S. 151. Zur normativen Relevanz der Privatheit Rössler 2001; aus realistischer Perspektive hingegen Geuss 2002.

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heimhaltung kann sich daher zwischen normativer und funktionalistischer Perspekti‐ ve eines dritten Weges bedienen und sich auf die kulturwissenschaftliche Fragestel‐ lung nach den symbolischen und instrumentellen Aspekten von Geheimhaltung im demokratischen Verfassungsstaat konzentrieren. Daher bietet sich eine Bestandsauf‐ nahme jenseits der politikwissenschaftlichen Fachgrenzen an, um die zentralen Leit‐ kategorien herauszuarbeiten. In einem ersten Teil werden daher die unterschiedli‐ chen Dimensionen des Geheimnisbegriffes im Diskurs der Geistes- und Kulturwis‐ senschaften vorgestellt. Bei der anschließenden politikwissenschaftlichen Konkreti‐ sierung sind drei Dimensionen relevant: institutionenanalytisch die Frage nach dem Ort der Geheimdienste im politischen System und das Problem ihrer Kontrolle, das Politikfeld der Informationsfreiheit sowie die Frage der Entzogenheit unverfügbarer Geltungsvoraussetzungen im demokratischen Verfassungsstaat.

2. Das Verhältnis von Politik und Geheimnis Die Betrachtung des Verhältnisses von Politik und Geheimnis erfolgt aus drei unter‐ schiedlichen Perspektiven. Im ersten Teil wird eine historische, im zweiten Teil eine kulturwissenschaftliche und im dritten Teil eine gesellschaftstheoretische Perspekti‐ ve auf das Verhältnis vorgestellt.

2.1. Geheimnisse der Aufklärung Während die demokratietheoretische Diskussion der Politischen Philosophie und der politischen Theorie seit langer Zeit von einem normativen Öffentlichkeitsbegriff do‐ miniert wird, der von Jürgen Habermas in seiner Habilitationsschrift von 1961 ge‐ prägt worden ist,10 so ist für die Frage nach dem Gegenbegriff von Öffentlichkeit dasjenige Buch von sehr viel größerem Gewicht, gegen das Habermas sich implizit wendet: Reinhart Kosellecks 1959 zuerst erschienene Dissertation „Kritik und Kri‐ se“ zeichnet die für die Geschichte der modernen Aufklärung geradezu paradoxale Bedeutung eines verdeckten Konstitutionszusammenhanges zwischen dem liberalen Verfassungsstaat und den geheimen gesellschaftlichen Organisationsformen nach.11 Koselleck zeigt, wie der Kampf gegen das staatliche Arkanum des absolutistischen Fürstenstaates auf einem ganz eigenen Arkanbereich beruhte, in dessen Schutz sich die Aufklärung als geistig-philosophische, kulturelle und schließlich politische Ge‐ genmacht emergent bis hin zum revolutionären Umschlag entwickeln konnte. Aus

10 Habermas 1990. 11 Koselleck 1973.

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dem Moment der „Aufspaltung des Menschen in das Private und das Etatistische“12 erwächst so eine spezifische Bedeutung des Geheimnisses. Auf der einen Seite nimmt die Aufklärung gegenüber der souveränen Staatlichkeit Zuflucht zur sozialen Organisationsform der Logen und Geheimgesellschaften und bedient sich so der Schutzfunktion des Geheimnisses gegen die Instrumente von Verfolgung und Re‐ pression. Auf der anderen Seite aber entdeckt die Aufklärung auch jene sozialinte‐ grative Dimension des Geheimnisses, die später von Georg Simmel aufgegriffen wurde. In den Worten des Gegenaufklärers Joseph de Maistre wird das Geheimnis zur Grundlage der Gesellschaft, „parce qu’il est le lien de la confiance“.13 Damit fungierte das Arkanum als „Kitt der Brüderlichkeit“14 und ermöglichte erst jenen öf‐ fentlichen Diskurs der politischen Kritik, der später zur Grundlage des liberal-demo‐ kratischen Gemeinwesens erklärt wurde. Nun beruht diese historisch-analytische Er‐ kenntnis der konstitutiven Bedeutung des Geheimnisses selbst auf einer verborgenen normativen Prämisse: Carl Schmitts Leviathan-Narrativ hatte – 1938 mit deutlich antisemitisch gefärbten Obertönen erschienen – den Zerfall der Hobbes’schen Kon‐ struktion staatlicher Ordnung in düsteren Farben geschildert: Der vom souveränen Machtstaat ausgesparte Bereich innerer persönlicher Gesinnung sollte sich für Schmitt als fatales Einfallstor apolitischer Moralisierungsversuche erweisen. Spätes‐ tens mit den modernen Revolutionen wurde daher jene Stabilisierungsleistung wie‐ der rückgängig gemacht, mit welcher der Absolutismus einst den dauerhaften Be‐ stand staatlicher Herrschaft gegen die Gefahren einer an konfessionellen Differenzen entlang politisierten Gesellschaft gesichert hatte. Die aus dem Schutz des Geheimen operierende Remoralisierung des Politischen habe so jenes ursprünglich staatliche Arkanum zerstört, das in seiner Souveränität politischer Gewalt erst die Möglich‐ keitsbedingungen des moralischen Räsonnements geschaffen habe.15 Ungeachtet der Verzerrungen dieses Bildes, die ganz wesentlich aus den normati‐ ven Vorentscheidungen für eine Superiorität staatlicher Einheitsgarantien resultieren, können doch mindestens die begriffsgeschichtlichen Einsichten in die Genese des modernen Verfassungsstaates festgehalten werden: In ihrer Metaphorik bilden Öf‐ fentlichkeit und Geheimnis daher zwei „dichotomische Gegenbegriffe der Aufklä‐ rung“.16 Als positiv gefasster Begriff wurde das Geheimnis im 16. Jahrhundert zum Zentralbegriff politischer Handlungslehre erhoben. In der Folge Machiavellis und Giovanni Boteros wurde die Lehre von der Staatsräson in den Schriften von Arnold Clapmarius „De arcanis rerumrepublicanum“ (1605) und von weiteren Theoretikern des souveränen Fürstenstaates entfaltet.17 12 13 14 15 16 17

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Koselleck 1973, S. 29. Koselleck 1973, S. 65. Koselleck 1973, S. 61. Schmitt 2012. Hölscher 1979, S. 128. Stolleis 1980.

Wenn nun die Aufklärungsdiskurse diese Verkörperung des Geheimnisses im ar‐ canum imperii zum „historischen Feindbild“ erkoren haben, so unterscheidet diese frühe Kritik an der Geheimhaltung aber noch einen berechtigten von einem unbe‐ rechtigten Arkanbereich. Insbesondere die illegitime Ausweitung und Übertragung der Arkanpraxis vom Bereich staatlicher Entscheidungsfindung auf den Bereich der theologischen Dogmen und der Wahrheitsfindung in Wissenschaft und Justiz waren zentrale Topoi dieser aufgeklärten Geheimniskritik. Die radikale Ablehnung jegli‐ cher Form der Geheimhaltung setzt jedoch erst nach den modernen Revolutionen ein.18

2.2. Fiktionalisierungen des Politischen Das neuzeitliche Souveränitätsverständnis ist als Lösungsmodell konzipiert worden, das die hochgradig fragil gewordenen religiösen und kulturellen Bindungsverhältnis‐ se durch eine allein auf der politischen Entscheidungsgewalt basierende Instanz überwölbt, um damit die Sprengkraft der zunehmenden Loyalitätskonflikte zu ent‐ schärfen. Moderne Staatsbilder generieren ihre Ordnungsleistung daher nicht zuletzt durch eine Abstrahierung von konkreten Bindungsverpflichtungen zugunsten einer Fiktionalisierung politischer Loyalitätsverhältnisse.19 Die damit einhergehende Kon‐ zentration politischer Bindungen im Staat als einen – jedenfalls vom Anspruch her – souveränen Loyalitätsmonopolisten führt jedoch geradewegs in die Paradoxie, dass die als Stabilisierung gedachte Überführung multipolarer Bindungsverhältnisse in die bipolare Bindung des einzelnen Bürgers an den Staat geradezu notwendig das Thema des Verrates und der Loyalitätskrise auf die politische Tagesordnung gesetzt hat. Die Literaturwissenschaft hat diese Fiktionalisierung politischer Macht gerade dort aufgespürt, wo diese Paradoxie, wenn nicht bearbeitet, so doch zumindest sicht‐ bar gemacht wird.20 Jene modernen arcana imperii der Geheimdienste und ihre Wis‐ sensproduktion, deren Gegenstand immer der potenzielle Feind der staatlichen Ord‐ nung ist, sind denn auch prekär: Der Staat sucht dauerhaft gesicherte Erkenntnisse über die Loyalität seiner Bürger zu gewinnen, doch bleibt der mit Loyalitätsverände‐ rung verbundene Verrat in der flüchtigen Moderne stets eine permanente Option. Auch die epistemische Qualität dieses geheimdienstlich erzeugten Wissens weist eine Nähe zu literarischen Verfahren der Fiktionalität auf.21 Geheim erzeugtem Wis‐ 18 „Bei ihrer Verdammung der Arkanpraxis in der Politik hatten die Liberalen und Demokraten des 19. Jahrhunderts gewissermaßen aber nur noch die eine Seite der aufklärerischen Kritik am Geheimnis im Ohr, nicht mehr deren Anerkennung eines berechtigten Arkanraumes“ (Höl‐ scher 1979, S. 135). 19 Münkler 1994; Anderson 1983; Giesen 1993; Blomert u.a. 1993. 20 Koschorke 2007. 21 Horn 2007, S. 145.

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sen mangelt es schlicht an einer Beobachtungsebene zweiter Ordnung, die als refle‐ xive Korrekturmöglichkeit gesicherte Erkenntnisse erst möglich macht. Die nach‐ trägliche Analyse der geheimdienstlichen Beweisführung im Falle der irakischen Massenvernichtungswaffen bis hin zu Colin Powells bekannter Präsentation ver‐ meintlich objektiver Beweise im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im Februar 2003 zeigt etwa, dass nicht allein intentionale Täuschungsabsichten von Teilen der amerikanischen Administration für das falsche Urteil verantwortlich sein müssen, sondern dass die geheimdienstliche Selbstreferenzialität solche Fehlleistungen struk‐ turell begünstigt. Wenn Geheimdienste auf dieses Dilemma intern reagieren, indem sie eine kritische Außenbeobachtung selbst simulieren und zudem ihre Erkenntnisse mit quantitativen Wahrscheinlichkeitswerten verbinden, so steigert dies letztlich nur die Komplexität der Fiktionalisierungsprozesse, ändert aber nichts an der Fiktionali‐ tät dieses Wissens selbst. Der Blick auf das Geheime - auf das „Wissen vom Feind“22 - bleibt aber auch für die Gesellschaft selbst auf die imaginäre und narrati‐ ve Verfügung über das per Definition Verborgene und Entzogene angewiesen. Die geheimdienstlichen Verfügbarkeitstechniken – dies gilt im Übrigen auch und gerade für jene euphemistisch so benannten „enhanced interrogation techniques“ der Folter – produzieren somit ein Wissen, das ebenso doppelbödig bleibt wie die Struktur des modernen Staatsgeheimnisses selbst in seiner „Angewiesenheit auf das Geheime wie auf seine Verdrängung, seine Verkopplung von Rechtsförmigkeit und Gewalt, von Transparenz und Täuschung“.23 Nachdem bereits die retrospektiv zur Übersichtlich‐ keit umgedeuteten Verhältnisse des Kalten Krieges nur durch eine partielle Sichtbar‐ keit des äußeren Feindes gekennzeichnet waren und die Unsichtbarkeit des inneren Feindes durchaus zu eruptiven Phänomenen der Staatsparanoia führen konnte,24 so ist die Sichtbarkeit des Feindes in den komplexer gewordenen Kontexten der Gegen‐ wart nach dem Ende der bipolaren Weltordnung weitestgehend verloren gegangen. Nach dem 11. September 2001 kulminierte diese Krise der Erkennbarkeit des Fein‐ des zusammen mit der Krise der Kontrolle und der Exklusivität geheimen Staatswis‐ sens direkt in eine Paranoia des Staates gegen seine Bürger ebenso wie in eine Para‐ noia der Bürger gegen den Staat.25 Eine weitere Dimension gewinnt das Bild arkaner Staatspraxis anhand des „kom‐ plexen Zusammenspiels von Simulation und Dissimulation“.26 Liest man die moder‐ ne Technisierungsgeschichte als fortgesetzten menschlichen Versuch, Fähigkeiten zu gewinnen, die einst nur den Göttern zugeschrieben wurden, so muss der gegenwärti‐ ge Staat mit seinen geheimdienstlichen Apparaturen im Zeitalter der Digitalisierung geradezu als ein „Prothesengott“ anmuten, wie ihn Freud als Sinnbild technisch-me‐ 22 23 24 25 26

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Horn 2006, S. 257-277. Horn 2007, S. 126. Hofstadter 1965; Enzensberger 1964; Moynihan 1999. Horn 2007, S. 383. Matt 2006, S. 29.

dialer Sinneserweiterungen des Sehens und Hörens und den damit einhergehenden Allmachtsfantasien beschrieben hatte.27 Die spezifisch moderne Arkankonstellation wird jedoch mit dem Hinweis Peter von Matts auf die literarische Matrix der Hinter‐ list erhellt. Anhand der mit der Neuzeit anhebenden Verbreitung der Figur des Intri‐ ganten schildert von Matt das Narrativ der Intrige als eine Säkularisierungsfolge, in der sich ebenso die Anmaßung des Schicksalsmachers wie der Versuch einer „Ab‐ schaffung der Transzendenz“ verkörpert.28 Die Leistung der Intrigantenfigur besteht in ihrer erfolgreichen Verwandlung des Schicksals in die Intrige: „Der Intrigant wird zum Schicksalsmacher, indem er die Gnade Gottes, die höchste lenkende Macht, durch seine eigene Planung und deren Vollzug ersetzt.“29 Die Intrige als literarische Erzählfigur verweist somit auf ein säkulares Deutungsmuster sozialer und politi‐ scher Ordnung, in dem jegliches innerweltliche Geschehen auch einen innerweltli‐ chen Grund haben muss. Die deutende Zuschreibung auf eine im Verborgenen agie‐ rende Instanz - auf geheim operierende Akteure - wird erst in dem Augenblick machtvoll, wenn sich die außerweltlichen ebenso wie die übernatürlichen Deutungs‐ muster erschöpft haben. In wechselnden imaginierten Verkörperungen – von den Je‐ suiten über die Freimaurer bis zu den Juden – traten diese imaginären Allmachtsak‐ teure in Konkurrenz zum Autonomieprojekt des modernen demokratischen Verfas‐ sungsstaates und seinem Geltungsanspruch einer öffentlichen und transparenten Ordnung. Die radikalen Transparenzverheißungen der modernen Revolution feiern die Befreiung vom alten Regime als den „Tag, an dem alle Masken fallen“ und erhe‐ ben den Kampf gegen jegliche Theatralisierung zum Programm, das, wie von Rousseau für das republikanische Fest postuliert, die Bürger sich gegenseitig aus den Herzen lesen können.30 Diese Verheißung bringt aber nicht nur die Dystopie des Bentham’schen Panoptikums hervor, sondern auch politische Akteure, die sich wie der Revolutionär Jean Paul Marat als „Auge des Volkes“ inszenieren und damit das moderne Transparenzversprechen verkörpern.31 Es erzeugt im selben Moment den Verdacht des Scheiterns, mit dem die neu gewonnene demokratische Selbstbestim‐ mung zum großen, heteronomen Täuschungsmanöver umgedeutet werden kann: „Was der Mensch am schwersten erträgt, ist ein leerer Himmel. Vom späten 18. Jahrhun‐ dert an finden sich in zunehmendem Maße Berichte über Großkonspirationen, welche das Weltgeschehen insgeheim lenken oder eine solche Lenkung anstreben. Es sind Visionen von globalen Hyperintrigen.“32

27 28 29 30 31 32

Freud 1994, S. 57. Matt 2006, S. 246. Matt 2006, S. 198. Schneider 2013. Schneider 2013, S. 133. Matt 2006, S. 246.

147

Aus dieser Perspektive entstehen schließlich die spezifisch modernen Verschwö‐ rungstheorien.33

2.3. Geheimnis und Gesellschaft Die säkulare Moderne verbindet mit dem Geheimnis jedoch weit mehr als nur die imaginierte Bedrohung der Intrige und ihre fiktionale Verarbeitung. Neben der po‐ tenziellen Destabilisierung sozialer und politischer Ordnungen wird dem Geheimnis auch eine Rolle zugeschrieben, nach der die Integration arbeitsteiliger, ausdifferen‐ zierter Gesellschaften überhaupt erst durch die Existenz von Bereichen des Nicht‐ wissens ermöglicht wird. Georg Simmel hat in seiner Untersuchung der modernen Vergesellschaftungsformen die Bedeutung des Vertrauens besonders hervorgehoben und zeigt, dass gerade arbeitsteilig, ausdifferenzierte Gesellschaften nicht ohne die‐ ses Medium auskommen – zumal dann nicht, wenn sie von einer tief greifenden Dif‐ ferenz zwischen der Sphäre der Öffentlichkeit und der Privatsphäre gekennzeichnet sind. Vertrauen überbrückt und kompensiert somit die Folgen der durch diese kom‐ plexitätssteigernde Differenzierung hervorgebrachten Phänomene der Verborgenheit und des Nichtwissens, mit denen sich die weitesten gesellschaftlichen Bereiche ihren Mitgliedern entziehen. Aber auch in normativer Hinsicht gewinnen das Ge‐ heimnis und die Möglichkeit der Geheimhaltung einen besonderen Stellenwert: Sim‐ mel spricht von der Diskretion als „Rechtsgefühl in Bezug auf die Sphäre der unmit‐ telbaren Lebensinhalte“,34 wenn er die Bedeutung des Verbergenkönnens „als Indivi‐ dualisierungsmoment ersten Ranges“ herausstellt:35 „Das Geheimnis in diesem Sinne, dass durch negative oder positive Mittel getragene Ver‐ bergen von Wirklichkeiten, ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit; gegen‐ über dem kindischen Zustand, in dem jede Vorstellung sofort ausgesprochen wird, jedes Unternehmen allen Blicken zugänglich ist, wird durch das Geheimnis eine ungeheure Er‐ weiterung des Lebens erreicht, weil vielerlei Inhalte desselben bei völliger Publizität überhaupt nicht auftauchen könnten. Das Geheimnis bietet sozusagen die Möglichkeit einer zweiten Welt neben der offenbaren, und diese wird von jener auf das stärkste beein‐ flusst.“36

Die Entwicklung der modernen Gesellschaft vollzieht sich für Simmel als eine Dop‐ pelbewegung der zunehmenden Publizität auf der einen Seite, der auf der anderen Seite eine zunehmende Verborgenheit gegenübersteht. Nun ist dieses „allgemeine Schema kultureller Differenzierung“, in der das Öffentliche immer öffentlicher und 33 34 35 36

148

Butter 2018; Fenster 2008. Simmel 1992, S. 397. Simmel 1992, S. 410. Simmel 1992, S. 406.

das Private immer privater wird,37 nicht unumkehrbar. Carl Joachim Friedrich hat mit Verweis auf die totalitären Ordnungen des 20. Jahrhunderts gezeigt, dass es sich dort genau umgekehrt verhielt: „Was alle angeht, ist in zunehmendem Maße ein ar‐ canum imperii geworden. [...]. Zugleich werden die Angelegenheiten des einzelnen entprivatisiert, in das Licht der Öffentlichkeit gerückt und damit der staatlichen Auf‐ sicht unterworfen.“38 Aber auch mit Verweis auf Max Weber und seine Analyse bü‐ rokratischer Herrschaftsformen muss Simmels Diagnose zumindest eingeschränkt werden: So hebt doch Weber die Geheimhaltung als ein generelles und zentrales Kriterium der dauerhaften Institutionalisierungsmöglichkeit von politischer Herr‐ schaft überhaupt hervor, wenn er den sozialen „Vorteil der kleinen Zahl“ unter‐ streicht – dieser Vorteil nämlich „kommt voll zur Geltung durch Geheimhaltung der Absichten, gefassten Beschlüsse und Kenntnisse der Herrschenden, welche mit jeder Vergrößerung der Zahl schwieriger und unwahrscheinlicher wird. [...]. Jede auf Kon‐ tinuierlichkeit eingerichtete Herrschaft ist an irgendeinem entscheidenden Punkt Ge‐ heimherrschaft“.39 Mehr noch als in traditionalen Herrschaftsformen tritt dieses Merkmal im „Bürokratismus“ des modernen Anstaltsstaates hervor, wo die Überle‐ genheit durch Spezialisierung noch „jede Bürokratie durch das Mittel der Geheim‐ haltung ihre Kenntnisse und Absichten zu steigern [sucht, D. S.]“.40 Diese „Tendenz zur Sekretierung“41 ist nicht nur kennzeichnend für den Behauptungswillen staatli‐ cher Verwaltung, sondern gilt für alle Formen eigenständiger sozialer Organisation wie Parteien. Sie ist auch verantwortlich für das, was Niklas Luhmann in der soge‐ nannten Steuerungsdebatte der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts als „Black-Box Charakter einzelner Funktionssysteme füreinander“ bezeichnete, der die gegenseitige Steuerbarkeit verhindere und den Gestaltungs- und Steuerungsanspruch moderner Staatlichkeit in einen „utopischen Verfügbarkeitsglauben verwandle“.42 Webers Analysen der modernen Konzentration von Machtmitteln beleuchten das Verhältnis von Politik und Geheimnis umso mehr, wenn sie mit der zuvor behandel‐ ten Problematik der Fiktionalität gekoppelt werden. Pierre Bourdieu hat in seiner kulturwissenschaftlichen Erweiterung des Weber’schen Staatsbegriffes vom Mono‐ polisten legitimer physischer Gewalt zum Monopol der symbolischen Gewalt die Grundlagen gelegt, um den Zusammenhang moderner Staatlichkeit und der Bedeu‐ tung politischer Realitätsproduktion kategorial verstehen und einordnen zu kön‐ nen.43 Der Bourdieu-Schüler Luc Boltanski hat zu dieser Schnittstelle zwischen so‐ zialer Realität und symbolisch verfasster Staatlichkeit eine Untersuchung vorgelegt, 37 38 39 40 41 42 43

Simmel 1992, S. 413. Friedrich 1973, S. 155. Weber 2009, S. 10 (Herv. i. Orig.). Weber 2009, S. 38. Weber 2009, S. 38. Lange 2002, S. 171-193, 187. Bourdieu 1998, S. 91-136.

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die zeigt, wie der Nationalstaat mit seinem Projekt der sinnstiftenden Realitätsver‐ einheitlichung zugleich die Topoi von Komplott und Paranoia in der symbolischen Matrix gesellschaftlicher Selbstbeschreibung generiert.44 Die Frage, wo sich die zen‐ trale, steuernde Macht wirklich befindet, wird so in analoger Form und zeitlich mit gemeinsamem Ursprung in den literarischen Genres des modernen Kriminal- und Spionageromans ebenso wie in den modernen wissenschaftlichen Disziplinen der Psychologie und der Soziologie gesellschaftlich verarbeitet. Im Gegensatz zu den Studien von Eva Horn und Peter von Matt wird der wissens- und kultursoziologische Horizont hier nicht nur implizit angedeutet, sondern stellt den zentralen Rahmen der Untersuchung dar. So inszeniert der Kriminalroman beispielhaft die gesellschaftli‐ che Verunsicherung über den Wirklichkeitscharakter der Realität, was ebenfalls erst dann möglich wird, wenn eine klare, der Aufklärung geschuldete Trennlinie zwi‐ schen übernatürlichen Spekulationen und realen Tatsachen gezogen werden kann. Der moderne Nationalstaat wird so zum Hauptverantwortlichen und Garanten der Realität eingesetzt, indem er an der Erzeugung des Wissens über die Wirklichkeit maßgeblich beteiligt ist – über das staatliche System von Schulen und Universitäten, über die offizielle Vermessung und Ordnung des Raumes ebenso wie über die Pro‐ duktion von Wissen über die Gesellschaft durch Statistik und am wichtigsten: durch die staatliche Produktion von Wissen über sich selbst. Kriminalromane schaffen nun „Situationen, in denen der Anspruch des Staates, die Realität in den Griff zu bekom‐ men, für einen Moment ins Leere zu laufen scheint. Dass man sieht, wie die Realität sich den Anstrengungen des Staates, sie zu durchdringen und zu stabilisieren, ent‐ zieht“.45 Damit also problematisieren diese literarischen Fiktionen den Anspruch des Staa‐ tes, Ordnung zu erzeugen und Ereignisse erklärbar und vorhersehbar zu machen. Noch einen Schritt weiter als der Kriminalroman geht in dieser Realitätsverunsiche‐ rung der Spionageroman, der die staatliche Wissensproduktion von sich selbst als Lüge in Szene setzt und den Verdacht auf eine verdeckte Realitätsebene hinter der offiziellen und öffentlich sichtbaren Realität ausweitet. Damit unterlaufen beide Genres das normative Ideal der rationalen Moderne einer totalen Sinntransparenz und fangen dieses Ideal zugleich wieder auf – wenn z.B. Sherlock Holmes durch die Methodik der wissenschaftlichen Deduktion jenen Riss in der Wirklichkeitsvorstel‐ lung wieder zu schließen in der Lage ist, indem er zeigt, wie soziale Realität sich durch die Rekonstruktion der ihr zugrunde liegenden umfassenden Struktur von Kausalbeziehungen wieder transparent machen lässt, nachdem die manipulative Täuschung des Verbrechens sie vorübergehend opak erscheinen ließ. Gleichwohl ge‐ rät der moderne Verfügbarkeitsglaube und mit ihm der Staat als seine zentrale Ak‐ teursprojektion in dem Maße in eine Krise der Verunsicherung, wie sich die wahrge‐ 44 Boltanski 2013. 45 Boltanski 2013, S. 52.

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nommene Realität sichtbar der staatlichen Verfügung entzieht. Die Kriminalliteratur macht dabei mit Boltanski zudem die prekäre Selbstbehauptung der staatlichen Rechtsordnung deutlich, wenn an den entscheidenden Momenten der Sinn- und Rea‐ litätsbrüche zur Widerherstellung des sozialen Sinnkontinuums auf eine der rechtli‐ chen Ordnung überlegene moralische Ordnung rekurriert wird. In der moralisch inte‐ gren Figur des Detektives bzw. des Kommissars wird die Ausnahme der Rechts‐ durchbrechung permanent auf Dauer gestellt. Nur diese Ausnahmefigur verfügt so über die dem Staat doch sonst entzogenen moralisch-sittlichen Geltungsvorausset‐ zungen der rechtlichen Ordnung und kann sie als individuelle Tugend und Opferbe‐ reitschaft zur Heilung der Realitätsverletzung einsetzen. Die moralische Ordnung bleibt der rechtlichen Ordnung verborgen und bildet doch ihre unsichtbare Grundla‐ ge. Radikaler noch wird diese Konstellation im Spionageroman inszeniert, der den Staat im Zustand eines permanenten geheimen Krieges darstellt, in dem Innen und Außen, Öffentliches und Privates ununterscheidbar werden.46 Hier artikuliert sich damit eine Ungewissheit in Bezug auf den Ort der Macht und die Grundlagen der Autorität,47 eine „Deutung, dass hinter der offiziellen und unechten Macht noch eine reale, eine wirkliche Macht verborgen liegt. Die Ursachen dessen, was geschieht, sind nicht in der Realität zu suchen, die sich uns zeigt. Sie liegen woanders“.48 Auch hier zeigt sich demnach der spezifisch moderne Charakter eines Verschwörungsden‐ kens: Wenn die Kontingenz ausdifferenzierter gesellschaftlicher Komplexität auf handelnde Akteure heruntergebrochen werden soll, dann bleibt stets ein Rest, der sich der Zuordnung entzieht.

3. Politikwissenschaftliche Implikationen Der Blick auf das Verhältnis von Politik und Geheimnis hat bislang folgendes erge‐ ben: In historischer Perspektive hat sich gezeigt, dass sich die Genese des demokra‐ tischen Verfassungsstaates keineswegs allein auf Ausweitung des Öffentlichen stützt, sondern ebenso durch einen Gestaltwandel des Arkanen. Erst mit dem Schutz abgeschirmter gesellschaftlicher Kommunikationsräume hat sich die moderne Kom‐ munikation des Politischen demokratisch entwickeln können. Auch darf ein Amts‐ ethos der Diskretion nicht mit den vor- und frühmodernen Arkanpraktiken verwech‐ selt werden, sondern ist auch für eine liberal-demokratische Ordnung konstitutiv. Kulturwissenschaftlich hingegen wird anhand literarischer Genres deutlich, wie das Selbstverständnis moderner Staatlichkeit an einen Schleier des Nichtwissens gebun‐

46 Boltanski 2013, S. 237. 47 Boltanski 2013, S. 255. 48 Boltanski 2013, S. 256.

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den ist.49 Die Grenze zum inneren Arkanum des individuellen Gewissens darf aus normativen Gründen nicht überschritten werden, zugleich aber scheint dies jedoch für die Erfüllung seines Sicherheitsauftrages permanent geboten – daher bringt diese Konstellation mit dem Sektor der Geheimdienste einen Bereich epistemisch zweifel‐ haften Wissens hervor. Soziologisch führt diese Konstellation zudem einerseits zu einer allgemeinen Unterschätzung des Geheimen für die Konstitution moderner Ge‐ sellschaften. Zum anderen aber wird hier deutlich, inwieweit der moderne Kontroll‐ optimismus staatlicher Souveränitätsbehauptungen aus sich selbst heraus die Annah‐ me von Verschwörungen, verborgenen Mächten und Akteuren freisetzt. Alle drei genannten Zugänge zum Geheimnistopos verweisen auf eine Dimension politischer Ordnung, die in der politikwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem de‐ mokratischen Verfassungsstaat bislang kaum zur Sprache gebracht wurde. Sowohl die komparative Analyse politischer Systeme als auch die Politikfeldanalyse haben in diesem Bereich bislang nur wenige Untersuchungen durchgeführt und teilen sich das Thema der Geheimdienstkontrolle im demokratischen Regierungssystem sowie das Politikfeld der Informationsfreiheit mit der Zeitgeschichte und der Rechtswis‐ senschaft.50 Die Komplexität der Perspektiven kann jedoch gebündelt werden, in‐ dem das Spannungsverhältnis von politischer Handlungsermächtigung und den un‐ verfügbaren Legitimitätsvoraussetzungen andererseits in den Mittelpunkt gerückt wird.

3.1. Geheimdienstkontrolle und Informationsfreiheit Neben zahlreichen formellen und informellen Aspekten von Geheimhaltung in de‐ mokratischen Gesellschaften wie beispielsweise die Schweigepflicht von Ärzten und Anwälten, das Bankgeheimnis, das Prinzip der geheimen Wahl51 oder die Ver‐ schwiegenheitspflicht von Beamten wird die für das politische System wohl wich‐ tigste Institutionalisierung des Geheimen von den Geheimdiensten verkörpert, die als Teil der Exekutivgewalt zur Machtsteigerung durch die Produktion exklusiven, nicht öffentlich gebrauchten Wissens beitragen sollen, um grundlegende Regierungs‐ funktionen wie die Sicherheitsgarantie zu steigern. Auch wenn andere institutionelle Akteure des politischen Systems ihre institutionelle Machtbasis durch eine erfolgrei‐

49 Bei der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls wird dieses Nichtwissen über individuelle Ein‐ stellungen und Fähigkeiten gar zur normativen Geltungsbedingung einer liberalen Gesell‐ schaftsordnung – allerdings handelt es sich dabei nicht um das Nichtwissen des Staates, son‐ dern um das Nichtwissen der Individuen über ihre zukünftige Stellung in der zu begründenden Ordnung. Vgl. Rawls 1974, S. 159ff. 50 Vgl. als Überblick über das Forschungsfeld Krieger 2007; Smidt 2007; Born/Caparini 2007; Johnson 2010; zur Bundesrepublik historisch Foschepoth 2012; Rigoll 2013. 51 Buchstein 2000.

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che Invisibilisierungsstrategie befestigen – allen voran das Bundesverfassungs‐ gericht, das seine Autoritätsgrundlage hinter dem „Schleier des Nichtpolitischen“ verbirgt52 und sich damit erfolgreich den demokratischen Öffentlichkeits- und Transparenzgeboten entzieht, aber auch in den nicht öffentlich tagenden Ausschüs‐ sen des Bundestages und in der Exekutive –, so stellt sich das Problem der Span‐ nung zwischen demokratischer Öffentlichkeit und strategischer Geheimhaltung im Falle der Geheimdienste doch in einer vollkommen anderen Qualität. Gerade für die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer im internationalen Vergleich aus historischen Gründen gering ausgeprägten Geheimniskultur und der schwachen Akzeptanz arkan gesteigerter Exekutivmacht, stellt sich die Frage der Geheimdienstkontrolle durch demokratische Öffentlichkeit in erhöhtem Maße, steht doch die Transparenz als symbolische Staatsräson in kaum auflösbarem Konflikt zur nachrichtendienstlichen Funktionalitätsanforderung. An politikwissenschaftlicher Forschung zur verglei‐ chenden Analyse der Kontrolle geheimdienstlicher Institutionen liegt schon allein deshalb wenig vor, weil das Forschungsfeld nur sehr beschränkt einen tiefergehen‐ den Blick über die Betrachtung der äußeren rechtlich-administrativen, formalen Strukturen hinaus auf die konkrete Arbeit der Institution sowie auf die Motive und Interessen der beteiligten Akteure zulässt.53 Gleichwohl können hier einige wichtige Eckdaten zu den Strukturen genannt werden: Erstaunlicherweise haben die demokra‐ tischen Staaten ihre zumeist aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangenen geheim‐ dienstlichen Institutionen – dies gilt übrigens auch für die Bundesrepublik und den Vorgänger des Bundesnachrichtendienstes (BND), der Organisation Gehlen mit ihren Wurzeln in der Aufklärungsabteilung „Fremde Heere Ost“ – erst sehr spät aus dem vollständigen Arkanum der Exekutivgewalt gelöst und in ein institutionalisier‐ tes Netz der Kontrolle eingebettet: Erst mit den großen Geheimdienstskandalen um die Pentagon-Papiere und Watergate entstand in den USA 1975 das sogenannte Church Committee als Sonderausschuss des US-Senats zur Untersuchung des Regie‐ rungshandelns mit Bezug zur Aktivität des Nachrichtendienstes, der dann im ständi‐ gen United States Senate Select Committee on Intelligence (SSCI) und dem U.S. House Permanent Select Committee on Intelligence (HPSCI) 1975 verstetigt wurde. Seit 1978 regelt der Foreign Intelligence Surveillance Act (FISA) die Auslandsauf‐ klärung und Spionageabwehr der Central Intelligence Agency (CIA) und legte stren‐ ge Maßstäbe an die Überwachung amerikanischer Staatsbürger im Ausland und von Ausländern auf dem Territorium der USA fest. Zugleich wurde der United States Foreign Intelligence Surveillance Court (FISC) geschaffen – ein Bundesgericht, mit einem Gremium von elf Richtern, das der Chief Justice des US-Supreme-Courts aus den Bundesrichtern auswählt und ernennt. Diese Regulierungen geheimdienstlicher Tätigkeiten wurden durch den Patriot Act vom November 2001 stark aufgeweicht 52 Vorländer 2005, S. 113-127. 53 Vgl. Fußnote 50.

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und damit das Abhören von Amerikanern im Ausland ebenso erleichtert wie das Speichern von inländischen Verbindungsdaten. Da zudem in einer Vielzahl von Fäl‐ len ohne Genehmigung oder weit über den genehmigten Rahmen hinaus abgehört wurde, haben die Enthüllungen von Edward Snowden die Frage nach der Effizienz der demokratischen Kontrolle von Intelligence auf die Agenda gesetzt. Hier stellen sich einige grundsätzliche Fragen, die auch für das politische System der Bundesre‐ publik von hoher Relevanz sind. Bevor die Effizienzproblematik der unterschiedlichen Kontrollmechanismen dis‐ kutiert wird, müssen zuvor die strukturellen Probleme deutlich werden, die einer in‐ formationellen Transparenzpolitik entgegenstehen: Die Ursprünge des Problems lie‐ gen für die USA in der Ausweitung der Bundesverwaltung in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, mit der das staatliche Wissensbedürfnis rapide zugenommen hat. Als späte Reaktion auf diese Entwicklung hat sich in der Nachkriegszeit als Teil der Bürgerrechtsbewegung eine Bewegung für den Zugang zu staatlich gespeicher‐ ten Informationen gebildet, die erst 1966 mit dem Freedom of Information Act (FOIA) eine gesetzliche Grundlage für die Offenlegung staatlichen Wissens erzwun‐ gen hat – ein Gesetz, das auch die Praxis staatlicher Geheimhaltung auf eine neue, restriktive Grundlage stellte. Neben den massiven Einschränkungen dieser Transpa‐ renzpolitik nach dem 11. September kommen vor allem strukturelle Schwierigkeiten hinzu, die durch den Wandel moderner Staatlichkeit verursacht worden sind und die einer offenen Informationspolitik entgegenstehen. Roberts hebt hierzu drei Punkte hervor:54 1. Opake Netzwerkstrukturen politischer Regime erzeugen einen zunehmenden An‐ passungsdruck und beeinträchtigen den Gestaltungsspielraum demokratischer Nationalstaaten. So hat beispielsweise nach der Revolution von 1989 die über‐ wiegende Mehrheit der neu gegründeten Staaten Mittel- und Osteuropas Gesetze nach dem Vorbild des FOIA erlassen, um nach den totalitären Erfahrungen einer hinter dem Schutz der Geheimhaltung operierenden Willkür Vertrauen durch Transparenz zu ermöglichen. Durch den Beitritt zur North Atlantic Treaty Orga‐ nization (NATO) stellte sich allerdings das Kompatibilitätsproblem unterschied‐ licher Standards der Geheimhaltung, woraus in einem Race-to-the-bottom-Pro‐ zess erhöhter Anpassungsdruck resultiere, der schließlich in einer starken Ein‐ schränkung der ursprünglich gewährten Informationsfreiheit mündete. Zwischen‐ staatlich geteilte Informationen unterliegen zudem höheren Geheimhaltungsbe‐ stimmungen und die Netzwerkstruktur erzeugt Asymmetrien in der Datensamm‐

54 55 56 57

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Roberts 2006, S. 127ff. Roberts 2006, S. 147f. Roberts 2006, S. 150. Roberts 2006, S. 171.

lung, in der Wissen über Bürger an staatliche Stellen gelangen kann, die dem na‐ tionalen Informationsschutz nicht unterliegen.55 2. Hinzu kommt, dass mit der zunehmenden Privatisierung staatlichen Handelns und öffentlicher Dienstleistungen Informationen dem Zugriff entzogen werden, weil private Auftragnehmer staatlicher Funktionen nur eingeschränkt dem glei‐ chen Transparenzstandard unterworfen sind. Dies gilt für private Sicherheitsfir‐ men und Gefängnisse ebenso wie für Schulen und Verkehrswege56 – hier schafft paradoxerweise gerade die Privatisierung neue Arkanbereiche, denen gesetzlich sehr viel schwieriger beizukommen ist. 3. Zuletzt wirkt auch die Transnationalisierung politischer Macht als Hindernis öf‐ fentlicher Kontrolle,57 die durch die ebenfalls transnational agierenden zivilge‐ sellschaftlichen Akteure und Nichtregierungsorganisationen (NGO) mit ihrem Kontrollanspruch nur bedingt ausbalanciert werden kann. Angesichts dieses Rückzuges politischer Gewalten in opake Strukturen und der Hür‐ den für eine liberale Transparenzpolitik fallen die Fragen nach einer effizienten Kon‐ trolle der Intelligence Community umso mehr ins Gewicht. Wie also lassen sich die geheimen Beobachter öffentlich beobachten? Der Katalog der Kontrollinstrumente reicht vom Vertrauen auf die Selbstdisziplin der Akteure über die legislative Kon‐ trolle und die gerichtliche Aufsicht bis hin zur Bedeutung medialer Investigation. Als Beispiel für den ersten Faktor mag die oben erwähnte besondere Konstellation in Großbritannien dienen, die durch das Vertrauen auf einen habitualisierten Ehren‐ kodex der politischen Eliten zu einer spezifischen Geheimniskultur geführt hat,58 die auch erklären kann, warum Großbritannien erst sehr spät ein parlamentarisches Kon‐ trollgremium geschaffen hat (und in den neunziger Jahren die Existenz eines briti‐ schen Auslandsgeheimdienstes überhaupt erst offiziell bestätigt wurde – was umge‐ kehrt wiederum die fiktionale Obsession Großbritanniens mit den Geheimdiensten von James Bond bis zu George Smiley erklärt). Die parlamentarische Kontrolle hin‐ gegen ist allein deshalb problematisch, weil die kontrollierenden Ausschüsse – auch das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestages – nach dem Mehrheits‐ schlüssel der Fraktionen besetzt werden.59 Also hat auch hier die Regierungsmehr‐ heit im Parlament die Kontrolle der eigenen Regierung inne, was einem intensiven Kontrollauftrag durchaus abträglich sein kann. Auch Versuche der Verrechtlichung dieses politischen Problems – der Vorsitzende der G10-Kommission zur Kontrolle der Einschränkungen des Artikel 10 Grundgesetz durch Brief- und Fernmeldeüber‐ wachung muss die Befähigung zum Richteramt besitzen – können das Dilemma nicht befriedigend lösen – wenngleich die Rolle der richterlichen Grenzziehung eine wichtige Funktion in der Beschränkung staatlicher Wissensakkumulation besitzen 58 Vincent 1998; Steinmetz 1993. 59 Neumann 2007, S. 13-34.

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kann, wie das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichtes zur informatio‐ nellen Selbstbestimmung aus dem Jahr 1983 zeigt.60 Allein die personale Ausstat‐ tung und die Häufigkeit der Sitzungen dieser Kommissionen lassen angesichts der Anfrageflut nur eine geringe inhaltliche Kontrollmöglichkeit zu. Zudem bleibt es beispielsweise im Falle des Parlamentarischen Kontrollgremiums allein dem Behör‐ denleiter des BND überlassen, welche Informationen den Abgeordneten präsentiert werden und welche nicht.61 Wie die defizitäre Praxis des amerikanischen FISC zeigt – gegenüber zehntausenden von bewilligten Abhöranträgen bewegt sich die Anzahl der abgelehnten Anträge im zweistelligen Bereich –62, bietet auch die gerichtliche Variante keinen weiter gehenden Missbrauchsschutz. Rahul Sagar kommt daher in seiner Studie zum „Dilemma of State Secrecy“ zu dem Schluss, dass allein das Lea‐ king von geheimen Informationen im Notfall die einzige Instanz darstellt, die das demokratische Gemeinwesen vor Geheimnismissbrauch schützen kann.63 Da aber auch hier gerade bei anonymen Whistleblowern die Gefahr der parteipolitischen In‐ strumentalisierung hoch ist, bleibt letztlich nur die Variante des – wenngleich durch‐ aus heroischen – Selbstopfers, wie es im Falle Edward Snowdens augenfällig gewor‐ den ist: „We cannot do without state secrecy, as it is essential for national security, but so long as there is state secrecy, our ability to guard against its misuse depends not so much on the checks and balances established by the constitution as on the virtues and vices of those men and women who secretly take the law into their own hands.“64

3.2. Geheimnisse im Verfassungsstaat Damit aber ist die Bedeutung des Geheimnisses wieder bei der Frage nach den so‐ ziomoralischen Geltungsvoraussetzungen des demokratischen Verfassungsstaates angelangt. Die klassische Demokratietheorie der Politikwissenschaft ist durch einen latenten Transparenzoptimismus geprägt. Die Frage nach dem realen Ort der wirkli‐ chen Macht lässt sich sozialwissenschaftlich präzise beantworten, wenn nur der ana‐ lytische Rahmen richtig gewählt wird. Auf die Frage „Who governs“ hat Robert A. Dahl eine angemessen komplexe Rekonstruktion der polyarchischen Machtvertei‐ lung in liberal-demokratischen Regimen zu geben versucht.65 Der Anspruch, demo‐

60 Siehe dazu das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Dezember 1983. 61 Neskocvic 2013. 62 Von insgesamt 41.222 Anträgen zur elektronischen Überwachung zwischen 1979 bis 2017 sind lediglich 85 abgelehnt worden. 1.252 Anträge wurden nach Änderungen zugelassen (Daten nach Electronic Privacy Information Center). 63 Sagar 2013. 64 Sagar 2013, S. 7. 65 Dahl 2005.

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kratische Herrschaftsstrukturen sozialwissenschaftlich zu erhellen, operationalisiert dauerhafte Macht über die Begriffe von Popularität und der Responsivität – es be‐ darf also zum einen der egalitären Annäherung an die Beherrschten und zum ande‐ ren der Fähigkeit, Ansprüche und Interessen der Wählerschaft angemessen aufzu‐ nehmen. Die Frage nach dem realen Ort der Macht wird so entmystifiziert und in eine politische Soziologie der politischen Eliten übertragen, um Karrierewege und Erfolgswahrscheinlichkeiten rational zu rekonstruieren. Die Fragen nach der politi‐ schen Macht und der Komplexität politischer Einflussstrukturen in pluralistischen Gesellschaften können in dieser Perspektive politikwissenschaftlich hinreichend be‐ antwortet werden. Nun hat bereits die sogenannte Power-Structure-Forschung auf diesen Anspruch mit dem Vorwurf reagiert, ein solcher Ansatz vernachlässige die Bedeutung der im Verborgenen operierenden heimlichen Elitennetzwerke aus Politik, Wirtschaft und Militär – eine solche „power elite“66 sei es in Wahrheit, die hinter den demokrati‐ schen Legitimations- – oder besser – Verblendungszusammenhängen die Fäden der gesellschaftlichen Steuerungsmacht in den Händen halte. Wenngleich dieser kriti‐ sche Ansatz mit einer Verdopplung der politischen Realitätsebenen arbeitet, so un‐ terscheidet er sich doch keineswegs vom Transparenzoptimismus der empirischen Demokratietheorie, die demokratischen Machtstrukturen vollends vergegenwärtigen zu können, was übrigens auch für die meisten Variationen der Policy-Analyse mit ihrer Aufmerksamkeit für die Verschränkung privater und staatlicher Akteure in Governance-Prozessen gilt.67 Kann das Verhältnis von Geheimnis und Politik im demokratischen Verfassungs‐ staat erhellt werden, ohne diesen Transparenzoptimismus zu teilen? Die folgende Perspektive richtet sich an der Frage nach der Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit der Legitimationsvoraussetzungen demokratischer Staatlichkeit aus und kann hier abschließend an zwei Punkten diskutiert werden: Der erste Punkt bezieht sich auf die Verborgenheit des Souveräns im demokrati‐ schen Verfassungsstaat: Bereits der Staatsrechtler Martin Kriele hatte 1975 die um‐ strittene These aufgestellt, dass es im demokratischen Verfassungsstaat eigentlich keinen Souverän geben dürfe – da diese radikale Instanz der Letztentscheidung durch ihre Machtfülle dem Gedanken der konstitutionellen Dispersion von Macht‐ monopolen zuwiderlaufe und stets mit der Drohung verbunden wäre, die konstitutio‐ nelle Ordnung selbst aus den Angeln zu heben.68 Demokratietheoretisch ist dieser Grundgedanke in einer anderen Hinsicht entwickelt worden: Die Debatte um den leeren Ort der Macht hat – nicht repräsentationstheoretisch wie das Verfassungs‐ recht, sondern symboltheoretisch und auch auf das Problem der Visualisierbarkeit 66 Mills 1956. 67 Knobloch 2011, S. 7-34. 68 Kriele 1975.

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bzw. der Verdeckung der Verborgenheit zielend – die Frage nach der Sichtbarkeit und der Unsichtbarkeit des demokratischen Souveräns gestellt. Das Volk zeigt sich demnach nicht als Totalität und als transparentes Kollektivsubjekt, sondern immer nur in prekären Verkörperungen und Visibilisierungen, die aber zu keiner Transpa‐ renz des Ganzen führen und die Politik des demokratischen Souveräns konstitutiv in Verbindung setzen mit Elementen der Verdeckung, der Verborgenheit, auch dem Mythos, der Heiligkeit, der Flüchtigkeit und der Täuschung – also dem Geheimnis. Entgegen der Annahme der politiksoziologischen Analyse, die Herrschaftsstrukturen abschließend und umfänglich benennen zu können, bleibt das demokratische Subjekt in seiner Totalität entzogen. Ein solches „demokratisches Arkanum“ muss aber kein Topos einer liberalismusskeptischen Gegenaufklärung sein, sondern ist gerade auch ein unter normativen Gesichtspunkten bedenkenswerter Aspekt der freiheitsermögli‐ chenden Offenheit demokratischer Ordnung und der Erschließung von Möglich‐ keitsräumen. Ein solches „demokratisches Arkanum“ läge demnach in der Entzo‐ genheit des legitimierenden Kollektivsubjektes, das sich einer dauerhaften Aneig‐ nung und Transparenz durch das staatliche Machtpersonal entzieht und auch selbst immer zu einem Teil verdeckt bleibt und bleiben muss – weil diese Verdeckung, um einen Begriff von Herfried Münkler abzuwandeln, als eine „Visibilitätsreserve“ de‐ mokratischer Macht verstanden werden kann.69 Das Volk ist zwar das permanente Objekt der demokratischen Begierde, aber kein Gegenstand der politischen Erfahr‐ barkeit. Es lässt sich in Protestbewegungen mobilisieren, zeigt sich aber nie ganz – gerade durch dieses offene Potenzial aber erhält es seine Macht. Der zweite Punkt bezieht sich auf die Verfügbarkeit bürgerschaftlicher Loyalität: Die Geschichte des Hochverrates zeigt, wie sich mit der Genese moderner Staatlich‐ keit die Gesetze zum Schutz des Souveräns bereits in der vormodernen Monarchie auf einen Bereich erstreckten, der über das äußerliche Verhalten und sichtbare Hand‐ lungen weit hinausging. Vielmehr lag der Kern dieser Verratsgesetze in der Regulie‐ rung der inneren Glaubenssysteme und Überzeugungen, die für die Sicherheit des Gemeinwesens von höchster Bedeutung waren. Das englische Gesetz über Hochver‐ rat von 1351 versucht somit, nicht allein physische Angriffe auf den Souverän zu sanktionieren, sondern auch den Bereich der symbolischen Geltungsannahmen in den Bereich politischer Strafe zu integrieren:70 Die Vorstellung vom Tode des Kö‐ nigs gilt demnach bereits als Verrat am Gemeinwesen und unterstreicht, wie weit die Idee moderner Rechtsstaatlichkeit mit dem ihr zugrunde liegenden Trennungspostu‐ lat von Recht und Moral, von Legalität und Legitimität sich von diesem Denken dis‐ tanziert. Kants Idee einer Republik von verständigen Teufeln veranschaulicht den Bruch, wenn man sie mit dem von Kant so verehrten Rousseau und seiner Republik des Gesellschaftsvertrages vergleicht: Während Kant bereits unter den Bedingungen 69 Münkler 1995, S. 223. 70 Krischer 2019, S. 178.

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moderner Ausdifferenzierung und weltanschaulicher Pluralisierung die normative und faktische Unverfügbarkeit der Glaubensbekenntnisse und subjektiven Geltungs‐ gründe bürgerlichen Handelns seiner politischen Theorie zugrunde legt, so verweist Rousseau mit seiner Idee der bürgerlichen Zivilreligion darauf, dass auch zu Beginn des modernen Verfassungsstaates noch ein deutliches Bewusstsein von der absoluten Entzogenheit individueller Bekenntnisse für die souveräne Staatsgewalt existierte – eine Entzogenheit, die nicht nur monarchischen Herrschaftsansprüchen widersprach, sondern auch und gerade in einer Republik die Grundlagen des Gemeinwesens dau‐ erhaft gefährden müsste.71 Damit löst Rousseau die Idee der lèse majesté von der Person des Monarchen und überträgt die Vorstellung einer Idee des unverletzlichen souveränen Körpers auf die Gesetze der Republik. Diese sind nun nicht mehr als diesseitige Verkörperung einer jenseitigen göttlichen Herrschaftslegitimation zu ver‐ stehen, sondern ein Ausdruck des immanenten volonté générale. In Form der Verfas‐ sung bilden sie nun jenen sakralen Wesenskern der politischen Ordnung, der gegen jegliche, sowohl sichtbaren als auch unsichtbaren, Angriffe geschützt werden muss. Damit aber entgrenzt Rousseau zugleich jenes innere Verhältnis von Politik und Ge‐ heimnis, das weder in der monarchischen Herrschaft noch in der Personalisierung der Souveränität eine enge Definition gefunden hatte, und generalisiert den stets ge‐ genwärtigen Verdacht auf die unsichtbare Verletzung der geheiligten Gesetze. In der Rousseau’schen Republik droht dem Bürger daher das auf Dauer gestellte Misstrau‐ en der Gesetzesmacht, die äußere Demonstration innerer Gesinnung wird zum not‐ wendigen Ritual – zur Gesetzesbefolgung reicht es daher nicht, das Handeln den geltenden Regeln zu unterwerfen, sondern diese Befolgung muss auch gewollt wer‐ den. Während bei Kant der Raum der inneren Beweggründe des öffentlichen Han‐ delns hinter einem Schleier des Nichtwissens verschwindet und dem Staat als prinzi‐ piell unzugänglicher Bereich verwehrt wird, so versucht Rousseau über die Zivilreli‐ gion, den Schlüssel für den bürgerlichen Innenbereich nicht ganz aus der politischen Hand zu geben. Auch wenn der innerste Kern des Gewissens auch in der republika‐ nischen Ordnung verborgen bleibt, so werden die mächtigen Subjektivierungsmäch‐ te doch einer staatlichen Aufsicht unterstellt und gewinnen die Dimension eines neu‐ en, symbolischen Machtmittels zur Generierung politischen Geltungsglaubens. Un‐ klar bleibt aber gerade in der bei Rousseau fehlenden Differenzierung von Verfas‐ sung und einfachem Gesetz, bei welcher – sei es innerer, sei es äußerer – Rechtsver‐ letzung der Bürger bereits unter den Verdacht des Verrates fällt. Legt man diese Konzeption eng aus, so würde sie die Notwendigkeit eines generalisierten Verfas‐ sungspatriotismus bedeuten, einer Bekenntnispflicht auf die Grundlagen des Ge‐ meinwesens. Legt man sie weit aus, so steht – der Tendenz nach – jeder Rechtsver‐ stoß unter dem möglichen Verdacht einer Entweihung der öffentlichen Ordnung und

71 Dazu Schulz 2013, S. 335-359.

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einer Verletzung des souveränen Körpers der Republik. „Eine Regierung braucht nur unbestimmt zu lassen, was Verrat sei, und sie wird zur Despotie“ – so hatte Montes‐ quieu diesen Zusammenhang beschrieben.72 Aber auch eine Regierung, die sich der inzwischen ungeahnte Möglichkeiten bietenden geheimdienstlichen Verfügbarkeits‐ techniken in vollem Maße bedient, kann möglicherweise sehr schnell feststellen, dass sie damit langfristig das Vertrauen als Ressource demokratischer Legitimität zerstört.73

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V. Der aktuelle Kampf gegen die (un)sichtbare Macht

Alexander Weiß Gute und schlechte Geheimnisse. Zur politischen Theorie des Geheimnisses im Anschluss an Niklas Luhmann

1. Einführung Das Geheimnis ist keiner der zahlreichen theoretisch ausgearbeiteten Begriffe Niklas Luhmanns. Er wird zwar an verschiedenen Stellen erwähnt und verwendet, aber nur ansatzweise systematisch entwickelt. Nur im Kontext der Religion wird der Begriff ausgiebig verhandelt, etwa im Abschnitt „Geheimnisse der Religion und die Moral“ in „Gesellschaft der Gesellschaft“1 oder in „Die Religion der Gesellschaft“2, wo auch die Funktion des Geheimnisses für Religion angegeben wird: „Das Sakrale dis‐ tinguiert und schützt sich selbst durch diese Form des Geheimnisses gegen Triviali‐ sierung.“3 Dieser historisch frühe Schutz gegen Entzauberung weist als zusätzliche Eigenschaft auf, dass im Fall der Aufdeckung des religiösen Geheimnisses der Auf‐ klärer selbst – so die innerreligiöse Deutung – geschädigt wird: „Nur als Religion hat das Geheimnis seinen ursprünglichen Sinn bewahrt: Denn Religion setzt voraus, daß eine Entlarvung das Geheimnis nicht zerstört, sondern die Neugierigen mit Ver‐ ständnislosigkeit bestraft.“4 Über diesen systemischen Schutz der Religion hat das Geheimnis aber auch eine allgemeine, kommunikationsbezogene Funktion: „Die Darstellung des Sakralen als eines Geheimnisses hat gewichtige Vorteile. Sie ver‐ fremdet das, was man wahrnimmt, beläßt es aber im Zustand des Wahrnehmbaren“5 – das Geheimnis macht etwas verfügbar, auf das man nicht in derselben Weise re‐ agieren muss wie auf Bekanntes. Ob diese Entlastung von gewohnten Wahrneh‐ mungs- und Reaktionsmustern eine allgemeine und sogar eine politisch-theoretische Dimension hat, soll in diesem Beitrag ermittelt werden. Ansätze eines allgemeinen Geheimnisbegriffes finden sich also kaum, wenn man vom Kapitel „Geheimnis, Zeit und Ewigkeit“ aus dem zusammen mit Peter Fuchs geschriebenen Buch „Reden und Schweigen“6 absieht. Selbst dort aber, bleiben die

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Luhmann 1997a, S. 230-249. Luhmann 2002a. Luhmann 2002a, S. 61. Luhmann 1997a, S. 236f. Luhmann 2002a, S. 61. Luhmann 1989.

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Abstraktionshöhe und die Anschlussfähigkeit der Begriffsbestimmung für Luh‐ manns Verhältnisse eher gering, was wahrscheinlich damit zusammenhängt, dass das Geheimnis weder zu den normativ aufgeladenen Begriffsbeständen der Selbstbe‐ schreibung „Alteuropas“ gehört, die Luhmann so emphatisch kritisiert (vor allem im zweiten Band der „Gesellschaft der Gesellschaft“7), noch andererseits schon so ab‐ strakt gefasst ist, dass der Begriff aus Theoriebeständen außerhalb der klassischen Sozialwissenschaften beliehen werden könnte. Zwar hätte Luhmann ihn durchaus aus der Soziologie selbst, nämlich von Georg Simmel, beziehen und weiterentwi‐ ckeln können, der ihn schon 1908 in den Texten „Das Geheimnis. Eine sozialpsy‐ chologische Skizze“8 und im Kapitel „Das Geheimnis und die geheime Gesell‐ schaft“ in der „Soziologie“9 in für Luhmann eigentlich attraktiver Weise von vorne‐ herein als ambivalenten Begriff, der eine neutrale Form beschreibt, fasst, aber diese Referenz erwähnt Luhmann nicht einmal in seinem Geheimniskapitel10. An anderer Stelle11 bezieht er sich zwar kurz auf ihn, aber – wie weiter unten ausgeführt wird – nur, um ihn nicht in sein eigenes Begriffsrepertoire aufzunehmen. Aufgabe dieses Textes ist es, verschiedene Aspekte des Geheimnisses aus der Systemtheorie Luhmanns herauszuarbeiten, die sich am Ende zu einer These über den Zusammenhang von politischer Macht und Geheimnis verdichten, die wiederum im Kontext neuerer Versuche einer „Kritischen Systemtheorie“12 interpretiert wird. Dabei soll zunächst allgemein nach Begriffen von Geheimnissen gesucht werden. Durch eine Verschiebung von Begriffen und Gegenbegriffen wird ein extrapolierter, bei Luhmann selbst nicht vollständig ausformulierter Begriff entwickelt. Im zweiten Teil wird dieser dann auf das politische System, nämlich zunächst auf Macht und dann auf den Staat bezogen. Im abschließenden Ausblick gehe ich auf die Frage ein, ob der Begriff des Geheimnisses sich eignet, die jüngere Debatte um kritische oder emanzipative Systemtheorie zu befruchten.

2. Die Geheimnisse des Niklas Luhmann Im Kapitel „Geheimnis, Zeit und Ewigkeit“ im zusammen mit Peter Fuchs verfass‐ ten Buch „Reden und Schweigen“ arbeitet Luhmann an einer historischen Analyse der „semantischen Form des ‚Geheimnisses‘“13. Zum Befund der historischen Ana‐

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Luhmann 1997a. Simmel 1993. Simmel 1992. Luhmann 1989. Luhmann 1984, S. 177f. Amstutz/Fischer-Lescano 2013; Möller/Siri 2016. Luhmann 1989, S. 10.

lyse gehört eine Transformation von unbekanntem „Wissen und Willen Gottes“14 als Geheimnis hin zu einer neuen, modernen Form, die – nicht zufällig – mit der Aus‐ differenzierung moderner staatlicher Politik zusammenhängt. In Anlehnung an Luci‐ an Hölschers Studie über „Öffentlichkeit und Geheimnis“15 formuliert Luhmann die historische These, dass nach der Frühen Neuzeit, in der das Bewahren von Geheim‐ nissen gewöhnlich moralisch gelobt wird, mit dem 18. Jahrhundert die Wende dahin, dass Geheimnisse und Arkanbereiche der Macht prinzipiell suspekt seien, eingeleitet wird. Dies wird mit dem generellen Präferieren von Öffentlichkeit statt Geheimhal‐ tung in der Demokratie verbunden.16 Das Geheimnis als Form ist dabei in seiner Bewertung ambivalent, denn Luh‐ mann stellt fest, dass „Geheimnisse in sozialen Situationen eine doppelte Bedeutung haben - je nachdem, ob es sich um eigene Geheimnisse handelt oder um die der an‐ deren“17. Er fasst dabei aber alles Nichtoffenbare unterschiedslos als Geheimnis, weil er hierin eine Folge der allgemeinen Möglichkeit, in der Kommunikation zu schweigen, sieht. Es bestehe eine Asymmetrie zwischen Reden und Schweigen, denn: „Wer schweigt, kann immer noch reden. Wer dagegen geredet hat, der kann darüber nicht mehr schweigen.“18 Ob jemand schweigt, obwohl er reden könnte, oder schweigt, weil er gar nichts zu sagen hat, macht hier für Luhmann keinen Un‐ terschied. Hier können wir ihm nicht vollständig folgen, denn es verändert die Situa‐ tion: Wer schweigt, um ein Geheimnis zu bewahren – also etwas, das er beobachten kann und das auch der Kommunikationspartner beobachten könnte, wenn er durch das Vorenthalten der Information nicht daran gehindert würde –, prägt die Situation, indem er Überlegungen über Motive der Geheimhaltung und Inhalt des Geheimnis‐ ses provoziert (Luhmann meint dazu: „Das Reden vermittelt Anschlussfähigkeit, das Schweigen Reflexion“19). Etwas davon Verschiedenes geschieht jedoch, wenn derje‐ nige, der schweigt, damit gar nichts verschweigt (und damit gerade nicht den kon‐ struktivistischen kommunikativen Imperativ „man kann nicht nicht kommunizieren“ bewahrheitet), sondern im Schweigen etwas erscheint, das zunächst gar keinen In‐ formationsgehalt in der laufenden Kommunikation hat – vielleicht verspürt der Schweigende einen plötzlichen Schmerz oder ihm fällt etwas gar nicht zur laufenden Kommunikation Gehörendes ein oder er hört auf einmal eine göttliche Stimme. Die‐ ses Schweigen verweist nicht auf ein Geheimnis, sondern auf etwas hier noch Unbe‐ stimmtes, wodurch das Sprachspiel aber geändert wird und sogar anders geändert wird als durch ein Geheimnis. Um dem auf die Spur zu kommen, müssen wir weiter‐ graben. 14 15 16 17 18 19

Luhmann 1989, S. 102. Hölscher 1979. Für eine Ideengeschichte der Begründung von Parlamentsöffentlichkeit, vgl. Weiß 2010. Luhmann 1989, S. 124. Luhmann 1989, S. 105. Luhmann 1989, S. 105.

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In einer Passage in „Gesellschaft der Gesellschaft“ bezeichnet Luhmann sehr in der Tradition Max Webers Geheimnisse als eine vormoderne Form, die durch Ratio‐ nalisierung mehr und mehr verschwindet: „Die alte Welt war voll unergründlicher ‚Geheimnisse‘, ja sie war so wie das Wesen der Dinge und der Wille Gottes selbst ein Geheimnis und nicht, oder nur sehr begrenzt, zur Erkenntnis, wohl aber zur stau‐ nenden Bewunderung geschaffen.“20 In der modernen Gesellschaft hingegen ist die Form des Geheimnisses durch die in jeder einzelnen Handlung und Kommunikation entstehende Uneinsehbarkeit ersetzt worden: „Die moderne Welt ist nicht mehr als Geheimnis zu verehren und zu fürchten. Sie ist in genau diesem Sinne nicht mehr heilig […]. Die Einheit der Welt ist somit kein Geheimnis, sie ist ein Paradox. Sie ist das Paradox des Weltbeobachters, der sich in der Welt aufhält, aber sich selbst im Beobachten nicht beobachten kann.“21 Weil also keine privilegierte Beobachtungs‐ position in der funktional differenzierten Gesellschaft mehr existiert – und dies ist ja eine zentrale These von Luhmanns Gesellschaftstheorie –, ist zweierlei geschehen: Zum einen besteht gar nicht mehr die Voraussetzung für die Annahme großer Ge‐ heimnisse im alten Sinne, denn für diese Annahme brauchte man eine zentrale Be‐ obachtungsposition, die – paradox formuliert – etwas, was für alle unsichtbar ist, se‐ hen könnte. Zugleich zeigt schon die Erfahrung – und spätestens dann die theoreti‐ sche Erkenntnis – der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft, dass Ope‐ rationen in ihrer Reichweite so begrenzt sind, dass immer etwas als „unsichtbar“, „jenseits“ oder Ähnliches angenommen werden kann – aber dies ist dann kein gro‐ ßes Geheimnis mehr, sondern es kann zumeist in anderen Systemen einfach gesehen werden. Ob es etwas gibt, dass jenseits aller Systeme liegt: Diese Annahme kann gar nicht mehr mit den systemrelativen Operationen angenommen werden. Luhmann selbst verwendet für diese systemisch erzeugte Intransparenz nicht mehr den Begriff des Geheimnisses. Ganz am Ende seines Lebens kehrt er noch einmal thematisch zu diesem Zusam‐ menhang zurück und untersucht im Text „Die Kontrolle von Intransparenz“, der in seinem Todesjahr 1998 verfasst und 2017 posthum herausgegeben wurde,22 den Zu‐ sammenhang von Sichtbarkeit, Erkenntnis und System. Die einmalige Verwendung des Wortes „Geheimnis“ im Text ist – wie bereits in „Gesellschaft der Gesellschaft“ – der vormodernen und religiösen Annahme vom „Geheimnis Gottes“23 vorbehalten. In der Moderne dagegen führe die gleichzeitige Verbesserung der Beobachtungsin‐ strumente und die steigende Intransparenz durch zunehmende systemische Komple‐ xität, wodurch der Effekt ersterer mehr als überkompensiert wird, zwar zu relativ mehr Intransparenz, aber die verhandelt Luhmann hier nicht mehr in der Form des 20 21 22 23

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Luhmann 1997a, S. 154. Luhmann 1997a, S. 154. Luhmann 2017. Luhmann 2017, S. 97.

Geheimnisses, sondern verlagert sie vor allem in die Figur der unsicheren Zukunft. Ein moderner Ersatz für Geheimnisse sind für Luhmann die unsichere Zukunft und die darauf abzielende „Prognose der Unprognostizierbarkeit“24. Es scheint aber, dass Luhmann mit dem Verzicht auf den Geheimnisbegriff für die Moderne eine Gelegenheit weiterer und vor allem historische Vergleiche ermögli‐ chenden Differenzierung ausgelassen hat, die im systemtheoretischen Theoriegebäu‐ de nicht nur möglich, sondern durchaus schon angelegt war. Dies soll hier im Fol‐ genden nachgeholt werden. Aus der Transformation des Intransparenten von einem nicht sichtbaren Geheimnis, das aber von zentraler Position (also etwa der Religion) sichtbar sein müsste, zu einem Nebenprodukt von funktionssysteminternen Opera‐ tionen, lässt sich nämlich ein systematischer Geheimnisbegriff in der modernen Ge‐ sellschaft extrapolieren: Als Geheimnis wird dann etwas bezeichnet, das sichtbar sein müsste, aus jeweils empirischen Gründen aber nicht sichtbar ist. Dies legt dann Geheimnisse auf systeminterne Zustände fest, denn beobachten kann ein System nur das, worauf es seinen Code anwendet: Die Kunst sieht die Welt in den Kategorien von schön und hässlich bzw. avantgardistisch und traditionell; das Recht sieht die Welt in der Unterscheidung von legal und illegal, die Politik in machtüberlegen und machtunterlegen – soweit die bekannte Idee von Systemcodes bei Luhmann. Ent‐ scheidend ist hierbei Luhmanns Gedanke, dass die Systeme mit ihren Codes die Welt zwar total, aber eben nicht vollständig wahrnehmen: „Codes sind Totalkon‐ struktionen, sie sind Weltkonstruktionen mit Universalitätsanspruch und ohne onto‐ logische Begrenzung“25, aber mit den Codes der Funktionssysteme kann man eben nicht alles an den beobachteten Elementen erfassen. Ein Buch kann im Rechtssys‐ tem als Corpus Delicti zur Erfassung etwa eines unrechtmäßigen Diebstahls dienen; im Wirtschaftssystem kann dasselbe Buch teuer oder billig sein, für das Wissen‐ schaftssystem kann es Wahres oder Falsches enthalten – und ob dies Buch für eine Religion eine heilige Schrift ist, bleibt für alle genannten Funktionssysteme ein Ge‐ heimnis. Das heißt aber, dass die Funktionssysteme die Welt total, aber nicht voll‐ ständig wahrnehmen – sie sehen alle Dinge, aber nicht alles an den Dingen, und was sie nicht sehen, bleibt für sie geheim.

2.1. Das Geheimnis und das Andere Über den Aufsatz aus „Reden und Schweigen“ und einige sporadische Beispiele wie „das Geheimnis der Schöpfung“26 oder die Verwendung geheimer Verschlusssachen

24 Luhmann 2017, S. 96. 25 Luhmann 1986, S. 78f. 26 Luhmann 1992, S. 97.

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in Ministerien27 liegt also keine systematische Ausarbeitung eines Geheimnisbegrif‐ fes vor. Bei der folgenden Extrapolation eines solchen Begriffes aus Luhmanns Werk lehne ich mich an ein Verfahren an, das Luhmann beim Begriff des Risikos28 selbst ausführt: Er tauscht den Gegenbegriff, der üblicherweise vorliegt, durch einen zunächst sehr unintuitiv erscheinenden neuen Gegenbegriff aus. Im Fall von Risiko verwirft Luhmann die Gegenüberstellung von Risiko und Sicherheit – weil die Ent‐ scheidung zwischen beiden auf einer Fiktion von rationaler Entscheidung beruhe, die selbst wiederum für eine soziologische Theorie problematisch sei (man darf dies als Polemik gegen Ulrich Becks Begriffsfassung in der „Risikogesellschaft“ lesen) – und schlägt die Unterscheidung von Risiko und Gefahr vor:29 „Die Unterscheidung setzt voraus (und unterscheidet sich dadurch von anderen Unterscheidungen), daß in Bezug auf künftige Schäden Unsicherheit besteht. Dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder wird der etwaige Schaden als Folge der Entscheidung gesehen, also auf die Entscheidung zugerechnet. Dann sprechen wir von Risiko, und zwar vom Risiko der Entscheidung. Oder der etwaige Schaden wird als extern veranlaßt gesehen, also auf die Umwelt zugerechnet. Dann sprechen wir von Gefahr.“30 Wenn man hier eine Methode isolieren möchte, mit der Luhmann beabsichtigt, „dem Begriff des Risikos eine andere Form [zu, A. W.] geben“31, dann besteht sie in folgenden Schritten: 1. Zum Begriff (Risiko) wird aus Tradition und gegenwärtigen Debatten ein gängi‐ ger Gegenbegriff (Sicherheit) gestellt. 2. Das theoretische Prinzip (rationale Entscheidung zwischen Sicherheit und Risi‐ ko), das der Unterscheidung von Begriff und traditionellem Gegenbegriff voraus‐ geht, wird rekonstruiert. 3. Dieses Prinzip wird systemtheoretisch kritisiert und dekonstruiert, indem konze‐ diert wird, dass es zwar für beteiligte Akteure (also auf der Ebene der Beobach‐ tung erster Ordnung) handlungsrelevant sein mag, aber für eine Gesellschafts‐ theorie (die Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung) unzureichend ist. 4. Ein neuer Gegenbegriff, der systemtheoretische Unterscheidungen begrifflich aufnimmt, wird eingeführt (Risiko versus Gefahr). 5. Eine politische Theorie nach Luhmann muss dann die beiden Begriffe in eine Re‐ lation bringen, die politikrelevant ist. Das politische System arbeitet mit Risiko, braucht aber Gefahr als Ressource, mit der es seine gesellschaftliche Funktion unterstreichen kann. Das politische System transformiert für die Gesellschaft kontinuierlich Gefahr in Risiko. So hängen die beiden zuvor analytisch unter‐ schiedenen Begriffe Gefahr und Risiko strukturell zusammen. 27 28 29 30 31

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Luhmann 1992, S. 150. Luhmann 1991. Luhmann 1991, S. 9-40. Luhmann 1991, S. 30f. Luhmann 1991, S. 30.

In aller Kürze seien die Argumentationsschritte für den Begriff des Geheimnisses nachvollzogen: 1. Begriff und Gegenbegriff: Als Beleg für eine lange Tradition, in der Sichtbares von Unsichtbarem begrifflich unterschieden wurde, sei nur auf die Beiträge in dem von Rüdiger Voigt herausgegebenen Buch „Staatsgeheimnisse. Arkanpolitik im Wandel der Zeiten“32 verwiesen. Auf der einen Seite entsteht ein Begriffsfeld von „Geheimnis, Arkanbereich etc.“, mit dem das Nichtgesehene bezeichnet wird. Auf der Gegenseite werden Begriffe wie „öffentlich, transparent etc.“ ver‐ wendet. Als Folge dieser Fassung der Begriffsunterscheidung werden etwa Fra‐ gen gestellt, wie legitim die Verwendung der jeweils einen Seite der Unterschei‐ dung sei.33 Es wird auch – und hier auch mit Referenz auf Luhmann – nach der Funktion von Geheimnissen gefragt. Claudia Ritzi erinnert daran, dass Luhmann die Funk‐ tion von Geheimnissen in der Zeitdimension gesehen hat, also darin, dass ihre Verwendung in der Kommunikation einen Zeitgewinn oder die Vergrößerung von Zeitfenstern bewirken könne.34 2. Unterscheidungsprinzip: Die erkenntnistheoretische Festlegung, die der Unter‐ scheidung von öffentlich und geheim vorausgeht, betrifft die Fähigkeit der Beob‐ achtung, die hier nicht konstruktivistisch als Externalisierung der Ergebnisse ei‐ gener Operationen, sondern als Erkenntnis von Objekten gefasst wird. Luhmanns eigenes Verständnis von Beobachtung ist an zahlreichen Stellen umfassend aus‐ gearbeitet,35 und eine Skepsis gegenüber der Vorstellung, „öffentlich“ und „ge‐ heim“ als Qualitäten von Gegenständen unterscheiden zu können, statt sie als Konstruktionsleistungen von Beobachtern zu verrechnen, ergibt sich daraus un‐ mittelbar. Dies führt zur: 3. Dekonstruktion des Prinzips: Akteure, die beobachten, brauchen die Annahme, dass das, was sie beobachten, unabhängig von ihnen selbst existiert und findund beobachtbar ist. Das Geheimnis gehört so zu einer außersubjektiven Realität, für die die Wissenschaftstradition das Bild der Natur, dargestellt als sich entklei‐ dende Frau, entwickelt hat: In der Université Paris Descartes ist Louis Ernest Barrias‘ „La Nature se dévoilant à la science“ (von 1899) zu sehen, die in der Tradition des an August Comte angelehnten erkenntnistheoretischen Optimismus steht. Neben dieser Linie gab es aber stets auch die Gegenposition, etwa in der deutschen Romantik. In Novalis‘ „Heinrich von Ofterdingen“ findet der Protago‐ nist in einem Bergwerk, das er noch nie zuvor betreten hat, ein Buch, das zu sei‐ ner Überraschung sein eigenes Leben bis zu diesem Moment enthält. Dadurch 32 33 34 35

Voigt 2017. Campagna 2017. Ritzi 2017, S. 186. Etwa Luhmann 1984, auch Luhmann 1997b, S. 92-164.

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wird die Unterscheidung von Beobachter und Beobachtetem dekonstruiert. Ohne die psychologischen Implikationen der deutschen Romantik zu übernehmen, die bei der Erkenntnis, dass Subjekte in der Welt immer nur sich selbst wiederfinden (siehe auch schon Schillers Ballade „Das verschleierte Bild zu Sais“), diese in den Wahnsinn gleiten lässt, schließt Luhmann an diese erkenntnistheoretische Tradition an, indem er Systeme zwar (und entgegen verbreiteter Rezeption) als kognitiv offen fasst, aber durch die dem gegenüberstehende operative Geschlos‐ senheit das Erkennen von „ganz Anderem“ als unmöglich beschreibt. Wie oben angeführt, können Systeme ihren Code auf prinzipiell alle (also auch immer neue und unbekannte) Gegenstände anwenden (kognitive Offenheit), aber dennoch se‐ hen sie an diesen Gegenständen immer nur die Dimension, auf die der Code ge‐ richtet ist (operative Geschlossenheit). In diesem Sinne, dass Systeme an neuen Gegenständen immer nur das sehen, was sie – an anderen Gegenständen – bereits kennen, wird die Unterscheidung von öffentlich und geheim problematisch: Dass ein neuer Gegenstand für das politische System immer in Bezug auf Regierung oder Opposition (und nicht etwa als transzendent oder immanent, wahr oder falsch etc.) beobachtet wird, ist a priori – vor der Beobachtung – schon bekannt, also transparent. Ein mögliches Geheimnis beschränkt sich hier nur auf die offe‐ ne Frage, welcher Wert des Codes zugerechnet wird. 4. Neuer Gegenbegriff: Spätestens hier ist es angebracht, über neue Begriffsbildun‐ gen nachzudenken. Der Vorschlag, der hier unterbreitet wird, besteht darin, auf der Theorieebene nicht mehr nur zwischen „transparent“ (oder „öffentlich“) und „geheim“ zu unterscheiden, sondern zusätzlich zwischen „geheim“ und „anders“ bzw. zwischen „Geheimnis“ und „Anderem“. Als Geheimnis sollen dabei die prinzipiell vom System beobachtbaren, aber aktuell jeweils unbekannten Wertzu‐ rechnungen des eigenen Codes bezeichnet werden. Dies beruht auf der system‐ theoretisch gewonnenen Sicht, dass Beobachtung selbst – zumindest bezüglich ihrer Erfolgsaussichten – eine nicht allzu komplexe Operation ist: Entweder wird der systemeigene Code angewandt oder nicht. Wird er nicht angewandt, kann das System nichts sehen. Wird er angewandt, kann es etwas sehen, außer eben in den Fällen, in denen empirisch kontingent der Erfolg von Beobachtung verhindert wird. Wenn etwa unklar ist, ob geheimes Verhalten legal oder illegal ist, kann das Rechtssystem (und in der Folge das politische System) Korruption nicht sehen, sondern nur vermuten und „Aufklärung“ fordern. Das, was ein System prinzipi‐ ell nicht mit seinem Code erfassen kann, was also nur von anderen Systemen oder eben auf der Ebene der Gesellschaftstheorie gesehen werden kann, soll An‐ deres genannt werden. Luhmanns Beispiel für eine solche Konstellation (für die er den Begriff „Anderes“ nicht verwendet hat) ist die Rolle der frühen Grünen Partei für das politische System: Durch ihre, wie Luhmann meinte, angstzentrier‐ te Kommunikation und ihre Weigerung, sich zwischen Regierung und Oppositi‐

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on zu entscheiden, war sie für das politische System schlicht nicht erkennbar. So ist der in seiner Doppeldeutigkeit allerdings polemische Satz über die Grünen zu verstehen: „Sie haben völlig recht mit ihren Prinzipien, man kann ihnen nur nicht zuhören.“36 Geheimnisse sind noch nicht bekannt, aber die Bedingungen ihrer Beobachtung sind im System bereits angelegt. Das Andere dagegen ist Rauschen – es ist nicht beobachtbar. Wir finden hier eine systemtheoretische, auf Beobachtung statt auf Sprache bezogene Reformulierung von Wittgensteins Idee, dass die Grenzen der Sprache auch die Grenzen der Welt seien und es Unaussprechliches (in unserem Sinne: Anderes) gebe, was sich zeige und das Mystische sei. Die Unmöglichkeit der Überschreitung dieser Grenze mit den Mitteln der eigenen Operationen (also hier: des Sprachgebrauches) führt dann zum letzten Satz des Tractatus logicophilosophicus: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schwei‐ gen“ – was ja nicht etwa als Verhaltensaufforderung, sondern als Beschreibung nicht vorhandener Möglichkeiten zu lesen ist. Wenn es nach Wittgenstein etwas gibt, das unaussprechlich ist, sich aber zeigen kann, dann bedeutet dies reformu‐ liert in der systemtheoretischen Begrifflichkeit der Beobachtung: Etwas kann nicht beobachtet werden (dies war ja Teil der Definition des Anderen), das Sys‐ tem erlangt trotzdem „irgendwie“ Kenntnis davon, aber eben – und hier kommt die systemtheoretische Begrifflichkeit selbst an ihre Grenzen – über andere Ka‐ näle als über die der Beobachtung mithilfe der Codes. Ein System kann etwa eine Zustandsänderung bei sich selbst wahrnehmen und dann auf das Wirken von etwas „Anderem“ zu schließen versuchen. Der Zugriff auf das Andere geschieht also über eine Abduktion. Mit der Unterscheidung von geheim und anders soll der andere Gegenbegriff – transparent – nicht ersetzt werden, sondern ihm wird eine neue Unterscheidung an die Seite gestellt, durch die der Begriff des Geheimen eine aus theoretischen Gründen angebrachte Komplexität erhält. Je nach Gegenstand, Frage und Ab‐ sicht der Forschung kann dann auf den einen oder anderen Gegenbegriff zuge‐ griffen werden – durch diese Konstellation unterscheidet sich das Vorgehen hier von dem, das Luhmann beim Risikobegriff angewandt hat. 5. Politikbezug und Relation der Gegenbegriffe: Das Andere ist diffus und bietet unklare Anknüpfungsmöglichkeiten – und genau dies hat für Systeme eine Funk‐ tion. Luhmann spricht von „Rechaotisierung“ als Gegenprozess zur „Selbst‐ despontaneifikation“.37 Dies sind die beiden Prozesse, die in einem System für das Austarieren von Flexibilität und Starrheit sorgen. Allerdings ist das politi‐ sche System tendenziell deswegen in Gefahr, Flexibilität zu verlieren, weil die Selbstdespontaneifikation sich im System durch „Erschöpfung der Phantasie, der 36 Luhmann 1986, S. 176. 37 Luhmann 1987, S. 129.

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Ressourcen, der Mitmachbereitschaft“ äußert, und dies sei „ein sehr allgemeiner Entwicklungsgang autopoietischer Systeme. Das politische System bildet keine Ausnahme“.38 Während also der Prozess, der im Ergebnis dafür sorgt, dass das politische System immer weniger Kontakt zur außerpolitischen Realität hat, ein kontinuierlicher, stets mitlaufender Prozess ist, bedarf die Gegenbewegung be‐ sonderer Ereignisse, um Schübe der Rechaotisierung von Systemen, die Umwelt‐ kontakt dann wieder verstärkt ermöglichen, zu bewirken, denn selbst wenn Letz‐ teres gelingt, „ist aber das Wechselbad von Selbstdespontaneifikation und Re‐ chaotisierung ein eigendynamischer Prozeß des politischen Systems ohne inhä‐ rente Garantie dafür, daß in diesem Prozeß wichtige, gesellschaftsstrukturell vor‐ gegebene Themen angemessen zur Sprache kommen. Das politische System re‐ agiert, auch und gerade bei binärer Codierung, in erster Linie immer auf sich selbst und nur in zweiter Linie auf das, was es sich mit selbstproduzierter Infor‐ mation an Umwelt verständlich machen kann“.39 In dieser Konstellation, deren Brisanz in der auf Komplexitätsreduktion und Sys‐ temstabilität fokussierenden, konservativ ausgerichteten Rezeptionslinie in der Systemtheorie selten bemerkt wird, gibt es keine „natürliche“ Stabilität: Konti‐ nuierliche Stabilisierung führt zu Erstarrung, und dem muss aktiv handelnd ent‐ gegengewirkt werden. Hier spielen Anderes und Geheimnisse eine zentrale Rol‐ le: Das politische System braucht das Andere, um dem Erstarrungsprozess entge‐ hen zu können. Über Irritationen durch das Andere kommen neue Themen, Per‐ spektiven und Normen in das System. Dem steht allerdings die informationelle Geschlossenheit von Systemen entgegen. Das System kann zwar mit Geheimnis‐ sen umgehen, nicht aber mit dem Anderen. Die Aufgabe, die sich für das politi‐ sche System ganz analog zur Gefahrtransformation in Risiko ergibt, ist die Transformation von Anderem in Geheimnisse, denn Geheimnisse tragen noch Spuren des Anderen in sich, sind im System aber (prinzipiell) beobachtbar.

2.2. Historische Verschiebungen Es sei noch vermerkt, dass sich die Beobachtungskonstellation von Geheimnissen historisch gewandelt hat: In vormodernen Gesellschaften, in denen es zentral heraus‐ gehobene Beobachtungspositionen gab (Monarch, Priester), war die Frage, was von dieser Stelle aus beobachtet wurde und was beobachtet werden konnte, für die übri‐ ge Gesellschaft nicht wirklich zu unterscheiden, sodass in der Semantik des Geheim‐ nisses diese Unterscheidung auch nicht notwendig war. Zwar waren die vielen klei‐ nen Geheimnisse, die Menschen mit prinzipiell gleichen Beobachtungsmöglichkei‐ 38 Luhmann 1987, S. 129. 39 Luhmann 1987, S. 130.

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ten dadurch voreinander haben konnten, dass sie unterschiedlich diese gleichen Möglichkeiten verwirklichen, immer möglich und existent, aber erst in einer funk‐ tional-differenzierten modernen Gesellschaft wird der Unterschied zwischen nicht beobachtetem und nicht beobachtbarem Geheimnis virulent: Was in einem System geschieht, kann im System prinzipiell beobachtet werden – was außerhalb geschieht, eben nicht. Die Frühe Neuzeit hat noch versucht, gesellschaftsweite Beobachtungs‐ perspektiven zu konstruieren und etwa die Vernunft, die Moral oder Ähnliches als funktionssystemübergreifende Beobachtungsdimension anzubieten, und Luhmann sieht in einer dieser semantischen Verschiebungen sogar den ausschlaggebenden Grund für das – außerhalb der Religion – weitgehende Verschwinden der Form des Geheimnisses: „Der geschichtlich wohl wichtigste Ausweg ist die Verschiebung des Geheimnisses der Religion in das (nicht eingestehbare) Paradox der Moral. Die Mo‐ ral selbst kann, ja muß weitgehend auf Geheimnisse (und damit auf Religion) ver‐ zichten. Sie muß, soll sie ihre eigene Funktion erfüllen, nicht geheim sein, sondern bekannt.“40 Bei dieser historischen Sicht unterschlägt Luhmann allerdings die neuen, spezi‐ fisch modernen Quellen immer neuer Geheimnisse, die ja auch mit zunehmender Komplexität zu tun haben.41 Diese modernen Quellen von Geheimnissen führen uns dazu, Geheimnis als Form in der Moderne zu analysieren. So kann auch die Entzau‐ berungssemantik bei Weber geradezu als Sedimentierung der Einsicht dieser moder‐ nen Ambivalenz des Geheimnisses gelesen werden, dass also zwar auf der einen Seite immer mehr „kleine“ Geheimnisse, etwa durch die neuen Untiefen bürokrati‐ schen Handelns, entstehen, dass sich aber auf der anderen Seite eine Beobachtungs‐ position entwickelt, die für die Beobachtung „großer“ Geheimnisse oder „des gro‐ ßen Geheimnis“ einem Prozess der Rationalisierung, Modernisierung und Entzaube‐ rung zum Opfer fällt, wie sie in unterschiedlichen Versionen Webers, Horkheimers und Adornos in der „Dialektik der Aufklärung“ beschrieben wird. In einer pointierten Gegenüberstellung hat auch Hartmut Böhme die Position Simmels, in der das Geheimnis als Errungenschaft der Menschheit gefeiert wird, und Webers, dessen Entzauberungsprozess diese Errungenschaft zu beseitigen scheint, beschrieben.42 Auch Luhmann selbst sieht beide Seiten dieses Prozesses im „Verhältnis von Latenzverlust und Aufklärung“: „Normalerweise denkt man das Zu‐ rückdrängen des Okkulten, Geheimnisvollen, Unbekannten und Unerkennbaren als Folge der Aufklärung. Man kann aber auch umgekehrt Aufklärung als Folge des Sogs betrachten, der mit dem Rückzug des Okkulten und notwendig Latenten ent‐

40 Luhmann 1997a, S. 243. 41 Vgl. als seltenen Versuch einer systemtheoretischen Aufnahme des Geheimnisbegriffes Sievers 1974, aber auch Diagnosen der „Wiederverzauberung der Welt“. 42 Böhme 1997.

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standen war.“43 Beides, „die Flut der Aufklärung und die Ebbe der Latenz“44, sei auf den Faktor der zunehmenden funktionalen Differenzierung der Gesellschaft zurück‐ zuführen. In dieser Differenzierungsphase zerfällt, wenn der Geheimnisbegriff weiterhin verwendet wird, die Form des Geheimnisses endgültig in zwei Unterformen für Un‐ bekanntes, aber prinzipiell Beobachtbares in einem System (das waren zuvor die „kleinen“ Geheimnisse) und das Nichtbeobachtbare außerhalb eines Systems – den Extremfall des zweiten Untertyps bildet „das große“ Geheimnis, das außerhalb der Gesellschaft als ganzer liegt. Hier sollte auch semantisch differenziert werden, und dies soll der Unterschied zwischen Geheimnis, das den alten Unterfall des prinzipiell beobachtbaren systeminternen Geheimnisses bezeichnet, und dem Anderen leisten.

3. Geheime und andere Macht In Bezug auf das Verhältnis von geheimer und sichtbarer Macht lassen sich generell zwei sich gegenüberstehende Traditionen ausmachen: Die eine fordert seit der glo‐ balen Antike das Sichtbar- und Bekanntmachen von Regeln und gesetztem Recht. Von der mesopotamischen und persischen Tradition der Veröffentlichung von Re‐ formabsichten und -inhalten, die am Zylinder Kyros‘ II. ablesbar sind, über die seit Cäsar im Römischen Reich etablierte Sitte, dass Beschlüsse des Senats auf dem Fo‐ rum Romanum bekannt gemacht wurden und die Verbreitung der Ashoka-Edikte auf Stelen und Felswänden in Indien kennen wir bereits vor der Moderne die Erwartung der Öffentlichkeit staatlichen Handelns. Diese Anforderung wird im Laufe der Ge‐ schichte des politischen Systems immer weiter ausgebaut und bezieht seit der Mo‐ derne auch das Offenlegen von Handlungsmotiven mit ein, um – im Anschluss an John Locke – „Willkür“ zu vermeiden, und endet schließlich in der Forderung nach Offenlegung von Gründen für eine Handlung durch öffentliche Rechtfertigung (bei Rainer Forst). Differenzierungsgeschichtlich ist hier leicht das zu erkennen, was Luhmann „Kontingenzformeln“ nennt: „Die Form, mit der das System selbst Limi‐ tationalität einführt, wollen wir Kontingenzformel nennen: Kontingenzformeln be‐ nennen ‚Bedingungen der Möglichkeit‘.“45 Sie dienen der kontrollierten Limitierung von Möglichkeiten, die entstehen, wenn alte Limitierungen nicht mehr funktionieren und dadurch ein Überschuss von Möglichkeiten entsteht. Wenn gesellschaftlich übergreifende Religion oder Moral nicht mehr in allen sich neu ausdifferenzierenden Teilsystemen eindeutige Handlungsanweisungen vorgeben, wenn also politisch rich‐ tiges Verhalten nicht mehr in Fürstenspiegeln als Verlängerung göttlicher Vernunft in 43 Luhmann 1984, S. 465. 44 Luhmann 1984, S. 465. 45 Luhmann 2002b, S. 120.

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das Handeln des Monarchen oder als Anwendung einer in allen Bereichen der Ge‐ sellschaft gleich gültigen Moral verstanden wird, dann ist auf einmal vieles, ja zu vieles möglich. Nun muss im System selbst eine Einschränkungssemantik, also eine Kontingenzformel gefunden werden. Von politischer Klugheit und Staatsräson über das Ziel der Willkürvermeidung bis zur Unterscheidung von legitimen und nicht le‐ gitimen Handlungen (was, wie Luhmann immer wieder betont, ja eine systeminterne Unterscheidung ist, die gerade nicht in der Unterscheidung von moralisch gut und schlecht aufgeht)46 entwickeln sich solche Formeln, die helfen, in der Vielheit der Möglichkeiten zwischen „guten“ und „schlechten“ Möglichkeiten zu unterscheiden. Dass diese komplexitätsreduzierende Einschränkung von Möglichkeiten immer Gefahr läuft, über das Ziel hinauszuschießen und im Namen der Willkürvermeidung Flexibilität und Anpassungsfähigkeit des Systems aufs Spiel zu setzen, war von Be‐ ginn an der Verdacht der anderen Tradition, die bewusst Intransparenzen erzeugt: Vom Verstecken von Büchern, Verträgen und Bildern in mittelalterlichen Altären bis zur Figur der Prärogative, also der „Power to act […] without the prescription of the Law, and sometimes even against it“47, und dem politischen Voluntarismus, in dem Handlungen nicht mehr durch transparente Rückbindung einer ebenfalls – prinzipiell – transparenten Vernunft erwartbar, sondern kontingent sind, werden Formeln ent‐ wickelt, die gegenüber der Limitation von Möglichkeiten durch Transparenz deren Erweiterung durch Geheimnisse durchführen. Locke hatte durch seine doppelte Per‐ spektive auf Willkürvermeidung und die Prärogative (die er als eine der vier Gewal‐ ten fasste) verstanden, dass Transparenz und Geheimnis wie zwei gegensätzlich wir‐ kende Kräfte zusammengehören. Wir können im Anschluss und mit Luhmanns Be‐ grifflichkeit sagen, dass eine Maximierung von Limitierung zum Verlust jeglicher Dynamik im System und auch zum Verlust von Demokratie als Regime, das konti‐ nuierlich Kontingenz erzeugt und bearbeitet,48 führt, während eine Maximierung von Geheimnissen zum Kontrollverlust und zur Tyrannei führt. Daraus folgt schon, dass Demokratie durch eine Kombination von Transparenz und Geheimnis befördert wird. Es wäre eine Verkürzung, wenn geheimer Machtgebrauch nur als strategisches Mittel und aus der Perspektive desjenigen, der geheim operiert, konzeptualisiert würde. Vielmehr hat es nämlich auch für denjenigen eine Funktion, der das Geheime vermutet. Diese Funktion liegt in einer „Weltdeutungsreserve“: Kognitive Erwartun‐ gen können so gegen Enttäuschungen geschützt werden, etwa indem man sagt, dass die Erwartung, dass durch Zuwanderung die Kriminalität steigen müsse, zwar durch öffentliche Statistiken eigentlich falsifiziert wird, aber die Erwartung dennoch nicht aufgegeben werden müsse, weil die wahre Kriminalität eben geheim und nicht sta‐ 46 Etwa Luhmann 2002b, S. 122ff. 47 Locke 1996, S. 375. 48 Weiß 2016a, 2016b.

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tistisch erfasst sei – ganz im Sinne der hier vorgeschlagenen Begriffsbildung des modernen Geheimnisses: Die Kriminalität ist im System zwar beobachtbar, aber ihre Beobachtung wird kontingenterweise verhindert. Auf der eher linken Seite des Be‐ obachtungsspektrums wird mit dem Begriff der „Postdemokratie“ eine zu starke Prä‐ gung der Politik durch geheime Lobby- und Korruptionsnetzwerke kritisiert und Transparenz bezüglich aller Arten von Einflussnahme auf kollektiv verbindliche Entscheidungen angemahnt. Die Funktion solcher Bezugnahmen auf die „Geheim‐ nisse der Anderen“ liegt auf der Akteursebene in der Auflösung einer zu starken Kopplung von Empirie und Einstellung – dies mag allen, die in der Wissenschaft ge‐ wohnt sind, sich an Poppers Falsifikationismus zu orientieren, sehr problematisch erscheinen, aber für das politische System gilt etwas Anderes als für die Wissen‐ schaft (und auch dort ist der Falsifikationismus ja nicht unumstritten): Eine rigide Falsifikationspflicht bei jeder Nachricht, die der eigenen Position widerspricht, wür‐ de bei der hohen Frequenz an Nachrichten und Dichte an Daten, die wir haben, zu extremer Volatilität der Einstellungen mit eigenen Nebenfolgen führen. Eine gewisse Unabhängigkeit von empirischer Widerlegung muss also ermöglicht werden, und die Bezugnahme auf Geheimnisse leistet genau dies. Auch hier gilt aber wieder, dass hiermit kein absoluter Wert verbunden ist, sondern dass das Geheimnis als Korrektiv gegen eine allzu starke Anwendung der Forderung, Positionen auf Fakten zu stützen, gerichtet ist, und dass das Korrektiv auch nicht zu intensiv angewandt werden darf, weil sich Geheimnisse sonst zu ganz und gar faktenunabhängigen Weltbildern und Verschwörungen verdichten. Was hierbei ein richtiges Maß ist, kann theoretisch nicht vorbestimmt sein, sondern muss sich empirisch erweisen.

3.1. Das Geheimnis und die Macht Eine zentrale Konsequenz aus der Begriffstransformation ist also die Begriffsbil‐ dung aus der Perspektive von Alter und nicht von Ego: Während in interaktionisti‐ schen Theorien von Simmel bis Goffman das Geheimnis als Form in all seiner her‐ ausgearbeiteten Differenziertheit und Ambivalenz zunächst in seiner Funktion für das Individuum, das etwas geheim hält, und davon abgeleitet als gesellschaftliches Phänomen untersucht wird, setzt eine systemtheoretische Perspektive den Akt des Beobachtens als Ausgangspunkt: Eine private Tatsache, die nur ein Individuum (oder eine Gruppe von Individuen) kennt, ist noch kein Geheimnis. Erst das (zumin‐ dest von Ego antizipierte) öffentliche Interesse an dieser Tatsache macht es zum Ge‐ heimnis. Erst durch die Beobachtung von etwas als prinzipiell beobachtbar, aber ak‐ tuell der Beobachtung vorenthalten, wird die gesellschaftliche Form des Geheimnis‐ ses reproduziert. Diese Beobachtung durch Alter kann als wohlwollendes Gewäh‐ renlassen des Geheimnisses und als „Civil inattention“ („höfliche Nichtbeachtung“),

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wie Goffman diese geheimnisschonende Art der Diskretion genannt hat, geschehen oder auch als machtvolles Dringen auf Aufdeckung des Geheimgehaltenen: In jedem Fall weiß Ego erst dann, dass er ein Geheimnis kennt, wenn er weiß, dass Alter weiß, dass Ego etwas weiß, dass Alter (noch) nicht weiß. Nicht jede Informations‐ asymmetrie ist also ein Geheimnis – was jeder weiß, der in Bereichen mehr weiß als andere, die die anderen aber nicht wirklich interessieren –, sondern das (wie gesagt: zumindest von Ego antizipierte) Informationsinteresse von Alter, das dieser durch rücksichtsvolle Civil inattention durchaus suspendieren kann, ist entscheidend. Bur‐ kard Sievers führt hier die interessante Figur des „reflexiven Geheimnisses“ an, das in der „Geheimhaltung des Geheimnisses“ besteht49 und der hier eingenommenen Alterperspektive zu widersprechen scheint. Doch auch für geheim gehaltene Ge‐ heimnisse gilt: Erst das (hier: wirklich) antizipierte Interesse von Alter an der Infor‐ mation, dass ein Geheimnis existiert, macht dieses Geheimnis zum Geheimnis. Dies deckt sich mit der Argumentation, mit der Luhmann Simmels Geheimnisbegriff ver‐ arbeitet: In „Soziale Systeme“ bezieht er sich zunächst auf Simmels „Soziologie“ als Beispiel für eine Differenzierungstheorie, in der Interaktion durch Grenzziehung er‐ möglicht wird. Als Folge der Grenzziehung sei Grenzüberschreitung möglich und si‐ tuativ auch erwünscht, wobei jedoch „ein Intimbereich des anderen geschont […] [und, A. W.] ihm ein Recht auf Eigenheiten und Geheimnisse zugestanden werden“ müsse – soweit Luhmann über Simmel.50 Luhmanns Kritik an dieser Theorieversion ist dann, dass sie Grenzziehungen zwischen Individuen und nicht, wie er selbst, zwi‐ schen Systemen und ihrer Umwelt annimmt und, damit zusammenhängend, das „Fehlen des Theorems der doppelten Kontingenz“.51 Daraus folgt nämlich die Ver‐ schiebung auf die Perspektive Alters: Nicht alles, was Ego als Geheimnis im Sinne Simmels schützen will, ist für Alter auch interessant. Luhmanns eigene Beispiele sind: „So interessiert eine politische Partei sich nicht dafür, ob ihre Mitglieder sich morgens und abends oder auch mittags die Zähne putzen; nicht dafür, weshalb Blät‐ ter grün sind; nicht dafür, wie Sonnen es fertig bringen, im Gleichgewicht zu blei‐ ben.“52 Dies sind also keine Geheimnisse, auch wenn Parteimitglieder auf sehr ge‐ heime Weise morgens das Zähneputzen auslassen. Der Geheimnisbegriff Simmels wird hier bei Luhmann durch den Verweis darauf ersetzt, dass Systeme ihre Sinnund Informationsselektion selbst vornehmen. Die alte Idee, dass durch die Form des Geheimnisses Systemen etwas vorenthalten wird, unterläuft somit zunächst Luh‐ manns konstruktivistisches Kognitionsparadigma. Hier soll aber gezeigt werden, dass auch ein konstruktivistisches Verständnis von Geheimnissen, in dem vorausge‐

49 50 51 52

Sievers 1974, S. 80ff. Luhmann 1984, S. 178. Luhmann 1984, S. 178. Luhmann 1984, S. 178.

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setzt wird, dass Systeme sich ihre Geheimnisse selbst konstruieren, zu gesellschaftli‐ chen Einsichten führt.

3.2. Das Geheimnis und die doppelte Kontingenz: geheime Kontingenz Macht ist für Luhmann ein Medium, das sich in der Form von Herrschaft aktualisiert und konkretisiert53 – dies ist ein relativ enger Anschluss an Webers berühmte Unter‐ scheidung. Der Hinweis Luhmanns, dass sie Macht immer wieder einmal als Herr‐ schaft (etwa: der Polizei) zeigen müsse, weil sie als Form ja nicht sichtbar sei, sollte allerdings nicht dazu verleiten, Macht selbst bei Luhmann für ein Geheimnis zu hal‐ ten. Auch wenn sie als Form unsichtbar ist, muss ihre Existenz keineswegs notwen‐ digerweise geheim sein. Aber der Anknüpfungspunkt der Geheimnissemantik an die Macht entsteht durch die besondere Fassung des Machtbegriffes, die Luhmann for‐ muliert: Um Macht etwa von Notwendigkeit zu unterscheiden, braucht der Machtun‐ terworfene Freiheitsgrade, die es erlauben, sich der Macht entweder zu unterwerfen oder eben nicht. Wenn der kleine Prinz auf seiner Reise zu einem Planeten gelangt, auf dem der König der Sonne befiehlt, heute um zwanzig vor acht unterzugehen, dann ist dies nur eine vorgetäuschte Machtanwendung, weil die Sonne keine Frei‐ heitsgrade hat, den Zeitpunkt des Untergehens zu ändern. Diesen Zusammenhang von Kontingenz und Macht haben Theoretiker der Macht stets gesehen, aber Luh‐ mann weist darüber hinaus darauf hin, dass auch der Machtanwendende über Frei‐ heitsgrade verfügen muss. Ein Angriff von Zombies in der Serie „The Walking Dead“ ist ebenfalls kein Fall von Machtgebrauch, weil – nach allem, was wir über sie wissen – Zombies instinktiv handeln und nicht entscheiden können, nicht anzu‐ greifen. Das Vorhandensein von Freiheitsgraden, also Kontingenz, auf beiden Seiten der Interaktion ermöglicht also die Machtrelation. Was passiert aber, wenn die Antwort auf genau diese Frage, ob Freiheitsgrade be‐ stehen oder nicht, geheim ist? Offensichtlich ist es ein Unterschied, welche Kontin‐ genz geheim ist: die des der Macht Unterworfenen oder die des Machtanwenders. Wenn der Unterworfene den Machtanwender darüber im Unklaren lässt, ob er sich anders verhalten könnte als er es aktuell tut, verunsichert er den Machtanwender, denn dieser kann nicht abschätzen, ob sich sein Machteinsatz in der Abwägung aller positiven und negativen Folgen und Nebenfolgen lohnt. Wenn der Machtanwenden‐ de seine Kontingenz geheim hält, dann verändert sich dadurch die Interaktion we‐ sentlich: Macht kann erodieren, man kann versuchen, Machtüberlegene zu überre‐ den, zu überzeugen oder zu bestechen – bei Zombies wird all das nicht helfen.

53 Luhmann 2002b, S. 18-68.

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In einer kurzen Erzählung aus dem Nachlass mit dem Titel „Zur Frage der Geset‐ ze“54 stellt Kafka die Ambivalenz von Orientierungslosigkeit und Neuorientierung prägnant dar. Während zu Anfang noch behauptet wird: „Unsere Gesetze sind nicht allgemein bekannt, sie sind Geheimnis der kleinen Adelsgruppe, welche uns be‐ herrscht. Wir sind davon überzeugt, daß diese alten Gesetze genau eingehalten wer‐ den, aber es ist doch etwas äußerst Quälendes, nach Gesetzen beherrscht zu werden, die man nicht kennt“, so wird alsbald an der Rückbindung der Herrschaft an Gesetze überhaupt gezweifelt, „denn vielleicht bestehen diese Gesetze, die wir hier zu erra‐ ten suchen, überhaupt nicht“. Es gibt auch Parteien, die genau dies behaupten und andere, die vom Gegenteil überzeugt sind. Wenn die Kontingenz aufseiten des Machthabers, des Adels, unklar ist, dann ist auch unklar, wer eigentlich Macht aus‐ übt, und am Ende bleibt nur der Verweis auf das Sichtbare: „Das einzige, sichtbare, zweifellose Gesetz, das uns auferlegt ist, ist der Adel und um dieses einzige Gesetz sollten wir uns selbst bringen wollen?“55 Wenn staatliche Macht sich als etwas prä‐ sentiert, was eigentlich keine Macht ist, sondern bloßer und notwendiger Vollzug von z.B. Einsicht in sachliche oder moralische Objektivität, Sachzwängen oder eben auch von behaupteten, aber unsichtbaren Gesetzen, dann macht sich der Staat zum zombiegleichen Gebilde, in dem auch Widerstand kaum möglich ist. Wenn das Pen‐ del zu weit in Richtung Willkürvermeidung ausschlägt, dann wird der Staat zum Zombiestaat. Was hier für Zombies gilt, gilt ebenfalls für zukünftige „algorithmische Governance“:56 Wenn Entscheidungen, die für andere verbindlich sind – seien es di‐ gital erzeugte Urteile in Strafrechtsprozessen oder Berechnungen der Berechtigung für oder der Höhe von Sozialleistungen –, mit dem Prinzip getroffen werden, jeden („menschlichen“) Entscheidungsspielraum auszuschließen, dann ist dies gerade kei‐ ne Anwendung von Macht, denn dem Entscheidungsunterworfenen fehlt die sinn‐ volle Möglichkeit, um Andersbewertung, Milde oder Barmherzigkeit zu bitten. Ihm bleibt als letzter Widerstandsakt nur das Ziehen des Steckers. In diesem Sinn ist al‐ gorithmische Governance eher ein Instrument des Versteckens, ja geradezu des Ge‐ heimhaltens von Macht: Kontingenz besteht beim Erstellen von Programmen und beim Schreiben von Algorithmen, aber nicht mehr beim Anwenden – es sei denn, genau diese Frage, also ob der Algorithmus angewandt wird oder nicht, bleibt selbst offen.

54 In Kafka 1994. 55 Alles Kafka 1994. 56 König 2018.

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4. Eine kritische Systemtheorie? Antigone und Kreons Versagen Aus dem bisher Gesagten ergeben sich zusammenfassend vier Fälle – zwei Geheim‐ nisfälle und zwei Fälle des Anderen: (1) Der gewöhnliche Fall des Geheimnisses ist das Verhinderungsgeheimnis: Eine mögliche Beobachtungsoperation im System wird verhindert oder unterbrochen, sodass etwas prinzipiell Beobachtbares nun geheim ist. (2) Das Fundamentalgeheimnis entsteht im System durch die paradoxe Selbstan‐ wendung des Codes: Ist die Unterscheidung von Recht und Unrecht selbst ein Ergebnis von Recht oder von Macht (hier hat Derrida einen „mystischen Grund der Autorität“ bei der Gesetzeskraft vermutet)? Ist die Unterscheidung von ob‐ jektiver und konstruierter Erkenntnis objektiv oder konstruiert? Kann demokra‐ tisch bestimmt werden, wer zur Demokratie gehört? Immer wenn im System eine solche Selbstanwendung geschieht, entsteht für das System ein blinder Fleck im System selbst. (3) Das relativ Andere ist mit einem Systemcode prinzipiell nicht beobachtbar – das Schöne für die Politik, das Heilige für das Recht –, aber andere Teilsysteme ken‐ nen es sehr wohl und sie können versuchen, es über strukturelle Kopplungen für ein System wahrnehmbar zu machen. (4) Das Andere kann auch das ganz Andere sein, das nicht nur für ein System nicht beobachtbar ist, sondern für die Gesellschaft als Gesamtsystem. Gott, die Psy‐ che, Emotionen, Ökologie, Aliens – alles, was sich dem auf Kommunikation ba‐ sierenden Sinnhorizont der Gesellschaft entzieht, kann für sie etwas „ganz Ande‐ res“ sein. Wir versuchen nun abschließend, in kritisch-systemtheoretischer Absicht Sophokles‘ Antigone als Drama des Geheimnisses für die Politik zu lesen, in dem die vier Fälle von Geheimnis und Anderem exemplarisch vorkommen und Kreon an der von der Politik zu erwartenden Operation, der Transformation von Anderem in Geheimnisse, fatal scheitert. Die Nachricht, die der Bote im ersten Akt zu Kreon trägt, ist für ihn so unver‐ ständlich wie herrschaftsgefährdend: Gegen das, vom neuen Herrscher Thebens, Kreon, beschlossene Beerdigungsverbot für den Feind der Stadt Polyneikes wurde dieser mit Staub bedeckt, also rudimentär beerdigt. Kreon versteht nicht, was pas‐ siert ist, welche Motive zu einer solchen Handlung führen könnten. Er kann es mit Codes des politischen Systems nicht erfassen und kann auch nicht auf andere Sys‐ temcodes zurückgreifen. Antigones Verhalten repräsentiert für ihn das ganz Andere. In diesem Moment, in dem mit dem Boten das ganz Andere aufscheint, beginnt eine Stufenfolge des fatalen Umgangs Kreons mit dieser Nichtunterwerfung unter seine Macht, die er in verschiedenen Versionen falsch deutet und nicht versteht. Seine ers‐

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te Reaktion ist der Impuls, den Boten zu bestrafen, und das ist, auch wenn es nicht zielführend ist, sogar verständlich: Wenn man die Botschaft nicht verstehen kann, weil sie etwas ganz Anderes ist, man aber zugleich weiß, dass die Botschaft ein Problem ist, dann muss sie auf andere Weise wieder aus der Realität entfernt wer‐ den. Kreon versteht hier allerdings nicht die Eigenschaft von Informationen, auch ohne ihren ursprünglichen Datenträger weiterexistieren zu können. Kreon transfor‐ miert hier das ganz Andere nicht in ein – vielleicht harmloses, gewiss aber berei‐ cherndes – Geheimnis seiner Macht und belässt es dabei. Stattdessen will er ihm auf den Grund gehen und destabilisiert genau dadurch seine Macht. Im zweiten Akt erklärt Antigone, die Schwester Polyneikes‘ und „Täterin“, was sie getan hat. Dabei bietet sie Kreon eine strukturelle Kopplung zweier Systeme an und transformiert für ihn damit das ganz Andere zum relativ Anderen: Die Beerdi‐ gung, die für ihn selbst eine Frage von Machtbefolgung oder -verweigerung ist (An‐ wendung des politischen Codes), zeigt sich für Antigone als Frage des Seelenheils (Anwendung des religiösen Codes), weil an der Beerdigung der Eintritt ins Reich der Toten hängt. Auf diesen Konflikt zwischen positivem und archaischem Recht fo‐ kussieren seit Hegel viele politische Deutungen von Antigone und unterschätzen da‐ mit allerdings die Wichtigkeit der allgemeineren epistemischen Frage, wie Politik et‐ was wahrnehmen kann, was sie nicht wahrnimmt. Kreon transformiert über die strukturelle Kopplung, die Antigone ihm anbietet, nicht etwa das relativ Andere in ein Geheimnis, sondern er weist die Kopplung zurück und unterbricht damit die Transformation. Im dritten Akt konfrontiert Haimon, Kreons Sohn, diesen mit der breiten Unter‐ stützung, die Antigone in der Bevölkerung erfahre. Hier haben wir die Selbstanwen‐ dung in der Frage, wer rechtmäßigerweise zwischen Rechtmäßigem und Nichtrecht‐ mäßigem unterscheiden dürfe, was Kreon für sich selbst beansprucht. Das Funda‐ mentalgeheimnis über die Frage, welcher Legitimitätsanspruch legitimer ist, kann Kreon aber gar nicht mehr als Transformation des Anderen aufgreifen, da er Antigo‐ nes Verhalten längst – und falsch! – mit für ihn selbst verständlichen, nämlich politi‐ schen Codes übersetzt hat: Sie wolle nur Macht erlangen. Im fünften Akt sagt der blinde Seher Theiresias Kreon eine düstere Zukunft vor‐ aus und fordert ihn auf, Polyneikes zu beerdigen, um der Prophezeiung zumindest in Teilen zu entgehen. Kreon deutet diese Weissagung nun wieder mit den Mitteln des epistemischen Apparates des politischen Systems. In noch unvollständiger Ausdiffe‐ renzierung eines einzigen und einheitlichen Codes wird hier Theiresias‘ vermeintli‐ che Geldgier als – wieder falsche! – Erklärung für Verhalten angenommen. In Wirk‐ lichkeit hat Theiresias aber Recht und Kreon hätte es sehen können. Seine eigene falsche Wahrnehmung verhindert richtige Beobachtung, und dadurch entsteht ein letztes, tragisches Verhinderungsgeheimnis, das aber nur einen Zeitgewinn für den

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Verlauf der Tragödie bewirkt: Als Kreon einlenkt, ist es bereits zu spät, und am Ende haben sich Antigone, Haimon und Kreons Frau Eurydike selbst getötet. Was ist hier passiert? Und was lässt sich verallgemeinern? Die Transformation von Anderem in Geheimnisse ist zwar geschehen, aber nicht in solche Geheimnisse, die im politischen System konstruktiv weiterverarbeitet werden können. Wir hatten oben den Transformationsprozess als konstitutiv für das politische System bezeich‐ net, weil hierüber Wirklichkeitskontakt und eine Reflexibilisierung des Systems er‐ möglicht werden. Bei Kreon sehen wir aber, dass dieses Ergebnis der Transformati‐ on nicht immer eintritt, vielmehr kann sie – wenn etwas falsch läuft – zum katastro‐ phalen Zeitverlust und zur Erstarrung am Ende führen. Allgemeiner gesagt: Wenn Geheimnisse nicht immer nur systemintern erzeugt werden und um dasselbe kreisen und eigentlich nur Korruption und Missbrauch schützen sollen, dann ist das System darauf angewiesen, das Andere, statt immer nur das Eigene zu erfassen und es für das System in Geheimnisse zu transformieren. Dieser Prozess kann schieflaufen und dies auf drei verschiedene Weisen. Dadurch eröffnen sich verschiedene Kritikper‐ spektiven – durchaus als Anschluss an die Debatte um „Kritische Systemtheorie“:57 (1) Wenn, erstens, das Andere sich als problematisches Anderes herausstellt, dann endet die Transformation in Geheimnisse in trojanischen Pferden, die für Ele‐ mente aus der Umwelt Türen ins politische System öffnen. Rassismus, religiöser Fanatismus oder Wahrheitsfanatismus etwa sind für das politische System das Andere und können über Geheimnisse Eingang ins System finden. Hier wäre eine systemtheoretisch informierte Sicht auf den Populismus zu versuchen, die diesen dafür kritisiert, dass er mit Vermutungen über Verschwörungen Geheim‐ nisse schafft, die an problematisches Anderes andocken. (2) Zweitens kann der Transformationsprozess: a) unvollständig sein und frühzeitig abbrechen, sodass im System kein Geheim‐ nis entsteht. Dann verliert das System aber den Kontakt zu gesellschaftlichen Wirklichkeiten. Hier kann eine systemtheoretische Kritik an der Wirklich‐ keitsblindheit des Liberalismus, der keinen positiven Geheimnisbegriff kennt, anschließen. Der Prozess kann aber auch: b) zu weit geführt werden und das Andere nicht in Geheimnisse, sondern in Transparenz aufzulösen versuchen. Dann gilt Luhmanns oben nur auf Religi‐ on bezogener Punkt, dass „eine Entlarvung das Geheimnis nicht zerstört, son‐ dern die Neugierigen mit Verständnislosigkeit bestraft“.58 In Transparenz auf‐ gelöst, zieht sich das Andere zurück und wird auch so für das blinde System wirklichkeitsunwirksam.

57 Amstutz/Fischer-Lescano 2013; Möller/Siri 2016. 58 Luhmann 1997a, S. 236f.

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(3) Drittens kann der Transformationsprozess kontingenterweise in für das politische System schlechten Geheimnissen münden. Dies war bei Kreon der Fall. Auch hier kann die Systemtheorie kritisch eingreifen. Dies sollte die Analyse eines systemtheoretisch entwickelten Geheimnisbegriffes zeigen. Dass sie dabei am Ende wissen muss, wie man „gute“ von „schlechten“ Geheimnissen unterschei‐ den kann, bleibt ein offenes Problem. Ich kann bisher nicht erkennen, dass die in der politischen Theorie in anderen Kontexten oft angewandten Kriterien (Recht‐ fertigbarkeit, Reziprozität, Diskursivität etc.) hierbei hilfreich sein könnten, viel‐ mehr zeigt sich, dass die politische Theorie trotz aller präskriptiver Bemühungen in ihrer Urteilsfindung auch gerade an sensiblen Bereichen auf Ex-post-Urteile angewiesen bleibt. Hierbei kann sie allerdings auf Hilfe aus einem ganz anderen Bereich, nämlich der sexualpädagogischen Missbrauchsprävention, zurückgrei‐ fen, in der die Unterscheidung von „guten“ und „schlechten“ Unterscheidungen schon behandelt und zumeist mit der emotionalen Belastung beim Geheimhalten erläutert wird:59 Wenn das Kind beim Geheimhalten stolz ist und ein gutes Ge‐ fühl hat, ist das Geheimnis gut, wenn es sich schlecht fühlt – etwa weil ein Er‐ wachsener die Geheimhaltung seltsamer Handlungen verlangt –, ist das Geheim‐ nis schlecht. Wenn wir von der emotionalen Perspektive hier einmal abstrahieren und das Macht‐ gefüge anschauen, dann können wir gute und schlechte Geheimnisse als Empower‐ mentgeheimnisse und Unterwerfungsgeheimnisse voneinander unterscheiden: Die entscheidende Differenz liegt in der Frage, ob durch ein Geheimnis ein Bereich vor dem Zugriff von äußerer Macht geschützt wird, sodass sich der Geheimnisträger in einem Empowermentprozess selbst eine Machtposition aneignen kann, oder ob mit dem Geheimnis eine Machtrelation zuungunsten des Geheimnisträgers etabliert oder reproduziert wird. Gute Empowermentgeheimnisse bieten eine Zeit lang einen ge‐ schützten Raum für Subjektivierungsprozesse (ganz im Sinne Rancières), aus denen ein machtvollerer Akteur hervorgehen kann. Schlechte Unterwerfungsgeheimnisse hingegen unterstellen das Subjekt einer Machtkonstellation und verhindern zugleich durch die Form des Geheimnisses das Wirksamwerden gesellschaftlicher Schutzme‐ chanismen. Eine kritische Systemtheorie findet hier die Möglichkeit vor, von der Po‐ litik gelingende Transformation von Anderem in Geheimnisse zu fordern und dabei die Fälle, in denen Unterwerfungsgeheimnisse entstehen, zu kritisieren.

59 Reinke 2002, S. 53.

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Vincent August Öffentlichkeit in der Transparenzgesellschaft: Merkmale, Ambivalenzen, Alternativen

1. Einleitung: Transparenz oder Öffentlichkeit? Die Unterscheidung zwischen Transparenz und Öffentlichkeit ist schwierig zu tref‐ fen. Inzwischen ist der Ruf nach Transparenz derart prominent, dass man fast beden‐ kenlos zwischen beiden Begriffen wechseln kann. Selbst in der Politikwissenschaft wird hier selten differenziert oder das Verhältnis durch Formulierungen wie „Trans‐ parenz bzw. Öffentlichkeit“ oder „Transparenz und Öffentlichkeit“ im Vagen gehal‐ ten.1 Die Verbreitung des Transparenzbegriffes in den Sozialwissenschaften ent‐ spricht seiner enormen Popularität in politischen Debatten. Einer seiner großen Vor‐ teile ließ sich bei den Demonstrationen gegen die Transatlantic Trade and Invest‐ ment Partnership (TTIP) beobachten: Die unzähligen Nichtregierungsorganisatio‐ nen, die die zahlreichen inhaltlichen Probleme des Abkommens kritisierten, fanden in der Forderung nach Transparenz einen gemeinsamen Nenner, selbst wenn sie sonst unterschiedliche Positionen vertraten. Schnell übernahmen auch Politikerinnen und Politiker die Forderung, und mit dem Amtsantritt der EU-Kommissarin Cecilia Malmström begann eine Transparenzoffensive, in deren Zug die Positionen der EU und einige Textentwürfe veröffentlicht wurden.2 Transparenz ist im politischen Dis‐ kurs zu einer Universallösung geworden. Mit der Gleichsetzung von Transparenz und Öffentlichkeit, wie man sie sowohl in der Politikwissenschaft als auch im politischen Diskurs findet, wird allerdings un‐ terschlagen, dass es unterschiedliche Öffentlichkeitskonzeptionen gibt. „Öffentlich‐ keit“ nimmt in den Sozialwissenschaften grundsätzlich eine schwierige Stellung ein. Vielleicht etwas zu scharf haben Gerhards und Neidhardt konstatiert: „Angesichts der gesellschaftlichen Nutzung und der politischen Wertigkeit des Öffentlichkeitsbe‐ griffes ist es erstaunlich, daß die Sozialwissenschaften zu seiner Klärung ebensowe‐ nig wie zur Erhellung des Gegenstandes, den er bezeichnet, beigetragen haben.“3 Die Herausforderung bei der Erforschung von Öffentlichkeit dürfte ganz maßgeblich in der Vielgestaltigkeit von Öffentlichkeit liegen: Sie ist weder auf Demokratien be‐

1 Koch 2017, S. 114; Ritzi 2017, S. 182. 2 Die Dokumente können auf der Webseite der Europäischen Kommission eingesehen werden. 3 Gerhards/Neidhardt 1991, S. 33.

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schränkt4 noch tritt sie innerhalb von Demokratien uniform auf. Demokratien bilden hingegen unterschiedliche, historisch-spezifische Formen von Öffentlichkeit aus, die mit spezifischen Institutionen und Sichtbarkeitsarrangements, Erwartungshaltungen und Handlungsrationalitäten einhergehen. Es gibt also verschiedene Regime der Öf‐ fentlichkeit. Die Gleichsetzung von Öffentlichkeit und Transparenz ist vor diesem Hinter‐ grund überaus problematisch, denn man universalisiert damit ein spezifisches Mo‐ dell von Öffentlichkeit und verschließt zugleich den Blick für Alternativen. Nur, wenn man daher Öffentlichkeit und Transparenz differenziert, wird deutlich, dass es eine Wahl zwischen unterschiedlichen Öffentlichkeits- und Sichtbarkeitsarrange‐ ments gibt, die andere Normen, Praktiken und Demokratieverständnisse mit sich bringen. Dass Öffentlichkeit und Transparenz nicht identisch sind, illustriert bereits ein Blick auf Semantik und Metaphorik. Öffentlichkeit ist schon in der Antike mit der Metapher des Lichtes verbunden, in deren kognitivem Modell sowohl der Schat‐ ten als auch der Ausgangspunkt des Lichtkegels mitgedacht werden kann. Damit ist der Lichtmetapher eine positionale Abhängigkeit des Erkennens eingeschrieben. Ge‐ rade diese versucht, die Transparenzmetapher aber unsichtbar zu machen: Transpa‐ renz will die Körper nicht nur besser ausleuchten, sondern die Körper selbst verän‐ dern. Transparenz ist nicht Sichtbarkeit, sondern Durchsichtigkeit.5 Um eine tragfähige Unterscheidung von Transparenz und Öffentlichkeit einzufüh‐ ren, bieten sich im Grunde zwei Optionen an: Die erste Option trifft eine Nominal‐ definition, mit der man festlegt, was Transparenz heißen soll. Dabei hat sich weitge‐ hend durchgesetzt, Transparenz als den Zugang zu Informationen zu definieren, während Publizität darüber hinaus auch das Verstehen von und das Verständigen über diese Informationen umfassen kann.6 Die Nominaldefinition hat ihre Vorzüge: Einerseits wird Transparenz auf diese Weise einfacher messbar, andererseits ist sie intuitiv zu erfassen, weil sie die Vorstellung unberührt lässt, dass jede Demokratie auf Transparenz angewiesen sei. Die Gefahr besteht jedoch dann darin, dass man überall, wo Offenheit oder Öffentlichkeit eingefordert wird, auch Transparenz veror‐ 4 Die normativ ausgezeichnete Verbindung von moderner Demokratie und Öffentlichkeit hat z.B. zu verkürzten Modellen vormoderner Öffentlichkeit geführt, die dann als bloß „repräsentative Öffentlichkeit“ (Habermas 1990, S. 60) erscheint, wo durchaus diffizile und reziproke Regulari‐ en erforderlich waren, um die Legitimität des Hofes zu stützen (Stollberg-Rilinger 2013). 5 August 2018b, hier S. 129, auf den auch Teile dieses Beitrags zurückgreifen. 6 So heißt es z.B. bei Gheyle/de Ville 2017, S. 16: Transparenz sei „generally understood as public access to information about an organization’s activities and policies“. Noch ausführlicher erläu‐ tert es Naurin 2006, S. 90: „The concept of transparency captures the accessibility of informati‐ on. Transparency literally means that it is possible to look into something, to see what is going on. A transparent organisation, political system, juridical process or market is one where it is possible for people outside to acquire the information they need to form opinions about actions and processes within these institutions. The information about agency behaviour is there for tho‐ se principals who are willing and able to seek it. Publicity on the other hand means that the in‐ formation is actually spread to and taken in by the principal.“

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tet. Wie Cucciniello u.a. zurecht feststellen, umfassen aber z.B. Forderungen nach Open Government auch andere Rationalitäten als die der Transparenz.7 Die semanti‐ sche Komplexität unserer Begriffe von Offenheit und Öffentlichkeit stellt sich im‐ mer wieder in sozialwissenschaftlicher Hinsicht als Herausforderung für die Unter‐ suchung von Öffentlichkeit heraus, während sie in gesellschaftlicher Hinsicht An‐ schlussfähigkeit und Legitimationskraft sicherstellen. Daher soll hier ein anderer Weg gewählt werden, nämlich eine historisch-kritische Untersuchung von Transparenz. Sie setzt zunächst beim Transparenzbegriff an, um die spezifische Rationalität und die situationsabhängige Attraktivität von Transpa‐ renz zu untersuchen. Die zentrale These lautet, dass Transparenz ein historisch-spe‐ zifisches Verständnis von Öffentlichkeit impliziert, das insbesondere in Situationen aufgerufen wird, in denen ein hoher Grad an Ungewissheit besteht, die von den Ak‐ teuren als bedrohliche Unsicherheit wahrgenommen wird. Transparenz stellt dann den Versuch dar, Sicherheit zu generieren, indem Öffentlichkeit zur Formalisierung und Regulation von Verhalten eingesetzt wird. Im Folgenden will ich zunächst die Einsatzpunkte und Ideengeschichte von Transparenznormen rekonstruieren (Kapitel 2.). Auf dieser Basis werde ich die Ope‐ rationsweise und Gestaltungsansätze von Transparenz herausarbeiten, um daraufhin die nicht intendierten Effekte des Transparenzmechanismus freizulegen (Kapitel 3.). Dabei wird sich zeigen, dass Transparenzöffentlichkeit zwar ein starkes Modell zur Verhaltensregulation anbietet, vielfach aber die selbst gesetzten Ziele durch ihre ei‐ gene Operationsweise verfehlt. Dies bietet Anlass, um die Ambivalenz aktueller Transparenzrufe zu diskutieren (Kapitel 4.) und sollte darüber hinaus motivieren, nach alternativen Öffentlichkeitsmodellen zu suchen.

2. Der Aufstieg der Transparenz: Einsatzpunkte und Ideengeschichte der Norm In historischer Hinsicht lassen sich zwei Momente in westlichen Gesellschaften aus‐ machen, zu denen Transparenzforderungen stark gemacht wurden. Es handelt sich um grundlegende Einschnitte, auf die die Akteure mit Transparenz eine Antwort suchten. Die Transparenzforderungen am Beginn des 21. Jahrhunderts wurzeln dabei in den Krisenerfahrungen der 1970er-Jahre, auf die insbesondere neoliberale Ansät‐ ze mit einer Argumentation für mehr Transparenz reagierten.8 Sie stehen dabei in di‐ rekter Tradition mit der „Erfindung“ demokratischer Transparenz durch Jeremy 7 Vgl. Cucciniello u.a. 2017, S. 33. Bisher fehlen Untersuchungen, die diese Rationalitäten analy‐ sieren und ideengeschichtlich zurückverfolgen. In einem aktuellen Forschungsprojekt kann ich zeigen, dass darunter auch Rationalitäten sind, die sich dezidiert kritisch gegenüber Transpa‐ renzforderungen verhalten, gleichzeitig aber mehr Wissen und Offenheit für Innovationen ein‐ fordern. In den 1970er-Jahren vertrat z.B. Michel Foucault eine solche Position. 8 Dazu auch August 2018b.

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Bentham am Beginn der Moderne. Diese Traditionslinie soll nun nachgezeichnet werden. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass Transparenz, obwohl sie im libe‐ ralökonomischen Strang besonders stark verwurzelt ist, eine typisch moderne, utili‐ taristische Antwortstrategie auf den Umgang mit Unsicherheit vorschlägt. Aus die‐ sem modernistischen Charakterzug lässt sich die breite Attraktivität des Konzeptes verstehen: Transparenz entwickelt immer dort eine hohe Anziehungskraft, wo ers‐ tens das Problem von Kontingenz bzw. Ungewissheit auftritt, dieses Problem zwei‐ tens als bedrohlich oder gefährlich interpretiert wird und drittens eine Handlungsra‐ tionalität zur Verfügung steht, in der der kausale Steuerungsmechanismus als wirk‐ mächtiges Instrument der Problembearbeitung angesehen wird. Die Metaphorik der Transparenz ermöglicht dann, ein Set an Verhaltensnormen und Praktiken zu entwi‐ ckeln, das mehr Sicherheit herstellen soll – pointiert gesagt: Sicherheit durch Sicht‐ barkeit.

2.1. Die (neo)liberale Argumentation für Transparenz seit den 1970er-Jahren Nach dem Zweiten Weltkrieg war Öffentlichkeit zwar ein hohes Gut in den westli‐ chen Demokratien; von Transparenz haben aber nur wenige gesprochen.9 Der Auf‐ stieg der gegenwärtigen Transparenznorm begann erst, als die politische Ordnung der Nachkriegszeit in eine fundamentale Krise geriet, die eine Neuverständigung über die gesellschaftlichen und politischen Ordnungsmuster erzwang. Soziologie und Geschichtswissenschaften haben die besondere Transformation, die sich in den 1970er-Jahren vollzog, in den vergangenen Jahren vermehrt unter den Stichworten „Strukturbruch“ oder „Strukturwandel der Moderne“ thematisiert.10 Konkret lässt sich dieser Strukturwandel an drei Bereichen kurz illustrieren, die auch von den Zeitgenossen intensiv diskutiert wurden.11 Erstens waren die Nach‐ kriegsgesellschaften mit einer ökonomischen Krise konfrontiert: Die Wachstumsra‐ ten brachen ein und erreichten zeitweise sogar Negativwerte, während zugleich Ar‐ beitslosigkeit und Inflation anstiegen. Diese Situation war nicht nur ein fundamenta‐ ler Bruch mit dem Erfahrungshorizont der Wirtschaftswunderzeit; es war auch ein Bruch mit der keynesianischen Theorie, die das volkswirtschaftliche Handeln der Zeit angeleitet hatte, die nun auftretende Situation der „Stagflation“ aber nicht erklä‐ ren konnte.12

9 10 11 12

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Zur Vorgeschichte von Transparenz in den USA auch Schudson 2015. Vgl. z.B. Doering-Manteuffel u.a. 2016; Reckwitz 2017; Rosa 2005. Eine ausführliche Darstellung bietet August 2019. Steiner 2008.

Dieser epistemologische Bruch in der Wirtschaftstheorie wurde – zweitens – von immer schärfer werdenden sozialen Konflikten begleitet. Sie umfassten sowohl den „alten“ sozialen Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, der nun unter dem Druck der Wirtschaftskrise an Fahrt gewann, als auch die Proteste der Neuen Sozialen Bewe‐ gungen. Das gesteigerte Konfliktpotenzial wurde nun von den Zeitgenossen unter‐ schiedlich eingeordnet: Während manche sahen, dass der Staat seinem Versprechen auf Partizipation nicht nachkam, diagnostizierten andere umgekehrt das Versagen der Steuerungskapazität des Staates, die für den Zusammenhalt der Gesellschaft not‐ wendig sei. Nachdem damit die Partizipations- und Integrationsversprechen des Staates brü‐ chig geworden waren, wurde – drittens – auch das Friedensversprechen des Staates hinterfragt, weil im Inneren in zahlreichen Ländern terroristische Gruppierungen wie die Irish Republican Army Anschläge auf Eliten und Bevölkerung verübten und nach außen die Staaten im Zuge des Ost-West-Konfliktes aufrüsteten und zudem an den Rändern Europas heiße kriegerische Konflikte wie der Jom-Kippur-Krieg auf‐ traten. Weil die Regierungen nach 1945 mit dem Versprechen auf Prosperität, Parti‐ zipation und Friedfertigkeit angetreten waren, verlor das bestehende politische Ord‐ nungsmodell mit seinem Anspruch auf eine zentrale, staatliche Steuerung der Ge‐ sellschaft seine Glaubwürdigkeit. In dieser Situation, in der das gerade erst eingerichtete demokratische Ordnungs‐ modell zu zerfallen schien, boten liberalökonomische Ansätze eine Erklärung und einen Ausweg an. Sie attackierten dafür das vorangegangene Demokratiekonzept für sein überschwängliches Vertrauen in die politischen Akteure und setzten dagegen die Prämissen der Rational- und Public-Choice-Theorie.13 Demnach müsse man da‐ von ausgehen, dass jeder Mensch ein Nutzenmaximierer sei. In der aktuellen Demo‐ kratiekonzeption hätten die Eliten alle Chancen bekommen, um ihren eigenen Nut‐ zen zu maximieren und würden damit völlig rational handeln. Dieses rationale Han‐ deln habe aber den Effekt, dass die „öffentlichen Güter“ (public goods) nach und nach zerfallen. Ein zentrales Problem bestehe dabei darin, dass auf der anderen Seite auch die Informationsbeschaffung für die Bürgerinnen und Bürger viel zu kostenin‐ tensiv sei, um eine informierte Entscheidung zu ermöglichen, sodass sie beim Wäh‐ len auf short cuts zurückgreifen. Diese rationale Irrationalität sei letztlich der Grund für die tiefgreifende Krise der 1970er-Jahre.14 Ausgehend von dieser Logik bietet Transparenz zwei Versprechen an: Durch sie werde einerseits das Handeln der politischen Akteure unter permanente Beobach‐ tung durch externe Akteure gestellt, die in Rational-Choice-Modellen als the public auftreten.15 Auf diese Weise lassen sich dann die Interessen der politischen „Agen‐ 13 Vgl. Buchanan/Tullock 1967; Buchanan 1984. 14 Vgl. Brittan 1975. 15 Vgl. Hollyer u.a. 2018.

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ten“ an jene der „Prinzipale“ binden, sodass sie nicht mehr ihren eigenen Nutzen verfolgen. Andererseits ist Informationstransparenz in diesen Modellen eine zentrale Variable für die Rationalität sozialen Handelns: Desto mehr Informationen zur Ver‐ fügung stehen, desto sicherer ist, dass die bestmögliche Entscheidung getroffen wird. Infolge dieser Argumentation entwickelte vor allem das New Public Manage‐ ment in den 1980er-Jahren ein ganzes Arsenal an institutionellen Reformvorschlä‐ gen und Audit-Techniken (monitoring, benchmarking, Qualitätssicherung), mit dem transparente Öffentlichkeiten institutionalisiert werden könnten.16 Das Versprechen dieser Strategie war, dass Transparenz die Unsicherheiten und Gefahren minimiert und zugleich Legitimität und Effizienz maximiert.

2.2. Die utilitaristische Tradition der Transparenz Die ideengeschichtliche Grundlage für diesen Argumentationsgang und für den me‐ taphorischen Gebrauch von Transparenz in Bezug auf Management legte der Utilita‐ rismus. Dessen Begründer, der britische Jurist Jeremy Bentham, formulierte als ers‐ ter eine demokratische Ordnung, die die Transparenznorm ins Zentrum stellte.17 Während die 1970er-Jahre in den Sozialwissenschaften als Strukturwandel der Mo‐ derne bezeichnet werden, ist Transparenz bei Bentham eine Antwort auf den An‐ bruch der Moderne. Auch am Beginn der Moderne lassen sich Kontingenzeinbrüche ausmachen, die dann von Bentham als gefährliche Unsicherheiten interpretiert wurden: Zum einen brach die göttliche Heilsgewissheit weg, sodass sich die bisher göttliche verbürgte Qualität von Wissen und Zukunft auflöste und der Mensch auf sich selbst als Quelle von Wissen und Zukunft zurückgeworfen wurde.18 Zum anderen wurde das ständi‐ sche Netz sozialer Sicherheit durch die flüchtige Sicherheit von Arbeitskraft und Ei‐ gentum ersetzt, während zugleich die Bevölkerungszahlen explodierten. Infolgedes‐ sen wurden immer mehr Arme produziert und die bürgerliche Mittelschicht sah sich selbst in Gefahr.19 Waren auf diese Weise Erkenntnis- und Sozialordnung destabili‐ siert, brach mit der Französischen Revolution auch die politische Ordnung ein. Nach dem Ende des absolutistischen Staates und dem Scheitern der bürgerlichen Revoluti‐ on in Frankreich, blieb ein politisches Vakuum zurück. Gerade diese Situation der 16 August 2018b, S. 136-138; Erkkilä 2012, S. 10-15; Reilley 2019. 17 Dazu ausführlich Rzepka 2013. 18 Als Reaktion auf das erkenntnistheoretische Problem hatte bereits Descartes’ „Cogito, ergo sum“ das erkennende Subjekt ins Zentrum gerückt. Im Empirismus wurde dann Erkenntnis an die empirische Beobachtung zurückgebunden. Der Empirismus überwand in seinen Augen da‐ mit die transzendentalen Spekulationen über angeborene Ideen, die den Rationalismus des Subjektes ausgezeichnet hatten. In philosophischer Hinsicht gilt John Lockes „Essay con‐ cerning Human Understanding“ oft als Gründungsdokument (Puster 2010). 19 Bohlender 2010.

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Ungewissheit stimulierte in Europa neue Ordnungsvorschläge und bot damit die Grundlage für die Ideenemission, die sich zwischen circa 1750 und 1830 ereignete und die modernen demokratischen Gesellschaften des Westens nachhaltig prägte. Unter diesen normativen Ideen war auch die Idee der Transparenz, die von Bentham entwickelt wurde. Die Grundlagen für diese normative Idee übernahm Bentham in erster Linie aus der Physik, deren Empirismus eine Antwort auf die erkenntnistheoretische Problem‐ stellung der Zeit anbot.20 Die Leistungsfähigkeit des empiristischen Ansatzes de‐ monstrierte dabei die Neubegründung der Physik in der Mechanik durch Isaac New‐ ton. Dabei hatte Newton mit der Mechanik bei seinen Zeitgenossen die (von ihm nicht beabsichtigte) Vorstellung geweckt, die Bewegungen der Welt verliefen nach einem kausalen Mechanismus, der sich auch zur Steuerung von Prozessen verwen‐ den ließe, nachdem man einmal die Gesetzmäßigkeit erkannt hatte. Für die Entde‐ ckung dieser Gesetze hatte Newton nicht nur transparente Linsen und Flüssigkeiten genutzt, er hatte Transparenz auch ins Zentrum seiner Arbeiten über Optik gestellt. Newton ging davon aus, dass alle Körper letztlich transparent seien und nur durch Lichtbrechungen opak würden. Wenn Transparenz daher als physikalisches Erkennt‐ nis- und Steuerungsmedium dienen konnte, war es in den Augen Benthams auch ein guter Kandidat für die Reformulierung der moralischen Ordnung. Er bezeichnete sich daher selbst als Newton der Moralphilosophie und überformte die Idee der Pu‐ blizität, mit der sich viele Aufklärer wie etwa Immanuel Kant gegen klerikale und absolutistische Ordnungsversuche wendeten, mit Ideen aus Mechanik und Optik, um so ein neues Visibilitätsarrangement zur Grundlage sozialen „Managements“ zu ma‐ chen. Bentham begann als erstes damit, eine Moralmechanik zu entwickeln. Sein mo‐ ralphilosophisches Hauptwerk „Introductions to Morals and Legislation“ fängt mit einer berühmten Formulierung an, die den Utilitarismus begründete: „Nature has placed mankind under the governance of two sovereign masters, pain and pleasure. […]. The principle of utility recognises this subjection, and assumes it for the foun‐ dation“.21 Das Nützlichkeitsprinzip nimmt also an, dass das menschliche Verhalten durch die Wahrnehmung von Freude und Leid direkt gesteuert wird. Daher würden Menschen versuchen, ihr eigenes Wohl zu maximieren, wenn sich die Gelegenheit ergäbe („self-interest principle“). Schon Bentham argumentierte aber, dass darin ein Problem für das Wohl aller anderen bestehe. Überlasse man nämlich Eliten sich selbst, werden sie ihre Machtposition zu ihrem eigenen Wohl ausnutzen und auf Kosten der Öffentlichkeit abladen. Bentham stand daher Menschen mit Macht sehr

20 Zum Folgenden, einschließlich weiterer Primärbelege, Rzepka 2013, S. 33-46. 21 Bentham 1962a, S. 1.

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misstrauisch gegenüber: „In the breast of every ruler […] the actual end or object of pursuit, has […] been his own greatest happiness […]“.22 Dieses Misstrauen gegenüber Eliten prägt Benthams Demokratietheorie, mit der er versuchte, die Ordnungseinbrüche der Zeit zu kompensieren. Schon früh forderte er, dass die Gesetzgebung ein System von Anreizen (pleasure) und Sanktionen (pain) einrichten müsse, durch das sich die Interessen der Herrschenden automatisch anpassen. Diese Moralmechanik ließe sich durch ein Arrangement größtmöglicher Sichtbarkeit in Gang setzen, denn wenn Menschen annehmen, unter permanenter Beobachtung zu stehen, würden sie automatisch ihr Verhalten an die Erwartungshal‐ tungen der Beobachtenden anpassen, um Sanktionen zu entgehen und Gratifikatio‐ nen zu erhalten. Transparenz diente so als Schlussstein, mit der die bedrohliche Un‐ sicherheit der Zeit gebändigt und das „größte Glück der größten Zahl“ produziert werden könne („greatest-happiness principle“). Dass Transparenz das „universelle“ Prinzip moralökonomischer Steuerung sein könnte, entwickelte Bentham zunächst in den berühmten Schriften über das Panopti‐ con.23 Dort ging er von der architektonischen Transparenz eines runden Gefängnis‐ baus aus, in dessen Mitte ein Turm für die Wärter stand. Die Glas-Stahl-Konstrukti‐ on des Gebäudes sollte erreichen, dass die Häftlinge annahmen, dass sie beobachtet werden könnten und daher ihr Verhalten an die Erwartungen der Wächter anpassen. In einem zweiten Schritt übertrug Bentham dann diese materiale Transparenz meta‐ phorisch auf das Gefängnismanagement. Letztlich müsste auch die – bei Bentham: privatwirtschaftliche – Organisation des Gefängnisses kontrolliert werden, weil sie sonst ebenfalls ihre Machtposition ausnützen würde. Die Öffentlichkeit hätte sich hier bisher viel zu nachgiebig gezeigt. Sie sollte als letzte Kontrollinstanz auftreten, und zwar sowohl in physischer Form durch Besuche des Gefängnisses als auch in nunmehr metaphorisierter Form durch die misstrauische Kontrolle des Manage‐ ments, das seine Geschäftsführung transparent zu organisieren habe. Dadurch werde „schlechtes“ Verhalten vermieden: „Principle of Publicity, or Transparent-management principle. This regards motives as well as means. The more universally the particulars of the management are held up to view, the more universally the means of observing, and thence of adopting whatever is good, and of observing, thence of avoiding whatever is bad, are held up to view: and the stronger the force (because of the greater certainty) with which the motives derivable from the popular or moral, as well as those derivable from the political or legal sanction operate towards the insuring such adoption and avoidance.“24

22 Bentham 1962b, S. 4. 23 Bentham 1962c; vgl. Rzepka 2013, S. 79-81. 24 Bentham 1962d, S. 381.

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Diese Grundüberlegung, durch Transparenz Sicherheit zu generieren, übernahm Bentham schließlich auch für seine Demokratietheorie.25 An die Spitze der Demo‐ kratie stellte er dabei das public opinion tribunal, das Tribunal der öffentlichen Mei‐ nung, das permanent mit wachem Auge über die herrschenden Eliten richten und sie steuern soll. Damit bot Bentham eine Alternative an, die sich gegen die monarchi‐ sche Herrschaft wendete, die durch ihre Inszenierungen und Zeremonien die Öffent‐ lichkeit zu täuschen versucht und zugleich auch die „republikanische“ Option der Ja‐ kobiner ersetzen konnte, die bald nach der Revolution zu einem Massenmord an der eigenen Bevölkerung degeneriert war. Formen der Herrschaft, die auf Tugend (Re‐ publikanismus) oder Herkunft (Absolutismus) beruhen, wollte Bentham durch eine transparente Demokratie ablösen, der er das Motto „security against misrule“ gab.26

2.3. Transparenz als modernistisches Regulierungsmodell Die liberalökonomische Traditionslinie sollte allerdings nicht darüber hinwegtäu‐ schen, dass sowohl die normative Transparenzidee als auch die daraus entwickelten regulativen Praktiken politisch flexibel sind und auch in anderen politischen Strö‐ mungen und sozialen Organisationszusammenhängen aufgenommen werden kön‐ nen. Als regulative Idee kann Transparenz daher in allen Zusammenhängen ange‐ bracht werden, in denen die Organisation sozialer Prozesse gesteuert werden soll, z.B. auch als Steuerungsinstrument zwischen Automobilherstellern und ihren Zulie‐ ferern,27 bei der Software der Arbeitsvermittlung28 oder in der Arbeit mit Drogen‐ konsumenten.29 Diese Polyvalenz tritt bereits in Benthams ursprünglichem Modell zutage. Denn Benthams Ansatz ist zwar dezidiert liberal ausgerichtet, er richtet sein Misstrauen aber auch gegen die Unternehmen, die öffentliche Aufgaben übernehmen. Sein Mo‐ dell folgt einer grundlegenderen, typisch modernen Konstruktionslogik, die ver‐ sucht, bisher Unverfügbares mithilfe empirischer Evidenz verfügbar zu machen und folgt dabei einer Steigerungslogik, nach der mehr Informationen automatisch zu bes‐ seren Entscheidungen führen würden.30 Sowohl die mechanische Entwicklungslogik als auch die Fortschrittsidee sind typische Merkmale moderner Theorien. Neben Bentham hat z.B. auch Immanuel Kant von einem Mechanismus der Anta‐ gonismen gesprochen, der zu einer allmählichen Entwicklung der Menschheit zum 25 Bentham 1962b; Bentham 1999; vgl. zu seiner Demokratietheorie Rzepka 2013, S. 89-114; Schofield 2009, S. 221-303. 26 Bentham 1962b, S. 97. 27 Stark 2018. 28 Alber 2018. 29 Kühnert 2018. 30 Für die Bestimmung der Moderne über Verfügbarkeit und Steigerungslogik vgl. Rosa 2016.

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Besseren führe.31 Dies ist umso bemerkenswerter, als dass Kant in moralphilosophi‐ scher Hinsicht häufig als Gegenspieler von Bentham gilt. Denn Kant geht von vor‐ her feststehenden moralischen Regeln aus, die man erkennen und nach denen man sich richten müsse (Deontologie). Demgegenüber steht laut Benthams Utilitarismus die moralische Qualität von Handlungen nicht a priori fest, sondern bemisst sich stets nur an ihren Folgen (Konsequentialismus). Dennoch verbindet beide nicht nur das politische Plädoyer für Publizität, sondern auch die vernunftaufklärerische Über‐ zeugung von der Mechanik des Fortschritts. Es ist dabei ein weiterer Zug der – von Luhmann in kritischer Distanz so genann‐ ten – „Vernunftaufklärung“,32 dieser Fortschrittsidee eine transzendente Dimension zu geben. Als Christopher Hood mit Blick auf die Popularität von Transparenz von einer quasisakralen Aura sprach,33 hat er unbemerkt eine Hintergrundannahme frei‐ gelegt, die sich ideengeschichtlich nachverfolgen lässt: Die Transparenzidee nimmt an, dass die Akkumulation von Informationen nicht nur zur Verbesserung des Urteils führt, sondern sich dadurch sogar einem objektiven, neutralen Urteil annähert. Auf diese Weise säkularisiert Transparenz eine Vorstellungswelt, die vormals in der christlichen Lehre der Heilsgewissheit abgelagert war.34 Der katholisch geprägte Pu‐ blizist Bertrand de Jouvenel hat sogar die starke These vertreten, es handele sich da‐ her beim Liberalismus generell um eine „Licht-Philosophie“, die nach dem Licht Gottes strebe.35 Die Transparenzidee, die gerade in Abgrenzung zum klerikalen Füh‐ rungsanspruch entstand, stellt in gewisser Weise den Versuch dar, die Heilsgewiss‐ heit nach dem Zerfall der theologisch abgesicherten Sozialordnung symbolisch zu retten, indem Bentham die Erwartungen auf einen formalen Mechanismus empiri‐ scher Evidenzen projizierte. Durch diesen Wirkmechanismus der Transparenz würde Politik in eine Herrschaft des Verstandes überführt werden, die zum größten Glück der größten Zahl führt. Es ist diese utilitaristische (Glück der größten Zahl) und modernistische (Fort‐ schritt durch formale Mechanik) Prägung der Transparenzidee, die sie für eine Viel‐ zahl politischer Strömungen und organisatorischer Lösungsversuche anschlussfähig werden ließ. Insbesondere sozialistische und sozialdemokratische Projekte, die ihren Ursprung ebenfalls am Beginn der Moderne haben, können daher Transparenzforde‐ rungen problemlos in ihr Programm integrieren. Ein Beispiel hierfür ist das Bau‐ haus, zu dem Architekturgrößen wie Walter Gropius gehörten, die versuchten, mit‐ hilfe formaler und transparenter Architektur das gesellschaftliche Wohl zu erreichen. Auch hinter ihrer Idee von Transparenz stand ein utilitaristisches Demokratiever‐ 31 32 33 34

Kant 1977, S. 42. Programmatisch Luhmann 2009, S. 84. Hood 2006, S. 3. Für Beispiele aus dem Neuen Bauen August 2018a; für Bentham im Detail Rzepka 2013, S. 82-85. 35 Jouvenel 1963, S. 283.

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ständnis, das allerdings Demokratie als sozioökonomische Lebensform betrachtete und daher Fabriken und Wohnungen ins Zentrum stellte. Transparente Gebäude soll‐ ten hier das Wohnen und Arbeiten für Arbeiter hygienischer und sicherer machen.36 Zeitlich parallel zum Bauhaus entwickelte sich um 1900 vor allem in den USA auch eine „progressive“ politische Bewegung, die den Ausbau von Publizitätsmaß‐ nahmen forderte.37 In diesem Zusammenhang entstand auch der Artikel „What Pu‐ blicity Can Do“ des späteren US-amerikanischen Verfassungsrichters Louis D. Brandeis. Direkt am Anfang präsentierte Brandeis Publizität dort „as a remedy for social and industrial diseases“, denn: „Sunlight is said to be the best of disinfectants; electric light the most efficient policeman“.38 Dieser Spruch, der heute vielfach als Leitlinie der Transparenznorm zitiert wird,39 stellt unmittelbar die Verbindung zu modernen Hygiene- und Kontrolldiskursen her. Für Brandeis übernahm Licht – me‐ taphorisch und materialiter – die Funktion der Polizei und verbürgte durch seine desinfizierende Kraft die Reinheit der Gesellschaft. Wenn heute Transparenzaktivis‐ ten auf Brandeis verweisen, schreiben sie sich selbst nicht nur eine eigene Tradition des Transparenzstrebens, sie schreiben auch die modernistischen Reinheits- und Kontrollfantasien fort, ohne ihre Implikationen kritisch zu reflektieren. Dabei richte‐ te sich Brandeis im Übrigen weniger gegen den Staat als gegen Banker, die seiner Ansicht nach ihre Provisionen und Gewinne veröffentlichen sollten, weil die immen‐ se Wohlstandssteigerung dieses Berufszweiges ihnen auch immer mehr Macht zu‐ wachsen ließe. Sie hat damit eine dezidiert andere Ausrichtung als die Transparenz‐ forderungen seit den 1970er-Jahren.

3. Der Mechanismus der Transparenz: Systematik und nicht intendierte Effekte 3.1. Ausgangspunkt: Ungewissheit und Misstrauen Die Darstellung ist bisher zentralen Momenten und Akteuren gefolgt, die Transpa‐ renz als Lösung politischer und sozialer Probleme stark gemacht haben. Aus dieser historischen Perspektive lassen sich durch Vergleiche systematische Erkenntnisse über die Rationalität und die Effekte von Transparenz gewinnen, die man unter Ein‐ bezug weiterer Forschungsergebnisse zu einer Theorie der Transparenz verbinden kann. In dieser systematischen Hinsicht ist Transparenz eine Antwort auf das Gefühl von bedrohlicher Unsicherheit. Unsicherheitsgefühle interpretieren Kontingenz als Bedrohung. Von dieser negativen Erwartungshaltung aus reagiert man auf die wahr‐ 36 37 38 39

Ausführlich August 2018a. Pozen 2018. Brandeis 1914, S. 92. Ein Beispiel dafür ist die Sunlight Foundation.

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genommene Unsicherheit mit Misstrauen: Man geht z.B. davon aus, dass Politike‐ rinnen oder Beamte ihre Macht zu ihrem eigenen Nutzen verwenden werden und die Bürgerinnen und Bürger dafür die Kosten tragen müssen. Von dieser Prämisse aus lässt sich dann nach Praktiken suchen, die das unterstellte Fehlverhalten verarbeiten und nach Möglichkeit die angenommene Bedrohung reduzieren. Dabei liegt die Grundidee von Transparenz darin, dass die Suggestion von Beobachtung zu einer Anpassung des (potenziell bedrohlichen) Verhaltens an die angenommene Erwar‐ tungshaltung des Publikums führt (sofern dieses Publikum tatsächlich über Sankti‐ onsmaßnahmen verfügt). Transparenz manipuliert also Verhalten so, dass „security against misrule“ entsteht. Eine besondere Leistung der Transparenzmetapher ist, dass aus ihrer starken Bildkraft ein ganzes Set unterschiedlicher Praktiken abgeleitet werden konnte, mit denen Transparenz letztlich Misstrauen im Alltag implementiert. Dieser Befund mag in doppelter Hinsicht irritieren. Erstens widerspricht er der gängigen Proklamation, Transparenz schaffe Vertrauen. Nicht nur die berühmte Hamburger Transparenzinitiative warb mit diesem Slogan, auch in GovernanceKonzepten und Rational-Choice-Theorien findet sich immer wieder diese These. Demgegenüber hat Jeremy Bentham sehr deutlich gemacht, dass Transparenz ein „system of distrust“ ist.40 Diese Grundüberlegung, die am Beginn der politischen Transparenznorm stand, ist auch recht einfach nachzuvollziehen: Denn wer darauf vertraut, dass die Regierung richtig handelt, braucht das Handeln der Regierung nicht zu überwachen. Der Ausgangspunkt sowohl der Bentham’schen als auch der jüngeren Transparenznorm ist aber gerade das Misstrauen in die Arbeit der politi‐ schen Akteure. Der negative Zusammenhang zwischen Transparenz und Vertrauen hat sich nicht ohne Grund auch in sprachlichen Redewendungen niedergeschlagen: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser; wobei sich metaphorisch dann blindes Ver‐ trauen und allsehende Kontrolle gegenüberstehen. Auch innerhalb der Transparenz‐ forschung konnte sich die These der Vertrauensgenerierung durch Transparenz nicht halten.41 Allerdings ist – zweitens – aus demokratietheoretischer Perspektive freilich frag‐ würdig, ob dies ein Problem darstellt. So war z.B. Bentham der Auffassung, alle gu‐ ten politischen Institutionen beruhen auf Misstrauen.42 In der Gegenwart aber hat sich die Vorstellung durchgesetzt, Vertrauen sei gut, Misstrauen sei schlecht. Doch diese Moralisierung von Ver- und Misstrauen trägt weder zum Verständnis von Transparenz noch von repräsentativer Demokratie bei,43 weil maßgebliche Mecha‐ nismen der liberalen repräsentativen Demokratie auf Misstrauen beruhen; ansonsten

40 41 42 43

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Bentham 1999, S. 37. August 2018b; Fine Licht 2011; Grimmelikhuijsen u.a. 2013; Richter 2017; Wewer 2017. Bentham 1999, S. 37. Suntrup 2018.

bräuchte es weder parlamentarische Kontrollverfahren gegenüber der Regierung noch eine freie Presse oder die Möglichkeit periodischer Abwahl. Es lässt sich jedoch die These aufstellen, dass Demokratien insofern auf Vertrau‐ en beruhen, damit Misstrauen nicht dysfunktional für das gesamte System wird. Denn wie Niklas Luhmann herausgearbeitet hat, hat Misstrauen eine inhärente Ten‐ denz zur Selbstverstärkung, weil sich letztlich keine absolute Gewissheit generieren lässt: „Wer mißtraut, braucht mehr Informationen und verengt zugleich die Informa‐ tionen, auf die zu stützen er sich getraut.“44 Dadurch komme es sukzessive zu einer Paralyse des Systems, weil der Grund des Handelns wegbreche. Die Nützlichkeit von Transparenz hängt insofern nicht zuletzt von ihrer kontextuellen Einbettung ab.45 Nur im Rahmen von generellem Vertrauen, so lässt sich vermuten, können Misstrauenspraktiken zuträgliche Effekte entfalten. Man bräuchte dann eine alterna‐ tive Öffentlichkeitskonzeption, die in der Lage ist, Vertrauen zu generieren, um ein Gegengewicht zu jenem Misstrauen zu bieten, das durch Transparenzpraktiken insti‐ tutionalisiert wird.

3.2. Praktiken der Transparenz: die Formalisierung und Rationalisierung von Verhalten Vergleicht man Organisationsvorschläge miteinander, die auf Transparenz abzielen, lassen sich vier Kategorien von Praktiken auffinden, die überraschenderweise über die Zeit erstaunlich stabil sind, auch wenn freilich – nicht zuletzt wegen technologi‐ scher Entwicklungen – neue Variationen in den Kategorien hinzutreten.46 Dabei greifen sowohl die Praktiken als auch die Kategorien ineinander und prägen ein dis‐ tinktes Profil der Öffentlichkeit aus. Im Transparenzregime zielt Öffentlichkeit erstens auf lineare, hierarchische Ord‐ nungsmodelle. Dieses Ordnungsmuster ist bereits an der Grundstruktur deutlich zu erkennen, in der „die“ Öffentlichkeit den politischen Funktionären übergeordnet wird, um ihren direkten Steuerungsanspruch geltend zu machen. Diese Vorstellung, die im Übrigen im Konflikt mit Gewaltenteilung steht, prägte nicht nur Benthams public opinion tribunal, sondern findet sich auch im New Public Management. Die‐ ses reformulierte die Demokratie in Form von Principal-Agent-Beziehungen, die „wie in einer Kette“ vom obersten bis zum untersten Glied hinunterreichen wür‐ den.47 Die transparente, hierarchische Institutionenordnung stelle dabei einerseits si‐ cher, dass jeder Agent einen eigenen, „klar definierten“ Handlungsspielraum habe, 44 45 46 47

Luhmann 2009, S. 93. Cucciniello u.a. 2017. Ausführlich dazu bereits August 2018b. Siehe etwa Moe 1984.

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um seine Aufgabe zu erfüllen, während sie sein Verhalten andererseits permanent beobachtbar mache, sodass Fehlverhalten entdeckt, eindeutig zugeordnet und sank‐ tioniert werden könnte. Die „transparency of the system“48 bzw. die „transparency in the overall structure and functions of government“49 wirkt so sowohl als Medium der Erkenntnis als auch als Medium kausaler Steuerung, indem sie vorab Verhalten nahelegt und nachträglich Sanktionen ermöglicht. Eine zweite typische Praxis transparenter Öffentlichkeitskonzeptionen ist Glasar‐ chitektur. Die Gestaltung öffentlicher Räume gehört im Grunde zu jedem Regime der Öffentlichkeit; so hat die griechische Polis mit ihrem Modell radikaler Präsenz‐ öffentlichkeit die agora und die Römische Republik das forum geschaffen, wobei in der Römischen Republik daneben noch das Senatsgebäude trat und so eine doppelte Verräumlichung von Öffentlichkeit stattfand: auf der einen Seite die entscheidende Versammlung der Bürger, auf der anderen Seite die beratende Versammlung der frü‐ heren Amtseliten. Für transparente Öffentlichkeiten ist ideengeschichtlich betrachtet Glasarchitektur in besonderer Weise grundlegend, weil Bentham zuerst das architek‐ tonische Prinzip der Steuerung entdeckte, bevor er es auf Bereiche der Geschäftsfüh‐ rung übertrug. Dabei hat sich inzwischen ein metaphorischer Zirkelschluss ergeben: Wurde Transparenz erst von der Architektur auf eine demokratische Ordnung über‐ tragen; wird nun davon ausgegangen, dass Transparenz konstitutiver Bestandteil einer Demokratie ist und sich dies auch in den Gebäuden widerspiegeln müsse. Die Idee hinter der transparenten Bauweise war dabei anfangs zweiseitig: Einer‐ seits schaffe Licht effizientere und gesündere Arbeits- und Lebensbedingungen, an‐ dererseits werde dadurch das Handeln der Funktionäre erst tatsächlich einsehbar. Daher entwarf Bentham eine Parlamentsarchitektur, die – ganz ähnlich wie im Deut‐ schen Bundestag – eine runde Form und gläserne Zuschauertribünen hat. Auch für die Ministerialarchitektur schlug er z.B. gläserne Decken und eine polygonale Büro‐ struktur vor. Von der Sichtbarkeit abgeschirmt sind aber die einzelnen Bürger, deren Privatsphäre durch einzelne Warteboxen geschützt werden soll. Über die Geheim‐ haltung und Unsichtbarkeit entscheidet bei ihm letztlich die Privatsphäre des bour‐ geois, nicht die Amtssphäre des Politikers.50 Diese Trennung findet sich auch in ge‐ genwärtigen Transparenz-Vorschlägen.51 Während diese beiden Kategorien im doppelten Sinne auf die Institutionenarchi‐ tektur zielen, versuchen zwei weitere Kategorien, den politischen Diskurs transpa‐ rent zu machen. Die dritte Kategorie an Praktiken ist dabei vermutlich die meist ge‐ nannte Forderung, nämlich Publizität im Sinne der drei Stadien Dokumentation, Pu‐ blikation und Monitoring. Infolgedessen entwickeln die Organisationen – sei es im 48 49 50 51

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Bentham 1962b, S. 63. Kopits/Craig 1998, S. 5 (Herv. entfernt). Rzepka 2013, S. 106-107. Vgl. Sifry 2011.

Staat oder in anderen Organisationen – selbst umfängliche Systeme der Registratur und Dokumentation ihrer Prozeduren, von denen im Transparenzmodell größtmögli‐ che Zugänglichkeit verlangt wird; gleichzeitig sollen aber auch externe Beobachter wie Medien oder Nichtregierungsorganisationen eigene Beschreibungen anbieten. Dieser Bereich ist einerseits durch das Design von Indikatoren, Benchmarking- und Begutachtungsverfahren in den zurückliegenden dreißig Jahren und andererseits durch das Aufkommen immer neuer zivilgesellschaftlicher „Watchdogs“ – von Blogs bis hin zu großen Stiftungen – massiv expandiert. Beide Phänomene zählen zu den sichtbarsten Folgen der aktuellen Form transparenter Öffentlichkeit, wobei sie durch die einfacheren Produktionsbedingungen der Digitalisierung gestützt werden. Es ist allerdings bezeichnend, dass dies nicht der letzte Schritt der „Transparenti‐ sierung“52 ist, denn Transparenz zielt auch auf die Durchsichtigkeit des einzelnen (Sprech-)Aktes. Schon Bentham schlug vor, aus dem politischen Diskurs Metaphern und Symbole so weit wie möglich zu verbannen, weil diese letztlich der Täuschung des öffentlichen Auges dienen. Man müsse politische Eliten darauf verpflichten, ihre eigenen Äußerungen so „rein“ wie möglich zu halten, während man das Handeln an möglichst klare und konkrete Geschäftsordnungen binden sollte. Die so gereinigten politischen Prozesse zeichnen sich durch „the utmost degree of clearness, correct‐ ness, and completeness possible“ aus.53 Die gleiche Semantik findet sich in gegen‐ wärtigen Transparenzforderungen wieder. So heißt es bei dem bereits oben zitierten Policy-Dokument des International Monetary Fund z.B., Transparenz erfordere „[c]lear administrative procedures“ und „simple statutes and implementation“.54 Erst durch diese Vorkehrung erhalte man die gewünschte Sicherheit. Insbesondere die letzte Forderung zeigt deutlich, wie sehr Transparenz auf eine Regulation des Sprechens und Handelns abzielt. Dafür bietet sie Anleitungen, die von der Gesamtorganisation bis hin zu den kleinsten Teilen reichen, um eine Ratio‐ nalisierung des Handelns zu erwirken: Die Öffentlichkeit hinter dem Mechanismus der Transparenz ist dabei eine einzige, standardisierte Öffentlichkeit, die an der Spit‐ ze von Entscheidungen steht. Sie dispositioniert außerdem zu einer generell miss‐ trauischen Haltung gegenüber politischem Handeln und fokussiert auf Bedrohungs‐ situationen. Um diese Unsicherheit zu reduzieren, soll Handeln möglichst in klar vorgegebene formelle Bahnen überführt werden, die bis ins Detail nach Einfachheit und Klarheit strukturiert werden. Durch „transparente“ Kriterien wird es sehr ein‐ fach, Verhalten einzusehen und zu evaluieren. Öffentlichkeit erhält so in erster Linie zwei Funktionen: Sie funktioniert als ein Kontrollmechanismus, damit die Agenten ihr Handeln an dem einen „öffentlichen Interesse“ ausrichten. Wenn dann aber die Handelnden den Regeln der Transparenz folgen, werden Informationen auch verläss‐ 52 Heibges 2018, S. 10. 53 Bentham 1962b, S. 90. 54 Kopits/Craig 1998, S. 6.

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licher. Die Kontrolldimension wird so um eine Sachdimension ergänzt. Die Vollstän‐ digkeit der gereinigten Informationen würde zu einem neutralen, rationalen Urteil führen – dem one best way. Doch kann Transparenz dieses Versprechen auf Sicher‐ heit, Neutralität und rationale Effizienz halten?

3.3. Nicht intendierte Folgen: Intransparenz, Exklusion, Expertenbeteiligung Transparenz zielt darauf ab, möglichst viele Informationen zu generieren. Während in der Logik der Transparenz damit Effizienz- und Qualitätssteigerung verbunden sind, legt eine empirische Beobachtung andere Effekte frei, nämlich Bürokratisie‐ rung und Komplexitätssteigerung. Zunächst müssen Informationen produziert, verschriftlicht, archiviert und verwal‐ tet werden. Für diesen Prozess müssen Organisationen – seien es Unternehmen, Ver‐ eine oder politische Einheiten – entsprechend Zeit und Ressourcen aufwenden. Die Effekte werden dabei im Arbeitsalltag von Menschen schnell sichtbar: Ihnen werden nun neben ihrer professionellen Tätigkeit auch umfangreiche Dokumentationspflich‐ ten aufgetragen, z.B. im Rahmen von Qualitätssicherungsmaßnahmen. Die Aggrega‐ tion und Verwaltung der so produzierten Daten wiederum muss dann von zusätzli‐ chen Verwaltungsstellen übernommen werden, sodass Organisationen dadurch an‐ wachsen, ohne dass dieses Wachstum zu ihrer inhärenten Leistung beiträgt. Dabei stellt sich ein paradoxer Effekt ein: Transparenz produziert Intransparenz. Weil die Praktiken der Transparenz mehr und mehr Informationen generieren, ist die einzelne Information am Ende nicht mehr ohne Weiteres aufzufinden. Sie ist nun zwar nicht mehr geheim, aber nach wie vor versteckt, weil sie zur Nadel im Heuhau‐ fen geworden ist. Es kommt, anders formuliert, zu einem information overload, weil die Masse an Informationen durch den oder die Einzelne nicht mehr verarbeitet wird. Es ist daher kein Zufall, dass ab den 1970er-Jahren parallel zu den Transpa‐ renzforderungen auch die Anzahl der Nichtregierungsorganisationen massiv anstieg, die sich zeitgleich immer stärker professionalisierten.55 Es kommt zu einer „NGOi‐ sierung der Öffentlichkeit“.56 Das Problem „undurchsichtiger“ Informationsverarbeitung verlagert sich damit weg vom Staat hin zu anderen Akteuren, die in der Lage sind, aufgrund ihrer inter‐ nen Organisationsstruktur die Masse der Informationen zu verarbeiten. Die Komple‐ xität und Spezialisierung dieser Organisationen verhindern dabei freilich, dass sie für außenstehende Laien transparent sind. Transparenz generiert so nicht Bürgerpar‐ tizipation, sondern zunächst Expertenpartizipation. Sie transferiert eine erhebliche Steuerungsmacht auf große Organisationen, die – z.B. als Interessensverbände von 55 August 2018b. 56 Lang 2013.

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Unternehmensbranchen – über ausreichend Ressourcen verfügen, aber keinem reprä‐ sentativ-demokratischen Auswahlprozess unterliegen. Ob eine öffentliche Verhandlung legislativer Akte der Qualität der Deliberation zuträglich ist, ist daher in der Demokratietheorie durchaus ambivalent beurteilt wor‐ den.57 Dabei lassen sich zwei typische Einwände ausmachen: Erstens mache die öf‐ fentliche Verhandlung legislativer Akte die Repräsentanten stärker anfällig für Be‐ einflussung von außen. Dies ist freilich der Sinn transparenter Verfahren, weil sie die Interessen der Beobachteten an das universal interest der Öffentlichkeit anpassen sollen. Diese Logik wird jedoch problematisch, wenn man nicht von einem univer‐ sellen Interesse ausgeht, sondern – wie eben skizziert – die unterschiedlichen Ein‐ flussmöglichkeiten von Akteuren einbezieht. Gerade die Einflussmöglichkeiten von Unternehmen und Interessensverbänden können aber mit der Verfügbarkeit von In‐ formationen oder mit der öffentlichen Deliberation wachsen, lautet einer der Ein‐ wände gegen Transparenz.58 Dass es eine Bevorteilung bestimmter Gruppen durch transparente Verfahren gibt, wusste und befürwortete jedenfalls auch Bentham. Da‐ bei dachte er allerdings weniger an Organisationen als an eine bestimmte Schicht, nämlich die bürgerliche Mittelschicht, der er unterstellte, dass sie das universal inte‐ rest vertreten würde.59 Zweitens ist sowohl in der historischen Debatte um die Ausgestaltung von Verfas‐ sungen als auch in der gegenwärtigen Demokratieforschung hinterfragt worden, ob die Öffentlichkeit der Verhandlung tatsächlich zu einer Vernunftorientierung beitra‐ gen kann. Vielmehr könnte sie einerseits einen Meinungswechsel verhindern, um einen öffentlichen Gesichtsverlust zu vermeiden; andererseits könnte auch gerade die Öffentlichkeit zu einer Emotionalisierung der Debatte verleiten. Beide Einwände hatte auch Bentham bereits im Blick. Die Antwort der Transparenzidee besteht eben darin, nicht nur einzufordern, dass öffentlich verhandelt wird, sondern auch zu regu‐ lieren, wie man sich in diesen Verhandlungen verhalten kann. Die Formalisierung des politischen Verhaltens soll einer mangelnden Vernunftorientierung vorbeugen. Damit wird allerdings auch hier ein Exklusionsprozess in Gang gesetzt: Indem Transparenz bestimmte Praktiken normativ auszeichnet und andere Praktiken öffent‐ lichen Verhaltens abwertet, werden auch bestimmte Teilnehmerkreise bevorteilt.60 57 58 59 60

Gosseries 2010; Schäfer 2019. Nicola 2015. Rzepka 2013, S. 112-113. Dieser Einwand ist auch aus der Auseinandersetzung mit Habermas‘ „Theorie des kommunika‐ tiven Handelns“ bekannt (vgl. Fraser 1985), für deren Entstehung die liberale Moraltheorie be‐ kanntlich nicht unbedeutend war. Ebenso wie bei Bentham werde hier eine Exklusion durch den Zuschnitt legitimer Praktiken erreicht, der bestimmte Akteure bevorzuge, weil sie auf‐ grund der gesellschaftlichen Strukturen über die entsprechenden Kompetenzen und Vorteile verfügen. Damit ist der Zugang aber immerhin nicht prinzipiell ausgeschlossen. Immanuel Kant war hier etwa deutlich schärfer, weil er nicht nur öffentliche Diskussion auf intellektuelle Konversation in Schriften beschränkte, sondern für die Teilnahme am politischen Geschehen auch ökonomische Selbstständigkeit erwartete (vgl. Rzepka 2013, S. 47-62).

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Auch hier stellt sich also ein Machteffekt transparenter Öffentlichkeiten ein, der nicht nur zu Exklusion führt, sondern auch das Neutralitätsversprechen der Transpa‐ renz unterläuft. Schließlich lässt sich diesen klassischen Einwänden ein weiterer kritischer Aspekt anschließen, der vor allem auf Basis republikanischer Öffentlichkeitskonzeptionen vorgebracht werden kann. Wie unabhängig davon auch die Valorisierungs- und Quantifizierungsforschung gezeigt hat,61 führt Transparenz tendenziell zu Konformi‐ tät und Anpassung. Davon sei, so nun das republikanische Argument, zwar eine Ver‐ waltung der öffentlichen Angelegenheiten zu erwarten, aber keine politische Kreati‐ vität im Umgang mit neuen Herausforderungen. Die bloße Routine und ständige Wiederholung feststehender Abläufe könnten sogar zu einer Entfremdung zwischen politischen Eliten und Bevölkerung und einer Entpolitisierung führen, weil der poli‐ tische Betrieb letztlich unattraktiv wird.62 Die übermäßige Formalisierung politi‐ schen Handelns wird so – zugespitzt formuliert – zu einer Gefahr für die öffentliche Diskussion, weil sie sachlich und sozial die Erneuerungs- und Konfliktfähigkeit der politischen Gemeinschaft unterläuft. Öffentlichkeit müsste daher derart organisiert sein, dass sie die Chancen des Neuanfanges eröffnet und dazu passende Institutionen der Stabilität entwickelt. Der republikanische Ansatz kreativen Handelns plädiert da‐ her – ganz im Gegensatz zur Transparenzöffentlichkeit – für eine Pluralisierung von Öffentlichkeiten und sieht in der Kontingenz menschlicher Angelegenheiten mehr Chance als Gefahr.63 Er bietet damit eine alternative Öffentlichkeitskonzeption.

4. Fazit: ambivalente Anziehungskraft Während in den vergangenen Jahren aufgrund der eben dargestellten Forschungser‐ gebnisse die Transparenzforschung zusehends skeptischer geworden ist, bleibt die Anziehungskraft des Transparenzmodells insgesamt ungebrochen. Für diese Anzie‐ hungskraft und für die Ambivalenz von Transparenz liefern auch die eingangs er‐ wähnten Verhandlungen zum Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) ein gutes Beispiel.64 Im Hinblick auf das Verhältnis von Öffentlichkeit, Transparenz und Geheimhaltung liegt die Besonderheit der Debatte im Fall von TTIP darin, dass Freihandelsabkommen – wie diplomatische Verhandlungen generell – traditionell

61 62 63 64

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Mau 2017, S. 225-239. Arendt 2011, S. 302-306. Ausführlich dazu August 2018b, S. 148-151. Bei TTIP handelt es sich um eine neuere Form von Freihandelsabkommen, die nicht mehr in erster Linie – wie frühere Freihandelsabkommen – dem Abbau von Zöllen dienen, sondern vielmehr technische Standards und Regularien ebenso wie Eigentums- und Investitionsrechte vereinheitlichen sollten (Brzoska 2016, S. 13). Daraus ergibt sich freilich auch die besondere Brisanz dieser Abkommen, weil sie in die Normstruktur der Gesellschaften eingreifen.

auf geheime Gespräche setzen, und zwar einerseits aufgrund der strategischen Rele‐ vanz, die Informationen über die eigenen Ziele in Bargaining-Situationen besitzen, und andererseits aufgrund der vertrauensbildenden Funktion zwischen den Verhan‐ delnden.65 Vor diesem Hintergrund ist die massive Zustimmung, die die Transpa‐ renzforderungen schnell von den unterschiedlichsten Seiten erhielten, erstaunlich, und nicht wenige Studien haben festgestellt, „how ,remarkable‘ the TTIP negotiati‐ ons are for the fact that the negotiating directives were publically released“.66 Die breite Zustimmung durch die beteiligten Akteure lässt sich einerseits aufgrund der generellen Popularität verstehen, die das politische Schlagwort der Transparenz in den zurückliegenden dreißig Jahren gewonnen hat; andererseits liegt sie nicht zuletzt an dem Versprechen, dass Transparenz ein neutrales und rationales Urteil verbunden mit größter Legitimation herbeiführen würde, wobei freilich zu vermuten ist, dass jede Institution bzw. Organisation ihr Anliegen als Teil dieser rationalen Lösung imaginiert, sodass Transparenz bei den unterschiedlichsten Akteuren auf Zustim‐ mung stößt. Dabei trifft die Transparenz der Verhandlungen letztlich immer dort auf eine Grenze, wo sie in Konflikt mit einer anderen demokratischen Norm gerät, nämlich der Privatheit. Wie im Artikel gezeigt, ist die liberaldemokratische Tradition der Transparenz ausgehend von der Privatheit gedacht: Selbst in Benthams weitreichen‐ dem Transparenzmodell waren private Interessen der Bürger zu schützen und des‐ halb explizit vom Transparenzimperativ ausgenommen. Im Fall von TTIP wird die weitreichende Bedeutung dieser Forderung klar, weil die Verhandlungspartner der Europäischen Union nicht zuletzt als Sachwalter der privaten Interessen der USamerikanischen Bürger und Unternehmen auftreten, sodass eine Veröffentlichung der Daten zum Problem werden könnte. Die semantische und normative Unterscheidung zwischen Transparenz und Über‐ wachung wird im liberalen Theoriekontext durch eine Sphärenzuordnung ermög‐ licht: An der Schwelle des Privathauses kippt die positive Semantik der Transparenz in die negative Semantik der Überwachung. In der Logik dieser Trennung hat der Europäische Gerichtshof im Zusammenhang mit den TTIP-Verhandlungen zwar den Schutz der Privatsphäre anerkannt, dann aber für die prinzipielle Zugänglichkeit der Verhandlungen plädiert: Das bestehende Recht auf Information müsse derart ausge‐ legt werden, dass die öffentlichen Institutionen im Detail nachweisen müssen, inwie‐ fern die Verhandlungen oder Rechte Dritter durch die Freigabe der Informationen beeinträchtigt werden.67 Gesamtgesellschaftlich gesehen ist jedoch die Differenzierung von privat und öf‐ fentlich, an deren Schwelle Transparenz in Überwachung kippt, porös geworden. 65 Abazi 2016, S. 249-250. 66 Abazi 2016, S. 247; vgl. Coremans 2017. 67 Abazi 2016, S. 248-250.

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Und die zumindest eng verwandte Logik von Transparenz und Überwachung breitet sich nicht zuletzt deshalb gleichzeitig aus, weil beide mit dem Versprechen auftreten, wahrgenommene Bedrohungssituationen durch Sichtbarkeit in Sicherheit zu trans‐ formieren. Wie ich versucht habe, zu zeigen, zielt Transparenz funktional auf diese Reduktion von Unsicherheit. Dafür greift sie sozial gesehen auf Misstrauen zurück und strebt sachlich eine rationale Formalisierung von Verhalten an, die Handlungen in vorab für sicher befundene Bahnen lenkt. Dabei hilft der metaphorische Gehalt von Transparenz, um Misstrauen in konkrete Praktiken der Einsicht zu übersetzen, die von der Institutionenarchitektur über Publikations- und Monitoringsysteme bis hin zur Regulation des einzelnen Sprechaktes reichen. Die Praktiken der Transpa‐ renz stehen damit in der Tradition eines modernistischen Steuerungsdenkens, das so‐ ziale Kontrolle anwendet, um „reine“ Informationen zu erhalten und zugleich erwar‐ tet, dass durch diese reinen Informationen automatisch ein neutrales und rationales Urteil entsteht. Eine solche Rekonstruktion hilft, um die Leistungsfähigkeit von Transparenz ab‐ zuschätzen. Beobachtung und Kontrolle öffentlichen Handelns sind zentrale Errun‐ genschaften der repräsentativen Demokratie, die durch Transparenz implementiert werden können. Weil Transparenz einen Korridor legitimen Handelns festlegt, des‐ sen Einhaltung einfach einsehbar ist, kann sie paradoxerweise gerade in solchen Si‐ tuationen demokratische Prozesse stärken, die nicht in Gänze öffentlich sein können. Auch hierfür ist TTIP ein gutes Beispiel: Dadurch, dass die Europäische Kom‐ mission auf Druck der Zivilgesellschaft ihre Verhandlungspositionen veröffentlichte, wurden die Ergebnisse der nicht öffentlichen Verhandlungen erst diskutierbar und kritisierbar. Bürgerorientierte Nichtregierungsorganisationen spielten dabei eine be‐ sondere Rolle, weil sie die Organisationskapazitäten besitzen, um diese Kritik auch im Falle komplexer Inhalte zu äußern. Auf diese Weise entstand zumindest die Mög‐ lichkeit, ein Gegengewicht zu Interessensvertretern zu generieren, die – wie etwa Unternehmensverbände – aufgrund ihrer finanziellen Ressourcen über Informationsund Einflussvorteile verfügen. Die Nichtregierungsorganisationen übernehmen da‐ mit aber – entgegen ihrer eigenen Darstellung – eine Rolle der Expertenpartizipati‐ on, nicht direkter Bürgerpartizipation, und bleiben letztlich für einzelne Bürgerinnen und Bürger ebenfalls intransparent. Die Rhetorik der Unmittelbarkeit und die not‐ wendige Praxis der komplexen Verhandlung fallen auseinander, sodass ersteres zweiteres zusehends untergräbt. Darüber hinaus generieren transparente Öffentlichkeiten aber auch Probleme, die sie selbst nicht lösen können. Das zentrale Problem der Transparenzforderungen ent‐ steht an jenen Punkten, an denen Transparenz die versprochenen Ziele aufgrund ihrer eigenen Funktionslogik nicht erreicht. So wird zum einen die Hoffnung, Trans‐ parenz würde Vertrauen stiften, tendenziell dadurch konterkariert, dass Transparenz dezidiert Misstrauen implementiert. Dies kann sinnvoll sein. Wer aber immer weiter

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auf Transparenz setzt, um Vertrauen zu bekommen, könnte damit das Misstrauen im‐ mer weiter steigern, bis das System paralysiert wird. Zum anderen produziert das an‐ dauernde Wachstum von Informationen einen enormen Verwaltungsaufwand und steigert Expertenpartizipation, da nur Unternehmen und organisierte Interessen die produzierte Masse an Informationen verarbeiten können. Dadurch ist schließlich auch das Neutralitätsversprechen der Transparenz vor allem eine rhetorische Strate‐ gie, die die Machtdimensionen von Transparenzpraktiken abblendet, um Unterstüt‐ zung zu generieren.68 Seit Jeremy Bentham war Transparenz ein Instrument moral‐ ökonomischer Steuerung, bei dem vorher von Akteuren festgelegt werden musste, was als moralisch „gutes“ und moralisch „schlechtes“ Handeln beurteilt wird. Machtfragen und Moralisierungen durchziehen daher auch gegenwärtige Transpa‐ renzdiskurse. „Transparenz“ erweist sich letztlich als ein spezifisches Regime von Öffentlich‐ keit, dessen normativer Ansatz ebenso ambivalent ist wie seine Effekte. Die Hoff‐ nungen auf Bürgerpartizipation, auf Effizienzsteigerung und auf die Sicherheit ratio‐ naler, neutraler Urteile kann Transparenz dabei nicht ohne Weiteres erfüllen, weil sie diese durch ihre Operationsweise zugleich unterläuft. Die Gefahr der Transparenzru‐ fe besteht darin, durch Transparenz immer weiter die Probleme anzufeuern, die man doch mit dem Ruf nach Transparenz zu lösen glaubt. Dieses Dilemma hat sich seit den 1970er-Jahren durch die technologischen Entwicklungen verschärft, stützen Computerisierung und Big Data doch die Versprechen, immer mehr Informationen immer schneller verarbeiten, um Probleme rational lösen zu können. Zudem lassen sich mit der Umstellung der industriellen Struktur auf Dienstleistungen und Wissen immer schwieriger Argumente gegen die Produktion von immer mehr Informationen vorbringen. Allerdings verschwindet gerade durch immer mehr Informationen die Transparenz wieder, die die Informationen hervorgebracht hat. Transparenz und Ge‐ heimnis erscheinen dadurch paradoxerweise nicht mehr als Gegensatz, in dem die Maximierung einer Seite möglich ist: Denn maximale Transparenz generiert neue In‐ transparenz und in diesem Sinne Geheimnisse und Unsicherheiten. Ein anderer Sinn öffentlicher Diskussion liegt daher vielleicht gerade darin, dass sich das menschliche Zusammenleben nicht auf mechanische Weise kontrollieren und herstellen lässt, sondern die Probleme in der Pluralität der Möglichkeiten betrachtet und abgewogen werden müssen. Die alte Lichtmetaphorik des Öffentlichen hat der Transparenzme‐ tapher hier womöglich etwas Entscheidendes voraus, denn sie weiß: Dort wo Licht ist, ist auch Schatten. 68 Man könnte sogar vermuten, dass Transparenzforderungen zu einer Verdrängung politischer Inhalte führen. Die zu prüfende These wäre: Weil Transparenzforderungen Zustimmung garan‐ tieren, verleiten sie dazu, diese in den Vordergrund zu stellen und die umstritteneren politi‐ schen Positionen abzublenden. Dies könnte ein akzidentieller Effekt sein oder sogar intentional als Blame-Avoidance-Strategie eingesetzt werden. Ohne empirische Untersuchungen lässt sich über den Gehalt der These freilich nichts aussagen.

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Heinz Kleger und Eric Mülling Digitale Bürgersouveränität? Künstliche Intelligenz, zivile Widerstände und kritische Öffentlichkeit

Zum Zeitpunkt, da der Mensch erstmals in der Lage ist, eine selbst denkende Ma‐ schine tatsächlich herzustellen und mit ausreichend Massendaten auszustatten, zwei‐ felt der Bürger an seiner Kompetenz, noch zwischen Fake und Wahrheit unterschei‐ den zu können. Schnell ist bereits vom „postfaktischen Zeitalter“ (post-truth) die Re‐ de. Was aber heißt das konkret? Bürger meinen, die Flut an Informationen nicht län‐ ger bewältigen zu können und zeigen sich überfordert von der Vielzahl an Einflüs‐ sen. Mit jedem neuen Datenskandal werden sie sich ihrer fehlenden Mitbestimmung bewusst. IT-Unternehmen erklären unterdessen die vermeintliche Berechenbarkeit menschlichen Verhaltens zum Geschäftsmodell. Fast scheint es so, als ob sich die prophezeite „Ohnmacht der Vernunft“ in den neuen Funktionen und Möglichkeiten der Computer manifestiert.1

1. Einleitung Der folgende Beitrag widmet sich der Frage, wie Bürger ihre Urteils- und Hand‐ lungsfähigkeit angesichts der negativen Auswirkungen neuer Technologien behalten. Wir untersuchen zivile Widerstände, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, eine demokratische Öffentlichkeit wiederherzustellen. Abkoppelung, Radikalisierung und kritische Öffentlichkeit bezeichnen verschiedene Wege momentan eher aneinander vorbeilaufender Diskurse der Medienöffentlichkeit, die eine neue Aufklärung behin‐ dern (Kapitel 4.). Mit der digitalen Bürgersouveränität als Lern- und Sachprozess setzen wir auf die Beteiligung der Bürger als Onlineuser. Dieses Unterfangen kann gefördert und unterstützt werden: a) über Medienkompetenz als politische Bildung; b) einen handlungsfähigen Staat, gute Gesetze und ethische Richtlinien sowie c) auf‐ klärende Common-Sense-Faustregeln individuellen Verhaltens. Die Vielen können unter den heutigen Bedingungen mehr denn je zu einer kritischen zivilen Masse wer‐ den, die demokratische Handlungsmacht erlangt. Das ist die handlungsoptimistische Seite politischer Aufklärung. Die Stichworte dafür sind: „digitaler Ungehorsam“

1 Weizenbaum 1978.

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(Kapitel 2., 3.), „digitale Bürgersouveränität“ (Kapitel 4., 5.), „zivile Masse und Macht“ (Kapitel 6.). Die bürgerschaftszentrierte politische Theorie mit der nicht subalternen Bürger‐ souveränität ist Teil dieser Aufklärung. Zu ihrer Wissenschaftlichkeit gehört zualler‐ erst und immer wieder, zur Kenntnis zu nehmen, was ist. Wissenschaft und Aufklä‐ rung sind den Tugenden der Wahrheit – Genauigkeit und intellektuelle Redlichkeit – verpflichtet. Dies führt fast zwangsläufig auch zu einer skeptisch-konservativen Aufklärung. Die Stichworte dafür sind: „Antiquiertheit des Menschen“, „Tyrannei der Intimität“, „Erosion demokratischer Öffentlichkeit“, „digitaler Pranger“ und „gläserner Bürger“. Davon sollte man sich irritieren lassen, denn nur so können die beiden Stränge der Aufklärung – der handlungsoptimistische und der skeptisch-kon‐ servative – voneinander lernen. Was aber bedeutet heute künstliche Intelligenz und worin besteht ihre Herausforderung?

2. Das Potenzial künstlicher Intelligenz Bei der künstlichen Intelligenz geht es nicht um Maschinen, die alles können. Künst‐ liche Intelligenz ist ein Fachgebiet der Informatik und es unterteilt sich wiederum selbst in verschiedene Fachgebiete, wie z.B. das maschinelle Lernen. Es stellt den Versuch dar, menschliche Denkprozesse in Maschinen abzubilden. Dabei geht es um Berechnungsverfahren, die die „Wahrnehmungs- und Verstandesleistung“ unseres Gehirns operationalisieren und so die Datenverarbeitung und -speicherung moderner Rechnersysteme intelligenter gestalten.2 Forscher versuchen, beim maschinellen Lernen, Denkprozesse im menschlichen Gehirn besser zu verstehen und nachzubil‐ den. Diese Neuronenmodelle sind mathematische Formen von Nervenzellen. Sie er‐ lauben Maschinen das Lernen aus Erfahrung und ohne spezielle Anweisung von au‐ ßen.3 Folglich handelt es sich beim maschinellen Lernen um ein künstliches neuro‐ nales Netzwerk. Seine Funktionsweise und Ergebnisse wirken autonom gelernt und auf uns intelligent. Daraus ergeben sich natürlich ethische Fragen. Antworten darauf suchen nicht nur Philosophen, sondern auch Entwickler. Es lohnt sich deshalb, auf die Gegenmaßnahmen der IT-Konzerne zu schauen. Der deutsche IT-Vorzeigekonzern SAP beauftragte dazu im Sommer 2018 seinen hauseigenen Ethikbeirat mit der Entwicklung von Grundsätzen.4 Microsoft und Google besitzen ähnliche Gremien. Die Beratergruppe ist besetzt mit neun SAPFührungskräften, deren Aufgabe es ist, die Entwicklung neuer Produkte an vorher festgeschriebenen ethischen Vorgaben auszurichten. Heute besitzt SAP sieben sehr 2 Görz 2013, S. 1. 3 Ziegler 2015, S. 3. 4 SAP Ethikrichtlinien: https://perma.cc/VB4S-22QK, letzter Zugriff am 1. Oktober 2018.

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weit gefasste Grundsätze. Sie stellen einen ersten Versuch dar, Programmierung nicht länger als Abfolge von Nullen und Einsen zu begreifen, sondern die gesell‐ schaftlichen Auswirkungen von Anfang an mitzudenken. Das überrascht insofern, als Informatiker nach Hannah Arendt ein „irrationales Vertrauen in die Berechenbar‐ keit der Realität zum Leitmotiv der Entscheidungsfindung“ zeigen.5 Die neuen Richtlinien stellen selbst gewählte Grundsätze dar, die nicht darüber hinwegtäuschen können, dass sie keinen zivilgesellschaftlichen Konsens aufgreifen. Künstliche Intel‐ ligenz hat aber das Potenzial massivster Auswirkungen auf alle gesellschaftlichen Bereiche. Mitunter warnen ihre Entwickler sogar selbst davor, was bei der Atom‐ energie früher nicht anders war. Elon Musk z.B., Gründer von Tesla, sieht in der „künstlichen Intelligenz“ eine zerstörerische Kraft für ganze Nationen heranwach‐ sen.6 Auf dem Weg zur digitalen Bürgersouveränität helfen jedoch Beiräte und von der Zivilgesellschaft kaum zu überprüfende Richtlinien kaum weiter. Eine Antwort könnte dagegen die Einrichtung unabhängiger Foren sein, die ethische Grundsätze für künstliche Intelligenz, die sich in ihrer starken Version menschengleich aus eige‐ nem Antrieb entwickelt, formulieren. Eine Roboterethik ohne Zuweisung der Ver‐ antwortung an natürliche Personen ist kaum vorstellbar. Das digitale Zeitalter verknüpft gesellschaftliche Prozesse mit neuen Hoffnungen und Ängsten. Zum einen existiert die Vorstellung, dass die neuen digitalen Möglich‐ keiten einen radikaldemokratischen Raum eröffnen, der den Bürgern Teilhabe und grenzenlosen Zugang zu globalem Wissen gewährt.7 Zum anderen wird ein Bild des Schreckens gezeichnet, dass im Zuge der digitalen Transformation Falschnachrich‐ ten nicht länger von Fakten unterschieden werden können. In einer Langzeitstudie des Massachusetts Institute of Technology (MIT) untersuchten Wissenschaftler die Verbreitung von Kurznachrichten (Tweets) im Netz über Twitter. Über 100.000 Tweets wurden von unabhängigen Faktencheckern als „wahr“ oder „falsch“ klassifi‐ ziert und ihre Popularität systematisch analysiert. Die Forscher vom MIT stellten fest, dass die unwahren Inhalte stets größere Verbreitung fanden. Anscheinend führ‐ ten diese Tweets zu mehr Emotionen und wirkten insgesamt anregender.8 Die massenhafte Weiterverbreitung von Unwahrheiten geht unter anderem auf die automatische Absetzung von Nachrichten durch Bots zurück. Ein Bot ist ein Com‐ puterprogramm, das – in sozialen Netzwerken eingesetzt – die Fähigkeit besitzt, au‐ tomatisch Inhalte zu markieren, zu kommentieren und zu teilen. Bots agieren auf den ersten Blick wie Menschen und werden dafür verwendet, Meinungen zu verstär‐ ken. Dies kann eher harmlos in der Werbung oder viel problematischer zur Beein‐ flussung wichtiger gesellschaftlicher und politischer Debatten geschehen. Dieser 5 Arendt 1972. 6 Elon Musk über künstliche Intelligenz auf Twitter: https://perma.cc/2K7E-MV47, letzter Zugriff am 1. Oktober 2018. 7 Borgwardt 2018. 8 Borgwardt 2018.

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Umstand darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es letztlich menschliches Kommunikationsverhalten ist, das am umfassendsten für die Streuung von unrichti‐ gen Inhalten verantwortlich ist.9 Bots verstärken diesen Effekt, womit sie vor allem auch die Gereiztheit der Debatten in den sozialen Netzwerken verstärken. Für deren Teilnehmer kann nicht länger zwischen menschlicher und maschineller Kommunika‐ tion unterschieden werden. Die Folge sind Erregungsmuster, die wiederum noch mehr Gereiztheit produzieren.10 Das schnelle Aburteilen grassiert, auf der Strecke bleibt dabei die menschliche Klugheit als konkrete Urteilskraft.

3. Protestakteure als Impulsgeber Der Bürger wird heute aktiv durch proprietäre Zugänge daran gehindert, die dahinter ablaufenden technischen Prozesse zu verstehen. Überdies bereiten Schulen und Uni‐ versitäten nur sehr ungenügend auf den Umgang mit der neuen Medienvielfalt vor. In Frankreich ist es Schülern neuerdings verboten, ihr Handy mit in den Unterricht zu nehmen. In Deutschland ersetzen interaktive Whiteboards die ausgereifte Medi‐ enbildung. Was fehlt, sind klare Voraussetzungen, damit der Einzelne souverän im Netz agieren kann. Die Designforscherin Gesche Joost schlägt dafür drei Parameter vor: technische Vorbedingungen, Regulierung und digitale Kompetenzen.11 Danach entsteht digitale Souveränität, sobald die Vernetzung von Daten umfassend erreicht und der Datenschutz sichergestellt ist. Hinzu kommen neue Qualifikationen, z.B. bei der Beurteilung der Qualität von Informationen. Gerade an dieser Stelle gibt es er‐ hebliche Defizite bei der Ausbildung. Doch Joost stellt zu Recht auch die Frage, ob Bürger überhaupt noch in der Lage sind, die Konsequenzen ihres eigenen Handelns im Netz absehen zu können.12 Selbstbestimmte Entscheidungen verlangen nämlich Informationen, und es bedarf der Zeit, diese zu sichten und zu bewerten, um sich entscheiden zu können. Netzaktivisten nehmen nun eine besondere Position in der Zivilgesellschaft ein. Aufgrund ihrer Vorbildung und wiederholten Beschäftigung mit den drängenden Fragen des digitalen Zeitalters erkennen sie die negativen Auswirkungen deutlicher. Sie sind deswegen bestrebt, ihre eigene Souveränität zu wahren. Ihnen ist nicht da‐ ran gelegen, möglichst schnell zu vielen Entscheidungen in ihrem Sinne zu kom‐ men, sondern sie wollen zunächst die Bevölkerung ansprechen und einen Diskussi‐ onsprozess initiieren. Mit ihrem Widerstand aktualisieren die digitalen Protestakteu‐ re politische Debatten. Sie diskutieren klassische Vorstellungen von Privatsphäre 9 10 11 12

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Aral u.a. 2018. Pörksen 2018. Borgwardt 2018, S. 21. Borgwardt 2018, S. 22.

und Öffentlichkeit. Die Grenzübertretung ihres Protestes geschieht nicht gleichgül‐ tig. Die Aktivisten fühlen sich vielmehr provoziert von neuen Datenskandalen, in‐ transparenten Algorithmen und künstlicher Intelligenz, die bevormundet. Sie ver‐ suchen, die Öffentlichkeit über die Entwicklungen, den Einsatz und die Effekte der Digitalisierung zu informieren. Der neue digitale Ungehorsam hat ein vielfältiges Gesicht.13 Er steht für neue Protestformen im Netz. Die Akteure sind geprägt von der sie umgebenden Hacker‐ szene und Subkultur. Digitaler Ungehorsam ist unmittelbar und für jeden erfahrbar. Er zeichnet sich durch seine professionelle Vorbereitung aus. Die dezentrale Struktur des Internets spiegelt sich in der strategischen und organisatorischen Ausrichtung des Protestes wider. Einige Aktionen sind kreativ und gehen spielerisch mit der Überwachungsthematik um. Das Internet ist Teil ihrer Inszenierung. Ihr Aktivismus ist gleichzeitig eine Abwehrreaktion auf die einschränkenden Folgen von Big Data. Sie sind gezwungen, effektivere Protestmethoden zu benutzen und mehr Risiken ein‐ zugehen, damit ihre Appelle wahrgenommen werden. Digitaler Ungehorsam ist ein neuer ziviler Ungehorsam aus dem Internet mit ei‐ genen Kriterien und Formen.14 Allerdings dürfen diese nicht zu weit von der demo‐ kratieverträglichen konstitutionell-liberalen Theorie des zivilen Ungehorsams ab‐ weichen.15 Als kritische Frage bleibt somit, ob der digitale Protest sich selbst auch so versteht und ob er sich der normativen Kriterien des Widerstandes in einer rechts‐ staatlichen Demokratie bewusst ist sowie angemessen und verhältnismäßig bleibt. Oder gibt es auch Defizite bei der Begründung des zivilen Ungehorsams? Dies wäre deswegen zu kritisieren, weil es gerade bei dieser Protestform auf die Stärken der moralisch-politischen Begründbarkeit ankommt: Sie ist desto legitimer, je besser sie begründet wird.16 Der Weg vom rhetorischen Widerstand zur gewalttätigen Militanz ist nicht weit. Wirksame Demonstrationen und friedliche Proteste müssen versuchen, solche Abspaltungen zu verhindern, die oft schon in der politischen Theorie begin‐ nen.

4. Vom Ungehorsam zur Militanz Während eines Interviews im November 2016 erklärte der Aktivist Stephan Urbach: „Ich bin kurz davor, Steine zu schmeißen. Ich habe letztens wieder ganz viel Ulrike Meinhof gelesen. Ich kann ihre Wut, ihre Verzweiflung und Hilflosigkeit, die sie in die RAF geführt haben, komplett nachvollziehen.“17 Bereits vor seiner aktiven Zeit 13 14 15 16 17

Mülling 2018. Kleger/Maksvitat 2014a, Kleger/Maksvitat 2014b. Braune 2017. Kleger 1993. Mülling 2018.

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bei der Hackervereinigung Telecomix liest Stephan Urbach Texte von Ulrike Mein‐ hof (1934-1976). Die Journalistin und spätere Terroristin – „vom Protest zum Wider‐ stand“ – verfasste das ideologische Konzept der Rote-Armee-Fraktion (RAF). Wäh‐ rend sich Urbach zwar deutlich von Gewaltaktionen distanziert, bekräftigt er seine mit Meinhof geteilte Empörung über „das Bestehende, das Menschen diskriminiert“. Bei ihm zeigen sich Radikalisierungstendenzen, die symptomatisch sind für viele andere digitale Protestakteure in der Bundesrepublik. Häufig entsteht diese Militanz aus Frustration über die politische Marginalisierung durch eine Mehrheitsgesell‐ schaft, die passiv bleibt. In diesem Zusammenhang verweisen Aktivisten gern auf die nächste Protestgeneration. Von ihr versprechen sie sich die nächste Eskalations‐ stufe, sollten ihre Wünsche und Forderungen weiter missachtet werden. Sie begin‐ nen dann, die Wirksamkeit ihres friedlichen Ungehorsams zu bezweifeln und vermu‐ ten eine allzu naive moralische Komponente in ihrem Tun, was wiederum zu einer moralischen Selbstermächtigung zur Gewalt führen kann. Durch die Auswertung von Massendaten werden die Grundlagen von Protest kompromittiert und bloßge‐ stellt. Überwachung und Musteranalysen fördern Konformitätsdruck und Selbstzen‐ sur. Einige Aktivisten versuchen, sich von diesen Einwirkungen zu befreien und er‐ höhen schließlich die Intensität ihres Protestes. Ihr „ziviler Ungehorsam“ schlägt dann um in eine gefährliche Militanz, die sich beispielsweise in den Ausschreitun‐ gen während des G20-Gipfels 2017 in Hamburg manifestierte. Der „kommende Auf‐ stand“ hat sich von seiner hässlichen Seite gezeigt.18 Žižek postuliert, dass wir auf die „Verbindung von Privatunternehmen und Ge‐ heimdienstorganisationen schauen sollten, die unsere Gemeingüter verwalten“.19 Diese Verbindung hält er für die „ultimative Gestalt der neuen Macht“ und mit Trotzki empfiehlt er die „Besetzung des digitalen Netzwerks“, denn weder „breit aufgestellte Graswurzel-Proteste […] noch gut organisierte Bewegungen“ würden etwas bringen. Wir brauchen vielmehr „Einsatzkräfte“ im Sinne Trotzkis, das sind: Hacker und Whistleblower: „Ihre Aufgabe wäre es, das digitale Netz den Händen der Unternehmen und den staatlichen Organisationen zu entreißen.“20 Als Anfang sieht er Wikileaks, sein Held ist Assange. 21 Žižek ignoriert die ambivalente Rolle von Assange. Wikileaks hat sicherlich dazu beigetragen, dass heute jeder weiß, was sich hinter dem Begriff „Whistleblower“ verbirgt. Doch die ursprüngliche Annahme, dass Wikileaks ein kollektives Pseud‐ onym für Enthüllungsnachrichten wird, erfüllte sich mit den Alleingängen seines Gründers nicht. Überdies ist es vermessen, allein die Netzaktivisten mit der Lösung gesellschaftlicher Probleme zu beauftragen. Protestakteure können lediglich an die 18 19 20 21

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Unsichtbares Komitee 2010. Žižek 2018. Žižek 2018. Dieser Beitrag entstand vor der Verhaftung von Assange.

Mehrheitsgesellschaft appellieren und Aufmerksamkeit für Minderheiten schaffen. Das immerfort motivierende Protestthema für die Aktivisten ist indessen die Frei‐ heit. Dazu zählen die Freiheit des Wortes und der Gedanken, die soziale Freiheit, die Freiheit der Netze und die Freiheit der Kommunikation. Richtig ist, dass die Netzaktivisten immer weniger mit ihrem Anliegen durchdrin‐ gen. Im Kampf gegen den Terrorismus stehen zurzeit strengere Gesetze im Zentrum der politischen Debatte. Bestehende Maßnahmen und Gesetzespakete werden nicht evaluiert. Die Protestakteure müssen immer mehr liefern, um überhaupt noch im öf‐ fentlichen Diskurs durchzudringen. Die Fronten verhärten sich nicht nur auf der Straße, sondern auch im Internet. Neue Überwachungsgesetze tragen nicht gerade zur Beruhigung der Debatte bei. Für Whistleblower lässt sich die Annahme vertreten, dass sich aus ihren Bekannt‐ machungen oft weitergehendes bürgerschaftliches Engagement entwickelt. Breite Diskussionen werden geführt, Petitionen unterzeichnet, Demonstrationen organisiert und politische Vorhaben artikuliert. Dies geschieht allein schon aus dem Umstand heraus, dass oft originäre Informationen nun erstmals bereitstehen. Damit kann zwar nicht automatisch auf einen kausalen Zusammenhang zwischen der Enthüllung von Geheimnissen durch Whistleblower und der Steigerung politischen Engagements von Bürgern geschlossen werden. Es wird aber doch deutlich, dass Whistleblower aufgrund der schieren Möglichkeiten des Internets politische Akteursqualitäten im Sinne eines neuen Ungehorsams erlangen können. Kritischer zu sehen ist dieser Zusammenhang bei Aktionen der Anonymous-Be‐ wegung und bei Aktivisten wie Julian Assange, der schon 1987 mit seinen Aktionen begann. Diese Aktionen lassen ernsthafte moralische Widersprüche entstehen, denn sie wollen Menschen nicht nur informieren, sondern ihre vermeintlichen Gegner auch bestrafen. Veröffentlichungen erhalten so den Charakter eines digitalen Pran‐ gers. Im Fall der Anonymous-Bewegung liegt dies an ihrer Nichtstruktur, im Fall von Julian Assange an seinem übersteigerten Ansatz. Anders als Whistleblower kön‐ nen diese beiden Protestaktivisten nicht eindeutig dem neuen digitalen Ungehorsam im zivilen Sinne zugerechnet werden, der zur Belebung einer demokratischen Pro‐ test- und Kommunikationskultur beitragen soll. Die Gefahr unbeherrschter Angriffe ist bei beiden zu groß.22 Die Züge des Klandestinen und Konspirativen widersprechen ebenfalls den Krite‐ rien des zivilen Ungehorsams. Hier manifestiert sich ein Unterschied in der Veröf‐ fentlichungspraxis von Edward Snowden und Julian Assange: Während Assange 22 Siehe z.B.: „Assange und seine Enthüllungsplattform Wikileaks waren entscheidend für die Veröffentlichung von E-Mails der demokratischen Parteiführung und des Wahlkampfleiters von Hillary Clinton. John Podesta, die von russischen Hackern im Staatsauftrag gestohlen wor‐ den waren. Clinton behauptet – was wohl nicht völlig aus der Luft gegriffen ist –, dass diese Veröffentlichungen zu ihrer Niederlage in der Präsidentenwahl von 2016 beigetragen hätten“ (NZZ vom 29.11.2018, S. 3).

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auch Listen mit Klarnamen, z.B. von Botschaftern und Agenten, ins Netz stellte, versuchte Edward Snowden in Zusammenarbeit mit Glenn Greenwald und Laura Pi‐ tras, solche Informationen schrittweise an die Öffentlichkeit zu geben, damit sie journalistisch verantwortungsvoll bearbeitet werden konnten.23 Im Wörtchen „zivil“ steckt viel, was wichtig ist, vor allem „friedlich“, aber auch „höflich“, „wohlwol‐ lend“, nie „verbrecherisch“ und „hasserfüllt“.24

5. Abkoppelung, Radikalisierung und kritische Öffentlichkeit Digitale Bürgersouveränität würde bedeuten, dass sich auch unter Bedingungen der Digitalisierung, die einzelnen Menschen für den Erhalt der Demokratie verantwort‐ lich fühlen. Der Bürger ist aber kein Daueraktivist, eher ist er ein Autodidakt, der dann eingreift, wenn es nötig wird. Die neuen Medien bilden einen neuen Raum für Interaktionen. Dieses Neuland ist umstritten, denn wohin soll es gehen mit der Digi‐ talisierung?25 Kann hier eine Medienkompetenz als politische Bildung auf der Höhe der Zeit weiterhelfen? Oder ist vor allem technische Anschlussfähigkeit an die herr‐ schenden Trends – 5G für die Industrie 4.0 – gefragt? Offensichtlich hat selbst der Snowden-Effekt keine breitere Skepsis hervorgerufen. Oder doch? Skepsis ist eine Form der Aufklärung, die auf eigener oder vermittelter Erfahrung beruht. Bleibt als Ausweg lediglich der Aufruf zum Boykott?26 Oder sogar eine verzweifelte Militanz? Mit der digitalen Bürgersouveränität als Lern- und Suchprozess setzen wir auf die Arbeit am Urteil. Der Bürger ist heute immer mehr objektiv ein Beteiligter gewor‐ den, gerade als Onlineuser, womit wir auch „Bürgerjournalisten“ werden können, ja müssen. Journalisten sollen ihre Quellen selbst prüfen, zusammenstellen und bewer‐ ten. Die politische Urteilsbildung erfolgt ebenfalls unter diesen Bedingungen. Wie jede Urteilsbildung ist das „Fact checking“ allerdings oftmals schwierig und erst einzuüben, damit wir durch Erfahrung klüger werden. Es gilt, Verschwörungstheori‐ en von verifizierbaren Informationen zu unterscheiden, Wissen von Vermutungen usw. Desinformationen und Gegenaufklärung ist entgegenzuarbeiten, indem über einen gemeinsamen Bezug zur Realität zumindest diskutiert wird, was nur durch Überzeugung, Urteilskraft und Common Sense laufen kann. Natürlich ist es schwer, gegen eine Strategie der Desinformation bis hin zur psychologischen Kriegsführung anzukommen, allein ist dies nicht zu schaffen. Die Demokratie der Bürger braucht deshalb eine kritische Öffentlichkeit und letztlich verbindende-verbindliche Verfah‐ ren trotz unterschiedlicher Positionen und Werthaltungen. Der faire Meinungsstreit 23 24 25 26

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Greenwald 2014. Gandhi 1922. Baecker 2018. Lanier 2018.

soll und muss in diesem Rahmen ohne Scheuklappen gesucht und ausgetragen wer‐ den. Gerade in der Arbeit mit Jugendlichen, nicht nur an Schulen, wird eine neue Auf‐ klärung möglich, etwa bei der Bekämpfung von Internetmissbrauch, den schon viele als Mobbing, Hassreden oder Fake News erlebt haben. Hassreden kann man be‐ kämpfen durch Gegenreden, Meldestellen und Anzeigen.27 Unter dem Hashtag #ich‐ binhier organisiert eine Facebook-Gruppe gezielte Gegenrede gegen Hasskommen‐ tare. Die betont sachlichen Kommentare beinhalten jeweils, quasi als Erkennungs‐ zeichen der Gruppe untereinander, das Hashtag #ichbinhier. Durch massenhaftes Li‐ ken dieser so gekennzeichneten Kommentare durch die Gruppenmitglieder und Sympathisanten werden diese entsprechend prominenter in den Kommentarspalten positioniert. Mit diesem Counter-Speech-Ansatz soll den mitlesenden Dritten ge‐ zeigt werden, dass Hasskommentare nicht die Mehrheitsmeinung darstellen. In der Facebook-Gruppe, die 2017 den Grimme Online Award gewann, sind aktuell 45.500 User aktiv (Stand 7.12.2018)28. Dies ist zumindest ein Tropfen auf den heißen Stein. Fake News braucht man ebenfalls nicht zu teilen. Auch dafür gibt es zumindest Faustregeln, die eingeübt werden können.29 Die Unterscheidung zwischen Fakes und Fakten ist eine Voraussetzung demokratischer Öffentlichkeit. Diese droht zu erodie‐ ren in einer Zeit der schranken- und schleusenlos gewordenen, buchstäblich über‐ mächtigen und überwältigenden Megaöffentlichkeit des Internets, wenn nicht im Netz selbst kritische (Gegen-)Öffentlichkeiten entstehen. Die vielfach enttäuschte Hoffnung, das Internet als Chance für mehr (Beteili‐ gungs-)Demokratie zu nutzen, sollte nicht aufgegeben werden.30 Hier kämpfen ver‐ schiedene Tendenzen der Aufklärung, der Spaßgesellschaft („Wir amüsieren uns zu Tode“) und der gezielten Gegenaufklärung neben- und gegeneinander, mitunter so‐ gar ineinander. Neue Prozesse der Aufklärung können nur exoterisch in der breiten Öffentlichkeit, die vermachtet ist, erfolgen: Es handelt sich folglich um eine intensi‐ ve geistige und politische Auseinandersetzung gleichermaßen. So darf man bei‐ spielsweise die Diskussion über den UN-Migrationspakt nicht den Rechtspopulisten überlassen, die in allen Ländern lange vor den Parlamentsdebatten im Bundestag am 8. November im Internet, auf Twitter und Facebook massiv gegen ihn zu Felde zo‐ 27 Siehe dazu die erste bundesweite Kampagne im Jahr 2014: www.stoppt-Hasspropaganda.de. 28 Facebook-Link: https://www.facebook.com/groups/718574178311688/ Webseite: https://ichbi nhier.eu. 29 Dazu gibt es sieben Faustregeln bei netzwerk-bibliothek.de und zehn Faustregeln für kluge Nutzer bei der „Zeit“: 1. Du bist das Internet; 2. Verlasse deine Filterblase; 3. Höre immer die andere Seite; 4. Prüfe die Quellen; 5. Kontrolliere die Fakten; 6. Leite nichts ungelesen weiter; 7. Korrigiere deine Fake News; 8. Bleibe cool; 9. Zeige dich; 10. Nimm dir Zeit („Die Zeit“ nennt das treffend „Nachhilfe in Skepsis“, 1.3.2018, S. 35). Die Skepsis ist eine Form individu‐ eller Selbstaufklärung. Sie bedarf der Zeit, eigener Erfahrungen und Einsichten. Inzwischen sind viele jüngere User, die auch Produzenten und Journalisten sind, skeptischer geworden, was ihnen durchaus ein wenig Macht verleihen kann. 30 Siehe z.B. Fichter 2017 und Graf 2018.

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gen: Er diene der „Massenmigration“, schmälere die „staatliche Souveränität“ und bringe die „nationale Identität“ zum Verschwinden. In Deutschland ist deshalb zu Recht von einem „Kommunikationsdesaster“, von denen es in der heutigen Politik viele gibt, die Rede31: „Wie ein Tsunami rollen die Fake News.“32 Die Schlacht ist geschlagen, bevor die intellektuellen Debatten geführt werden. Am 25. November titelt die bürgerliche „Welt am Sonntag“: „UN-Migrationspakt – Einladung an alle?“ Untertitel: „Folgt auf den Flüchtlingsstrom nun eine Völkerwanderung?“ Im Innern der Zeitung folgt eine ausführliche Analyse des „fragwürdigen Pakts“33. In dersel‐ ben Nummer findet sich ein Bericht darüber, wie nach dem „Fall Amri“, den alle Bürger bis in den letzten Winkel mitbekommen haben, aus dem Berliner Weih‐ nachtsmarkt „eine Messe für Sicherheitstechnik“ geworden ist.34 So schnell können sich Diskurse verschieben, oft nur um Nuancen, und Realitäten verändern. Beides hängt miteinander zusammen. Die Realität geht zwar in Diskursen nicht auf, es gibt aber keine politische Realität ohne bestimmende Diskurse. Common Sense und eine geteilte Wirklichkeit, auf die man sich mit ihm noch be‐ ziehen kann, sind Voraussetzungen bürgerschaftlicher Demokratie sowie ihrer Insti‐ tutionen. Bedingungen der Aufklärung sind damit noch nicht automatisch gegeben. Diese sind zugleich individueller (Mut zu wissen und zu sprechen), interpersoneller (Kommunikation und Vertrauen) sowie struktureller Natur (kritische Öffentlichkeit): „Der Gemeinwille ist immer richtig, aber das Urteil, das ihn leitet, ist nicht immer aufgeklärt.“35 Zur öffentlichen Vernunft gehören mithin Demokratie und Aufklä‐ rung. Dies bedeutet permanente Selbstaufklärung der Bürger, wie sie auch mit der digitalen Bürgersouveränität als Lern- und Suchprozess angezielt wird. Öffentliche Vernunft ist prozessual und funktional (nicht substanziell) zu verstehen. Das heißt: Sie steht nicht a priori fest und ist zudem themen-, problem- und prozessorientiert. Sie entwickelt sich unter Bedingungen politischer Gleichheit im Wechselspiel zwi‐ schen Demokratie und Aufklärung. Die streitbare Demokratie ist eine Voraussetzung für diese Aufklärung, die nur exoterisch erfolgen kann. Digitale Bürgersouveränität ist deshalb nicht einfach gegeben. Vielmehr muss sie stets angesichts neuer Herausforderungen errungen und behauptet werden. Als indi‐ viduelle Haltung bleibt sie prekär, nicht abgesichert, fallibel, gefährdet und fragil. Diesseits rechtlich-politischer Antworten bleibt sie unabgeschlossen und artikuliert sich in Trotzdem-Sätzen der Zivilität als zivilisationsförderndes Verhalten: z.B. Ge‐ meinsinn und/oder Common Sense trotz Diskurs, Dissens, Pluralisierung, Individua‐ lisierung und Anomie. Auch dieses Trotzdem kann indes scheitern. Es umfasst ein 31 Kein Zufall wiederum ist es, dass der sächsische Ministerpräsident Kretschmer, der Wähler von der AfD zurückholen möchte, dies ausgesprochen hat. 32 Tagesspiegel, 9.11.2018, S. 4. 33 Welt am Sonntag, 25.11.2018, S. 13ff. 34 Welt am Sonntag, 25.11.2018, S. 17. 35 Rousseau (1762) 1994, S. 42.

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Spektrum diverser Verhaltensformen von der parteilichen Gelassenheit bis zur trotzi‐ gen Widerständigkeit. Der pragmatische Sturkopf, der etwas länger durchhält, ist in der heutigen Politik besonders gefragt. Das moderne Glück liegt letztlich in einer gesunden emotionalen Resilienz. Neben dem Scheitern lauert zudem die Gefahr der Bornierung, bleibt es doch für Tugenden und Haltungen in der Moderne generell schwierig, eine Balance zwischen Offenheit und Festigkeit zu halten. Keine Haltung ist vor Verführung gefeit, und Verführungen gibt es viele. Politisch liegt die größte Versuchung in der faszinierenden und zugleich rücksichtslosen Größe der Machtver‐ tikale.

6. Neue Datenmächte Neue Datenmächte werden in Zukunft eine große Rolle spielen. Die Demokratie der Bürger wird durch panoptische Techniken der Überwachung des Sehens und Gese‐ henwerdens36 nicht nur durch den Überwachungsstaat bedroht, sondern ebenso da‐ durch, dass nun potenziell alle zu Wächtern werden und ihre kleine Macht ausspie‐ len können. Neue Formen des Mobs verbreiten Angst und Schrecken: „Souverän ist, wer über die Shitstorms des Netzes verfügt.“37 Die große Macht bedient sich zudem systematisch der Lüge, um Massen zu gewinnen. Die verführte Masse steht demo‐ kratisch gegen die freie und unabhängige Menge (multitudo) der Vielen. Die syste‐ matische Datensammlung von Staaten und privaten Unternehmen wirkt wie eine panoptisch betriebene und getriebene Praxis. Die Vorratsdatenspeicherung ist ein Beispiel dafür. Orwells Dystopie „1984“ ist deshalb heute für viele erreicht, obwohl es zu seiner Zeit noch kein Internet gab. Der gegenwärtige Internetmissbrauch ist indes eine massenhafte Tatsache. Jedoch gibt es inzwischen ebenso Gesetze wie die Daten‐ schutz-Grundverordnung (DSGVO 2018), um sich gegen die Datenmacht des Staa‐ tes wehren zu können, wenn keine Ermächtigungsgrundlagen zum Eingriff vorlie‐ gen. Damit will Europa globale Standards setzen. In Bezug auf die Schutz- und Si‐ cherheitsverantwortung hat der moderne Rechtsstaat freilich gute Argumente vorzu‐ bringen, gerade in Zeiten des Terrors und der Angst. Sicherheit ist nicht das Anto‐ nym der Freiheit, sie ist in der neuzeitlichen Staatsphilosophie vielmehr eine Bedin‐ gung gerade für die vielfältige Freiheit, was schon Montesquieu, dem Verfassungs‐ vater, sehr bewusst war.38 Aufgrund der weltweiten Terrorgefahr sind seit 2001 frei‐ lich stark präventive Überwachungselemente in die staatlichen Sicherheitsapparatu‐ ren eingebaut worden, sodass Freiheit und Sicherheit (neben Freiheit und Gleichheit 36 Bentham 1791. 37 Han 2013, S. 14. 38 Montesquieu 1961.

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sowie Freiheit und Nachhaltigkeit) zum wichtigsten Zielkonflikt demokratischer Po‐ litik geworden sind. Sicherheit wird so – neben Freiheit und Wohlstand – zum über‐ ragenden Wert gerade der sogenannten Moderne. Die Regierungspolitik, will sie nicht schwach erscheinen, muss ihm folgen. Liberaler Rechtsstaat bedeutet aller‐ dings nicht einfach Sicherheits- und Überwachungsstaat im Hobbes’schen Sinne, der definiert, was öffentlich zu gelten hat. Er ist kein autoritärer Leviathan, mit dem durchregiert werden kann, sondern garantiert im Gegenteil die Rechte der Einzelnen und funktioniert nur durch Machtteilung. Dazu zählen die Unabhängigkeit der Justiz und der Presse sowie die freie Rede als eines „der kostbarsten Menschenrechte“ (Art. 11, 26. August 1789). Der US-amerikanische Patriot Act von 2008 war eine Reaktion auf bisher unvor‐ stellbaren Terror. Artikel II beinhaltet durchgehende Überwachung; Artikel V regelt den Umgang mit sogenannten nationalen Sicherheitsbriefen (NSL) und Artikel IX das Teilen und den Transfer riesiger Datenmengen zwischen den staatlichen Behör‐ den. Selbst nach Snowdens verfassungspatriotischen Enthüllungen wurde der Patriot Act, der in den USA durchaus populär ist, wieder verlängert. Die „höhere Amorali‐ tät“ der Politik39 – man könnte statt Politik auch Macht sagen40 und von Machiavel‐ lismus41 sprechen – wirkt sich bei einer Supermacht global aus, selbst bei den besten (transatlantischen) Freunden. Dagegen spricht der Politikwissenschaftler und Her‐ ausgeber der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ ironischerweise von der „mora‐ lischen Supermacht“ Deutschland.42 Dieselbe Zeitung, welche die Zeit auf den Be‐ griff zu bringen versucht, titelte auf der ersten Seite (!) zum 80. Geburtstag des Phi‐ losophen Jürgen Habermas bezeichnenderweise und ironiefrei: „Weltmacht Haber‐ mas“. In Deutschland sind Gesetze, welche erlauben, die Bürger ohne Beweisgrund‐ lagen und begründeten Verdacht beobachten zu können, verfassungswidrig. Inzwi‐ schen wird selbst in Bayern massenhaft gegen neue Polizeigesetze demonstriert, die auf die reale Terrorgefahr reagieren sollen. 15 von 16 Bundesländern haben in jüngs‐ ter Zeit ihre Polizeigesetze verschärft oder beraten darüber. Dass auch die Datenmacht von Unternehmen ein Freiheitsproblem für die Bürger geworden ist, ist in Deutschland vor allem durch den Facebook-Skandal infolge von Cambridge Analytica, das sich im Wahlkampf für Donald Trump Daten von 50 Mil‐ 39 Luhmann 1986, S. 214. 40 In „Politik als Beruf“ ist Macht der häufigste Begriff (Weber 1992). Der Politiker strebt nach Macht, um Ziele zu erreichen. Dafür benötigt er Machtmittel wie Geld, Organisation, Gefolg‐ schaft, Werbung und anderes. Das Politische hat folglich immer auch mit „Machtverteilungs-, Machterhaltungs- oder Machtverschiebungsinteressen“ zu tun (Weber 1992, S. 7). Für die „Systemtheorie der Gesellschaft“ (Luhmann 2017) ist die Macht das Steuerungsmedium der Politik als System verstanden. Es wirkt als generalisiertes Kommunikationsmedium und wird durch das Recht zweitcodiert. Folglich ist heute Politik vor allem ein „Kampf ums Recht“ im zweifachen Sinne von positivem Recht (Legalität) und dem, was rechtens ist (Legitimität). 41 Bei der strategischen Rivalität zwischen den USA und China, Russland und den USA handelt es sich freilich um weit mehr als Machiavellismus. 42 Joffe 2018.

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lionen Nutzern verschafft hat, deutlich geworden. Für diese Problematik ist zwi‐ schen Rohdaten und veredelten Daten zu unterscheiden. Letztere sind vor allem von Belang, da über das künftige Verhalten von Personen Aussagen getroffen werden können. An dieser Stelle ist dann auch viel von der neuen Macht der Algorithmen43 die Rede, was heißt: Wir können die Algorithmusverarbeitung der Daten nicht über‐ schauen. In der heutigen medialen Erlebnisgesellschaft berichten die Menschen oft und gerne freiwillig über ihr Leben bei allen möglichen Gelegenheiten. Die „Tyran‐ nei der Intimität“44 hat tatsächlich das klassisch-bürgerliche Öffentlichkeitsmodell mit seiner liberalen Trennung zwischen „öffentlich“ und „privat“ abgelöst; die Men‐ schen sehnen sich nach Bedeutung und tappen dabei in viele Fallen. Inzwischen ist es geradezu unmöglich geworden, keine Daten über sich und seine Person zu hinter‐ lassen. Fast zwangsläufig willigt man in die Speicherung von Daten ein, z.B. bei Be‐ werbungen über Onlineportale. In Deutschland ist man beim Teilen von Daten noch vergleichsweise zurückhaltend. Ist also die Privatsphäre, der „sense of privacy“, der durchaus mit dem Aufbau von Bürgersouveränität zu tun hat, obsolet, wie Mark Zu‐ ckerberg unterstellt? Auf jeden Fall muss sich die Erkenntnis durchsetzen, dass die Nutzer kostenloser sozialer Netzwerke nicht die Kunden, sondern das Produkt der dahinterstehenden Firma sind. Was sind also die Bedingungen für digitale Bürgersouveränität als Lern- und Suchprozess, der vor neuen Herausforderungen steht? Wir versuchen, schematisch zusammenzufassen, was wir bisher angesprochen haben. Drei Ebenen sind zu unter‐ scheiden: •

• •

die geistig-politische Ebene: mit Aufklärung als umkämpften Prozess und Medi‐ enkompetenz als politischer Bildung, einschließlich Öffentlichkeitsforschung über die „Vernunft der Öffentlichkeit“ und die „öffentliche Vernunft“; die politisch-rechtliche Ebene: mit einem handlungsfähigen Staat, guten Geset‐ zen und ethischen Richtlinien; die individuelle Ebene: mit aufgeklärten Common-Sense-Faustregeln, die für alle verständlich und nachvollziehbar sind, die aber auch der Ausbildung, Übung und Überprüfung bedürfen – schulisch wie außerschulisch.

43 Woran können sich Programmierer und Anwender von Algorithmen orientieren? Das Projekt „algorules“ will dafür Kriterien entwickeln, worüber online diskutiert werden soll. Acht Krite‐ rien werden vorgeschlagen: 1. Kompetenz aufbauen; 2. Verantwortung zuweisen an eine „na‐ türliche Person“, die in der Lage ist, „Prozesse umzukehren“; 3. Ziele und Wirkungen des Al‐ gorithmus müssen nachvollziehbar sein; 4. Sicherheit gewährleisten; 5. Transparenz erhöhen; 6. Beherrschbarkeit sichern; 7. Wirkung überprüfen; 8. Korrigierbarkeit herstellen (PNN, 27.11.2018, S. 13). 44 Sennett 1986.

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7. Macht und Widerstand: die Zukunft der Macht Datenmächte sind weder ausschließlich negativ noch ausschließlich positiv. Macht‐ verhältnisse, die im Unterschied zu institutionalisierten asymmetrischen Herrschafts‐ verhältnissen (power over)45 beweglich bleiben, eröffnen immer Handlungsmöglich‐ keiten. Macht ist kein Fixum, sie entfaltet sich (power to), aber in welche Richtung das geschieht, hängt in unserem Feld auch von der Nutzung der Technologie ab. Macht und Widerstand gehören zusammen. Beide haben freilich unterschiedliche Gesichter und Begründungen. Widerstandspunkte gibt es überall in verschiedenen Machtverhältnissen. Generell gilt: Wo Macht ist, ist auch Widerstand – und umge‐ kehrt. Die Demokratie kann und muss es nicht allen recht machen, aber vielen. Abgeleitet von Spinozas Machttheorie, welche in seiner systematischen „Ethik“ die Macht der Affekte mitumfasst, kann man sagen, dass die Individuen mit Bürger‐ souveränität ihre Rechte nur begrenzt übertragen.46 Sie können ihre Macht potenziell auch durch gemeinsames Handeln zusammenlegen,47 heute auch und gerade als he‐ terogene Vielheit. Diese Koordinationsmöglichkeiten anstelle der Unterwerfung un‐ ter einen absoluten Souverän (Leviathan) machen letztlich Volkssouveränität aus, wobei sich letztere auf direkte und repräsentative Demokratie verteilt. Die Bürger erstreiten sich ihre Rechte durch Handlungsvermögen und Handlungsmacht, und sie behalten sie auch nur so. Der Staat (potestas) mit seinen Gesetzen basiert auf einer Mehrheit, Vielfalt und Heterogenität der Bürger, die durch gemeinsam legitimierte Verfahren zu Beschlüssen kommen müssen, was wir demokratischen Dezisionismus nennen. Dabei nehmen potenziell die ganze (Bürger-)Gesellschaft und nicht nur die Parteien, das Parlament oder der Präsident am demokratischen Regieren teil.48 Bür‐ gerinnen und Bürger können und sollen sich einmischen, immer wieder und auf ver‐ schiedene Weise. Derzeit zeigt die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich, wie „Auf‐ stehen“ geht, was in Deutschland bisher eine „digitale Landsgemeinde“ geblieben ist. Bei Spinoza gibt es keinen Raum ohne Macht. Das Aufeinandertreffen verschie‐ dener Kräfte im Machtfeld ist allgegenwärtig und dynamisch. Die Machtverhältnisse werden ständig verändert. Macht hat einen Doppelcharakter, denn sie entmachtet und ermächtigt zugleich, wodurch sie politische Realitäten des ständigen Handelns und Gegenhandelns schafft. Das Sein impliziert Macht. Das Handelnkönnen (poten‐ tia agendi) gehört zur Condito humana und kommt nicht erst durch die Machtmittel 45 Siehe hierzu Weber 1972; Mann 1991; Blockmans 1998. Max Webers Definition des asymme‐ trischen Machtbegriffes lautet: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Bezie‐ hung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht (S. 28 f.). 46 Spinoza 1994, 2010, 2015. 47 Siehe dazu auch Hannah Arendts symmetrischen Machtbegriff (1960, 1970). 48 Kleger 2018.

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oder Machtsorten49 zum Zug. Die zivile Masse kann deshalb unberechenbar und überraschend, wie wir das in den vergangenen Dekaden häufiger erlebt haben (1989 in Osteuropa, 2009 im Iran, 2011 Arabischer Frühling usw.), zur demokratischen Handlungsmacht werden. Die moderne heterogene Masse 2.0 fügt dem Verhältnis von Masse und Macht weitere Varianten hinzu.50 Die moderne Masse 2.0 wird durch die Onlinemedien unübersichtlicher: Es geht sozusagen um Masse gegen Masse, nicht um Klasse gegen Klasse.51 Schon die Neuen Sozialen Bewegungen in den 80er-Jahren entglitten der Kontrolle; sie ließen sich nicht mehr ideologisch oder par‐ teipolitisch ausrichten. Der landesweite zivile Ungehorsam im Mai 2018 in Armeni‐ en, der zu einem Regimewechsel führte, demonstrierte buchstäblich für alle – einge‐ übt, dezentral, medienkompetent – ein neues Niveau bürgerlichen Widerstandes. Sein Vorbild war die „samtene Revolution“ 1989 in der Tschechoslowakei; 2008 hatte man es schon einmal versucht und ist gescheitert. Die Masse 2.0 ist mehrdimensional: körperlich auf den Straßen und größeren Plätzen der Stadt als machtvolle Demonstration (Tahrir-Platz als Modell), wenn es darauf ankommt, sowie ortsungebunden, virtuell und körperlos in den Onlinemedi‐ en, wenn schnell etwas verabredet oder verbreitet werden muss. In gewissen histori‐ schen Momenten liegt so die Freiheit bzw. die Macht buchstäblich auf der Straße. Dann werden für kurze Zeit Freiheit und Macht identisch, verbunden mit massenhaf‐ ter Subjektbildung. Diese Erfahrung geht nicht mehr verloren, auch wenn Rück‐ schläge eintreten. Keine politische Herrschaft kann langfristig ohne die lebendige Unterstützung des Volkes bestehen, was Kontrollängste bei den Autokraten hervor‐ ruft. Diese versuchen deshalb, über die Medienmacht52 und das Militär bzw. die Po‐ lizei eine Kombination mit der Demokratie als plebiszitäre Führerdemokratie zu 49 Wovon es verschiedene gibt: ökonomische, kulturelle, politische, militärische und strategische Machtsorten. 50 Canetti 1960. Auch Max Weber und Hannah Arendt tragen Bausteine bei, wenngleich noch nicht digitalisiert. Während Macht und Machtformen (17 an der Zahl) Hauptthemen bei Max Weber sind, spielt der Begriff der Masse bei ihm explizit kaum eine Rolle. An entscheidender Stelle jedoch schon, nämlich dort, wo von den modernen Parteien als „Kinder der Demokratie“ die Rede ist: „Massenwahlrecht“, „Massenwerbung“, „Massenorganisation“ (Weber 1992, S. 43). Sie bringen das plebiszitäre Element in die Demokratie, worüber heute inflationär und wenig präzise unter dem Titel „Populismus“ diskutiert wird. Hannah Arendt wiederum schreibt in ihrer großen Analyse der totalen Herrschaft ein kleines, aber wichtiges Kapitel über die Massen im Plural (Arendt 1986, S. 663-702). Ihre Beschreibung weist nicht nur eine direkte Li‐ nie zum Erfolg totalitärer Bewegungen durch Massenagitation, Massenorganisation, Massen‐ tourismus („Kraft durch Freude“) und anderes mehr auf, sondern stellt auch die Frage nach den Urteils- und Handlungsmöglichkeiten des einzelnen Menschen in einer Gesellschaft, die sie als „Massengesellschaft“ konzeptualisiert. Nach diesem Kapitel folgt ein Kapitel über das Bündnis zwischen Elite und Mob, das immer noch aktuell ist (Arendt 1986, S. 702-725). Hier wird der Terror zum „Stil politischen Handelns“ (S. 711). 51 Trotzki 2017. 52 So wird die Pressefreiheit seit Viktor Orbáns Rückkehr an die Macht 2010 in Ungarn sukzessi‐ ve abgebaut. Derzeit wird ein regierungsnahes Medienkonglomerat aus Radiosendern, Boule‐ vard- und Lokalblättern, Internetportalen usw. gebildet.

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veranstalten, von der es verschiedene Abstufungen gibt. Es ist deshalb wichtig, die neuen Machtapparaturen genau zu kennen. Insbesondere mit den Medien, dem Mili‐ tär, den Geheimdiensten und der Polizei sollte man sich mehr befassen. Schon ein Like kann in der heutigen Türkei mit ihrem „neuen Sultan“ politisch gefährlich werden. Den Schritt ins Totalitäre vollzieht China mit der Einführung des „Führerprinzips“ in die Verfassung, dem „Sozialkreditsystem“ sowie der Schaffung des „gläsernen Uiguren.“53 Es handelt sich dabei um den Aufbau einer zentralisti‐ schen Datenbank namens Integrated Joint Operations-Plattform, um gegen Unruhe‐ provinzen polizeistaatlich vorgehen zu können: „Für paranoide Regime bieten die neuen Technologien große Chancen – für die Menschenrechte können sie verhee‐ rend sein. Es bleibt im Dunkeln, welche Daten gesammelt, wie diese verwendet und welche Konsequenzen daraus gezogen werden. China hat keine unabhängige Justiz, an die sich Betroffene wenden können, um sich gegen unrechtmäßige Anschuldigun‐ gen zu wehren. Der Furor des Staates kann sich bald auch gegen jene richten, die sich gegenwärtig noch sicher fühlen.“54 Diese Warnung gilt für alle Staaten und sie gilt umso mehr für die potenziell „gläsernen Bürger“, die in unseren Ländern größ‐ tenteils komfortabel lebende Konsumenten geworden sind, bei denen die Freiheit des Politischen einzuschlafen droht. Mit „politisch“ ist hier gemeint: Bürgerverant‐ wortung in und für die Demokratie, bevor sie verfällt. Um die Demokratie zu retten, sollte man deshalb bei sich selbst beginnen. Bürgersouveränität bleibt anstößig, geht es doch letztlich um ein selbstständiges Leben in Freiheit: „Nichts Lebendes kommt ums Politische herum.“55

8. Schluss Foucault unterscheidet die Disziplinierungsmacht, welche der panoptischen Macht entspricht, und die Normalisierungsmacht.56 Beide lassen sich auf die neuen Daten‐ mächte anwenden. Mithilfe der Algorithmen geschieht eine Optimierung und Be‐ grenzung der Menschen von erheblichem Ausmaß. Entfalten sich die Datenmächte in eine negative Richtung, so wird die Relation Macht und Widerstand aktuell. Da‐ bei sind die neuen Machtformen der digitalen Welt nicht primär verhindernd, son‐ dern eher verführerisch, indem die Freien im Schwarm des Digitalen zur freiwilligen Unfreiheit verführt werden. Diese Operation verläuft unter anderem über die Attrak‐ tivität der Transparenz, die keine Geheimnisse mehr kennt und alles preisgibt, selbst das Intimste und Vertraulichste.57 Wir fühlen uns frei, sind es aber nicht. Aus der 53 54 55 56 57

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Müller 2018. Müller 2018. Mann 1945. Foucault 1976. Han 2013, S. 2014.

Selbstbestimmung wird die ständige Selbstinszenierung hin zu einer Transparenzund Kontrollgesellschaft: Statt auf uns selbst in der freien Selbstbestimmung zu hö‐ ren, hören wir auf Algorithmen, deren Bild von der Welt durch Daten entsteht. Die „Antiquiertheit des Menschen“58 erreicht damit eine neue Stufe. Viele fühlen sich durch den beschleunigten Wandel abgehängt, fürchten, ersetzbar und überflüssig zu werden und/oder sehen sich als Versager, was durch den wachsenden Einfluss der Social Media noch verstärkt wird. Hohe Krankenstände in manchen Berufen, De‐ pressionen des „erschöpften Selbst“ und Suizide steigen an. Für diese Entwicklun‐ gen trägt der „neoliberal“ überhöhte (Konkurrenz-)Individualismus eine Mitverant‐ wortung, der nicht nur einem „System“ oder einer „Logik“ zuzuschreiben ist, son‐ dern auch uns selbst, die wir uns primär als Konsumenten und Konkurrenten statt als Bürger verstehen. Der ungebremste Fortschrittsgedanke verbunden mit weiterer Kommerzialisierung wirkt als Allmachtsfantasie. Dabei lassen sich die Individuen ihr Bewusstsein enteignen. Ohne Bewusstsein und Verantwortung gibt es jedoch kei‐ ne Moral. Die flexible Anpassung siegt über den Streit um kleine Fortschritte, die erfahrbar sind, etwa in der Medizin. Das freilich schwer zu lösende Handlungspara‐ dox besteht darin, wie bei der Geschwindigkeit der technologischen Evolution über‐ haupt noch gestaltet und die Mitbestimmung präzisiert werden kann. Die Zeit ist schnell geworden. Dazu kommt der Handlungsdruck, gegenüber den USA und Chi‐ na aufholen zu müssen. Vor allem darin wird investiert. Auch die künstliche Intelli‐ genz bleibt jedoch eingebunden in soziale und politische Systeme und damit in Sinn‐ zusammenhänge und Kommunikation. Der Transhumanismus ist keine Perspektive, sondern eine gefährliche Utopie. Die Menschen müssen weiterhin wissen, was ihnen nützt und was ihnen schadet. Moderne Technologien können eine Lebenshilfe sein, aber kein Lebensersatz.

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Autorenhinweise

Vincent August (geb. Rzepka), M. A., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrbereich Theorie der Politik am Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsgebiete sind politische Theorie, Ideen- und Wissensge‐ schichte, Politische und Allgemeine Soziologie. Seine aktuelle Forschung widmet sich insbesondere dem Thema Transparenz, der Theorie des Regierens und dem Aufstieg des Netzwerk-Denkens. Neueste Publikationen: Von ‚Unregierbarkeit‘ zu Governance: Neoliberale, teleologische und technologische Staatskritik, in: Ca‐ vuldak, Ahmet (Hrsg.): Die Grammatik der Demokratie. Baden-Baden 2019 [i.E.]); Theorie und Praxis der Transparenz. Eine Zwischenbilanz, in: Berliner Blätter, 21.76, 2018, S. 129-156; Für einen konfliktiven Liberalismus. Chantal Mouffes Ver‐ teidigung der liberalen Demokratie (zus. mit Grit Straßenberger), in: Zeitschrift für Politische Theorie, 5.2, 2014, S. 217-233. Gemeinsam mit Fran Osrecki gibt er aktu‐ ell einen Sammelband zum „Transparenz-Imperativ“ heraus, der 2019 bei Springer VS erscheint. Dannica Fleuß, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politikwissen‐ schaft, insbesondere Politische Theorie an der Helmut Schmidt Universität/Universi‐ tät der Bundeswehr Hamburg. Forschungsschwerpunkte sind unter anderem die Theorien der Legitimität staatlicher Ordnungen, Politische Philosophie des Libera‐ lismus, Kantianismus und Prozeduralismus, die Politische Kulturforschung und die Theorie und Empirie von Deliberative Systems. Neueste Publikationen: Politische Theorie anwendungsbezogen lehren. Lehrende zwischen normativer Zurückhaltung und kritischer Stellungnahme, in: Politische Vierteljahresschrift, 58.4, 2018, S. 719-736; Four Parameters for Measuring Democratic Deliberation: Theoretical and Methodological Challenges and How to Respond (zus. mit Karoline Helbig und Gary S. Schaal), in: Politics and Governance, 6.1, 2018, S. 11-21, Prozeduren, Rech‐ te, Demokratie. Das legitimatorische Potential von Verfahren für politische Systeme. Heidelberg 2017. Heinz Kleger, Prof. em. für Politische Theorie an der Universität Potsdam. Neueste Publikation: Demokratisches Regieren. Bürgersouveränität, Repräsentation und Le‐ gitimität. Baden-Baden 2018.

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Jörn Knobloch, Privatdozent und Vertreter der Professur für Politische Theorie an der Universität Potsdam. Aktuelle Forschungsinteressen sind die Demokratie und das Geheimnis, der Kulturkampf als transnationaler Konflikt der Gegenwart, die Po‐ litische Kulturforschung und der Wandel autoritärer Systeme. Neueste Veröffentlich‐ ungen: Identitäre Identitäten, Identitätspolitik und der neue Kampf der Kulturen, in: Bergem, Wolfgang/Diehl, Paula/Lietzmann, Hans J. (Hrsg.): Politische Kulturfor‐ schung reloaded. Theorien, Methoden und Ergebnisse neuerer Forschung vom Zu‐ sammenhang von Politik und Kultur. Bielefeld 2019 (im Erscheinen); Der neue Kul‐ turkampf (Hrsg), Themenschwerpunkt der Zeitschrift Berliner Debatte Initial, 1, 2019; Unschärferelationen: Konstruktionen der Differenz von Politik und Recht (Mitherausgeber). Wiesbaden 2018; Demokratie und Geheimnis, in: Voigt, Rüdiger (Hrsg.): Staatsgeheimnisse. Arkanpolitik im Wandel der Zeiten, Wiesbaden 2017, S. 205-224. Eric Mülling, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag. Forschungs‐ schwerpunkte: Big Data, Künstliche Intelligenz und Netzaktivismus. Neueste Publi‐ kation: Big Data und der digitale Ungehorsam. Wiesbaden 2019. Andreas Nix, Lehrbeauftragter für Politische Theorie an der Universität Potsdam. Seine Forschungsschwerpunkte sind der Konservatismus, klassische Ideengeschich‐ te, das Verhältnis von Religion und Politik (Zivilreligion, Politische Theologie, Poli‐ tische Religion) und die Zivilreligion. Veröffentlichungen u.a.: Über Ursprünge und Aktualität der Politischen Theologie, in: Zapf, Holger/ Hidalgo, Oliver/ Hildmann, Philipp W. (Hrsg.): Das Narrativ von der Wiederkehr der Religion, Wiesbaden 2018, S. 61-87; Zivilreligion, in: Klein, Ansgar/Zimmermann, Olaf (Hrsg.): Impulse der Reformation. Der zivilgesellschaftliche Diskurs, Wiesbaden 2017, S. 61-69. Karl Mannheims Konservatismus, in: Kultursoziologie, 2, 2016, S. 102-108; Zivilreligion und Aufklärung. Der zivilreligiöse Strang der Aufklärung und die Frage nach einer europäischen Zivilreligion, Münster 2012. Christoph Schmitt-Maaß, Privatdozent an der Universität Potsdam, wiss. Mitarbeiter am Institut für Deutsche Philologie der Ludwig Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Neuere deutsche Literatur (1640 bis Gegenwart, beson‐ ders Aufklärung, Weimarer Klassik, Romantik, Vormärz, Klassische Moderne, Exil-, Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur), Geschichte und Praxis der Literaturkritik, Antikenrezeption, Kulturtransfer, Buchgeschichte. Neueste Publikationen: Essen, tö‐ ten, heilen. Praktiken literaturkritischen Schreibens im 18. Jahrhundert (Mitheraus‐ geber). Göttingen 2019; Kritischer Kannibalismus. Eine Genealogie der Literaturkri‐ tik seit der Frühaufklärung. Bielefeld 2019; Fénelons "Télémaque" in der deutsch‐ sprachigen Aufklärung (1700-1832). Berlin 2018.

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Daniel Schulz, Privatdozent für Politikwissenschaft an der TU Dresden und Gastpro‐ fessor für Politische Theorie und Ideengeschichte am Otto-Suhl-Institut der Freien Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte sind Verfassungstheorien, Machttheorien, Republikanismus sowie Politik und Digitalisierung. Veröffentlichungen u.a.: Pierre Rosanvallon’s Political Thought. Interdisciplinary Approaches (Mitherausgeber). Bielefeld 2019; Verfassungsbilder: Zur Differenz von Körper und Text, in: Levia‐ than Sonderband 34, 2017, S. 71-93; Die Krise des Republikanismus. Baden-Baden 2015. Alexander Weiß, Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg, Verwalter der Professur „Politisches System der BRD und der EU“ an der Leuphana Universität Lüneburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Demo‐ kratietheorie, der Vergleichenden Politischen Theorie, der Relation von Demokratie und Digitalisierung und der Suche nach emanzipativen und kritischen Gehalten in Luhmanns Systemtheorie. Zu Luhmann hat er veröffentlicht: Left after Luhmann. Emanzipatorische Potenziale in Luhmanns Systemtheorie, in: Haus, Michael/De La Rosa, Sybille (Hrsg.): Politische Theorie und Gesellschaftstheorie – Zwischen Er‐ neuerung und Ernüchterung. Baden-Baden 2016, S. 169-193; Die Verdoppelung der Welt und das Recht auf Kontingenz. Demokratietheorie im Anschluss an Niklas Luhmann, in: Möller, Kolja/Siri, Jasmin (Hrsg.): Systemtheorie und Gesellschafts‐ kritik. Perspektiven der Kritischen Systemtheorie. Bielefeld 2016, S. 169-187. Christoph Sebastian Widdau, Lehrkraft für besondere Aufgaben am Bereich Philo‐ sophie der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Seine Forschungsschwer‐ punkte liegen auf den Bereichen Politische Philosophie und Ethik. Aktuell arbeitet er zu Begründungsansätzen in der Umweltethik, der philosophischen Rechtfertigung der Menschenrechte sowie der Philosophie des Pazifismus und des humanitären In‐ terventionismus. Gemeinsam mit Dr. Daniela Ringkamp koordiniert er die "Arbeits‐ stelle Menschenrechte" an der OVGU Magdeburg. Veröffentlichungen u.a.: Cassi‐ rers Leibniz und die Begründung der Menschenrechte. Wiesbaden 2016; Menschen‐ rechte im Konflikt. Kulturkampf, Meinungsfreiheit, Terrorismus (Mitherausgeber). Berlin 2018; Behemoth und Doppelstaat. Eine Einführung in zwei NS-Analysen. 2. Auflage. Potsdam 2015.

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Michael Zantke, Lehrbeauftragter für Politische Theorie an der Universität Potsdam. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind die intellektuelle Radikalisierung im Rah‐ men der „Neuen Rechten“ und die Ideengeschichte des „Querfront“-Phänomens in Deutschland. Veröffentlichung u.a.: Die 68er-Bewegung und die Neue Rechte, in: WeltTrends 141, 2018, S. 40-45; Deutsche Konservative und der Bolschewismus, in: WeltTrends 132, 2017, S. 33-36; Bewaffnete Intellektuelle. Die Bedeutung Machia‐ vellis für den Nationalsozialismus und die Konservative Revolution, Potsdam 2017.

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