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German Pages 497 [498] Year 2017
Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht 382 Herausgegeben vom
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht Direktoren:
Holger Fleischer und Reinhard Zimmermann
Bettina Rentsch
Der gewöhnliche Aufenthalt im System des Europäischen Kollisionsrechts
Mohr Siebeck
Bettina Rentsch, geboren 1988; Studium der Rechtswissenschaften in Würzburg, Freiburg, Genf und Ann Arbor, MI, USA (Master of Laws); 2016 Promotion (Heidelberg); Wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Universitäten Freiburg und Heidelberg; seit 2016 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsrecht und Ökonomik der Humboldt-Universität zu Berlin.
e-ISBN PDF 978-3-16-155224-3 ISBN 978-3-16-155172-7 ISSN 0720-1141 (Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http:// dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Mohr Siebeck, Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.
Meiner Familie
Vorwort Vorwort Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde im März 2016 von der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg als Doktorarbeit angenommen. Die mündliche Prüfung fand am 8.11.2016 statt. Die Druckfassung berücksichtigt Literatur bis Januar 2017, Rechtsprechung, mit Ausnahme der Entscheidung EuGH, 8.6.2017 ± C-111/17 PPU, bis einschließlich März 2017. Professor Jürgen Basedow, LL.M. (Harvard), Professor Holger Fleischer, LL.M. (Michigan) und Professor Reinhard Zimmermann danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht. Der Begriff, der den Gegenstand der Abhandlung bildet, hat auch die Umstände geprägt, unter denen sie entstanden ist. Die Verfasserin hat bei ihrer Anfertigung so häufig ihren Standort gewechselt, dass auf der Suche nach Wesen und Rechtsrealität des gewöhnlichen Aufenthalts nicht selten die eigene Biographie Anschauungsmaterial bot. Geglückt ist das Selbstexperiment nur, weil es sowohl an den Universitäten Freiburg und Heidelberg, als auch im europäischen und US-amerikanischen Ausland großzügige Unterstützer fand. Zu ihnen zählt an allererster Stelle mein Doktorvater, Professor MarcPhilippe Weller (Heidelberg). Er hat das Projekt und den Werdegang der Verfasserin in fast vier Jahren enger Zusammenarbeit in Freiburg und Heidelberg ebenso bedingungslos wie umfassend unterstützt, zahlreiche Auslandsaufenthalte ermöglicht und das konzentrierte Arbeiten an der Dissertation gefördert. Herzlich danken möchte ich auch Professor Christoph Kern, LL.M. (Harvard) (Heidelberg), dessen Beitrag zum Gelingen der Arbeit über eine Zweitbegutachtung weit hinausgeht. Die Druckfassung der Arbeit weist auf besonders prägende Hinweise gesondert hin. Professor Thomas Pfeiffer (Heidelberg) hat schließlich die mündliche Doktorprüfung als Vorsitzender geleitet und diese nicht nur durch kritische Fragen bereichert, sondern auch rasch ermöglicht. Dafür danke ich ihm sehr. Besonderer Dank gilt auch der Förderung, die ich im US-amerikanischen Ausland erfahren habe. Richard Buxbaum hat mein Fortkommen während eines sechsmonatigen Forschungsaufenthalts am UC Berkeley als Mentor unterstützt und geleitet. Professor Mathias Reimann (Ann Arbor) war mir während meines Masterstudiums und darüber hinaus nicht nur Lehrer, sondern auch Gastgeber, Diskussionspartner und eine große Hilfe bei der Fertigstel-
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Vorwort
lung der Abgabefassung der Arbeit. Professor Daniel Halberstam (Ann Arbor) hat mir eine völlig neue Perspektive auf das Europarecht gegeben, die die Fertigstellung dieser Arbeit erst ermöglicht hat. Professor Symeon Symeonides (Willamette) danke ich für ein ausführliches Streitgespräch in Salem, OR, im Sommer 2014, an das ich heute noch gerne zurückdenke. Mein aufrichtiger Dank gilt überdies allen Kollegen und Freunden im Inund Ausland, die mich über die Höhen und Tiefen der Promotionszeit hinweg begleitet haben. Aus dem ÄFachkollegium³ möchte ich die Mitarbeiter des Instituts für ausländisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht in Heidelberg hervorheben, namentlich danken möchte ich Dr. Martin Metz (Köln), Martijn van den Brink (EUI), Stavros Pantazopoulos (EUI) und schließlich Svea Janzen (Berlin). Für ihre Unterstützung bei der Abgabefeassung, aber natürlich auch für ihre Freundschaft danke ich Dr. Marietta Pietrek (Berlin). Die Drucklegung hat Leonie Steffen (Berlin) mit spontanem Einsatz begleitet. Die Studienstiftung des Deutschen Volkes hat die vorliegende Arbeit finanziell und ideell durch ein Promotionsstipendium gefördert, hat über eine insgesamt neunjährige Förderdauer meinen akademischen und persönlichen Werdegang aber weit über diese eine Unterstützungsleistung hinaus maßgeblich geprägt. Für das darin ausgedrückte Vertrauen der Stiftung in meine Fähigkeiten möchte ich an dieser Stelle herzlich danken. Die Gibson, Dunn & Crutcher LL.P. hat meinen Forschungsaufenthalt am UC Berkeley durch ein Reisestipendium mitfinanziert; der Studienstiftung ius vivum, der Johanna und Fritz Buch Gedächtnisstiftung und der FAZIT-Stiftung danke ich für großzügige Zuschüsse zu den Druckkosten. Das Institut für ausländisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht hat die vorliegende Arbeit im Jahr 2017 mit dem Serick-Preis ausgezeichnet. Meine Eltern und Großeltern haben mich im Bewusstsein großgezogen, dass solides Wissen dem lebendigen Geiste unerlässlich vorsteht, ihn aber nicht begrenzen darf. Ihnen und ihrem Vermögen, mir die bedingungslose Hingabe an Inhalte vorzuleben, ist dieses Buch gewidmet. Berlin, im Oktober 2017
Bettina Rentsch
Inhaltsübersicht Inhaltsübersicht
Vorwort ........................................................................................................... VII Inhaltsverzeichnis ............................................................................................. XI Erster Teil: Gewöhnlicher Aufenthalt und Europäisches Kollisionsrecht ± Konturen zweier Unbekannter ........................................................................... 1 § 1 Anliegen der Arbeit ............................................................................... 1 § 2 ÄEuropäisches Kollisionsrecht³ ........................................................... 27 § 3 Eckpfeiler der Diskussion um dengewöhnlichen Aufenthalt.............. 56 Zweiter Teil: Inhaltliche Grundlinien............................................................... 93 § 4 Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts ....................................... 93 § 5 Struktur und inhaltliche Grundlinien ................................................. 136 § 6 Konturen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs ...................... 191 Dritter Teil: Grundlagen eines rechtswahlakzessorischen Aufenthaltsverständnisses .............................................................................. 276 § 7 Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht .............. 276 § 8 Bedingungen und Varianten eines differenzierten Aufenthaltsverständnisses .................................................................... 332 § 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht ................................ 346 § 10 Grundzüge einer rechtswahlakzessorischen Aufenthaltssystematik .......................................................................... 417 Literaturverzeichnis ........................................................................................ 439 Sachregister .................................................................................................... 463
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
Vorwort ........................................................................................................... VII Inhaltsübersicht ................................................................................................ IX Abkürzungsverzeichnis .............................................................................. XXVII
Erster Teil: Gewöhnlicher Aufenthalt und Europäisches Kollisionsrecht ± Konturen zweier Unbekannter ................................ 1 § 1 Anliegen der Arbeit ...................................................................................... 1 A. Internationaler Entscheidungseinklang und überstaatliche Kollisionsrechtsharmonisierung ............................................................... 1 I. Wissenschaft und Gesetzgebung als rechtsbildende Kräfte im IPR Savignys ..................................................................................... 1 II. Kollisionsrechtsharmonisierung als Unionspolitik ............................ 3 B. Zergliederung des gewöhnlichen Aufenthalts ......................................... 6 I. Allgemeine Aufenthaltsdefinition ...................................................... 7 II. ÄDifferenziertes³ Begriffsverständnis als Zergliederung .................. 8 III. Konsequenzen ................................................................................ 11 1. Von der Gesamtbetrachtung zur sektoralen Begriffsbildung ..... 11 2. Von der dogmatischen Analyse zum rechtspolitischen Appell ........................................................................................ 12 3. Kritik .......................................................................................... 12 C. Rechtsaktübergreifende Aufenthaltsdogmatik als Äwissenschaftliche Vereinbarung³ ......................................................... 14 I. Frage: Diversifikation als Folge inkohärenter Kodifikation? ........... 14 II. Antwort: Diversifikation als Folge fehlender Aufmerksamkeit der Rechtsdogmatik ......................................................................... 14 III. Gang der Arbeit ............................................................................. 15 1. Grundlagen ................................................................................. 15 2. Struktur, Inhalt, Handhabung ..................................................... 16 3. Differenzierungsmöglichkeiten und eigene Lösung ................... 17
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D. Eingrenzung des Arbeitsgegenstandes.................................................. 19 I. Kapazitätsbedingte Abschichtung .................................................... 20 II. Praktikabilitätsbedingte Einschränkungen ...................................... 23 E. Thesen ................................................................................................... 26 § 2 ÄEuropäisches Kollisionsrecht³ ................................................................ 27 A. Mögliche Arbeitsdefinitionen ............................................................... 27 B. Gang der Kollisionsrechtsharmonisierung ............................................ 28 I. Intergouvernementalismus................................................................ 28 II. Erste Konsequenz: Schaffung kollisionsrechtlicher Staatsverträge .................................................................................. 30 III. Primärrechtliches Kollisionsrecht .................................................. 32 IV. Kollisionsrecht als EU-Kompetenz ............................................... 34 C. Leitbilder und Grundprinzipien ............................................................ 36 I. Regelungsebenen .............................................................................. 36 1. Regelungsauftrag auf drei Ebenen ............................................. 36 2. Unionsprimärrechtliche Kollisionsnormen ................................ 36 II. Varianten der Einflussnahme .......................................................... 37 1. Direkter Einfluss ........................................................................ 38 a) Positive direkte Harmonisierung ........................................... 38 b) Negative direkte Harmonisierung .......................................... 38 2. Leitbild- und Impulsfunktion des Unionsprimärrechts .............. 39 a) Grundfreiheiten als Leitbilder................................................ 39 b) Unionsprimärrechtlich indizierte Kollisionsnormsetzung ..... 40 D. Ordnung ohne Allgemeinen Teil .......................................................... 41 I. Europäisches IPR als Resultat supranationaler Rechtssetzung ......... 41 II. Unmittelbare Konsequenzen ........................................................... 42 1. Lückenhafte Rechtssetzung ........................................................ 42 a) Inhaltliche Lücken ................................................................. 42 b) Lücken im räumlichen Anwendungsbereich ......................... 43 aa) Opt-in und opt-out qua Zusatzprotokoll ......................... 43 bb) Verstärkte Zusammenarbeit ........................................... 44 c) Unregelmäßige acquis-Wirkung ............................................ 46 d) Kritik am Gebrauch der Verstärkten Zusammenarbeit für die Zwecke der Kollisionsrechtsharmonisierung .................. 47 2. Disziplinenübergreifende Rechtssetzung ................................... 48 3. Fehlender Allgemeiner Teil ....................................................... 49 4. Ausweg: Gesamtkodifikation, Allgemeiner Teil oder ÄWissenschaftliche Vereinbarung³? .......................................... 51 a) Vorhandene Verbesserungsvorschläge .................................. 51 aa) Allgemeiner Teil und Rom 0-Verordnung ..................... 51 bb) Gesamtkodifikation ........................................................ 52
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b) Konsequenzen für die vorliegende Arbeit ............................. 54 E. Thesen ................................................................................................... 54 § 3 Eckpfeiler der Diskussion um den gewöhnlichen Aufenthalt ..................... 56 A. Die dogmatische Diskussion um den gewöhnlichen Aufenthalt .......... 56 I. Konsentierter Begriffskern ............................................................... 56 II. Unterschiede der Aufenthaltsanknüpfung gegenüber Staatsangehörigkeit und Wohnsitz .................................................. 57 III. Der gewöhnliche Aufenthalt als ÄTatsachenbegriff³ ..................... 58 1. Meinungsstand ........................................................................... 58 2. Tatsachenbegriff als Tatsachenfrage .......................................... 60 B. Die rechtspolitische Diskussion um den gewöhnlichen Aufenthalt ...... 62 I. Die deutsche Reformdebatte als Blaupause der unionsrechtlichen Diskussion .......................................................... 63 1. Interessen ................................................................................... 65 2. Ausländer- und Integrationspolitik ............................................. 67 3. Relevanz für das Unionsrecht .................................................... 68 II. Eckpfeiler der unionsrechtlichen Debatte ....................................... 69 1. Imperative oder fakultative Kollisionsnormgestaltung .............. 69 2. Signalwirkung des Art. 18 AEUV .............................................. 72 3. Technische Argumente für den gewöhnlichen Aufenthalt ......... 74 a) Synchrone und diachrone Anknüpfungsergebnisse ............... 75 b) Europäisches Erbrecht: Gleichlauf von forum und ius .......... 76 c) Konsenswahrscheinlichkeit ................................................... 77 4. Unionspolitische Argumente für den gewöhnlichen Aufenthalt .................................................................................. 77 a) Rechtliche Integration der kritischen Masse der EUBürger.................................................................................... 77 b) Politische Konsensfähigkeit des gewöhnlichen Aufenthalts ............................................................................ 79 5. Unionsprimärrechtlich gebotene Entstaatlichung ....................... 80 a) Symbolische Entstaatlichung ................................................. 81 b) Schwund des nationalen Regelungsspielraums ..................... 82 aa) Unionsprimärrechtliche Maßstabgebung........................ 82 (1) Garcia Avello ............................................................ 82 (2) Grunkin Paul ............................................................. 83 (3) Zwischenergebnis ..................................................... 84 bb) ÄEffektive Unionsbürgerschaft³ .................................... 86 6. Überflexibilisierung und Rechtsunsicherheit ............................. 88 a) Stetigkeitsverlust und dépeçage ............................................. 88 b) Unschärfe .............................................................................. 90 C. Thesen ................................................................................................... 91
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Zweiter Teil: Inhaltliche Grundlinien ................................................... 93 § 4 Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts ............................................... 93 A. Entwicklung aus dem Domizilprinzip .................................................. 94 I. Der gewöhnliche Aufenthalt zwischen Staatsangehörigkeitsund Domizilprinzip ......................................................................... 94 II. Das Domizilprinzip als persönliche Grundanknüpfung .................. 96 1. Römisches Recht: Stufenbau zwischen origo und domicilium ................................................................................. 96 2. Rezeptionsgeschichte des domicilium ........................................ 97 a) Zweigliedriger Wohnsitzbegriff der frühen Statutenlehre ..... 97 b) Absorption des Wohnsitzes durch die Staatsangehörigkeit ............................................................... 98 aa) Preußisches Allgemeines Landrecht .............................. 98 bb) Code civil ....................................................................... 98 cc) ÄPersonalisiserung³ anderer Zivilrechtskodifikationen ............................................. 100 c) Nazionalità und Personalitätsprinzip ................................... 100 III. Zwischenergebnis ........................................................................ 101 B. Entwicklung im Haager Staatsvertragsrecht ....................................... 102 I. Arbeitshypothesen und Erkenntnisziel ........................................... 102 II. Überblick über die historische Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts .................................................................................... 103 III. Der gewöhnliche Aufenthalt im Haager Staatsvertragsrecht ....... 105 1. Vorgänger der Haager Übereinkommen .................................. 105 2. Haager Staatsvertragsrecht vor 1914 ........................................ 106 a) Zivilprozessrechtsübereinkommen ...................................... 106 b) Vormundschafts- und Entmündigungsübereinkommen ...... 108 3. Zwischenkriegszeit ................................................................... 110 4. Der Erfolgsweg in der Nachkriegszeit ..................................... 113 a) Konventionsdomizil der Renvoi-Konvention ...................... 114 b) Unterhaltsrecht .................................................................... 115 aa) Systematik der Haager Unterhaltsübereinkommen ...... 116 bb) Anwendungsbereich der Unterhaltsübereinkommen ... 116 cc) Aufenthaltsanknüpfungen ............................................ 117 (1) Unterhaltsübereinkommen 1956 .............................. 117 (2) Unterhaltsübereinkommen 1973 .............................. 118 dd) Inhaltliche Besonderheiten .......................................... 119 (1) Verdrängung des Staatsangehörigkeitsprinzips ....... 119 (2) Anknüpfung sui generis ........................................... 119 (3) Tatsachenbegriff ...................................................... 120 (4) Allgemeine Schutzanknüpfung (HUÜ 1973) ........... 121
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c) Aufenthaltszuständigkeit im Internationalen Kindschaftsrecht .................................................................. 122 aa) Haager Minderjährigenschutzübereinkommen (1961) ........................................................................... 123 bb) Haager Kinderschutzübereinkommen (1996) .............. 124 cc) Haager Kindesentführungsübereinkommen (1980)...... 125 d) Eherechtliche Haager Konventionen ................................... 125 e) Aufenthaltsstatut des Haager Erbrechtsübereinkommens .... 126 5. Zwischenergebnis ..................................................................... 129 C. Zusammenfassung und Bewertung ..................................................... 130 I. Aufenthaltsanknüpfung als Territorialitätsprinzip .......................... 131 II. Verdrängung des Staatsangehörigkeitsprinzips ............................. 132 1. Hintergründe ............................................................................ 132 2. Aufenthaltsanknüpfung im Personalstatut ................................ 133 D. Thesen ................................................................................................ 134 § 5 Struktur und inhaltliche Grundlinien ....................................................... 136 A. Tatsachen- oder Rechtsbegriff ............................................................ 136 I. Tatsachenbegriff als Schutzprinzip................................................. 136 II. Unionsrecht: Vom Tatsachenbegriff zur autonomen Auslegung .. 139 III. Rechtsfolgen: Tatsachenbegriff, autonome Auslegung und normative Tatbestandselemente .................................................... 142 1. Literatur: Tatsachenbegriff als tatbestandliche Offenheit ........ 142 2. Rahmencharakter von Anknüpfungsmomenten ....................... 143 3. Rechtsbegriff und Normativität ................................................ 146 4. Konsequenzen .......................................................................... 148 B. Grundstrukturen des gewöhnlichen Aufenthalts ................................. 149 I. Erste Achse: Tatsächliche Anwesenheit ......................................... 149 II. Zweite Achse: Soziale Integration ................................................ 150 1. Elemente und Kategorien sozialer Integration ......................... 151 a) Überblick ............................................................................. 151 b) Kategorien sozialer Integration ........................................... 152 aa) Untauglichkeit genehmigungsabhängiger Indizien ...... 152 bb) Stufenverhältnis zwischen familiären und beruflichen Bindungen ................................................. 154 2. Ausschlaggebende Faktoren in Zweifelsfällen ......................... 155 a) Zeitablauf ............................................................................. 156 aa) Vom zeitabhängigen gewöhnlichen Aufenthalt zur Aufenthaltsdauer als Zweifelsregelung ........................ 156 bb) Defizite einer zeitbasierten Zweifelsregelung .............. 157 cc) ÄZeitlich-effektiver³ gewöhnlicher Aufenthalt ............ 160 dd) Zeitablauf als Trägheitsvermutung .............................. 161
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ee) Zeitablauf und Ädoppelter gewöhnlicher Aufenthalt³ .. 162 b) Niederlassungswille/settled intention .................................. 162 aa) Varianten einer willensakzessorischen Zweifelsregelung .......................................................... 163 (1) Freiwilligkeit als Gegenindiz zur Aufenthaltsdauer ...................................................... 163 (2) Geschäftsähnlicher oder natürlicher Niederlassungswille ................................................. 165 (3) Niederlassungswille als Substitut oder Oberbegriff............................................................... 168 (4) ÄÄußerer³ Niederlassungswille und Äinnerer³ Vorbehalt ................................................................. 169 bb) Argumente gegen den Niederlassungswillen ............... 171 (1) Niederlassungswille und Wohnsitzanknüpfung ....... 171 (2) Niederlassungswille und Minderjährige .................. 172 (D) Staatsvertragliche und unionsprimärrechtliche Leitbilder .................................................................. 173 (E) Rezeption im Kommissionsentwurf zur EuEheVO ................................................................. 174 (F) Rezeption durch die EuGH-Rechtsprechung ........... 176 (3) Verschwimmen von Aufenthaltsbegriff und Rechtswahl ............................................................... 178 cc) Argumente für eine Zweifelsanknüpfung an den Willen ........................................................................... 180 (1) Internationalprivatrechtlicher Gerechtigkeitsgewinn .............................................. 180 (2) Publizität und zeitliche Fixierung von Statutenwechseln...................................................... 181 (3) Unabhängigkeit von staatlicher Regulierung ........... 182 (4) Ergebnis ................................................................... 183 3. Die Kindeswohlbindung des gewöhnlichen Aufenthalts .......... 183 a) Kindeswohl als Mehrebenenbegriff ..................................... 184 b) Offenheit des Kindeswohlbegriffs ....................................... 184 c) Aufenthaltsbestimmung als Kindeswohlprüfung ................. 185 III. Zwischenergebnis und offene Fragen .......................................... 187 C. Thesen ................................................................................................. 189
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§ 6 Konturen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs ............................. 191 A. Legaldefinitionen und Umschreibungen des gewöhnlichen Aufenthalts ........................................................................................... 191 I. Völkerrechtliche Definitionsversuche ............................................ 191 1. Entschließung des Europarates vom 18.2.1972 ........................ 191 a) Rechtsnatur .......................................................................... 192 b) Inhalt ................................................................................... 192 aa) Charakteristika des gewöhnlichen Aufenthalts ............ 192 bb) Definitionsqualität ....................................................... 193 c) Rezeption und Weiterentwicklung....................................... 194 aa) Schwache Rezeption in der Union ............................... 194 bb) Starke Rezeption in den Mitgliedstaaten ..................... 195 (1) Österreich ................................................................. 196 (2) Belgien und Bulgarien ............................................. 197 cc) Rezeption in Deutschland............................................. 199 d) Zusammenfassung ............................................................... 199 2. Haager Konferenz .................................................................... 200 II. Der Aufenthaltsbegriff des EuIPR und EuZVR ............................ 201 1. Leitfaden der Kommission zur EuEheVO ................................ 202 2. Erwägungsgründe 23, 24 zur EuErbVO ................................... 204 a) Entstehungsgeschichte ......................................................... 204 b) Inhalt ................................................................................... 205 aa) Erwägungsgrund 23 ..................................................... 205 bb) Erwägungsgrund 24 ..................................................... 205 c) Verallgemeinerbarkeit der erbrechtlichen Leitlinien ........... 208 3. Art. 19 Rom I-VO und Art. 23 Rom II-VO .............................. 210 a) Hauptverwaltung und Aufenthalt......................................... 211 b) Hauptniederlassung und Aufenthalt .................................... 213 c) Aussagegehalt für den gewöhnlichen Aufenthalt ................ 215 aa) Definitionsqualität ........................................................ 215 bb) Indirekter Aussagegehalt ............................................. 217 d) Konsequenzen ..................................................................... 218 4. Gewöhnlicher Aufenthalt und COMI ....................................... 218 a) Strukturelle Gemeinsamkeiten ............................................. 219 b) Strukturelle Unterschiede .................................................... 220 aa) Unterschiede im Anknüpfungspunkt für Unternehmen ................................................................ 220 bb) Erkennbarkeit ............................................................... 221 c) Konsequenzen ...................................................................... 223 d) Zeitunabhängiges Aufenthaltsverständnis? ......................... 223 aa) EuInsVO ....................................................................... 223 bb) Gleichlauf mit dem Internationalen Familienrecht ...... 224
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(1) Art. 9 Abs. 1 EuEheVO ........................................... 225 (2) Art. 26 Abs. 3 lit. a) EuGüVO ................................. 226 III. Zwischenergebnis ........................................................................ 226 B. Das Aufenthaltsverständnis der Unionsgerichte ................................. 228 I. Europäisches Sozialrecht ................................................................ 228 1. Magdalena Fernandez (1994) ................................................... 229 2. Martinez Sala (1998) ................................................................ 230 3. Swaddling (1999) ..................................................................... 231 II. Art. 8 Brüssel IIa-VO .................................................................... 232 1. A ./. Perusturvalautakunta ........................................................ 233 a) Sachverhalt .......................................................................... 234 b) Entscheidung ....................................................................... 235 aa) Dreifach autonome Auslegung ..................................... 235 bb) Unabhängigkeit der Aufenthaltsanknüpfung in Art. 8 Abs. 1 EuEheVO vom Staatsvertragsrecht ......... 236 cc) Relativierung der dreifachen Unabhängigkeitshypothese durch spätere Rechtsprechung ............................................................ 239 (1) OGH: Staatsvertraglicher und verordnungsrechtlicher gewöhnlicher Aufenthalt .... 239 (2) EuGH: Unterhaltsrechtlicher und sorgerechtlicher gewöhnlicher Aufenthalt .......................................... 241 dd) Autonomes Aufenthaltsverständnis als Narrativ zur Sicherung der eigenen Auslegungshoheit ..................... 243 ee) Übereinstimmung mit dem Haager Recht .................... 244 c) Bisherige Deutungen der Entscheidung ............................... 246 d) Eigene Deutung der Entscheidung ...................................... 247 aa) Keine verbindlichen Aussagen zum Niederlassungswillen.................................................... 248 bb) Keine Aufwertung der Staatsangehörigkeit ................. 250 e) Aussagen über die Binnenstruktur des gewöhnlichen Aufenthalts .......................................................................... 251 aa) Ausschluss des Mehrfachaufenthalts ............................ 252 bb) Juristisches Trägheitsprinzip ........................................ 252 2. Mercredi ................................................................................... 253 a) Sachverhalt .......................................................................... 253 b) Entscheidung ....................................................................... 254 c) Deutung in der Literatur ...................................................... 256 aa) Niederlassungswille ..................................................... 256 bb) Herkunft ....................................................................... 257 cc) Ursprungsaufenthalt ..................................................... 258 d) Eigene Deutung ................................................................... 259 3. C ./. M ...................................................................................... 260
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a) Sachverhalt .......................................................................... 260 b) Entscheidung ....................................................................... 261 c) Bewertung............................................................................ 263 4. Zwischenbewertung der EuGH-Rechtsprechung ..................... 265 III. Der unionsrechtliche gewöhnliche Aufenthalt in der Rechtsprechung der Mitgliedstaaten ............................................. 266 1. Art. 8 Abs. 1 EuEheVO ............................................................ 267 a) UKSC, AP Trinity Term [2013] UKSC 60 .......................... 267 b) UKSC, LC Hilary Term [2014] UKSC 1 ............................ 268 2. Art. 4 EuErbVO ....................................................................... 270 C. Zwischenergebnis ............................................................................... 272 D. Thesen ................................................................................................ 274
Dritter Teil: Grundlagen eines rechtswahlakzessorischen Aufenthaltsverständnisses ...................................................................... 276 § 7 Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht...................... 276 A. Aufenthaltsanknüpfungen des sekundärrechtlichen Europäischen Kollisionsrechts.................................................................................... 278 I. Rom I-Verordnung ......................................................................... 279 1. Systematik der Rom I-VO ........................................................ 279 a) Vorrang der Rechtswahl ...................................................... 279 b) Default- und Leitbildfunktion des Art. 4 Rom I-VO ........... 280 c) Heterogene Binnenstruktur der vertraglichen Grundanknüpfung ............................................................... 281 2. Bestand an Aufenthaltsanknüpfungen ...................................... 283 3. Gewöhnlicher Aufenthalt und vertragscharakteristische Leistung ................................................................................... 287 a) Herkunft ............................................................................... 287 b) Inhalt ................................................................................... 288 c) Interdependenz..................................................................... 289 II. Rom II-Verordnung ....................................................................... 290 1. Aufenthaltsanknüpfungen ........................................................ 290 2. Hintergrund und Konsequenzen ............................................... 290 III. Internationales Familienrecht (Rom III-VO, EuEheVO, EuUntVO, HUP, EuGüVO, EuPartVO) ........................................ 291 1. Internationales Scheidungsrecht ............................................... 291 a) Zuständigkeit: Art. 3 EuEheVO........................................... 291 aa) Regelungssystematik .................................................... 291 bb) Einzelne Aufenthaltsgerichtsstände ............................. 292 b) Anwendbares Recht: Rom III-VO ....................................... 294
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c) Wert der Rom III-VO für die rechtsaktsübergreifende Begriffsbildung ................................................................... 295 2. Internationales Unterhaltsrecht................................................. 295 a) Aufenthaltsgerichtsstände in der EuUntVO......................... 296 b) Optionaler statt indizierter Gleichlauf ................................. 298 3. Internationales Kindschaftsrecht .............................................. 299 a) Sorgerechtsverfahren (Art. 8 Abs. 1 EuEheVO) ................. 299 b) Rückführungsmaßnahmen (Art. 10±12 EuEheVO) ............. 301 c) Anwendbares Recht: Haaager Kinderschutzübereinkommen.............................................. 302 d) Fazit ..................................................................................... 302 4. Internationales Ehegüterrecht ................................................... 303 a) Institutioneller Rahmen ....................................................... 303 b) Systematik der Aufenthaltsanknüpfungen ........................... 303 IV. Internationales Erbrecht ............................................................... 306 1. Anknüpfungssystematik ........................................................... 308 2. Anknüpfungszwecke ................................................................ 308 V. Allgemeiner Aufenthaltsgerichtsstand de lege ferenda ................. 310 1. Stand der Diskussion ................................................................ 310 2. Annäherungstendenzen ............................................................ 313 B. Aufenthaltsanknüpfung und EGBGB-Reform .................................... 316 I. Vorhandene Reformvorschläge ...................................................... 316 1. Art. 14 EGBGB ........................................................................ 316 2. Art. 13 EGBGB ........................................................................ 317 II. Europäisierung des Personalstatuts ............................................... 318 C. Der gewöhnliche Aufenthalt im internationalen und europäischen Einheitsrecht (CISG, GEK-E) .............................................................. 319 I. Hintergrund der Rechtsakte ............................................................ 319 1. CISG......................................................................................... 319 2. GEK-E ...................................................................................... 320 II. Funktion des gewöhnlichen Aufenthalts ....................................... 320 1. Art. 1, 10 CISG ........................................................................ 320 2. Art. 4 Nr. 2 GEK-E .................................................................. 321 D. Aufenthaltsanknüpfungen im EU-Einheitsprozessrecht ..................... 321 I. Hintergrund der Rechtsakte ............................................................ 322 II. Funktion des gewöhnlichen Aufenthalts ....................................... 323 E. Der gewöhnliche Aufenthalt und der Anwendungsbereich der EuEheVO ............................................................................................. 324 F. Aufenthaltsanknüpfungen im Europäischen Sozialrecht ..................... 325 I. Entwicklung und Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts ........ 325 II. Kollisionsrechtliche gegen sachrechtliche Funktion ..................... 327 1. Kollisionsrechtliche Zuweisungsfunktion ................................ 327 2. Sachrechtliche Koordinationsfunktion ..................................... 327
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G. Erste Abschichtung der Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts... 328 H. Thesen ................................................................................................ 330 § 8 Bedingungen und Varianten eines differenzierten Aufenthaltsverständnisses .............................................................................. 332 A. Legitimität und praktische Notwendigkeit ......................................... 332 I. Begriffsentwicklung als Aufgabe der Gerichte .............................. 332 II. Rechtsunsicherheit ........................................................................ 333 III. Zwischenergebnis ........................................................................ 334 B. Vorhandene Differenzierungsmöglichkeiten ...................................... 335 I. Internationalprivatrechtlicher gegen öffentlich-rechtlicher Aufenthaltsbegriff ......................................................................... 335 1. Begründung .............................................................................. 335 2. Gegenargumente ...................................................................... 336 a) § 9 S. 1 AO und § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I als praktische Begriffseinheit ..................................................................... 336 b) Gesetzgebungsgeschichte .................................................... 337 c) Konsequenzen für das Unionsrecht ..................................... 337 II. Funktionale Differenzierung innerhalb des Internationalen Privatrechts .................................................................................... 338 1. Vorhandene Differenzierungsansätze ....................................... 339 a) Differenzierung nach Anknüpfungsgegenstand ................... 339 b) Differenzierung nach Anknüpfungssubjekt und innerem Regelungszusammenhang ................................................... 339 c) Differenzierung nach Art des Rechtsverhältnisses .............. 340 d) Differenzierung nach innerem Regelungszusammenhang .. 340 e) Zusammenfassung ............................................................... 341 2. Differenzierungsmodus ............................................................ 341 III. Übertragbarkeit auf das Unionsrecht ........................................... 344 C. Thesen ................................................................................................. 344 § 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht ....................................... 346 A. Differenzierung nach Rechtsakt ......................................................... 346 I. Differenzierung nach Rechtsaktinhalt ............................................ 346 1. Argumente für eine Differenzierung ........................................ 346 2. Gegenargumente ...................................................................... 347 II. Differenzierung nach Rechtsaktvorbild ......................................... 350 1. Haager Unterhaltsprotokoll und EuUntVO .............................. 350 2. EuEheVO ................................................................................. 351 3. Rom I-VO, Rom II-VO und EuInsVO ..................................... 352 4. EuErbVO .................................................................................. 352 5. Differenzierungsmodus ............................................................ 352
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6. Gegenargumente ...................................................................... 353 B. Differenzierung nach Rechtsgebiet ..................................................... 353 I. Eigenrationalität des Internationalen Privatrechts .......................... 354 1. Funktion der Anknüpfungspunkte im verweisungsrechtlichen IPR .................................................... 354 2. Funktion anderer Koordinationsordnungen .............................. 355 II. Konsequenzen ............................................................................... 356 1. Kollisions- und ÄKoordinationsrecht³ ...................................... 356 2. Zuweisung und Koordination von Rechtssätzen ...................... 357 a) Anwendungsbereich einer Norm ......................................... 358 b) Internationales Sozialrecht .................................................. 359 aa) Gemeinsamkeiten ......................................................... 359 bb) Unterschiede ................................................................ 360 cc) Ergebnis ....................................................................... 360 3. Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht .............. 361 a) Strukturelle Unterschiede .................................................... 361 aa) Nahepunkt und Nächstpunkt ........................................ 361 aa) Sinn und Nutzen alternativer Gerichtsstände ............... 362 bb) Justizgewährung gegen Verweisungsgerechtigkeit...... 364 b) Wert für das Europäische Kollisionsrecht ........................... 365 aa) Von allgemeinen und besonderen zu alternativen Gerichtsständen ............................................................ 366 bb) Verknüpfung von Zuständigkeit und anwendbarem Recht............................................................................. 367 c) Zusammenfassung ............................................................... 369 C. Differenzierung nach äußerer Regelungssystematik ........................... 369 I. Beschränkte Rechtswahl und objektive Verweisung ...................... 371 1. Befund ...................................................................................... 371 2. Optionenerweiternde und -verengende Wirkung ..................... 371 a) Anwendungsbeispiel ............................................................ 371 b) Differenzierung nach dem Telos der Anknüpfung .............. 372 c) Differenzierung nach Unterschieden in der rechtspraktischen Handhabung ........................................... 373 aa) Aufwertung des Willenselements ................................. 375 bb) Aufwertung des Zeitelements ...................................... 376 cc) Diskussion und Lösungsvorschlag ............................... 378 II. Regel- und Ausnahmeanknüpfung ................................................ 379 1. Regelanknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt ................. 379 2. Ausnahmeanknüpfungen .......................................................... 380 a) Im Sinne einer Ergebniskorrektur ........................................ 380 aa) Art. 10 Rom I-VO ........................................................ 380 bb) Art. 13 Rom I-VO ........................................................ 381 cc) Art. 5 Abs. 1 S. 2 Rom II-VO ...................................... 381
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dd) Art. 4 Abs. 3 S. 2 HUP ................................................ 382 ee) Art. 26 Abs. 3 EuGüVO ............................................... 382 b) Kollisionsrechtliche Ausnahmeanknüpfungen .................... 383 c) Häufung von Anknüpfungsvoraussetzungen ....................... 383 aa) Rom I-VO .................................................................... 383 bb) Rom II-VO ................................................................... 384 d) Ausnahmeanknüpfungen als grouping of contacts (Art. 4 Abs. 3, 4 Rom I-VO) ............................................... 384 3. Mögliche Konsequenzen .......................................................... 385 a) Varianten und Zwecke aufenthaltsbasierter Ausnahmeanknüpfungen ..................................................... 386 aa) Interessenlage bei Äeinfachen³ Ausnahmeanknüpfungen an den gewöhnlichen Aufenthalt ..................................................................... 386 bb) Interessenlage bei kumulativen Ausnahmeanknüpfungen .............................................. 388 b) Differenzierung nach ausschließlicher und kumulativer Anknüpfung ........................................................................ 389 c) Unterschiede zwischen Regelanknüpfung und Ausnahmeanknüpfung......................................................... 390 aa) Abschichtung nach Beweislastverteilung ..................... 390 (1) Beweiskollisionsnormen .......................................... 390 (2) Ungeschriebene Beweislastregeln ............................ 391 bb) Abschichtung nach Anknüpfungsinteressen ................ 394 cc) Konsequenz .................................................................. 395 III. Retrospektive und synchrone Aufenthaltsbestimmung ................ 395 D. Differenzierung nach innerer Regelungssystematik ........................... 397 I. Punktuelle und Dauerrechtsverhältnisse ......................................... 397 II. Elastische und starre Verweisung ................................................. 398 1. Starre Verweisung: Familien- und erbrechtliche Rechtsverhältnisse, beschränkte Rechtswahl, Verbraucherschutz, Insolvenzrecht .......................................... 399 2. Flexible Verweisung: Vertragscharakteristische Leistung ....... 400 a) Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO ...................................................... 400 b) Typisierungen des Art. 4 Abs. 1 Rom I-VO ........................ 400 3. Konsequenzen .......................................................................... 401 a) Argumente für eine Differenzierung.................................... 401 b) Gegenargumente .................................................................. 401 E. Differenzierung nach Anknüpfungssubjekt ........................................ 402 I. Personenprofile des Europäischen Kollisionsrechts ....................... 402 1. Verbraucher und Unternehmer ................................................. 402 2. Kinder und Erwachsene ........................................................... 402 II. Mögliche Differenzierungsgründe ................................................ 403
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1. Verbraucher und Unternehmer ................................................. 403 2. Kinder und Erwachsene ........................................................... 404 a) Indizien für ein differenziertes Begriffsverständnis............. 404 b) Gegenargumente .................................................................. 405 aa) Beliebige Konsequenzen .............................................. 405 bb) Sorgerechtsakzessorische Aufenthaltsbestimmung ..... 407 cc) Zwei Aufenthaltsbegriffe innerhalb einer Kollisionsnorm? ........................................................... 408 F. Differenzierung nach Auswirkungen auf den Rechtsverkehr .............. 408 I. Ausgangsbefund: Konzentrations- und Streuwirkung des gewöhnlichen Aufenthalts ............................................................. 408 1. Systematik ................................................................................ 408 2. Nachweis in den Kollisionsnormen der Rom I-VO.................. 409 II. Keine wohlfahrtsökonomischen Implikationen der Streuung von Parallelverträgen..................................................................... 410 1. Übertragbarkeit des rechtsökonomischen Diskurses innerhalb der vertraglichen Hauptanknüpfung ........................ 411 2. Mögliche wohlfahrtsökonomische Implikationen einer Vertragsstreuung ...................................................................... 412 3. Mögliche Konsequenzen für das Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts ....................................................... 412 4. Keine eindeutigen ökonomischen Konsequenzen der Auswahl des Anknüpfungssubjekts ......................................... 413 5. Zwischenergebnis ..................................................................... 414 G. Thesen ................................................................................................ 414 § 10 Grundzüge einer rechtswahlakzessorischen Aufenthaltssystematik ....... 417 A. Legitimität und Modus ....................................................................... 417 I. Berechtigung der Suche nach einem Differenzierungskriterium .... 417 1. Untauglichkeit selbstständiger Differenzierungsvorschläge .... 418 2. Notwendigkeit einer Differenzierung ....................................... 419 II. Zulässige Differenzierungsgründe ................................................ 420 1. Subjektive und objektive Aufenthaltsanknüpfungen ................ 420 2. Abschichtung innerhalb der objektiven Aufenthaltsanknüpfungen ........................................................ 421 B. Differenzierungsmodus und praktische Handhabung ......................... 422 I. Abschichtungsmodus ...................................................................... 422 1. Differenzierung zwischen Regel und Ausnahme ..................... 422 2. Abgestufter Prüfungsmaßstab im Zivilprozess ........................ 423 II. Rechtswahlsystematik als Bezugspunkt der Abschichtung ........... 424 1. Beschränkte und unbeschränkte Rechtswahl............................ 424
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2. Unbeschränkte Rechtswahl: Sachrechtliche Wirkungsschranken ................................................................. 425 3. Beschränkte Rechtswahl: Wählbare Rechtsordnungen ............ 425 4. Zeitpunkt der Rechtswahl ......................................................... 427 5. Form ......................................................................................... 427 III. Zusammenhang mit der Aufenthaltsanknüpfung ......................... 427 1. Internationales Schuldrecht ...................................................... 428 2. Internationales Familienrecht ................................................... 429 3. Internationales Erbrecht ........................................................... 431 IV. Konsequenzen für die rechtspraktische Handhabung .................. 432 C. Berechtigung eines rechtswahlakzessorischen Aufenthaltsverständnisses .................................................................... 433 I. Aufenthaltsanknüpfung als Rechtswahlkorrelat ............................. 433 1. Kein nachweisbarer Wertungszusammenhang ......................... 433 2. Technische und kompetenzielle Parallelen .............................. 434 II. Praktische Gründe ......................................................................... 436 D. Thesen ................................................................................................ 437 Literaturverzeichnis ....................................................................................... 439 Sachregister ................................................................................................... 463
Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis a.A. a.E. a.F. ABl.
anderer Ansicht am Ende alter Fassung Amtsblatt der Europäischen Union/Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Abs. Absatz AcP Archiv für die civilistische Praxis Actes et Doc. Actes et Documents de la Conférence de La Haye du Droit International Privé/Proceedings of the Sessions of the Hague Conference on Private International Law AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union AGB Allgemeine Geschäftsbedingungen Anz. Öst. Ak. Wiss. phil. hist. Klass. Anzeiger der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften AO Abgabenordnung Art. Artikel B2B business-to-business BAG Bundesarbeitsgericht BeckEuRS Beck Online Rechtsprechung des EuGH, EuG und EuGöD BeckOGKBGB Beck¶scher Online Großkommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 2. Edition, München 2015 BeckOKBGB Beck¶scher Online-Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 40. Edition, München 2016 BeckOKFamFG Beck¶scher Online Kommentar zum Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freien Gerichtsbarkeit, 2. Edition, München 2011 BeckOKUrhR Beck¶scher Online Kommentar zum Urheberrecht, 16. Edition, München 2017 BeckRS Beck-Rechtsprechung BFH Bundesfinanzhof BG Schweizerisches Bundesgericht BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGBl. Bundesgesetzblatt
XXVIII BGH BGHZ BR-Drucks. BSG BT-Drucks. BVerfGE C2C CDIP CISG Clunet CMLR CMR COMI ders. dies. dt. Ed. EG EGBGB EGMR EGV EL ELF EMRK endg. engl. et. al. EU EuBagatellVO
EuEheVO
EuErbVO EuGrCh EuGüVO
Abkürzungsverzeichnis Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bundesrats-Drucksache Bundessozialgericht Bundestags-Drucksache Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts consumer-to-consumer Code Belge du Droit International Privé United Nations Convention on Contracts for the International Sale of Goods/UN-Kaufrechtsübereinkommen Journal du droit international Common Market Law Review hEHUHLQNRPPHQYRP0DLEHUGHQ%HI|UGHUXQJVYHUWUDJ im internationalen Straßengüterverkehr Centre of Main Interest derselbe dieselbe deutsch Edition Europäische Gemeinschaft Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag über die Europäische Gemeinschaft Ergänzungslieferung European Legal Forum Europäische Menschenrechtskonvention endgültig englisch et alii/und Andere Europäische Union Verordnung (EG) 861/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen, ABl. 2007 L 199/1 9HURUGQXQJ(* GHV5DWHVYRPber die Zustlndigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000, ABl. 2003 L 338/1 Verordnung (EU) 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4.7.2012, ABl. 2012 L 201/107 Europäische Grundrechtecharta Verordnung (EU) 2016/1103 des Rates vom 24.6.2016 zur Durchfhrung einer Verstlrkten Zusammenarbeit im Bereich der
Abkürzungsverzeichnis
EuGVVO
EuInsVO EuInsVO 2017 EuInsVÜ-E EuIPR EuMahnVO
EuPartVO
EuR EuUntVO
EuZPR EuZVR EuZW EVÜ EWG f. / ff. FactÜ FamFG FamFR FamRZ FPR
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Zustlndigkeit, des anzuwendenden Rechts und der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Fragen des ehelichen Gterstands, ABl. 2016 L 183/1 Verordnung (EG) 44/2000 des Rates vom 22.12.2000, ABl. 2001 L 12/1, ABl. 2001 L 307/28; neugefasst durch Art. 80 Satz 1 ÄndVO (EU) 1215/2012 vom 12.12.2012, ABl. 2012 L 351/1; Art. 1 ÄndVO (EU) Nr. 566/2013 vom 18. 6. 2013, ABl. 2013 L 167/29 Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29.5.2000 über Insolvenzverfahren, ABl. 2000 L 160/1 Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5. 2015 über Insolvenzverfahren, ABl. 2015 L 141/19 Entwurf eines Europäischen Übereinkommens über Insolvenzverfahren Europäisches Internationales Privatrecht Verordnung(EG) 1896/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens, ABl. 2006 L 199/1 9HURUGQXQJ(8 GHV5DWHVYRP]XU 'XUFKIhrung der Verstlrkten Zusammenarbeit im Bereich der Zustlndigkeit, des anzuwendenden Rechts und der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Fragen gterrechtlicher Wirkungen eingetragener Partnerschaften, ABl. 2016 L 183/30 Zeitschrift Europarecht 9HURUGQXQJ(* GHV5DWHVYRPber die Zustlndigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen, ABl. 2009 L 7/1 Europäisches Zivilprozessrecht Europäisches Zivilverfahrensrecht Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Römisches EWG-Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anwendbare Recht vom 19.6.1980 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft folgende UNIDROIT-Übereinkommen über Internationales Factoring vom 28.5.1988 Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Zeitschrift für Familienrecht und Familienverfahrensrecht Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Familie, Partnerschaft und Recht
XXX frz. FS GEK GG GmbH GPR GRURInt GS Herv. d. Verf. HKÜ Hrsg. HS HUP i.V.m. ibid. ICLQ IHR IPR IPRax IZVR JBl. Jherings Jb JN JZ KindRG KRK KSÜ lit. m.Anm. m.Verw. auf m.w.N. Mitarb. MSA MÜ
MüKoBGB
Abkürzungsverzeichnis französisch Festschrift Gemeinsames Europäisches Kaufrecht Grundgesetz Gesellschaft mit beschränkter Haftung Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht ± Internationaler Teil Gedächtnisschrift Hervorhebung durch die Verfasserin Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung Herausgeber Halbsatz Haager Unterhaltsprotokoll in Verbindung mit ebenda International and Comparative Law Quarterly Internationales Handelsrecht ± Zeitschrift für das Recht des internationalen Warenkaufs und Warenvertriebs Internationales Privatrecht Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts Internationales Zivilverfahrensrecht Österreichische Juristische Blätter Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts Jurisdiktionennorm Juristenzeitung Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts UN-Kinderrechtekonvention Haager Kinderschutzübereinkommen littera mit Anmerkung von mit Verweis auf mit weiteren Nachweisen unter Mitarbeit von Haager Minderjährigenschutzabkommen Montrealer Übereinkommen über die Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über den Internationalen Luftfahrtverkehr vom 28.5.1999 Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch
Abkürzungsverzeichnis MüKoFamFG
MüKoGmbHG MüKoInsO MüKoVVG MüKoZPO n° NiemZ NILR NIPR NJOZ NJW NKBGB NKEuGrCh NKStGB Nr. NVwZ NZFam NZS ÖJZ OGH OLG PStRG RabelsZ RdC Rev. crit. d. i. p. RIW RL Rn. Rom I-VO Rom II-VO Rom III-VO RR S. s.
XXXI
Münchener Kommentar zum Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Münchener Kommentar zum Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung Münchener Kommentar zur Insolvenzverordnung Münchener Kommentar zum Gesetz über den Versicherungsvertrag Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung numéro Niemeyers Zeitschrift für Internationales Recht Netherlands International Law Review Nederlands Internationaal Privaatrecht Neue Juristische Online-Zeitschrift Neue Juristische Wochenschrift Nomos Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch Nomos Kommentar Charta der Grundrechte der Europäischen Union Nomos Kommentar Strafgesetzbuch Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Familienrecht Neue Zeitschrift für Sozialrecht Österreichische Juristenzeitung Österreichischer Oberster Gerichtshof Oberlandesgericht Personenstandsrechtsreformgesetz Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Recueil des Cours/Collected Courses of the Hague Academy of International Law Revue critique du droit international privé Das Recht der Internationalen Wirtschaft Richtlinie Randnummer Verordnung(EG) 593/2008 des Rates vom 17.6.2008, ABl. 2008 L 177/6 Verordnung(EG) 864/2007 des Rates vom 11.7.2007, ABl. 2007 L 199/40 Verordnung(EU) 1259/2010 des Rates vom 20.12.2010, ABl. 2010 L 343/10 Rechtsprechungsreport Satz siehe
XXXII s.o. s.u. SGB I Slg. Spstr. StAZ u.a. UA UE UKSC UNIDROIT UrhG vgl. VIA VO Vol. WM ZErb ZEuP ZEuS ZEV ZGR ZIP ZPO ZVglRW
Abkürzungsverzeichnis siehe oben siehe unten Sozialgesetzbuch I Sammlung der Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union Spiegelstrich Das Standesamt unter anderem Unterabsatz Union Européenne Supreme Court of the United Kingdom International Institute for the Unification of Private Law Urhebergesetz vergleiche Verbraucherinsolvenz aktuell Verordnung Volume (Band) Wertpapier-Mitteilungen Zeitschrift für die Steuer- und Erbrechtspraxis Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für Europarechtliche Studien Zeitschrift für Erbrecht und Vermögensnachfolge Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zivilprozessordnung Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft
Erster Teil
Gewöhnlicher Aufenthalt und Europäisches Kollisionsrecht ± Konturen zweier Unbekannter § 1 Anliegen der Arbeit § 1 Anliegen der Arbeit
A. Internationaler Entscheidungseinklang und überstaatliche Kollisionsrechtsharmonisierung A. Internationaler Entscheidungseinklang
I. Wissenschaft und Gesetzgebung als rechtsbildende Kräfte im IPR Savignys Das Internationale Privatrecht widmet sich Sachverhalten, die Bezüge zu mehreren Rechtsordnungen aufweisen. 1 Privatrechtsverhältnisse 2 werden mit seiner Hilfe derjenigen Rechtsordnung 3 zugeordnet, mit der sie am engsten verbunden sind. 4 Wo das Internationale Privatrecht weder durch Unionsrecht noch durch Staatsvertragsrecht überstaatlich vereinheitlicht ist, werden die Parameter des Nationalisierungsvorgangs durch jede Rechtsordnung selbstständig gesetzt. 5 Dies erfolgt vor allem mit dem Anliegen, einen internationalen Entscheidungseinklang herzustellen. 6 Savigny verbindet diesen Grundsatz Kegel/Schurig, IPR , Ä,35 LVW QRWZHQGLJ YRUKDQGHQ VRODQJe es verschiedene 6WDDWHQJLEW>«@³ =XGHQ%HVRQGHUKHLWHQVRJHQDQQWHUÄ9HUZHLVXQJVJHUHFKWLJNHLW³LELG § 1 VII, § 2 I. 2 Zur nationalen (statt völkerrechtlichen) und privatrechtlichen (statt öffentlich-rechtlichen) Natur des Internationalen Privatrechts vgl. statt vieler Schnitzer, Betrachtungen zur Gegenwart und Zukunft des Internationalen Privatrechts, RabelsZ 38 (1974), 317 (320 f.). Gegensicht bei Mills, The Confluence of Public and Private International Law, 2009, 23 f. 3 Kegel/Schurig, IPR, § 1 I. 4 Kegel/Schurig, IPR, § 1 I. 5 ,QWHUQDWLRQDOHV3ULYDWUHFKWLVWGDQQÄQDWLRQDOHV5HFKWIULQWHUQDWLRQDOH6DFKYHUKDOWH³ Beitzke, Nationales Recht für internationale Sachverhalte?, Anz. Öst. Ak. Wiss. phil. hist. Klass. 111 (1974), 277. Anders sehen es noch Huber, De conflictu legum, in: Praelectionum Iuris Romani et Hodierni pars II, 1689, liber I, tit. III, und Story, Commentaries on the Conflict of Laws, 1834, § 29. Danach bildet die comitas gentium den Geltungsgrund des Internationalen Privatrechts. Dazu Paul, The Transformation of International Comity, 71 Law and Contemporary Problems (2008), 19 (24). 6 Zweigert, Zur Armut des IPR an sozialen Werten, RabelsZ 37 (1973), 435 (437); Picone, Les méthodes de coordination entre ordres juridiques en droit international privé, 1
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§ 1 Anliegen der Arbeit
mit der Perspektive einer Harmonisierung des IPR im Wege der zwischenstaatlichen Vereinheitlichung. Im 1849 erschienenen achten Band des Systems des heutigen Römischen Rechts führt er aus: ÄWird diese bereits angefangene Entwickelung des Rechts 7 nicht durch unvorhergesehene äußere Umstände gestört, so läßt sich erwarten, daß sie zuletzt zu einer völlig übereinstimmenden Behandlung unserer Lehre in allen Staaten führen wird. Eine solche Uebereinstimmung könnte herbeigeführt werden auf dem Wege der Wissenschaft und der durch diese geleiteten Praxis der Gerichte. Sie könnte auch bewirkt werden durch ein unter allen Staaten vereinbartes Gesetz über die Collision der örtlichen Rechte. Ich sage nicht, daß ein solches wahrscheinlich wäre, oder auch nur räthlicher und heilsamer, als die blos wissenschaftliche Vereinbarung.³8
Die Schaffung einheitlicher Standards im Internationalen Privatrecht obliegt danach keineswegs ausschließlich der Gesetzgebung. Vielmehr ist diese mit der Rechtswissenschaft zu gleichen Teilen dazu berufen, ein ÄGesetz über die Collision der örtlichen Rechte³ zu entwerfen. 9 Die folgende Abhandlung widmet sich einem Problemfeld, in dem die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Rechtssetzung auch aktuell angezeigt ist, nämlich dem gewöhnlichen Aufenthalt in der Funktion als Anküpfungspunkt des Europäischen Internationalen Privatrechts. Hier hat der Europäische Gesetzgeber seine Rolle als rechtsbildende Kraft bislang nicht erfüllt. Einzelne Vorstöße in der Rechtsdogmatik haben zwar eine verdienstvolle Analyse von EinzelphänoRdC 276 (1999), 13 (37). Freilich wird das Ideal internationalen Entscheidungseinklangs durch das Bedürfnis nach interner Entscheidungsharmonie geschmälert. Grundlegend dazu Wengler, Internationales Privatrecht, Band 1, § 7, 70 f., der das Anliegen innerer Entscheidungsharmonie im Wege der Anpassung durchsetzen möchte, also jenseits der kollisionsrechtlichen Verweisung selbst und auf der Ebene des Sachrechts. Zur verfassungsrechtlichen Abwägungsfähigkeit des internationalen Entscheidungseinklangs s. auch BVerfG, 4.5.1971 ± 1 BvR 636/68 ± BVerfGE 31, 83 sowie Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 5. 7 Gemeint ist damit erstens die formale Gleichbehandlung von In- und Ausländern mit dem Ergebnis, dass Ausländer gleichberechtigten Zugang zu bestimmten Inländerprivilegien erhalten. Zweitens geht es um den Respekt vor der identitätsgebenden, räumlichkulturellen Herkunft (nazionalità) einer ausländischen Person, durch die sie sich von Inländern abhebt, ibid. sowie wegweisend Mancini, Della nazionalità come fondamento del diritto delle genti, in: ders., Diritto internazionale ± Prelezioni, 1873, 5 ff. 8 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Band VIII, Buch III. Herrschaft der Rechtsregeln. Kap. I. Örtliche Gränzen, Berlin 1849, 114 (Herv. d. Verf.). In Natur und Funktion dürfte das Gesetz über die Collision der örtlichen Rechte den im USamerikanischen Recht bewährten Restatements näherkommen als den großen Zivilrechtskodifikationen des 19. Jahrhunderts. Aktuell findet sich die Zukunftsvision Savignys wohl am ehesten in den Diskussionen um ein europäisches Handelsgericht und die dadurch erhoffte, dynamisch-spontane Schaffung von Richterrecht verwirklicht, dazu Pfeiffer, Ein europäischer Handelsgerichtshof und die Entwicklung des europäischen Privatrechts, ZEuP 2016, 795 (797 ff.). 9 Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 3. Auflage 1840, 13 f.
A. Internationaler Entscheidungseinklang
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menen unternommen, die konzeptionellen Mängel des Anknüpfungspunktes aber noch nicht behoben.10 Die Arbeit möchte einen Versuch unternehmen, die Diskussion um das Wesen, die Binnenstruktur und die Probleme der Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt auf die Entwicklung einer umfassenden Rahmendogmatik umzulenken. Den Gegenstand der Abhandlung bildet einerseits die systematische und teleologische Analyse, andererseits die begriffs- und ideengeschichtliche Rekonstruktion des gewöhnlichen Aufenthalts. Auf dieser Grundlage wird eine Äallgemeine Lehre³ der Aufenthaltsanknüpfung zur Diskussion gestellt. Ob sich das hier vorgestellte Modell rechtsdogmatisch als anschlussfähig erweist und rechtspraktisch bewährt, ob sich unter Umständen bereits jetzt bessere Ansätze vertreten lassen oder ob die fortschreitende Rechtssetzung in der Union die hier vorgestellten Überlegungen relativieren oder widerlegen werden, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt schwer vorhersagen. Exklusivität ist aber ebensowenig das Ziel der vorliegenden Arbeit wie die Schaffung verbindicher und bis ins letzte Detail ausdifferenzierter Leitlinien für die Rechtspraxis. Ihr Ziel lautet vielmehr, einen möglichen Ansatz für die Entwicklung einer allgemeinen Lehre der Anknüpfungspunkte im Europäischen IPR vorzustellen. Unabhängig von ihrem konkreten Inhalt muss diese Lehre eine Voraussetzung erfüllen: Sie muss als Äwissenschaftliche Vereinbarung³ Mängel der vorhandenen Sekundärrechtssätze im Umgang mit dem gewöhnlichen Aufenthalt ausgleichen können. II. Kollisionsrechtsharmonisierung als Unionspolitik Die einleitende Beschreibung nimmt vorweg, dass sich die Prognose Savignys zum heutigen Tag nur unvollständig bewahrheitet hat. Versuche einer überstaatlichen Vereinheitlichung des Kollisionsrechts ziehen sich über das gesamte 20. Jahrhundert hin. 11 Durch die Kodifikationswellen des späten 19. 10
Statt vieler Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014; Gärtner, Die Privatscheidung im deutschen und gemeinschaftsrechtlichen Internationalen Privat- und Verfahrensrecht, 2008, 220 ff.; Mankowski, Der gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers unter Art. 21 Abs. 1 EuErbVO, IPRax 2015, 39; Coester-Waltjen 'LH %HGHXWXQJ GHV ÄJHZ|KQOLFKHQ $XIHQtKDOWV³ LP +DDJHU (QWIKUXQJVDENRPPHQ LQ %DVHGRZ'UREQLJ HW DO +UVJ $XIEUXFK nach Europa: 75 Jahre Max-Planck-Institut für Privatrecht, 2001, 543. Rechtsaktübergreifende Überlegungen finden sich unter anderem bei Hilbig-Lugani, Divergenz und Transparenz: Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts der privat handelnden natürlichen Person im jüngeren EuIPR und EuZVR, GPR 2014, 8; Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, 79 ff. 11 Die Haager Konferenz für Internationales Privatrecht hat durch kollisionsrechtliche Staatsverträge die internationale Entscheidungsharmonie punktuell wiederhergestellt. Vgl. van Hoogstraaten, La codification par traités en droit international privé dans le cadre de la conférence de la Haye, RdC 122 (1967) 22. Ein Vorschlag zur Gesamtkodifikation des IPR im Rahmen der ersten Konferenz bleibt aber ebenso erfolglos wie Versuche einer umfas-
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§ 1 Anliegen der Arbeit
und frühen 20. Jahrhunderts wachsen die Unterschiede zwischen den nationalen Kollisionsnormen. 12 Die internationale Entscheidungsharmonie 13 dient zwar als Leitbild der Rechtssetzung, aber nicht als Normquelle oder Korrektiv bei der Handhabung von Auslandssachverhalten. Mit der Europäischen Union besitzt nun erstmals ein supranationales Gebilde die Kompetenz, das Bedürfnis nach einheitlichen Kollisionsnormen durch autonome Rechtssetzung zu stillen. 14 In jüngerer Vergangenheit hat die Union ihre Rechtssetzungsbefugnis 15 besonders häufig genutzt. Aktuell fallen lediglich das Internationale Sachenrecht 16, das IPR der Eheschließung 17, das Internationale Stellvertretungsrecht 18, das IPR der Geschäftsfähigkeit sowie Sonderbereiche des IPR der deliktischen Haftung 19 in den Kompetenzbereich nationaler Gesetzgebung. Das Kollisionsrecht der vertraglichen 20 und außervertraglichen21 Schuldverhältnisse, das Recht der Ehescheidung 22, das Recht des ehelichen, nachehelichen und des Kindesunterhalts 23, das Internationale Erbrecht24 sowie das Internationale Ehegüterrecht25 und das Güterrecht eingesenden staatsvertraglichen Vereinheitlichung des Internationalen Privat- und Zivilverfahrensrechts, Projet d¶un Programme der Niederlande, Actes et Doc. I (1893), 7 ff., Nachweis bei Kreuzer, Zu Stand und Perspektiven des Europäischen Internationalen Privatrechts, RabelsZ 70 (2006), 1 (4). Dazu auch Frankenstein, Projet d¶XQ FRGH Huropéen de droit international privé (1950), dazu Kreuzer, RabelsZ 70 (2006), 1 (4). 12 Zu allem Zweigert, RabelsZ 37 (1973), 435 (437). 13 Kegel/Schurig, IPR, § 2 II 3 a); Zweigert, RabelsZ 37 (1973), 435 (438). 14 Grundlegend Kreuzer, RabelsZ 70 (2006), 1. 15 Art. 81 Abs. 1±3 AEUV. Ausführlicher s.u. § 2 B IV. 16 Bereichsausnahmen finden sich insoweit in Art. 1 Abs. 2 lit. k) EuErbVO, Art. 1 Nr. 3 lit. f) EuGüVO. 17 Art. 13 EGBGB; zum mittelbaren Einfluss des Unionsrechts aber Coester-Waltjen, Reform des Art. 13 EGBGB?, StAZ 2013, 10. 18 Vgl. die Bereichsausnahme in Art. 1 Abs. 2 lit. g) Rom I-VO 19 Vgl. die Bereichsausnahme in Art. 1 Abs. 2 Rom II-VO. 20 Rom I-VO (EG) 593/2008 des Rates vom 17.6.2008, ABl. 2008 L 177/6. 21 Rom II-VO (EG) 864/2007 des Rates vom 11.7.2007, ABl. 2007 L 199/40. 22 Rom III-VO (EU) 1259/2010 des Rates vom 20.12.2010, ABl. 2010 L 343/10. 23 Haager Unterhaltsprotokoll vom 23.11.2007, ratifiziert durch die EU am 8.4.2010, ABl. 2010 L 331/17, kraft Verweisung in Art. 15 EuUntVO als Sekundärrechtsakt für alle EU-Mitgliedstaaten verbindlich. 24 EuErbVO (EU) 650/2012 des Europäischen Parlamentsund des Rates vom 4.7.2012, ABl. 2012 L 201/107. 25 EuGüVO (EU) 2016/1103 des Rates vom 24.6.2016 zur Durchfuȋhrung einer Verstaȋrkten Zusammenarbeit im Bereich der Zustaȋndigkeit, des anzuwendenden Rechts und der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Fragen des ehelichen Guȋterstands, ABl. 2016 L 183/1. Der Vorschlag fuȋr einen Beschluss des Rates uȋber die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich der Zuständigkeit, des anzuwendenden Rechts und der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Fragen der Guȋterstände internationaler Paare (eheliche Guȋterstände und Guȋterstände eingetragener Partnerschaften), KOM(2016) 108 endg., wurde am 9.6.2016 durch den Rat angenommen.
A. Internationaler Entscheidungseinklang
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tragener Lebenspartnerschaften 26 sind mittlerweile durch Unionssekundärrecht vereinheitlicht. Eine Harmonisierung des bislang nur unionsprimärrechtlich überformten 27 Kollisionsrechts der Namensführung 28 steht bevor. 29 Im internationalen Zivilverfahrensrecht lässt sich eine ähnliche Entwicklung beobachten. Durch die Novelle der EuGVVO 30 wurden vormals bestehende Anwendungslücken des harmonisierten Rechts der Zivil- und Handelssachen geschlossen. Mit der EuErbVO, der EuUntVO 31, der Novelle der EuEheVO 32 und der Schaffung der EuInsVO 33 hat die Union auch bisher nicht harmonisierte Bereiche der internationalen Zuständigkeit, der Anerkennung und Vollstreckung in Erb- und Familiensachen vereinheitlicht. 34 Der Bestand Das Parlament hat am 23.6.2016 seine erforderliche Stellungnahme abgegeben. Am 23.6.2016 wurde der Rat vom Parlament um Verabschiedung der beiden Verordnungsentwürfe gebeten, Dok. 10018/16 ± JUSTCIV 166, überinstitutionelles Dossier 2016/0059 (CNS). Die Zustimmung wurde am 25.6.2016 erteilt. Am 8.7.2016 wurden beide Verordnungen im Amtsblatt der Union veröffentlicht. 26 EuPartVO(EU) 2016/1104 des Rates vom 24.6.2016 zur Durchfuȋhrung der Verstaȋrkten Zusammenarbeit im Bereich der Zustaȋndigkeit, des anzuwendenden Rechts und der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Fragen guȋterrechtlicher Wirkungen eingetragener Partnerschaften. 27 EuGH, 2.10.2003 ± C-148/02, Rn. 26 ± Garcia Avello ./. Belgien; EuGH, 14.10.2008 ± C-353/06, Rn. 39 ± Grunkin Paul ./. Standesamt Niebüll, dazu zusammenfassend Mansel, Anerkennung als Grundprinzip des Europäischen Rechtsraums, RabelsZ 70 (2006), 651 (687 ff.); Funken, Das Anerkennungsprinzip, 2009, 217 ff.; Leifeld, Das Anerkennungsprinzip im Kollisionsrechtssystem, 2010, 181 ff.; Rieks, Anerkennung im Internationalen Privatrecht, 2012, 79 ff. 28 Grünbuch der Europäischen Kommission ± Weniger Verwaltungsaufwand für EUBürger: Den freien Verkehr öffentlicher Urkunden und die Anerkennung der Rechtswi rkungen von Personenstandsurkunden erleichtern ± KOM(2010) 747 endg. 29 Zum aktuellen Stand der Kollisionsrechtsharmonisierung s. Mansel/Thorn/Wagner, Europäisches Kollisionsrecht 2015: Neubesinnung, IPRax 2016, 1. 30 EuGVVO (EG) 44/2000 des Rates vom 22.12.2000, ABl. 2001 L 12/1, ABl. 2001 L 307/28; neugefasst durch Art. 80 Satz 1 ÄndVO (EU) 1215/2012 vom 12.12.2012, ABl. 2012 L 351/1; Art. 1 ÄndVO (EU) Nr. 566/2013 vom 18.6.2013, ABl. 2013 L 167/29. 31 EuUntVO (EG) 4/2009 des Rates vom 18.12.2008 uȋber die Zustaȋndigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen, ABl. 2009 L 7/1; freilich bildete die Zuständigkeit in Unterhaltssachen zunächst einen Teil der EuGVVO. 32 EuEheVO (EG) 2201/2003 des Rates vom 27.11.2003 uȋber die Zustaȋndigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000, ABl. 2003 L 338/1. Mittlerweile liegt ein Reformvorschlag der Kommission vor, KOM(2016) 411/2. 33 EuInsVO (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29.5.2000 über Insolvenzverfahren, ABl. 2000 L 160/1. 34 Überblick zuletzt bei Mansel/Thorn/Wagner, Europäisches Kollisionsrecht 2015: Neubesinnung, IPRax 2016, 1.
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§ 1 Anliegen der Arbeit
der Rom- und Brüssel-Verordnungen ist damit von ÄVereinheitlichungsinseln³ 35 zum überwiegenden Teil des internationalprivatrechtlichen Normbestandes aufgerückt. 36
B. Zergliederung des gewöhnlichen Aufenthalts B. Zergliederung des gewöhnlichen Aufenthalts
Die Kollisionsrechtsvereinheitlichung ist nicht nur in Form mehrerer selbstständiger Sekundärrechtsakte erfolgt, sondern zieht sich auch über einen längeren Zeitraum hin. Trotzdem erweisen sich die Grundstrukturen und Systembegriffe der Rom- und Brüssel-Verordnungen auf den ersten Blick als überraschend homogen. Zum einen eröffnen alle Rom-Verordnungen den Parteien die Möglichkeit, durch einen parteiautonomen Verfügungs- 37 oder Verweisungsvertrag38 über das anwendbare Recht zu disponieren. Die Möglichkeit einer Rechtswahl ist zwar unterschiedlich umfangreich, 39 aber als solche allgegenwärtig. 40 Trotz ihrer unterschiedlichen Ausgestaltung im Einzelnen entsteht alleine schon der ausnahmslosen Existenz von Rechtswahlmöglichkeiten wegen eine zweite Äsubjektive Säule³ der Anknüpfung. 41 Auch die Legitimationsgrundlage der Rechtswahlbestimmungen dürfte rechtsaktübergreifend einheitlich sein. Sie verlängert entweder die innerhalb einer Rechtsordnung vorhandene Vertragsfreiheit 42 oder liest sich als Ausdruck vermuteter individueller Selbstbestimmung 43 einer Einzelperson.44 35 Mansel/Thorn/Wagner, Europäisches Kollisionsrecht 2012: Voranschreiten im Flickenteppich, IPRax 2013, 1. 36 Zusammenfassend auch Rühl/von Hein, Towards a European Code on Private International Law? Civil Law and Justice Forum Cross-Border Activities in the EU ± Making life easier for EU citizens, 26.2.2015, dies., RabelsZ 79 (2015), 701 (708 ff.). 37 Statt vieler Basedow, Theorie der Rechtswahl, RabelsZ 75 (2011), 32 (52). 38 Ferrari/Kieninger/Mankowski/Ferrari Art. 4 Rom I-VO Rn. 6; Kroll-Ludwigs, Parteiautonomie, 2013, 148. 39 Kroll-Ludwigs, Parteiautonomie, 2013, 146. 40 Kroll-Ludwigs3DUWHLDXWRQRPLHVSULFKWYRQGHUÄIOlFKHQGHFNHQGHQ(U|IfQXQJGHU:DKOIUHLKHLW³ 41 Basedow, RabelsZ 75 (2011), 32 (50 ff.); Kroll-Ludwigs, Parteiautonomie, 2013, 148 ff.; Ruȋhl, Rechtswahlfreiheit im europaȋischen Kollisionsrecht, FS Kropholler, 2008, 187. 42 Jayme, Die Parteiautonomie im internationalen Privatrecht auf dem Prüfstand ± 65. Tagung des Institut de Droit International in Basel, IPRax 1991, 429. 43 Basedow, RabelsZ 75 (2011), 32 (50); Kroll-Ludwigs, Parteiautonomie, 2013, 148 ff.; a.A. von Bar, IPR II, 1991, Rn. 416. 44 Rekonstruktion bei Basedow, RabelsZ 75 (2011), 32 (51) m.Verw. auf Locke, Two Treatises of Government, 1698, Neuauflage in: The Works of John Locke, 1823, Band V; Second Treatise, § 95; Rousseau, Du Contrat Social, Neuausgabe 2011, Buch IV, Kapitel 2.
B. Zergliederung des gewöhnlichen Aufenthalts
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Auch die objektive Anknüpfung lässt im Grundsatz eine einheitliche gesetzgeberische Grundsatzentscheidung erkennen. Anstatt der Staatsangehörigkeit, des Wohnsitzes oder domicile45, regelmäßig aber auch anstelle ortsbezogener Anknüpfungen an den Erfüllungs- (Vertragsrecht) oder Belegenheitsort einer Sache (Erbrecht), hat sich die Union für eine einheitliche Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt entschieden. 46 Im Internationalen Familien- und Erbrecht, aber auch im Internationalen Insolvenzrecht bestimmt der gewöhnliche Aufenthalt außerdem die internationale Zuständigkeit.47 Eine erste Bestandsaufnahme lässt damit eine verordnungsübergreifend einheitliche, zweigliedrige Struktur in der Anknüpfung erkennen. I. Allgemeine Aufenthaltsdefinition Im Gegensatz zur Rechtswahl wurde der gewöhnliche Aufenthalt bislang weder international noch unionsrechtlich definiert. 48 Rechtspolitik, Rechtsprechung und Rechtsdogmatik zeigen sich insoweit gleichermaßen zurückhaltend. Die Untätigkeit der Legislativen ist dabei verständlich: Zahlreichen Umschreibungsversuchen in der Vergangenheit zum Trotz beschränkt sich das in der Literatur konsensfähige und in der Rechtsprechung zugrunde gelegte begriffliche Substrat oder der Begriffskern des gewöhnlichen Aufenthalts bislang auf grobe, kaum kodifizierbare Leitlinien. Außerdem wurde bislang nicht nur im Unionsrecht, sondern auch in zahlreichen autonomen IPRGesetzen von einer Legaldefinition des gewöhnlichen Aufenthalts abgesehen.49 Auch Literatur und Rechtsprechung sind zunächst entschuldigt, wenn man sich den vorhandenen unionsrechtlichen acquis zum Aufenthaltsbegriff 45
Zum Begriff des letzteren Kreitlow, Das domicile-Prinzip im englischen Internationalen Privatrecht und seine europäische Perspektive, 2003; Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 22 ff. Zum gewöhnlichen Aufenthalt als tertium zu Staatsangehörigkeit und Domizil Baetge, Habitual Residence, The Max Planck Encyclopedia of European Private Law, 2012, Band 1, 813. 46 Kritisch demgegenüber Rauscher, Heimatlos in Europa? ± Gedanken gegen eine Aufgabe des Staatsangehörigkeitsprinzips, FS Jayme, Band I, 2004, 719 (732 ff.); ders., Nur ein Not-Sitz des Rechtsverhältnisses, FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (644 ff.). 47 S.u. § 6 A. II. 4., § 7 A. III., IV. Im Rahmen der internationalen Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen wird zwar nach wie vor an den Wohnsitz angeknüpft; hier ist, wie sich zeigen wird, aber ein Wechsel zum gewöhnlichen Aufenthalt angezeigt, § 7 A. V. 48 Statt vieler Coester-Waltjen, in: Basedow/Drobnig et al. (Hrsg.), Aufbruch nach Europa: 75 Jahre Max-Planck-Institut für Privatrecht, 2001, 543 (544); Baetge, Ä+DELWXDO5eVLGHQFH³7KH0D[3ODQFNEncyclopedia of European Private Law, Band 1, 813. 49 Der Mehrwert einer Definition oder Umschreibung lässt sich angesichts der immer diverseren Anwendungsfelder der Aufenthaltsanknüpfung ohnehin anzweifeln. Die vorli egende Arbeit unternimmt stattdessen den Versuch eines abgeschichteten Begriffsverständnisses, zum Ergebnis s.u. § 9 G.
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§ 1 Anliegen der Arbeit
besieht: Die bisher entwickelten allgemeinen Definitionsversuche sind entweder zu unbestimmt, um allgemeine Rückschlüsse auf die Strukturelemente des gewöhnlichen Aufenthalts zuzulassen, 50 oder betreffen ausschließlich die Anwendungsfelder des gewöhnlichen Aufenthalts außerhalb des Internationalen Privatrechts. 51 II. ÄDifferenziertes³ Begriffsverständnis als Zergliederung Übereinstimmung scheint nach wie vor allenfalls darüber zu herrschen, dass der gewöhnliche Aufenthalt innerhalb eines abstrakt konsensfähigen Begriffskerns unterschiedliche Ausprägungen besitzen kann. Dieser Befund deckt sich zunächst im Kern mit der wesentlich allgemeineren Überlegung, dass die Bedeutung von Rechtssprache ebenso kontextabhängig ist wie die von Alltagssprache. Auch die Bedeutung von Rechtsbegriffen als Sprachformeln kann sich nicht nur unter dem Einfluss der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch infolge ihrer Handhabung durch unterschiedliche Rechtsanwender verschieben. 52 Zuletzt scheint mit der Kontextabhängigkeit von Sprache ein strukturelles, aber auch allgemeines Problem des Rechts angesprochen, 53 das sich nicht zuletzt im Streit darüber manifestiert, was man überhaupt unter Recht verstehen muss. 54 Die Forderung nach einem Ädifferenzierten³ Begriffsverständnis könnte man vor diesem Hintergrund mit Recht als rechts- und sprachphilosophischen Allgemeinplatz beiseitelegen. In Anbetracht der Entwicklung und der strukturellen Probleme des Unionskollisionsrechts lässt sich allerdings vermuten, dass die Relativität von Sprache für sich genommen die Forderung nach einer Differenzierung im Aufenthaltsverständnis nicht einzufangen, jedenfalls aber nicht zu befriedigen vermag. Auch die strukturellen Defizite des gewöhnli50
Für weitere Differenzierungsvorschläge im nationalen Recht s.u. § 8 B. I.±II. Für Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht s.u. § 9 A.±F. 51 In Deutschland wird der gewöhnliche Aufenthalt beispielsweise durch § 9 AO und § 30 Abs. 1 SGB I legal definiert, nicht aber im EGBGB. Zur Analogiefähigkeit der Definitionen s. Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 39 f. 52 Fuller &RQVLGHUDWLRQ DQG )RUP &ROXPELD /DZ 5HYLHZ Ä7KH ideal of language would be a word whose significance remained constant and unaffected by the contexWLQZKLFKLWZDVXVHG´ 53 Historische Aufarbeitung des Umgangs der Rechtswissenschaft mit Begriffen bei Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Auflage 1983, unter anderem 15 ff. (Savigny), 20f. (Puchta), 25f. (Jhering), 29f. (Windscheid). 54 Rill, Grundlegende Fragen bei der Entwicklung eines Rechtsbegriffs, in: Griller/ders. (Hrsg.), Rechtstheorie, 2. Auflage 2011, 1, unter Hinweis auf ein Zitat von Kantorovicz, Der Begriff des Rechts, 1957Ä,FKVFKODJHYRUXQWHUGLHVHP$XVGUXFNGLHVHVXQG jenes zu verstehen; und wenn Du, lieber Leser, unter diesem selben Ausdruck etwas Anderes zu verstehen wünscht, so steht es Dir frei, sofern Du nicht Deine Definition in meine WorWHKLQHLQOLHVW³
B. Zergliederung des gewöhnlichen Aufenthalts
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chen Aufenthalts lassen sich nicht über eine Äallgemeine³ Relativitätsfeststellung einfangen. Erstens ist der gewöhnliche Aufenthalt bislang dogmatisch nicht nur schwach, sondern nahezu unerschlossen. Weder ist das Verhältnis von Einzelfall und abstrakt-rechtlicher Wertung verbindlich festgelegt, noch sind subsumtionsfähige Kriterien kodifiziert, dogmatisch festgelegt oder kraft ständiger Rechtsprechung bewährt, die jenseits eines schmalen Begriffskerns besondere Charakteristika des Begriffs erkennen ließen. Der enge, konsentierte Begriffskerndes gewöhnlichen Aufenthalts definiert ihn als Ätatsächlichen Lebensmittelpunkt³ einer Person und setzt neben der tatsächlichen Präsenz deren soziale Integration in das räumliche und persönliche Lebensumfeld voraus. 55 Gerade in Zweifelsfällen kann aus diesem Gerüst aber keine verbindliche Vorgabe dafür entwickelt werden, wie mit dem gewöhnlichen Aufenthalt umgegangen werden soll. Man könnte den Begriff dennoch als Beispiel für die Zusammenhänge zwischen Alltags- und Rechtssprache verstehen und entsprechend von einer Konkretisierung absehen. 56 Dagegen spricht, dass sich vorhandene gesetzgeberische Konkretisierungen der Aufenthaltsanknüpfung in bestimmten Bereichen kontextbedingt mitunter deutlich von der allgemeinen Umschreibung als ÄLebensmittelpunkt³ unterscheiden. Solch eine begriffliche Emanzipation ist namentlich im Sekundärrecht der Europäischen Union zu beobachten. Der Verordnungsgeber lässt gerade in jüngeren Rechtsakten eine Neigung erkennen, den gewöhnlichen Aufenthalt je nach Verordnung unterschiedlichen Anknüpfungszwecken zuzuweisen. Während er nach Erwägungsgrund 23 zur EuErbVO im Erbrecht Äunter Berücksichtigung der spezifischen Ziele dieser Verordnung eine besonders enge und feste Bindung zu dem betreffenden Staat erkennen lassen [soll]³57, ist er gemäß Erwägungsgrund 12 zur EuEheVO in Art. 8 Abs. 1 EuEheVO Ädem Wohle des Kindes³ und Ädem Kriterium der räumlichen Nähe³ verpflichtet.58 Auch den Bedarf nach einer Konkreti55 Baetge, Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts, FS Kropholler, 2008, 77 (78 ff.). 56 Im Common Law, insbesondere dem der Vereinigten Staaten von Amerika, ist die Sensibilität für den untechnischen Wortsinn gesetzlicher Termini weitaus größer als in den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen, vgl. exemplarisch Muscarello v United States, 524 US 125; 118 S Ct 1911; 141 L Ed 2d 111; 11 Fla. L. Weekly Fed. S. 595 (1998). Im deutschen Recht kommt die Unterscheidung zwischen deskriptiven und normativen Tatbestandsmerkmalen dieser Überlegung wohl am nächsten, dient aber freilich einem anderen Zweck, nämlich der Vorsatzkonkretisierung; kritisch NKStGB/Puppe § 16 StGB Rn. 46 f. 57 ,P 2ULJLQDO Ä'HU VR EHVWLPPWH JHZ|KQOLFKH $XIHQWKDOW VROOWH XQWHU %HUFNVLFKWigung der spezifischen Ziele dieser Verordnung eine besonders enge und feste Bindung zu GHPEHWUHIIHQGHQ6WDDWHUNHQQHQODVVHQ³ 58 Ä'LH LQ GLHVHU 9HURUGQXQJ Iuȋr die elterliche Verantwortung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften wurden dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet. [...]³ 'LH %HGHXWXQJ GHV .LQGHswohls in der Praxis der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen hat jüngst auch das Eu-
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§ 1 Anliegen der Arbeit
sierung des gewöhnlichen Aufenthalts erkennt der Gesetzgeber nicht einheitlich: Im Rahmen der Überarbeitung der EuEheVO das Europäische Parlament beispielsweise mit Nachdruck auf den Bedarf hingewiesen, den Aufenthaltsbegriff im Interesse des Kindeswohls klar gesetzlich Äfestzulegen³.59 In anderen Regelungskontexten wurde der gewöhnliche Aufenthalt dagegen nicht nur diskussionslos in den Verordnungstext übernommen, 60 sondern scheint auch keine erkennbaren Anwendungsprobleme zu bereiten. Bereits dieser grobe Überblick wirft die Frage auf, ob es sich beim gewöhnlichen Aufenthalt überhaupt um einen einheitlichen Begriff handelt. Umformuliert in eine Hypothese findet sie sich durch die Formulierung der Verordnungen, aber auch durch die jüngere Rechtspraxis zu den Rom- und Brüssel-Verordnungen bestätigt. Insbesondere der Gerichtshof der Europäischen Union hat die Offenheit des gewöhnlichen Aufenthalts bislang als Freizeichnung verstanden. Er sieht nicht nur davon ab, seine Ausführungen zu Art. 8 Abs. 1 EuEheVO zu früheren Judikaten in anderen Rechtsgebieten ins Verhältnis zu setzen,61 sondern schließt auch eine wechselseitige Bezugnahme zwischen unterschiedlichen Regelungskontexten im Grundsatz aus. Unter dogmatischen wie auch rechtspraktischen Gesichtspunkten scheint die Zurückhaltung aufgrund der Sonderrolle des gewöhnlichen Aufenthalts im Rahmen der elterlichen Sorge gerechtfertigt. Allerdings schafft der Gerichtshof durch die Absage an wechselseitige Bezugnahmen zwischen den Rechtsgebieten gerade Anreize für funktionale Unionsgerichte, die eigene Rechtsprechung nicht oder nur in Grundzügen mit früheren Judikaten ins Verhältnis zu setzen.62 Außerdem lässt die Entscheidung offen, welche Gründe gegen rechtsaktübergreifende Anleihen bei der Konkretisierung des gewöhnlichen Aufenthalts sprechen. ropäische Parlament betont, Entschließung des Europäischen Parlaments vom 28.4.2016 zum Schutz des Kindeswohls in der EU auf der Grundlage der an das Europäische Parlament uȋbermittelten Petitionen (2016/2575(RSP)), P8_TA(2016) 0142. 59 S.o. Fn. 58, Nr. Ä'DV (XURSlLVFKH 3DUODPHQW [...] fordert, dass die Bezeichnung ÃJHZ|KQOLFKHU $XIHQWKDOWµ in der überarbeiteten Brüssel IIa-Verordnung klar festgelegt ZLUG³ 60 Das ist insbesondere der Fall für die Rom I- und Rom II-VO. Dazu unten § 7 A. I.±II. 61 EuGH, 2.4.2009 ± C-523/07, Rn. 36 ± A ./. Perusturvalautakunta Ä'LH 5HFKWVSUechung des Gerichtshofs zum Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts in anderen Bereichen des Rechts der Europäischen Union (vgl. u.a. Urteile vom 15. September 1994, Magdalena Fernández/Kommission, C-452/93 P, Slg. 1994, I-4295, RandNr. 22, vom 11. November 2004, Adanez-Vega, C-372/02, Slg. 2004, I-10761, Rn. 37, und vom 17. Juli 2008, Kozlowski, C-66/08, Slg. 2008, I-0000) kann nicht unmittelbar auf die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts von Kindern im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Verordnung übertraJHQZHUGHQ³(EHQVREuGH, 22.12.2010 ± C-1049/10, Rn. 45 ± Mercredi ./. Chaffe. Dazu auch Rauscher, Nur ein Not-Sitz des Rechtsverhältnisses, FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (640). Zu diesen Entscheidungen s.u. § 6 B. I.±II. 62 S.u. § 6 B. II. 1. b).
B. Zergliederung des gewöhnlichen Aufenthalts
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III. Konsequenzen Die internationalprivatrechtliche Literatur ist der beschriebenen Tendenz zur begrifflichen Zergliederung der Aufenthaltsanknüpfung bislang nicht entgegengetreten. Die institutionellen und thematischen Grenzen zwischen den Rom- und Brüssel-Verordnungen 63 werden mehrheitlich als Legitimationsgrundlage für eine sektorale Begrenzung der dogmatischen Überlegungen zur Aufenthaltsanknüpfung verwendet.64 Dieses Vorgehen hat zwei erkennbare Konsequenzen. 1. Von der Gesamtbetrachtung zur sektoralen Begriffsbildung Erstens weichen allgemeine Überlegungen zu den begrifflichen Konturen des gewöhnlichen Aufenthalts bereichsspezifischen Sonderdogmatiken. 65 Thematisiert wird allenfalls die Frage, ob der gewöhnliche Aufenthalt innerhalb geschlossener europäischer Rechtsakte unterschiedlich verstanden werden muss,66 beispielsweise in der EuErbVO 67 und der EuEheVO.68 Bereichsspezifische Überlegungen zum gewöhnlichen Aufenthalt haben den Vorteil, dass sie detailscharfe und ausdrucksstarke Aussagen über den Inhalt des Konzepts erlauben. Sie sind damit besonders wertvoll für die jeweils in Bezug genommenen Rechtsgebiete. 69 Allerdings verfestigt sich auf ihrer Grundlage der aktuell bereits erkennbare Trend zur Herausbildung einer äußerlich inkohärenten europäischen Kollisionsrechtslandschaft. Eine isolierte Analyse des gewöhnlichen Aufenthalts erschwert mithin verallgemeine63
Dörner, Der Entwurf einer europäischen Verordnung zum Internationalen Erb- und Erbverfahrensrecht ± Überblick und ausgewählte Probleme, ZEV 2010, 221, 226; Kindler, Vom Staatsangehörigkeits- zum Domizilprinzip. Das künftige Internationale Erbrecht der Europäischen Union, IPRax 2010, 44 (46), der allerdings entgegen der autonomen Natur des gewöhnlichen Aufenthalts eine Auslegung lege fori anrät. Kritisch auch Rauscher, FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (638 f.). 64 Statt vieler Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 119: Helms, Reform des internationalen Scheidungsrechts durch die Rom III-VO, FamRZ 2011, 1765 (1770); Rösler, Rechtswahlfreiheit im Internationalen Scheidungsrecht der Rom III-VO, RabelsZ 78 (2014), 155 (166). 65 Anders Baetge, FS Kropholler, 2008, 77; Weller, Der gewöhnliche Aufenthalt in einer Rom 0-Verordnung, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0-Verordnung?, 2013, 293; Hilbig-Lugani, GPR 2014, 8; Rauscher, FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (639). 66 Wie hier kritisch Rauscher, FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (642). Versuch einer rechtsaktübergreifenden Systematisierung bei Hilbig-Lugani, GPR 2014, 8. 67 Palandt/Thorn Art. 21 EuErbVO Rn. 5 f. 68 Statt vieler Saenger/Dörner Art. 3 Brüssel IIa-VO Rn. 12. 69 S. zum Beispiel Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014 (beschränkt auf die EuErbVO); Graul, Die Tendenz zur Aufenthaltsanknüpfung im Internationalen Kindschaftsrecht, 2002.
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§ 1 Anliegen der Arbeit
rungsfähige Rückschlüsse auf das Gesamtkonzept. Die bisherige wissenschaftliche Praxis im Umgang mit dem gewöhnlichen Aufenthalt steht der Herausbildung eines rechtsübergreifenden Aufenthaltsverständnisses daher ebenso entgegen wie sein Nutzen für die Steigerung der Kohärenz der RomVerordnungen und der Zusammenhalt der Rom- und Brüssel-Verordnungen schwindet. 70 Damit nicht genug: Würde man alle Differenzierungsansätze konsequent weiterverfolgen, gelangte man zum Ergebnis, dass der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts nicht nur in Abhängigkeit vom Verordnungskontext, sondern auch je nach konkretem Anwendungsfeld, ja sogar von Fall zu Fall unterschiedlich verstanden werden muss. 71 2. Von der dogmatischen Analyse zum rechtspolitischen Appell Mitunter wird die Einzelfallabhängigkeit und Dogmatisierungsfeindlichkeit des gewöhnlichen Aufenthalts schlicht als gegebene Tatsache vorausgesetzt. 72 Anstatt eines rechtsdogmatischen Lösungsweges werden dann die rechtspraktischen und konzeptionellen Probleme diskutiert, die der Wechsel zum gewöhnlichen Aufenthalt in den Rom- und Brüssel-Verordnungen nach sich ziehen könnte. 73 Diese Forderung ist vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts berechtigt, beschäftigt sich aber nicht mit der Alternative, nämlich einer allgemeinverbindlichen Systematisierung des Begriffs. 3. Kritik Die Kollisionsrechtswissenschaft reagiert mit den beschriebenen Überlegungen also nachvollziehbar auf das Auseinanderdriften unionskollisionsrechtlicher Rechtsmaterien. Ebenso ist die Entstehung paralleler Aufenthaltsdogmatiken die Konsequenz einer sektoralen Rechtssetzung, wie sie im Rahmen des Unionsrechts naturgemäß erfolgt. Gleichzeitig lässt das gemeinsame Vorgehen von Rechtssetzung, Rechtsdogmatik und Rechtsprechung aber eine bedenkliche Erosion des Aufenthaltsbegriffs erwarten. Allgemeingültige Aussagen über das Aufenthaltsverständnis im EU-Kollisionsrecht werden durch die punktuellen Vorstöße schwer bis unmöglich.74 Rechtsrealistisch lässt sich 70
Rühl/von Hein, RabelsZ 79 (2015), 702 (718 ff.) diskutieren die kohärenzfördernde Funktion der Aufenthaltsanknüpfung beispielsweise nicht. 71 So auch Rauscher, FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (642). 72 In der Tendenz EuGH ± C-523/07 ± A ./. Perusturvalautakunta, Rn. 36; EuGH ± C497/10 PPU ± Mercredi ./. Chaffe, Rn. 45. 73 So d¶Avout, Mélanges en l¶honneur Bernard Audit, 2014, 17; Rauscher, FS Jayme, Band I, 2004, 719; einen dogmatischen Vorstoß wagend aber ders., FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (641 ff.). 74 Rauscher, FS Coester-Waltjen, 2015, 637. Anders noch Baetge, FS Kropholler, 2008, 77 (89 f.); ähnlich Weller, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0-Verord-
B. Zergliederung des gewöhnlichen Aufenthalts
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prognostizieren, dass Geschwindigkeit und Reichweite dieser Entwicklung konstant zunehmen werden. Je häufiger der gewöhnliche Aufenthalt zuständigkeits- und sachrechtsbestimmend eingesetzt wird, je diverser die Rechtsmaterien werden, die er bedienen soll, und je stärker sich der Rechtssetzungstrend weg vom ÄVerordnungssystem³ der EuGVVO, der Rom I-VO und der Rom II-VO hin zu ÄPaketverordnungen³ (EuErbVO, EuGüVO, EuPartVO) entwickelt, 75 desto schmäler wird der Raum für eine einheitliche Begriffsbasis. Nur eine solche Grundlage erlaubt aber weiterführende Überlegungen zu einer abstrakten rechtsdogmatischen Differenzierung im Aufenthaltsverständnis. Zudem steht zu befürchten, dass der gewöhnliche Aufenthalt auf Dauer als Regelungsmodell überholt wird. Als Vorboten einer solchen Entwicklung mag man es verstehen, dass die Unsicherheit im Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts bereits jetzt eine Substitution durch alternative Anknüpfungen rechtfertigt, sofern ein erhöhter Bedarf nach vorhersehbaren Ergebnissen besteht.76 Diese Entwicklung wird ganz besonders an Erwägungsgrund 39 zu Art. 19 Rom I-VO deutlich. 77 Die Vorschrift bestimmt im Interesse einer rechtssicheren Gestaltung den gewöhnlichen Aufenthalt beruflich handelnder natürlicher und juristischer Personen über den Ort der Hauptniederlassung und Hauptverwaltung.78 Sie bedient sich dazu selbstständiger Anknüpfungsmomente, die zwar über eine gesetzliche Parallelisierung mit dem gewöhnlichen Aufenthalt verknüpft sind, ihn aber nicht definieren. 79 Direkte Rückschlüsse auf das verallgemeinerungsfähige Substrat des Aufenthaltsbegriffs erlaubt die gesetzliche Analogie daher ebenso wenig wie verordnungsspezifische Umschreibungs- und Strukturbildungsversuche in der Rechtsdogmatik dies vermögen.80
nung?, 2013, 293 (310), allerdings mit der Perspektive auf eine rechtsaktübergreifende Definition des gewöhnlichen Aufenthalts. 75 Gemeint sind Rechtsakte, die sowohl die internationale Zuständigkeit als auch das anwendbare Recht regeln, aber nur schwach mit anderen Verordnungstexten koordiniert sind. 76 BeckOGKBGB/Rass-Masson Art. 19 Rom I-VO Rn. 2. 77 (39): Ä$XV *Uuȋnden der Rechtssicherheit VROOWH GHU %HJULII ÃJHZ|KQOLFKHU AufentKDOWµLQsbesondere im Hinblick auf Gesellschaften, Vereine und juristische Personen, eindeutig definiert werden. Im Unterschied zu Artikel 60 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001, der drei Kriterien zur Wahl stellt, sollte sich die Kollisionsnorm auf ein einziges Kriterium beschränken, da es fuȋr die Parteien andernfalls nicht möglich wäre, vorherzuVHKHQZHOFKHV5HFKWDXILKUHQ)DOODQZHQGEDULVW³ 78 Zur Bedeutung der Begriffe in der Rom I- und Rom II-VO s. Albers, Die Begriffe der Niederlassung und der Hauptniederlassung im Internationalen Privat- und Zivilverfahrensrecht, 2010, 131, 159, 177; Baetge, FS Kropholler, 2008, 77. 79 Zu Recht BeckOGKBGB/Rass-Masson Art. 19 Rom I-VO Rn. 2. 80 BeckOGKBGB/Rass-Masson Art. 19 Rom I-VO Rn. 2 sowie unten § 6 A. II. 3. c).
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§ 1 Anliegen der Arbeit
C. Rechtsaktübergreifende Aufenthaltsdogmatik als Äwissenschaftliche Vereinbarung³ C. Rehtsaktübergreifende Aufenthaltsdogmatik
I. Frage: Diversifikation als Folge inkohärenter Kodifikation? Man könnte diesen Ausgangsbefund im Einklang mit den genannten Literaturstimmen erschöpfend in einen rechtspolitischen Appell an den Verordnungsgeber und die Mitgliedstaaten umformulieren. 81 Anstatt einer ÄAufenthaltsdogmatik³ liefert der status quo der Aufenthaltsanknüpfung ein entscheidendes Argument für eine bereits vielerorts befürwortete Gesamtkodifikation des Europäischen Kollisionsrechts. 82 Die vorliegende Abhandlung müsste sich, wollte sie diesem Argumentationsstrang folgen, mit der Frage nach den institutionellen Voraussetzungen, dem Für und Wider und der praktischen Durchsetzbarkeit einer Gesamtkodifikation auseinandersetzen. 83 Sie müsste auch untersuchen, ob und inwieweit der Vorschlag einer Rom 0-Verordnung eine diskussionsfähige Alternative zur Gesamtkodifikation darstellt. 84 Ihr Schwerpunkt läge also nicht auf den Rahmenbedingungen einer eigenständigen europäischen IPR-Dogmatik, sondern auf den institutionellen Vorbedingungen der Rechtssetzung in der Union. II. Antwort: Diversifikation als Folge fehlender Aufmerksamkeit der Rechtsdogmatik Aus dieser Bestandsaufnahme die nicht nur rechts- sondern auch rechtswissenschaftspositivistische Erkenntnis abzuleiten, Ädass es so ist wie es ist und zwar weil es so ist³,85 ist allerdings unbefriedigend. Systematisch verstärkte Kohärenzdefizite im Europäischen Kollisionsrecht sollten explizit sektoral beschränkte Untersuchungen nicht rechtfertigen, sondern müssen als Fingerzeig für die Entwicklung einer europäischen Kollisionsrechtsdogmatik verstanden werden. Ziel dieser Dogmatik muss es sein, ein die EU-Rechtsakte und dazugehörigen Regelungsebenen übergreifendes Begriffsverständnis des gewöhnlichen Aufenthalts zu entwickeln. Auch weil es an einer dogmatischen Aufarbeitung dieser Fragen bislang fehlt, wird die vorliegende Abhandlung rechtspolitische Kodifikations- und Ordnungsfragen nicht in den Mittel81
Rauscher, FS Jayme, Band I, 2004, 719 (733 ff.); d¶Avout, Mélanges en l¶honneur Bernard Audit, 2014, 17. 82 Überblick bei Rühl/von Hein, RabelsZ 79 (2015), 701 (714 f.). 83 Dazu Rühl/von Hein, RabelsZ 79 (2015), 701 (715 f.). 84 Dazu statt vieler Leible, Auf dem Weg zu einer Rom 0-Verordnung?, Plädoyer für einen Allgemeinen Teil des europäischen IPR, FS Martiny, 2014, 429; Wilke, Einführung, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0-Verordnung? 2013, 23; ders., Introduction, in: Leible (Hrsg.), General Principles of European Private International Law, 2016, 1. 85 Pointiert in einem anderen Kontext bei Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, 1995, 6.
C. Rehtsaktübergreifende Aufenthaltsdogmatik
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punkt stellen. Stattdessen wird sie den Versuch unternehmen, das Aufgabenfeld wie auch das künftige Pflichtenprogramm der Kollisionsrechtswissenschaft am Beispiel der Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt im Lichte der sekundärrechtlichen Rechtssetzung auf dem Gebiet des Kollisionsrechts neu zu justieren. Anstatt den Standpunkt eines Kommentators zu beziehen, sind Vertreter der Kollisionsrechtswissenschaft gehalten, die unzusammenhängende Rechtsmaterie im Unionsrecht durch eine wissenschaftliche Vereinbarung zu überwinden. III. Gang der Arbeit Die Arbeit baut auf dem Befund auf, dass trotz eines erkennbaren Bedeutungszuwachses des gewöhnlichen Aufenthalts noch keine Klarheit über das Verhältnis unterschiedlicher Einsatzfelder des Begriffs herrscht. Eine Klärung wird mitunter für entbehrlich, teils sogar für unmöglich gehalten: Die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts könne nur im Einzelfall erfolgen, seine Konkretisierung werde also abschließend dem erkennenden Gericht überantwortet. Die Arbeit möchte ein Alternativmodell zu dieser Passivitätsthese entwickeln, nämlich eine rechtsaktübergreifende dogmatische Typologie der unionskollisionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffe. 86 Dass die Mannigfaltigkeit der Einsatzgebiete des gewöhnlichen Aufenthalts unter Umständen eine begriffliche Abschichtung oder eine Differenzierung im Aufenthaltsverständnis erfordern kann, zweifelt sie nicht an. Ihre Frage lautet vielmehr, wann diese zulässig ist, und wie, also: nach welchen Kriterien ± und mit welchen Konsequenzen ± diese erfolgen sollte.87 Vorhandene Differenzierungsvorschläge in der Literatur werden dazu ebenso diskutiert wie neue Möglichkeiten, die im autonomen und staatsvertraglichen IPR noch nicht sachdienlich erschienen. Der gerade vorgestellte Gedanke bildet den Kern, notwendigerweise aber auch den Schluspunkt der Arbeit. Seiner Erörterung müssen Überlegungen zu Entwicklung, Struktur und Inhalt des gewöhnlichen Aufenthalts (zweiter Teil), aber auch zum Begriff, zum Stand und zum systemischen Zusammenhalt des Kollisionsrechts der Europäischen Union vorangehen (§ 2). 1. Grundlagen In einem ersten Schritt setzt sich die Arbeit mit ihren Grundlagen und Hypothesen auseinander. Das ist bereits deshalb nötig, weil dem Begriff des Europäischen Kollisionsrechts, insbesondere aber der im Titel der Arbeit ausgedrückten Annahme, dass es sich dabei um ein ÄSystem³ handelt, ein sicher nicht unbedenkliches, für die Zwecke der Arbeit aber notwendiges, spekulati86 87
S. dazu den dritten Teil der vorliegenden Arbeit. Erste Überlegungen finden sich insoweit bei Hilbig-Lugani, GPR 2014, 8.
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§ 1 Anliegen der Arbeit
ves Element innewohnt. Während die Systemhypothese nicht abschließend beantwortet werden kann, 88 wird der Begriff ÄEuropäisches Kollisionsrecht³ im ersten Teil der Arbeit historisch rekonstruiert und definiert (§ 2). Anschließend bietet die Arbeit einen Überblick über die unterschiedlichen Facetten, die die Diskussion um den gewöhnlichen Aufenthalt bislang angenommen hat (§ 3). Zunächst hält sie es für geboten, Klarheit über den konsentierten Begriffskern zu schaffen (A.). Dann geht sie der rechtspolitischen Diskussion nach, die sich seit der Übernahme des Begriffs Ägewöhnlicher Aufenthalt³ in die Rom- und Brüssel-Verordnungen entwickelt hat (B.). Die Grundannahme lautet, dass der exzessive Einsatz des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts im Europäischen IPR und im IZVR nicht per se abzulehnen ist. Anstatt das Äechte³ kollisionsrechtsdogmatische, aber auch rechtspolitische Für und Wider des Begriffs zu diskutieren, verlegt sich die Arbeit darauf, die technischen Vor- und Nachteile des gewöhnlichen Aufenthalts zu analysieren. 2. Struktur, Inhalt, Handhabung Der zweite Teil widmet sich dem Begriffsinhalt des gewöhnlichen Aufenthalts. Die dort beantwortete Frage nach dem möglichen Wortsinn ist nahezu untrennbar mit der nach dem ÄOb³ und ÄWie³ einer Differenzierung im Begriffsverständnis verbunden. Die Arbeit rekonstruiert die Entstehung und die anschließende Entwicklungsgeschichte der Aufenthaltsanknüpfung im Haager Staatsvertragsrecht (§ 4 B.), verfolgt sie aber zuvor in ihre historischen Ursprünge zurück (§ 4 A.). Anschließend greift sie die eingangs grob skizzierte Diskussion um die Begriffsstruktur und den Inhalt des gewöhnlichen Aufenthalts auf (§ 5). Einerseits wird die überkommene Bezeichnung des gewöhnlichen Aufenthalts als ÄTatsachenbegriff³ kritisch überdacht (§ 5 A.). Andererseits wird der Standpunkt bezogen, dass der Begriff entgegen einer bislang vorherrschenden Auffassung in Zweifelsfällen nicht in Ansehung der Aufenthaltsdauer bestimmt werden darf. Stattdessen bringt die Arbeit den Niederlassungswillen des Anknüpfungssubjekts in Stellung. Für diese Neujustierung der Aufenthaltsanknüpfung führt sie insbesondere an, dass ein, wie man es nennen mag, Äwillenssensitives³ Aufenthaltsverständnis nicht mehr dem konzeptionellen Einwand begegnen muss, dass die Aufenthaltsbestimmung bei Kindern und Erwachsenen unterschiedlichen Parametern folgt (§ 5 B. II. 3.). 88
Die Arbeit legt den Systembegriff von Combaçau, Le Droit International: Bric-àBrac ou Système?, Archives de Philosophie du Droit 1986, 85, zugrunde. Tatsächlich lässt sich die völkerrechtliche Kohärenzdebatte in weiten Teilen auf das europäische IPR übertragen. Dazu auch Prost, The Concept of Unity in International Law, 2012, insb. 32, 69 ff. sowie die Debatte zur Fragmentation des Völkerrechts, dazu statt vieler Peters, Fragmentation and Constitutionalization, in: Orford/Hoffmann (Hrsg.), The Oxford Handbook on the Theory of International Law, 2016, 1011.
C. Rehtsaktübergreifende Aufenthaltsdogmatik
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Die abstrakten Überlegungen werden sodann zum vorhandenen acquis (§ 6 A.) und zur Rechtsprechung des EuGH und der nationalen Gerichte in Bezug gesetzt (§ 6 B.). Die Arbeit kommt einerseits zum Schluss, dass die Rechtspraxis die im Vorfeld angestellten Überlegungen im Ergebnis nicht relativiert. Andererseits stellt sie fest, dass der derzeitige Bestand an Rechtsprechung zum gewöhnlichen Aufenthalt zahlreiche Fragen offenlässt. Die Arbeit gleicht das Defizit aus, indem sie ihre eigenen Überlegungen zur B egriffsnatur und zum Inhalt des gewöhnlichen Aufenthalts als unbestätigte Arbeitshypothesen verwendet. Ob diese sich als zutreffend erweisen, kann nur die weitere Rechtsentwicklung zeigen. 3. Differenzierungsmöglichkeiten und eigene Lösung Im dritten Teil untersucht die Arbeit mögliche Kriterien für eine Differenzierung im Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts. Damit möchte sie einerseits den vorhandenen Bedarf nach einer transparenten Abschichtung stillen, andererseits aber die überwiegend im nationalen IPR entwickelten dogmatischen Überlegungen zum gewöhnlichen Aufenthalt an die europäische Harmonisierung anpassen. Die Arbeit schafft dazu zunächst einen groben Überblick über die unterschiedlichen Einsatzgebiete, in denen der gewöhnliche Aufenthalt zur Anwendung kommt. Sie thematisiert hier auch die Funktionen, die er in den jeweiligen Regelungszusammenhängen erfüllt (§ 7). Die Analyse ist dabei bewusst nicht auf das IPR und IZVR der Europäischen Union beschränkt, sondern schließt historisch bewährtere Einsatzgebiete der Aufenthaltsanknüpfung wie das Internationale Sozialrecht ein. In einem zweiten Schritt schichtet die Arbeit unterschiedliche Differenzierungsmöglichkeiten im Aufenthaltsverständnis ab (§ 8), in einem dritten Schritt diskutiert sie diese selbstständig und setzt sie mit dem EU-IPR in Bezug (§ 9). Die Arbeit orientiert sich teilweise an vorhandenen Vorschlägen, die unter anderem für das Haager Staatsvertragsrecht und das autonome IPR formuliert wurden, entwickelt in Ansehung der besonderen Normstruktur und der Systematik des Europäischen IPR aber auch neue Differenzierungsmöglichkeiten. Abschließend skizziert die Arbeit grob einen selbstständigen Differenzierungsansatz für den Umgang mit dem gewöhnlichen Aufenthalt (§ 10). Der Vorschlag orientiert sich an der Reichweite der Rechtswahlmöglichkeiten die der Gesetzgeber dem gewöhnlichen Aufenthalt in den einzelnen EURechtsakten zur Seite gestellt hat, und entwickelt auf dieser Grundlage einen differenzierten Prüfungsmaßstab. Die Legitimationsgrundlage für die rechtswahlakzessorische Differenzierung entwickelt die Arbeit aus dem Befund zum systematischen Verhältnis der Rechtswahltatbestände zum gewöhnlichen Aufenthalt. Auch die Gesamtsystematik der Rom-Verordnungen und der freilich nur schemenhaft erkennbare Wille des europäischen Gesetzgebers werden berücksichtigt. Schließlich werden pragmatische und rechtspraktische
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§ 1 Anliegen der Arbeit
Erwägungen einbezogen, die die regelungssystematischen Hypothesen bestätigen. Überlegungen zum Verhältnis wie zur gemeinsamen oder unterschiedlichen Wertungsgrundlage von Rechtswahl und gewöhnlichem Aufenthalt klammert die Arbeit absichtlich aus.89 Die Grundannahme des letzten Arbeitsschritts lautet, dass der Gesetzgeber durch die Gestaltung einer Rechtswahlbestimmung seinen Willen darüber zum Ausdruck bringt, wie er das Verhältnis von autonomer Statutengestaltung durch die Parteien und traditionell-autoritativer Bestimmung des anwendbaren Rechts verstanden wissen will. Mit anderen Worten fußt das hier vorgestellte Differenzierungsmodell auf der Hypothese, dass eine Rechtswahlbestimmung darüber Auskunft gibt, inwieweit der Gesetzgeber das anwendbare Recht durch staatliche Stellen bestimmt wissen will. Die unionskollisionsrechtliche lex lata liefert in der Gestaltung von Rechtswahlvorschriften keineswegs ein einheitliches Bild. Im Vertragsrecht wird die Frage nach dem anwendbaren Recht beinahe vollumfänglich den Parteien überantwortet. Hinzukommt, dass der gewöhnliche Aufenthalt einer Person für den Vertragspartner erkennbar sein muss. Innere Vorbehalte und Zukunftspläne, die sich nicht in äußerlich fassbaren Umständen realisiert haben, können d aher keine Beachtung finden. In anderen Sachzusammenhängen wird die Frage nach dem anwendbaren Recht dagegen zwingend einem rechtserkennenden Spruchkörper überantwortet. Das gilt einerseits für die Bestimmung des anwendbaren Rechts in Art. 16 Abs. 1 KSÜ, andererseits aber auch für die Anknüpfung an den letzten gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers in Art. 21 Abs. 1 EuErbVO. Auf der Grundlage dieser Überlegung spricht sich die Arbeit dafür aus, die Reichweite einer Rechtswahlbestimmung als Gradmesser für eine Differenzierung zwischen unterschiedlichen objektiven Aufenthaltsanknüpfungen zu verstehen (§ 10 A. II.). Den wesentlichen Grund für diese Annahme erkennt sie darin, dass zwischen dem Spielraum der Parteien im Rahmen einer Rechtswahl und dem Prüfungsmaßstab bei der Aufenthaltsermittlung eine regelungssystematische Sinneinheit besteht (§ 10 C. I. 2., II.). Wie viel Freiraum der Gesetzgeber den Parteien bei der räumlichen Zuordnung eines Rechtsverhältnisses zugesteht und welche Anforderungen er an die selbstbestimmte Niederlassung einer Person stellt, muss, anders formuliert, als Teil einer einheitlichen gesetzgeberischen Entscheidung verstanden werden. Ersteres schlägt sich in der Gestaltung einer Rechtswahlbestimmung, Letzteres im Prüfungsmaßstab nieder, der bei der Konkretisierung der Aufenthaltsanknüpfung hilft. Die Abschichtung im Prüfungsmaßstab erscheint auch aus einer rechtspraktischen Überlegung heraus geboten: Je weiter die Freiheit reicht, die den Parteien beim Abschluss und bei der Ausgestaltung einer 89
Dazu aber Weller, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0-Verordnung?, 2013, 293 (314).
D. Eingrenzung des Arbeitsgegenstandes
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Rechtswahl zugestanden wird, desto geringer ist die Legitimation einer autoritativen richterlichen Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts. Der Vorschlag wird nur für die verweisungsrechtlichen Vorschriften des Europäischen IPR verbindlich formuliert. Die hier vorgeschlagene Abschichtung erweist sich ex ante gegenüber alternativen Differenzierungsmöglichkeiten, aber auch gegenüber einer vollständigen Abkehr von der dogmatischen Erfassung des gewöhnlichen Aufenthalts von Vorteil: Auf ihrer Grundlage folgt die Begriffsbildung im Einzelfall einer transparent an der lex lata entlang nachvollziehbaren Skala, anstatt zusammenhanglos durch normativ verbrämte Erklärungsmuster rechtsrealistisch zu beobachtende Diversifikations- und Fragmentationstendenzen in sich aufzunehmen. Umgekehrt kann so auch der gewöhnliche Aufenthalt einen Beitrag dazu leisten, dass das vorstehend skizzierte Kohärenzdefizit im Europäischen IPR langfristig auf dem rechtspraktischen Weg überwunden wird. Ein weiterer Vorteil liegt darin, dass die Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers bei der Schaffung einer Rechtswahlvorschrift weitaus nuancierter sind als bei der Kodifikation einer objektiven Anknüpfung. Die Richtigkeitsgewähr eines Abstellens auf Inhalt und Reichweite einer Rechtswahlmöglichkeit ist damit höher als bei einer Differenzierung, die systematische Erwägungen nicht oder nur am Rande einbezieht. Eine rechtswahlakzessorische Abschichtung im Aufenthaltsverständnis verspricht also belastbarere und weniger spekulative Ergebnisse als selbsttragende Differenzierungsvorschläge, wie sie bislang mitunter für das autonome IPR entwickelt wurden.
D. Eingrenzung des Arbeitsgegenstandes D. Eingrenzung des Arbeitsgegenstandes Mit dem Vorhaben einer rechtsaktübergreifenden Dogmatik für den gewöhnlichen Aufenthalt setzt sich die vorliegende Arbeit das Ziel, sämtliche Romund Brüssel-Verordnungen der Union im Hinblick auf die in ihnen enthaltenen Aufenthaltsanknüpfungen zu untersuchen. Dieser breite Arbeitsgegenstand kommt nicht ohne unbestätigte Grundannahmen aus; auch macht er thematische Einschränkungen erforderlich. Die erste Grundannahme der Arbeit lautet, dass sich die neu geschaffenen Vorschriften des Europäischen IPR ebenso wie ihre nationalen Vorgänger als System verstehen und durch Mechanismen der Systembildung koordinieren lassen. Die wichtigste Konsequenz dieser Annahme lautet, dass das Europäische IPR sich durch die Mittel der Rechtsdogmatik erkunden und erschließen lässt. Eine zweite, daran anschließende Grundannahme lautet, dass es der Rechtswissenschaft obliegt, dieses System zu identifizieren und seine Eck-
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§ 1 Anliegen der Arbeit
pfeiler zu benennen. 90 Die Systemhypothese erschöpft sich in der Annahme der Voraussetzungen einer rechtsdogmatischen Aufarbeitung. Sie formuliert weder einen rechtspolitischen Gestaltungsauftrag, noch rät sie eine Gesamtkodifikation des europäischen IPR an.91 Thematisch müssen zuerst Fragen, die das Europäische Kollisionsrecht insgesamt betreffen, aus der Bearbeitung ausgeschlossen werden. Die praktisch zunehmend relevante Frage nach den Besonderheiten der Aufenthaltsanknüpfung bei Geflüchteten werden nicht selbstständig thematisiert, ebensowenig wie die Frage, inwieweit der gewöhnliche Aufenthalt und die unionsprimärrechtliche Pflicht zur Rechtslagenanerkennung zusammenhängen. Der gewöhnliche Aufenthalt beruflich handelnder und juristischer Personen sowie die Bezüge dieser Anwendungsfelder zum Unionsprimärrecht werden ebenfalls nicht eigenständig gewürdigt. Auch innerhalb dieser absoluten Schranken werden weitere, kapazitäts- und praktikabilitätsbedingte Einschränkungen nötig. I. Kapazitätsbedingte Abschichtung Ein erstes Kapazitätsproblem ergibt sich daraus, dass der gewöhnliche Aufenthalt im kollisionsrechtlichen Unionssekundärrecht sowohl zur Bestimmung der internationalen Zuständigkeit als auch zur Ermittlung des anwendbaren Rechts verwendet wird. Die Analyse sämtlicher Einsatzgebiete der Aufenthaltsanknüpfung führt damit in zwei sich zunehmend überlappende, aber nach wie vor von unterschiedlichen Rationalen getragene Anwendungsfelder.92 Zweitens sind die Einsatzgebiete des gewöhnlichen Aufenthalts nicht auf das Europäische Kollisionsrecht beschränkt. Nicht nur das Haager Staatsvertragsrecht, sondern auch das Internationale Einheitsrecht sowie zahlreiche nicht kollisionsrechtliche Sekundärrechtsakte der Union greifen zur Bestimmung des anwendbaren Rechts auf die Aufenthaltsanknüpfung zurück. Hinzutreten, jenseits des Anwendungsbereichs der Rom- und BrüsselVerordnungen, nationale IPR-Gesetze, in vielen Fällen aber auch Bestimmungen des nationalen Steuer- und Sozialrechts. Eine umfassende Auswertung nicht nur dieser Fülle an Normen, sondern auch der dazu ergangenen Rechtsprechung und Rahmendogmatik, kann die vorliegende Abhandlung nicht leisten. Ebensowenig kann eine pauschale Beschränkung des Arbeitsgegenstandes das Problem beheben, das die Arbeit motiviert. Entsprechend muss sich die Arbeit um eine Alternative zur thematischen Einschränkung 90 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Auflage 1983, 12, m.Verw. auf Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Band I, 1840, 46, sieht in der ÄYRQ LKU YRUDXVJHVHW]WHQ LPPDQHQWHQ (LQKHLW³ GHV 5HFKWV eine Grundannahme der Rechtswissenschaft. 91 Zu diesen Alternativen s.u. § 2 D. II. 4. 92 S. dazu unten § 9 B. II. 3.
D. Eingrenzung des Arbeitsgegenstandes
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bemühen. Sie wählt daher einen abgeschichteten Untersuchungsmaßstab. Das Hauptaugenmerk der Untersuchung ruht auf dem verweisungsrechtlichen Internationalen Privatrecht der Europäischen Union. Hier bemüht sich die Arbeit nicht nur um eine vollumfängliche historische Rekonstruktion der Aufenthaltsanknüpfung, sondern auch um eine umfassende Darstellung des aktuellen Normbestandes. Das internationale Zivilverfahrensrecht wird nur insoweit behandelt, als dies für die Arbeit nötig ist. Hier verbietet sowohl die strukturelle Entwicklung des Europäischen Kollisionsrechts als auch die Funktion der Aufenthaltsanknüpfung, dass das IZVR als Arbeitsgegenstand vollständig aus der Betrachtung ausgegrenzt wird. In jüngerer Vergangenheit lässt sich insbesondere ein Trend zur Verabschiedung von ÄPaketverordnungen³ beobachten, die sowohl die internationale Zuständigkeit als auch das anwendbare Recht vollumfänglich regeln. Wo dies nicht der Fall ist, kommt der gewöhnliche Aufenthalt sowohl im Rahmen der internationalen Zuständigkeit als auch auf Ebene des anwendbaren Rechts zum Einsatz und sorgt so für einen gesteuerten, wenn auch nicht vollständigen Gleichlauf von forum und ius.93 Würde die Arbeit bereits thematisch zwischen dem zuständigkeitsbestimmenden und dem internationalprivatrechtlichen gewöhnlichen Aufenthalt unterscheiden, würde sie vorgreifend voraussetzen, dass es sich dabei um zwei unterschiedliche Begriffe handelt und Rückschlüsse vom einen auf das andere Gebiet nicht zulässig, aber auch nicht möglich sind. Eine zivilprozessual fundierte Analyse der Aufenthaltsanknüpfung kann die Arbeit aber aus Kapazitätsgründen nicht leisten. 94 Sie wird dem internationalen Zivilprozessrecht der Europäischen Union daher nur insoweit Beachtung schenken, wie dies für die internationalprivatrechtliche Zielsetzung der Arbeit unbedingt nötig ist. Insbesondere die Frage nach dem Zusammenhang zwischen doppelrelevanten Tatsachen und der Aufenthaltsbestimmung im Rahmen von internationaler Zuständigkeit und anwendbarem Recht muss sie aber unbearbeitet lassen.95 93
Als Trend zur lex fori möchte Weller, Die lex personalis im 21. Jahrhundert: Paradigmenwechsel von der lex patriae zur lex fori, FS Coester-Waltjen, 2015, 897 (908 ff.) diese Entwicklung lesen. 94 Dass solch eine Untersuchung wichtige Erkenntnisfortschritte verspricht, soll nicht abgestritten werden. Einerseits erscheint es vielversprechend, die Spezifika der Beweislast im Rahmen der internationalen Zuständigkeit und des anwendbaren Rechts in ihren Auswirkungen auf den gewöhnlichen Aufenthalt zu erörtern; andererseits erscheint es sogar angebracht, den Konnex zwischen zuständigkeitsbestimmendem und sachrechtsbestimmendem gewöhnlichen Aufenthalt mit Hilfe prozessrechtlicher Institute zu überprüfen. Die internationalprivatrechtliche Zielsetzung der Arbeit erfordert insoweit aber zwingend eine Einschränkung des Arbeitsgegenstandes. 95 Die Verfasserin ist sich des Risikos bewusst, dass diese Abschichtung im Prüfungsmaßstab Spezifika des randseitig beleuchteten Rechtsgebiets vernachlässigen kann. Sie schätzt das Fehlerrisiko einer Abschichtung in der Dichte der Betrachtung aber geringer ein, als es bei einer Beschränkung des Arbeitsgegenstandes der Fall wäre.
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§ 1 Anliegen der Arbeit
Eine weitere Eingrenzung ist in Ansehung der beachtlichen Zahl der Einsatzfelder des gewöhnlichen Aufenthalts außerhalb des Internationalen Privatrechts geboten. Bereits der oberflächliche Überblick hat gezeigt, dass der Begriff nicht nur auf unterschiedlichen Regelungsebenen sondern in den unterschiedlichsten Regelungszusammenhängen innerhalb und außerhalb des verweisungsrechtlichen Internationalen Privatrechts zum Einsatz kommt. Die Arbeit muss auch hier eine Einschränkung vornehmen. Sie wird die einschlägige Rechtsprechung, aber auch die dogmatische Diskussion um den gewöhnlichen Aufenthalt jenseits des Europäischen Kollisionsrechts nur aufgreifen, wenn diese ± sei es durch entsprechende Judikate der Europäischen Gerichte, sei es durch vorangegangene dogmatische Abhandlungen ± einen erkennbaren Bezug zum internationalprivatrechtlichen Aufenthaltsbegriff aufweisen. Diese Vorabselektion erklärt auch die Auswahl an Judikaten zum gewöhnlichen Aufenthalt im zweiten Teil der Arbeit. Während der Gerichtshof der Europäischen Union selbstständig auf frühere Entscheidungen zum Internationalen Sozialrecht Bezug nimmt, wird Aufenthaltsbegriff des EUEinheitsprozessrechts, des Internationalen Einheitsrechts und auch der EuInsVO bei der Analyse einschlägiger Rechtsprechung keine Berücksichtigung erfahren. 96 Schließlich wird sich die Arbeit ± die Ausführungen zur EuGVVO ausgenommen ± im Hinblick auf das internationale Zivilprozessrecht auf die gerichtsstands- und sachrechtsbestimmenden Vorschriften konzentrieren, in denen der gewöhnliche Aufenthalt zur Anwendung kommt. Von Aussagen und Prognosen zum Anwendungsbereich, zur Systematik und zur Zukunft einzelner Sekundärrechtsakte wird sie dagegen bewusst absehen. 97 Ein dritter Vorbehalt ist im Hinblick auf den konzeptionellen Partner des gewöhnlichen Aufenthalts, die Rechtswahl, angebracht. Die Arbeit wird sich auf jüngere Abhandlungen zur Systematik der Parteiautonomie im Unionssekundärrecht beziehen; von selbstständigen Nachforschungen und Überlegungen zu den technischen, aber auch von einer kritischen Infragestellung der theoretischen Grundlagen der Rechtswahl wird sie dagegen absehen. Diese Einschränkung wird durch das Ziel der Arbeit gerechtfertigt. Es lautet, den gewöhnlichen Aufenthalt an die laufende, zunehmend an Facetten gewinnende Debatte zur Rechtswahl anzuschließen. Ob und wie sich einzelne Fragen der Diskussion um die Legitimationsgrundlage und die konkrete Gestaltung der Rechtswahl beantworten lassen, muss dazu nicht diskutiert werden.
96
Dazu aber unten § 6 A II. 4., § 6 B I., § 7 C±F. Insbesondere die Auswirkungen eines anstehenden Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union auf die Rom I-VO, Rom II-VO und die EuGVVO lassen sich zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht absehen. Von Überlegungen zu diesem Thema wird die Arbeit absehen. 97
D. Eingrenzung des Arbeitsgegenstandes
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II. Praktikabilitätsbedingte Einschränkungen Neben die kapazitätsbedingten Einschränkungen gesellen sich praktikabilitätsbedingte Vorbehalte. Zunächst ist die Einordnung der Probleme des gewöhnlichen Aufenthalts als solche des materiellen oder des Zivilverfahrensrechts ex ante nicht einfach. In der Haager Konferenz wurde der Begriff als ÄTatsachenfrage³98 gehandhabt und diskutiert; die Umschreibung als Äfaktischer Wohnsitz³,99 die sich in der Bundesrepublik etabliert hat, lässt sich ähnlich deuten.100 Vor diesem Hintergrund scheint die Annahme berechtigt, dass bislang materiellrechtlich diskutierte Probleme des gewöhnlichen Aufenthalts sich durch die Besonderheiten der unterschiedlichen Erkenntnisverfahren erklären lassen, in denen das Anknüpfungsmoment thematisiert wird. Dass nicht abschließend geklärt werden kann, welche Perspektive auf den gewöhnlichen Aufenthalt die richtige ist, spricht daher zunächst dafür, beide Sichtweisen gleichberechtigt einzubeziehen. Die vorliegende Arbeit wird sich trotzdem ausschließlich auf die materiellrechtliche Handhabung der Aufenthaltsanknüpfung konzentrieren. 101 Erstens sind die prozessualen Implikationen in der Aufenthaltsfeststellung nicht nur zahlreich und schwer zu überblicken, sondern führen mitunter auch weit vom Gegenstand der vorliegenden Arbeit weg. Das gilt insbesondere für die praxisrelevante Frage, ob und inwieweit Gerichte bei der Auswertung der aufenthaltsrelevanten Tatsachen die Feststellungen anderer Spruchkörper als Präjudizien berücksichtigen müssen.102 Um diese Interdependenzen zu überprüfen, müsste die Arbeit zunächst offene Fragen der Urteils-, Tatbestands- und Rechtslagenanerkennung im Europäischen IPR und IZVR erörtern. Insoweit muss auf benachbarte Monographien verwiesen werden. 103 Ferner ist der Stellenwert des Europäischen Kol98 Actes et Doc. 1956-,, Ä,O \ D OLHX GH PHQWLRQQHU TXH OH WHUPH UpVLGHQFH KDEituelle représente exclusivement une notion de fait; par conséquent, il n¶a rien à voir avec le domicile légal de l¶HQIDQW³ 99 BGH ± IVb ZB 586/80 ± BGHZ 78, 293 (295). 100 So die Deutung bei Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, 79. In jüngerer Vergangenheit lässt sich allerdings ein Stimmungswechsel in der Literatur erkennen. Eine andere Deutung des Meinungsstandes findet sich ibid. 101 Für den prozessualen Aspekt der Beweislastverteilung bei der Aufenthaltsfeststellung s. Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, 77 ff. 102 'HQNEDUZlUHVROFKHLQH$UWÄ3UlMXGL]LHQZLUNXQJ³IUHLOLFKLQVEHVRQGHUHLP5DKPHQ der EuEheVO, wo sich ein Bedarf erkennen lässt, die Verfahren zur elterlichen Sorge mit parallelen Rechtsbehelfen auf dem Gebiet des Kinderschutzes zu koordinieren, aber auch im Verhältnis zwischen sozialrechtlichen, steuerrechtlichen und internationalprivatrechtlichen Entscheidungen. Erste Überlegungen zum ersten Aspekt bei Weller/Rentsch, Urteilsanerkennung im internationalen Sorgerecht: Regelungsebenen der EuEheVO gegen Wertungsebenen des ordre public, IPRax 2017, 262. 103 S. einmal mehr Mansel, RabelsZ 70 (2006), 651 (687 ff.); Funken, Das Anerkennungsprinzip, 2009, 217 ff.; Leifeld, Das Anerkennungsprinzip im Kollisionsrechtssystem, 2010, 181 ff.; Rieks, Anerkennung im Internationalen Privatrecht, 2012, 79 ff.
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§ 1 Anliegen der Arbeit
lisionsrechts und des ausländischen Rechts im Zivilverfahren nicht abschließend geklärt.104 Die prozessrechtlich fundierte Analyse eines materiellrechtlich bereits unklaren Begriffs müsste hier also mit Hypothesen arbeiten. 105 Schließlich ist die Beweiserhebung und -würdigung nur teilweise unionsrechtlich harmonisiert. 106 Selbst dort, wo eine Harmonisierung stattgefunden hat, wird dem nationalen Gesetzgeber, insbesondere aber dem erkennenden Gericht, ein beachtlicher Spielraum gelassen. 107 Im Ergebnis hinge der Ausgang einer verfahrensrechtlich fundierten Analyse der Aufenthaltsanknüpfung im EuIPR und EuIZVR daher entscheidend davon ab, welchem Maßstab und welchen Grundsätzen die Beweiswürdigung folgt. Jedenfalls im deutschen Recht bildet diese Frage ebenso wie die nach der Reformbedürftigkeit des Beweisrechts den Gegenstand einer laufenden akademischen Diskussion. 108 Die Entwicklungen zu diesem Fragenkomplex sind zu begrüßen, erschweren aber allgemeingültige Aussagen zum Thema, die man der Arbeit als Hypothesen voranstellen könnte. Ein letztes, freilich keineswegs zwingendes Argument gegen eine ausschließlich verfahrensrechtliche Rekonstruktion des gewöhnlichen Aufenthalts lässt sich aus dem Grundsatz der Verfahrensautono104
Stellungnahme bei Trautmann, Europäisches Kollisionsrecht und ausländisches Recht im Zivilverfahren, 2011; a.A. Flessner, Das Parteiinteresse an der lex fori im Europäischen Kollisionsrecht, FS Pintens, 2012, 593. 105 Ein klarer Fall liegt nur vor, wenn der gewöhnliche Aufenthalt ± wie in der EuErbVO ± sowohl zur Bestimmung der internationalen Zuständigkeit als auch zur Ermittlung des anwendbaren Rechts eingesetzt wird und beide Anknüpfungen einen identischen Zeitpunkt für maßgeblich erklären. Ein fakultativer Charakter des Europäischen IPR würde hier dazu führen, dass sich die verweisungsrechtliche Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt in einem Verweis in die lex fori erschöpft. Eine allgemeine Tendenz möchte Weller, FS Coester-Waltjen, 2015, 897 (907 ff.), zwar im Europäischen Kollisionsrecht insgesamt erkennen; als Hypothese ist die Alternativität von zwingendem und fakultativem Kollisionsrechts für einen prozessualen Blick auf die Aufenthaltsanknüpfung aber derart grundlegend, dass sich eine umfassende verfahrensrechtliche Analyse ohne eine verbindl iche Klärung der obenstehenden Frage verbietet. 106 Art. 1 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28.5.2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen; Art. 9 Abs. 1 VO (EG) Nr. 861/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.7.2007 zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen sind auf Fälle grenzüberschreitender Ansuchung um Beweiserhebung oder -aufnahme beschränkt. Für diesen Hinweis danke ich Herrn Prof. Dr. Christoph Kern, LL.M. (Harvard), Heidelberg. Ausführlicher zu den weiteren unionsprimärrechtlichen Vorgaben an die Beweisführung Ahrens, Der Beweis im Zivilprozess, 2015, Rn. 105, 24 f. 107 Art. 9 Abs. 1 VO Nr. 861/2007: Ä'DV *HULFKW EHVWLPPW GLH %HZHLVPLWWHO XQG GHQ Umfang der Beweisaufnahme, die im Rahmen der für die Zulässigkeit von Beweisen geltenden Bestimmungen für sein Urteil erforderliFKVLQG³ 108 Grundlegend zu beiden Begriffen Schweizer, Beweiswürdigung und Beweismaß, 2015, 13 ff.
D. Eingrenzung des Arbeitsgegenstandes
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mie der Mitgliedstaaten gewinnen. Art. 291 Abs. 1 AEUV weist die Pflicht, die zur Durchführung eines verbindlichen EU-Rechtsaktes erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, ausschließlich den Mitgliedstaaten zu. 109 Die Verträge respektieren damit die in entsprechenden Protokollen verstetigten unionsrechtlichen Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, Art. 5 EUV.110 Als Auslegungsmaßstab fungiert der Grundsatz mitgliedstaatlicher Verfahrensautonomie. Er schafft eine Vermutung, wonach die dogmatischen Probleme des gewöhnlichen Aufenthalts so weit als möglich mit Hilfe unionsrechtlicher materiellrechtlicher Mechanismen zu lösen sind. Andernfalls müssten Gerichte im Erkenntnisverfahren unterschiedliche Verfahrensanforderungen beachten, je nachdem ob sie funktional als Unionsgerichte oder als nationale Spruchkörper handeln. Auf Grundlage der genannten Überlegungen formuliert die Arbeit die folgenden Einschränkungen: Erstens arbeitet sie mit einem eingeschränkten Prüfungsmaßstab, sofern der gewöhnliche Aufenthalt in Rechtsmaterien außerhalb des Europäischen IPR im engeren Sinne zur Sprache kommt. Zweitens beziehen sich sämtliche Aussagen der Arbeit auf die materiellrechtlichen Fragen des gewöhnlichen Aufenthalts. Aspekte der Aufenthaltsfeststellung im Erkenntnisverfahren sowie der Koordination von Parallelverfahren müssen unberücksichtigt bleiben.
109 Ä(1) Die Mitgliedstaaten ergreifen alle zur Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union erforderlichen Maßnahmen nach innerstaatlichem Recht. (2) Bedarf es einheitlicher Bedingungen für die Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union, so werden mit diesen Rechtsakten der Kommission oder, in entsprechend begründeten Sonderfällen und in den in den Art. 24 und 26 des Vertrags über die Europäische Union vorgesehenen Fällen, dem Rat Durchführungsbefugnisse übertragen.³ 110 Ursprünglich ABl. 1997 C-340/1 seit dem Vertrag von Lissabon ABl. 1997 C83/206. Skeptisch gegenüber dem prinzipiellen Gehalt des Art. 291 AEUV Grabitz/Hilf/Nettesheim Art. 291 AEUV Rn. 5; positiv dagegen Streinz/Gellermann Art. 291 AUEV Rn. 3. Unabhängig von Art. 291 AEUV handelt es sich beim Grundsatz der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie um ein wesentlich grundlegenderes Prinzip, das sich im Rahmen der Grundfreiheiten entwickelt hat. Die Durchsetzung von Unionsprimärrecht obliegt danach ausschließlich den Mitgliedstaaten, die in der Anwendung ihres nationalen Verfahrensrechts den Grundsätzen der Äquivalenz und Effektivität verpflichtet sind. S. dazu EuGH, 16.12.1976 ± C-33/76, Rn. 5 ± Rewe ± Slg. 1976, 1989; EuGH, 16.12.1976 ± C-45/76, Rn. 17, 18 ± Comet; EuGH, 27.3.1980 ± C-61/79, Rn. 23 ± Denkavit italiana ± Slg. 1980, 1205; EuGH, 25.7.1991 ± C-208/90, Rn. 16 ± Emmott; EuGH, 10.7.1997 ± C-261/95, Rn. 28 ± Palmisani ± Slg. 1997, I-4025; EuGH, 17.7.1997 ± C90/94, Rn. 28 ± Haahr Petroleum; EuGH, 24.9.2002 ± C-255/00, Rn. 34 ±Grundig Italiana ± Slg 2002, I-8003; EuGH, 2.12.1997 ± C-188/95, Rn. 45 ± Fantask ± Slg. 1997, I-6783; EuGH, 13.1.2004 ± C-453/00, Rn. 24 ± Kühne und Heitz ± Slg. 2004, I-837; EuGH, 19.9.2006 ± C-392/04, Rn. 57 ± I 21 Germany ± Slg. 2006, I-8559; EuGH, 24.4.2008 ± C55/06 ± Arcor Deutschland ± NJW 2008, 2324; EuGH, 17.2.2008 ± C-2/06 ± Kempter ± HFR 2008, 521.
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§ 1 Anliegen der Arbeit
E. Thesen E. Thesen 1. Der Entstehung übereinstimmender Kollisionsnormen kommt im Internationalen Privatrecht Savigny¶scher Prägung eine axiomatische Bedeutung zu. Mit der Europäischen Union wird die Kompetenz zu einer darüber weit hinausgehenden Schaffung einheitlicher Normen erstmalig einer supranationalen Organisation übertragen, die aber ihrer systembedingten Begrenztheit wegen durch eine dogmatische Rahmensetzung ergänzt werden muss. 2. Die Rom-Verordnungen lassen eine zweigliedrige Struktur der Anknüpfungsmomente erkennen. Neben die Möglichkeit einer parteiautonomen Verfügung über das anwendbare Recht durch Rechtswahl tritt eine objektive Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt. 3. Der gewöhnliche Aufenthalt ist bislang trotz punktueller Vorstöße sowohl konzeptionell als auch inhaltlich kaum erschlossen. 4. Sektorale Abhandlungen zum Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts sind ihres Detailreichtums wegen verdienstvoll, gefährden aber die rechtsaktübergreifende Kohärenz in der Begriffsbildung und lassen bereichsspezifische Sonderdogmatiken entstehen. Entsprechend besteht Bedarf für eine allgemeinverbindliche dogmatische Aufarbeitung und Systematisierung. 5. Eine rechtsaktübergreifende Systematik des gewöhnlichen Aufenthalts muss als wissenschaftliche Vereinbarung verstanden werden. Sie leistet nicht nur einen notwendigen Beitrag zur Kohärenz des Europäischen Kollisionsrechts, sondern setzt auch das dem IPR eigentümliche Anliegen einer möglichst vollständigen Vereinheitlichung des Verweisungsrechts um.
§ 2 ÄEuropäisches Kollisionsrecht³ § 2 ÄEuropäisches Kollisionsrecht³
A. Mögliche Arbeitsdefinitionen A. Mögliche Arbeitsdefinitionen In ihrer Grundlegung hat die vorliegende Arbeit auf die Interdependenz ihres Gegenstandes mit dem thematischen Rahmen, dem ÄEuropäischen Kollisionsrecht³, hingewiesen. 1 Worin das definiens des ÄEuropäischen Kollisionsrechts³ liegt, wurde dabei ebenso offengelassen wie die Frage, wodurch sich ÄEuropäisches Kollisionsrecht³ von anderen Kollisionsordnungen unterscheiden soll.2 Europäisches Kollisionsrecht ist Kollisionsrecht europäischen Ursprungs. Funktional definiert 3 beschreibt Kollisionsrecht die Gesamtheit der Normen, deren Inhalt sich darauf beschränkt, über die Anwendbarkeit anderer Normen zu entscheiden. 4 Kollisionsrecht als Synonym zu Internationalem Privatrecht ist insofern weiter, als es auch die Regeln über die internationale Zuständigkeit umfasst und insofern enger, als es nur diejenigen Vorschriften bezeichnet, die nach räumlichen Parametern über die Anwendbarkeit einer Sachnorm entscheiden. 5 Internationales Privatrecht Äim engeren Sinne³ steht dagegen für diejenigen Rechtsnormen, die das auf einen Sachverhalt an-
1
S.o. § 1 B. I., § 1 C. I. Brödermann, Quelle und Schranke, 1994, Rn. 48 ff.; zum allgemeinen Bedarf einer Neudefinition des IPR auch Kuipers, EU Law and Private International Law, 2011, 2 f.; mit ähnlichem Ausgangsbefund, aber für das klassische Verweisungsrecht argumentiert bereits Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, 102. 3 Dazu Kegel/Schurig, IPR, § 1 II Ä,QWHUQDWLRQDOHV3ULYDWUHFKWLVWGLHGesamtheit der Rechtssätze, die sagen, welchen Staates Privatrecht anzuwenden ist³+HUYGVerf.); ähnlich von Bar/Mankowski, IPR I, § 1 Rn. 1. Den Gegensatz bilden gegenstandsbezogene Umschreibungen wie Art. 3 Abs. 1 EGBGB (dazu von Bar/Mankowski, IPR I, § 1 Rn. 2). Kropholler, IPR, 6. Auflage 2006, § 1 I EH]HLFKQHW,35DOVÄ[...] Recht für solche privatrechtlichen Sachverhalte, die über den räumlichen Geltungsbereich einer einzelnen natioQDOHQ5HFKWVRUGQXQJKLQDXVUHLFKHQ³Ehrenzweig&RQIOLFWRI/DZVPHLQWÄ7KH law of Conflict of Laws is usually described, though not defined, as the body of rules dealing with the effect of IRUHLJQ µFRQWDFWV¶ RQ WKH GHFLVLRQ RI D FLYLO FDVH³ Wie hier, also funktionsbezogen, sieht es Brödermann, Europäisches Gemeinschaftsrecht als Quelle und Schranke des Internationalen Privatrechts, in: ders./Iversen (Hrsg.), Europäisches Gemeinschaftsrecht und Internationales Privatrecht, 1994, Rn. 55. 4 Kegel/Schurig, IPR, § 1 II 1. 5 Kegel/Schurig, IPR, § 1 II 1. 2
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wendbare Privatrecht bestimmen.6 Solche Normen finden sich in der Rom IVO, der Rom II-VO und der Rom III-VO, im HUP sowie in den verweisungsrechtlichen Teilen der EuGüVO, der EuPartVO und der EuErbVO. ÄEuropäisches Kollisionsrecht³ wird dementsprechend häufig mit dem Europäischen Internationalen Privatrecht gleichgesetzt.7 Solch eine Identifikation erscheint angesichts der Fülle im engeren Sinne internationalprivatrechtlicher Normen im Unionssekundärrecht angebracht; die vorliegende Arbeit kann sie aber aus zwei Gründen nicht übernehmen. Erstens sind im familienund erbrechtlichen IPR die Vorschriften zur internationalen Zuständigkeit und die über das anwendbare Recht aufeinander abgestimmt. Gerade die EuErbVO und der EuGüVO lassen deutlich den gesetzgeberischen Willen erkennen, dass die Entscheidung über Zuständigkeit und anwendbares Recht zwar isoliert erfolgen soll, beide Elemente aber in einem Funktionszusammenhang stehen. Zweitens bringt neben dem Unionssekundärrecht auch das Unionsprimärrecht und das unionsrechtlich beeinflusste nationale IPR Kollisionsnormen, also räumlich-koordinierende, sich einer Sachentscheidung enthaltende Vorschriften, hervor. Der folgende Abschnitt arbeitet daher mit einem abgestuften, im Prinzip aber weiten Kollisionsnormbegriff. Zunächst wird er die Entwicklung der ÄKollisionsrechtsharmonisierung³ am Beispiel des IPR und des IZVR der Union rekonstruieren (A.). Bei der Identifikation gemeinsamer Leitprinzipien wird sich die Arbeit dann auf das verweisungsrechtliche Kollisionsrecht konzentrieren, also auf solche Normen, die im Unionsrecht eine kollisionsrechtliche oder räumlich-verweisende Funktion erfüllen (B.). Auf dieser Grundlage wird sie Wesensmerkmale sowie die wichtigsten Probleme des Europäischen Kollisionsrechts im engeren Sinne, also des Europäischen Internationalen Privatrechts, skizzieren (C.).
B. Gang der Kollisionsrechtsharmonisierung B. Gang der Kollisionsrechtsharmonisierung
I. Intergouvernementalismus Der Vorschlag einer sekundärrechtlichen Harmonisierung nationaler Kollisionsnormen begleitet die Europäischen Gemeinschaften keineswegs seit ihren Anfängen. In den 1957 ratifizierten Gründungsverträgen der Europäischen Gemeinschaften 8 setzten die Mitgliedstaaten sich das Ziel, einen gemeinsa-
6
Kegel/Schurig, IPR, § 1 II 1. Kroll-Ludwigs, Parteiautonomie, 2013, 3 ff. 8 BGBl. 1958 II, 1. Dazu auch Wandt, Rechtswahlregelungen im Europäischen Kollisionsrecht, 2014, 12. Ein historischer Überblick findet sich auch bei Kuipers, EU Law and Private International Law, 2012, 6 ff. 7
B. Gang der Kollisionsrechtsharmonisierung
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men Europäischen Binnenmarkt zu schaffen. 9 Anfangs hielten sie dafür aber weder eine sekundärrechtliche Harmonisierung des Internationalen Privatund Zivilverfahrensrechts noch eine Vereinheitlichung des nationalen Sachrechts für nötig. 10 Art. 220 EG a.F., später Art. 293 EGV, sprach lediglich eine lose und in ihrer Rechtsnatur umstrittene Verpflichtung 11 an die EGMitgliedstaaten aus, Äsoweit erforderlich³ selbstständig multilaterale Verhandlungen einzuleiten, die den Grundsatz der Inländergleichbehandlung (Abs. 1) und die gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen und Schiedssprüchen fördern sollten (Abs. 4). 12 Auch nach dem Vertrag von Maastricht bildete die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen in den Nachfolgebestimmungen ± Art. K.1 Nr. 6 i.V.m. Art. K.3 Abs. 2 lit. c) EUV a.F. ± zunächst nur den Gegenstand einer intergouvernementalen Kooperationspflicht.13 Lediglich bei der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten war es der Union gestattet, den Mitgliedstaaten ein Gesprächsforum und organisatorische Unterstützung bereitzustellen. 14 Der eigentliche Handlungsimpuls in der Harmonisierung musste aber von den Mitgliedstaaten ausgehen. Hinzu kam, dass beide Regelungsaufträge sich nicht auf das Internationale Privatrecht im engeren Sinne konzentrierten, sondern das Zivilverfahrensrecht und die Sachrechtsvereinheitlichung in den Vordergrund stellten. Eine Harmonisierung des IPR erfolgte ± wenn überhaupt ± nur am Rande.15 Dass das Internationale Privatrecht durchaus von den Harmonisierungsbestrebungen erfasst war, belegt der Entwurf eines Europäischen Übereinkommens über Insolvenzverfah9
Überblick auch bei Reimann, Choice-of-Law Codification in Modern Europe: The Costs of Multi-Level Law-Making, Creighton Law Review 49 (2016), 507 (508 ff.). 10 Basedow, The Communitarization of Private International Law, CMLR 37 (2000), 687. 11 Drappatz, Die Überführung des Internationalen Zivilverfahrensrechts in eine Gemeinschaftskompetenz nach Art. 65 EGV, 2002, 8. Überblick auch bei Bach, Drei Entwicklungsschritte im Europäischen Zivilprozessrecht, ZRP 2011, 97. 12 Zum Verfahren im Einzelnen Drappatz, Art. 65 EGV, 2002, 6 ff. Insbesondere muss die Verfahrenseinleitung nicht von der damaligen Gemeinschaft, sondern von den Mitgliedstaaten ausgehen; die Gemeinschaftsorgane sind demgegenüber zwar nicht zur Rechtssetzung, wohl aber zur Rechtsanwendung befugt, ibid., 7. 13 Kuipers, EU Law and Private International Law, 2012, 12; Wandt, Rechtswahlregelungen, 2014, 12; Kreuzer, RabelsZ 70 (2006), 1 (11). Zum Stand der justiziellen Zusammenarbeit vor der Vergemeinschaftung Müller-Graff, Die Europäische Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (JIZ) ± Verbindungen und Spannungen zwischen dem dritten Pfeiler der Europäischen Union und dem Gemeinschaftsrecht, FS Everling, Band II, 1995, 925. 14 Basedow, CMLR 37 (2000), 687. Zu den Unterschieden der neuen Bestimmung zu Art. 220 a.F. aber Drappatz, Art. 65 EGV, 2002, 40 f. 15 Drappatz, Art. 65 EGV, 2002, 41, mit Hinweis auf die darauf aufbauende Ansicht, dass zwischen Art. 220 EGV a.F. (Sachrechtsharmonisierung) und Art. K.1 Nr. 6 EUV (Harmonisierung von Organisations- und Verfahrensvorschriften) ein Komplementärverhältnis besteht.
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ren. 16 Zwar trat die Konvention mangels Ratifikation durch das Vereinigte Königreich nie in Kraft, 17 ihr Anwendungsbereich und ihre Bestimmungen entsprachen aber denen der EuInsVO und umfassten damit sowohl die internationale Zuständigkeit in Insolvenzverfahren (Art. 3 EuInsVÜ-E) als auch das anwendbare Recht (Art. 4 EuInsVÜ-E). II. Erste Konsequenz: Schaffung kollisionsrechtlicher Staatsverträge Die Mitgliedstaaten glichen das anfängliche Kompetenzdefizit in der Vereinheitlichung des Internationalen Privat- und Zivilverfahrensrecht aus, indem sie der Union 1967 selbstständig das Mandat zur Ausarbeitung kollisionsrechtlicher Staatsverträge auf dem Gebiet der Zivil- und Handelssachen übertrugen. 18 Auf Grundlage der bereits erwähnten Kooperationsmaxime, (Art. 220 EG a.F.) wurde 1968 das Europäische Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen (EuGVÜ) verabschiedet;19 1972 trat die Konvention in Kraft.20 Das EuGVÜ stand als völkerrechtlicher Vertrag unabhängig neben dem institutionellen Gefüge der Europäischen Gemeinschaften. Auch eine Kompetenz des EuGH zur Überprüfung der Anwendung des EuGVÜ war im Übereinkommen selbst nicht vorgesehen. Erst durch ein 1971 von den Mitgliedstaaten verabschiedetes Auslegungsprotokoll 21 wurde der Gerichtshof überhaupt für zuständig erklärt, im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens eine einheitliche Anwendung des Unionsrechts sicherzustellen. 22 Wenig spä-
16 Europäisches Übereinkommen über Insolvenzverfahren vom 20.9.1995, 9213/1/95 Rev 1. Zu Versuchen der Vereinheitlichung des Insolvenzrechts durch die Haager Konf erenz Sprecher, Die Europäische Verordnung über Insolvenzverfahren, 2003, 21 (25). Ex ante-Perspektive bei Städtler, Grundpfandrechte in der Insolvenz, 1998, 50. 17 Diese Ratifikation stand dem Übereinkommen ausdrücklich als Voraussetzung voran, s. 9213/1/95 Rev 1. 18 Giuliano/Lagarde, Report on the Convention on the Law applicable to contractual obligations, ABl. 1980 C 282/20, 36; Basedow, CMLR 37 (2000), 687 f.; Wandt, Rechtswahlregelungen, 2014, 13. Die Rechtswissenschaft möchte das Kompetenzdefizit überbrücken, indem sie dem EU-Primärrecht selbst eine kollisionsrechtliche Funktion zuerkennt. Dazu statt vieler Brödermann, Quelle und Schranke, 1994, Rn. 55 ff. 19 BGBl. 1972 II, 774. Dazu auch van Calster, European Private International Law, 2. Auflage 2016, 1.6.2, 13 f. 20 ABl. 1972 L 299/32. 21 ABl. 1975 L 204/28. Dieses Privileg baute er, ausgehend von der noch zurückhaltenden Entscheidung in der Rechtssache EuGH, 6.10.1976 ± C-12/76 ± Tessily ./. Dunlop ± Slg. 1976, 1473 (1485), aber zunehmend aus. 22 Ein ebenfalls 1968 verabschiedetes EWG-Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften und juristischen Personen tritt nicht in Kraft. Dazu Brödermann, Quelle und Schranke, 1994, Rn. 22. Ebenso scheitert der Entwurf eines Europä ischen Schuldrechtsübereinkommens, das gemeinschaftsweit gültige Kollisionsnormen für vertragliche und außervertragliche Schuldverhältnisse enthalten soll. Die erfolgreiche
B. Gang der Kollisionsrechtsharmonisierung
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ter, im Jahre 1980, wurde das EuGVÜ durch die vertragsrechtlichen Bestimmungen des Europäischen Vertragsübereinkommens ergänzt. 23 Ebenso wie das EuGVÜ24 standen sowohl die Vorentwürfe des EVÜ 25 als auch das Übereinkommen selbst als ratifikationsbedürftiger Staatsvertrag unabhängig neben dem innerhalb des institutionellen Gefüges der Union erlassenen Sekundärrecht.26 Dieser institutionelle Unterschied war nicht nur formaler Natur, sondern wirkte sich auch auf den Inhalt und die Überprüfbarkeit des kollisionsrechtlichen Staatsvertrages aus. 27 Erstens scheiterten die das gesamte Schuldrecht erfassenden Vorentwürfe des Übereinkommens am Widerstand der Mitgliedstaaten. Dass das EuIPR der Zivil- und Handelssachen bis zum heutigen Tag empfindliche Regelungslücken aufweist, 28 kann man als Spätfolge eben dieses Einigungsdefizits über das EVÜ deuten. Ähnlich wie beim EuGVÜ räumten außerdem erst die Brüsseler Zusatzprotokolle vom 19.12.1988 29 dem EuGH die Befugnis ein, die einheitliche Auslegung und Anwendung des EVÜ verbindlich zu überwachen. 30 Beide Protokolle traten aber erst wesentNachfolge des Entwurfs wird 1980 in Form des Europäischen Vertragsübereinkommens (EVÜ) verabschiedet. 23 Übereinkommen vom 19. Juni 1980 uȋber das auf vertragliche Schuldverhaȋltnisse anzuwendende Recht, ABl. 1980 L 266/1, BGBl. 1998 III 208; zuletzt geaȋndert durch das 3. Beitrittsübereinkommen, ABl. 1997 L 191/11. 24 Basedow, CMLR 37 (2000), 687 f.; Leible, Auf dem Weg zu einer Rom 0-Verordnung?, FS Martiny, 2014, 429 (430). 25 Dazu statt vieler Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, ZGR-Sonderheft Nr. 15 (1999) Abschn. 1.01 Rn. 3, 157f. 26 Vgl. für den zweiten Modus Art. 27±37 EGBGB aF. 27 Leible, in: ders. (Hrsg.), Das Grünbuch zum Internationalen Vertragsrecht, 2004, 1 (5). Allgemein Calliess/Ruffert/Suhr Art. 67 AEUV Rn. 8. 28 Grundmann, ZGR-Sonderheft Nr. 15 (1999) Abschn. 1.01, Rn. 3, 157 f., der das Recht der Produkthaftung und das der Mobiliarsicherheiten erwähnt, aber zugibt, dass in beiden Bereichen zumindest auch ein Bedürfnis nach der Harmonisierung des Sachrechts besteht. 29 Erstes Bruȋsseler Protokoll vom 19.12.1988 betreffend die Auslegung des am 19.6.1980 in Rom zur Unterzeichnung vorgelegten Übereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhaȋltnisse anzuwendende Recht durch den Gerichtshof der Europaȋischen Gemeinschaften 89/128/EWG, ABl. 1989 L 48/1; Zweites Bruȋsseler Protokoll vom 19.12.1988 zur bertragung bestimmter Zustaȋndigkeiten fuȋr die Auslegung des am 19.6.1980 in Rom zur Unterzeichnung aufgelegten Übereinkommens uȋber das auf vertragliche Schuldverhaȋltnisse anzuwendende Recht auf den Gerichtshof der Europaȋischen Gemeinschaften, 89/129/EWG, ABl. 1989 L 48/17; Tizzano, Bericht über die Protokolle zum Römer EVÜ, ABl. 1990 C 219/1-19; Grundmann, ZGR-Sonderheft Nr. 15 (1999) Abschn. 1.01, Rn. 8, 161; Leible, Einführung, in: ders. (Hrsg.), Das Grünbuch zum Internationalen Vertragsrecht, 2004, 7 (10). 30 Das geschah, obwohl bei der Ausarbeitung des Übereinkommens sowohl die Kommission als auch die damaligen EG-Mitgliedstaaten eine Auslegungskompetenz des Gerichtshofs für notwendig gehalten hatten, vgl. die diesbezügliche Gemeinsame Erklärung der Mitgliedstaaten, ABl. 1980 L 266/17; Stellungnahme der Kommission 80/383/EWG,
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lich später, nämlich im Jahr 2005, in Kraft. Die beschriebene Verzögerung ist einerseits der wachsenden Zahl der EU-Mitgliedstaaten, 31 andererseits der Untätigkeit der belgischen Regierung geschuldet. 32 Die einheitliche Anwendung des Übereinkommens blieb infolge dieser fehlenden Einigung lange Zeit der Eigeninitiative der mitgliedstaatlichen Gerichte überlassen. III. Primärrechtliches Kollisionsrecht Parallel zur Verabschiedung kollisionsrechtlicher Staatsverträge entwickelte sich in der Bundesrepublik eine akademische Debatte über einen kollisionsrechtlichen Gehalt des Unionsprimärrechts. 33 In der Rechtssache Société Générale Alsacienne des Banques/Koester 34 erkannte der Europäische Gerichtshof 1978 entsprechend den Anträgen des Generalanwalts Reischl 35 erstmalig auf eine Pflicht der Mitgliedstaaten, nationale IPR-Vorschriften im Einklang mit dem Diskriminierungsverbot der Dienstleistungsfreiheit auszulegen und anzuwenden. 36 Im Nachgang an die Entscheidung wurden die deutschen Kollisionsnormen für Börsentermingeschäfte unionsrechtskonform reformiert.37 Auch der zweite wichtige diskursive und legislative Impuls für die Neugestaltung des Kollisionsrechts durch Unionsrecht geht von der Rechtsprechung des EuGH zu den Grundfreiheiten aus. Im Nachgang zu der im Jahre 1988 ergangenen Entscheidung in der Rechtssache Daily Mail38 überformte der EuABl. 1980 L 94/39; Nachweise und Diskussion bei Linhart, Internationales Einheitsrecht und einheitliche Auslegung, 2005, 73f. Zu den Problemen und Lücken der Auslegungskompetenz unter dem EVÜ Hartenstein, Die Privatautonomie im Internationalen Privatrecht als Störung des Internationalen Entscheidungseinklangs, 2000, 123f. Einen Lagebericht über die Auslegungsdivergenzen in den Mitgliedstaaten liefert Wilderspin, The Rome Convention ± Experience to date before the courts of Member States, and Interpretation by the Court of Justice of the European Communities of the Brussels Convention and its possible impact on the interpretation of the Rome Convention, in: Lagarde/von Hoffmann (Hrsg.), Die Europaȋisierung des internationalen Privatrechts, 1996, 47. 31 Basedow, CMLR 37 (2000), 687 (688). 32 Zur Ratifikation des Protokolls durch Belgien im Jahr 2004 Wilderspin, Le Règlement Rome I: La communitarisation et la modernisation de la Convention de Rome, in: 5LWDLQH%RQRPL +UVJ /H QRXYHDX UqJOHPHQW HXURSpHQ Ä5RPH ,³ UHODWLI j OD ORL DSSO icable aux obligations contractuelles, 2008, 11 (16). 33 Brödermann, Quelle und Schranke, 1994, Rn. 17. 34 EuGH, 24.10.1978 ± C-15/78 ± Société Générale Alsacienne ./. Koester ± Slg. 1978 ± 01971. 35 EuGH ± C-15/78 ± Slg. 1978, 1981 (1987); Samtleben, Das Internationale Privatrecht der Börsentermingeschäfte und der EWG-Vertrag, RabelsZ 45 (1981), 218. 36 Ibid., Rn. 6. 37 Dazu Brödermann, Quelle und Schranke, 1994, Rn. 18, Fn. 62. 38 EuGH, 27.9.1988 ± C-81/87 ± Daily Mail ± Slg. 1988, 5483; EuGH, 16.12.2008 ± C210/06 ± CartesLR2NWDWypV6]ROJiOWDWyEW.
B. Gang der Kollisionsrechtsharmonisierung
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ropäische Gerichtshof in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren das Internationale Gesellschaftsrecht der Mitgliedstaaten durch unionsrechtliche Vorgaben. 39 Parallel dazu wuchs der Einfluss des sachrechtlichen Europäischen Verbraucherschutzes auf das autonome IPR der Mitgliedstaaten. Deutsche Gerichte neigten hier dazu, den räumlichen Anwendungsbereich des richtlinienbasierten 40 Haustürgesetzes 41 auf internationale Sachverhalte zu erstrecken, um auf diese Weise den grenzüberschreitenden Verbraucherschutz zu verbessern.42 Im Bereich des Versicherungsrechts sorgen Richtlinien für eine Randharmonisierung autonomer Kollisionsnormen. 43 Wohl bedingt durch den Zuwachs unionsprimärrechtlicher Handlungsvorgaben, sicherlich aber auch unter dem Einfluss richtlinienbasierter Umsetzungspflichten, lässt das kollisionsrechtliche Schrifttum der Bundesrepublik also bereits ab den späten 1980er Jahren eine generelle Sensibilität für unionsrechtliche Einflüsse und Wertungen erkennen. Die infolgedessen aufkeimende Diskussion konzentrierte sich zunächst auf die beschriebenen wirtschaftsrechtlichen Sachzusammenhänge. Familien- und personenrechtliche Fragen, insbesondere, sofern sie das Staatsangehörigkeitsprinzip betrafen, wurden dagegen zunächst nicht aus einer europapolitischen oder unionsrechtlichen Motivation heraus diskutiert. 44 Ein Gesinnungswandel vollzog sich mit der Ratifikation des Vertrags von Maastricht und der Schaffung der Unionsbürgerschaft. Dieser Fortschritt erzeugte sowohl in der Bundesrepublik als auch in anderen
EuGH, 9.3.1999 ± C-212/97 ± Centros Ltd ./. Erhvervsog Selskabsstyrelsen ± Slg. 1999, I-1459; IPRax 1999, 361, m.Anm. Behrens, ibid.; Thorn, Das Centros-Urteil im Spiegel der deutschen Rechtsprechung, IPRax 2001, 102; EuGH, 5.11.2002 ± C-208/00, Überseering ± Slg. 1999, I-1459; BGH, 13.3.2003 ± VII ZR 370/98 ± IPRax 2003, 324 m.Anm. Weller; EuGH, 30.9.2003 ± C-167/01 ± Kamer van Koophandel en Fabrieken voor Amsterdam ./. Inspire Art Ltd. ± Slg. 2003, I-10155; IPRax 2004, 46. 40 RL 85/577 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 L 372/31. 41 BGBl. 1986 I, 122. 42 Zusammenfassung und Kritik am methodischen Irrweg der Rechtsprechung bei Brödermann, Quelle und Schranke, 1994, Rn. 21, Fn. 79. 43 Brödermann, Quelle und Schranke, 1994, Rn. 22. 44 Im Rahmen des 1988 in Heidelberg abgehaltenen Symposiums mit dem Titel Ä1DWLRQ und Staat LP ,35³ Jayme/Mansel (Hrsg.), Nation und Staat im IPR, 1990) wird die rechtspolitische und praktische Zukunft des Staatsangehörigkeitsprinzips nur zweimal, und nur in der Diskussion der Symposiumsteilnehmer, mit der europäischen Integration in Verbindung gebracht. S. insbesondere ReinhartLELGÄWenn sich die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft kraft der Einheitlichen Akte zur Europäischen Union entwickelt, werGHQZLUHLQÃEuropäisches Unions-,35¶ einführen müssen. Die denkbaren Vorbilder für die Lösung dieses Problems könnten dann die Lösungen der USA einerseits und die der eur opäischen Einigungsbewegung andererseits seiQ (QWVFKLHGH PDQ VLFK IU GLHÃEuropäische UnionsangehörigkHLW¶ als Anknüpfung, dann wäre dies die Umsetzung der Ideen Mancinis aus dem 19. Jahrhundert in die GeseW]JHEXQJGHV-DKUKXQGHUWV³ 39
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kontinentaleuropäischen Nationen 45 Diskussion darüber, ob ein Festhalten am Staatsangehörigkeitsprinzip im autonomen IPR dem Diskriminierungsverbot für Unionsbürger zuwiderlaufe.46 Die Debatte ist zum heutigen Tag insoweit erfolgreich beigelegt, als Einigkeit darüber besteht, dass die Entwicklungen im Unionsprimärrecht die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit nicht an sich verbieten.47 Welche Konsequenzen der erkennbare Schwund an nationaler Regelungsautonomie im Rahmen der Staatsangehörigkeitsanknüpfung in der lex lata nach sich zieht und de lege ferenda nach sich ziehen sollte, ist nach wie vor umstritten. Da diese Frage zentrale Elemente des Zusammenspiels von Unionsprimärrecht und gewöhnlichem Aufenthalt betrifft, soll sie an späterer Stelle aufgegriffen und ausführlicher gewürdigt werden. 48 IV. Kollisionsrecht als EU-Kompetenz Infolge der Ratifikation des Vertrags von Amsterdam im Jahre 1997 rückte die Vereinheitlichung des Internationalen Privat- und Zivilverfahrensrechts von der dritten Säule der intergouvernementalen Kooperation in Justiz und Verwaltung in die erste Säule der Europäischen Gemeinschaften auf. 49 Die Union besitzt seitdem eine eigenständige Kompetenz zur sekundärrechtlichen Vereinheitlichung des nationalen IPR und IZVR. 50 Dass diese Kompetenz einen wesentlichen, wohl sogar den wichtigsten Teil der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen ausmacht, zeigt der im Jahre 1998 verabschiedete Wiener Aktionsplan des Rates und der Kommission. 51 Die Harmonisierung der nationalen Bestimmungen über die Zuständigkeit und das anwendbare Recht wird als unmittelbare Voraussetzung für einen gleichberechtigten Zu45
Eine rechtsvergleichende Studie findet sich bei Perez, Citoyenneté de l'Union européenne, nationalité et condition des étrangers, RdC 261 (1996) 243. 46 Ausführliche Diskussion bei Mansel, Das Staatsangehörigkeitsprinzip im deuschen und gemeinschaftsrechtlichen Internationalen Privatrecht: Schutz der kulturellen Identität oder Diskriminierung der Person?, in: Jayme/ders. (Hrsg.), Kulturelle Identität und IPR, 2003, 119 (147 ff.). Allgemein Stern, Das Staatsangehörigkeitsprinzip in Europa, 2008. 47 Mansel, in: Jayme/ders. (Hrsg.), Kulturelle Identität und IPR, 2003, 119 (147 ff.). 48 S.u. § 3 B II. 5. b). 49 Basedow, CMLR 37 (2000), 687 (691); ders., Die Vergemeinschaftung des Kollisionsrechts nach dem Vertrag von Amsterdam, 2001, 19, 24; skeptisch gegenüber dem Mehrwert der Vergemeinschaftung Kohler, Europäisches Kollisionsrecht zwischen Amsterdam und Nizza, 2001, 1, 8. Speziell zu den Konsequenzen für internationalprivatrechtliche Sachbereiche Burghaus, Die Vereinheitlichung des Internationalen Ehegüterrechts in Europa, 2010, 281; Dilger, Internationale Zuständigkeit in Ehesachen, 2004, Rn. 31. 49 Basedow, CMLR 37 (2000), 687 (691); Drappatz, Art. 65 EGV, 2002, 10; Burghaus, Vereinheitlichung, 2010, 281. 50 Basedow, CMLR 37 (2000), 687. 51 Aktionsplan des Rates und der Kommission zur bestmöglichen Umsetzung der Bestimmungen des Amsterdamer Vertrages über den Aufbau eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts vom 3.12.1998, ABl. 1999 C 15/1.
B. Gang der Kollisionsrechtsharmonisierung
35
gang zum Recht verstanden.52 Die Kompetenz der Union ist damals aber noch auf Sachgebiete und Regelungstopoi beschränkt, die der Förderung des Binnenmarktes zugute kommen (Art. 61 lit. c), 67 EGV a.F.).53 Mit dem Vertrag von Lissabon wird die Koppelung von Binnenmarkt und Justizkooperation schließlich aufgegeben. Die kollisionsrechtliche Harmonisierungskompetenz steht seitdem unmittelbar im Dienste des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art. 81 Abs. 2, 3 AEUV).54 Am deutlichsten lässt sich der Entwicklungsfortschritt des verordnungsrechtlichen IPR der Union gegenüber den staatsvertraglichen Regelungen an der Rom I-VO erkennen. Im Gegensatz zum Europäischen Vertragsübereinkommen stellt sie einen in den Mitgliedstaaten unmittelbar verbindlichen, gerade nicht ratifikationsbedürftigen EU-Sekundärrechtsakt dar. 55 Sowohl die sachliche Reichweite als auch der Inhalt der Verordnung wird mithin nicht durch die Vertragsstaaten, sondern durch die Union bestimmt. Auch die einheitliche Auslegung und Anwendung der Verordnung in den Mitgliedstaaten wird im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens (mittlerweile Art. 267 AEUV) durch den EuGH kontrolliert.56 Punkt 16 des Aktionsplans Ä'LH ,QWHQVLYLHUXQJ GHU justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen, deren Zustandekommen vielfach als zu langsam angesehen worden ist, markiert einen entscheidenden Schritt zur Schaffung eines europaȋischen Rechtsraums, der den Unionsbuȋrgern greifbare Vorteile bringt. Buȋrger, die die Gesetze befolgen, koȋnnen von der Union erwarten, daß sie die rechtlichen Rahmenbedingungen ihres Lebens vereinfacht und erleichtert. Rechtssicherheit und gleicher Zugang zum Recht beispielsweise sind wesentliche Ziele, die es anzustreben gilt. Das bedeutet: Unproblematische Feststellung des zustaȋndigen Gerichts, eindeutige Festlegung des anwendbaren Rechts, zuȋgige und gerechte 9HUIDKUHQVRZLHHLQHZLUNVDPH9ROOVWUHFNXQJ³ 53 Leible, in: Streinz (Hrsg.), EUV/ AEUV, 2. Auflage 2012, Art. 81 AEUV Rn. 1 f. 54 Leible, FS Martiny, 2014, 429 (430); ders., in: Streinz (Hrsg.), EUV/ AEUV, 2. Auflage 2012, Art. 81 AEUV Rn. 1 f. 55 Ferrari, From Rome to Rome via Brussels: Remarks on the Law Applicable to Contractual Obligations Absent a Choice by the Parties (Art. 4 of the Rome I Regulation), RabelsZ 73 (2009), 750 (751). 56 Basedow, CMLR 37 (2000), 687 (688). Bei näherem Hinsehen wird dieser grundsätzliche Unterschied freilich in doppelter Hinsicht relativiert. Erstens können EUMitgliedstaaten über die notwendige Beteiligung des Rates im Gesetzgebungsverfahren den Inhalt der zu verabschiedenden Rechtsakte de facto nach wie vor beeinflussen. Dass mit dem Vertrag von Lissabon das Mitentscheidungsverfahren (Art. 294 AEUV) zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren der EU-Rechtssetzung aufgewertet wurde, intensiviert zwar die Beteiligungs- und Initiativrechte des Europäischen Parlaments entscheidend und stärkt damit die demokratische Legitimation der EU-Gesetzgebung, ändert aber nichts an der Tatsache, dass der Rat einem Gesetzgebungsvorhaben mit qualifizierter Mehrheit zustimmen muss (vgl. Art. 16 Abs. 3 EUV). Für die Rom I-VO ist die Neuregelung ohnehin bedeutungslos, da sie vor der Änderung der Gründungsverträge mit dem Vertrag von Lissabon nach dem in Art. 65, 67 EGV a.F. festgelegten Anhörungsverfahren erlassen wurde, in dessen Rahmen das Europäische Parlament keinerlei konstitutive Mitwirkungsbefugnis52
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C. Leitbilder und Grundprinzipien C. Leitbilder und Grundprinzipien I. Regelungsebenen 1. Regelungsauftrag auf drei Ebenen Historisch hat das Unionsrecht auf drei unterschiedlichen Normebenen Impulse für eine ÄHarmonisierung³, also eine Angleichung oder Vereinheitlichung von Kollisionsnormen, gegeben. Erstens wurden völkerrechtliche Verträge ausgearbeitet, die direkt oder indirekt auf einem Handlungsimpuls der Unionsorgane beruhen; zweitens wurde kollisionsrechtliches EU-Sekundärrecht geschaffen; drittens wurde das autonome Internationale Privatrecht selbstständig an die Rechtsentwicklung in der Union angeglichen. Aktuell erstreckt sich das Europäische Kollisionsrecht also über drei 57 im Grundsatz getrennte, einander aber wechselseitig beeinflussende Ebenen der Normerzeugung.58 2. Unionsprimärrechtliche Kollisionsnormen Insbesondere in jüngerer Vergangenheit sind das unionssekundärrechtliche und das autonome IPR eine synergetische Verbindung eingegangen. Erstens hat sich der deutsche Gesetzgeber im Nachgang an die Verabschiedung der Rom III-VO für eine selbstständige Angleichung des Art. 17 EGBGB an das Unionssekundärrecht entschlossen. 59 Ähnliches ist im Hinblick auf se hat. Zweitens hatte man sich, wie eingangs erwähnt, auch unter dem EVÜ darum b emüht, die einheitliche Anwendung der Kollisionsnormen durch die Kontrollhoheit des EuGH abzusichern. Durch Art. 18 EVÜ waren die Vertragsstaaten und ihre zuständigen Stellen zur Effektuierung der durch Art. 220 EGV a.F. statuierten Kooperations- und Harmonisierungspflicht verpflichtet worden, das Übereinkommen und seine nationalen Umsetzungsvorschriften möglichst kohärenzfördernd umzusetzen. Auch der Umstand, dass sich das Inkrafttreten des Zusatzprotokolls zum EVÜ bis in das Jahr 2005 hinein verzögerte und der Europäische Gerichtshof erst seitdem die Auslegungshoheit über die Besti mmungen der Konvention beansprucht, fällt nur für Altfälle ins Gewicht und relativiert die grundsätzliche Gleichwertigkeit der Konvention mit der Rom I-VO im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung nicht. Die Rom I-VO knüpft im Ergebnis also an eine bereits bestehende Kompetenz der Union an, anstatt sich durch eine Verbreiterung der instituti onellen Einhegung vom EVÜ abzuheben. 57 Hinzu kommen multilaterale Staatsverträge der Haager Konferenz, die die Union ± so das Beispiel des Haager Unterhaltsprotokolls ± als Verordnungen in das Unionssekundärrecht integriert, deren Erzeugungsprozess sich aber von dem des Verordnungsrechts erheblich unterscheidet. 58 Überblick mit kritischer Schlussfolgerung bei Reimann, Creighton Law Review 49 (2016), 507 (513 ff.); s. auch Bergé, Open Questions Concerning the Boundaries of European Private International Law, in: ders./Franq, Stéphanie/Gardeñes Santiago, Miguel (Hrsg.), Boundaries of European Private International Law, 2015, 10. 59 Coester-Waltjen, FamRZ 2013, 170.
C. Leitbilder und Grundprinzipien
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Art. 14 EGBGB zu erwarten, zumal die EuGüVO mittlerweile in Kraft getreten ist. 60 Schließlich wurde auch eine Reform des Art. 13 EGBGB angeraten.61 Allerdings können auch unionsprimärrechtliche Rechtssätze eine räumlichkoordinierende und damit im weiteren Sinne Äinternational-privatrechtliche³ Funktion erfüllen. 62 Die Diskussion über eine kollisionsrechtliche Dimension des Unionsprimärrechts 63 erscheint angesichts der weit fortgeschrittenen Europäischen Kollisionsrechtsharmonisierung zwar politisch wie dogmatisch überholt. Ein Blick auf den status quo des Europäisierten Internationalen Privatrechts zeigt aber, dass der durch Art. 81 Abs. 1 AEUV etablierte Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ebenso wie die Unionsbürgerschaft dem nationalen IPR keineswegs als unscharfes politisches Leitbild vorsteht,64 sondern konkrete Vorgaben für die nationale Rechtssetzung formuliert. 65 Auch wenn das Unionsprimärrecht keine selbstständigen Kollisionsnormen erzeugt, reduziert es die Einschätzungsprärogative und den Rechtssetzungsspielraum des nationalen Gesetzgebers derart, dass die unionsrechtliche Urheberschaft hinter einer überschießenden Angleichung nationaler Kollisionsnormen deutlich zutage tritt.66 Diese zuletzt genannte Variante der Kollisionsnormsetzung im Rahmen der Union soll im Folgenden genauer beleuchtet werden. II. Varianten der Einflussnahme Beim Einfluss des Unionsrechts auf das IPR lassen sich direkte wie indirekte, positive wie negative Wirkungen unterscheiden.
60
Coester-Waltjen, FamRZ 2013, 170. Coester-Waltjen, Reform des Art. 13 EGBGB, StAZ 2013, 10. 62 Kegel/Schurig, IPR, § 1 II 4. 63 Dazu Mansel, RabelsZ 70 (2006), 651 (660 ff.) 64 So Mansel, RabelsZ 70 (2006), 651 (660, 664); Brödermann, Quelle und Schranke, 1994, Rn. 55. 65 Ein Beispiel liefert die zunehmende Reduktion des nationalen Regelungsspielraums im Bereich des Personalstatuts. Dazu Rentsch, Die Zukunft des Europäischen Personalstatuts im gewöhnlichen Aufenthalt, ZEuP 2015, 288 (308 ff.). 66 Gegenseitige Anerkennung ist damit das übergreifende Leitbild im Europäischen Mehrebenensystem; Ast, in: Bergmann (Hrsg.), Handlexikon der Europäischen Union, 4. $XIODJH6WLFKZRUWÄ0HKUHEHQHQVWUXNWXU0HKUHEHQHQV\VWHP³ 61
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38 1. Direkter Einfluss
a) Positive direkte Harmonisierung In Gestalt direkter positiver Handlungsvorgaben wirkt das Unionsrecht durch Verordnungen auf das Internationale Privatrecht ein. 67 Diese Verordnungen sind ausweislich Art. 288 Abs. 1 AEUV unmittelbar in den Mitgliedstaaten anwendbar. b) Negative direkte Harmonisierung Ein ähnlich direkter, aber negativer Einfluss findet durch die Grundfreiheiten und das Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger statt. Das Internationale Gesellschaftsrecht der Mitgliedstaaten steht unter dem bestimmenden Einfluss der Niederlassungsfreiheit, das Internationale Namensrecht unter dem des Freizügigkeitsrechts. 68 Die diffusen Befehle dieser unionsprimärrechtlichen subjektiven Rechte formulieren einerseits Leitlinien und Schranken für eine primärrechtskonforme Auslegung des nationalen Sach- und Verfahrensrechts; andererseits setzen sie wichtige Impulse für die sekundärrechtliche Kollisionsrechtsvereinheitlichung. Im erstgenannten Sinne verpflichtet das Unionsrecht ± wie im Bereich des Internationalen Namensrechts ± zur Modifikation bestehender Kollisionsnormen des autonomen IPR. 69 Im Kern bedeutet diese Äprimärrechtskonforme Auslegung³ eine teilweise Unanwendbarkeit des autonomen IPR auf der Basis des unionsrechtlichen Vorrangprinzips.70 In bestimmten Bereichen wie der Niederlassungsfreiheit 71 haben sich die Aussagen subjektiver Garantien des Unionsprimärrechts bis zu einer konditi-
67
Die Entwicklungsgeschichte der diesen Verordnungen zugrundeliegenden primärrechtlichen Harmonisierungskompetenz der Union wird im folgenden Abschnitt eine ausführlichere Würdigung erfahren. 68 Dazu ausführlicher § 3 B II. 5. Überblick auch bei Siehr, Kollisionen des Kollisionsrechts, FS Kropholler, 2008, 211 (212). 69 Diffus in den Konsequenzen EuGH, 2.10.2003 ± C-148/02 ± Garcia Avello ./. Belgien; mit erkennbarem Bezug zum internationalen Namensrecht dagegen EuGH, 14.10.2008 ± C353/06, Rn. 16±18, 20 ± Grunkin Paul ./. Standesamt Niebüll ± Slg. 2008 I-07639. 70 Leible/Domröse, Die primärrechtskonforme Auslegung, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Auflage 2015. 71 Weller, Europäische Rechtsformwahlfreiheit und Gesellschafterhaftung, 2002, 29രff.; MüKoGmbHG/ders., Einleitung (Internationales Gesellschaftsrecht) Rn. 340, 350 ff. Ebenso Leible/Hoffmann, RIW 2002, 925 (936); dies., ÄhEHUVHHULQJ³ XQG GDV GHXWVFKH Gesellschaftskollisionsrecht, ZIP 2003, 925 (926); Paefgen, WM 2003, 561 (567രf.); Brödermann, Quelle und Schranke, 1994, Rn. 112 ff., möchte in Anlehnung an Kegel, Die selbstgerechte Sachnorm, GS Ehrenzweig, 1976, 53 ff.) die Niederlassungsfreiheit als ÄVHOEVWJHUHFKWH6DFKQRUP³ oder Eingriffsnorm verstehen.
C. Leitbilder und Grundprinzipien
39
onalen Regelstruktur hin verdichtet, die autonomes IPR abschließend verdrängen kann. 72 2. Leitbild- und Impulsfunktion des Unionsprimärrechts Eine internationalprivatrechtliche Dimension des Unionsprimärrechts ist damit noch nicht bewiesen. 73 Diese Frage kann insoweit unbeantwortet bleiben, als die normativen Leitbilder des Unionsrechts die Gestaltung autonomer IPR-Gesetze unmittelbar beeinflussen. a) Grundfreiheiten als Leitbilder Ein Beispiel für diese indirekte Einflussnahme bietet die Diskussion darüber, ob vor dem Hintergrund des Art. 18 AEUV das Staatsangehörigkeitsprinzip als Grundanknüpfung personenbezogener Verweisungstatbestände im autonomen IPR noch zu halten ist. 74 Es herrscht Konsens darüber, dass das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot das Staatsangehörigkeitsprinzip allenfalls relativieren, nicht aber in jeder seiner Gestaltungsvarianten für unionsrechtswidrig erklären kann. 75 Gleichzeitig wird aber auch klar, dass die Anknüpfung an das Heimatrecht den Leitbildern des Unionskollisionsrechts aktuell nur noch unzureichend gerecht wird. 76 Der nationale IPR-Gesetzgeber wird daher mit der Entscheidung konfrontiert, ob er die materielle Inkohärenz im Interesse nationaler Anknüpfungstradition hinnehmen 77 oder innerhalb seiner verbleibenden Regelungskompetenz die unionalen Leitlinien über-
72 A.A. Mansel, RabelsZ 70 (2006), 651 (673 f.), wonach jedenfalls die Niederlassungsfreiheit keine versteckte Kollisionsnorm, sondern Vorgaben zur Gestaltung des Sachrechts und zur Rechtslagenanerkennung enthalten soll. Ebenso MüKoBGB/Kindler Internationales Gesellschaftsrecht Rn. 120 m.w.N. 73 Wendehorst, Kollisionsnormen im primären Europarecht?, FS Heldrich, 2005, 1071 (1086). 74 Basedow, Das Staatsangehörigkeitsprinzip in der Europäischen Union, IPRax 2011, 109 (111 f.); Mansel, Vereinheitlichung des Internationalen Erbrechts in der Europäischen Gemeinschaft ± Kompetenzfragen und Regelungsgrundsätze, FS Ansay, 2006, 185 (210); Henrich, Abschied vom Staatsangehörigkeitsprinzip? FS Stoll, 2001, 437 (443 f.); Hohloch, Kollisionsrecht in der Staatengemeinschaft, FS Stoll, 533 (551), Helms, Neues Europaȋisches Familienkollisionsrecht, FS Pintens, 2012, 681 (682); Kohler, Der Einfluss der Globalisierung auf die Wahl der Anknüpfungsmomente im internationalen Familienrecht, Symposium Spellenberg, 2006, 9 (12). 75 Basedow, IPRax 2011, 109 (111 f.); Mansel, FS Ansay, 2006, 185 (210); Henrich, FS Stoll, 437 (443 f.); Hohloch, FS Stoll, 533 (551); Helms, FS Pintens, 2012, 681 (682) Kohler, Symposium Spellenberg, 9 (12). 76 Statt vieler Kohler, Symposium Spellenberg, 9 (12 f.). 77 Rauscher, FS Jayme, Band I, 2004, 719 (719, 738).
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schießend auf den Restbestand des nationalen Kollisionsrechts übertragen möchte. 78 b) Unionsprimärrechtlich indizierte Kollisionsnormsetzung Gerade in jüngerer Vergangenheit fungiert das Unionsprimärrecht auch als Antriebsfeder der sekundärrechtlichen Kollisionsrechtsharmonisierung. 79 Die Schaffung sekundärrechtlicher Kollisions- und Verfahrensvorschriften verfeinert, erweitert und implementiert in diesen Fällen Grundsätze, die sich bereits auf der Ebene des Unionsprimärrechts rudimentär entwickelt haben. Dieses Potential des Unionsprimärrechts ist für das Internationale Gesellschaftsrecht mittlerweile weitgehend konsentiert. 80 Auch für das Internationale Namensrecht wird dies in jüngerer Vergangenheit diskutiert. 81 Im Internationalen Gesellschaftsrecht werden Wechselwirkungen von Primär- und Sekundärrecht besonders deutlich. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Freizügigkeit von Personenmehrheiten hat hier ein ausdifferenziertes System sach- und kollisionsrechtsvereinheitlichender Richtlinien geschaffen, 82 die aufbauend auf der negativen Harmonisierungswirkung der Niederlassungsfreiheit die Unternehmensmobilität in Europa verbessern sollen. 83 Dass die 14. Gesellschaftsrechtsrichtlinie 84 bislang nicht verabschiedet werden konnte, 85 kann angesichts der weitgehend gefestigten, richterrechtlich geprägten Zuzugsfreiheit von Auslandsgesellschaften zwar nach wie vor einen erhöhten Aufwand bedeuten,86 stellt aber keinen systemrelevanten Mangel mehr dar. 87 Als zweites Beispiel für diese Entwicklung lässt sich das Grünbuch der Europäischen Kommission in Personenstandsfragen nennen, 88 das neben weitgehenden Vorschriften zur Urkundenanerkennung auch eine überstaatliche Harmonisierung des Namens- und Personenstandskollisionsrechts zur Dispo78
Dafür Rentsch, ZEuP 2015, 288 (290). Zu den Auswirkungen auf die Kollisionsrechtsharmonisierung in den Mitgliedstaaten s.u. § 7 B. 80 Dazu insb. Weller, Europäische Rechtsformwahlfreiheit und Gesellschafterhaftung, 2004; Siehr, FS Kropholler, 2008, 211 (212 f.). 81 Dazu Leifeld, Das Anerkennungsprinzip im Kollisionsrechtssystem, 2010, 135 ff. 82 Überblick bei Weller, Unternehmensmobilität in Europa, FS Blaurock, 2013, 497. 83 Weller, FS Blaurock, 2013, 497. Zu den andauernden faktischen Mängeln der Unternehmensmobilität in Europa s. Rentsch, Unternehmensmobilität und ihre Hindernisse, in: Oplustil/Teichmann (Hrsg.), Grenzüberschreitender Rechtsformwechsel, 2017. 84 Projekt der 14. Gesellschaftsrechtsrichtlinie über die grenzüberschreitende Verlegung des Satzungssitzes von Kapitalgesellschaften, siehe zuletzt SEC(2007) 1707. 85 Dazu Weller/Rentsch, Die Kombinationslehre beim grenzüberschreitenden Rechtsformwechsel ± Neue Impulse durch das Europarecht, IPRax 2013, 531. 86 Für das Umwandlungsrecht Weller/Rentsch, IPRax 2013, 531 (535). 87 Weller, FS Blaurock, 2013, 497. 88 KOM(2010) 747 endg., 4 ff. 79
D. Ordnung ohne Allgemeinen Teil
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sition stellt. 89 Das Grünbuch begründet den Harmonisierungsbedarf nicht mit Verweis auf die insoweit prägenden Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs in den Rechtssachen Garcia Avello90 und Grunkin Paul91, sondern stützt sich auf entsprechende Bestimmungen des Stockholmer Programms (2010)92 und die damit übereinstimmenden Vorschläge des Europäischen Parlaments. 93 Rechtsprechungs- und Rechtssetzungsgeschichte laufen in Art. 21 Abs. 1 AEUV zusammen. Diese Vorschrift dient einerseits den EuGHJudikaten als Entscheidungsgrundlage und stellt andererseits die Grundlage und die Grenze des sekundärrechtlichen Harmonisierungsprojekts dar.
D. Ordnung ohne Allgemeinen Teil D. Ordnung ohne Allgemeinen Teil I. Europäisches IPR als Resultat supranationaler Rechtssetzung Die internationalprivatrechtlichen Verordnungen der Union (Europäisches Kollisionsrecht im engeren Sinne) heben sich von nationalen und staatsvertraglichen Vorgängerbestimmungen durch veränderte institutionelle Rahme nbedingungen ab. Anders als das autonome IPR muss das Europäische Kollisionsrecht typischen Problemen supranationaler Gesetzgebung begegnen. 94 Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit ist erstens interessant, dass die internationalprivatrechtliche Regelungskompetenz der Europäischen Union im Gegensatz zu der des nationalen Gesetzgebers direkten und indirekten inhaltlichen Schranken unterliegt. Einerseits wird die IPR-Harmonisierung ausweislich Art. 81 Abs. 2, 3 AEUV nicht mehr durch das Binnenmarktziel (Art. 65 EG a.F.) konditioniert, was den Handlungsspielraum der Union signifikant ausdehnt. Andererseits steht die Rechtssetzung nach wie vor unter dem Primat eines unionspolitischen Handlungsauftrags der Förderung des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Sie bleibt damit zum einen rechtfertigungsbedürftig und ist zum anderen der politischen Einschätzungsprärogative des Verordnungsgebers entzogen. Zweitens ist der europäische im Gegensatz zum nationalen Gesetzgeber nicht imstande, die Schaffung einer bereichsspezifischen, kollisionsrechtlichen Verordnung mit Randharmo89
KOM(2010) 747 endg., 15. Auswertung und Alternativentwurf bei Dutta/Frank/Freitag/Helms/Krömer/Pintens, Ein Name in ganz Europa ± Entwurf einer europäischen Verordnung über das Internationale Namensrecht, StAZ 2014, 33. 90 EuGH ± C-148/ 02, Rn. 9 ff. ± Garcia Avello ./. Belgien ± Slg. 2003, I±11639. 91 EuGH, 14.10.2008 ± C353/06 ± Grunkin Paul ./. Standesamt Niebüll. 92 Das Stockholmer Programm ± Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Buȋrger, ABl. 2010 C 115/1, Nachweis vgl. KOM(2010) 747 endg., 3. 93 KOM(2010) 747 endg., 3. 94 S. stellvertretend OECD, Bessere Rechtssetzung in Europa: Deutschland 2010, 139± 141.
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nisierungen des Sach- oder Verfahrensrechts zu verbinden. Europäische internationalprivatrechtliche Verordnungen müssen die zu ihrer schlüssigen Umsetzung notwendige Randharmonisierung also selbst vornehmen. Drittens ist eine erfolgreiche Gesetzgebung auf der Unionsebene wesentlich voraussetzungsvoller als im nationalen Kontext. Zum einen folgen kollisionsrechtliche Verordnungen auf dem Gebiet des Familienrechts ausweislich Art. 81 Abs. 3 AEUV dem Konsensprinzip; zum anderen erzeugt die Harmonisierung einer Vielzahl autonomer IPR-Systeme erwartungsgemäß ein größeres Diskussionsspektrum als die Reform eines einzigen, nationalen IPRSystems. Sie erfolgt daher regelmäßig langsamer und begegnet größeren Schwierigkeiten in der Konsensfindung. 95 II. Unmittelbare Konsequenzen Diese veränderten Ausgangsbedingungen schlagen sich in zwei Konsequenzen nieder. Erstens weist die kollisionsrechtliche Rechtssetzung in der Europäischen Union zahlreiche Lücken auf (1.). Zweitens verschwimmen unterschiedliche Disziplinen, namentlich das Internationale Zivilprozessrecht, das Internationale Privatrecht, und das Sachrecht, unter dem Dach eines einheitlichen Rechtsaktes (2.). 1. Lückenhafte Rechtssetzung Die Rechtsakte der Union weisen sowohl sachliche (a)) als auch räumliche (b)) Lücken auf. Auch in der Verbindlichkeit und den Rechtswirkungen der Verordnungen werden Unterschiede deutlich (c)). a) Inhaltliche Lücken Neben dem Geschäftsfähigkeitsstatut (Art. 7 EGBGB)96, das beispielsweise nach Art. 1 Abs. 2 lit. a) Rom I-VO ausdrücklich vom Anwendungsbereich des Verordnungsrechts ausgenommen ist, werden das Internationale Namens95
Einen allgemeinen, nicht auf die internationale Konsensfindung beschränkten Erklärungsansatz für dieses Problem liefert die public choice theory, vgl. dazu u.a. Buchanan/Tullock, The Calculus of Consent ± Logical Foundations of Constitutional Democracy, 1962; Olson, The Logic of Collective Action, 1965; Posner, Theories of Economic Regulation, Bell Journal of Economic and Management Science 5 (1974), 335. Zur Übertragbarkeit auf die internationale Rechtssetzung Stephan, Barbarians Inside the Gate: Public Choice Theory and International Economic Law, American University International Law Review 10 (1995), 745. 96 Ferrari/Kieninger/Mankowski/Kieninger Art. 1 Rom I-VO Rn. 9, wonach die Ausnahme nach deutschem Recht (die Geschäftsfähigkeit ist dort Teil des Personalstatuts) selbstverständlich sei. Anders sieht es das Common Law, das die Geschäftsfähigkeit als Teil des Vertragsstatuts betrachtet. Dazu bereits Batiffol, Une évolution possible du statut personnel dans l¶Europe continentale, FS Yntema, 1961, 295.
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recht (Art. 10, 48 EGBGB), das Recht der Eheschließung (Art. 13 EGBGB) und der Eingehung eingetragener Lebenspartnerschaften (Art. 17 b EGBGB) 97 , das Abstammungs- (Art. 19 ff. EGBGB) und Adoptionsrecht (Art. 22 EGBGB) und schließlich das Internationale Sachenrecht (Art. 43 f. EGBGB) bisher nicht durch Verordnungen geregelt. 98 Diese Kollisionsnormen bilden zwar teilweise den Gegenstand staatsvertraglicher Regelungen, die den Inhalt des autonomen IPR beeinflussen oder die nationale Regelung ersetzen.99 Umfassende Harmonisierungsprojekte sind in den genannten Bereichen aber weder vorhanden, noch geplant. In anderen Sachbereichen sind Harmonisierungen zwar vorhanden, aber unvollständig. Das gilt insbesondere für die deliktische Haftung. 100 b) Lücken im räumlichen Anwendungsbereich aa) Opt-in und opt-out qua Zusatzprotokoll Räumliche Lücken im Anwendungsbereich der Rom-Verordnungen ergeben sich daraus, dass Dänemark, Großbritannien und Irland in entsprechenden Zusatzprotokollen zu den EU- und EG-Gründungsverträgen Vorbehalte gegenüber der Unionspolitik des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts erklärt haben. Die sekundärrechtliche Kollisionsrechtsvereinheitlichung ist für diese Mitgliedstaaten nicht per se verbindlich. 101 Während Großbritannien und Irland in Bezug auf die Rom I- und II-Verordnungen von ihrem opt-in-Recht Gebrauch gemacht haben, hat sich Dänemark vollständig von der Kollisionsrechtsharmonisierung zurückgezogen. Entsprechend sind sowohl die Rom I als auch die Rom II-VO vor dänischen Gerichten nicht verbindlich, aber als lois uniformes (Art. 2 Rom I-VO, Art. 2 Rom II-VO) im Verhältnis der restlichen Mitgliedstaaten zu Dänemark anwendbar. Das mit Geltung ab 2015 unionsweit vereinheitlichte Internationale Erbrecht der Union wird von Großbritannien, Irland und Dänemark nicht mitgetragen. Gemäß Art. 20 EuErbVO ist diese loi uniforme, sobald ein Sachverhalt vor die Gerichte eines der Mitgliedstaaten gelangt, in dem die EuErbVO als geltendes Recht Anwendung findet.
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Hier steht aber zu erwarten, dass der Gesetzgeber nach dem Vorbild des Internationalen Scheidungsrechts (Art. 17 EGBGB n.F.) eigeninitiativ eine Restverweisung auf die Güterrechtsverordnung für eingetragene Lebenspartnerschaften ausspricht. 98 Rentsch, ZEuP 2015, 288 (294). 99 Vgl. die Diskussionen zur IPR-Reform 1986, BT-'UVÄ'DV(*%*% VROOGLH5HJHOXQJHQZLFKWLJHULQWHUQDWLRQDOHUhEHUHLQNRPPHQEHUQHKPHQ³ 100 Mansel/Thorn/Wagner, IPRax 2013, 1 (2, 10). 101 Die Harmonisierung kann aber, so die Art. 1, 2 der jeweiligen Zusatzprotokolle zum AEUV, optional und bereichsspezifisch nachvollzogen werden.
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bb) Verstärkte Zusammenarbeit Wesentlich beschränkter ist der Anwendungsbereich der Rom III-VO sowie derjenige der EuGüVO und der EuPartVO. Alle drei Verordnungen wurden bzw. werden nicht auf Grundlage des Art. 81 AEUV verabschiedet, sondern stellen das Ergebnis einer Verstärkten Zusammenarbeit (Art. 328 AEUV) dar. Die Rom III-VO trat anfangs zwischen 13 Mitgliedstaaten in Kraft. 102 Sie gilt mittlerweile in 16 EU-Mitgliedstaaten. 103 Die Verstärkte Zusammenarbeit, die der EuGüVO und der EUPartVO zugrunde liegt, wird von 17 Mitgliedstaaten getragen. 104 In den teilnehmenden Mitgliedstaaten genießen die Verordnungen ebenso wie regulär verabschiedetes Verordnungsrecht den Anwendungsvorrang vor nationalem Recht; Art. 288 Abs. 1 AEUV gilt insoweit analog. Nicht teilnehmende Mitgliedstaaten sind dagegen nicht an die Verordnungen gebunden, soweit sie sich nicht eigenständig zum Beitritt entschließen. Auch eine indirekte Anwendung der Verordnungen qua loi uniforme verbietet sich.105 Dass die Rom III-VO nicht regulär im Wege des unter Art. 81 Abs. 2 AEUV vorgesehenen Verfahrens verabschiedet wurde, lässt sich im Wesentlichen auf zwei Gründe zurückführen. Erstens standen die unterschiedlichen Wert- und Moralvorstellungen in den Mitgliedstaaten einer Einigung entgegen. Zweitens ließ sich im Rahmen der Diskussion um den Verordnungsinhalt im Rat ein deutlicher Wille einiger Mitgliedstaaten erkennen, identitätsprägende Bestandteile des eigenen Zivilrechts nicht einer schwer zu steuernden unionsweiten Harmonisierung zu überantworten. 106 Konsensprobleme zwischen den Mitgliedstaaten ließen die Verhandlungen zur Verabschiedung einer revidierten, um Kollisionsnormen ergänzten Version der EuEheVO wie auch die um einen eigenständigen Entwurf einer scheidungskollisionsrechtlichen Verordnung scheitern. 107 Die fehlende Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten im Hinblick auf den internationalprivatrechtlichen Teil der geplanten Paketverordnung führte dazu, dass der politisch weniger pro102 Becker, Die Vereinheitlichung des Europäischen Internationalen Familienrechts unter der Rom III-Verordnung, NJW 2011, 1543. 103 Zum Beitritt der Slowakei Mansel/Thorn/Wagner, IPRax 2013, 1 (5). Zu den Voraussetzungen und zum Verfahren Fiorini, Harmonizing the Law Applicable to Divorce and Legal Separation ± Enhanced Cooperation as the Way Forward?, ICLQ 59 (2010) 1143 (1148 ff., 1154.), die insbesondere darauf hinweist, dass es sich bei der Verstärkten Zusammenarbeit um das letzte Mittel handeln muss (Art. 20 Abs. 2, ibid., 1151 f.). 104 Belgien, Bulgarien, Tschechische Republik, Deutschland, Griechenland, Spanien, Frankreich, Kroatien, Italien, Luxemburg, Malta, den Niederlanden, Österreich, Portugal, Slowenien, Finnland und Schweden. 105 Für die Rom III-VO Fiorini, ICLQ 59 (2010), 1143 (1157). 106 Zusammenfassung bei Becker, Die Vereinheitlichung des Internationalen Familienrechts unter der Rom III-VO, NJW 2011, 1543. 107 So noch KOM(2005) 82 endg.
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blematische, zuständigkeitsbestimmende Teil in Form der EuEheVO als selbstständige Verordnung verabschiedet wurde. Das Internationale Privatrecht der Ehescheidung wurde trotzdem zunächst als selbstständiges Projekt weiterverfolgt. Großbritannien und Irland brachten allerdings im unmittelb aren Nachgang zu der Verabschiedung des Grünbuchs zur Rom III-VO im Jahr 2005 ihre Absicht zum Ausdruck, opt-in-Recht nicht zu nutzen.108 Auch Mitgliedstaaten, denen diese Option nicht offenstand, drückten aus den oben angedeuteten Gründen ihr inhaltliches Missfallen an einer unionsweiten Regulierung des Internationalen Scheidungsrechts aus. Einigen erschien die Regelung zu progressiv; in anderen Fällen, wie dem Schwedens, hätte eine Zustimmung zum Verordnungsentwurf die autonomen internationalprivatrechtlichen Bestimmungen verschärft. 109 Entsprechend wurde das Internationale Scheidungsrecht zwischen anfangs zehn EU-Mitgliedstaaten vereinheitlicht (Art. 20 EUV, Art. 328 AEUV). 110 Nach Art. 328 Abs. 1 S. 1 AEUV steht allen weiteren Mitgliedstaaten aber jederzeit die Möglichkeit eines nachträglichen Beitritts offen. 111 Die Harmonisierung des Güterrechts verheirateter Paare wurde aus ähnlichen Gründen in eine Verstärkte Zusammenarbeit übergeleitet. Konsensprobleme bestanden zunächst nur im Hinblick auf den Verordnungsvorschlag zum Güterrecht eingetragener Lebenspartner, 112 brachten aber insgesamt die Reformdebatte zum Erliegen. Nachdem die Kommissionsvorschläge im Jahr 2011113 veröffentlicht worden waren, wurden sie im Dezember 2014 der Arbeitsgruppe Zivilrecht des Rates übermittelt, wo sie bis Ende 2015 erfolglos diskutiert wurden. Am 3.12.2015 gab der Rat seinen Beschluss bekannt, die
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S. Rat, Pressemitteilung über die 2873. Tagung des Rates Justiz und Inneres am 5./6.6.2008, C/08/146, 22, Nachw. unter anderem bei Fiorini, ICLQ 59 (2010), 1143 (1144); Raupach, Ehescheidung mit Auslandsbezug in der Europäischen Union, 2014, 19. 'LH DEOHKQHQGHQ 0LWJOLHGVWDDWHQZHUGHQ LQ GHU 0LWWHLOXQJ DOOHUGLQJV QLFKW JHQDQQWÄ'LH große Mehrheit der Mitgliedstaaten befürwortete die Ziele dieses Verordnungsvorschlags. Aus diesem Grund und angesichts der Tatsache, dass die für die Annahme der Verordnung erforderliche Einstimmigkeit nicht erreicht werden konnte, gelangte der Rat zu dem Schluss, dass die Ziele von Rom III unter Anwendung der einschlägigen Bestimmungen GHU9HUWUlJHQLFKWLQHLQHPYHUWUHWEDUHQ=HLWUDXPYHUZLUNOLFKWZHUGHQN|QQHQ³ 109 Fiorini, ICLQ 59 (2010), 1143 (1144). 110 Beschluss des Rates 2010 uȋber die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts, 22.7.2010, ABl. 2010 L 189/12. 111 Streinz/Pechstein Art. 328 AEUV Rn. 1. 112 S. dazu den Vortrag von Frau Notarin Alexandra Thein im Rahmen der ERAJahrestagung zum Europäischen Familienrecht im September 2014 sowie auf den Tagungsbericht von Rentsch, ZEuP 2015, 436 (438). 113 KOM(2011) 126 endg. und KOM(2011) 127 endg.
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Verordnung im Rahmen einer Verstärkten Zusammenarbeit weiterzuverfolgen.114 c) Unregelmäßige acquis-Wirkung Die Geltung aller genannten Verordnungen ist nicht nur räumlich, sondern auch inhaltlich beschränkt. Gemäß Art. 20 Abs. 4 EUV haben Ergebnisse einer Verstärkten Zusammenarbeit keinen Anteil am acquis communautaire 115 und unterliegen damit nicht der ÄGarantie des qualitativen Entwicklungsstandes des Rechts der Europäischen Union³.116 Damit sind zwei Konsequenzen verbunden. Erstens zählen die Rom III-VO, die EuGüVO und die EuPartVO nicht zum gemeinsamen Bestand des Unionsrechts, den neu beitretende Mitgliedstaaten als geltendes Recht annehmen. 117 Entsprechend sind nicht nur die dort enthaltenen Vorschriften, sondern auch die dazu ergangene Rechtsprechung und Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof der Europäischen Union ausschließlich für die teilnehmenden Mitgliedstaaten verbindlich. 118 Zweitens lassen sich weder aus der Anknüpfungssystematik noch aus der Rechtsprechung zu den genannten Rechtsakten verbindliche Rückschlüsse für das Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts in anderen Bereichen formulieren. Trotz der zentralen Stellung des Güter- und Scheidungsrechts im Gefüge des europäischen Internationalen Familienrechts verbietet der institutionelle Hintergrund aller drei Dokumente eine rechtsaktübergreifende Syste mbildung. Das gilt sowohl für das Europäische IPR allgemein als auch für den Gedanken einer international-familienrechtlichen Sonderdogmatik nach dem Vorbild des Art. 14 EGBGB. Rückschlüsse auf die restlichen Aufenthaltsanknüpfungen im Unions-IPR erweisen sich als schwierig, weil die Anwendung allgemeiner Regeln der Normkollision, also die Grundsätze der lex posterior und der lex specialis, an der Identität der Normgeber scheitert. 119 Zwar ist sichergestellt, dass sich die Verordnung selbst in das verordnungsrechtliche Gesamtgefüge des Unionssekundärrechts einfügt und es nicht zu einer Spal-
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KOM(2016) 106 endg., 3. Schorkopf, Ä$FTXLV&RPPXQDXWDLUH³, in: Bergmann (Hrsg.), Handlexikon der Europäischen Union, 2012. 116 Raupach, Ehescheidung, 2014, 27. 117 Ä$Q GLH LP 5DKPHQ HLQHU 9HUVWlUNWHQ =XVDPPHQDUEHLW HUODVVHQHQ 5HFKWVDNWH VLQG nur die an dieser Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten gebunden. Sie gelten nicht DOV %HVLW]VWDQG GHU YRQ EHLWULWWVZLOOLJHQ 6WDDWHQ DQJHQRPPHQ ZHUGHQ PXVV³ $OOJHPHLQ Grabitz/Hilf/Nettesheim/Blanke Art. 20 AEUV Rn. 49. Spezifisch mit Bezug auf das IPR und IZVR Thomale, Verstärkte Zusammenarbeit als Einigungsersatz?, ZEuP 2015, 517 (527). 118 S.u. § 7 A. III. 1. c). 119 'DV OLHJW GDUDQ GDVV GHU YHUDEVFKLHGHQGH Ä5DW³ QLFKW PLW GHP DOOJHPHLQHQ QRU mgebenden Rat identisch ist, vgl. Raupach, Ehescheidung, 2014, 27 f. 115
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tung des unionsweit geltenden acquis kommt; 120 sie folgt aber einer anderen äußeren Systematik als der Restbestand des Unionssekundärrechts. 121 Auch ein in sich geschlossenes Europäisches Eherecht nach dem Vorbild der Art. 14 ff. EGBGB ist angesichts der institutionellen Struktur der drei Verordnungen nur schwer denkbar. Wäre die Ausarbeitung von Rom III-VO, EuGüVO und EuPartVO im Wege der verstärkten Zusammenarbeit durch denselben Ratsbeschluss ermächtigt worden, spräche viel dafür, dass die dazu entwickelte Dogmatik einem rechtsaktübergreifenden, zusammenarbeitsspezifischen Kohärenzideal genügen muss. Das ist aber nicht der Fall, zumal an der Rom III-VO und den Güterrechtsverordnungen bereits unterschiedliche Mitgliedstaaten teilnehmen. Entsprechend ist eine Herausbildung von Regeln und Auslegungsgrundsätzen in allen drei Fällen überhaupt nur innerhalb der einzelnen Verordnung möglich. Für die vorliegende Arbeit fällt dieser Befund insofern ins Gewicht, als sowohl die Rom III-VO als auch die EuGüVO der Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt ein bestimmendes Gewicht verleihen. d) Kritik am Gebrauch der Verstärkten Zusammenarbeit für die Zwecke der Kollisionsrechtsharmonisierung Die vorstehenden Ausführungen, aber auch ein Blick auf den Gang der Harmonisierung in beiden beschriebenen Fällen, lassen berechtigte Zweifel daran entstehen, ob die Handlungsform der Verstärkten Zusammenarbeit verwendet werden sollte, um Uneinigkeiten über das ÄOb³ einer Harmonisierung zu überbrücken.122 Das Unionsprimärrecht stellt die Verstärkte Zusammenarbeit im Grundsatz nicht als Ausweichinstrument zur Überbrückung politischer Einigungsdefizite über das ÄOb³ einer unionsweiten Harmonisierung bereit, sondern dient dazu, Mängel im ÄWie³ einer inhaltlichen Einigung konstruktiv zu überwinden. Das Institut der Verstärkten Zusammenarbeit ist also geschaffen worden, um Differenzen in Bezug auf die konkrete Umsetzung eines in der Sache gewollten Harmonisierungsschrittes zu überwinden, 123 ersetzt aber nicht eine fehlende politische Einigung. 124 Gerade der politische Konsens über das ÄOb³ konnte im Internationalen Scheidungs- und Güterrecht nicht gefunden werden. Stattdessen stehen rechtskulturelle und inhaltliche Differenzen hinter dem Scheitern einer unionsweiten Harmonisierung.125 Ein anderes Ergebnis lässt sich nur begründen, wenn man die in Art. 20 Abs. 1 UA 2 120
Raupach, Ehescheidung, 2014, 28. Raupach, Ehescheidung, 2014, 28. 122 Fiorini, ICLQ 59 (2010) 1143 (1157); ebenso kritisch in einem anderen Zusammenhang Thomale, ZEuP 2015, 517 (527). 123 Fiorini, ICLQ 59 (2010), 1143 (1144 ff.). 124 Nach Thomale, ZEuP 2015, 517 (527). 125 Fiorini, ICLQ 59 (2010), 1143 (1144). 121
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S. 1 EUV geforderte Voraussetzung, die Ziele der Union zu fördern, technisch und großzügig interpretiert. Dann kann man mit der Mehrheit der Literatur argumentieren, dass mit der Rom III-Verordnung, aber auch mit der EuGüVO und der EuPartVO das mit Rom I und II begonnene Ziel einer umfassenden Harmonisierung des autonomen Kollisionsrechts der Mitgliedstaaten fortgesetzt wird.126 Dieses rechtspolitische Petitum kann aber nichts am status quo ändern: Weder die Rom III-VO noch die EuGüVO und die EuPartVO dürfen in der vorliegenden Arbeit den Ausgangspunkt und den einzigen regelungssystematischen Anknüpfungspunkt einer rechtsaktübergreifenden Systematisierung bilden. Wohl aber dürfen dogmatische Konstruktionen wie das in dieser Arbeit zu entwickelnde Differenzierungsmodell auf die Verordnungen übertragen werden, die im Rahmen einer Verstärkten Zusammenarbeit verabschiedet werden. 2. Disziplinenübergreifende Rechtssetzung Neben die beschriebenen inhaltlichen, räumlichen und institutionellen Defizite tritt die Beobachtung, dass das Europäische Kollisionsrecht die Systematik und Binnengrenzen nationaler Rechtsordnungen nur äußerst bedingt in die Normbildung einbezieht. Das lässt sich namentlich an den neueren kollisionsrechtlichen Verordnungsprojekten auf dem Gebiet des Familien- und Erbrechts nachweisen. Sie stellen sowohl Regeln über die internationale Zuständigkeit und das anwendbare Recht als auch solche über die Anerkennung ausländischer Urteile und Titel auf. Anstatt die Kodifikation nach Rechtsgebieten zu gliedern, möchte der Gesetzgeber einen Strauß binnenmarktfördernder und mobilitätsfreundlicher und damit zwingend funktional gegliederter Paketverordnungen schaffen. Damit verschwimmen die Grenzen zwischen zwei bislang getrennten Materien, 127 dem internationalen Zivilverfahrensrecht und dem Internationalen Privatrecht. 128 Aus der Perspektive eines suprastaatlichen Gesetzgebers scheinen beide Rechtsgebiete 129 der Union als funktional gleichberechtigte, einander ergänzende Mechanismen für den Abbau grenzüberschreitender Hindernisse in der Rechtswahrnehmung und -findung zu dienen.130 Das gilt jedenfalls für Rechtsmaterien außerhalb des Rechts der Zi126
So Raupach, Ehescheidung, 2014, 21; ebenso Andrae, Kollisionsrecht nach dem Lissabonner Vertrag, FPR 2010, 505 (506); Pocar, The European Harmonization of Conflict of Law Rules on Divorce and Legal Separation: Is Enhanced Co-Operation a Correct Approach?, IFL 2012, 24 (26). 127 Heldrich, Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht, 1969, 7±9. 128 Ibid. 129 Heldrich, Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht, 1969, 14 ff. 130 S. im Ansatz KOM(2010) 747, 15 (Alternativität von prozessualen Anerkennungsvorschriften und Kollisionsrechtsharmonisierung).
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vil- und Handelssachen, also das Personenstands-, Familien- und Erbrecht.131 Hier werden die internationale Zuständigkeit und das anwendbare Recht nicht nur soweit möglich unter einem gemeinsamen Verordnungstext zusammengefasst, sondern sind auch inhaltlich aufeinander abgestimmt. 132 3. Fehlender Allgemeiner Teil Schließlich entwickelt sich das Europäische Kollisionsrecht entsprechend dem Europäischen Privatrecht vom Besonderen Teil her. 133 Dabei handelt es sich um eine natürliche Folge einer funktionsorientierten und rechtsgebietsindifferenten Regelungstechnik. Aus nationaler Perspektive hat die Verabschiedung der Rom-Verordnungen die Aufteilung einer als einheitlich empfundenen Regelungsmaterie, des IPR, in verschiedene, untereinander nur lose verknüpfte Instrumente zur Folge.134 Anstatt eines übergreifenden Gesamtregelungswerkes entstehen für sich gesehen kohärente ÄRegelungsinseln³, deren Harmonisierungs- oder Integrationsdichte ebenso unterschiedlich hoch ist 135 wie ihre Interdependenz mit anderen Verordnungsdokumenten. So bilden die 2007 und 2008 verabschiedeten Verordnungen Rom I und Rom II gemeinsam mit der 2001 verabschiedeten und 2014 reformierten EuGVVO ein nahezu geschlossenes System für die Regelung grenzüberschreitender Vertrags- und Deliktsrechtsverhältnisse auf dem Gebiet der Zivil- und Handelssachen. 136 Nur methodisch, 137 aber nicht kodifikatorisch, ist die 2015 reformierte EuInsVO mit diesem System verbunden. Eine weitere, residual kohärente Regelungseinheit bilden die EuEheVO und die Rom III-VO.138 Seit ihrer Überarbeitung im Jahr 2003 regelt die EuEheVO über die internationale Zuständigkeit und Anerkennung in 131
Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 205. Vgl. allgemein Weller, FS Coester-Waltjen, 2015, 897. Erhalten bleibt die Unabhängigkeit von Zuständigkeit und anwendbarem Recht dagegen im wirtschaftsrechtlichen Kollisionsrechtssystem der Rom I, II-VO und der EuGVVO. 133 Wilke, Einführung, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0-Verordnung?, 2013, 23. 134 Eine ähnliche Beobachtung findet sich bei Wilke, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0-Verordnung?, 2013, 23. 135 Wilke, ibid. 136 Dazu statt vieler Würdinger, Das Prinzip der Einheit der Schuldrechtsverordnungen im Europäischen Internationalen Privat- und Verfahrensrecht, Eine methodologische Untersuchung über die praktische Konkordanz zwischen Brüssel I-VO, Rom I-VO und Rom II-VO, RabelsZ 75 (2011) 102; Lüttringhaus, Übergreifende Begrifflichkeiten im europäischen Zivilverfahrens- und Kollisionsrecht, RabelsZ 77 (2013) 31. 137 Konkret: über die Figur der vis attractiva concursus und einige Qualifikationsfragen. Dazu Willemer, Vis attractiva concursus und die EuInsVO, 2006, 9 ff. 138 Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Regulierung äußert daher Fiorini, ICLQ 59 (2010), 1143 (1157). Zu den Möglichkeiten eines koordinierten Gleichlaufs von forum und ius innerhalb dieses Systems Weller, FS Coester-Waltjen, 2015, 897 (908 ff.). 132
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Scheidungsverfahren allerdings auch sorgerechtliche Zuständigkeiten. 139 Wieder anders gestaltet sich die Regelungstechnik in der 2008 verabschiedeten EuUntVO. Dieser Sekundärrechtsakt enthält ausschließlich Bestimmungen über die internationale Zuständigkeit und bedient sich zur Regelung des unterhaltsrechtlichen IPR einer Referenz auf das 2007 von der Haager Konferenz verabschiedete Haager Unterhaltsprotokoll (vgl. Art. 15 EuUntVO),140 das die Union zu diesem Zweck ratifiziert und als Verordnung verabschiedet hat. Ein viertes Regelungsmodell wählen die am 17.8.2015 in Kraft getretene EuErbVO und die EuGüVO und EuPartVO, die am 25.6.2016 verabschiedet wurden. 141 Alle drei Rechtsakte regeln die internationale Zuständigkeit und das anwendbare Recht gerade nicht getrennt voneinander, sondern versuchen, beide Fragen so weit als möglich aneinander anzugleichen. 142 Die Bemühung um den Erhalt der Ääußeren³ Kohärenz beider Dokumente und eine harmonische Koordination mit anderen Verordnungstexten, wird dagegen, wenn überhaupt, nur im Rahmen der internationalen Zuständigkeit deutlich. Das Internationale Privatrecht der Europäischen Union liest sich damit nicht als dynamisch gewachsene ÄGamtkodifikation³, sondern als Gebilde in sich geschlossener, untereinander aber nur lose, nämlich punktuell koordinierter oder verknüpfter Sektoralverordnungen. Der aktuelle Bestand unions-internationalprivatrechtlicher Verordnungen ist dmit das Ergebnis einer zeitgeistabhängigen Äad hoc-Gesetzgebung³. Es fehlt an einer planerischumfassenden Kodifikationstechnik, wie man sie im nationalen Recht voraussetzen kann. 143 Das Europäische Internationale Privatrecht ist mit anderen Worten derzeit weder vollständig noch kohärent. 144
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Abriss bei Adolphsen, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 2. Auflage 2015, 285. S. auch Wilke, Einführung, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0Verordnung? 2013, 23. 141 S.o. § 1 A II. 142 Weller, FS Coester-Waltjen, 2015, 897 (910). 143 Rühl/von Hein, RabelsZ 79 (2015), 701 (714). 144 Soweit das Verordnungsrecht nichts Anderes bestimmt, bleibt es für die genannten Sachbereiche bis auf Weiteres also bei den technischen Verweisungsgrundsätzen der Mitgliedstaaten, die sich allenfalls im Wege der wertenden Rechtsvergleichung (Art. 6 Abs. 3 EUV) in unionsrechtlichen Rechtsgrundsätzen niederschlagen und auf diese Weise unionsweit Anwendung beanspruchen können. Zu dieser Überlegung in einem anderen Zusammenhang Weller, Anknüpfungsprinzipien im europäischen Kollisionsrecht ± Abschied YRQGHUÄNODVVLVFKHQ³.ROOLVLRQVUHFKWVGRNWULQ",35D[ 140
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4. Ausweg: Gesamtkodifikation, Allgemeiner Teil oder ÄWissenschaftliche Vereinbarung³? a) Vorhandene Verbesserungsvorschläge Die beschriebenen Defizite sind mittlerweile sowohl in das Bewusstsein des rechtswissenschaftlichen Diskurses als auch in das der Rechtspolitik gelangt. So spricht sich das 2010 verabschiedete Stockholmer Programm der Europäischen Union zwar für die Verabschiedung neuer Verordnungsdokumente aus, mahnt aber gleichzeitig an, dass Ädas Unionsrecht durch eine Straffung der bestehenden Instrumente [zuallererst] kohärenter gestaltet werden [sollte]. ³145 Um eben diese Kohärenz herbeizuführen, werden derzeit zwei unterschiedliche Lösungswege diskutiert. aa) Allgemeiner Teil und Rom 0-Verordnung Insbesondere im deutschen Schrifttum findet sich die Überlegung, die allgemeinen Lehren und die Schlüsselbegriffe der Rom-Verordnungen in einem ÄAllgemeinen Teil³ zusammenzufassen 146 und diesen in einer Rom 0Verordnung zu kodifizieren. 147 Gegenstand dieser ÄRom 0-VO³ sollen einerseits allgemeine technische Fragen der Anknüpfung sein, darunter die Vorfrage, die Qualifikation, der renvoi, der ordre public, ein allgemeines Regime der Eingriffsnormen 148, die Behandlung von Doppel- und Mehrstaatlern und, entsprechend dem Vorbild 145 Ä=LHOVROOWHHVVHLQGLH.RKlUHQ] und die Nutzerfreundlichkeit der Rechtsinstrumente sicherzustellen und somit ihre effizientere und einheitlichere Anwendung zu gewährleisWHQ³'DV6WRFNKROPHU3URJUamm ± Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger vom 4.5.2010, ABl. 201 C 155/1, 13. 146 Kohler, Musterhaus oder Luftschloss? Zur Kodifikation des Europäischen Kollisionsrechts, Tagungsbericht, IPRax 2011, 419; Kramer et al., Current Gaps and Future Perspectives in European Private International Law: Towards a Code on Private International Law?, PE 462.476 (2012); Leible, FS Martiny, 2014, 429; ders./Müller, The Idea of a ³5RPH 5HJXODWLRQ´ ]XEHVHLWLJHQ@³$ktionsplan des Rates und der Kommission zur bestmöglichen Umsetzung der Bestimmungen des Amsterdamer Vertrages über den Aufbau eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts vom 3.12.1998, ABl. 1999 C 19/1 ff. 126 Dazu bereits de Winter RdC 1969-IIII, 349 (419 ff.). 127 Dazu ausführlicher unten § 4 B. 128 D¶Avout, Mélanges en l¶honneur Audit, 2014, 17 (21), hält diese Verbindung für zu flüchtig. 129 Zusammenfassend zu den rechtspolitischen und internationalprivatrechtlichen Hintergründen des Staatsangehörigkeitsprinzips Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 55 ff. 130 Rentsch, ZEuP 2015, 288 (309). 125
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§ 3 Eckpfeiler
in einen neuen Mitgliedstaat erleichtert und damit mobilitätsfördernd wirkt, hat er überdies den Vorteil, dass er am Personal-, Erb- und Familienstatut von Inländern keine nachteiligen Änderungen vornimmt. Der gewöhnliche Aufenthalt zeichnet sich insofern dadurch aus, dass er Zurückhaltung gegenüber dem kollisionsrechtlichen status quo übt. Einerseits bleibt sein Einsatz für den überwiegenden Teil der EU-Bürger folgenlos, da sich ihr Lebensmittelpunkt nach wie vor innerhalb ihres Heimatstaates befindet und die Staatsangehörigkeits- und die Aufenthaltsanknüpfung daher zu identischen Ergebnissen kommen. 131 Positiv folgenreich ist der Wechsel zum Aufenthaltsprinzip andererseits für EU-Ausländer und Angehörige von Drittstaaten, die in einem EU-Mitgliedstaat leben. Insbesondere in Rechtsgebieten, in denen das rechtskulturelle Gefälle innerhalb der Union die Vermutung eines kollisionsrechtlichen Anpassungsinteresses nicht widerlegt, 132 unterstützt der gewöhnliche Aufenthalt gerade diese kritische Masse durch eine unter integrationspolitischen Gesichtspunkten möglicherweise wertvolle und zudem widerlegbare Vermutung vollständiger Assimilation im Staat des Lebensmittelpunktes. 133 Die zuletzt genannte Eigenschaft zeichnet den gewöhnlichen Aufenthalt deutlich vor anderen, flüchtigeren Anknüpfungsmomenten wie dem Abschluss- oder Registerort aus. 134 Beide Anknüpfungsmomente erweitern den räumlichen Anwendungsbereich einer Privatrechtsordnung zwar gegenüber dem gewöhnlichen Aufenthalt, unterwerfen Ausländer aber auch ohne Abweichungsmöglichkeit einer bestimmten Rechtsordnung. Das hat zur Folge, dass den Angehörigen eines Staates der Genuss ihres Heimatrechts versagt wird, sobald sie sich vorübergehend ins Ausland begeben. Ferner sind hinkende Rechtsverhältnisse im Verhältnis zu Drittstaaten noch wesentlich häufiger zu erwarten, als es bereits in Ansehung von Staatsangehörigkeit zu erkennen ist.135 Der gewöhnliche Aufenthalt schafft dennoch einen Ausgleich. Einerseits setzt er im Gegensatz zur Registerortanknüpfung eine Mindestverbindung zwischen den beteiligten Rechtssubjekten und der angewandten Rechtsordnung voraus und stellt auf diese Weise sicher, dass sich Inländer auch während eines vorübergehenden Auslandsaufenthalts nach wie vor auf die Vorschriften ihres Heimatrechts berufen können. 136 Andererseits beugt er
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Mansel, FS Ansay, 2006, 185 (209); Rentsch, ZEuP 2015, 288 (291). Dieses Interesse sprach im Rahmen des IPRG 1986 entscheidend für eine abgestuft kombinierte Anknüpfung an Staatsangehörigkeit und gewöhnlichen Aufenthalt, Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 69 ff. 133 Mansel, FS Ansay, 2006, 185 (209 f.); Mankowski, IPRax 2015, 39 (43), sieht im gewöhnlichen Aufenthalt außerdem eine Möglichkeit, über die selbstständige Bestimmung GHUDQNQSIXQJVUHOHYDQWHQ7DWVDFKHQHLQHÄLQGLUHNWH5HFKWVZDKO³GXUFK]XIKUHQ 134 So auch Coester-Waltjen, StAZ 2013, 10. 135 Indirekt bei Coester-Waltjen, StAZ 2013, 10 (12). 136 Rentsch, ZEuP 2015, 288 (309). 132
B. Die rechtspolitische Diskussion um den gewöhnlichen Aufenthalt
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gerade durch diese Mindestverbindung einer exzessiven 137 Entstehung hinkender Rechtsverhältnisse im Verhältnis zu Drittstaaten vor. 138 Gleichzeitig öffnet er eine Privatrechtsordnung aber für Ausländer, anstatt ihnen die Anwendung pauschal zu versagen, wie es in Ansehung des Staatsangehörigkeitsprinzips der Fall ist. b) Politische Konsensfähigkeit des gewöhnlichen Aufenthalts Rechtspolitisch beansprucht der gewöhnliche Aufenthalt den Vorteil, dass er den Einigungsprozess, der der Schaffung überstaatlicher Rechtsordnungen vorangeht, möglichst rasch und problemlos verlaufen lässt.139 Konkret ist der gewöhnliche Aufenthalt nämlich rechtskreis-, rechtskultur- und rechtsgebietsneutral. Die Rechtskreisneutralität des gewöhnlichen Aufenthalts steht für den Umstand, dass der gewöhnliche Aufenthalt als Konzept Äheimatlos³ ist. 140 Die Staatsangehörigkeit und das domicile lassen sich deutlich einem Rechtskreis zuordnen, nämlich einerseits den kontinentaleuropäischen kodifizierten Internationalprivatrechten, und andererseits dem Common Law. 141 Der Umstand, dass der gewöhnliche Aufenthalt in keinem der beiden Systeme gewachsen ist, sondern es sich um ein Produkt früher transnationaler Kollisionsrechtsharmonisierung handelt, erleichtert dagegen die Konsensfindung. Das gilt auch auf der Ebene des Unionsrechts, da Verordnungsentwürfe dort vom Rat gebilligt werden müssen. 142 Dass sich der gewöhnliche Aufenthalt auch in keinem der EU-Mitgliedstaaten als primäres Anknüpfungsmoment 137 Freilich sind hinkende Rechtsverhältnisse auch in Anwendung des gewöhnlichen Aufenthalts keine Seltenheit; dennoch dürfte die Wahrscheinlichkeit der Nichtanerkenung höher sein, wenn man die Anwendungsbedingungen der eigenen Rechtsordnung herabsetzt. Das zeigt einerseits ein Blick auf die Entstehungsgeschichte des Art. 17 b EGBGB, andererseits das Beispiel bei Hall, ICLQ 24 (1975) 1 (2). 138 Coester-Waltjen, StAZ 2013, 10 (12). S. zur Veranschaulichung die analoge Regelung des Domicile and Matrimonial Proceedings Act 1973, der die Zuständigkeit britischer Gerichte vom Vorliegen eines gewöhnlichen Aufenthalts für mindestens sechs Monate abhängig macht und auf diese Weise die Anerkennungsfähigkeit güterrechtlicher Entscheidungen im Ausland steigern möchte. 139 Rauscher, FS Jayme, Band I, 2004, 719; ders., FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (638). 140 Rauscher, FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (638). 141 Zum domicile vgl. Cheshire, North & Fawcett, Private International Law, 2008, 157 ff.; Dicey, Morris and Collins, 15. Auflage 2015, 6±131; Rogerson, Collier¶s Conflict of Laws, 4. Auflage 2013, 15 ff.; Briggs, The Conflict of Laws, 2008, 24 f. 142 Der wahrscheinliche Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union wird diesen Befund nicht wesentlich verändern, da auch Irland zur Bestimmung des anwendbaren Rechts auf das domicile zurückgreift. Auch die nordischen EU-Mitgliedstaaten, insbesondere Schweden, bestimmen das Personalstatut nicht in Ansehung der Staatsangehörigkeit, sondern eines dem domicile wesensähnlichen Wohnsitzprinzips. Ausführlicher s. Giesen, Die Anknüpfung des Personalstatuts im norwegischen und deutschen internationalen Privatrecht, 2010, 77 m.w.N.
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des autonomen Internationalen Privatrechts etablieren konnte, unterstützt die Konsensfindung. 143 Negativ formuliert fordert die Aufenthaltsanknüpfung also allen beteiligten Mitgliedstaaten nämlich ein ähnlich großes ÄOpfer³, 144 besser: einen ähnlich großen Integrationsschritt ab. Positiv formuliert verschafft sie dem EU-Rechtsanwender, insbesondere dem EuGH, den nötigen Freiraum, um im Wege wertender Rechtsvergleichung einen autonomunionsrechtlichen, rechtskulturell anpassungsfähigen Begriff zu entwickeln. Der dritte Neutralitätsaspekt des gewöhnlichen Aufenthalts lässt sich darin erkennen, dass der Anknüpfungspunkt vermeintlich in allen internationalprivatrechtlichen Rechtsgebieten einsatzfähig erscheint. 145 Das wird daran deutlich, dass EU-Gesetzgeber nicht nur in den familienrechtlichen Verordnungen, sondern auch im Vertrags- und Deliktsrecht zur Lokalisierung eines Rechtsverhältnisses derart selbstverständlich auf den gewöhnlichen Aufenthalt zurückgreift, dass die Erwägungsgründe sich erklärender Ausführungen zur Aufenthaltsanknüpfung häufig enthalten. Wie zu Beginn der vorliegenden Abhandlung ausgeführt wurde, überträgt diese politische Einschätzung im Ergebnis freilich eine notwendige gesetzgeberische Harmonisierungsarbeit in die Kollisionsrechtsdogmatik und auf die funktionalen Unionsgerichte. 146 Umgekehrt lässt sich vermuten, dass der Gesetzgeber mit der Aufenthaltsanknüpfung im Internationalen Vertragsrecht einerseits und der im Internationalen Erbrecht andererseits keine unterschiedlichen Begriffe mit einem identischen Namen belegt hat, sondern es sich bei der Binnendifferenzierung um Nuancen innerhalb desselben Konzepts handelt. 5. Unionsprimärrechtlich gebotene Entstaatlichung Zuvor wurde darauf hingewiesen, dass die Entscheidung für den gewöhnlichen Aufenthalt in der wissenschaftlichen Diskussion als unionspolitisch opportun, aber keineswegs als zwingend gilt. 147 Diese Überlegung erweist sich vor dem Hintergrund des unter § 2 C. II. 2. erarbeiteten Rahmens allerdings als lückenhaft. Dort wurde gezeigt, dass der Restbestand mitgliedstaatlicher Regelungsautonomie unter dem umfassenden Einfluss des Unionsprimärrechts steht und die mitgliedstaatliche Gestaltungshoheit dementsprechend nicht nur durch die zunehmende supranationale Überformung in ihrem U m-
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Rauscher, FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (638). Wörtlich Rauscher, FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (638). 145 Rauscher, FS Coester-:DOWMHQ I VSULFKW LQVRZHLW YRP Ä5HL] GHU (LQKHLWVO|VXQJ³ 146 S.o. § 3 B. II. 1. 147 S.o. § 3 B. II. 2., 4. b); § 3 B. II. 5. und Mansel, FS Ansay, 2006, 185 (208). 144
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fang beschränkt 148, sondern umfassend durch unionsrechtliche Zielvorgaben überformt wird.149 a) Symbolische Entstaatlichung Auf den ersten Blick erfolgt diese Überformung freilich nur in Form politischer Leitlinien. Wie bereits angedeutet wurde, herrscht mittlerweile Konsens darüber, dass eine kollisionsrechtliche Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit für sich genommen weder dem Diskriminierungsverbot nach Art. 18 AEUV, noch dem Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger (Art. 21 AEUV) zuwiderläuft 150 und insofern nicht gegen Unionsprimärrecht verstößt. 151 Umgekehrt ist das Staatsangehörigkeitsprinzip weder durch das deutsche Grundgesetz 152 noch durch europäische und internationale Menschenrechte zwingend als Anknüpfung vorgegeben. 153 Hinzu kommt, dass Bedenken im Hinblick auf das unionsprimärrechtliche Diskriminierungsverbot sich nicht restlos beseitigen lassen. 154 Die Staatsangehörigkeit erscheint dem Hintergrund des Art. 18 AEUV schlicht unzeitgemäß. 155 Der gewöhnliche Aufenthalt lässt sich damit zwar nicht als zwingende, wohl aber als unionspolitisch vorzugswürdige Alternative zur Staatsangehörigkeit verstehen. 156 Vgl. EuGH ± C-210/06, Rn. 110f. ± &DUWHVLR2NWDWypV6]ROJiOWDWyEW ± Slg. 2008, I-9641. Zur umfassenden Konditionierung des grenzüberschreitenden Rechtsformwechsels dagegen Weller/Rentsch, IPRax 2013, 530 (531). 149 Kubicki, Kurze Nachlese zur Rechtssache Grunkin Paul ± Art. 18 EG und die Rechtsfolgen eines Verstoßes, EuZW 2009, 366 (367). 150 Basedow, IPRax 2011, 109 (113); Mansel, FS Ansay, 2006, 185 (210); Henrich, Abschied vom Staatsangehörigkeitsprinzip, FS Stoll, 2001, 437 (443 f.); Hohloch, Kollisionsrecht in der Staatengemeinschaft, FS Stoll, 533 (551); Helms, FS Pintens, 2012, 681 (682); Kohler, Symposium Spellenberg, 2005, 9 (12). 151 Basedow IPRax 2011, 109 (113); Henrich, FS Stoll, 2001, 437 (443 f.); Hohloch, FS Stoll, 2001 533 (551), Helms, FS Pintens, 2012, 681 (682); Kohler, Symposium Spellenberg, 2005, 9 (12); Mansel, FS Ansay, 2006, 185 (209 f.). 152 Mikat, Zur Diskussion um die Lehre vom Vorrang der effektiven Staatsangehörigkeit, 1983, 38, 41; a.A. Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 54. 153 Gaudemet-Tallon, Nationalité, statut personnel et droLWV GH O¶KRPPH )6 -D\PH Band I, 2004, 205 I ÄOD FRQdition de nationalité devrait céder lorsqu¶est en cause un droit de l¶homme qui touche à l¶HVVHQFHPrPHGHODSHUVRQQHKXPDLQH³GLHGDV Staatsangehörigkeitsprinzip als Ausweis kultureller Identität trotzdem grund- und menschenrechtlich fundiert sehen möchte, ibid., 208; Rauscher, FS Jayme, Band I, 2004, 719 (734 f.). 154 Mansel, FS Ansay, 2006, 185 (209). 155 Mansel, FS Ansay, 2006, 185 (209). 156 Mansel, FS Ansay, 2006, 185 (209 f.); anders, mit Verweis auf die kollisionsrechtliche Gleichbehandlung von In- und Ausländern Dutta/Frank/Freitag/Helms/Krömer/Pintens, Ein Name in ganz Europa ± Entwurf einer europäischen Verordnung über das Internationale Namensrecht, StAZ 2014, 33 (36). 148
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Eben diese Erwägung scheint auch den Verordnungsgeber zu leiten, wenn er sich mit den Gründen für seine Entscheidung für den gewöhnlichen Aufenthalt auseinandersetzt. Der Kommissionsentwurf zur EuErbVO begnügt sich insoweit mit einem knappen Hinweis auf die Integrationsfreundlichkeit und die Unbedenklichkeit des Begriffs unter Gesichtspunkten der Inländergleichheit.157 b) Schwund des nationalen Regelungsspielraums Schließlich verengt sich im Gefolge der Entscheidung der mitgliedstaatliche Regelungsspielraum in der Ausgestaltung des kollisionsrechtlichen Staatsangehörigkeitsprinzips derart, dass sich seine Praktikabilität als Anknüpfungsmoment in Zweifel ziehen lässt. 158 aa) Unionsprimärrechtliche Maßstabgebung (1) Garcia Avello Der kollisionsrechtliche Gehalt der 2003 ergangenen Entscheidung Garcia Avello steht nicht abschließend fest. 159 Jedenfalls nimmt sie auf die Autonomie der Mitgliedstaaten im Umgang mit dem Staatsangehörigkeitsprinzip Einfluss. Erstens stellt der Gerichtshof im Einklang mit seiner bisherigen Rechtsprechung zu den Art. 18 ff. AEUV klar, dass die kollisionsrechtliche Behandlung von Doppel- und Mehrstaatlern sich auch dann am Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger messen lassen muss, wenn es an einer tatsächlichen Migrationslage fehlt. 160 Abgesehen von der Entscheidung über das ÄOb³ der Heimatrechtsanknüpfung und den Erwerbsmodus der Staatsangehörig157 .20 HQGJ Ä'LHVH $QNQuȋpfung beguȋnstigt die Integration im Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts und schließt jede Diskriminierung von Personen aus, die in diesem Staat wohnen, ohne dessen Staatsangehörigkeit ]XEHVLW]HQ³ 158 Siehr, FS Kropholler, 2008, 211 (215 ff.) möchte die Avello und Grunkin-Judikate VRJDU DOVÄ.RUUHNWXU³ GHV QDWLRQDOHQ ,35 YHUVWDQGHQ ZLVVHQ Allgemein Clerici, Freedom of States to Regulate Nationality: European Versus International Court of Justice?, Liber Amicorum Treves, 2013, 839 (847). 159 Das Belgische IPRG, das nach der Garcia Avello-Entscheidung verabschiedet wurde, begnügt sich dagegen mit einer internen Verwaltungsanweisung, Circulaire du Ministre de la Justice relative aux aspects de la loi du 16 juillet 2004 portant le Code de droit international privé concernant le statut personnel, Moniteur belge, 28.9.2004. Nachweis bei Mansel, RabelsZ 70 (2006), 651 (689, Fn. 188). 160 EuGH ± C-148/02, Rn. 28 ± Garcia Avello ./. Belgien. Deutung bei Clerici, Liber Amicorum Treves 2013, 839 (850). Zum Anwendungsbereich des Art. 18 AEUV allgemein bereits EuGH, 20.9.2001 ± C-184/99± Grzelczyk, Rn. 32 f.; EuGH, 12.5.1998 ± C85/96, Rn. 56 ff. ± Martínez Sala; EuGH, 9.7.2004 ± C-456/02 ± Trojani; Kubicki, EuZW 2009, 366 (367); Kingreen, Die Universalisierung sozialer Rechte im europäischen Gemeinschaftsrecht, EuR 2007, Beiheft 1, 43 (57 ff.); Funken, Das Anerkennungsprinzip, 2009, 159.
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keit161 fällt die mitgliedstaatliche Regelungshoheit über die kollisionsrechtliche Handhabung des Staatsangehörigkeitsprinzips damit umfassend in den Anwendungsbereich des Unionsprimärrechts. 162 Steht damit ein umfassender abstrakter Einfluss des Unionsrechts auf das autonome IPR fest, verbietet das Judikat auch eine mechanische Rangbildung unter mehreren Nationalitäten und überformt so den mitgliedstaatlichen Handlungsspielraum durch unionsrechtliche Vorgaben. 163 An die Stelle der Äeffektiven³ Staatsangehörigkeit tritt ein Wahlrecht der Einzelperson. 164 Die Entscheidung, welche von mehreren Nationalitäten kollisionsrechtlich relevant ist, geht damit unter direktem Einfluss des Unionsprimärrechts vom mitgliedstaatlichen Gesetzgeber auf das Anknüpfungssubjekt über. (2) Grunkin Paul Auch die Entscheidung Grunkin Paul aus dem Jahr 2008 erklärt das Staatsangehörigkeitsprinzip an sich nicht für unionsrechtswidrig. 165 Nach Aussage des EuGH verfehlt die Heimatrechtsanknüpfung lediglich im konkreten Fall ihren Zweck166, da sie anstatt eines verlässlichen, stetigen und transparenten Verweisungsergebnisses ein hinkendes Namensrechtsverhältnis erzeugt 167 und infolgedessen das Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger verletzt. 168 Die Konsequenzen der Entscheidung für die mitgliedstaatliche Regelungsauto161 Clerici, FS Tullio Treves, 2013, 839 (850). Die Ausbürgerung muss sich seit EuGH, 2.3.2010 ± C-135/08 ± Rottmann ./. Freistaat Bayern ebenfalls am Unionsprimärrecht messen lassen. Schließlich hat der EuGH den Effektivitätsvorbehalt bei der Würdigung von Doppelstaatlern eingeschränkt, s. EuGH, 20.2.2001 ± C-369/90, Rn. 10 ± Micheletti ± Slg. 1992, I-4239. 162 Clerici, FS Tullio Treves, 839 (850). Bezogen auf die Grunkin Paul-Entscheidung, Kubicki EuZW 2009, 366 (367). Allgemein Funken, Das Anerkennungsprinzip, 2009, 159. 163 Mansel, RabelsZ 70 (2006), 651 (692); Basedow, IPRax 2011, 109 (112). 164 Basedow, IPRax 2011, 109 (112). 165 EuGH ± C-353/06, Rn. 32 f. ± Grunkin Paul ./. Standesamt Niebüll; Lehmann, What¶s in a Name? ± Grunkin-Paul and Beyond, Yearbook of Private International Law 2008, 135. 166 EuGH ± C-353/06, Rn. 32 f. ± Grunkin Paul ./. Standesamt Niebüll. 167 EuGH ± C-353/06, Rn. 34 ± Grunkin Paul ./. Standesamt Niebüll Ä,P hEULJHQ LVW darauf hinzuweisen, dass das deutsche internationale Privatrecht für die Zwecke der Bestimmung des Nachnamens einer Person nicht ausnahmslos an deren Staatsangehörigkeit DQNQSIW³ 168 EuGH ± C-353/06, Rn. 23±28, 32 ± Grunkin Paul ./. Standesamt NiebüllÄ'DQlmlich die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeitgewährleisten soll, dass der Name einer Person so bestimmt wird, dass Kontinuität und Stabilität gegeben sind, ist entsprechend dem Vorbringen der Kommission festzustellen, dass eine solche Anknüpfung unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens zum Gegenteil des angestrebten Ergebnisses führen wird. Denn das Kind wird jedes Mal, wenn es die Grenze zwischen Dänemark und 'HXWVFKODQGEHUTXHUWHLQHQDQGHUHQ1DPHQIKUHQ³
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nomie sind aber ebenfalls beachtlich. Die Mitgliedstaaten sind seither gehalten, entweder die Staatsangehörigkeitsanknüpfung in autonomen Kollisionsnormen durch alternative Zusatzanknüpfungen, Rechtswahltatbestände oder sachrechtliche Anerkennungstatbestände zu erweitern 169, oder aber das autonome Kollisionsrecht insgesamt um ein Parallelsystem zu ergänzen, 170 das eine vorbehaltlose Anerkennung von im Ausland entstandenen Rechtslagen erlaubt.171 Die fortbestehenden Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Vorgaben der Grunkin Paul-Entscheidung lassen sich an Art. 48 EGBGB erkennen. Die Vorschrift wurde in Reaktion auf die Entscheidung geschaffen, korrigiert die vom EuGH implizit als inkohärent kritisierte Primäranknüpfung an die Staatsangehörigkeit, Art. 10 EGBGB, aber nicht. Stattdessen eröffnet sie betroffenen Bürgern stattdessen ein Wahlrecht zugunsten einer sachrechtlichen Angleichung. Da sie dieses Wahlrecht unter die Voraussetzung der Anwendbarkeit deutschen Sachrechts stellt, ist diese Vorschrift aber zu eng gehalten, um das Problem der hinkenden Namensführung insgesamt zu beseitigen. 172 (3) Zwischenergebnis Das Staatsangehörigkeitsprinzip büßt unter dem Einfluss des Unionsprimärrechts insgesamt seine Attraktivität als Regelungsmodell des Personalstatuts ein. Wie die Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung andeutet, erzeugt es in einer entscheidenden Mehrheit von Fällen nämlich unionsrechtswidrige Rechtslagen. Erstens lässt es sich als Grundtatbestand der persönlichen Anknüpfung daher nur neben oder durch Rechtswahltatbestände oder Ausweichklauseln aufrechterhalten (Garcia Avello).173 Selbst dann können im Einzelfall aber, zweitens, hinkende Rechtsverhältnisse entstehen, die sich nur durch systemfremde Kompensationsinstrumente wie die Angleichung 174 oder die EuGH ± C-353/06, Rn. 31 ± Grunkin Paul ./. Standesamt Niebüll. Dazu Funken, Das Anerkennungsprinzip, 2009, 262 ff. 171 Mansel, RabelsZ 70 (2006), 651 (715); Coester-Waltjen, Das Anerkennungsprinzip im Dornröschenschlaf, FS Jayme, Band I, 2004, 121 (122). 172 Freitag, Die Namenswahl nach Art. 48 EGBGB, StAZ 2013, 69 (75 f.); Kohler/Pintens, Entwicklungen im europäischen Personen- und Familienrecht, FamRZ 2013, 1433 (1440). 173 Punktuelle Durchbrechung nehmen Basedow/Dopffel/Drobnig et. al. unter Hinweis auf die technischen Vorteile des Staatsangehörigkeitsprinzips hin, dies., Thesen zur Reform des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts, RabelsZ 44 (1980), 344. Der Einfluss des Unionsrechts stellt gerade die Anknüpfungsmomente des IPR aber in einem weitaus höheren Maße in Frage als die Konstitutionalisierung des IPR. 174 In diese Richtung deutet Art. 47 EGBGB, der durch Art. 2 Abs. 15b PStRG vom 19.2.2007 eingefügt wurde, BGBl. 2007 I, 122, 141; vgl. aber MüKoBGB/Birk Art. 47 EGBGB Rn. 3, der betont, dass es sich bei der Vorschrift nicht um einen Sonderfall der sachrechtlichen Angleichung handelt. 169 170
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Rechtslagenanerkennung ausgleichen lassen (Grunkin Paul). Die genannten Judikate bestätigen damit zunächst, dass die kollisionsrechtliche Regelungskompetenz der Mitgliedstaaten vollständig unionsrechtlich überformt ist. In der Rechtssache Garcia Avello stellt der Gerichtshof fest, dass das mitgliedstaatliche Namensrecht von Doppel- und Mehrstaatlern trotz eines Fehlens einer tatsächlichen Migrationskonstellation durch das Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger geschützt ist. 175 Möchte man das Judikat nicht über das Personenstandsverfahren, sondern kollisionsrechtlich umsetzen 176, sollten Doppelstaatler grundsätzlich auch selbst entscheiden können, welche ihrer Staatsangehörigkeiten die effektive ist. Auch in Grunkin Paul nimmt der Gerichtshof Einfluss auf die Kollisionsrechtsgestaltung. Hier hält er die Mitgliedstaaten indirekt dazu an, entweder die Staatsangehörigkeitsanknüpfung in autonomen Kollisionsnormen durch alternative Zusatzanknüpfungen oder durch entsprechende Rechtswahltatbestände zu erweitern. 177 Starre Vorrangregeln zugunsten der lex fori ± so auch Art. 5 Abs. 1 S. 2 EGBGB ± verstoßen also gegen Art. 18 AEUV, sofern sie ermessensunabhängig durch nationale Behörden angewendet werden. 178 Die Entscheidung, welche Staatsangehörigkeit Äeffektiv³ ist, muss entsprechend von der international zuständigen Hoheitsgewalt auf das Anknüpfungssubjekt übergehen. Als Konsequenz lässt sich das Staatsangehörigkeitsprinzip nur vermöge einer Rechtswahlmöglichkeit unionsrechtskonform gestalten. 179 Die Schaffung einer ungeschriebenen Rechtswahlmöglichkeit führt aber nicht nur zu Rechtsunsicherheit 180 , sondern ist auch mit einer Bringschuld für das Anknüpfungssubjekt verbunden. 181 Angesichts der Häufung der Doppel- und Mehrstaatlichkeit in Europa seit dem Zusatzprotokoll zum Straßburger Übereinkommen 182 von 1963 183 wird so die EuGH ± C-148/02, Rn. 28 ± Garcia Avello ./. Belgien. Zur Alternative s.o. Fn. 158. 177 EuGH ± C̻353/06, Rn. 31 ± Grunkin Paul ./. Standesamt Niebüll. 178 EuGH ± C-148/02, Rn. 42, 45 ± Garcia Avello ./. Belgien. 179 Im konstitutionalisierten autonomen IPR wollen Basedow/Dopffel/Drobnig et. al., RabelsZ 44 (1980), 344 seiner technischen Vorteile wegen trotz punktueller Durchbrechungen am Staatsangehörigkeitsprinzip festhalten und es durch eine Neugestaltung des Familienstatuts (und eine Auflockerung durch die Aufenthaltsanknüpfung) aufrechterhalten. Die Konstellation, die Garcia Avello zugrunde liegt, weicht vom Internationalen Privatrecht in Deutschland im Nachgang an die Spanier-Entscheidung des BVerfG aber insoweit ab, als sie nicht den Anknüpfungsgegenstand und das in Bezug genommene Anknüpfungssubjekt (Mannesrecht im Güter- und Ehenamensstatut) betrifft, sondern sich auf die Gestaltungsvarianten der Staatsangehörigkeitsanknüpfung selbst beziehen. 180 Im Kontext der familienrechtlichen Rechtswahl Helms, FS Pintens, 2013, 681 (692). 181 Helms, FS Pintens, 2013, 681 (692). 182 Série des traités européens no. 149, französische Fassung abgedruckt in Rev.crit. d.i.p. 82 (1993), 503 ff. 183 Sturm, Europa auf dem Weg zur mehrfachen Staatsangehörigkeit, StAZ 1999, 225 (227), der sich ibid., 229, kritisch zur deutschen Reform des Staatsangehörigkeitsrechts 175 176
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praktische Rechtfertigung des Staatsangehörigkeitsprinzips empfindlich relativiert. Selbst unter der Hypothese einer umfassenden Rechtswahlmöglichkeit können im Einzelfall aber nach wie vor hinkende Rechtsverhältnisse entstehen, die sich nur durch systemfremde Kompensationsinstrumente wie die Angleichung 184 oder die Rechtslagenanerkennung 185 ausgleichen lassen. Durch diesen Unsicherheitsfaktor büßt das Staatsangehörigkeitsprinzip auch wichtige Aspekte seiner einfachen und sicheren praktischen Handhabung 186 ein und verliert damit in weiten Teilen seine Rechtfertigung. 187 Das Staatsangehörigkeitsprinzip, das bislang als inhaltliches Leitbild die deutschen Vorschriften über das Personalstatut überformt hat, 188 wird infolge der unionsrechtlichen Harmonisierung also empfindlich relativiert. bb) ÄEffektive Unionsbürgerschaft³ So man die Unionsbürgerschaft mit dem EuGH als Ägrundlegenden Status³ der Bürger der Mitgliedstaaten 189 verstehen möchte, lässt sich die Abkehr vom Staatsangehörigkeitsprinzip aus der Perspektive des Unionsrechts womöglich sogar als grundlegenden Wechsel im status politicus der Unionsbürger deuten.190 Die Unionsbürgerschaft ergänzt die Nationalität 191, anstatt sie zu ersetzen. Gleichzeitig überlagert sie aber das durch die Nationalität bislang eindeutig ausgedrückte, soziale und kulturelle Band zwischen Staat und Bür-
und dem dadurch durchgesetzen Vorhaben zur Verringerung der Doppel- und Mehrstaatlichkeit äußert. 184 In diese Richtung deutet Art. 47 EGBGB, der durch Art. 2 Abs. 15രb) PStRG vom 19.2.2007 eingefügt wurde, BGBl. 2007 I, 122, 141; anders MüKoBGB/Birk Art. 47 EGBGB Rn. 3, der betont, dass es sich bei der Vorschrift nicht um einen Sonderfall der sachrechtlichen Angleichung handelt. 185 Henrich, IPRax 2005, 422 (424). 186 Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 58. 187 So auch die Argumentation in EuGH ± C-353/06, Rn. 23±28, 32 ± Grunkin Paul ./. Standesamt Niebüll; Henrich, Anerkennung statt IPR: Eine Grundsatzfrage, IPRax 2005, 422 (424); ders., Das internationale Namensrecht auf dem Prüfstand des EuGH, FS Heldrich, 2005, 667 (675); Mansel, RabelsZ 70 (2006), 651 (687). 188 BR-Drucks. 222/83, 36, BT-Drucks. 10/504, 36; statt vieler MüKoBGB/Sonnenberger, 5. Auflage 2010, Einl. IPR Rn. 692; zu den Gründen Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 55 ff.; Hellwig, Die Staatsangehörigkeit als Anknüpfung im deutschen IPR, 2001; Fischer, Zur Entwicklung des Staatsangehörigkeitsprinzips in den Haager Übereinkommen, RabelsZ 57 (1993), 1. 189 EuGH ± C-184/99, Slg. 2001, I-6193, Rn. 31 ± Grzelcyk; EuGH, 15.11.2011 ± C256/11, Rn. 64 ff. ± Dereci. 190 Zu dieser Konnotation des Staatsangehörigkeitsprinzips d¶Avout, Mélanges en l¶honneur Audit, 17 (31). 191 Statt vieler Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, 2007, 357 f.
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ger192 durch eine weitere, in der vertikalen Gewaltenteilung höher gelagerte normative Zuordnungsebene.d Die Bürger der EU-Mitgliedstaaten sind in den Augen des Gerichtshofs mit anderen Worten nicht auch, sondern zuallererst Unionsbürger. 193 Die Nationalität dient lediglich der Konkretisierung der Unionsbürgerschaft. Sie ist als kollisionsrechtlicher Anknüpfungspunkt freilich ungeeignet, da sie keine eindeutige Zuordnung zwischen einem Rechtssubjekt und einer Rechtsordnung herstellen kann. Die Anknüpfung an den gemeinsamen status politicus versagt immer dann, wenn es nicht ausschließlich um die Frage geht, ob einheitliches Unionsrecht oder das Recht eines Drittstaates zur Anwendung kommt. 194 Für Sachverhalte innerhalb der Union, aber auch dann wenn Unionsrecht und Drittstaatenrecht aufeinander treffen und es an unionsrechtlich einheitlichen Vorschriften fehlt, kann die Unionsbürgerschaft die wesenseigene Funktion internationalprivatrechtlicher Anknüpfungspunkte also nicht erfüllen. Für dieses Defizit finden sich zwei Gründe. Erstens und insbesondere fehlt der Europäischen Union ein flächendeckend vereinheitlichtes Europäisches Privatrecht. Die Unionsbürgerschaft alleine weist eine Person damit in den allermeisten Fällen nicht abschließend einer Rechtsordnung zu. Im Gegenteil besteht nach wie vor das Bedürfnis nach einer ± interlokalen ± Weiterverweisung in eine von nach wie vor vielen, inhaltlich heterogenen nationalen Rechtsordnungen der EUMitgliedstaaten. Zweitens fehlt den Erwerbskriterien der Unionsbürgerschaft die Präzision für einen internationalprivatrechtlichen Allokationsvorgang. 195 Das Personalstatut der Doppel- und Mehrstaatler, Art. 5 Abs. 1 Alt. 2 EGBGB, liefert aber ein analogiefähiges Modell, um die Unionsbürgerschaft als kollisionsrechtlichen Rahmenbegriff zu erhalten. Hier büßt die Staatsangehörigkeit ihre Legitimität als Anknüpfungspunkt nicht gänzlich ein, kommt aber nicht ohne den Nachweis 196 der Effektivität aus. An die Stelle des Staatsangehörigkeitsprinzips tritt dann ein zweigeteiltes Anknüpfungssystem, das subjektiv eine Rechtswahloption des Anknüpfungssubjekts vorsieht und sich im Rahmen der objektiven Anknüpfung des gewöhnlichen Aufenthaltes bedient. Während die tatsächliche Vermutung, die von der Staatsangehörigkeit ausgeht, als Indikator bei der Aufenthaltsbestimmung dienen kann,197 er192 Zu dieser Dimension des Staatsangehörigkeitsprinzips Mansel, in: Jayme (Hrsg.), Kulturelle Identität und Internationales Privatrecht, 2003, 119 (134 f.). 193 Kritisch aber BVerfG, 30.6.2009 ± 2 BvE 2/08; 2 BvE 5/08; 2 BvR 1010/08; 2 BvR 1022/08; 2 BvR 1259/08; 2 BvR 182/09 (Lissabon) ± BVerfGE 123, 267, Rn. 350. 194 Für diese Klarstellung danke ich Prof. Mathias Reimann, University of Michigan, Ann Arbor. 195 Vgl. nur Art. 20 Abs. 1 AEUV Ä(V ZLUG HLQH 8QLRQVEUJHUVFKDIW HLQJHIKUW 8Qionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit HLQHV0LWJOLHGVWDDWVEHVLW]W³ 196 Zur Entstehung der effektiven Staatsbürgerschaft Mansel, Personalstatut, 1988, Rn.159 ff. 197 Schulze'HUÄHQJHUH³JHZ|KQliche Aufenthalt, IPRax 2012, 526 (528).
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schöpft sich ihre kollisionsrechtliche Funktion also darin, die Rechtsordnungen zu benennen, die die persönlichen Rechtsverhältnisse einer Person überhaupt regeln können. 198 Im Analogieschluss kann die Unionsbürgerschaft in Drittstaatensachverhalten den Bezug zwischen einer Einzelperson und den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten herstellen. Welche dieser Rechtsordnungen zur Anwendung kommt, lässt sich freilich nur über die Aufenthaltsanknüpfung und die sie flankierende Rechtswahl bestimmen. Vergleichbar mit seiner Funktion in Art. 5 Abs. 1 S. 2 EGBGB erstarkt der gewöhnliche Aufenthalt damit gewissermaßen zu einer Äinternen³ Kollisionsnorm innerhalb einer Grundanknüpfung an die ihrerseits als Anknüpfung untaugliche Unionsbürgerschaft. 6. Überflexibilisierung und Rechtsunsicherheit Legt man die vorstehenden Ausführungen zugrunde, hebt sich die Aufenthaltsanknüpfung durch bedeutende Rechtsanwendungsvorteile von ihren Alternativen, dem Staatsangehörigkeits- und dem Domizilprinzip, ab. An diesem Punkt sollte die Analyse allerdings nicht enden. Besieht man die ablehnenden Stimmen in der Literatur genauer, vernachlässigen die bisherigen Überlegungen nämlich die negativen Folgen, die sich aus der Flexibilität und dem gesteigerten Tatsachenbezug des gewöhnlichen Aufenthalts ergeben. a) Stetigkeitsverlust und dépeçage Im Vergleich zu beständigen Anknüpfungsmomenten wie der Staatsangehörigkeit oder dem domicile of origin verkürzt sich mit der Aufenthaltsanknüpfung die Geltungsdauer eines kollisionsrechtlichen Verweisungsvorgangs, da die zugrundeliegenden Anknüpfungstatsachen Veränderungen im Lebenswandel einer Person einfangen.199 Das hat zwei konkrete Folgen. Erstens begünstigt jedenfalls eine wandelbare Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt Statutenwechsel. Dadurch wird neben der räumlichen, internationalprivatrechtlichen auch eine zeitliche Anknüpfungsgerechtigkeit angeboten und sichergestelllt, da ein Sachverhalt auf Grundlage des gewöhnlichen Aufenthalts stets in das Recht verwiesen wird, mit dem er aktuell am engsten verbunden ist. Andererseits wird die Vorhersehbarkeit von Anknüpfungsergebnissen, die Stabilität einmal begründeter Rechtsverhältnisse, und damit auch der Schutz wohlerworbener Rechte gefährdet. Insbesondere mit Bezug So bereits EuGH ± C-523/07 Rn. 39 ± A ./. Perusturvalautakunta: Ä=XEHUFNVLFKWigen sind [...] die Staatsangehörigkeit des Kindes [...] sowie die familiären und sozialen %LQGXQJHQGHV.LQGHVLQGHPEHWUHIIHQGHQ6WDDW³ 199 Das gilt allerdings nur für die Handhabung durch das britische Common Law. Ebenso Batiffol RdC 97 (1959) 431 (498 f.) unter Berufung auf die Kommunikation der syrischen und britischen Behörden im Nachgang an den Zweiten Weltkrieg, de Winter RdC 128 (1969-III) 349 (398). 198
B. Die rechtspolitische Diskussion um den gewöhnlichen Aufenthalt
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auf das Personalstatut wird daher moniert, dass sich infolge wachsender grenzüberschreitender Mobilität im europäischen Rechtsraum 200 das auf die persönlichen Rechtsverhältnisse anwendbare Recht zunehmend verflüchtige. Die Statutenflexibilität, für die der gewöhnliche Aufenthalt zweifellos sorgt, geht damit auf Kosten der Statutenkontinuität. Diese Entstetigung mag man für zeitgeistkonform halten, sie birgt aber in zweierlei Hinsicht Konfliktpotential. Erstens kann die potentiell allgegenwärtige Wandelbarkeit eines Personal- oder Familienstatuts sich in einen Widerspruch zum behaupteten Zweck der persönlichen Anknüpfung begeben, die kulturelle Identität einer Einzelperson kollisionsrechtlich umzusetzen. Diese Identität wird ± jedenfalls nach Ansicht ihrer Verfechter ± durch einen Ortswechsel gerade nicht aufgegeben, sondern in einer frühen Prägephase lebenslang erworben. 201 Der gewöhnliche Aufenthalt darf dementsprechend nur dann als Garant kultureller Eigenart verstanden werden, wenn die für ihn relevanten Anknüpfungstatsachen zeitlich auf den kulturell prägenden Lebensabschnitt einer Person bezogen werden.202 Der zweite Konfliktherd betrifft die rechtspraktische Handhabung der Aufenthaltsanknüpfung. Häufige Statutenwechsel führen hier zu Problemen, da ohne eine verstetigende Fixierung des Anknüpfungszeitpunktes eine durch intertemporale Verschiebungen bedingte dépeçage203 zu erwarten ist, die zur Häufung oder zu inhaltlichen Brüchen zwischen den auf einen Sachverhalt anwendbaren Rechtsordnungen führt und sich nur auf Sachrechtsebene über Substitution und Angleichung auflösen lässt. 204 Damit wird eine nicht zu unterschätzende Quelle für Rechtsunsicherheit geschaffen, zudem steigen die Kosten der Verfahrensführung mit Auslandsbezug. Der gewöhnliche Aufenthalt leidet mit anderen Worten an identischen Mängeln, die auch im Hinblick auf die Staatsangehörigkeit moniert werden. Ein Blick auf den Bestand des sekundärrechtlichen und völkervertragsrechtlichen Europäischen Kollisionsrechts relativiert dieses Argument allerdings. Mit Ausnahme von Art. 3 des Haager Unterhaltsprotokolls und Art. 16 Abs. 2 des von der Union ratifizierten Haager Kinderschutzübereinkommens sind alle Kollisionsnormen, die den gewöhnlichen Aufenthalt als Primäranknüpfung verwenden, als unwandelbare Anknüpfungen gestaltet. 205 Gerade dieser Sicherung wegen entsteht freilich ein Anschlussproblem. Eine unwandelbare Anknüpfung sichert zwar wohlerworbene Rechte, relativiert unter Umständen aber Vgl. nur Europäischer Rat, Stockholmer Programm ± ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger, ABl. 2010 C 115/1, 8. 201 Mankowski, IPRax 2004, 282 (285). 202 Mankowski, IPRax 2004, 282 (285), der ibid. aber auch auf die rechtskulturellen Probleme eines Abstellens auf die Staatsangehörigkeit hinweist. 203 Zum vergleichbaren Problem im internationalen Umwandlungsrecht Weller/Rentsch, IPRax 2013, 530 (531). 204 Weller/Rentsch, IPRax 2013, 530 (534). 205 Vgl. Art. 4 Abs. 1, 2 Rom I-VO, Art. 5 Rom I-VO. 200
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§ 3 Eckpfeiler
die zeitliche Anknüpfungsgerechtigkeit, die den gewöhnlichen Aufenthalt nach den gerade angestellten Überlegungen auszeichnen soll. Das gilt insbesondere dann, wenn man annimmt, dass der gewöhnliche Aufenthalt bereits nach relativ kurzer Zeit an einem Ort begründet werden kann, und nach dem Umzug in ein anderes Land rasch wechselt. Unter dieser Voraussetzung ist die Rechtfertigungsbasis einer starren Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt nicht weit von der Vested Rights Theory entfernt,206 die ihrerseits häufig als unzureichend empfunden wird, um die Anwendung einer Rechtsordnung zu rechtfertigen. 207 Dieser Gefahr ist die Kollisionsrechtsdogmatik und auch die Rechtsprechung bislang aber angemessen begegnet, indem sie den gewöhnlichen Aufenthalt mit weiteren Kriterien versieht, die über die bloße Präsenz hinausgehen. 208 In Ansehung der soeben angestellten Überlegungen ist dieses Vorgehen auch angebracht. Unabhängig davon, ob man den gewöhnlichen Aufenthalt mit einer starren Anknüpfung versieht, erhöht sich durch seine im Verhältnis zur Staatsangehörigkeit geringeren Anforderungen an die Anwendung einer Rechtsordnung die Gefahr hinkender Rechtsverhältnisse. Dieses Problem stellt sich freilich nicht im Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander, sondern in Ansehung des IPR von Drittstaaten; auch diesen Umstand gilt es bei der Gestaltung und Auslegung des gewöhnlichen Aufenthalts aber zu beachten. b) Unschärfe Ein weiterer Einwand gegen den Einsatz des gewöhnlichen Aufenthalts betrifft seine begriffliche und konzeptionelle Unschärfe. 209 Dass der Begriff in den unterschiedlichsten Bereichen des Kollisionsrechts Anwendung findet, bislang aber noch nicht allgemeinverbindlich definitorisch erschlossen ist, führt zur Herausbildung einer bereichsspezifischen Sonderdogmatik und erteilt dem Anliegen eine Absage, auf Grundlage übergreifender Begrifflichkeiten210 ein kohärentes, unions(sekundär)rechtliches Kollisionsrechtssystem zu schaffen. Diese Entwicklung sorgt für Rechtsunsicherheit und schafft damit 206
Grundlegend Beale, A Treatise on the Conflict of Laws, 1935, § 47. Statt Vieler Leflar/McDougal/Felix, American Conflicts Law, 4. Auflage 1986, 273. 208 S.o. § 3 A. I., zu nach wie vor vorhandenen Ungereimtheiten aber § 5 B. II. 1. 209 Wie oben gezeigt, wurde, ist diese Unschärfe nicht zuletzt der Bezeichnung des geZ|KQOLFKHQ$XIHQWKDOWVDOVÄ7DWVDFKHQEHJULII³JHVFKXOGHWs.o. § 3 A. III. 2., die aber richtigerweise abzulehnen ist, s.u. § 5 A. III. 4. 210 Beispielhaft für das System von Rom I-VO, Rom II-VO und EuGVVO Lüttringhaus, RabelsZ 77 (2013), 31 (35) mit Verweis auf EuGH, 6.10.2009 ± C-133/08, Rn. 22 ± ICF ± Slg. 2009, I-9687; Jayme/Kohler, L¶interaction des règles de conflit contenues dans le droit dérivé de la Communauté européenne et des Conventions de Bruxelles et de Rome, rev. crit. d.i.p. 84 (1995) 1 (16); Kommissionsvorschlag fuȋr eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates uȋber das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), KOM(2005) 650 endg., 2. 207
C. Thesen
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einen Zustand, den eine Kollisionsrechtsvereinheitlichung, wie Art. 81 Abs. 2 AEUV ausweist, gerade beseitigen soll.211 Die Schaffung einheitlicher Kollisionsnormen ist für sich genommen zwar schon ein wichtiger Schritt in Richtung des Ziels eines Europäischen Rechtsraums; durch sie allein wird aber nicht das Bedürfnis gestillt, Tatbestand und Rechtsfolge einer Kollisionsnorm ausreichend klar fassbar zu machen. 212 Die Brisanz dieses Mangels wird dadurch gesteigert, dass die Kohärenz einer Rechtsordnung die Vorhersehbarkeit der Rechtsanwendung steigert, ihre Inkohärenz sie dagegen senkt.213 Der derzeitige Zustand der Aufenthaltsanknüpfung macht es schwer bis unmöglich, sich vorab Klarheit über ihre Charakteristika zu verschaffen. 214 So werden auch verlässliche Prognosen über das aufgrund der Aufenthaltsanknüpfung gewonnene Rechtsanwendungsergebnis schwierig. Die Auswertungshoheit über die verweisungsrelevanten Tatsachen liegt im Gegenteilbeim erkennenden Richter, die Beibringungslast über das anknüpfungsrelevante Material bei den Parteien. Nicht zuletzt gerade weil der Richter regelmäßig über weniger Informationen als der Rechtssetzer verfügt 215, häuft sich infolgedessen die Fehlerwahrscheinlichkeit bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts.216 Die Kollisionsrechtsanwendung wird auf diese Weise ineffizient. Der so gewonnene Befund bringt die Arbeit an ihrem Ausgangspunkt zurück. Dort wurde bereits festgestellt, dass der status quo der Aufenthaltsanknüpfung nicht in eine rechtspolitische Kritik umformuliert, sondern als Appell an die Rechtsdogmatik verstanden werden muss. Diesem Anliegen wird die Arbeit im folgenden zweiten Teil einen Vorstoß leisten.
C. Thesen C. Thesen
1. In der deutschen Kollisionsrechtsdogmatik wird der gewöhnliche Aufenthalt als ÄDaseinsmittelpunkt³ oder Äfaktischer Wohnsitz³ umschrieben; im 211
Vgl. Erwägungsgrund 6 zu den Rom I- und II-VerordnungenÄUm den Ausgang von Rechtsstreitigkeiten vorhersehbarer zu machen und die Sicherheit in Bezug auf das anzuwendende Recht sowie den freien Verkehr gerichtlicher Entscheidungen zu fördern, muȋssen die in den Mitgliedstaaten geltenden Kollisionsnormen im Interesse eines reibungslos funktionierenden Binnenmarkts unabhängig von dem Staat, in dem sich das Gericht befindet, bei dem der AnspruFKJHOWHQGJHPDFKWZLUGGDVVHOEH5HFKWEHVWLPPHQ³ 212 Rühl, Statut und Effizienz, 2011, 319 f., die daraus einen Effizienzgewinn durch regelbasiertes IPR folgert. 213 Rühl, Statut und Effizienz, 2011, 319. 214 So zur Handhabung des gewöhnlichen Aufenthalts im Common Law bereits Hall, ICLQ 24 (1975) 1 (2). 215 Rühl, Statut und Effizienz, 2011, 319. 216 Ibid.
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§ 3 Eckpfeiler
staatsvertraglichen Kollisionsrecht gilt er als ÄTatsachenbegriff³. Eine kursorische rechtsvergleichende Umschau belegt die internationale Anschlussfähigkeit dieser Umschreibungen, ohne aber Auskunft über ihre Konsequenzen zu geben. 2. Der gewöhnliche Aufenthalt gilt im Gesetzgebungsdiskurs der Europäischen Union als moderne und konsensfördernde Alternative zu tradierten Mechanismen der persönlichen Anknüpfung. Damit werden schlagwortartig die folgenden Attribute umschrieben: a) Die Konkretisierung des gewöhnlichen Aufenthalts erfolgt im Gegensatz zum Staatsangehörigkeit ganz grundsätzlich nicht auf Grundlage vergangener, sondern in Ansehung gegenwärtiger Anknüpfungstatsachen (Synchronität). b) Als autonom-unionsrechtliches Anknüpfungsmoment entzieht die Aufenthaltsanknüpfung dem nationalen Gesetzgeber die Regelungshoheit über das Personalstatut von Privatpersonen. Über den Begriff setzt der EUGesetzgeber unter anderem unionsrechtliche Entstaatlichungstendenzen um, die durch die EuGH-Judikate Garcia Avello und Grunkin Paul ihr Gepräge erhalten haben. 3. Die Fungibilität und Synchronität des gewöhnlichen Aufenthalts ist mit technischen Nachteilen verbunden. Sowohl die Vorhersehbarkeit als auch die Stabilität einer kollisionsrechtlichen Verweisung werden durch die Aufenthaltsanknüpfung empfindlich relativiert.
Zweiter Teil
Inhaltliche Grundlinien § 4 Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts § 4 Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts
Die Grundlegung zur vorliegenden Arbeit ist zum Schluss gelangt, dass der gewöhnliche Aufenthalt strukturell wie inhaltlich nur in Grundzügen erschlossen ist. Auch wurde darauf hingewiesen, dass sich dieser Zustand angesichts des stetigen Bedeutungszuwachses der Aufenthaltsanknüpfung im Europäischen IPR und IZVR schwer oder nicht rechtfertigen lässt. Der vorliegende Abschnitt nimmt diesen Unschärfebefund zum Anlass für eine historische Rekonstruktion sowie für eine Analyse vergangener und gegenwärtiger Umschreibungs- und Definitionsversuche (§ 5). Insbesondere wird sie sich dabei der Frage widmen, welche Konturen der EuGH dem gewöhnlichen Aufenthalt verliehen hat (§ 6 B.). An erster Stelle soll ein Überblick über die Entwicklungsgeschichte des gewöhnlichen Aufenthalts erfolgen. Dieser gibt Auskunft über das Verhältnis des Begriffs zur Idee der persönlichen Anknüpfung und beleuchtet die Verbindungslinien zwischen der Aufenthaltsanknüpfung und anderen persönlichen Anknüpfungspunkten. Schließlich ermöglicht sie einen Einblick in die politische Motivation für seine Übernahme in multilaterale Staatsverträge (§ 4). Verbindliche Rückschlüsse über Inhalt und Struktur der Aufenthaltsanknüpfung erlaubt eine historische Rekonstruktion allerdings nicht. Um diese Lücke zu schließen, richtet die Arbeit ihren Blick auf die wesentlichen Streitstände, die sich in der nationalen Rechtsdogmatik im Hinblick auf den gewöhnlichen Aufenthalt herausgebildet haben (§ 5). Sie analysiert also die nationale Debatte, berichtigt sie im Lichte der historischen Rekonstruktion der Aufenthaltsanknüpfung und ergänzt sie durch eigene Überlegungen. Im Anschluss daran widmet sich die Arbeit vergangenen Versuchen, den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts zu definieren oder zu umschreiben (§ 6 A.). Abschließend skizziert die Abhandlung die Konturen, die der gewöhnliche Aufenthalt bislang in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und der funktionalen Unionsgerichte erhalten hat (§ 6 B.). Obwohl der Gerichtshof seinen eigenen Judikaten generell ihre Allgemeingültigkeit abspricht,1 stärken diese Entscheidungen die Position, die die vorliegende Ar1
EuGH ± C-523/07, Rn. 36 ± A ./. Perusturvalautakunta.
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§ 4 Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts
beit gegenüber den als tradiert wahrgenommenen Strukturierungsversuchen des gewöhnlichen Aufenthalts bezieht. Erkenntnisse zur Rechtsnatur und Binnenstruktur des gewöhnlichen Aufenthalts und zum ideengeschichtlichen und konzeptionellen Fundament dieser Anknüpfung lassen sich nur schwer isoliert gewinnen. Der folgende Abschnitt befasst sich daher mit dem ideengeschichtlichen Fundament eines Konzepts, das im modernen Internationalen Privatrecht unter dem Oberbegriff des Personalstatuts bekannt geworden ist. Analysegegenstand sind die Funktion sowie das rechtspolitische und rechtspraktische Umfeld des gewöhnlichen Aufenthalts in seinem Verhältnis zu Staatsangehörigkeit und Wohnsitz im Kontext der Haager Konventionen (B.). Auch die Frage nach der Interdependenz des gewöhnlichen Aufenthalts mit den Anknüpfungsmomenten, die das Personalstatut traditionell bestimmt haben, der Staatsangehörigkeit und dem Wohnsitz, wird erörtert. Die Arbeit setzt dazu die Entwicklungsgeschichte der persönlichen Anknüpfungspunkte zum Entstehungsprozess des IPR insgesamt in einen Bezug (A.). Erst ausgehend von dieser zweistufigen Gesamtbetrachtung wird es möglich sein, typische und atypische Einsatzfelder der Aufenthaltsanknüpfung voneinander zu unterscheiden. Auf dieser Grundlage wird die Arbeit einen Versuch unternehmen, den Begriffskern des gewöhnlichen Aufenthalts zu skizzieren (§ 5).
A. Entwicklung aus dem Domizilprinzip A. Entwicklung aus dem Domizilprinzip
I. Der gewöhnliche Aufenthalt zwischen Staatsangehörigkeits- und Domizilprinzip Da der gewöhnliche Aufenthalt im Haager Staatsvertragsrecht als Vermittlungslösung zwischen Staatsangehörigkeits- und Domizilprinzip gebraucht wurde, liegt es nahe, zunächst das Verhältnis der beiden traditionellen Anknüpfungsmomente zueinander zu untersuchen. Die erschöpfend diskutierte,2 dogmatisch und rechtskulturell informierte Kontroverse3 um die Vorzüge und Nachteile beider Grundparameter der persönlichen Anknüpfung muss dabei kein weiteres Mal geführt werden. Dass der gewöhnliche Aufenthalt dem kollisionsrechtlichen Domizilprinzip strukturell näher steht als der Staatsangehörigkeit, erfordert keine weitere ausführliche Begründung. 4 Mit dem Daseins2
Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 2; ausführlich de Winter RdC 128 (1969III) 349 (357 ff.). 3 De Winter RdC 128 (1969-III) 349 (357 f.). 4 So statt vieler Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 21; de Winter RdC 128 (1969-,,, GHUGHQJHZ|KQOLFKHQ$XIHQWKDOWDOVÄVR]LDOHQ:RKQVLW]³EHUVHW]W MüKoBGB/Sonnenberger, 5. Auflage 2010, Einl. IPR Rn. 72; Stoll, Rechtswahl, 1991, 141; Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 3.
A. Entwicklung aus dem Domizilprinzip
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mittelpunkt einer Person 5 stellt der gewöhnliche Aufenthalt ebenso wie der Wohnsitz erstens ausschließlich auf die räumliche Verbindung zwischen Anknüpfungssubjekt und Rechtsordnung ab. 6 Auch die kollisionsrechtlichen Interessen hinter dem Aufenthaltsprinzip entsprechen denen der Wohnsitzanknüpfung, 7 wohingegen die Staatsangehörigkeit an die Zugehörigkeit zu einem Personenverbund anknüpft.8 Das kollisionsrechtliche Ordnungsinteresse am Gleichlauf von forum und ius und an der rechtlichen Integration von Ausländern9 tritt hier hinter das Parteiinteresse an der Anwendung des kulturell nächsten Rechts 10 zurück. 11 Bei Aufenthalt und Wohnsitz fällt die Gewichtung umgekehrt aus. Mit der Identifikation von Aufenthalts- und Domizilprinzip alleine ist noch keine Klarheit über die wesentlichen Bezugsparameter des gewöhnlichen Aufenthalts geschaffen. Erstens hat sich der kollisionsrechtliche Wohnsitzbegriff historisch-rechtsvergleichend gesehen konstant weiter ausdifferenziert. 12 Zweitens muss auch das Staatsangehörigkeitsprinzip historisch nicht als Gegenmodell, sondern als Weiterentwicklung der Wohnsitzanknüpfung verstanden werden. 13 Drittens entwickelt sich ausgehend von der Absorptionsleistung des Staatsangehörigkeitsprinzips ein sachrechtlicher Wohnsitzbegriff in Kontinentaleuropa. 14 Dieser muss von der kollisionsrechtlichen Wohnsitzanknüpfung gerade unterschieden werden. Vor diesem Hintergrund ist der Aussagegehalt einer Umschreibung der Aufenthaltsanknüpfung Äals³ faktisches 15 oder soziales 16 Domizil denkbar gering. Das gilt jedenfalls, solange nicht entschieden ist, ob der moderne Briggs/Dickinson/Harris/McClean (Hrsg.), Dicey, Morris and Collins ± The Conflict of Laws, 2012, 6R-Ä$SHUVRQ, in general, is domiciled in the country in which he is FRQVLGHUHGE\(QJOLVKODZWRKDYHKLVSHUPDQHQWKRPH³(UNOlUXQJLQ-004. 6 Baetge, The Max Planck Encyclopedia of European Private Law, Ä%RWK habitual residence and domicile prefer a person¶s spatial connection to a given legal order RYHU WKH PRUH IRUPDOLVWLF ERQG RIWHQ DVVRFLDWHG ZLWK QDWLRQDOLW\³ Ebenso Mansel, in: Jayme (Hrsg.), Kulturelle Identität und Internationales Privatrecht, 2003, 119 (141). 7 Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 62±68. 8 Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 46. 9 Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 67, 73. 10 Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 63. 11 Kegel/Schurig, IPR, § 13 II (Wohnsitzprinzip) und § 2 II (Interessenlehre). 12 Grober Abriss der Entwicklung des Domizilprinzips im Ancien Régime bei Schneider, Le domicile international, 1973, 19±26; allgemeine historische Darstellung bei de Winter RdC 128 (1969-III) 349 (357 ff.). 13 Schneider, Le domicile international, 1973, 23 ff. 14 Schneider, Le domicile international, 1973, 25 f. 15 MüKoBGB/Sonnenberger, 5. Auflage 2010, Einl. IPR Rn. 721. 16 De Winter RdC 128 (1969-,,, Ä)RU WKLV UHDVRQ [...] I suggested that in Private International Law the FRQQHFWLQJIDFWRUµKDELWXDOUHVLGHQFH¶ should be understood to mean a person¶s social domicile³(Herv. d. Verf.). 5
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§ 4 Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts
Kontrastbegriff zur Staatsangehörigkeit 17 oder die gemeinrechtliche, durch das Staatsangehörigkeitsprinzip abgelöste Domizilanknüpfung 18 als Rollenvorbild dient. Dabei handelt es sich nämlich um zwei einander entgegengesetzte Alternativen der Ausübung von Hoheitsgewalt. 19 An welchem der beiden möglichen Parameter sich die Aufenthaltsanknüpfung orientiert, soll im Folgenden untersucht werden. II. Das Domizilprinzip als persönliche Grundanknüpfung 1. Römisches Recht: Stufenbau zwischen origo und domicilium Das Römische Recht trifft eine grundsätzliche Unterscheidung im Hinblick auf die Behandlung rechtsunterworfener Individuen. Für Römische Bürger gilt das ius civile, für Nicht-Römer das ius gentium.20 Diese Unterscheidung hat aus heutiger Sicht keine internationalprivatrechtliche, sondern allenfalls völkerrechtliche Relevanz, 21 zumal im Römischen Recht die Anwendung fremden materiellen und Prozessrechts nicht zwingend und regelbasiert angeordnet wird.22 Das ius gentium schafft ein fremdenrechtliches Einheitsprivatrecht,23 während das ius civile als innerstaatliches Zivilrecht Römischen Bürgern vorbehalten ist und allenfalls regionale und kommunale Unterschiede aufweist. Das Römische Privatrecht definiert seinen Anwendungsbereich damit einseitig nach dem Personalitätsprinzip. 24 Die Unterscheidung von ius civile und ius gentium ist infolgedessen nicht im modernen Sinn internationalprivatrechtlich, da sie weder allseitig, noch räumlich-persönlich erfolgt, sondern vielmehr in der einseitigen und ausschließlich persönlichen Zuweisung zu einer Rechtsebene besteht.25 17
Schneider, Le domicile international, 1973, 25 f. Dazu unten 2. c), d). 19 Das gilt jedenfalls, wenn man mit Weller, in: Leible/Unberath, Brauchen wir eine Rom 0-Verordnung?, 2013, 293 (297), die historischen Wurzeln des gewöhnlichen Aufenthalts am Residenzbegriff Ulricus Hubers festmacht. 20 von Bar/Mankowski, IPR I, § 2 Rn. 2. 21 Zum Unterschied zwischen ius gentium und modernem Völkerrecht Fisch, Peoples and Nations, in: Fassbender/Peters (Hrsg.), The Oxford Handbook of the History of Public International Law, 2012, 27 f. 22 Kropholler, IPR, § 2 II 1, 11. 23 Wolff, Das Problem der Konkurrenz von Rechtsordnungen in der Antike, 1979; Sturm, Comment l¶Antiquité réglait-elle ses conflits des lois?, Clunet 106 (1979) 259; von Bar/Mankowski, IPR I, § 2 Rn. 2. 24 Die Bestimmung des anwendbaren Rechts erfolgt ausschließlich in Ansehung des Anknüpfungssubjekts, Schönbauer, Personalitätsprinzip und Privatrechtsordnung im Römerreiche, Anz. Öst. Ak. Wiss. phil. hist. Klass. 97 (1960) 162. 25 Kegel/Schurig, IPR, VIII. D Ä,35LVWUlXPOLFKHV.ROOLVLRQVUHFKW5lXPOLFKH.Rllisionsrechte regeln die Anwendung von (meist) materiellen Rechten verschiedener geographischer *HELHWH³ (Herv. d. Verf.). 18
A. Entwicklung aus dem Domizilprinzip
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Innerhalb des ius civile bestimmt das domicilium über den Einwohnerstatus (incola) in einer Stadtgemeinde des Römischen Reichs und die damit verbundenen Privilegien. 26 In dieser Funktion entscheidet es über die Anwendbarkeit des dazugehörigen, neben das ius civile tretenden Stadtrechts.27 Das domicilium tritt im Ausgangspunkt also neben die durch die origo bestimmte civitas, flankiert und präzisiert deren Rechtsanwendungsbefehl. Für NichtBürger hat das domicilium dagegen eine Doppelfunktion. Wer Einwohner einer Stadtgemeinde ist, muss nicht zwingend Römer sein, um in den Genuss der Anwendung des Stadtrechts zu kommen. 28 Die Gemeindezugehörigkeit ersetzt also das Bürgerrecht. Nichtrömer (peregrini), die keiner Stadtgemeinde angehören, haben umgekehrt keinerlei bürgerlichen Privilegien. Stadtbürgerprivileg und anwendbares Recht fallen damit im Domizilprinzip zusammen.29 2. Rezeptionsgeschichte des domicilium a) Zweigliedriger Wohnsitzbegriff der frühen Statutenlehre Die Grenzen zwischen den gerade beschriebenen Kategorien ± ius civile einerseits, ius gentium andererseits ± verschwimmen in der späteren Rezeption zunehmend. Die origo verliert ihre eigenständige Bedeutung. 30 Sie lebt in der Unterscheidung zwischen domicilium originis (Ursprungsdomizil) und domicilium habitationis (Wohnsitzdomizil) weiter, 31 verliert aber ihre politischstatusrechtliche Grundlage. Das domicilium originis wird im Grundsatz zwar nach identischen Kriterien erworben wie die römischrechtliche origo, knüpft aber nicht an die civitas, sondern ebenfalls an das Domizil des Vaters an. 32 26 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Band VIII, 1849, 92, im Vergleich mit dem deutschen Recht. 27 Das Stadtrecht tritt neben das Bürgerrecht. Beide Rechtsordnungen beanspruchen parallel Geltung, de Winter RdC 128 (1969-III) 349 (358). 28 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Band VIII, 1849, § 351, 88. 29 Übersetzt in die Moderne kombiniert das Römische Recht Ursprung (Zugangsvoraussetzung) und Wohnsitz (statutsbestimmend), erlaubt aber Wechselwirkungen und eine gegenseitige Substitution beider Kriterien. Guterman, The Principle of the Personality of Law in the Early Middle Ages: A Chapter in the Evolution of Western Legal Institutions and Ideas, 21 University of Miami Law Review (1966±1967) 259 (263). 30 Das geschieht nicht zuletzt der veränderten institutionellen Vorbedingungen der Privatrechtsanwendung wegen. Die herrschenden Feudalstrukturen sorgen für die strenge Geltung des Territorialitätsprinzips, das eine der civitas vergleichbare Organisationseinheit, also einen konstitutiven Personenverbund, entbehrlich werden lässt. Dazu de Winter RdC 128 (1969-III) 349 (358). 31 Gutzwiller, Geschichte des Internationalprivatrechts, 1977, 36. 32 De Winter RdC 128 (1969-III) 349 (363). Eine Reinkarnation des ausschließlich ethnisch-kulturell begründeten Personalitätsprinzips der Frankenzeit ist damit aber nicht verbunden. Der Statutist Bolonius IKUWYLHOPHKUDXVÄ4XRGVL%RQRQLHQVLVFRQYHQLDWXU0u-
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§ 4 Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts
b) Absorption des Wohnsitzes durch die Staatsangehörigkeit Die Aufklärung führt eine gedankliche Wende im Verhältnis von Staatsgewalt und Staatsvolk herbei. Das Volk erfährt eine gedankliche Aufwertung von der regierten Masse zum unmittelbar gewaltlegitimierenden Souverän. 33 Die frühen Kodifikationsprojekte, namentlich das Preußische Allgemeine Landrecht (1794), der französische Code civil (1804) und das Österreichische ABGB (1813) setzen dieses Gedankengut in der Bestimmung ihres Anwendungsbereichs um. 34 aa) Preußisches Allgemeines Landrecht Das Preußische Allgemeine Landrecht (1794) trägt die Idee einer abgestuften Rechtsanwendung nach politischer Zugehörigkeit in § 37 ALR. Die landrechtlichen Vorschriften zur Regelung der persönlichen Rechtsverhältnisse der preußischen Untertanen bleiben danach anwendbar, wenn sich eine Person im räumlichen Herrschaftsbereich eines fremden Herrschers aufhält. 35 Die Äinterne³ Zuweisung von Rechtssätzen erfolgt nach dem Wohnsitzprinzip (§§ 23 ff. ALR), 36 während ein anknüpfungstauglicher Begriff der Staatsoder Gemeindezugehörigkeit sich erst später entwickelt. 37 bb) Code civil Auch Art. 3 Abs. 3 des Code civil (1804) bestimmt und begünstigt einseitig dessen Anwendbarkeit. Französische Staatsbürger werden unabhängig von
tinae, non debet judicari secundum statuta Mutinae quibus non subest.³ Batiffol möchte darin ein Wiedererstarken der politisch konnotierten origo des Römischen Rechts erkennen. Ders., Principes de Droit International Privé, RdC 97 (1959 II) 27 (499), mit Verweis auf Laine, introduction au droit internationale privé, I, 1841, 167. 33 Vgl. Locke, Second Treatise on Civil Government, in: The Works of John Locke. A New Edition, Corrected In Ten Volumes. Vol. V, 1823, 143, § 89: Ä:KHUHYHU WKHUHIRUH any number of men so unite into one society as to quit every one his executive power of the law of Nature, and to resign it to the public, there and there only is a political or civil VRFLHW\³ 34 Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 6. 35 § 37: ÄEingeborne Vasallen und Unterthanen, welche mit Erlaubniß des Landesherrn von einem fremden Hofe beglaubigt worden, bleiben in ihren Privathandlungen den La ndesgesetzen unterworfen.³ 36 § 23: ÄDie persönlichen Eigenschaften und Befugnisse eines Menschen werden nach den Gesetzen der Gerichtsbarkeit beurtheilt, unter welcher derselbe seinen eigentlichen Wohnsitz hat.³ 37 Bähr, Wohnsitzrecht und Heimatrecht, in: Jherings Jb 21 (1883) 343 (344), der auch auf die Diskrepanz zu anderen deutschen Staaten hinweist, wo die Staatsangehörigkeit bereits im frühen 19. Jahrhundert neben den Wohnsitz trat.
A. Entwicklung aus dem Domizilprinzip
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ihrem aktuellen Aufenthalt dem französischen Zivilrecht unterstellt. 38 Der kollisionsrechtliche Gehalt dieser Vorschrift war und ist dagegen umstritten. 39 Teils wird Art. 3 Abs. 3 Code civil40 als politisches Symbol verstanden. 41 Jedenfalls die interlokale, aber auch die internationale Verweisung soll weiterhin dem Domizilprinzip folgen. 42 Für diese Überlegung spricht, dass Staatsangehörigkeit und Wohnsitz bis Mitte des 19. Jahrhunderts synonym verwendet wurden.43 Eine weitere Erklärung liefert der Umstand, dass es zu Beginn des 19. Jahrhunderts kein kodifiziertes, statusrechtlich verstetigtes Staatsangehörigkeitsrecht gab und das Fremdenrecht aus rudimentären völkergewohnheitsrechtlichen Prinzipien bestand.44 Das gemeinrechtliche Domizil bewährte sich bis ins ausgehende 19. Jahrhundert als Erfolgskonzept. 45 Erst durch die Lehren Mancinis wurde es restlos durch das Staatsangehörigkeitsprinzip und damit durch ein tatsachenunabhängiges, 46 statusabhängiges und der nationalen Rechtsvereinheitlichung zuträgliches 47 Konzept verdrängt.48 Es spricht vor diesem Hintergrund viel dafür, Domizil- und Staatsangehörigkeitsprinzip als historisches Kontinuum zu lesen. Ebenso wie der internationalprivatrechtliche Wohnsitzbegriff drückt die Staatsangehörigkeit losgelöst vom aktuellen Aufenthaltsort die umfassende Integration eines Individuums ÄLes lois concernant l¶état et la capacité des personnes régissent les Français, même résidant en pays étranger.³ (Herv. d. Verf.). Zusammenfassend Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 6. 39 Zusammenfassend Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 8. 40 Zu den Gründen de Winter RdC 128 (1969-III) 349 (368). Anders sieht es Savigny in: ders., System des heutigen Römischen Rechts, BanG 9,,, Ä6RODQJH GLH (LJHQVchaft eines Français nicht aufgehoben ist, [entscheidet] diese Eigenschaft allein [...], selbst wenn die Person͒ihren Wohnsitz in das Ausland verlegt, so daß also das Französische Gesetz den͒Wohnsitz als Grundlage der Rechtsfähigkeit und Handlungsfähigkeit nicht unbedingt IHVWKlOW³ 41 Der Gesetzgeber habe mit Art. 3 Abs. 3 Code civil das geltende IPR in Form der Statutenlehre nicht, jedenfalls nicht bewusst, ändern wollen. Lainé, Introduction au droit privé français, 1888, 68 ff. Zusammenfassend Donnedieu de Vabres, La jurisprudence française en matière de Conflit des Lois, 1905, 16, 25. Dafür auch Schneider, Le domicile international, 1973, 21 f.; Savigny, System des heutigen Römischen Rechts VIII, 1849, 146; Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 7. 42 Donnedieu de Vabres, La jurisprudence française en matière de Conflit des Lois, 1905, 16, 25. 43 Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 10. 44 Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 9. 45 Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 10. 46 Zur Tatsachenabhängigkeit des Domizils Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 11. 47 Batiffol RdC 97 (1959 II) 28 (500). 48 Das gilt auch für das französische IPR, siehe Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 10; d¶Avout, Mélanges en l¶honneur Audit, 2014, 17 (22) mit Verweis auf Niboyet, Traité de droit international privé français, 1947, § 507. 38
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§ 4 Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts
in einen Personenverbund aus. Das Domizilprinzip ist gegenüber der Staatsangehörigkeit allenfalls Äkleinteiliger³ in der Ergebnisfindung, steht aber für einen ebenso starken personalen Bezug zu einer Rechtsordnung wie die Staatsangehörigkeit. 49 cc) ÄPersonalisiserung³ anderer Zivilrechtskodifikationen Die Entwicklung hin zu einer am Personalitätsprinzip orientierten Normallokation im Privatrecht 50 lässt sich auch an anderen Kodifikationsprojekten des 19. Jahrhunderts nachweisen. Erwähnung verdient insbesondere das Österreichische ABGB (1813), dessen § 4 ebenso wie der französische Code civil im Wortlaut einen Wechsel zur (einseitigen) Staatsangehörigkeitsanknüpfung in Statusfragen ausruft, in der praktischen Anwendung aber am gemeinrechtlichen Domizil festhält. 51 § 34 ABGB setzt um, was die Vorentwürfe zum Code civil vorsehen. § 4 ABGB spricht eine eigenständige Regel für das Personalstatut von Ausländern aus. Entscheidend ist der Wohnsitz oder, subsidiär, die Unterworfenheit unter die Befehlsgewalt eines Souverän. Ob damit im Ergebnis eine Staatsangehörigkeitsanknüpfung für Ausländer geschaffen worden ist oder für diese das Wohnsitzprinzip weitergilt,52 ist hier weniger entscheidend als die Feststellung, dass Ausländer nicht einseitig dem Territorialitätsprinzip, sondern allseitig dem Personalitätsprinzip unterstellt werden.53 c) Nazionalità und Personalitätsprinzip Die beschriebene Entwicklung kulminiert im Vorschlag Mancinis, nicht nur Statusrechte, sondern darüber hinaus die gesamte räumlich differenzierende
Batiffol 5G&,, Ä,OHVWSHUPLVGHSHQVHUTXHOHFDUDFWqUHVXEUHptice de ce passage pourtant si important du domicile à la nationalité signifie que le domicile de l'ancien droit avait plus ou moins dans l'esprit des juristes le rôle d'un substitut de la nationalité, indiquant un rattachement juridique à une certaine unité politique, au moins autant sinon plus que la constatation de la permanence de l'établissement d'une personne en un lieu déteUPLQp³ 50 Korkisch, Der Staatsangehörigkeitsgrundsatz im Kollisionsrecht. Ein Beitrag zur Geschichte der kollisionsrechtlichen Anknüpfung, FS Dölle, Band II, 1963, 87 (92 ff.). 51 Zum Streit Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 13; Korkisch, FS Dölle, Band II, 1963, 87 (98 f.), versteht die §§ 4, 34 ABGB dagegen zusammengenommen als allseitige KolliVLRQVQRUP GLH GLH ÄVWDDWOLFKH =XJHK|ULJNHLW³ DOV $QNQSIXQJVSXQNW ZlKOHQ 8QWHU GHP indirekten Einfluss Savignys sei allenfalls im Nachgang an den Wechsel der Vorschlag laut geworden, zum Domizil zurückzukehren (Fn. 25±27); de Winter RdC 128 (1969-III) 349 (367, Fn. 18) widerspricht dem mit Verweis auf Savigny, System VIII, 1849, 144. 52 Zusammenfassend Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 13; Korkisch, FS Dölle, Band II, 1963, 87 (98 f.); de Winter RdC 128 (1969-III) 349 (367, Fn. 18). 53 Zur Entwicklung auch Weller, FS Coester-Waltjen, 2015, 897 (901 f.). 49
A. Entwicklung aus dem Domizilprinzip
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Privatrechtsanwendung nach der nazionalità zu bestimmen.54 Internationales Öffentliches Recht und Internationales Privatecht 55 schaffen danach gleichermaßen Regeln für das gleichberechtigte Zusammenleben der Nationen. Die Nation und die sie konstituierenden ethnischen, kulturellen, religiösen und sprachlichen Gemeinsamkeiten 56 können die einzige Anwendungsbasis des Privatrechts darstellen. Erst wenn sich die nazionalità nicht eindeutig ermitteln lässt,57 soll subsidiär eine Anknüpfung an den Wohnsitz erfolgen.58 Mancini fordert also die Aufgabe territorialer Rechtsanwendungsansprüche zugunsten einer umfassenden Rückbesinnung auf das Personalitätsprinzip.59 Die Zivilrechtskodifikationen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ± darunter auch das deutsche EGBGB ± folgten diesem Aufruf im Ergebnis mit überwältigender Mehrheit. 60 Das Territorialitätsprinzip und seine Konkretisierung, die schlichte Residenz als privatrechtlicher Anknüpfungspunkt, wichen mit dem Fortschreiten der Zivilrechtskodifikationen einer Anknüpfung an eine Fülle von Faktoren, die sich an einer Person nachweisen lassen sollen. Im gegenwärtigen Schrifttum wird diese Mischformel unter dem Oberbegriff der Äkulturellen Identität³ zusammengefasst.61 III. Zwischenergebnis Die Zivilrechtskodifikationen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts lassen erkennen, dass eine ausschließlich territorial gebundene Rechtsanwendung weder die Entwicklung von Gestaltungsparametern einer Äpersönlichen³ Anknüpfung ermöglicht, noch eine taugliche Legitimationsgrundlage für das 54
Weller, FS Coester-Waltjen, 2015, 897 (901). Zum Zusammenhang Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 16. 56 Mancini, Della nazionalità come fondamento del diritto delli genti, Prelezioni, Torino I, 1854, 25, 27. 57 So bei mehrfacher Staatsangehörigkeit, in Mehrrechtsstaaten und bei Staatenlosigkeit, vgl. dazu Mancini, De l¶utilité de rendre obligatoire pour tous les Etats, sous la forme d¶un ou plusieurs traités internationaux un certain nombre de règles générales du Droit International Privé pour assurer la décision uniforme des conflits entre les différentes législations civiles et criminelles, Clunet I (1874), 285 (304). 58 ÄL¶état et la capacité de la personne [...] doivent être jugés en appliquant la loi de la patrie, c¶est-à-dire de la nation dont elle fait partie. Ils sont régis subsidiairement par les lois du domicile, lorsque différentes législations civiles régissent dans un même Etat, ou s¶il s¶agit de personnes sans aucune nationalité ou qui ont une double nationalité³ Mancini, Clunet I (1874), 285 (304). 59 Mancini, Clunet I (1874), 285 (286, 288); Jayme RdC 251 (1995), 9; ders., RabelsZ 67 (2003), 211 (214). 60 Zum EGBGB Weller, FS Coester-Waltjen, 2015, 897 (901). Zusammenfassend Jayme, Considérations historiques et actuelles sur la codification du droit international pr ivé, RdC 1982-IV, 9 (32 ff., 67 ff.). 61 Jayme RdC 251 (1995), 9; ders., RabelsZ 67 (2003), 211 (214); zusammenfassend Mankowski, Kulturelle Identität und Internationales Privatrecht, IPRax 2004, 282 (284 f.). 55
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§ 4 Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts
Internationale Privatrecht bilden kann. 62 Gleichzeitig belegen sie aber, dass Wohnsitz und Staatsangehörigkeit nicht als Gegensatzpaar, sondern als Komplementärbegriffe verstanden werden müssen. Dieser Befund schließt die Frage an, ob der gewöhnliche Aufenthalt ebenfalls als Ausdruck personaler Rechtsnormzuweisung verstanden werden kann, oder ob er im Gegenteil die durch den Code civil begründete territorialstaatliche Kategorie der ÄResidenz³ fortschreibt.63
B. Entwicklung im Haager Staatsvertragsrecht B. Entwicklung im Haager Staatsvertragsrecht
I. Arbeitshypothesen und Erkenntnisziel Eine historische Rekonstruktion des staatsvertraglichen Aufenthaltsbegriffs scheint insbesondere geboten, da die Rom- und Brüssel-Verordnungen ersichtlich keine grundsätzliche Neufassung der Aufenthaltsanknüpfung gegenüber dem Haager Konventionsrecht anstreben. Die Annahme einer stillschweigenden Kontinuität zwischen dem ÄHaager³ und dem ÄBrüsseler³ Aufenthaltsbegriff liegt auch der beamtenrechtlichen Rechtsprechung des EuGH zugrunde.64 Legitim werden die Anleihen aus dem Haager Staatsvertragsrecht dadurch, dass die Europäische Union im Jahr 2006 der Haager Konferenz beigetreten ist 65 und auf diese Weise die Gestaltung des Haager Konventionsrechts aktiv beeinflussen kann. Dass der EuGH sich über diese institutionelle Verknüpfung hinwegsetzt und einen autonomunionsrechtlichen Aufenthaltsbegriff begründet wissen will, wird an späterer Stelle eine kritische Würdigung erfahren (§ 6 B II. 1. d)). Ein Überblick über die Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts belegt außerdem die an früherer Stelle gefundenen Ergebnisse zu den rechtspolitischen Motiven. 66 Er wird zeigen, dass der Rückgriff auf den gewöhnlichen Aufenthalt die Ratifikationsdichte der Haager Konventionen erhöht und eine rechtskulturelle Lagerbildung zugunsten des Staatsangehörigkeits- oder Domizilprinzips in der 62
Zum lex fori-Grundsatz als Ausgangspunkt des IPR aber Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Band VIII, 1849, 126. 63 Zu dieser Kategorie Schneider, Le domicile international, 1973, 22; Batiffol RdC 97 (1959 II) 28 (500). 64 S. EuGH ± C-452/93 P ± Magdalena Fernández ./. Kommission ± Slg. 1994 I-4295; EuGH, 25.2.1999 ± C-90/97 ± Swaddling ./. Chief Adjudication Officer ± Slg. 1999 I-1075; EuGH, 12.7.2001 ± C-262/99 ± Louloudakis ./. Elleniko Dimosio ± Slg. 2001 I 5547; EuGH, 11.11.2004 ± C-372/02 ± Anadez-Vega ./. Bundesanstalt für Arbeit aus dem Recht der Sozialen Sicherheit ± Slg. 2004 I-10761; EuGH, 17.7.2008 ± C-66/08 ± Kozlowski ± Slg. 2008, I-6041. 65 Beschluss des Rates 2006/719/EG vom 5.10.2006 über den Beitritt der Europäischen Gemeinschaft zur Haager Konferenz für Internationales Privatrecht. 66 Zu diesen Motiven s.o. § 3 B. II. 4., sowie unten § 4 B. III. 5.
B. Entwicklung im Haager Staatsvertragsrecht
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Anwendung der Konventionen durch nationale Gerichte vermeidet. Umgekehrt bestätigt die Entwicklungsgeschichte des Begriffs die Kritiker des gewöhnlichen Aufenthalts darin, dass die Anknüpfung in den neu erschlossenen Sachgebieten des Europäischen IPR keine Tradition besitzt. 67 Damit ist die Frage aufgeworfen, ob, wann und inwieweit sich der gewöhnliche Aufenthalt von einem Minus zu einer funktionsäquivalenten Alternative der Staatsangehörigkeit und des Wohnsitzes entwickelt hat. 68 Sie bildet das Leitmotiv der nachfolgenden Beschreibung. II. Überblick über die historische Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts Der Begriff Ägewöhnlicher Aufenthalt³ findet ± einige ständische Vorgängervorschriften ausgenommen 69 ± ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Staatsverträgen zum Internationalen Privat- und Zivilverfahrensrecht Verwendung. 70 In den Kodifikationsarbeiten, die die Haager Konferenz für Internationales Privatrecht auf dem Gebiet des Ehe- und Vormundschaftsrechts im frühen 20. Jahrhundert vornimmt, findet er zunächst als atypische Ausnahme zum Staatsangehörigkeitsprinzip Einsatz,71 das sich erst kurz zuvor, nämlich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, 72 als persönliche Grundanknüpfung des Staatsvertragsrechts etabliert hatte. 73 Durch die Bevölkerungsverschiebungen in der Zwischen- und Nachkriegszeit und die systematischen Ausbürgerungen in den totalitären Systemen des frühen 20. Jahrhunderts wächst die praktische Bedeutung des gewöhnlichen Aufenthalts deutlich. 74 Seit dem Haager Unterhaltsübereinkommen (1956) ersetzt er sowohl die Staatsangehörigkeit als auch den Wohnsitz jedenfalls im Internationalen Familienrecht der Haager Konferenz abschließend. Daneben wird der Begriff in den Haager Rechtshilfeübereinkommen zur Bestimmung der internationalen Zuständigkeit verwendet. Der folgende Abschnitt wird im Schwerpunkt diejenigen Vertragsprojekte behandeln, die auch im Europäischen Kollisionsrecht Berücksichtigung gefunden haben. Auch Übereinkommen, die durch ihre besonders 67
So Rauscher, FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (638). Für die deutsche Rechtsentwicklung s. Rentsch, ZEuP 2015, 288 (306). 69 Zur Aufenthaltsanknüpfung in der Hannoverschen Prozessordnung vom 4.12.1847, wo der gewöhnliche Aufenthalt als beweiserleichternde Alternative neben die Wohnsitzanknüpfung gestellt wurde, s. Neuhaus, Grundbegriffe, 225, Fn. 616; Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 3; zur Aufenthaltsanknüpfung in der Sache durch das sächsische Gesetz in Ehesachen vom 28.1.1835 Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 3 f. 70 Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 2; de Winter RdC 128 (1969-III) 349 (423). 71 Vgl. Art. 2 f. Haager Vormundschaftsübereinkommen; Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 6. 72 De Winter RdC 128 (1969-III) 349 (375). 73 Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 12 ff.; de Winter RdC 128 (1969-III) 349 (375). 74 De Winter RdC 128 (1969-III) 349 (423). 68
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§ 4 Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts
hohe Ratifikationsdichte von allgemeiner Bedeutung für das staatsvertragliche Aufenthaltsverständnis sind, werden berücksichtigt. 75 Erwähnenswert ist, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt weitgehend unabhängig von den Entwicklungen im Internationalen Vertragsrecht etabliert. Angefangen beim Übereinkommen der International Law Association über den Internationalen Warenkauf 76 und dem Haager Warenkaufübereinkommen von 1951 findet der Begriff im Europäischen Vertragsrechtsübereinkommen (EVÜ 1980) Verwendung 77 und wird anschließend ohne weitere Diskussion als objektive Anknüpfung in den Entwurf zur Rom I-VO übernommen.78 Die Hinwendung autonomer IPR-Gesetze zur Aufenthaltsanknüpfung erfolgt dagegen parallel zum Haager Recht. Besonders sichtbar wird diese Entwicklung am Recht der Bundesrepublik. Hier bestimmt der gewöhnliche Aufenthalt seit 1938 das Personalstatut Staatenloser (Art. 29 EGBGB a.F.),79 und seit 1950 auch das verschleppter Personen und der Flüchtlinge.80 Im deutschdeutschen interlokalen IPR wird der gewöhnliche Aufenthalt trotz anfänglicher Skepsis 81 bald zur Bestimmung des Personalstatuts von DDR-Bürgern verwendet. 82 Er etabliert sich außerdem, zunächst infolge richterlicher Rechtsfortbildung 83 und dann durch die IPR-Reform 1986, als Basisanknüpfung des Personalstatuts im EGBGB.84
75
Dies ist insbesondere der Fall für das Haager Adoptionsübereinkommen, das bisher keine unionssekundärrechtliche Umsetzung erfahren hat. 76 Bericht der 34. Sitzung der International Law Association (1926) 510, die in ihrer frDQ]|VLVFKHQ )DVVXQJ DOOHUGLQJV QRFK GHQ %HJULII GHU ÄUpVLGHQFH RUGLQDLUH³ YHUZHQGHW Zur Unbedenklichkeit dieser Verwechslung de Winter RdC 128 (1969-III) 349 (425). 77 Zu den Gründen Giuliano/Lagarde, Report on the Convention on the Law applicable to contractual obligations, ABl. 1980 C 282/19±21. 78 Vgl. KOM(2005) 650 endg., 6. 79 Mann'HUÄJHZ|KQOLFKH$XIHQWKDOW³LP,35-= 80 Gesetz über die Rechtsverhältnisse verschleppter Personen und Flüchtlinge vom 17.3.1950, AHK-ABl. 1950, 140 (AHK-Gesetz 23) dazu Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 16; Mann, JZ 1956, 466. 81 Dagegen Ficker, Grundfragen des deutschen Interlokalen Rechts, 1952, 37 ff. 82 BGH, 21.5.1963 ± BGHZ 40, 32; BGH, 16.5.1984 ± BGHZ 91, 186 ± IPRax 1985, 38, mit Anmerkung Drobnig, IPRSpr. 1984 Nr. 63; Mansel, Die Nation im innerdeutschen privaten Kollisionsrecht ± zugleich ein Beitrag zur Verfassungsbindung des Internationalen und innerdeutschen Privatrecht, in: ders./Jayme (Hrsg.), Nation und Staat im IPR, 1990, 57. 83 Dies betont Palandt/Thorn Art. 5 EGBGB Rn. 1. 84 Gemäß Art. 5 Abs. 1 Alt. 2 EGBGB bestimmt der gewöhnliche Aufenthalt das Personalstatut von Mehrstaatlern und substituiert gemäß Art. 5 Abs. 2 EGBGB die fehlende Staatsangehörigkeit von Flüchtlingen und Staatenlosen. Zum rechtspolitischen Umfeld Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 74.
B. Entwicklung im Haager Staatsvertragsrecht
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III. Der gewöhnliche Aufenthalt im Haager Staatsvertragsrecht 1. Vorgänger der Haager Übereinkommen Der multilateralen Kodifikation des Aufenthaltsprinzips durch die Haager Konferenz gehen drei Staatsverträge des Deutschen Reiches voraus, die für die Zulassung zum Armenrecht 85 auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Antragstellers abstellen.86 Rechtsschutzsuchenden wird es so ermöglicht, nicht nur in ihrem Heimatstaat, sondern auch im Aufenthaltsstaat Prozesskostenhilfe zu erhalten. Die Einbeziehung von Ausländern in das nationale Armenrecht hängt aber davon ab, ob ihr Heimatstaat identische Vorzüge gewährt. Ihre Grundlage ist damit keine aus dem Kollisionsrecht bekannte Allseitigkeitsidee, sondern das völkerrechtliche Reziprozitätsprinzip. 87 Die Materialien des Haager Zivilprozessrechtsübereinkommens von 1896,88 das durch die Übereinkommen von 1905 89 und 195490 abgelöst wird, begründen die Gestaltung der Vorschriften zum Armenrecht 91 ausdrücklich mit den vorher genannten bilateralen Abkommen. 92 Diese Verträge bilden also einerseits das Muster für eine spätere multilaterale Kodifikation des Ar85
Das Armenrecht ist der Vorläufer der heutigen Vorschriften zur Prozesskostenhilfe, welche durch die ZPO-Reform 1981 an seine Stelle traten; zum Armenrecht Breithaupt, Das öffentliche Armenrecht in Preußen und dem Reich, 1915; Wetzel, Das Armenrecht der deutschen Zivilprozessordnung dargestellt unter Berücksichtigung des Entwurfs einer Zivilprozessordnung, 1933. 86 Deutsch-belgische Übereinkunft vom 18.10.1878, RGBl. 1879, 316; deutschfranzösische Übereinkunft vom 20.2.1990, RGBl. 1881, 81; deutsch-österreich/ungarische Übereinkunft vom 9.5.1886, RGBl. 1887, 120. 87 Zur Rolle des Reziprozitätsprinzips im IPR allgemein Basedow, Gegenseitigkeit im Kollisionsrecht, FS Coester-Waltjen, 2015, 335 (336 ff.). Im Armenrecht vollzieht sich der Wechsel zur unbedingten Inländergleichbehandlung erst durch das Niederlassungsübereinkommen des Europarates vom 13.12.1955, BGBl. 1959 II S. 997, nach dessen Art. 4 sich GLH 9HUWUDJVVWDDWHQ ]XU *HZlKUXQJ ÄVlPWOLFKHU EUJHUOLFKHU 5HFKWH³ IU $XVOlQGHU YHrpflichten. Ausländer unterfallen danach nicht den völkerrechtlichen Grundsätzen des Fremdenrechts. Näher hierzu Suhr, Das Recht des Personalstatus im Zeichen der europäischen Integration: Die besondere Situation in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 1967, 24 ff. 88 Nachweis bei Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 5, 6 f. 89 Haager Zivilprozessübereinkommen vom 17.7.1905 ± RGBl. 1909, 409; das Haager Übereinkommen von 1905 wurde von insgesamt 21 Staaten ratifiziert, darunter auch von Deutschland. 90 Haager Zivilprozessübereinkommen vom 1.3.1954 ± BGBl. II 1958, 577; Erklärung in BT-Drucks. 1954 III/Nr. 350. Gemäß Art. 29 tritt das Übereinkommen für die Vertragsstaaten an die Stelle des Übereinkommens von 1905. 91 Die wiederum ausschließlich den gewöhnlichen Aufenthalt in Bezug nahmen, vgl. Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 5. 92 Actes et Doc. Ä/DFRPPLVVLRQV¶inspirant des dispositions contenues dans plusieurs traités, par exemple celui de 1880 entre l¶(PSLUH$OOHPDQGHWOD)UDQFH³
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§ 4 Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts
menrechts, andererseits prägen sie ein charakteristisches Anwendungsfeld der Aufenthaltsanknüpfung. 2. Haager Staatsvertragsrecht vor 1914 a) Zivilprozessrechtsübereinkommen Art. 15 Abs. 1 des Haager Zivilprozessübereinkommens von 1905 93 integriert die Aufenthaltsanknüpfung erstmalig in einen multilateralen Staatsvertrag. 94 Der gewöhnliche Aufenthalt wird dort ebenfalls im Rahmen der armenrechtlichen Zuständigkeit verwendet. 95 Armenrechtlicher Schutz wird ebenso wie in den bilateralen Vorgängerübereinkommen 96 nach dem Grundsatz der Inländergleichbehandlung gewährt. 97 Neben dem Erfolg dieser Übereinkommen dürfte die Regelung auch durch Mancini beeinflusst worden sein, 98 der das Gebot der Inländergleichbehandlung in Bezug auf Privilegien und Rechte der Staatsbürger gleichberechtigt neben ein Recht auf Äkalkulierte³ Ungleichbehandlung stellt. 99 Vorschriften zum anwendbaren Recht enthält die Konvention nicht. Die Materialien der Haager Konferenz äußern sich nur knapp zu den Gründen für die Wahl der Aufenthaltsanknüpfung. Betont wird lediglich ihre Einfachheit und Praktikabilität.100 Ebenso wenig aufschlussreich sind die insoweit identischen Folgekonventionen 1905 101 und 1954102, die pauschal auf 93 Dabei handelt es sich um das erste von der 1893 gegründeten Haager Konferenz ausgearbeitete internationale Vertragsdokument überhaupt, Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 3, 5 ff. 94 Abkommen zur Regelung von Fragen des Internationalen Privatrechts vom 14.11.1896, RGBl. 1899, 285. 95 Im französischen Originalwortlaut: Art. Ä'DQVWRXVOHVFDVOHFHUWLILFDWRXODGéclaration d¶LQGLJHQFHGRLWrtre délivré ou reçu par les autorités de la résidence habituelle de l¶pWUDQJHURX, à défaut de celle-FLSDUOHVDXWRULWpVGHVDUpVLGHQFHDFWXHOOH³ 96 Vgl. den Wortlaut des nicht in Artikel gegliederten deutsch-belgischen Abkommens: Ä'HXWVFKH ZHUGHQ LQ%HOJLen und Belgier werden in Deutschland unter denselben Bedingungen und gesetzlichen Voraussetzungen zum Armenrechte zugelassen, wie die Angehörigen des betreffenden Landes, in ZHOFKHP GHU 3UR]HVV DQKlQJLJ LVW³ +HUY. d. Verf.) RGBl. 1879, 316. 97 Vgl. Art. 14 Haager Zivilprozessübereinkommen 1896. 98 S.o. A. II. 2. c). 99 Ders., Clunet I (1874), 285 (300), mit Verweis auf Art. 3 italienischer Codice Civile (in frz. hEHUVHW]XQJ LELG Ä>«@ l¶pWUDQJHU HVW DGPLV j la jouissance des droits civils comme le FLWR\HQ³ 100 Actes et Doc. Ä/DFRPPLVVLRQ[...] a jugé plus simple et plus pratique de décider que dans tous les cas l¶autorité compétente serait celle de la résidence habituelle de l¶LQWpUHVVp³Dazu auch Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 6. 101 Actes et Doc. 1904 (quatrième conférence de La Haye), 98 f. Die Artikel 20 und 21 des Zivilprozessübereinkommens von 1905 stimmen mit dem Wortlaut der Konvention von 1896 überein.
B. Entwicklung im Haager Staatsvertragsrecht
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die Motive zum ZPO-Übereinkommen verweisen. Die Gründe für die ursprüngliche Wahl der Aufenthaltsanknüpfung bleiben damit weitgehend im Dunkeln. Jedenfalls ergeben sie sich nicht aus den Konventionsmaterialien selbst, sondern allenfalls aus dem Kontext der Vertragsdokumente. Fest steht insofern, dass die besonderen Zuständigkeiten im Armenrecht der Schutz- und Fürsorgebedürftigkeit des Rechtsschutzsuchenden gerecht werden sollen.103 Dafür ist das rasche und effektive Eingreifen der Behörden und Gerichte nötig. Ziel des Konventionsgebers dürfte es daher gewesen sein, die räumliche Nähe und die rasche Handlungsfähigkeit der Behörden und Gerichte sicherzustellen.104 Für diese Zwecke eignet sich der gewöhnliche Aufenthaltsort besser als die Staatsangehörigkeit. Hinzu kommt, dass die armenrechtlichen Vorschriften genau solche Personen erfassen sollen, die sich außerhalb ihres Heimatstaates aufhalten. Die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit wäre diesem Schutzzweck gerade nicht gerecht geworden Gerichtliche Sachnähe wird durch einen gewissen Grad an Eingewöhnung und Sesshaftigkeit wenigstens einer Prozesspartei im Gerichtsstaat sichergestellt;105 umgekehrt setzt sie diese aber auch nicht voraus. Entsprechend sehen die genannten Haager Übereinkommen mit der résidence actuelle, dem schlichten Aufenthalt des Rechtsschutzsuchenden, eine subsidiäre Zuständigkeit vor.106 Solch ein Auffangtatbestand fehlte in den bilateralen Vorgängerübereinkommen noch. Durch die Anknüpfung an den schlichten Aufenthalt fügt sich der gewöhnliche Aufenthalt in ein Stufenverhältnis ein, wobei er höheren Anforderungen unterliegen soll als die Auffanganknüpfung. Wie sich dieser gesteigerte Integrationsgrad im Tatbestand der Aufenthaltsanknüpfung ausdrücken soll, also durch Zeitablauf, familiäre Bindungen oder andere Kriterien, diskutieren die Konferenzmitglieder allerdings nicht. Unklar ist, ob die Haager Konferenz die Aufenthaltsanknüpfung nicht nur gegen das Staatsangehörigkeits-, sondern auch gegen das Domizilprinzip abwägt.107 Diese Einseitigkeit erklärt sich nicht zuletzt dadurch, dass die frühen 102
Haager Übereinkommen über den Zivilprozess vom 1.3.1954, BGBl. 1958 II, 576. Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 3. Exemplarisch lässt sich dieses Motiv auch an den Rechtshilfeübereinkommen nachvollziehen, s. dazu unten § 4 B. III. 4. c). 104 Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 3. 105 Die Stetigkeit des Aufenthalts ist für die Prozessökonomie nur mittelbar relevant, da der Grundsatz der perpetuatio fori bereits für die Zivilprozessübereinkommen galt und sich das Problem einer nachträglichen Unzuständigkeit der Gerichte so nicht mehr stellen konnte. Allerdings ist mit der Zuständigkeit am gewöhnlichen Aufenthaltsort des Rechtsschutzsuchenden auch dessen Verbleiben am Gerichtsort und so ein insgesamt einfacherer Prozessablauf sichergestellt. 106 Actes et Doc 1893/94, 108: Ä,OHVWVWDWXpTXHVLFHGHUQLHU>O¶intéressé] n¶a nulle part de semblable résidence, l¶autorité compétente sera celle de la résidence actuelle³ 107 Unklar ist nämlich, im Vergleich zu welchem Zuständigkeitskriterium die AufentKDOWVDQNQSIXQJÄSOXVSUDWLTXH³Actes et Doc. 1893/94, 108) sein soll. 103
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§ 4 Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts
Haager Übereinkommen ausschließlich zwischen kontinentaleuropäischen Staaten verhandelt wurden,108 die ihrerseits erst kurz vorher zum Staatsangehörigkeitsprinzip übergegangen waren. 109 Das IPR dieser Staaten kann mit dem kollisionsrechtlichen Wohnsitzprinzip nicht mehr umgehen. Im Hinweis auf die größere Praktikabilität der Aufenthaltsanknüpfung, den die Materialien der Übereinkommen enthalten, deutet sich trotzdem eine Zuschreibung an, die später zur endgültigen Ablösung der kontinentaleuropäischen wie auch der Überbleibsel der gemeinrechtlichen Wohnsitzanknüpfungen führen wird.110 b) Vormundschafts- und Entmündigungsübereinkommen Als internationalprivatrechtlicher Anknüpfungspunkt wird der gewöhnliche Aufenthalt erstmals im Haager Vormundschaftsübereinkommen (1902)111 und im Entmündigungsübereinkommen (1905)112 verwendet. Diese Konventionen werden während der zweiten (1894) und dritten (1900) Haager Konferenz ausgearbeitet. Die Aufenthaltsanknüpfung steht dort in einem klaren Subsidiaritätsverhältnis zum Staatsangehörigkeitsprinzip. 113 Zuständigkeit und anwendbares Recht bestimmen sich nur nach dem Aufenthaltsrecht, wenn der Heimatstaat unfähig oder unwillig zum Ergreifen von Schutzmaßnahmen ist. 114 Die restlichen drei der insgesamt fünf Haager Staatsvertragsprojekte, das Eheschließungs- und Ehescheidungsübereinkommen (1902) 115 sowie das Ehewirkungsübereinkommen (1905) 116 , knüpfen dagegen ausschließlich an
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van Loon, The Hague Conference on Private International Law, in: van Krieken/McKay (Hrsg.), The Hague: Legal Capital of the World, 2005, 518 (519). 109 von Bar/Mankowski, IPR I, § 6 Rn. 54. 110 Das Vergleichsmoment der für die Aufenthaltsanknüpfung sprechenden Praktikabilität kann sachlogisch nur die Wohnsitzanknüpfung darstellen; die Nationalität dient ja erstens bereits als Gleichbehandlungsmaßstab und würde zweitens den Konventionszweck ± die Ermöglichung armenrechtlichen Schutzes im Inland für Ausländer ± obsolet werden lassen. 111 Abkommen zur Regelung der Vormundschaft über Minderjährige vom 12.6.1902, RGBl. 1904, 240. 112 Abkommen über die Entmündigung und gleichartige Fürsorgemaßregeln vom 17.7.1905, RGBl. 1912, 463. 113 Vgl. Art. 1 Vormundschaftsübereinkommen und Entmündigungsübereinkommen. 114 Vgl. Art. 3 Vormundschaftsübereinkommen (subsidiäre Zuständigkeit der Gerichte am gewöhnlichen Aufenthaltsort des Mündels, soweit der Heimatstaat entsprechende Maßnahmen unterlässt) und Art. 6 Entmündigungsübereinkommen. Art. 4 Vormundschaftsübereinkommen und Art. 11 Entmündigungsübereinkommen stellen das jederzeitige Wiedereingreifen der Heimatbehörden sicher, vgl. Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 6 f. 115 RGBl. 1904, 221, 231. 116 RGBl. 1912, 453.
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die Staatsangehörigkeit an.117 Im Gegensatz zum Zivilprozessübereinkommen werden die Unterschiede zwischen Aufenthalts- und Wohnsitzanknüpfung in beiden Übereinkommen offen diskutiert. Im Bereich der Vormundschaft wird argumentiert, eine Wohnsitzanknüpfung könne den Schutzzweck des Übereinkommens gefährden. 118 Bei nicht geschäftsfähigen Minderjährigen bleibe die tatsächliche soziale Einbindung des Kindes außer Acht, da im Ergebnis der Wohnsitz der sorgeberechtigten gesetzlichen Vertreter den Ausschlag gebe. Sofern gerade das Sorgerecht den Gegenstand eines Verfahrens bilde, entstehe so die Gefahr eines logischen Zirkelschlusses,119 der sich nur durch ein starres Abstellen auf den Wohnsitz der Eltern lösen lasse.120 Der Begriffsinhalt des gewöhnlichen Aufenthaltes und seine Vorteile gegenüber dem Domizil werden nicht diskutiert. 121 Auch hier muss also das Umfeld der Konvention Aufschluss über die Motivationslage geben. Die Motivation gleicht insoweit der im Zivilprozessübereinkommen von 1896: Erstens soll die Aufenthaltsanknüpfung einmal mehr dem besonderen Schutzbedürfnis Minderjähriger und Geschäftsunfähiger gerecht werden. Im Rahmen der internationalen Zuständigkeit stellt sie ein effektives Behördeneingreifen und die räumliche Nähe zum Fall sicher. Als kollisionsrechtlicher Anknüpfungspunkt vereinfacht der gewöhnliche Aufenthalt die Sachverhaltsermittlung zur Bestimmung des anwendbaren Rechts, nicht zuletzt weil Nachforschungen über inhaltlich unterschiedliche Wohnsitzbegriffe der einzelnen Mitgliedstaaten entbehrlich werden. 122 Zweitens wird einer zu großen Flexibilität bei der Bestimmung des zuständigen Gerichts über das Attribut der ÄGewöhnlichkeit³ des Aufenthalts ent117
Vgl. Art. 1 Eheschließungsübereinkommen, Art. 1, 2 Ehescheidungsübereinkommen, Art. 1 Ehewirkungsübereinkommen. 118 Für die Vormundschaft vgl. Actes et Doc. 1900, 103 f. 119 Actes et Doc. Ä[...] le domicile du mineur est précisément réglé par la loi qui régira la tutelle; on tourne dans un cercle vicieux [...]³ 120 Actes et Doc. 1894, 94. Die Änderung der Domizilanknüpfung zugunsten der Aufenthaltsanknüpfung erfolgte durch das Redaktionskomitee und wurde ohne weitere Diskussion angenommen, vgl. Actes et Doc. 1894, 119 f. 121 Im Rahmen der dritten Haager Konferenz (1900) verweist das Redaktionskomitee lediglich auf die Verhandlungen der zweiten Konferenz zurück. Dort wurde aber nur die bereits genannte Gefahr eines Zirkelschlusses im Fall der Wohnsitzanknüpfung diskutiert, s.o. Fn. 119 $XVGUFNOLFK ZLUG DEHU GLH bQGHUXQJ GHV .RQYHQWLRQVZRUWODXWV YRQ ÄUpViGHQFH³LQÄUpVLGHQFHKDELWXHOOH³EHJUQGHWÄ/DUpVLGHQFHTXHQHFDUDWpULVHUDLWSDVODVWDEilité exprimée par le qualificatif qui a été ajouté, semble impropre à servir de point de départ aux situations juridiques auxquelles elle se trouve PrOpH FRPPH pOpPHQW HIILFLHQW³ Actes et Doc. 1900, 103. 122 Diesen Befund unterstützt der statistische Befund bei van Overbeck, The Hague Conference and Swiss Private International Law, NILR 40 (1993), 93 (97 f.), wonach Art. 3 des Vormundschaftsübereinkommens (und damit die Aufenthaltsanknüpfung) wesentlich häufiger zur Anwendung gelangt sei als die Grundanknüpfung in Art. 1.
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§ 4 Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts
gegengewirkt. Auch ein häufiger Statuten- und Zuständigkeitswechsel soll verhindert werden. Auf diese Weise wird die effektive Verfahrensführung garantiert.123 Die Bestimmung von forum und ius nach der lex loci124 muss im Kontext der frühen Haager Übereinkommen als atypische Lockerung einer grundsätzlich umfassenden Personalhoheit des Heimatstaates verstanden werden. 125 Dieser Heimatstaat beansprucht die volle Fürsorgehoheit, mit der ein Recht, aber auch eine Pflicht zur Gewährleistung von Maßnahmen sozialer Sicherheit verbunden sind. Die Forderung Mancinis, jeder Einzelne habe ein Anrecht auf die Anwendung seines Heimatrechts,126 schlägt sich in den beiden genannten Übereinkommen daher nicht nur im Rahmen der Sachrechtsbestimmung, sondern auch in Form einer zuständigkeitsrechtlichen und damit institutionalisierten Ausschließlichkeitsbeziehung zwischen einer Einzelperson und ihrem Heimatstaat nieder.127 Die Aufenthaltsanknüpfung dient demgegenüber als revisibler Platzhalter für die Durchbrechung einer dereinst als exklusiv verstandenen Ausschließlichkeitsbeziehung zwischen Individuum und Heimatrecht. 128 Sie wird als atypische Ausnahme wahrgenommen, die die besondere Sachnähe eines anderen als des regelmäßig zuständigen Gerichts würdigt, die Verfahrensbeschleunigung fördert und schließlich durch ausreichende Stetigkeit die Anknüpfungssicherheit gewährleistet. Im zuletzt genannten Fall rechtfertigt sie sich durch das besondere Schutzbedürfnis des Rechtsunterworfenen, hinter dem der staatliche Fürsorgeanspruch zurücktritt. 3. Zwischenkriegszeit In der Zwischenkriegszeit gewinnt die Aufenthaltsanknüpfung durch die wachsende Zahl an Flüchtlingen, Staatenlosen und Mehrstaatlern an Relevanz.129 Die Haager Konferenz von 1928 diskutiert vor diesem Hintergrund 123
Vgl. Nachweis in Fn. 121, Actes et Doc. 1900, 103. Diese setzt die Kommission ausdrücklich mit der Aufenthaltsanknüpfung gleich, vgl. Actes et Doc. 1900, 103. 125 Erklärung des Deutschen Reichskanzlers vor dem Reichstag, abgedruckt in NiemZ 14 (1904), 540f. 126 Mancini, Clunet I (1874), 285 (296). 127 De Winter RdC 128 (1969-III) 349 (377): ÄIn this way the Hague Conference became the driving force behind Mancini¶s doctrine, and by means of a number of important multilateral treaties consolidated the rule of the nationality principle in international family ODZIRUPDQ\GHFDGHVWRFRPH³ 128 Vgl. nur Actes et Doc. 1894, 92 f., 94 f. 129 Interessanterweise wurde aber bereits im Rahmen der dritten Haager Konferenz im Jahr 1900 für Art. 1 des genannten Vormundschaftsübereinkommens (der das Heimatrecht für grundsätzlich bestimmend erklärt) diskutiert, ob das Heimatrecht zugunsten des Aufenthaltsrechts geändert werden solle, weil man die Problematik der Mehrstaatlichkeit erkannte, Actes et Doc. 1900, 103. 124
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eine Ergänzung aller fünf bisher verabschiedeten Konventionen, besonders der drei eherechtlichen Übereinkommen, um ein weiteres Anknüpfungsmoment. 130 Streit entsteht dabei über die Frage, ob die Schaffung von Anknüpfungssubstituten für das Staatsangehörigkeitsprinzip nicht originär der Personalhoheit, mithin also der Souveränität der Nationalstaaten, zufallen sollte. 131 Vermittelnd wird eine Lösung innerhalb des Staatsangehörigkeitsprinzips diskutiert: Bei Staatenlosen soll die letzte, bei Mehrstaatlern die effektive Staatsangehörigkeit das anwendbare Recht bestimmen. 132 Dieser Vorschlag läuft im Ergebnis auf eine Beibehaltung des Staatsangehörigkeitsprinzips hinaus. Nur wer bereit ist, das Staatsangehörigkeitsprinzip überhaupt zu ergänzen, diskutiert auch, ob dann dem Wohnsitz oder dem gewöhnlichen Aufenthalt der Vorzug gebührt. 133 Die Aufenthaltsanknüpfung setzt sich in diesem engen Rahmen im Ergebnis gegen den Wohnsitz durch.134 Zum einen erkennt die Konferenz die praktischen Schwierigkeiten eines national unterschiedlich verstandenen, künstlich ausgefüllten Wohnsitzbegriffs. Der gewöhnliche Aufenthalt soll demgegenüber als ÄTatsachenbegriff³ einen tatsächlichen Vorgang weniger bewerten als erkennen. 135 Zum anderen befürchtet man einmal mehr einen logischen Zirkelschluss, da man zur hypothetischen Wohnsitzbestimmung auf eine Rechtsordnung zurückzugreifen muss, deren Anwendbarkeit gerade ungeklärt ist. 136 Im Ergebnis findet eine konventionsautonome Ersatzanknüpfung also mehr Zustimmung als eine kollisionsrechtliche Verweisung in das nationale Staatsangehörigkeitsrecht. Bei Staatenlosen soll der gewöhnliche Aufenthalt das Staatsangehörigkeitsprinzip vollständig ersetzen. 137 Bei Dop130
Actes et Doc. 1928, 110 ff. So der Abgeordnete Limburg (Vertreter der Niederlande) Actes et Doc. 1928, 111. 132 Actes et Doc. 1928, 114 ff. 133 Actes et Doc. 1928, 112 f., 141 f. 134 Vgl. den Konventionsvorschlag in Actes et Doc. 1928, 140f. Für eine gestufte Anknüpfung, vorrangig an die Staatsangehörigkeit, dann an den Wohnsitz und subsdidiär zu beidem an den gewöhnlichen Aufenthalt, sprach sich zunächst der belgische Delegierte Kinon aus, Actes ed Doc. 1928, 112. Demgegenüber trat der deutsche Delegierte Neumeyer von Anfang an für das Aufenthaltsprinzip ein, Actes et Doc 1928, 110, da dieses ÄXQH FHUWDLQH PHVXUH GH GXUpH GH FRQWLQXLWp GDQV OD VLWXDWLRQ OpJDOH GH O¶individu [...]³ sicherstelle. Im weiteren Tagungsverlauf gab Kinon seine Vorbehalte gegen die Aufenthaltsanknüpfung ± die seiner Ansicht nach im Unterschied ein reiner Tatsachenbegriff und somit kraft Natur der Sache subsidiär zu würdigen war ± auf und sprach sich ebenfalls zugunsten der Aufenthaltsanknüpfung aus, Actes et Doc 1928, 112, 141. 135 Actes et Doc. 1928, 110, 131, 141, 157 f. Hierzu ausführlicher Kropholler, IPR, § 39 II 1. 136 Actes et Doc. 1928, 157 f. 137 Actes et Doc. Ä/D&RPPLVVLRQDpWpXQDQLPHSRXUIDLUHDEVWUDFWLRQGHOD nationalité que l¶apatride a pu posséder antérieurement, et [...] pour l¶application de la Convention à l¶Etat sur le territoire duquel il a sa résidence habituelle [...]³ 131
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pel- und Mehrstaatlern löst er Pattsituationen auf. 138 Systematik und Rang der Anknüpfungspunkte lassen hier einmal mehr den Einfluss Mancinis erkennen, der für Doppelstaatler aber eine gestufte Anknüpfung nach Nationalität und Wohnsitz vorschlägt.139 Dass an die Stelle des Domizils der gewöhnliche Aufenthalt tritt,140 ist dagegen ein Verdienst der sechsten Haager Konferenz für Internationales Privatrecht. Infolge der weiteren politischen Entwicklung wurden die Reformprojekte zwar nie umgesetzt. 141 Sie stellen aber trotzdem die Weichen für die weitere Entwicklung der Kodifikationspraxis. Erstens etablierte sich der gewöhnliche Aufenthalt durch sie als Substitut der Staatsangehörigkeitsanknüpfung für Staatenlose.142 Zweitens unterstützt und schärft er das Staatsangehörigkeitsprinzip bei Mehrstaatlern. Drittens tritt die Aufenthaltsanknüpfung seit der sechsten Haager Konferenz an die Stelle des Wohnsitzes. Insgesamt entwickelt sich eine lange als atypisch empfundene Sonderanknüpfung also zu einem vollwertigen Anknüpfungsmoment. 143 Dass die Haager Reformvorschläge im Anschluss auch in nationale IPR-Gesetze übernommen werden, 144 un-
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Dies freilich nur, soweit sich der Normadressat in einem der Staaten aufhielt, deren Staatsangehörigkeit er hatte. Beim Aufenthalt in einem Drittstaat differenzieren die Reformvorschläge dagegen je nach Konvention. Für das Vormundschaftsübereinkommen fielen die Reformvorschläge auf das Staatsangehörigkeitsprinzip in Verbindung mit dem Prioritätsprinzip zurück; eine durch einen Staat wirksam begründete Vormundschaft musste somit durch die anderen Staaten anerkannt werden, vgl. Actes et Doc. 1928, 166. Das Eheschließungsübereinkommen sollte indes dem Grundsatz in favorem matrimonii folgen; eine in einem Staat wirksam geschlossene Ehe wäre also durch die anderen Staaten anzuerkennen. 139 Mancini, Clunet I (1874), 285 (30 ÄL¶état et la capacité de la personne [...] doivent être jugés en appliquant la loi de la patrie, c¶est-à-dire de la nation dont elle fait partie. Ils sont régis subsidiairement par les lois du domicile, lorsque différentes législations civiles régissent dans un même Etat, ou s¶il s¶agit de personnes sans aucune nationalité ou qXLRQWXQHGRXEOHQDWLRQDOLWp³ 140 Nach Mann, JZ 1956, 466 (468), handelt es sich beim gewöhnlichen Aufenthalt lediglich um eine international konsensfähige begriffliche Präzision des internationalpriva trechtlichen Wohnsitzbegriffs. 141 Hintergründe bei van Loon, in: van Krieken/McKay (Hrsg.), The Hague: Legal Capital of the World, 518 (520). 142 Hierin liegt ein wesentlicher Funktionszuwachs gegenüber den 1902±1905 ausgearbeiteten Abkommen, wo die Aufenthaltsanknüpfung ausschließlich aus Schutzgründen herangezogen wurde, Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 9. 143 Indizien in Actes et Doc. 1957, 127. 144 Die Reformvorschläge fanden Berücksichtigung in der EGBGB-Novelle von 1938, namentlich in Art. 29 EGBGB n.F., der um das Personalstatut Staatenloser ergänzt wurde und die erste Aufenthaltsanknüpfung im autonomen IPR darstellt, vgl. Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 10, 12; auch das italienische IPR folgte den Reformvorschlägen (vgl. Art. 29 Disposizioni sulO¶applicazione della legge in generale), ibid., 10.
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terstreicht die praktische Bedeutung, aber auch die politische Strahlkraft der Vorschläge. Freilich steht der gewöhnliche Aufenthalt auch nach der sechsten Haager Konferenz in einem Subsidiaritätsverhältnis zur Staatsangehörigkeitsanknüpfung. Die Idee einer umfassenden staatlichen Personalhoheit dominiert weiterhin die Haager Übereinkommen und das autonome IPR der kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen. 145 4. Der Erfolgsweg in der Nachkriegszeit Erst nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert sich der gewöhnliche Aufenthalt zunächst als ebenbürtige Anknüpfung zur Staatsangehörigkeit, bevor er sie schließlich vollständig überlagert. Dafür lassen sich mehrere Gründe nennen. Rechtspolitisch war das Bedürfnis nach einer Erweiterung des Personalstatuts gewachsen. Die Staatsangehörigkeit konnte weniger denn je die Anknüpfungssicherheit gewährleisten, die sie eingangs versprochen hatte. 146 Die Kriegsjahre hatten eine große Zahl von Flüchtlingen hervorgebracht. Durch Ausbürgerungspolitiken namentlich des Deutschen Reichs und der Sowjetunion stieg auch die Zahl der Staatenlosen vehement an. Auch die taktischen Staatsangehörigkeitswechsel und -doppelungen nahmen stark zu. Die Nottebohm-Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs aus dem Jahr 1955 stellt nur ein prominentes Beispiel für ein weit verbreitetes Phänomen dar. 147 Rechtsvergleichend standen zunehmend unterschiedliche Verweisungstraditionen einer staatsvertraglichen Rechtsvereinheitlichung entgegen. Während in Kontinentaleuropa seit den Kodifikationswellen um 1900 das Staatsangehörigkeitsprinzip vorherrschte, folgten die Britischen Inseln dem Domizilprinzip. Daraus konnten sich renvoi-Probleme ergeben. Im Fall einer Gesamtverweisung findet im Grundsatz nämlich ein Rückverweis ad infinitum statt, wenn der Wohnsitzstaat auf das Heimatrecht, das Heimatrecht aber wieder auf das Wohnsitzrecht verweist. 148 Schließlich erwies sich die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit rechtspraktisch als problematisch. Das galt insbesondere für das Internationale Familienrecht. Entsprechend entwickelten zahlreiche nationale IPR-Systeme Hilfsanknüpfungen, die im Fall ei-
145 Diese Bilanz zieht auch Kropholler, Vom Staatsangehörigkeits- zum Aufenthaltsprinzip, JZ 1972, 16. 146 De Winter RdC 128 (1969-III) 349 (456 ff.) mit Beispielen aus dem nationalen Recht. 147 Internationaler Gerichtshof, 6.4.1955, Nottebohm, ICJ-Reports 1955, 4 ff. 148 Allgemein von Bar/Mankowski, IPR I, § 7 Rn. 233. Zum ebenfalls renvoi-intensiven internationalen Gesellschaftsrecht und der dortigen Konkurrenz von Sitz- und Gründungsstatut BeckOKBGB/Mäsch Art. 12 EGBGB Rn. 51.
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nes Versagens des Heimatrechtsprinzips die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit überwinden sollten. 149 Die Haager Konferenz konnte den genannten Problemen auf einer gewachsenen Kompetenzgrundlage und unter verbesserten institutionellen Rahmenbedingungen begegnen. Erstens wurde ihr im Jahr 1951 der Status einer internationalen Organisation zuerkannt; zweitens wurde ihre dauerhafte Tätigkeit durch ein permanentes Büro und Fachpersonal institutionell unterfüttert. 150 Auf dieser Grundlage stieg auch die Zahl der durch die Konferenz ausgearbeiteten Übereinkommen, verbreiterten sich die konventionell beeinflussten Regelungsgebiete und nahm die Ratifikationsdichte der Übereinkommen zu. 151 Auch die Haager Konventionen selbst erheben seit dem Zweiten Weltkrieg einen höheren Harmonisierungsanspruch als vor dem Zweiten Weltkrieg, da sie ausnahmslos als lois uniformes ausgestaltet sind152 und damit nicht nur im Verhältnis zwischen den Konventionsmitgliedern, sondern auch gegenüber Drittstaaten Wirkung entfalten. a) Konventionsdomizil der Renvoi-Konvention Dem vorab genannten Problem unterschiedlicher Verweisungstraditionen versuchte die auf der siebten Haager Konferenz (1951) ausgearbeitete und 1955 verabschiedete Renvoi-Konvention zu begegnen. 153 Im Grundsatz (Art. 1) siegt bei einem Konflikt zwischen Heimat- und Wohnsitzrecht der Wohnsitz.154 Der renvoi wird damit zugunsten des Domizilprinzips entschieden. 155 Lediglich bei einem Zusammentreffen zweier Rechtsordnungen, die dem Staatsangehörigkeitsprinzip folgen, muss das Staatsangehörigkeitsprinzip auch von Staaten akzeptiert werden, die dem Domizilprinzip folgen. 156 149
De Winter RdC 128 (1969-III) 349 (400 ff.). S. Art. 6 Statut der Haager Konferenz vom 15.7.1955, abgedruckt in Conférence de la Haye de Droit International Privé, Recueil des Conventions (1951±2009), 2009, 2 (6); dazu van Loon, in: van Krieken/McKay (Hrsg.), The Hague: Legal Capital of the World, 2005, 518 (520). 151 van Loon, in: van Krieken/McKay (Hrsg.), The Hague: Legal Capital of the World, 2005, 518 (520). 152 Ibid. 153 Abgedruckt in RabelsZ 17 (1952), 272 sowie Conférence de la Haye de Droit International Privé, Recueil des Conventions (1951±2009), 2009, 31. Zum irreführdenden Konventionstitel, da die Konvention nicht etwa die Anerkennung des Instituts des renvoi vorsieht, sondern sich im Gegenteil auf die Auflösung von Konflikten zwischen Staatsangehörigkeits-und Domizilrechtsordnungen beschränkt, Dölle, Die siebte Haager Konferenz, RabelsZ 17 (1952), 161 (200). 154 Dölle, RabelsZ 17 (1952), 161 (201 f.). 155 Damit ist im Besonderen dieselbe Ausnahmeregel ausgesprochen, die auch in Art. 4 Abs. 1 S. 2 EGBGB enthalten ist. 156 Dölle, RabelsZ 17 (1952), 161 (201). 150
B. Entwicklung im Haager Staatsvertragsrecht
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Schließlich unternimmt das Übereinkommen den Versuch einer konventionsautonomen Wohnsitzdefinition (Art. 5). Ein Rückgriff auf die nationalen Sachrechte soll so entbehrlich werden. Das Konventionsdomizil wird im Grundsatz mit dem gewöhnlichen Aufenthalt gleichgesetzt, ist im Fall familiärer oder behördlicher Abhängigkeit aber akzessorisch zum Domizil der Hauptperson oder zuständigen Behörde zu ermitteln. 157 Die Renvoi-Konvention zeigt einerseits, dass die Aufenthaltsanknüpfung traditionell dem lex loci-Grundsatz und damit dem Domizilprinzip folgt. In Art. 5 Renvoi-Konvention werden Domizil und gewöhnlicher Aufenthalt ohne weitere Erläuterung begrifflich gleichgesetzt. 158 Der Aufenthaltsanknüpfung wird in der Konvention also ein weiterer Zweck zugewiesen. Er lautet, die Unterschiede zwischen Domizil- und Staatsangehörigkeitsanknüpfung zu nivellieren. In ihrer Funktion als persönliches Anknüpfungsmoment ersetzt der gewöhnliche Aufenthalt damit sowohl den Wohnsitz als auch die Staatsangehörigkeit.159 Jedenfalls die Idenfikation von Wohnsitz- und Aufenthaltsanknüpfung konnte sich auf längere Sicht freilich nicht durchsetzen. Im Gegenteil trat die Renvoi-Konvention mangels ausreichender Ratifikationen nie in Kraft.160 Darauf folgte die endgültige Abkehr des staatsvertraglichen IPR von der Wohnsitzanknüpfung zugunsten des Aufenthaltsprinzips. 161 b) Unterhaltsrecht Der eigentliche Erfolg des gewöhnlichen Aufenthalts ist dagegen im internationalen Familienrecht angelegt. 162 Mit den zahlreichen, ihrerseits erfolgreichen Konventionen zum Kindschaftsrecht, aber auch zum Adoptions- und Unterhaltsrechts, zählt dieses Gebiet zu den Kerndisziplinen der Haager Konferenz.163 ,P2ULJLQDOÄ/Hdomicile, au sens de la présente Convention, est le lieu où une personne réside habituellement, à moins qu'il ne dépende de celui d'une autre personne ou du VLqJHG XQHDXWRULWp³Beispiele bei Dölle, RabelsZ 17 (1952), 161 (203 f.), der auch darauf hinweist, dass diese wenig praktikable Akzessorietätsregelung ein Zugeständnis an die Vertragsstaaten darstellt. 158 So auch Mann, JZ 1956, 466 (468). 159 van Loon, in: van Krieken/McKay (Hrsg.), The Legal Capital of the World, 2005, 518 (520). Siehe auch die Ausführungen zum Haager Unterhaltsübereinkommen 1956, Actes et Doc. 1956, 127. Die starre Identifikation der Aufenthaltsanknüpfung mit dem Domizilgrundsatz, wie sie beispielsweise Palandt/Thorn, 75. Aufl. 2016, Einführung IPR Rn. 8, vornimmt, deckt sich also nicht mit der lex lata. 160 So statt vieler d¶Avout, MélanJHVHQO¶KRQQHXU$XGLW (31). 161 Audit/d¶Avout, Droit International Privé, 7. Auflage 2013, Rn. 210. 162 De Winter RdC 128 (1969-III) 349 (437). 163 Abgedruckt in Conférence de la Haye de Droit International Privé, Recueil des Conventions (1951±2009), 2009, 38 ff. Allgemein van Loon, in: van Krieken/McKay (Hrsg.), The Legal Capital of the World 518 (520). Siehe auch Actes et Doc. 1956, 127. 157
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§ 4 Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts
aa) Systematik der Haager Unterhaltsübereinkommen Die familienrechtliche Kodifikation im Rahmen der Haager Konferenz beginnt mit dem Übereinkommen über Kindesunterhalt von 1956 (HUÜ). 164 Das Dokument wurde in den Jahren 1973 165 und 2007 166 neu gefasst. Insgesamt drei weitere, 1958, 1973 und 2007167 verabschiedete Übereinkommen ergänzen die zunächst nur verweisungsrechtlichen Vorschriften durch Bestimmungen zur internationalen Zuständigkeit und zur Urteilsanerkennung. 168 Die Unterhaltsübereinkommen von 1956 und 1973 sind für das Unionsrecht besonders relevant, da sie in einer direkten Verbindung mit dem Haager Unterhaltsprotokoll von 2007 stehen. Gemäß Art. 15 EuUntVO ist das Protokoll auch in der Union als Verordnung verbindlich.169 bb) Anwendungsbereich der Unterhaltsübereinkommen Im Laufe der Konventionsnovellen wurde der sachliche Anwendungsbereich der verweisungsrechtlichen Haager Unterhaltsübereinkommen erweitert. Während sich das erste, 1956 verabschiedete Übereinkommen ausweislich Art. 1 noch auf die Geltendmachung von Kindesunterhalt beschränkte, 170 erfasst die 1973 verabschiedete Konventionsnovelle jedweden familien-, erbund scheidungsrechtlichen Unterhaltsanspruch, 171 also sowohl den Kindesals auch den Erwachsenenunterhalt. 172
164 BGBl. 1961 II, 1013. Zur Rolle der Aufenthaltsanknüpfung de Winter RdC 128 (1969-III) 349 (437). 165 Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 22. 166 Haager Übereinkommen vom 23. November 2007 über die internationale Geltendmachung der Unterhaltsansprüche von Kindern und anderen Familienangehörigen, BGBl. 2013-I, 273. 167 Seit ihrem Beitritt zur Haager Konferenz liegt die Kompetenz über die Ratifikation der Haager Übereinkommen bei der Europäischen Union. Vgl. daher Beschluss des Rates vom 9.6.2011 über die Genehmigung des Haager Übereinkommens vom 23.11.2007 über die internationale Geltendmachung der Unterhaltsansprüche von Kindern und anderen Familienangehörigen im Namen der Europäischen Union, ABl. 2011 L 192/39. 168 S.u. bb). 169 Näher dazu unten § 7 A. III. 2. 170 S.u. Fn. 172. 171 Rapport Pelichet, Actes et Doc. 1972-IV, 15 ff. 172 Ä$UWLFOH 7KLV &RQYHQWLRQ VKDOO DSSO\ WR maintenance obligations arising from a family relationship, parentage, marriage or affinity, including a maintenance obligation in UHVSHFWRIDFKLOGZKRLVQRWOHJLWLPDWH³Dazu Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 22.
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cc) Aufenthaltsanknüpfungen (1) Unterhaltsübereinkommen 1956 Bereits im ersten Haager Unterhaltsübereinkommen (1956) verdrängt der gewöhnliche Aufenthalt das Staatsangehörigkeitsprinzip nahezu ersatzlos. 173 Gemäß Art. 1 HUÜ bestimmen sich Existenz und Umfang der Unterhaltspflicht ausschließlich nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des unterhaltsfordernden Kindes. 174 Ebenso wie in Art. 3 HUP zieht ein Aufenthaltswechsel des Kindes eine Veränderung des anwendbaren Rechts nach sich. 175 Das erkennbare Ziel der Regelung lautet in beiden Fällen, die Berechnungsgrundlage für den Kindesunterhalt an das Lebensumfeld des Unterhaltsgläubigers anzupassen. Abweichungen sollen nach Art. 2 nur zugunsten der lex fori und nur dann möglich sein, wenn sowohl die Nationalität des Kindes als auch der gewöhnliche Aufenthalt des Unterhaltsverpflichteten auf den Forumstaat verweisen. 176 Ein Vorentwurf der griechischen, türkischen und deutschen Delegationen hatte ein Abweichen von der regelmäßigen Aufenthaltsanknüpfung auch für den Fall vorgesehen, dass nur das Kind die Staatsangehörigkeit des zuständigen Staates besaß. Dieser Entwurf wurde allerdings mehrheitlich zurückgewiesen.177 Als echte Durchbrechung der Aufenthaltsanknüpfung zugunsten des Staatsangehörigkeitsprinzips darf die schließlich verabschiedete Ausnahmevorschrift daher nicht gelesen werden: Schließlich beschränkt sich der Einsatz des Staatsangehörigkeitsprinzips auf die Begründung einer kumulativen Ausnahmeanknüpfung in Fällen, in denen der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes den einzigen Auslandsbezug des Sachverhaltes darstellt. 178 173
So auch Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 22. S.o. Fn. 170. Allgemein van Overbeck, Une règle de conflits uniforme en matière G¶obligations alimentaires envers les enfants 4XHOTXHVDVSHFWVUHODWLIVjO¶application de la Convention de La Haye du 24 oct. 1956), NILR 1958, 255. 175 S. Ä(QFDVGHFKDQJHPHQWGHODUpVLGHQFHKDELWXHOOHGHO¶enfant, la loi de la nouvelle résidence habituelle est applicable à partir du moment où le changement s¶est effecWXp³van Overbeck, NILR 1958, 255. 176 S.u. Fn. 178. 177 Actes et Doc. 1956-II, 172 f. Der Einwand der restlichen Abgeordneten lautete, das Konventionsziel ± die möglichst flächendeckende Anwendung des Aufenthaltsrechts und die Vereinheitlichung des anwendbaren Rechts ± werde durch diese weitreichende Liberalisierung nicht mehr gewährleistet, vgl. insbesondere die Einwände der Abgeordneten Dennmark (Schweden), Actes et Doc. 1956-II, 172, de Winter (Rapporteur), Actes et Doc. 1956 II, 173, und Graveson (Großbritannien), Actes et Doc. 1956-II, 173. 178 ÄPar dérogation aux dispositions de l¶article premier chacun des Etats contractants peut déclarer applicable sa propre loi, si a) la demande est portée devant une autorité de cet Etat, b) la personne à qui les aliments sont réclamés ainsi que l¶enfant ont la nationalité de cet Etat, et c) la personne à qui les aliments sont réclamés a sa résidence habituelle dans cet Etat.³ 174
118
§ 4 Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts
Eine weitere Ausnahme von der ansonsten umfassenden Aufenthaltsanknüpfung enthält Art. 3 HUÜ. Die Vorschrift regelt den Fall, dass das Aufenthaltsrecht einen Kindesunterhalt vollständig versagt. 179 Diese von der Meistbegünstigungsidee 180 getragene Rückausnahme soll dem Kindeswohl,181 und damit dem Hauptziel des Unterhaltsübereinkommens, 182 zugutekommen. Gleichzeitig bemühen sich die Konventionsgeber im Sinne der Rechtssicherheit erkennbar um einen klaren sachrechtlichen Bezugspunkt.183 (2) Unterhaltsübereinkommen 1973 Unabhängig von seinem erweiterten sachlichen Anwendungsbereich (Art. 1 HUÜ 1973) 184 entspricht das Unterhaltsübereinkommen von 1973 in Ansehung der Grundanknüpfung weitgehend seinem Vorgänger. Nach Art. 4 Abs. 1 bestimmt der gewöhnliche Aufenthalt des Unterhaltsgläubigers über das anwendbare Recht; nach Art. 4 Abs. 2 hat ein Aufenthaltswechsel einen Wechsel des Unterhaltsstatuts zur Folge. Veränderungen lassen sich nur im Rahmen der Ausnahmeanknüpfungen feststellen. Art. 5 HUÜ 1973 beruft vorrangig gegenüber der lex fori (Art. 6 HUÜ) das Recht der gemeinsamen Staatsangehörigkeit der Parteien. Diese Verweisung greift aber nur, wenn der Unterhaltsgläubiger nicht bereits auf Grundlage der allgemeinen Verweisung über einen Unterhaltsanspruch verfügt. Subsidiär zum Recht der gemeinsamen Staatsangehörigkeit kommt, ebenso wie unter der Vorgängerkonvention, die lex fori zur Anwendung (Art. 6).
Erläuterung vgl. Actes et Doc. 1956-II, 127 f. 179 Art. Ä&RQWUDLUHPHQW DX[ GLVSRVLWLRQV TXLSUpFqGHQW HVWDSSOLTXpH OD ORL GpVLJQpH par les règles nationales de conflit de l¶autorité saisie, au cas où la loi de la résidence habituelle de l¶HQIDQWOXLUHIXVHWRXWGURLWDX[DOLPHQWV³ 180 Der Meistbegünstigungsgrundsatz ist in dieser Vorschrift freilich nur teilweise umgesetzt und erscheint eher in Form einer Schutzklausel zugunsten des Kindeswohls. Dass er hinter dem Konventionsprojekt steht, zeigt aber ein von de Winter ausgearbeiteter Vorentwurf zum Unterhaltsübereinkommen. Danach sollte immer dann auf die lex fori zurückgegriffen werden, wenn der Unterhaltsanspruch nach dem Aufenthaltsrecht weniger umfangreich ausfiel. Vgl. den Vorschlag zu Art. Ä6HUDDSSOLTXpHFRQWUDLUHPHQWDX[GLVSositions qui précèdent, la loi déclarée applicable par les règles nationales de conflit du trib unal saisi, toutes les fois que celle-ci entraînerait une solution plus avantageuse³(Herv. d. Verf.), Actes et Doc. 1956-II, 123, und die Erläuterung, 129. 181 Actes et Doc. 1956-II, 127, 129 sowie die Kommentare der nationalen Delegationen, ibid., 134 ff. 182 Actes et Doc. 1956-II, 127 f. 183 Die Änderung des in Fn. 180 zitierten Vorschlags geht auf den Einwand der deutVFKHQ'HOHJDWLRQ]XUFNZRQDFKHLQDOOJHPHLQHU9HUZHLVDXIGDVÄJQVWLJHUH5HFKW³GLH Rechtssicherheit gefährde und außerdem eine exzessive Anwendung des Forumsrechts durch die zuständigen Gerichte zu befürchten sei, Actes et Doc. 1956-II, 134 f. 184 S.o. Fn. 172.
B. Entwicklung im Haager Staatsvertragsrecht
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dd) Inhaltliche Besonderheiten (1) Verdrängung des Staatsangehörigkeitsprinzips Auffällig ist, dass bereits das Unterhaltsübereinkommen von 1956 auf eine Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit völlig verzichtet und an ihrer statt subsidiär die lex fori beruft. Die negativen Erfahrungen aus der kurz zuvor verabschiedeten RenvoiKonvention können diese Zurückhaltung allein nicht erklären. Schließlich wurde das Scheitern des Übereinkommens erst weitaus später deutlich. 185 Stattdessen dürfte die Kombination von gewöhnlichem Aufenthalt und lex fori durch zwei politische Erwägungen motiviert gewesen sein. Erstens wollte man auch im unmittelbaren Nachgang zur Renvoi-Konvention direkte Kollisionen zwischen Staatsangehörigkeits- und Domizilprinzip vermeiden. Zweitens wurde der gewöhnliche Aufenthalt mit der Anknüpfung an die lex fori verbunden, um den Vertragstext für den angloamerikanischen Rechtsraum attraktiv zu gestalten. Eine Berücksichtigung der Staatsangehörigkeit hätte dieses politische Ziel empfindlich relativiert, während ein Verweis auf das Recht des zuständigen Gerichts als Bekenntnis zur Systemoffenheit und Neutralität verstanden werden konnte. Da dem Übereinkommen Vorschriften zur internationalen Zuständigkeit fehlen ± allenfalls Art. 1 HUÜ a.E.186 kann man als überschießenden Hinweis auf die Aktivlegitimation vor Gericht lesen ± können Staaten, die dem Staatsangehörigkeitsprinzip folgen, grundsätzlich am Prinzip der Heimatzuständigkeit festhalten. Common Law-Staaten können dagegen auf beiden Ebenen das domicile zur Anwendung bringen. Die lex fori dient also dazu, zwei grundverschiedene Systeme, das IPR Kontinentaleuropas und das des angloamerikanischen Rechtskreises, miteinander in Einklang zu bringen. (2) Anknüpfung sui generis Die soeben formulierte These findet Rückhalt in der Beobachtung, dass die Delegiertenkommission den gewöhnlichen Aufenthalt als Anknüpfung sui generis187 verstehen will. Dieser Befund führt zunächst auf die am Beispiel der Renvoi-Konvention gewonnene Doppelbezüglichkeitsthese zurück: Der gewöhnliche Aufenthalt wird als rechtskreisneutrales tertium zu Staatsangehörigkeitsprinzip und Domizilprinzip verstanden. Dass die Aufenthaltsbestimmung erklärtermaßen ohne Rückbezug auf das Heimat- oder Wohnsitzrecht erfolgen soll, führt bei Lichte besehen allerdings 185
Indirekt Actes et Doc. 1956-II, 127. Ä/DGLWH ORL UpJLW pJDOHPHQW OD TXHVWLRQ GH VDYRLU TXL HVW DGPLV j LQWHQWHU O¶action alimentaire et quels sont les délais pour l¶LQWHQWHU³ 187 Actes et Doc. 1956-II, Ä(Q HIIHW OH SULQFLSH >GH UpVLGHQFH KDELWXHOOH@ QH Gécoule ni du principe du domicileQLGHFHOXLGHODQDWLRQDOLWp³ 186
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§ 4 Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts
weiter als die Überlegung einer Äschlichten³ Doppelbeeinflussung. Die Umschreibung des gewöhnlichen Aufenthalts als Ävon sozialen und humanitären³ Motiven getragenes Anknüpfungsmoment 188 zeigt, dass zwischen ihm und der Staatsangehörigkeits- und Wohnsitzanknüpfung nicht nur ein gradueller, sondern ein konzeptioneller Unterschied gesehen wird. Eine Zuordnung der Aufenthaltsanknüpfung zum Personal- bzw. Familienstatut wie auch zu jedem anderen überkommenen Anknüpfungsmoment soll gerade ausgeschlossen sein. 189 Der gewöhnliche Aufenthalt soll also nicht nur einen selbstständigen Anknüpfungspunkt, sondern auch eine eigenständige Anknüpfungskategorie darstellen. Er soll sich keiner abgrenzbaren Summe von Anknüpfungsgegenständen zuordnen lassen, sondern seinen Inhalt ausschließlich durch soziale und humanitäre Erwägungen konkretisieren. 190 (3) Tatsachenbegriff Parallel betont der Berichterstatter des Haager Unterhaltsübereinkommens von 1956, de Winter, dass es sich beim gewöhnlichen Aufenthalt nicht um einen Rechts-, sondern um einen Tatsachenbegriff handeln soll.191 Diese Aussage ist erkennbar dem Versuch geschuldet, eine Manipulation des Unterhaltsgerichtsstands durch den Unterhaltsverpflichteten zu verhindern. Eben diese Möglichkeit bestände, wenn die Aufenthaltsbestimmung in Ansehung der familienrechtlichen Statusbeziehung zwischen Unterhaltsgläubiger und Unterhaltsschuldner erfolgen würde. Die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt des Unterhaltsgläubigers begründet der Berichterstatter de Winter mit der Notwendigkeit, den Unterhaltsschuldner daran zu hindern, sich durch einen Aufenthaltswechsel einem günstigeren Regime zu unterwerfen. 192 Entsprechend sollen anstatt der rechtlichen Rahmenbedingungen der elterlichen Sorge ausschließlich die tatsächlichen Lebensumstände des Gläubigers über die internationale Zuständigkeit und das anwendbare Recht entscheiden. Das Kind kann auf diese Weise durch Prozessvertreter gegen einen oder beide Elternteile vorgehen, ohne dass diese durch einen Wohnsitzwechsel ein für sie günstigeres Recht zur Anwendung bringen können. Diese eindeutige rechts188
Actes et Doc. 1956-II, 127. Actes et Doc. 1956-II, 127. 190 Actes et Doc. 1956-,, Ä/D ORL GH OD UpVLGHQFH KDELWXHOOH QH V¶applique pas en vertu du statut de la famille, des obligations ou des délits, mais en tant que règle de conflit sui generis pour des motifs d¶RUGUHVRFLDOHWKXPDQLWDLUH³ 191 Actes et Doc. 1956-II, 127Ä,O \ DOLHX GH PHQWLRQQHU TXHOHWHUPH UpVLGHQFH KDEituelle représente exclusivement une notion de fait; par conséquent, il n¶a rien à voir avec le domicile légal de l¶HQIDQW³ 192 Actes et Doc. 1956-,, Ä2Q pYLWH HQ RXWUH TXH OD SHUVRQQH TXL GRLW entretenir l¶enfant ne puisse se soustraire à l¶obligation alimentaire en s¶établissant dans un pays où cette obligation est, soit inconnue, soit reconnue seulement dans une mesure très resWUHLQWH³ 189
B. Entwicklung im Haager Staatsvertragsrecht
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politische Einbettung einer für sich genommen technischen Forderung ± der ausschließlich tatsachenakzessorischen Aufenthaltsbestimmung ± zementiert einerseits die Fiktionsfeindlichkeit des gewöhnlichen Aufenthalts, unterstützt andererseits aber auch die behauptete konzeptionelle Unabhängigkeit des gewöhnlichen Aufenthalts von rechtlichen Statusverhältnissen. Jedenfalls im Kindschaftsrecht bricht der gewöhnliche Aufenthalt dadurch sowohl mit dem Staatsangehörigkeitsprinzip als auch mit der Wohnsitzanknüpfung. Zusammengefasst präzisieren die Verhandlungen zum Haager Unterhaltsabkommen die Wesensmerkmale der Aufenthaltsanknüpfung deutlich. Diskutiert werden nicht nur die Vorzüge des Äfaktischen³ gewöhnlichen Aufenthalts gegenüber dem Wohnsitzprinzip, sondern auch seine Vorteile gegenüber der Staatsangehörigkeit. Auch zwischen der Sachnähe und Effektivität der Aufenthaltsanknüpfung und dem Kindeswohl wird so ein Zusammenhang hergestelllt. Gleichzeitig erscheint der gewöhnliche Aufenthalt vor dem Hintergrund des klassischen Anknüpfungskanons des Internationalen Privatrechts als systemfremde, da an unbekannten Determinanten des ÄSozialen und Humanitären³ orientierte Kategorie. 193 Eine Einordnung des Anknüpfungsmoments in klassische Systemkategorien des IPR wird absichtlich unterlassen. Eben diese nicht nur technische, sondern auch methodische und konzeptionelle Einzigartigkeit scheint aber gerade den Grund zu bilden, dass der gewöhnliche Aufenthalt fortan expansiv im Haager Staatsvertragsrecht in Stellung gebracht wird. (4) Allgemeine Schutzanknüpfung (HUÜ 1973) Mit der Erweiterung des sachlichen Anwendungsbereichs der Unterhaltskollisionsnormen durch das Haager Unterhaltsübereinkommen von 1973 wird die durch das HUÜ 1956 etablierte Konditionalbeziehung zwischen dem Kinderschutz und der Aufenthaltsanknüpfung aufgegeben. Im ersten Entwurf der Konvention vom 15.3.1972 wird die Trennung zwischen Erwachsenen und Kindern freilich noch voll aufrechterhalten.194 Erstens soll das neue Übereinkommen von vornherein nur auf Unterhaltsansprüche zwischen Erwachsenen Anwendung finden; zweitens sollen Ansprüche ausgeschlossen werden, die ausschließlich aus einem familienrechtlichen Verhältnis entstanden sind. 195 Im weiteren Verlauf der Verhandlungen wird der Vertragsentwurf zum Erwachsenenunterhalt vollständig in das bereits vorhandene Dokument zum Kindesunterhalt integriert. Die Gründe für die Erweiterung anstatt der Schaffung von Parallelübereinkommen lassen sich dem vorbereitenden Bericht des Vorsitzenden des Ständigen Büros der Haager Konferenz, Michel Pelichet, und der dort enthaltenen 193
Actes et Doc. 1956-II, 127. Actes et Doc. 1972-IV, 88. 195 Actes et Doc. 1972-IV, 88. 194
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§ 4 Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts
Zusammenfassung der Umfrage in den Mitgliedstaaten entnehmen. 196 Der Bericht setzt sich mit der Frage nach der Übertragbarkeit des kindschaftsrechtlichen auf den ehelichen Unterhaltsanspruch auseinander. Eine von ihrem im Ausland beschäftigten Ehemann verlassene Gattin soll danach bei der Geltendmachung ihres Unterhaltsanspruchs ein ähnliches finanzielles und Ähumanitäres³ Schutzbedürfnis haben wie ein Kind. Durch diese Überlegung wird insbesondere die Erweiterung der Haager Konventionen auf den Erwachsenenunterhalt gerechtfertigt.197 Auch das mit der Ausarbeitung des Konventionsentwurfs betraute Special Committee spricht sich für eine einheitliche Anknüpfung aus. Die Kommission geht selbstverständlich davon aus, dass für den gewöhnlichen Aufenthalt im Rahmen des Erwachsenenunterhalts dieselben Argumente sprechen, wie sie bereits in Bezug auf den Hauptanknüpfungspunkt des Haager Übereinkommens von 1956 vorgebracht wurden. 198 Die Entstehungsgeschichte des Unterhaltsübereinkommens von 1973 zeigt also, dass der gewöhnliche Aufenthalt jedenfalls für die Zwecke des Kindesund Erwachsenenunterhalts nicht nur durch identische rechtspolitische Motive gerechtfertigt wird, sondern darüber hinaus auch einen identischen Schutzzweck bedienen soll.199 Er dient also jedenfalls im Internationalen Unterhaltsrecht nicht als Oberbegriff für die Entwicklung kindschaftsrechtlicher Schutzmechanismen, sondern muss als allgemeine Schutzformel verstanden werden, die benutzt wird, um den schwächeren Teil eines Unterhaltsrechtsverhältnisses vor Übervorteilung zu bewahren. c) Aufenthaltszuständigkeit im Internationalen Kindschaftsrecht Seine aktuelle sorgerechtliche Konnotation erhält der gewöhnliche Aufenthalt durch die kindschaftsrechtlichen Übereinkommen der Haager Konferenz. Für 196
Actes et Doc. 1972-IV, 9 ff. Actes et Doc. 1972-IV, Ä7KHWZR+DJXH&RQYHQWLRQVZHUHFRQFHLYHGWREHQHILW unmarried infants; now it seems to us that the financial, social and human situation which is most akin to that of the infant is that of a spouse abandoned in the country of origin usually together with her children, by a migrant worker. A striking identity of interests exists between a spouse abandoned by a migrant worker and an infant. This would appear to justify DQH[WHQVLRQRIWKHWZR+DJXH&RQYHQWLRQV³ 198 Actes et Doc. 1972-IV5QÄ7KHFRQQHFWLQJIDFWRUFRQWDLQHGLQWKHFRQIOLFW rule is the same as the main factor appearing in the Applicable-Law-Convention of 1956 >«@. As a justification for its adoption, one only has to repeat the reasons prevailing when it was accepted 15 years ago³ (Herv. d. Verf.). 199 In Anbetracht der demographischen Entwicklung und der erwerbsbedingt wachsenden finanziellen Emanzipation der Frau lässt sich das Bild der kindesähnlich schwachen Ehefrau, das noch das Paradigma des Unterhaltsübereinkommens von 1973 darstellte, kritisieren. Der Bedarf für ein differenziertes Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts folgt daraus aber nicht unbedingt. 197
B. Entwicklung im Haager Staatsvertragsrecht
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Sorgerechtsfragen galt hier lange Zeit das Haager Minderjährigenschutzübereinkommen von 1961 (MSA)200. Seit dem 1.1.2011 wird dieses durch das Haager Kinderschutzübereinkommen von 1996 (KSÜ) ersetzt.201 Den ebenfalls sorgerechtlichen Topos der internationalen Kindesentführung regelt das Haager Kindesentführungsübereinkommen von 1980.202 In allen Fällen wird ausschließlich die internationale Zuständigkeit mitgliedstaatlicher Gerichte geregelt. Das anwendbare Recht bestimmt sich demgegenüber nach dem lex fori-Prinzip.203 aa) Haager Minderjährigenschutzübereinkommen (1961) Durch das Haager Minderjährigenschutzübereinkommen (MSA) von 1961 werden die Haager Familienrechtsübereinkommen der Vorkriegszeit abschließend überlagert. Das einst dominante Staatsangehörigkeitsprinzip weicht damit einer flächendeckenden Aufenthaltsanknüpfung. 204 Im Gegensatz zum Unterhaltsrecht wird die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit im MSA zunächst subsidiär beibehalten; ihre Rolle beschränkt sich aber auf die Anerkennung von ex lege-Gewaltverhältnissen (Art. 3 MSA). Der eigentliche Verweisungsvorgang wird also ganz durch den gewöhnlichen Aufenthalt bestimmt. Unter dem KSÜ weicht auch die ex lege-Anerkennung einer abschließenden Zuständigkeitsbestimmung durch den gewöhnlichen Aufenthalt. Die Motive für die umfassende Revision des Internationalen Vormundschaftsverfahrensrechts und des damit verbundenen IPR lassen sich den Berichten der neunten Haager Konferenz entnehmen. Die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs in der Rechtssache Boll205 hatte den Reformbedarf des Übereinkommens von 1902 offengelegt, das für Kompetenzkonflikte zwischen Mitgliedstaaten nur unzureichende Kollisions- und Anerkennungsregeln bereitstellte. 206 Ferner hatte die Dominanz des Staatsangehörigkeitsprinzips im Vormundschaftsübereinkommen Länder mit Domizilprinzip von der Ratifikation des Übereinkommens abgehalten.207 Schließlich konnte man auf die bereits erfolgten Haager Reformvorhaben, namentlich das Genfer
200
Übereinkommen über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen vom 5.10.1961, BGBl. 1971 II, 219. 201 Art. 51 KSÜ; dazu Benicke, Haager Kinderschutzübereinkommen, IPRax 2013, 44; BeckOKFamFG/Sieghörtner § 99 FamFG Rn. 11. 202 BGBl. 1990 II, 207. 203 Heldrich, Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht, 1969, 22. 204 BGBl. 1971 II, 219. Dazu und zu den mit dem MSA einhergehenden Rechtsanwendungsproblemen Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 20. 205 IGH, 28.11.1958, Case Concerning the Application of the Convention of 1902 Governing the Guardianship of Infants, ICJ-Reports 1958, 55. 206 Actes et Doc. 1960-IV, 19. 207 De Winter RdC 128 (1969-III) 349 (387 ff.).
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§ 4 Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts
Flüchtlingsübereinkommen (1951) 208 und das Unterhaltsübereinkommen (1956) zurückblicken, die beide vom Staatsangehörigkeitsprinzip Abstand nahmen und sich stattdessen für den gewöhnlichen Aufenthalt öffneten. Im Gegensatz zum Vormundschaftsabkommen wurde die Anknüpfung also nicht mehr als begründungsbedürftige Durchbrechung der Personalhoheit, sondern als Regelanknüpfung verstanden. Durch den gewöhnlichen Aufenthalt sollte außerdem einmal mehr das Anknüpfungssubjekt geschützt werden. Als Äcentre effectif de la vie du mineur³ nimmt er in den Augen der Haager Konferenz ohne Rücksicht auf bestehende Statusverhältnisse ausschließlich auf die tatsächlichen Lebensverhältnisse des Kindes Bezug. 209 bb) Haager Kinderschutzübereinkommen (1996) Das in Deutschland seit 1.1.2011 geltende Haager Kinderschutzübereinkommen von 1996210 (Art. 15 f. KSÜ) entspricht im Grundsatz dem MSA, ist aber wesentlich ausdifferenzierter als das Vorgängerübereinkommen. Art. 15 Abs. 1 KSÜ bestimmt, dass die nationalen Behörden Äbei der Ausübung ihrer Zuständigkeiten³ im Grundsatz die lex fori anzuwenden haben. 211 Nach Art. 15 Abs. 2 KSÜ ist es ihnen aber freigestellt, die Vorschriften einer anderen Rechtsordnung anzuwenden, sofern der Sachverhalt zu ihr eine wesentlich engere Verbindung aufweist. 212 Die elterliche Verantwortung, Art. 16 Abs. 1 ff. KSÜ sowie das auf ihre Ausübung anwendbare Recht, Art. 17 KSÜ, werden dagegen explizit von der Grundregel des Art. 15 Abs. 1 KSÜ ausgenommen. Für sie gilt nicht pauschal die lex fori, sondern das Recht am gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes (Art. 16 Abs. 1 KSÜ). Legt man aus deutscher Sicht die Zuständigkeitsvorschrift des Art. 8 Abs. 1 EuEheVO zugrunde, hat dies allerdings in der entscheidenden Mehrheit der Fälle ebenfalls die Anwendung der lex fori zur Folge. Eine Ausnahme ist für den Fall einer Aufenthaltsveränderung denkbar, die das KSÜ durch einen Statutenwechsel nachvollzieht (Art. 16 Abs. 3, 4 KSÜ).213 Lediglich die internationale Geltung gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen auf dem Gebiet des Sorgerechts wird durch eine starre Anknüpfung an die lex temporis actus sichergestellt (Art. 16 Abs. 2 KSÜ).
208
BGBl. 1953 II, 560. Steiger, Actes et Doc. 1960, 226. 210 Übereinkommen vom 19. Oktober 1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern, in Kraft getreten am 1.1.2002. 211 OLG Karlsruhe, 5.3.2013 ± 18 UF 298/12, NJW-RR 2013, 1157 (1158) Rn. 13. 212 Benicke, IPRax 2013, 44. 213 OLG Karlsruhe, 5.3.2013 ± 18 UF 298/12, NJW-RR 2013, 1157 (1158) Rn. 13. 209
B. Entwicklung im Haager Staatsvertragsrecht
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cc) Haager Kindesentführungsübereinkommen (1980) Auch das Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte der Kindesentführung 214 nutzt ausschließlich den gewöhnlichen Aufenthalt, um das anwendbare Recht zu bestimmen. Erstens bestimmt er unmittelbar den räumlichen Anwendungsbereich (Art. 4), zweitens aber auch die Behördenzuständigkeit (Art. 8). Drittens hängt laut Art. 3 lit. a) HKÜ die Widerrechtlichkeit einer Ortsveränderung vom Recht am gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes unmittelbar vor der Verbringung ab. Die zahlreichen Diskussionen um den gewöhnlichen Aufenthalt sowie seine Bedeutung im Haager Kindesentführungsübereinkommen sind praktisch bedeutsam, 215 für die Zwecke der vorliegenden Arbeit aber nur als Einzelphänomene relevant. Die Diskussion um die Aufenthaltsanknüpfung im Zusammenhang mit der Kindesentführung muss vielmehr als frühes und bedeutsames Beispiel für die in der Grundlegung kritisierte Tendenz verstanden werden, anstatt einer übergreifenden Lehre verallgemeinerungsfeindliche, bereichsspezifische Sonderdogmatiken für die Aufenthaltsanknüpfung zu entwickeln. d) Eherechtliche Haager Konventionen Der gewöhnliche Aufenthalt nimmt sowohl im Haager Ehegüterrechtsübereinkommen von 1978 als auch im Haager Übereinkommen über die Anerkennung ausländischer Ehescheidungen von 1970 eine bedeutende Stellung ein. In Art. 3 des Güterrechtsübereinkommens bestimmt der erste gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt der Ehegatten nach der Eheschließung, ähnlich wie Art. 22 EuGüVO, den Kreis der wählbaren Rechtsordnungen. Allerdings ist die Ratifikationsdichte der Konvention derart gering, dass ihr weder in der Vergangenheit noch aktuell eine signifikante praktische Bedeutung zukommt. 216 Art. 2 des weitaus dichter ratifizierten Scheidungsübereinkommens von 1970217 greift mehrmals auf den gewöhnlichen Aufenthalt zurück, um die Anerkennungsfähigkeit einer Ehescheidung zu sichern.
214
BGBl. 1991 II, 329. Zu den zentralen Fragen des gewöhnlichen Aufenthalts im Rahmen der Kindesentführung Schutz, Policy Considerations in Determining the Habitual Residence of a Child and the Relevance of Context, 11 Journal of Transnational Law and Policy 2001±2002, 102; Keese, Die Kindesentfuȋhrung durch einen Elternteil im europaȋischen und internationalen Zivilprozessrecht, 2011. 216 Konkret: Frankreich, Luxemburg und die Niederlande. Österreich und Portugal haben das Übereinkommen gezeichnet, aber nicht ratifiziert. 217 (insgesamt 19 Mitglieder) (zuletzt abgerufen am 2.9.2016). 215
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e) Aufenthaltsstatut des Haager Erbrechtsübereinkommens Besondere Aufmerksamkeit verdient dagegen die Diskussion um den gewöhnlichen Aufenthalt im Internationalen Erbrecht. Erstens drängen sich strukturelle Parallelen zwischen dem Konventionsdokument und der EuErbVO auf. Zweitens findet im Vorfeld des Haager Erbrechtsübereinkommens von 1989 eine ausführliche Diskussion um die technischen Vorteile des gewöhnlichen Aufenthalts statt. Drittens steht das Übereinkommen mittlerweile für einen weiteren gescheiterten Versuch, einen Kompromiss zwischen verschiedenen kollisionsrechtlichen Rechtskreisen auf dem Gebiet des Personalstatuts, der Staatsangehörigkeit und dem Domizilgrundsatz, herzustellen. 218 Auf dem Gebiet des Internationalen Erbrechts war ± und ist ± ein solcher Kompromiss ebenso notwendig wie schwierig zu erreichen, da die rechtskulturellen Anschauungsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten der Haager Konferenz hier besonders deutlich zu Tage treten. 219 Unterschiede im Modus der Nachlassabwicklung, also der Gegensatz von Einzel- und der Gesamtrechtsnachfolge, erschweren die grenzüberschreitende Nachlassabwicklung zusätzlich.220 Art. 3 des HEÜ steht vor diesem Hintergrund für einen rechtspolitisch wie rechtsdogmatisch ansprechenden Mittelweg, 221 der mit einer Kombination aus Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsprinzip arbeitet und aus beiden Grundsätzen ein abgestuftes System 222 entwickelt. 223 Ein Verweis auf den Wohnsitz fehlt ± wie bereits in früheren Konventionen ± völlig. 224 Nach Abs. 1 bestimmt sich das anwendbare Recht nach dem letzten gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers, sofern dieser auch die Staatsangehörigkeit seines 218
Lagarde, La nouvelle Convention de La Haye sur la loi applicable aux successions, Rev. crit. d.i.p. 78 (1989), 249. 219 Einen Überblick über die unterschiedlichen Anknüpfungsmomente und Regelungsmodelle allein in den EU-Mitgliedstaaten liefert Mansel, FS Ansay, 2006, 185 (187 f.). 220 Mansel, FS Ansay, 2006, 185 (188). 221 So auch Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 24. 222 Kropholler, IPR, § 51 I 1, 434. 223 $UWLNHOÄ 6XFFHVVLRQLVJRYHUQHGE\WKHODZ of the State in which the deceased at the time of his death was habitually resident, if he was then a national of that State. (2) Succession is also governed by the law of the State in which the deceased at the time of his death was habitually resident if he had been resident there for a period of no less than five years immediately preceding his death. However, in exceptional circumstances, if at the time of his death he was manifestly more closely connected with the State of which he was then a national, the law of that State applies. (3) In other cases succession is governed by the law of the State of which at the time of his death the deceased was a national, unless at that time the deceased was more closely connected with another State, in which case the lDZRIWKHODWWHU6WDWHDSSOLHV³ 224 Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 24, Fn. 97 verweist insoweit auf den BeULFKWGHV5DSSRUWHXU:DWHUVGHUGLHÄRGGLWLHV³GHUQDWLRQDOHQ:RKQVLW]EHJULIIHIUJHIlKrlich hält, Actes et Doc. 1988-II, 548 f.
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Aufenthaltsstaates besessen hat. Fallen gewöhnlicher Aufenthalt und Staatsangehörigkeit auseinander, bestimmt laut Abs. 2 der gewöhnliche Aufenthalt nur dann das anwendbare Recht, wenn mindestens fünf Jahre vor dem Tod des Erblassers ein schlichter Aufenthalt begründet wurde. 225 In allen anderen von Abs. 3 erfassten Fällen versagt die Aufenthaltsanknüpfung. Das Erbstatut bestimmt sich dann vorbehaltlich einer engeren Verbindung zu einem anderen Staat nach der Staatsangehörigkeit des Erblassers. Auffällig ist Art. 5 der Konvention: Im Gegensatz zu Art. 22 Abs. 1 EuErbVO wird dem Erblasser eine unbeschränkte Rechtswahlmöglichkeit zur Hand gegeben. 226 Die Systematik des Art. 3 HEÜ lässt eine gewisse Skepsis gegenüber dem gewöhnlichen Aufenthalt erkennen. Er findet nur dann als erbrechtlicher Anknüpfungspunkt Akzeptanz, wenn er entweder durch die Staatsangehörigkeit des Erblassers oder durch den Ablauf einer bemerkenswert langen Zeitspanne ergänzt wird. Weiterhin erweist sich die Grundanknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt angesichts der subsidiären Geltung des Staatsangehörigkeitsprinzips in Art. 3 Abs. 3 HEÜ in weiten Teilen als redundant: Da ohnehin die Nationalität des Erblassers für eine Validierung des Aufenthaltsprinzip nötig ist, greift die Sonderregel gegenüber einer Äreinen³ Aufenthaltsanknüpfung allenfalls ein, um einseitige Vorrangregeln zur effektiven Staatsangehörigkeit, wie Art. 5 Abs. 1 S. 3 EGBGB, zu überwinden. Ebenso wie im Rahmen des Art. 5 EGBGB ist der gewöhnliche Aufenthalt in dieser Funktion kein eigenständiger Anknüpfungspunkt, sondern ein Feinsteuerungsmechanismus innerhalb der Grundanknüpfung an die Staatsangehörigkeit. Er dient dazu, bei Doppel- und Mehrstaatlern zwischen der effektiven und der nicht effektiven Rechtsordnung abzuschichten. Bei Lichte besehen 225 Diese begriffliche Klarstellung geht zurück auf das Anraten der deutschen Bundesregierung, Actes et Doc. 1988-II, 284. 226 Artikel 5: Ä(1) A person may designate the law of a particular State to govern the succession to the whole of his estate. The designation will be effective only if at the time of the designation or of his death such person was a national of that State or had his habitual residence there. (2) This designation shall be expressed in a statement made in accordance with the formal requirements for dispositions of property upon death. The existence and material validity of the act of designation are governed by the law designated. If under that law the designation is invalid, the law governing the succession is determined under Article 3. (3) The revocation of such a designation by its maker shall comply with the rules as to form applicable to the revocation of dispositions of property upon death. (4) For the purposes of this Article, a designation of the applicable law, in the absence of an express contrary provision by the deceased, is to be construed as governing succession to the whole of the estate of the deceased whether he died intestate or wholly or pa rtially testate.³ In Frankreich drängt das Schrifttum aus diesem Grund auf eine Ratifikation des Übereinkommens, vgl. Dörner/Lagarde, in: DNotI, Perspektiven, 2002, 169 (242).
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§ 4 Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts
liefert Art. 3 HEÜ also kein Beispiel einer abgeschwächten Aufenthaltsanknüpfung, 227 sondern stellt den Ausnahmefall einer staatsvertraglichen Regulierung des Staatsangehörigkeitsprinzips dar. Rechtspolitisch erklärt sich die vergleichsweise reduzierte Tragweite des Aufenthaltsgrundsatzes insbesondere durch den Kommentar der Bundesregierung zum Konventionsentwurf. 228 Die Regierung äußert dort ähnliche Bedenken gegen einen vollständigen Wechsel zum Aufenthaltsprinzip, wie sie im Rahmen der deutschen IPRReform 1986 laut wurden. 229 Erstens sei die Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts stets mit Unsicherheiten verbunden, was die Vorhersehbarkeit von Anknüpfungsergebnissen gefährde. 230 Zweitens sei die Anknüpfungsgerechtigkeit unter dem Aufenthaltsprinzip nicht hinreichend sichergestellt, weil der Erblasser zu seiner Heimatrechtsordnung regelmäßig eine engere Verbindung habe als zu seinem Aufenthaltsrecht, selbst wenn sich dieser Aufenthalt infolge einer fünfjährigen Aufenthaltsdauer verfestigt habe. 231 Ob diese Überlegung zutrifft, lässt sich insbesondere von einer dogmatischen Warte aus nur schwer nachweisen. Warum die gewillkürte Integration in eine Gesellschaft außerhalb des Heimatstaates strukturell hinter der durch die Staatsangehörigkeit verstetigen statusrechtlichen Heimat zurückbleiben soll, ist bis heute nicht bewiesen. Das gilt insbesondere, wenn eine doppelte und mehrfache Staatsangehörigkeit über starre Vorrangregeln zugunsten der inländischen Rechtsordnung einer eindeutigen Lösung zugeführt wird. In diesem Fall fällt das als stereotype Übersetzung kultureller Zugehörigkeit gerechtfertigte, international-privatrechtliche Staatsangehörigkeitsprinzip 232 in seine hoheitsrechtlich-machtpolitischen Ursprünge zurück. 233 Der rechtspraktische Aussagegehalt der Konvention ist überdies unter gleich zwei Aspekten gering. Erstens hatten bis zum Stichjahr 1995 nur Luxemburg und die Schweiz das Dokument gezeichnet. 234 Entsprechend gilt der
227 So die ganz herrschende Wahrnehmung, vgl. nur Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 25; Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 105 f. 228 Actes et Doc. 1988-II, 284. 229 Zusammenfassung bei Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 75 ff. 230 Actes et Doc. 16 (1988-,, Ä7KHGHFHDVHG¶s habitual residence will subsequently be generally more difficult to establish, and more uncertain as to the outcome, than his lasWQDWLRQDOLW\³ 231 Actes et Doc. 16 (1988-,, Ä7KH GHFHDVHG¶s connections with his home country¶s legal system are, as a rule, much stronger than they are with the legal system of a State where he has only resided for five years.³ 232 So insbesondere Jayme, Kulturelle Identität und Internationales Privatrecht, in: ders. (Hrsg.), Kulturelle Identität und Internationales Privatrecht, 2003, 5 (11). 233 Anders im Hinblik auf die EuErbVO aber Kern/Glücker, RabelsZ 78 (2014), 294 (306 ff.). 234 Die Niederlande haben das Dokument trotz seines Nicht-Inkrafttretens für anwendbar erklärt, (zu-
B. Entwicklung im Haager Staatsvertragsrecht
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durch das Erbrechtsübereinkommen unternommene Versuch, einen Kompromiss zwischen Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsprinzip zu erzielen, als gescheitert. 235 Außerdem sprechen zwei Überlegungen dagegen, das Erbrechtsübereinkommen als unmittelbares Kodifikationsvorbild für die EuErb VO zu verstehen. Weder sieht die EuErbVO eine unbeschränkte Rechtswahl vor, noch wird die Aufenthaltsanknüpfung dem Staatsangehörigkeitsprinzip in einer dem Erbrechtsübereinkommen vergleichbaren Weise untergeordnet. Vielmehr wird man das HEÜ gerade als Gegenmodell zur Erbrechtsverordnung und als indirektes politisches Bekenntnis zur Staatsangehörigkeitsanknüpfung verstehen müssen. 5. Zwischenergebnis Der gewöhnliche Aufenthalt entwickelt sich im Laufe des 20. Jahrhunderts somit von einer als atypisch und begründungsbedürftig empfundenen Durchbrechung staatlicher Personalhoheit zu einer diskussionslos akzeptierten Regelanknüpfung. Dabei steht er nicht zwingend für gesteigerte zwischenstaatliche Kooperation im institutionellen Sinne. Vielmehr liefert der gewöhnliche Aufenthalt auf der Ebene des anwendbaren Rechts erstens einen Kompromiss zwischen Staatsangehörigkeits- und Domizilprinzip, erscheint zweitens praktikabler als die Wohnsitzanknüpfung und liefert drittens ein Zeugnis von der Entflechtung von Internationalem Privatrecht und staatlicher Hoheitsgewalt.236 Auch im Rahmen der internationalen Zuständigkeit lässt sich zeitgleich mit dem Aufstieg der Aufenthaltsanknüpfung keine politische Integrationsagenda, sondern eine Entpolitisierung des internationalen Zivilverfahrensrechts beobachten. Während das Vormundschaftsübereinkommen noch im Hinblick auf einen auf seiner Grundlage verübten Eingriff in Hoheitsrechte vor den Internationalen Gerichtshof getragen wurde, präsentiert sich die staatsvertragliche Kollisionsrechtsharmonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg als ein von streng diplomatischen Erwägungen losgelöster Vorgang der Privatrechtssetzung. Die Aufenthaltsanknüpfung treibt diese Entwicklung für sich genommen nicht zwingend voran, steht aber jedenfalls in einem zeitlichen Sinnzusammenhang mit ihr. Ihre Akzeptanz steigt spiegelbildlich zur Abkehr der Haager Staatsverträge vom Staatsangehörigkeitsprinzip. Das Internationale Privat- und Verfahrensrecht wird jedenfalls partiell vom öffentlich-rechtlichen Statusverhältnis, aber auch von den Grundparametern des Völkerrechts entkoppelt und entwickelt selbstständige Allokationsfiguren.
letzt abgerufen am 28.8.2016), Kropholler, IPR, § 51 I 1, 434; Dörner/Lagarde, in: DNotI, Perspektiven, 2002, 169 (231). 235 Ebenso Schroer(XURSlischer Erbschein, 2010, 42. 236 Raape/Sturm, IPR, Band 1, 6. Auflage 1977, 118 f.
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§ 4 Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts
C. Zusammenfassung und Bewertung C. Zusammenfassung und Bewertung
Ein Blick auf die Verhandlungsrunden der Haager Konferenz zeigt auch, dass die aktuell beklagte Inhaltsarmut der Aufenthaltsanknüpfung kein Proprium des Unionsrechts ist, sondern jedenfalls im Haager Staatsvertragsrecht über Jahrzehnte hinweg kultiviert wurde. 237 Dass die Konferenzen nicht nur von einer Definition des gewöhnlichen Aufenthalts absehen, 238 sondern auch die Verhandlungen im Vorfeld eine erschöpfende Diskussion des Begriffs vermeiden,239 ist kein Versehen, sondern das Ergebnis politischen Kalküls. Indem man bewusst von einer ÄDogmatisierung³ des gewöhnlichen Aufenthalts und ihrem Schlusspunkt, einer Definition, absah, wollte man ihn erstens als rechtskulturell unbeeinflusstes 240 und gerade deswegen konsensfähiges 241 Brückenkonzept zu Staatsangehörigkeit und Domizil erhalten. Auch sollte die schwache dogmatische Vorprägung die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt flexibel halten,242 das richterliche Entscheidungsermessen stärken und einzelfallgerechte Ergebnisse ermöglichen. 243 Auch dass der gewöhnliche Aufenthalt mitunter als Ausweis fehlender Kompromissbereitschaft in der Rechtsharmonisierung verstanden wird, 244 lässt sich historisch am Haager Konventionsrecht nachweisen. In der Tat erklärt sich der Aufstieg des Aufenthaltsprinzips zunächst dadurch, dass sich sowohl die dem domicile verpflichteten Länder als auch die kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen weigerten, ihre Grundparameter der persönlichen Anknüpfung aufzugeben. Mit dem rechtskulturell neutralen gewöhnlichen Aufenthalt blieben beide Anknüpfungstraditionen unberührt, weil im Ergebnis ein Begriff eingeführt wurde, der sich sowohl durch das Staatsange237 Zum gewöhnlichen Aufenthalt im autonomen IPR der Bundesrepublik dagegen Maack, Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts im geltenden Bundesrecht, 1954; Mann, JZ 1956, 466 (Reaktion bei de Winter RdC 128 (1969-III) 349 (428 f.)); Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 54 ff., Raape/Sturm, IPR, Band 1, 6. Auflage 1977, 118, Fn. 120, 121. 238 Vgl. die Diskussionen zum Haager Adoptionsübereinkommen, Actes et Doc. 1964II, 200 f. sowie zum Haager Erbrechtsübereinkommen, Actes et Doc. 1988-II, 190 f.; dazu Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 33 f.; de Winter RdC 128 (1969-III) 349 (428): Ä6RIDUKRZHYHUWKH+DJXH&RQIHUHQFHKDVFRQVLVWHQWO\UHMHFWHGWKHVHSURSRVDOV³ 239 Vgl. nur Actes et Doc. 10 (1964-II) 200 f. sowie die Bewertung bei Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 34. 240 Hague Conference, VIII Session, Actes et Doc. Ä+DELWXDOUHVLGHQFHLVD factual notion and needs no connection wiWKDQ\JLYHQOHJDOV\VWHP³ 241 De Winter RdC 128 (1969-III) 349 (429). 242 De Winter RdC 128 (1969-,,, Ä6SHFLILFDWLRQ ZDV GHOLEHUDWHO\ DYRLGHG [...] as it was featured that this would involve the loss of the advantages which would be derived from the latitude to adapt this notion to prDFWLFDOUHTXLUHPHQWV³ 243 De Winter RdC 128 (1969-III) 349 (428) m.Verw. auf Actes et Doc. 1951, 232. 244 Insb. Rauscher, FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (638).
C. Zusammenfassung und Bewertung
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hörigkeitsprinzip aufladen als auch in Richtung des domicile Äinterpretieren³ ließ.245 I. Aufenthaltsanknüpfung als Territorialitätsprinzip Wer die Tauglichkeit des gewöhnlichen Aufenthalts als Anknüpfungsmoment eines europäischen Personalstatuts anzweifeln möchte, findet in den frühen Konventionen der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht eine Fülle an Argumentationsmaterial. Sowohl im Haager Vormundschaftsübereinkommen von 1902246 als auch im Entmündigungsübereinkommen von 1905 247 wird die Aufenthaltsanknüpfung zur Bestimmung der familiengerichtlichen Zuständigkeit verwendet, belegt aber den zweiten Rang hinter der Staatsangehörigkeit und erzeugt außerdem reversible Ergebnisse. 248 Nach Art. 3 des Entmündigungsübereinkommens steht die Zulässigkeit eines Aufenthaltsgerichtsstands unter dem Vorbehalt, dass die Heimatgerichte erforderliche Schutzmaßnahmen zugunsten des Mündels unterlassen haben. Art. 6 gestattet darüber hinaus das jederzeitige Wiedereingreifen der Heimatbehörden.249 In beiden Fällen rechtfertigt sich der Rückgriff auf das Aufenthaltsprinzip weniger durch Erwägungen der engsten Verbindung als durch ein gesteigertes Schutzbedürfnis des Rechtsschutzsuchenden, das seinerseits Maßnahmen ei-
245 Rauscher, FS Jayme, Band I, 2004, 719, der die Adoption des Aufenthaltsprinzips IUÄHLQIDOOVORV³hält; skeptisch auch G¶Avout, Mélanges en l¶honneur Audit, 2014, 17 (23). 246 Abkommen zur Regelung der Vormundschaft über Minderjährige vom 12.6.1902, RGBl. 1904, 240. 247 Abkommen über die Entmündigung und gleichartige Fürsorgemaßregeln vom 17.7.1905, RGBl. 1912, 463. 248 Vgl. die sehr zutreffende Deutung d¶Avouts, Mélanges en l¶honneur Audit, 2014, 17 Ä/a loi locale, applicable en cas d¶urgence et parce que mieux placée, prenant le relais de la loi étrangère inactive afin d¶DVVXUHUVDVXSSOpDQFH³ 249 Das Entmündigungsübereinkommen ist vergleichbar strukturiert (Art. 6, 11). Das Prinzip der Letztzuständigkeit der Heimatbehörden findet sich in abgeschwächter Form auch in Art. 4 Abs. 1 des MSA von 1961, der Nachfolgekonvention des Vormundschaftsübereinkommens wieder; dazu Kropholler, Das Haager Minderjährigenschutzabkommen ± ein neuer Ansatz im deutschen IPR, NJW 1971, 172; ders., Das Haager Abkommen über den Schutz Minderjähriger, 2. Auflage 1977. Das Haager Kinderschutzübereinkommen (KSÜ) bemüht sich als Folgekonvention um die Beseitigung der letzten Überreste dieses hoheitlichen Rechtsdenkens. Hier kann das Sorgerechtsverfahren nach Art. 8 auf Initiative der primär zuständigen Gerichte am gewöhnlichen Aufenthaltsort an ein für sachnäher erachtetes Gericht verwiesen werden. Die Heimatbehörden und -gerichte haben also erstmals kein originäres Initiativrecht mehr. Ausfühlicher dazu Benicke, Haager Kinderschutzübereinkommen, IPRax 2013, 44; Pirrung, Das Haager Kinderschutzübereinkommen vom 19. Oktober 1996, FS Rolland, 1999, 277.
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§ 4 Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts
nes sachnahen und rasch handlungsfähigen Gerichts erfordert. 250 Diese besondere Interessenlage legt die Vermutung nahe, dass der Begriff sowohl von Erwägungen des Individualschutzes als auch vom Interesse an der Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt beeinflusst wird. Im letztgenannten Sinne bestimmt der gewöhnliche Aufenthalt nicht positiv und mit der gebotenen verweisungsrechtlichen Neutralität den Sitz eines Rechtsverhältnisses, sondern legitimiert negativ entweder das Eingreifen eines bestimmten Schutzregimes oder die Durchbrechung eines Verweisungsergebnisses zugunsten des ordre public.251 So erklärt sich auch, dass der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts sowohl in der Bundesrepublik 252 als auch im Recht der Europäischen Union 253 zunächst im Steuer- und Sozialrecht geläufig war, als kollisionsrechtlicher Anknüpfungspunkt aber lange keine Rolle spielte. Auch innerhalb verweisungsrechtlicher Regime dient er nach wie vor als Legitimationsbasis für ein Eingreifen des ordre public-Vorbehalts, beispielsweise in Art. 13 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB.254 II. Verdrängung des Staatsangehörigkeitsprinzips 1. Hintergründe Der Erfolg der Aufenthaltsanknüpfung in internationalen Konventionen dürfte dem Umstand geschuldet sein, dass das Staatsangehörigkeitsprinzip infolge des Ersten, insbesondere aber des Zweiten Weltkriegs zunehmend seine Verlässlichkeit einbüßt. 255 Durch den kriegsbedingt starken Anstieg internationaler Flüchtlingsströme steigt einerseits die Zahl der Staatenlosen an. Andererseits wird bereits nach dem Ersten Weltkrieg eine zunehmende Diversifikation der nationalen Staatsangehörigkeitsrechte erkennbar. 256 Dementsprechend häufen sich Fälle, in denen die Staatsangehörigkeitsanknüpfung entweder ins Leere führt, oder mehrdeutige und für das Kollisionsrecht unbrauchbare Ergebnisse generiert. Die so entstandene verweisungsrechtliche Lücke gilt es zu füllen. Während sich die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ratifizierten Übereinkommen über die Rechtsstellung von Flüchtlingen257 und Staatenlosen258 noch mit einer Wohnsitzanknüpfung behelfen, 259 250 So auch Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 4 f.; prägnant d¶Avout, Mélanges en l¶honneur Audit, 2014, 18 (25). 251 So auch d¶Avout, Mélanges en O¶KRQQHXU $XGLW Ä/a résidence habituelle a émergé par cristallation de cas divers de l¶ordre public ORFDO³ 252 S.u. § 8 B. I. 2. Überblick über den steuer- und sozialrechtlichen Aufenthaltsbegriff bei Mann, JZ 1956, 466 sowie bei Maack, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1954, 22. 253 S.u. § 6 B. I.; § 7 F. 254 Dazu Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 99 f. 255 De Winter RdC 128 (1969-III) 349 (382 f.). 256 Dölle, RabelsZ 17 (1952), 161. 257 BGBl. 1953 II, 560.
C. Zusammenfassung und Bewertung
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gehen die familienrechtlichen Haager Übereinkommen in der Nachkriegszeit rasch endgültig zur Aufenthaltsanknüpfung über. Der Aufstieg des gewöhnlichen Aufenthalts nach dem Zweiten Weltkrieg führt sogar zu ex postKorrekturen früherer Staatsverträge: Die Wohnsitzanknüpfungen der Flüchtlings- und Staatenlosenabkommen werden mittlerweile als Aufenthaltsanknüpfungen verstanden. 260 Im Haager Unterhaltsübereinkommen von 1956261 bewährt sich der gewöhnliche Aufenthalt erstmalig als primäre Anknüpfung. 262 Seitdem dominiert er das konventionelle Familien- und Erbrecht sowohl als kollisionsrechtlicher Anknüpfungspunkt als auch als Zuständigkeitsmoment. 2. Aufenthaltsanknüpfung im Personalstatut Kritiker des Aufenthaltsprinzips können sich durch die Entwicklung der staatsvertraglichen Praxis in der Nachkriegszeit freilich bestätigt fühlen. Zunächst lässt sie erkennen, dass die Aufwertung des gewöhnlichen Aufenthalts im Haager Konventionsrecht nicht etwa einer bewussten Entscheidung der Mitgliedstaaten folgt, sondern im Gegenteil auf einer rechtskulturellen Verlegenheitsentscheidung beruht. 263 Die endgültige Abstandnahme von tradierten Anknüpfungspunkten geht auf das Scheitern der 1955 verabschiedeten Haager Renvoi-Konvention zurück, 264 die bei den Mitgliedstaaten nicht zuletzt wegen der die angloamerikanische Rechtspraxis verfehlenden 265 Wohnsitzde-
258
New Yorker UN-Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen vom 28.9.1954, BGBl. 1976 II, 474. 259 So Art. 12 Nr. 1 des Genfer UN-Übereinkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.7.1951, BGBl. 1953 II, 560. (amtlliche hEHUVHW]XQJ Ä'DV 3HUVRQDlstatut jedes Fluȋchtlings bestimmt sich nach dem Recht des Landes seines Wohnsitzes oder, in (UPDQJHOXQJ HLQHV :RKQVLW]HV QDFK GHP 5HFKW VHLQHV $XIHQWKDOWVODQGHV´ +HUY d. Verf.). Gleichlautend s. Art. 12 New Yorker Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen. 260 Kropholler, IPR, § 37 II 2; Kegel/Schurig, IPR, § 13 III 2, 469; von Bar/Mankowski, IPR I, § 7 Rn. 16, Fn. 34; Palandt/Thorn Anhang Art. 5 EGBGB Rn. 27; von Hoffmann/Thorn, Internationales Privatrecht, 9. Auflage 2007, § 5 Rn. 27; Staudinger/Blumenwitz Art. 5 EGBGB Rn. 65; MüKoBGB/Sonnenberger, 5. Auflage 2010, Einl. IPR Rn. 718. Nachw. bei Rentsch, ZEuP 2015, 288 (300, Fn. 85). 261 Haager Übereinkommen über das auf Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kindern anzuwendende Recht vom 24.10.1956 (BGBl. 1961 II, 1013), Art. 1 Abs. 1. 262 S.o. B. III. 4. b) cc). 263 Dazu Rauscher, FS Jayme, Band I, 2004, 719 (727, 733 ff.). 264 Convention Relating to the Settlement of Conflicts between the Law of Nationality and the Law of domicile vom 15.6.1955. 265 S.o. B. III. 4 sowie d¶Avout, Mélanges en l¶honneur Audit, 2014, 17 (21, Fn. 11.).
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§ 4 Entwicklung des gewöhnlichen Aufenthalts
finition in deren Art. 5 auf wenig Akzeptanz gestoßen war. 266 Hinzu kommt, dass sich der Erfolg des gewöhnlichen Aufenthalts auch in der Nachkriegszeit auf verweisungsrechtliche Randfragen konzentriert. Der Schwerpunkt der Konventionen liegt allerdings auf der internationalen Zuständigkeit.267 Skeptiker können insbesondere das gescheiterte Haager Erbrechtsübereinkommen von 1989 für sich verwenden. 268 In Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens bestimmte sich das auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbare Recht durch eine Kombination von gewöhnlichem Aufenthalt und Staatsangehörigkeit. Ein Wechsel zur (ausschließlichen) Aufenthaltsanknüpfung wurde erst nach fünfjähriger Anwesenheit vor Eintritt des Erbfalls zugelassen. 269 Gegenüber der EuErbVO, deren Art. 21 Abs. 1 die Rechtsnachfolge von Todes wegen ausschließlich nach dem letzten gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers bestimmt, verspricht diese Regelung erheblich mehr Stetigkeit. Dass das Inkrafttreten dieser moderaten Regelung trotzdem an den Bedenken der Staatengemeinschaft, insbesondere der Bundesrepublik gegenüber einer Verflüchtigung des Erbstatuts scheiterte, lässt Zweifel an der Zukunftsfähigkeit des Aufenthaltsprinzips als Eckpfeiler eines Europäischen Personalstatuts eher entstehen als dass sie ausgeräumt würden.
D. Thesen D. Thesen
1. Die Geschichte der persönlichen Anknüpfung lässt sich bis in die römischrechtliche Trennung zwischen origo und domicilium zurückverfolgen. a) Kontraintuitiv zur überkommenen Kontrastierung von Staatsangehörigkeitsanknüpfung und Aufenthaltsprinzip entsteht das internationalprivatrechtliche Staatsangehörigkeitsprinzip historisch unmittelbar aus dem kollisionsrechtlichen Wohnsitzprinzip, das wiederum funktional das Vorbild des gewöhnlichen Aufenthalts darstellt. Staatsangehörigkeitsprinzip und Domizilprinzip stehen also historisch nicht im Konflikt miteinander, sondern in einem Kontinuitätsverhältnis zueinander.
266 Die Renvoi-Konvention hat bis heute fünf Mitgliedstaaten und ist daher mangels ausreichender Ratifikationsdichte nicht in Kraft getreten. Kritik auch bei Mann, JZ 1956, 466 (469). 267 von Bar/Mankowski, IPR I, § 3, 155. 268 Das Übereinkommen ist mangels ausreichender Ratifikationsdichte bislang nicht in Kraft getreten. 269 Ä(2) Succession is also governed by the law of the State in which the deceased at the time of his death was habitually resident if he had been resident there for a period of no less than five years immediately preceding his death. However, in exceptional circumstances, if at the time of his death he was manifestly more closely connected with the State of which he was then a national, WKHODZRIWKDW6WDWHDSSOLHV³
D. Thesen
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b) Der internationalprivatrechtliche gewöhnliche Aufenthalt etabliert sich im 20. Jahrhundert als Brückenkonzept zu Staatsangehörigkeit und Wohnsitz. Der gewöhnliche Aufenthalt tritt die Nachfolge beider Begriffe an, wobei er konzeptionell die Abkehr von statusrechtlichen Anknüpfungsmomenten und die Rückkehr zum Wohnsitzprinzip einleitet. 2. Die Erfolgsgeschichte des gewöhnlichen Aufenthaltes im Haager Staatsvertragsrecht ist eng verbunden mit einem Praktikabilitäts- und Bedeutungsverlust der Staatsangehörigkeitsanknüpfung. Im Nachgang an die Weltkriege büßt sie ihre Verlässlichkeit und Eindeutigkeit ein. 3. Rechtstechnisch hat sich die Aufenthaltsanknüpfung als gangbarer Mittelweg zwischen Staatsangehörigkeits- und Domizilprinzip bewährt. Grundsätzlich kann man den gewöhnlichen Aufenthalt zwar dem Domizilprinzip zuordnen; funktional entwickelt er sich aber zu einem Hybridkonzept, das die Konsensfindung im Rahmen der internationalen Kollisionsrechtsharmonisierung erleichtert. 4. Rechtspraktisch verspricht der gewöhnliche Aufenthalt einerseits eine flexiblere Handhabung als die Staatsangehörigkeitsanknüpfung; andererseits umgeht er die Anwendungsprobleme einer Wohnsitzanknüpfung. 5. Historisch wurde die Aufenthaltsanknüpfung insbesondere eingesetzt, um das besondere Fürsorge- und Schutzbedürfnis vermögensschwacher Haushalte sowie Minderjähriger, Geschäftsunfähiger und volljähriger Unterhaltsgläubiger einzufangen. Sie garantiert im Prozess eine einfache und rasche Verfahrensabwicklung und sichert die Nähe des zuständigen forum zu den Interessen des Rechtsschutzsuchenden. 6. In der rechtspolitischen Diskussion um die staatsvertragliche Regelung i nternationaler Kindesentführungen tritt dieses Schutzinteresse besonders deutlich zutage: Der gewöhnliche Aufenthalt ist dort ÄSitz des Prozesses³ und wird außerdem als Vehikel verwendet, um einen Interessenausgleich zwischen den Sorgeberechtigten und dem Kindeswohl sicherzustellen. In diesem funktionalen Zusammenhang hat sich der gewöhnliche Aufenthalt erkennbar konzeptionell verselbstständigt.
§ 5 Struktur und inhaltliche Grundlinien § 5 Struktur und inhaltliche Grundlinien
Der erste Teil der Arbeit hat darauf hingewiesen, dass der gewöhnliche Aufenthalt im deutschen und staatsvertraglichen kollisionsrechtlichen Schrifttum als Ätatsächlicher Lebensmittelpunkt³ 1 oder Äfaktischer Wohnsitz³ 2 umschrieben wird. Wesentlich weiter geht die Umschreibung als ÄTatsachenbegriff³, die sich im Anschluss an die Verabschiedung des Haager Unterhaltsübereinkommens von 1956 durchgesetzt hat. 3 Es wurde bereits angedeutet, dass diese Bezeichnung sich sich für die Zwecke der vorliegenden Abhandlung als problematisch erweisen dürfte. Die Arbeit hat daher nach möglichen Erklärungen für die Kategorisierung des gewöhnlichen Aufenthalts als Tatsachenbegriff gesucht. Sie hat dabei herausgefunden, dass die Gründe für die Zuordnung in der Entwicklungsgeschichte des gewöhnlichen Aufenthalts zu finden sein dürften. Die nun erfolgte historische Rekonstruktion des Begriffs erlaubt es, die Hypothese zu überprüfen und zu belegen. Auch mögliche strukturelle und inhaltliche Implikationen der Einordnung des gewöhnlichen Aufenthalts als Tatsachenbegriff sollen im Folgenden diskutiert werden.4
A. Tatsachen- oder Rechtsbegriff A. Der gewöhnliche Aufenthalt als Tatsachen- oder Rechtsbegriff
I. Tatsachenbegriff als Schutzprinzip Die Bezeichnung als Tatsachenbegriff fällt im Zusammenhang mit dem gewöhnlichen Aufenthalt zum ersten Mal im Rahmen der sechsten Haager Kon1
So statt vieler NK/Doehner Art. 19 Rom I-VO Rn. 10. So statt vieler Staudinger/Spellenberg Art. 3 Brüssel IIa-VO Rn. 53. 3 S.o. § 4 B. III. 4. b) dd), sowie § 3 A. III. 1. 4 Entsprechend dem Ziel, einen autonomen europäischen Aufenthaltsbegriff zu entwickeln, verzichtet der folgende Abschnitt bewusst auf einen ausführlichen Länderbericht. Insoweit sei verwiesen auf Raape/Sturm, IPR, Band 1, 6. Auflage 1977, 115 ff.; Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 37±72; ders., Auf dem Weg zu einem europäischen Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts, FS Kropholler, 2008, 77. Insbesondere im Hinblick auf die monographisch vorgenommenen Länderberichte lässt sich keine signifikante Veränderung der Spruchpraxis und Lehrmeinung feststellen, die nicht am Unionsrecht ansetzen würde. Ebenso wie hier verfährt Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 106 ff. 2
A. Der gewöhnliche Aufenthalt als Tatsachen- oder Rechtsbegriff
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ferenz im Jahr 1928.5 Wohnsitz und gewöhnlicher Aufenthalt sollen sich nach Ansicht der Delegierten dadurch unterscheiden, dass der erste Begriff einen rechtlichen Status, der zweite einen faktischen Zustand zusammenfasst. 6 Die Verhandlungen zum Haager Unterhaltsübereinkommen von 19567 wie auch die zum MSA von 19618 scheinen von ähnlichen Motiven getragen, wenn sie betonen, dass es sich beim gewöhnlichen Aufenthalt um einen Tatsachenbegriff handeln soll. Die Einordnung dient auch hier erkennbar als rhetorisches Mittel, um die strukturellen Unterschiede zwischen dem gewöhnlichen Aufenthalt und der Wohnsitzanknüpfung angemessen hervorzuheben. 9 Sie deutet aber auch auf einen praktischen Unterschied hin: Jedenfalls bei Minderjährigen wird bei einer Wohnsitzanknüpfung zwingend ein Rückgriff auf das nationale Sachrecht erforderlich. Der in Art. 5 Renvoi-Konvention unternommene Versuch einer autonomen Wohnsitzdefinition hat daran nichts geändert. Auch dort wird der Wohnsitz Minderjähriger nicht selbstständig, sondern akzessorisch zur gesetzlichen Vertretung bestimmt. Der gewöhnliche Aufenthalt soll dagegen ausschließlich die räumliche Nähe des Kindes zur einen oder anderen Jurisdiktion ausweisen. So soll sichergestellt werden, dass der Unterhaltsanspruch eines Minderjährigen durch das Recht der tatsächlichen Lebensumwelt bestimmt wird. Die Dokumentationen der Verhandlungen zum Haager Vormundschafts- und Entmündigungsübereinkommen bestätigen diese gesetzgeberische Intention. Auch hier wird die Tatsachenakzessorietät des gewöhnlichen Aufenthalts direkt mit dessen Einordnung als Schutzanknüpfung in Verbindung gebracht. 10 Dass zwischen der Kennzeichnung des gewöhnlichen Aufenthalts als Tatsachenbegriff und der Sicherungsfunktion, die der Begriff im Rahmen des Kindesunterhalts, der Vormundschaft und der Entmündigung erfüllt, ein Konnex bestehen soll, erscheint plausibel. Erstens steigt die Wahrscheinlichkeit einzelfallgerechter Ergebnisse, wenn das anwendbare Recht ausschließlich durch das tatsächliche Lebensumfeld einer Person und nicht durch ihre familienrechtlichen Statusbeziehungen bestimmt wird. Zweitens behauptet sich eine unmittelbare Bezugnahme auf das tatsäch5
Actes et Doc. 1928, 141. Ä(QWUH FHWWH QRWLRQ >GH domicile] et celle de résidence habituelle il y a la différence qui sépare une situation juridique d¶XQHVLWXDWLRQGHIDLW³ Standpunkt des belgischen Delegierten Kinon, Besprechung s. auch Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 103. Ebenso Raape/Sturm, IPR, Band 1, 6. Auflage 1977, 118, die den gewöhnlichen Aufenthalt DOVHLQHQÄUHLQGXUFK)DNWHQDXV]XIOOHQGHQ%HJULII³YHUVWDQGHQZLVVHQPöchten. 7 Actes et Doc. 1956-II,127. 8 Actes et Doc. 1961-IV, 225. Weitere Nachweise bei Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 103. 9 Actes et Doc. 1956-II, Ä,O \ D OLHX GH PHQWLRQQHU TXH OH WHUPH UpVLGHQFH KDEituelle représente exclusivement une notion de fait; par conséquent, il n¶a rien à voir ave le domicile légal de l¶HQIDQW³Stellungnahme des niederländischen Delegierten de Winter. 10 S.o. § 3 A. III. 2.; § 4 B. II. 4. b) dd). 6
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§ 5 Struktur und inhaltliche Grundlinien
liche Lebensumfeld einer Person gegenüber einer rechtstechnisch zwar angenehm vertypten, möglicherweise aber zirkulären Anknüpfung an den Wohnsitz. Verbindliche Aussagen zur Struktur und zu den Parametern bei der Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts erlaubt eine Rekonstruktion der Motivationslage aber nicht. Einerseits bleibt offen, ob die Haager Konferenz mit der Einordnung des gewöhnlichen Aufenthalts als Tatsachenbegriff die Möglichkeit von Wertungskorrekturen ausschließen wollte, wenn die räumliche Verbindung alleine das hinter dem gewöhnlichen Aufenthalt verborgene, politische Schutzziel nicht mit ausreichender Sicherheit gewährleisten kann. Andererseits ist unklar, ob die Bestimmung der Nähebeziehung selbst von einem qualitativen oder einem normativen Bewertungsmaßstab getragen ist. Gerade diese Frage ist in der unterhaltsrechtlichen Praxis aber von großer Bedeutung. Zur Veranschaulichung sei auf den fiktiven Fall eines siebenjährigen Kindes verwiesen, das einen Großteil seines bisherigen Lebens in Frankreich verbracht hat, dort aber körperlich und seelisch misshandelt wurde, Wenn das Kind mit einem Elternteil nach Deutschland zieht und dort vor dem örtlich zuständigen Gericht eine Unterhaltsklage gegen den misshandelnden Elternteil anstrengt, hilft die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt an sich zwar über eine akzessorische Verweisung in das Wohnsitzrecht des misshandelnden Elternteils hinweg. Ob die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts darüber hinaus auch eine Wertung über die Aufenthaltsqualität gestattet, und ob daher deutsches anstatt französischen Rechts zur Anwendung kommen kann, zeichnet der beschriebene Schutzzweckkonnex dagegen nicht vor. Hinzu kommt, dass die Einordnung des gewöhnlichen Aufenthalts als Tatsachenbegriff in späteren Sitzungen der Haager Konferenz den Gegenstand kritischer Gegenreden bildete, Anlass gab hier freilich nicht die Forderung nach einer unabhängigen Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts, sondern die darauf aufbauende, ebenfalls erwähnte Schlussfolgerung, der Begriff lasse sich nicht allgemeinverbindlich definieren. 11 Die Fragestellung im Rahmen des vorliegenden Arbeitsabschnitts ist freilich eine andere. Es geht gerade nicht darum, die mangelnde begriffliche Deutlichkeit des gewöhnlichen Aufenthalts zu legitimieren, sondern darum, den Begriff als Kernelement des Europäischen Kollisionsrechts dogmatisch einzuordnen und zu strukturieren. Fraglich ist daher nicht, ob, sondern vielmehr inwieweit es sich beim gewöhnlichen Aufenthalt um ein tatsachenakzessorisches Konzept handelt.
11
S. insbesondere die Gegendarstellung des Abgeordneten Nypels, Actes et Doc. 1960III, 69.
A. Der gewöhnliche Aufenthalt als Tatsachen- oder Rechtsbegriff
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II. Unionsrecht: Vom Tatsachenbegriff zur autonomen Auslegung Die vorstehenden Ausführungen legen die Annahme nahe, dass die Bezeichnung des gewöhnlichen Aufenthalts als Tatsachenbegriff oder notion de fait keine direkten Rechtsfolgen nach sich zieht. Historisch muss man den Verweis auf die Tatsächlichkeit des Begriffs vielmehr als Sicherungsmechanismus verstehen, der eine autonome Auslegung sicherstellt. 12 Das Bedürfnis nach solchen Mechanismen entsteht in allen Fällen dezentralisierter Rechtsdurchsetzung. Es ist besonders groß, wenn die einheitliche Auslegung völkerrechtlicher Konventionen nicht, wie im Fall der Europäischen Union, durch ein zentrales Gericht sichergestellt wird, sondern den nationalen Institutionen überlassen ist. 13 Ein Tatbestandsmerkmal, das sich ausschließlich tatsachenakzessorisch und ohne Wertungsmöglichkeiten bestimmt, sichert mit anderen Worten die Immunität völkerrechtlicher Begriffsgebilde vor einer Vereinnahmung durch die Mitgliedstaaten. Die Institutionalisierung der Auslegung von Primär- und Sekundärrecht durch den Gerichtshof der Europäischen Union 14 relativiert den Bedarf nach der Schaffung solcher Ätatsachenakzessorischer³ Rechtsbegriffe. 15 Die autonome Begriffsbestimmung erfährt hier einen Bedeutungswandel. Art. 267 AEUV räumt dem Gerichtshof die Befugnis ein, die Auslegung aller Rechtssätze des Unionsrechts zu überprüfen und einheitlichen Standards zu unterwerfen.16 Tatsachenbegriffe erfüllen vor diesem Hintergrund zwei Funktionen: Erstens sorgen sie für eine klare Trennung zwischen der unionsrechtlichen und der nationalen Regelungsebene. Dass der gewöhnliche Aufenthalt autonom bestimmt wird, stellt seine Unabhängigkeit von Vorfragen sicher, die nach dem Recht der Mitgliedstaaten gelöst werden und die einheitliche Anwendung des Begriffs daher gefährden. 17 Eben dieser Mangel schmälert so-
12
S. bereits Rentsch, ZEuP 2015, 288 (307). Allgemein Gruber, Methoden des Internationalen Einheitsrechts, 2004, 85 ff., der in 114 ff. einheitsrechtliche Auslegungskriterien entwickelt. 14 Grundlegend bereits Basse, Das Verhältnis zwischen der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften und der deutschen Zivilgerichtsbarkeit, 1967, 57 ff. 15 Zu den fortdauernden Problemen aber Magnus, Konventionsübergreifende Interpretation, in: Basedow/Drobnig et al. (Hrsg.), Aufbruch nach Europa: 75 Jahre Max PlanckInstitut, 2001, 571 (571, 577). 16 Streinz/Ehricke Art. 267 AEUV Rn. 17. Ausgenommen sind lediglich Fragen des nationalen Rechts, EuGH, 19.13.1964 ± C-75/63 ± Unger/Bedrijfsveriniging ± Slg. 1964, 347; EuGH, 12.5.2011 ± C-115/09, Rn. 2 ± Trianel. 17 So lautet auch die erkennbare Motivation in EuGH ± C-523/07 ± A ./. Perusturvalautakunta ± Rn. 34 f., m.Verw. auf EuGH, 18.1.1984 ± C-327/82, Rn. 11 ± Ekro ± Slg. 1984, 107; EuGH, 6.3.2008 ± C̻98/07, Rn. 17 ± Nordania Finans und BG Factoring ± Slg. 13
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wohl die Attraktivität des Staatsangehörigkeitsprinzips als auch die des Wohnsitzes. Die Pflicht zur autonomen Auslegung des gewöhnlichen Aufenthalts liefert außerdem ein entscheidendes Argument gegen die Berücksichtigung behördlicher Tatbestände wie einer Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts für Drittstaatenangehörige. Dasselbe gilt für die Diskussion um die Relevanz einer polizeilichen Wohnsitzmeldung bei Unionsbürgern. Zweitens sichert und erweitert die Kennzeichnung eines Rechtsbegriffs als autonomes Konzept die Jurisdiktion des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren. Wo ein Rechtsbegriff autonom-unionsrechtlich ausgelegt wird, besteht in den Grenzen der acte clair-Doktrin eine Vorlagepflicht nationaler Höchstgerichte. 18 Ein streng tatsachenakzessorisches Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts erscheint demgegenüber in mehrerlei Hinsicht defizitär. Es erzeugt erstens Unsicherheiten im abstrakten Begriffsverständnis und relativiert zweitens die Vorhersehbarkeit der Rechtsanwendung und die Transparenz der Ergebnisfindung. Im letzten Fall ist nämlich nicht sichergestellt, dass der erkennende Richter über ausreichend Tatsachenmaterial verfügt, um die für die Aufenthaltsfeststellung notwendige Gesamtauswertung vorzunehmen. In diesem Fall muss er sich auf eine unter Umständen vom Parteihorizont abweichende Bewertung der anknüpfungsrelevanten Faktoren im Einzelfall verlegen. Auch die einheitliche Auslegung von Unionsrecht wird durch eine ausschließliche Tatsachenakzessorietät des gewöhnlichen Aufenthalts im Zweifelsfall mehr gefährdet als sichergestellt. 19 Schon alleine dieser praktischen Überlegungen wegen sollte man vorhandene Hinweise auf die Tatsachenakzessorietät des gewöhnlichen Aufenthalts im Lichte ihrer historischen B edeutung lesen. Ihr kommt unter dieser Bedingung nur Bedeutung zu, wenn andere Regelungsleitbilder des Europäischen Unionsrechts im Umgang mit dem gewöhnlichen Aufenthalt voll verwirklicht sind. 20 Für die gerade formulierte Annahme spricht auch eine weitere Beobachtung: Sollte sich die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht tatsächlich in einer schlichten Auswertung sachverhaltsrelevanter Tatsachen erschöpfen, lässt sich nur schwer erklären, warum der EuGH den mitgliedstaatlichen Vorabentscheidungsgesuchen in den an späterer Stelle zu besprechenden Rechtssachen A und Mercredi nachgekommen ist. 21 Sollte der 2008, I̻1281. Allgemeine konzeptionelle Überlegungen auch bei Gruber, Methoden des Internationalen Einheitsrechts, 2004, 114 ff. 18 Grundlegend EuGH, 6.10.1982 ± C-283/81, Rn. 5, 13 ff. ± C.I.L.F.I.T. ± Slg. 1982, 3415. 19 Deutlich Staudinger/Spellenberg Art. 3 EuEheVO Rn. 55 m.w.N. 20 So lautet auch der einhellige Befund in der Literatur, vgl. nur Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 105. 21 S.u. § 6 B. II. 1.±2.
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gewöhnliche Aufenthalt ausschließlich die Tatsachenauswertung betreffen, hätte in keinem der beiden Fälle eine Auslegungsfrage bestanden, die der Gerichtshof im Vorabentscheidungsverfahren hätte beantworten dürfen. Im Gegenteil hätte er beide Gesuche unter Hinweis auf den Grundsatz in claris non fit interpretatio zurückweisen müssen. Diese Regel liegt der acte clairDoktrin zugrunde, die ihrerseits mittlerweile die Funktion eines Kompetenzabgrenzungsmechanismus¶ zwischen EuGH und Mitgliedstaaten erfüllt. 22 Auf der Grundlage dieser Überlegungen erweist sich die Bezeichnung des gewöhnlichen Aufenthalts als Tatsachenbegriff im aktuellen Unionskollisionsrecht als überholt. Erstens ist die Rechtsanwendung institutionalisiert und zentralisiert, sodass eine strikte Orientierung an den Tatsachen des Einzelfalls nicht mehr das einzige Mittel darstellt, um eine homogene Auslegung unionsrechtlicher Begriffe sicherzustellen. Infolgedessen entfällt, zweitens, der Bedarf, die homogene Auslegung des Begriffs durch entsprechende Mechanismen im materiellen Recht abzusichern. Im Gegenteil nimmt die Notwendigkeit einer autonomen Auslegung, wie sie auch im Hinblick auf den gewöhnlichen Aufenthalt formuliert wurde, nationale Gerichte nicht nur als funktionale Unionsgerichte in die Pflicht, sondern beinhaltet auch eine institutionelle Komponente, da sie die Letztentscheidung des EuGH über die Auslegung und Anwendung des gewöhnlichen Aufenthalts legitimiert. Diese Rechtsauslegungsgewalt ist an die autonom-unionsrechtliche Eigenschaft eines unionssekundärrechtlichen Rechtsbegriffs gekoppelt. Zwar erzeugt der Einsatz eines Begriffs in einem Sekundärrechtsakt für sich genommen eine Vermutung für dessen autonome Auslegung. Diese Vermutung wird aber widerlegt, wenn der Verordnungstext anstatt einer Begriffsdefinition eine Kollisionsnorm enthält, die die Begriffskonkretisierung einer von mehreren möglichen nationalen Rechtsordnungen überantwortet. 23 Diese Feststellung scheint die Frage nach der Aktualität des gewöhnlichen Aufenthalts als ÄTatsachenbegriff³ bereits zu beantworten. Das Bedürfnis nach Klarheit über die Begriffsstruktur des gewöhnlichen Aufenthalts kann sie für sich genommen aber nicht stillen. Insbesondere ist offen, ob mit der Bezeichnung als Tatsachenbegriff konkrete inhaltliche Konsequenzen verbunden sind. Dieser Frage geht der folgende Arbeitsschritt nach.
22
Zu beidem Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2014, 363. So verfährt der Gesetzgeber in Art. 62 Brüssel Ia-VO, dazu Saenger/Dörner Art. 62 EuGVVO Rn. 3. 23
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III. Rechtsfolgen: Tatsachenbegriff, Autonome Auslegung und normative Tatbestandselemente 1. Literatur: Tatsachenbegriff als tatbestandliche Offenheit Eine unbefangene Deutung legt die Vermutung nahe, dass Literatur und Rechtsprechung mit der Umschreibung des gewöhnlichen Aufenthalts als Tatsachenbegriff keine unmittelbaren Rechtsfolgen verbinden, sondern lediglich die tatbestandliche Offenheit des gewöhnlichen Aufenthalts betonen wollen und wollten. 24 Der mittlerweile überwiegende Teil der Rechtsprechung und Literatur in Deutschland scheint nämlich von der Überlegung Abstand genommen zu haben, dass es sich beim gewöhnlichen Aufenthalt um einen ausschließlich deskriptiven Begriff handelt. 25 Nicht ganz eindeutig lässt sich allerdings die häufige Aussage zuordnen, der gewöhnliche Aufenthalt bedürfe als Äunbestimmter Rechtsbegriff³ der Konkretisierung, 26 sofern dabei nicht zwischen einem deskriptiven (Aufenthalt) und einem normativen (gewöhnlich) Bestandteil differenziert wird. Erwähnenswert ist auch, dass die Verschiebung in der strukturellen Zuordnung der Aufenthaltsanknüpfung keine Veränderung der inhaltlichen Umschreibung bewirkt hat. Im Gegenteil wird der B egriff nach wie vor als faktischer Wohnsitz oder tatsächlicher Lebensmittelpunkt zusammengefasst, 27 der sich gerade nicht in Ansehung bereits bestehender präjudizieller Rechtsverhältnisse bestimmen, sondern das fallrelevante Tatsachenmaterial in sich aufnehmen soll. Dass dieses Material je nach streitgegenständlichem Sachverhalt unterschiedlich beschaffen sein kann, scheint selbstverständlich. Diese Feststellung alleine löst nicht die Frage nach dem Verhältnis von Begriffsnatur, Begriffsinhalt und Konkretisierungsmodus, der die Arbeit auf den Grund gehen möchte. Baetge vertritt im Hinblick auf das autonome IPR die Auffassung, dass der Einsatz des gewöhnlichen Aufenthalts in Rechtsnormen ihn bereits in den Status eines Rechtsbegriffs erhebt. 28 Damit kann der Autor nicht nur an entsprechende Überlegungen in der Haager Konferenz, sondern auch an die allgemein-zivilrechtliche Methodenlehre anknüpfen. 29 24
Indirekt auch Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 103 f. A.A. Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, 79. 26 Kropholler, IPR, § 39 II 1 a); ebenso Schack, IZVR, 6. Auflage 2014, Rn. 245; Spickhoff, Grenzpendler DOV *UHQ]IlOOH =XP ÄJHZ|KQOLFKHQ $XIHQWKDOW³ LP ,35 ,35D[ 1995, 185 (187 f.). 27 Insoweit zutreffend Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, 79, mit rechtsvergleichenden Nachweisen in Fn. 318±320. 28 Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 105; Mößlang, Der Wohnsitz als Anknüpfungsbegriff im Kollisionsrecht der Vereinigten Staaten von Nordamerika, Englands, Frankreichs und Deutschlands, 1964, 75. 29 Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 104, Fn. 25. 25
A. Der gewöhnliche Aufenthalt als Tatsachen- oder Rechtsbegriff
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Der Aussagegehalt beider Referenzen für die hinter der Zuordnung zu Tatsachenauswertung oder Rechtsanwendung verborgene Sachfrage ist aber gering. Weder der Rückschluss von der Gebräuchlichkeit in Rechtstexten auf die Begriffsnatur noch die Überlegung, dass der gewöhnliche Aufenthalt ein Rechtsbegriff sein muss, um Tatbestandsmerkmale aufzuweisen, gibt Aufschluss darüber, wie er rechtspraktisch zu handhaben ist. 30 2. Rahmencharakter von Anknüpfungsmomenten Eine Erklärung für die Verbindung zwischen ÄTatsachenbegriff³ und begrifflicher Vagheit liefert erst die Überlegung, dass sich Kollisionsnormen von sachrechtlichen Vorschriften durch einige grundsätzliche Unterschiede abheben. Im Gegensatz zu Tatbestandsmerkmalen einer sachrechtlichen Vorschrift geben Kollisionsnormen einen Entscheidungsrahmen vor, treffen für sich genommen aber keine Rechtsfolgenanordnung. 31 Die Bestandteile verweisungsrechtlicher Kollisionsnormen weisen alleine ihrer Funktion und Natur wegen also einen höheren Abstraktionsgrad auf als Begriffe des Sachrechts. Für die Anknüpfungsgegenstände des IPR entspricht diese Auffassung jedenfalls in Deutschland der herrschenden Lehre: 32 Sie stellen Bündelungen, 33 also Maximalabstraktionen des zugrundeliegenden Sachrechts dar. Offen ist, ob sich diese Überlegung sich auch für die Anknüpfungspunkte fruchtbar machen lässt. Anknüpfungspunkte konkretisieren gerade nicht den sachlichen Anwendungsbereich einer Kollisionsnorm mit Hilfe einer Maximalabstraktion, sondern weisen diejenigen Rechtsverhältnisse, die in diesen Anwendungsbereich fallen, verbindlich einer Rechtsordnung zu. Besonders einfach gelingt die Zuordnung bei der Anknüpfung an die lex rei sitae. Die Feststellung des Belegenheitsorts einer Sache erfordert weder eine über die schlichte Sachverhaltsermittlung hinausgehende, eigenständige Wertungsentscheidung, noch lässt sie Komplikationen im Subsumtionsvorgang erwarten. Auch bei der Anknüpfung an den Ort der Rechtsgutverletzung, Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO, kann die Konkretisierung des Tatbestandsmerkmals zu Problemen führen, 34 während die Subsumtion schon allein der Abwesenheit richterlicher Beurteilungsspielräume wegen regelmäßig komplikationslos gelingen dürfte. 30
Eben solch einen praktischen Auslegungsrahmen entwickelt freilich auch Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 107 ff., nur ohne Rückanbindung an die Struktur als Tatsachen- oder Rechtsbegriff. 31 Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, 100. 32 Grundlegend Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, 102, allerdings mit einer anderen Ausgangsfrage. 33 Ibid., 102±104. 34 Zusammenfassend MüKoBGB/Junker Art. 4 Rom II-VO Rn. 20, 25 ff.; Wagner, Die neue Rom-II-Verordnung, IPRax 2008, 1 (5).
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§ 5 Struktur und inhaltliche Grundlinien
Der Rahmencharakter 35 von Anknüpfungsmomenten wird durch diese Beispiele nicht abschließend widerlegt, zumal die persönlichen Anknüpfungspunkte, also Staatsangehörigkeit, Wohnsitz und gewöhnlicher Aufenthalt, noch nicht zur Sprache gekommen sind. Die Tatbestandskonkretisierung kann hier auf zwei Stufen, nämlich im Rahmen des Ob, also der Frage nach dem Vorliegen, und der nach dem Wie, also der Lokalisierung eines Anknüpfungsmoments, Probleme bereiten. 36 Die Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts liefert ein besonders deutliches Beispiel für dieses allgegenwärtige Phänomen. Sowohl die Frage, ob eine Person einen gewöhnlichen Aufenthalt hat, als auch die, wo dieser sich befindet, erfordert eine umfassende Sachverhaltsauswertung, kann darüber hinaus aber auch eigenständige Wertungen des erkennenden Spruchkörpers erforderlich machen. Bei der Konkretisierung anderer persönlicher Anknüpfungsmomente, namentlich der Staatsangehörigkeit und des Wohnsitzes, wird solch eine Wertung nicht erforderlich. Auch diese Anknüpfungsmomente enthalten nur ein Zuweisungsgerüst, weisen durch tatbestandsinterne Kollisionsregeln die eigentliche Sachentscheidung aber einer anderen Rechtsordnung zu. Diese trifft dann jedenfalls im Fall der Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit eine zwar selbstständig vorzunehmende, aber ermessensunabhängige Regelung über die Tatbestandsvoraussetzungen einer Kollisionsnorm. Wenn auch infolge der Anwendung der nationalen lex causae Zweifel fortbestehen, schaffen die Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 2, S. 2 EGBGB,37 aber auch allgemeine Grundsätze des Völkerrechts, Abhilfe. 38 Nicht anders verhält es sich mit der Anknüpfung an den Wohnsitz. Dort bestimmt sich sowohl das Ob als auch das Wie der Tatbestandskonkretisierung entweder in Ansehung des Sachrechts der lex fori (Art. 63 EuGVVO) oder der lex causae. Der gewöhnliche Aufenthalt bereitet vor diesem Hintergrund schon alleine deswegen Probleme, weil er sich historisch als gewollt autonomer Gegenentwurf zu dieser internen Verweisungstechnik entwickelt hat. Daher bildet er einerseits im Hinblick auf den Konkretisierungsvorgang einen Kontrast zu Staatsangehörigkeit und Wohnsitz, erzeugt andererseits aber auch bislang unbekannte methodische Probleme. Die Abkehr von der Vorfragentechnik geht nämlich mit der Folgefrage einher, welche Parameter im Rahmen der Lokalisierung eines Sachverhalts für die internationalprivatrechtliche Normkonkr etisierung gelten. Unbekannt sind diese Probleme nicht zuletzt deswegen, weil die Kollisionsrechtswissenschaft bislang kaum die Notwendigkeit sah, Mechanismen der Normkonkretisierung für unbestimmte Anknüpfungsmomente
35
Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, 100. Grundzüge bei Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 84. 37 Ibid., Rn. 91 ff. 38 Ibid., Rn. 157 ff. 36
A. Der gewöhnliche Aufenthalt als Tatsachen- oder Rechtsbegriff
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zu entwickeln. 39 Die Besonderheiten des ÄRahmencharakters³ von Kollisionsnormen wie auch mögliche Erklärungsmuster wurden mehrheitlich im Hinblick auf die Anknüpfungsgegenstände, nicht aber in Ansehung der Anknüpfungsmomente diskutiert. Die dort entwickelten Grundsätze helfen bei der methodischen Erfassung des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht nur bedingt weiter. Hier geht es weniger um den abstrakten ÄRechtssinn³ eines kollisionsrechtlichen Systembegriffs, der sich in Ansehung der nationalen Kategorien des Zivilrechts ermitteln lässt, sondern es steht eine Frage im Raum, die sich im nationalen Sachrecht nicht stellt, nämlich die nach der räumlichen Zuweisung einer Person zu einer Rechtsordnung. Im Hinblick auf den gewöhnlichen Aufenthalt ist bislang offen, welche Elemente über diese Zuweisung bestimmen sollten und in welchem Verhältnis diese Elemente zueinander stehen. Als Tatsachenbegriff verstanden verharrt der gewöhnliche Aufenthalt in dem gerade beschriebenen ÄUrzustand³. Seine Konkretisierung ist nur in Ansehung des Einzelfalls möglich; ein abstrakter Wortsinn lässt sich über bereits erwähnte Synonyme hinaus nicht erfassen. Wer den gewöhnlichen Aufenthalt als Rechtsbegriff bezeichnet, bringt dagegen die Überzeugung zum Ausdruck, dass er die Lokalisierung eines kollisionsrechtlichen Rechtsverhältnisses unter Rückgriff auf anerkannte Mechanismen der Normkonkretisierung vornehmen möchte. Die Kategorisierung hat damit drei Konsequenzen. Erstens lässt sich die begriffliche Unbestimmtheit oder Vagheit 40 des gewöhnlichen Aufenthalts nicht mit Verweis auf die Einzelfallabhängigkeit des Begriffs rechtfertigen. Stattdessen kann der gewöhnliche Aufenthalt im Einzelfall zwar unterschiedliche Ausprägungen erfahren, verfügt aber ± so die Annahme der vorliegenden Abhandlung ± über einen davon unabhängigen Bedeutungskern. Um die abstrakte Begriffsbedeutung für den Einzelfall dienstbar zu machen, können sich Dogmatik und Rechtsanwender, zweitens, überkommener Mechanismen zur Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe oder Generalklauseln bedienen. 41 Unabhängig von ihren methodischen Implikationen 42
39 Eine weitere Ausnahme stellt freilich der Begriff der Ä1LHGHUODVVXQJ³ EH]LHKXQJsZHLVH GHU Ä+DXSWQLHGHUODVVXQJ ³RGHU Ä+DXSWYHUZDOWXQJ ³ GDU GHU LQ Art. 19 Rom I-VO, 23 Rom II-VO verwendet wird, um den gewöhnlichen Aufenthalt zu konkretisieren. Wie sich zeigen wird, lassen sich die hierzu entwickelten Modelle der Normkonkretisierung nicht auf den gewöhnlichen Aufenthalt übertragen, s.u. 3. 40 Nach Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 106. 41 Die Arbeit orientiert sich insoweit grob an der Unterscheidung zwischen Begriffskern und Begriffshof, die Jesch, Unbestimmter Rechtsbegriff und Ermessen in rechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht, AöR 82 (1957) 163 (167), für unbestimmte Rechtsbegriffe im Öffentlichen Recht entwickelt hat. Rezeption unter anderem bei Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, 26.
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hat die Zuordnung des gewöhnlichen Aufenthalts zum Kreis der Rechtsbegriffe also bereits den Vorteil, dass der Begriff nicht als freistehendes Phänomen sui generis verstanden werden darf. Stattdessen ist es nicht nur zulässig, sondern auch geboten, den Begriff mit den überkommenen Mitteln der Rechtsdogmatik zu erschließen. Das bedeutet auch, dass Unterschiede in der Systematik und im Telos der Aufenthaltsanknüpfung losgelöst vom Einzelfall untersucht werden müssen. 43 Selbst wenn die aktuelle Handhabung der Aufenthaltsanknüpfung im kollisionsrechtlichen Schrifttum ein anderes Ergebnis nahelegt, sollte man den gewöhnlichen Aufenthalt im soeben beschriebenen Sinn als Rechtsbegriff verstehen. Es besteht nämlich weder ein Anlass noch eine Notwendigkeit, eine eigenständige Methode der Normkonkretisierung an die Stelle überkommener Mechanismen zu setzen. Insofern die Bezeichnung als Rechtsbegriff den gewöhnlichen Aufenthalt für Kategorien rechtlicher Methodenlehre zugänglich macht, ist ihr also zu folgen. 3. Rechtsbegriff und Normativität Der zuletzt genannte Erklärungsansatz erlaubt noch keine Entscheidung darüber, ob bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts eine Abwägung von Tatbestandselementen oder über die Sachverhaltserfassung hinausgehende normative Entscheidung nötig wird.44 Diese Frage kann ausschließlich in Ansehung des Inhalts, mithin nicht in Ansehung des Standorts oder im Hinblick auf die Verallgemeinerbarkeit des gewöhnlichen Aufenthalts beantwortet werden.45 Hilfreicher ist vor diesem Hintergrund die Überlegung Seibls. Allein der Umstand, dass bei der Aufenthaltsbestimmung eine Vielzahl von Faktoren eine Rolle spielen kann, setzt seiner Ansicht nach zwingend voraus, dass es sich bei dem Begriff um ein normatives Tatbestandsmerkmal handelt.46 Der nachfolgende Abschnitt wird verdeutlichen, dass bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts unterschiedliche Elemente eines Lebenssachverhaltes Berücksichtigung finden können. Die Gewichtung dieser Elemente ist nicht durch den Begriff Ägewöhnlicher Aufenthalt³ selbst vorgegeben. Ge42 Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 1953, 270 ff.; Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, 14 ff., unterscheidet zwischen den Alternativen der Normverwirklichung und der Normerzeugung. 43 Grundlegend Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914) 1 (46, 173). Aufgegriffen und in die Lehre vom unbestimmten Rechtsbegriff integriert von Jesch, AöR 62 (1957) 163 (172 ff.). Weitere Nachweise bei Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, 26. Zusammenfassung bei Engisch, Einführung in das juristische Denken, 11. Auflage 2010, 137 f. 44 Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, 80. 45 Ibid. 46 Ibid.
A. Der gewöhnliche Aufenthalt als Tatsachen- oder Rechtsbegriff
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rade deswegen besteht eine statistische Wahrscheinlichkeit, dass nicht alle als relevant erachteten Tatsachen in dieselbe Rechtsordnung deuten. Die Tatsachenfeststellung allein lässt für sich genommen also nicht darauf schließen, wo sich der gewöhnliche Aufenthalt einer natürlichen Person befindet. 47 Hinzu kommt, dass die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts auf unterschiedliche Bezugszeiträume abstellen kann. Je breiter der zeitliche Bezugsrahmen ist, den eine Kollisionsnorm zur Bestimmung des anwendbaren Rechts wählt, desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit einer objektiven Perplexität in der Anwendung des gewöhnlichen Aufenthalts. Die Erwägungsgründe 23 und 24 zur EuErbVO zeigen, dass auch dem Verordnungsgeber die Kapazitätsgrenzen eines sich in der Auswertung von Tatsachen erschöpfenden Aufenthaltsbegriffs bewusst sind. Auf thematische Details der Abwägungsregel soll an dieser Stelle nicht vorgegriffen werden. 48 Wohl aber lässt sich ihr gerade beschriebenes, verallgemeinerungsfähiges Substrat argumentativ verwerten, um verbindlich darauf zu schließen, dass die Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts bereits deswegen regelmäßig eine Wertungsentscheidung einschließt, weil die zur Verfügung stehenden Anknüpfungstatsachen unterschiedlich beschaffen sind. Jenseits der tatsächlichen Präsenz einer Person müssen verschiedene Faktoren sozialer Integration dann nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ ausgewertet werden. Diese wertende Gesamtbetrachtung stellt wiederum ein Proprium normativer Tatbestandsmerkmale dar. 49 Das gilt selbst dann, wenn man den gewöhnlichen Aufenthalt über Indizien und Vermutungsregeln konkretisiert. Seibl stellt zutreffend fest, dass die fehlende Kenntnis einer Indiztatsache ± beispielsweise Unsicherheit über die berufliche Anstellung oder häusliche Wohnung ± der Möglichkeit entgegenstehen kann, eine richtige Wertungsentscheidung zu treffen. 50 Umgekehrt ersetzen Indizien aus zwei Gründen nicht abstrakt die Notwendigkeit einer qualitativen Bewertung der Lebensumstände einer Person. Erstens kann eine Mehrzahl von aufenthaltsrelevanten Indizien widersprüchliche Ergebnisse erzeugen; zweitens können Indiztatsachen in sich perplex werden und damit ihre Aussagekraft einbüßen, wenn sie zu gleichen Teilen in unterschiedliche Rechtsordnungen deuten. Das ist beispielsweise der Fall, wenn eine Person in mehreren unterschiedlichen Ländern sowohl arbeitet als auch lebt, ohne dass sich ein eindeutiger quantitativer Schwerpunkt identifizieren ließe. 51 Die Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts schließt also jedenfalls dann zwingend eine über die bloße Tatsachenfeststellung hinausgehende Wertent47
Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, 81. Dazu unten § 5 B. II. 2. b), sowie § 5 B. III. 49 Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, 81. 50 Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, 82. 51 Ibid. 48
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§ 5 Struktur und inhaltliche Grundlinien
scheidung ein, wenn sie im Grundsatz an mehrere mögliche Elemente eines Lebenssachverhalts anknüpfen kann und diese Elemente in unterschiedliche Rechtsordnungen deuten. Da die Aufenthaltsfeststellung über die tatsächliche Präsenz einer Person hinaus die soziale Integration in eine Rechtsordnung voraussetzt, ist das regelmäßig, wenn auch nicht zwingend der Fall. Auch Widersprüche zwischen dem aktuellen tatsächlichen Aufenthaltsort und den tatsächlichen Bindungen einer Person sind keine Ausnahme, sondern die Regel, da der gewöhnliche Aufenthalt als internationalprivatrechtlicher Anknüpfungspunkt nur in Fällen mit Auslandsbezug über das anwendbare Recht entscheidet. Eben dieser Auslandsbezug wird sich häufig bereits daraus ergeben, dass eine Privatperson Bindungen zu unterschiedlichen Rechtsordnungen aufrechterhält.52 Die vorstehenden Überlegungen klären die Frage nach der Begriffsnatur des gewöhnlichen Aufenthalts für einen statistisch bedeutsamen Teil seiner Anwendungsfälle. Abschließend entscheiden lässt sich die Frage nach der ÄNormativität³ ± die hier synonym zur Notwendigkeit einer richterlichen Wertung verwendet wird ± aber erst, wenn nicht nur über die Elemente des gewöhnlichen Aufenthalts, sondern auch über ihre Rezeption durch Definitionsversuche, wie auch über die praktische Handhabung des gewöhnlichen Aufenthalts durch die Unionsgerichte Klarheit herrscht. Die Voraussetzungen dafür werden erst zum Ende des vorliegenden zweiten Teils der Arbeit geschaffen sein.53 4. Konsequenzen Die vorstehenden Überlegungen haben ergeben, dass die Hypothese, dass es sich beim gewöhnlichen Aufenthalt um einen Tatsachenbegriff handelt, im Hinblick auf das Ziel der vorliegenden Arbeit sinnvoll erscheint. Ob oder inwieweit sich Tatsachenfeststellung und Wertentscheidung trennen lassen und ob sich der gewöhnliche Aufenthalt je nach Kontext teils mehr, teils weniger stark nach normativen Gesichtspunkten bestimmt, muss an dieser Stelle aber ungeklärt bleiben. Diese Frage kann im Hinblick auf das Europäische Kollisionsrecht auch nicht isoliert, sondern nur in Ansehung des systematischen Umfelds und der Zwecke beantwortet werden, die mit dem gewöhnlichen Aufenthalt verfolgt werden. Schließlich ist die Frage nach der Natur des gewöhnlichen Aufenthalts untrennbar mit der verbunden, ob und wie im Auf52
Insbesondere im Vertrags- und Deliktsrecht ist das freilich nicht zwingend. Hier ergibt sich der Auslandsbezug regelmäßig aus dem zwischen den Parteien entstandenen Rechtsverhältnis, also durch die Vornahme einer Transaktion mit einem ausländischen Anbieter oder die Schädigung eines Ausländers im Ausland. Das erklärt auch, warum der gewöhnliche Aufenthalt sich in diesen Fällen regelmäßig einfacher ermitteln lässt als es im Familien- und Erbrecht der Fall ist. 53 Ergebnis s.u. § 6 C.
B. Grundstrukturen des gewöhnlichen Aufenthalts
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enthaltsverständnis differenziert werden sollte. Diesem Problemfeld wird sich der dritte Teil der Arbeit widmen. Anders ist es um die Tatbestandselemente bestellt, die den ÄBegriffskern³ des gewöhnlichen Aufenthalts ausmachen sollen. 54 Der folgende Abschnitt wird zunächst die Leitlinien skizzieren, die diesen Kern ausmachen können, bevor er sie am Maßstab der lex lata des staatsvertraglichen und unionsrechtlichen IPR und IZVR diskutiert (§ 6).
B. Grundstrukturen des gewöhnlichen Aufenthalts B. Grundstrukturen des gewöhnlichen Aufenthalts
I. Erste Achse: Tatsächliche Anwesenheit Übereinstimmung scheint darüber zu herrschen, dass der Erwerb eines gewöhnlichen Aufenthalts zwingend die tatsächliche Anwesenheit an einem bestimmten Ort voraussetzt. Ohne eine zumindest vorübergehende Anwesenheit im Geltungsbereich einer Rechtsordnung findet kein Statutenwechsel statt. 55 Ob die tatsächliche Präsenz durch eine polizeiliche Meldung rechtswirksam ausgewiesen wurde, soll dagegen keine Rolle spielen. 56 Die Rechtsprechung in den Mitgliedstaaten deutet an, was der EuGH mit einer Entscheidung vom 8.6.2017 bestätigt hat, 57 nämlich, dass sich das Anwesenheitserfordernis jedweder normativen Korrektur verschließt. 58 Der Bedarf danach kann insbesondere bei Kindern entstehen. Dem vom EuGH entschiedene Fall lag ein Sorgerechtsstreit zugrunde, in dem die Mutter sich unmittelbar vor der Geburt des Kindes in ihre Heimat begeben hatte und nach der Geburt dort abredewidrig wohnen blieb. 59 Die mitgliedstaatliche Rechtsprechung betraf Fälle, in denen die Mutter vor der Geburt gegen ihren Willen in einem Drittstaat festgehalten wurde.60 Das Kind kommt dann in einem 54
S.o. 3. Einhellig Staudinger/Spellenberg Art. 3 EuEheVO Rn. 75; Geimer/Schütze/Dilger vor Art. 3 EuEheVO Rn. 14; SoergelBGB/Kegel, 12. Auflage 1996, Art. 5 EGBGB Rn. 54; Rogerson, Habitual Residence ± The New domicile, ICLQ 49 (2000), 86 (89). So auch einhellig die Rspr., vgl. einerseits BVerwG, 26.9.2002 ± 5 C 46/01 (freilich zu § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I), und andererseits UKSC, 9.9.2013, in the matter of A (Children) AP Trinity Term [2013] UKSC 60, das an späterer Stelle ausführlicher diskutiert werden wird. 56 Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 143; Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 123. 57 EuGH, 8.6.2017 ± C-111/17 PPU, Rn. 48 ± OL. 58 Eindeutig BVerwG, 26. 9. 2002 ± 5 C 46/01, mit dem Caveat, dass die Entscheidung auf § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I und damit weder auf Unionssekundärrecht, noch auf einer kollisionsrechtlichen Norm aufbaut. 59 EuGH, 8.6.2017 ± C-111/17 PPU, Rn. 48 ± OL. 60 S. UKSC, 9.9.2013 ± In the matter of A (Children) AP Trinity Term [2013] UKSC 60. 55
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§ 5 Struktur und inhaltliche Grundlinien
Land zur Welt, in das die Mutter wider Willen festgehalten wurde. Das Land, aus dem die Mutter ursprünglich verschleppt wurde, hat es aber nie physisch betreten. Bei der Mutter spricht in solchen Fällen viel gegen einen Statutenwechsel. Erstens ist sie unter materiellrechtlich korrekturbedürftigen und beweisrechtlich kaum verwertbaren Umständen in das Land ihres tatsächlichen Aufenthalts gelangt; zweitens fehlen ihr regelmäßig die sozialen Bindungen, wenn sie dort wider Willen festgehalten wird. Bei Kindern, die in der Zeit des unfreiwilligen Verbleibs zur Welt kommen, soll ein gewöhnlicher Aufenthalt im ursprünglichen Aufenthaltsland der Mutter umgekehrt jedenfalls so lange ausgeschlossen sein, bis diese sich dort tatsächlich mit dem Kind niederlassen kann. Erstens kann die tatsächliche Präsenz der Mutter den Kindern anders als im Rahmen der Wohnsitzanknüpfung nicht zugerechnet werden. Zweitens fehlen dem Kind zwar auch am Geburtsort die de facto von der Mutter abgeleiteten sozialen Bindungen. Dass das Kind im Geburtsland keinen gewöhnlichen, sondern nur einen schlichten Aufenthalt besitzt, soll schließlich nicht automatisch dazu führen, dass ein später erworbener gewöhnlicher Aufenthalt vermöge einer Fiktion auf die Zeit der Geburt zurückbezogen wird. Auch wenn man diesen usus rechtspolitisch kritisieren kann, erhält er durch die Entwicklungsgeschichte des gewöhnlichen Aufenthalts als Kontrastbegriff zur kollisionsrechtlichen Wohnsitzanknüpfung seine Berechtigung. 61 Auch die EuEheVO liefert ein Indiz dafür, dass der europäische Verordnungsgeber diesen Gedanken übernehmen möchte. Er hat mit Art. 15 EuEheVO einen speziellen, am forum non conveniens-Gedanken orientierten Koordinationsmechanismus geschaffen, der für Extremfälle wie den beschriebenen eine Lösung bereithält.62 Anstatt den gewöhnlichen Aufenthalt durch Fiktionen aufzuladen, hält der Gesetzgeber es im Interesse der Vermeidung von Jurisdiktionenkonflikten und der Gewährung effektiven Rechtsschutzes für ratsam, Sonderfälle über Mechanismen der justiziellen Kooperation zu lösen. II. Zweite Achse: Soziale Integration Die Umschreibung des gewöhnlichen Aufenthalts als Daseins- oder Lebensmittelpunkt deutet darüber hinaus auf eine zweite Achse hin, die der schlichten Anwesenheit an einem Ort ihre ÄGewöhnlichkeit³ verleiht. Diese Achse lässt sich unter dem Begriff der Äsozialen Integration³ zusammenfassen. 63
61
S.o. § 4 B. III. 4. Überblick bei Solomon, Brüssel IIa ± Die neuen europarechtlichen Regeln zum internationalen Verfahrensrecht in Fragen der elterlichen Verantwortung, FamRZ 2004, 1409 (1413 f.). 63 Zu den Konturen im Unionsrecht s. EuGH, 12.7.2001± C-262/99, Rn. 55 ± Louloudakis ./. Dimosio ± Slg. 2001-I, 5547; Baetge, Max Planck Encyclopedia of European Private Law, 2012, 814. 62
B. Grundstrukturen des gewöhnlichen Aufenthalts
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1. Elemente und Kategorien sozialer Integration Das Kriterium sozialer Integration wird je nach Rechtsgebiet und Anwendungsfall unterschiedlich konturiert. Die folgenden Überlegungen nehmen zwar im Internationalen Privatrecht ihren Ausgang, beziehen schon aufgrund der sachlichen Nähe aber auch Überlegungen zum internationalen Familienverfahrensrecht der Bundesrepublik in die Betrachtung ein. Auch die vorhandenen Konkretisierungen des gewöhnlichen Aufenthalts im Sozial- und Steuerrecht werden berücksichtigt. a) Überblick Rechtsvergleichend scheint Konsens darüber zu herrschen, dass sich die soziale Integration einer natürlichen Person vorrangig nach äußerlich erkennbaren Kriterien bestimmen soll. 64 Die familiären Bindungen einer Person sollen ferner im Grundsatz den Vorrang vor ihren beruflichen und sozialen Kontakten beanspruchen.65 Bei einer isolierten Betrachtung der professionellen Bindungen soll es darauf ankommen, ob das maßgebliche Arbeitsverhältnis befristet oder unbefristet ist, 66 und ob eine Person einen Arbeitsplatzwechsel im Ausland oder ins Ausland vorgenommen hat. 67 Eine unterstützende Wirkung soll Sprachkenntnissen, der Schul- und Berufsausbildung im In- oder Ausland und der Anmietung oder dem Kauf einer Wohnung zukommen. 68 Je nach Anwendungszusammenhang wird der polizeilichen Wohnsitzmeldung ein gewisses Gewicht bei der Aufenthaltsbestimmung zuerkannt, 69 mitunter auch der schlichten Anrufung der Gerichte im Aufenthaltsstaat. 70 Bei der Bestimmung der sozialen Bindungen kommt der räumlichen Entfernung von der
64
Statt vieler Rogerson, 49 ICLQ (2000), 86 (93); Baetge, FS Kropholler, 2008, 77 (81) m.Verw. auf die in EuGH, 25.2.1999 ± C-90/97 ± Swaddling Schlussanträge des Generalanwalts Saggio ÄIHVWHVR]LDOH%LQGXQJ³ DXV GHQHQ VLFKDEHUNHLQ HQWVFKHLGHQGHV $UJument für ein objektives Aufenthaltsverständnis entwickeln lässt. Neuerdings auch Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 263 ff. 65 Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 125, s. auch Erwägungsgrund 24 zur EuErbVO. 66 Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 114 f. 67 OLG Zweibrücken, 11.7.1984 ± IVb ZB 73/83 ± FamRZ 1985, 81; dagegen Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 115. 68 Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 115 f. 69 S. dazu AG Frankfurt a.M., 27.10.2010 ± FamFR 2011, 94; Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 118. 70 OLG Stuttgart, 22.2.1983 ± NJW 1983, 1982; in eine ähnliche Richtung OLG Hamm, 5.5.1989 ± 1 WF 167/891 ± NJW 1990, 651 (Ablehnung der Aufenthaltsbegründung bei mehrjährigem Asylverfahren als Rechtsschutzverweigerung); ablehnend Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 120.
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§ 5 Struktur und inhaltliche Grundlinien
Familie ein entscheidendes Gewicht zu. 71 Sofern eine Person ihren physischen Aufenthaltsort verlegt, ihre familiären Bindungen im letzten Aufenthaltsland aber aufrecht erhält, erwächst daraus ein entscheidendes Indiz gegen einen Aufenthaltswechsel. 72 Diese Vermutung wird insbesondere für Kleinkinder in Stellung gebracht, deren soziales Umfeld sich regelmäßig auf die Familienmitglieder und die tatsächlichen Betreuungspersonen beschränkt. 73 Namentlich im Internationalen Privatrecht ist umstritten, welche Rolle der Staatsangehörigkeit bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts zukommen soll. Die Diskussion wird unterschiedlich geführt, je nachdem wie sich das systematische Verhältnis zwischen Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsprinzip gestaltet. Während Art. 5 Abs. 1 EGBGB noch Anlass bot, die Relevanz der Nationalität bei der Aufenthaltsbestimmung ganz abzustreiten, 74 fehlt ein vergleichbarer systematischer Vorrang im Rahmen des Europäischen Kollisionsrechts. Die einschlägige EuGH-Rechtsprechung und Erwägungsgrund 24 zur EuErbVO berechtigten dagegen die Annahme, dass die Nationalität bei der Aufenthaltsbestimmung zu einem gewissen Grad berücksichtigt werden kann. 75 Offen ist ferner, wie sich die Rechtmäßigkeit eines tatsächlichen Aufenthalts auf die Frage der Gewöhnlichkeit auswirkt und wie mit nationalen Registrierungsvorschriften, wie beispielsweise dem deutschen Melderecht, umzugehen ist. 76 b) Kategorien sozialer Integration Bei der sozialen Integration handelt es sich damit um ein unbestimmtes Begriffselement, das sich je nach Sachverhalt und Rechtsgebiet unterschiedlich konkretisieren lässt. Die vorstehenden Indizien lassen sich abstrakt in drei Kategorien einteilen. aa) Untauglichkeit genehmigungsabhängiger Indizien Die erste Kategorie bilden Lebensumstände einer Person, die sich reflexartig in einem öffentlich-rechtlichen Statusverhältnis oder einem wie auch immer gearteten Kontakt mit den öffentlichen Einrichtungen eines Landes niederBGH, 8.3.1983 ± VI ZR 116/81 ± BGHZ 87, 95 ± NJW 1983, 2271: gewöhnlicher Aufenthalt in Polen aufgrund der Anwesenheit des Ehemannes in Polen. Nachw. bei Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 113. 72 Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 113. 73 Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 125. Vgl. aber bereits BGH ± IVb ZB 586/80 ± BGHZ 78, 293 zum gewöhnlichen Aufenthalt eines Studierenden, der am Aufenthaltsort der Eltern erhalten bleiben soll. 74 Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 119. 75 Zu Ersterem s.u. § 6 A. II. 2., zu Letzterem s.u. § 6 B. II. 1. c), § 6 B. II. 1. d). 76 Zu Beidem Baetge, FS Kropholler, 2008, 77 (83). 71
B. Grundstrukturen des gewöhnlichen Aufenthalts
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schlagen. Dazu zählen die Staatsangehörigkeit und die polizeiliche Meldung, aber auch ein laufendes Asylverfahren, 77 das Vorhandensein einer Aufenthaltserlaubnis 78 und sogar eine Klage oder Antragsstellung vor den Gerichten des Aufenthaltsstaates. All diese Faktoren haben gemeinsam, dass die internationalprivatrechtliche, aber auch die familienrechtliche Literatur ihnen mit Skepsis begegnet. 79 Das geschieht aus unterschiedlichen Gründen. Die oben genannten Einwände gegen eine Berücksichtigung der Staatsangehörigkeit gründen sich auf die systematische Struktur des EGBGB. Für die Zwecke des EU-Kollisionsrechts sind sie daher nur bedingt relevant. Die Vorbehalte gegenüber der Aussagekraft einer polizeilichen Meldung oder eines Aufenthaltstitels erklären sich dagegen durch eine entsprechende Bezugnahme auf die Wohnsitzbestimmung im deutschen Sachrecht. 80 Auch für den bürgerlichrechtlichen Wohnsitzbegriff des § 7 Abs. 1 BGB ist konsentiert, dass die polizeiliche Meldung eine notwendige willentliche Niederlassung zwar indiziert, aber nicht ersetzt. 81 Für die Zwecke des Unionsrechts trägt der Analogieschluss aus der Wohnsitzbestimmung nicht. Die Relevanz einer polizeilichen Meldung wird aber auch aus einem anderen Grund geschmälert. Das Melderecht ist nicht unionsrechtlich vereinheitlicht und nur wenig EUMitgliedstaaten kennen eine mit der Bundesrepublik vergleichbare Meldepflicht. Sofern sie dies tun, weichen die Meldefristen von denen in der Bundesrepublik ab; außerdem ist ein Verstoß gegen die Meldepflicht nicht immer, und wenn überhaupt, dann in unterschiedlichen Graden sanktionsbewährt. 82 Ähnliche Gründe sprechen gegen die Berücksichtigung eines Auf-
77 Dazu Mankowski, Die Reaktion des Internationalen Privatrechts auf neue Erscheinungsformen der Migration, IPRax 2017, 40 (48). 78 OLG Nürnberg, 5.3.2001 ± 11 WF 320/01 ± NVwZ-Beilage 2001, 119; großzügiger bereits BSG, 26.1.1988 ± 2 RU 25/87 ± MDR 1988, 700 (Laufendes Asylverfahren steht der Aufenthaltsbegründung nicht entgegen, wenn spätere Duldung erfolgt) mit Bezug auf § 30 SGB I; a.A. OLG Hamm, 5.5.1989 ± 1 WF 167/89 ± NJW 1989, 681 unter Bezugnahme auf § 606a ZPO a.F., best. durch OLG Schleswig, 26.8.2015 ± 8 AR 8/15, Rn. 10 ± NJOZ 2016, 721; ebenso zum Familienverfahrensrecht MüKoFamFG/Rauscher § 98 FamFG Rn. 60 (Aufenthaltserwerb bereits dann, wenn Erfolg des Asylverfahrens nicht gänzlich ausgeschlossen ist). 79 Z.B. Baetge, FS Kropholler, 2008, 77 (83 f.); ders., Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 118 f.; im Nachgang an die Flüchtlingskrise mit beachtlichen neuen Argumenten aus dem Ausländer- und Asylrecht Mankowski, IPRax 2017, 40 (48). 80 Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 118 f. 81 Ibid. 82 Freilich spricht diese Überlegung auch gegen die Relevanz der Staatsangehörigkeit bei der Aufenthaltsbestimmung; die Unterschiede erscheinen hier aber weniger eindeutig als im Melderecht. Staaten ohne ein (kodifiziertes oder gewohnheitsrechtliches) Staatsa ngehörigkeitsrecht gib es aktuell nicht.
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§ 5 Struktur und inhaltliche Grundlinien
enthaltstitels bei der Aufenthaltsbestimmung. Die Dublin III-VO83 vereinheitlicht zwar die internationale Zuständigkeit bei der Bearbeitung von Asylanträgen, 84 schweigt aber zu den genauen Kriterien der Vergabe von Aufenthaltstiteln. Ungeachtet völkerrechtlicher Standards erfolgt das Verfahren und die Vergabe von Aufenthaltstiteln also in jedem Mitgliedstaat nach unterschiedlichen Kriterien. Dass die Anrufung staatlicher Stellen für sich genommen eine Indizwirkung bei der Aufenthaltsfeststellung haben soll, 85 lässt sich mit identischen Argumenten ablehnen wie im nationalen Recht. Zwar liefert die Einschaltung der staatlichen Stellen eines Mitgliedstaates einen Beleg für die Minimalintegration einer Person; über eine sporadische Anwese nheit hinaus, wie sie durch die Klageerhebung indiziert wird, kann die Anrufung eines Gerichts aber keine Vermutung erzeugen. 86 Öffentlich-rechtlich oder statusrechtlich fundierte Integrationsindizien sind als Gradmesser eines unionsrechtlich-internationalprivatrechtlichen Aufenthaltsbegriffs also aus zwei Gründen nur bedingt geeignet. Entweder sind die zugrundeliegenden Verfahrensordnungen nicht vereinheitlicht, oder sie geben weder ein Zeugnis über die aktuelle tatsächliche Anwesenheit einer Person, noch über deren soziale Integration ab. bb) Stufenverhältnis zwischen familiären und beruflichen Bindungen Die beruflichen und privaten Bindungen einer Person bilden die zweite und dritte Kategorie möglicher Erwerbsindizien. Eine Vermutung privater Bindungen lässt sich aus der Anmietung oder dem Kauf einer Wohnung, aber auch aus der Einschulung der Kinder und der Betätigung in Sportvereinen und Kirchen gewinnen. 87 Die beruflichen Bindungen einer Person beurteilen sich dagegen nach der Dauerhaftigkeit des Arbeitsverhältnisses: Ein besonderes Gewicht soll auf der Frage liegen, ob ein Wechsel des Arbeitgebers oder lediglich eine Entsendung aus einem bestehenden Arbeitsverhältnis ins Ausland stattgefunden hat. 88 Beim Berufs- und Privatleben einer Person handelt es sich nicht um eine einheitliche Kategorie. Im Gegenteil dürften beide Elemente in der Rechtspraxis wohl am häufigsten miteinander in Konflikt liegen. Sofern solch ein 83 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ABl. 2013 L 180/35. 84 S. Art. 1, Abschnitt III. 85 Zum tatsächlichen Zusammenhang Mankowski, IPRax 2017, 40 (48 f.). 86 Mit weiteren Argumenten Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 120. 87 Baetge, FS Kropholler, 2008, 77 (81) m.Verw. auf EuGH, 12.7.2001 ± C-262/99, Rn. 55 ± Louloudakis ./. Dimosio. 88 Dazu BGH, 2.3.2017 ± IX ZB 70/16, Rn. 10.
B. Grundstrukturen des gewöhnlichen Aufenthalts
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Konflikt auftritt, leuchtet es ein, dass die familiären Bindungen im Zweifel stärker wiegen als die beruflichen, 89 zumal sie den Lebenswandel einer Person länger und nachhaltiger beeinflussen als eine berufliche Anstellung. Das Privatleben hat also eine stärkere Aussagekraft bei der Aufenthaltsfeststellung als die beruflichen Bindungen einer Person. Freilich darf die Zweifelsregel nicht uneingeschränkt gelten; die familiären Bindungen einer Person können ausnehmend schwach ausgeprägt sein und nur kurz andauern, während die beruflichen Bindungen sich als dauerhaft und beständig erweisen können. 90 Eine abstrakte Zweifelsregel ist also abzulehnen. 2. Ausschlaggebende Faktoren in Zweifelsfällen Wie zu verfahren ist, wenn einzelne Indizien sozialer Integration in unterschiedliche Rechtsordnungen deuten, ist freilich offen. In solchen Fällen kommt es zu einem non liquet im Hinblick auf äußere Indizien sozialer Integration; es wird eine Abwägung nötig. 91 Grob lassen sich in der Literatur und in der Rechtspraxis zwei Lager erkennen: Während man sich in Deutschland nach wie vor einem Äobjektiven³ Aufenthaltsverständnis verschreibt 92 und die Dauer und Regelmäßigkeit des tatsächlichen Aufenthalts einer Person zum ausschlaggebenden Kriterium bei der Aufenthaltsbestimmung erklären möchte,93 lässt sich gerade in jüngerer Vergangenheit die Neigung erkennen, dem Niederlassungswillen ein bestimmendes Gewicht bei der Aufenthaltsermittlung einzuräumen. 94 Das Für und Wider beider Alternativen soll im Folgenden ausführlicher gewürdigt werden.
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S. dazu die Diskussion zu Erwägungsgrund 24 EuErbVO, § 6 A. II. 2. b) bb). In der Tendenz gleichwertig sollen familiäre und berufliche Bindungen dagegen für das COMI des Privatschuldners sein, BGH ± IX ZB 70/16, Rn. 10. Allgemein dazu Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 113. 90 Vgl. BGH ± IX ZB 70/16, Rn. 10 f. 91 Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, 80. 92 Zuletzt BFH, 22.6.2011 ± I R 26/10. 93 Grundlegend für das IPR vgl. BGH, 31.5.1982 ± VI ZR 182/81 ± NJW 1983, 2771; allgemein vgl. BGH ± IVb ZB 586/80 ± BGHZ 78, 293, 301 ± NJW 1981, 520; BVerwG, 24.6.1999 ± 5 C 24/98 ± BVerwGE 109, 155 ± DVBl 2000, 629; OVG NRW, 31.7.1998 ± 10 A 1329-98 ± DVBl 1999, 482; OLG Hamm, 16.5.1991 ± 4 UF 8/91 ± FamRZ 1992, 1466 m. Anm. Henrich; OLG Celle, 11.3.2010 ± 17 UF 154/09 ± FamRZ 1991, 122; OLG Karlsruhe, 18.3.2010 ± 2 UF 179/09 ± FamRZ 2010, 1577; OLG Stuttgart, 30.03.2012 ± 17 UF 338/11 ± NJW 2012, 2043; weitere Nachweise bei MüKoBGB/von Hein Art. 5 EGBGB Rn. 145; neuerdings u.a. OLG Hamm, 22.12.2006 ± 2 Sdb (FamS) Zust. 14/06 ± FamRZ 2008, 1007; OLG Hamm, 23.3.2012 ± 12 UF 295/11 ± FamRZ 2012, 1504; AG Otterndorf, 28.9.2011 ± 7 F 226/11 S ± FamRZ 2012, 1140; OLG Karlsruhe, 5.6.2015 ± 18 UF 265/14, 2. Leitsatz ± NJW-RR 2015, 1415. 94 Im Zusammenhang mit § 343 FamFG letztmalig OLG München, 22.3.2017 ± 31 AR 47/17, Rn. 5.
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§ 5 Struktur und inhaltliche Grundlinien
a) Zeitablauf aa) Vom zeitabhängigen gewöhnlichen Aufenthalt zur Aufenthaltsdauer als Zweifelsregelung In der Bundesrepublik, in Frankreich und der Schweiz lässt sich eine Tendenz erkennen, dem Zeitfaktor bei der Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts eine zentrale Bedeutung beizumessen. 95 Laut Art. 20 Abs. 1 S. 1 lit. b) Schweizer IPRG96 stellt die Verweildauer neben der schlichten Anwesenheit sogar die einzige Determinante bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts dar. Das Beispiel des Schweizer IPRG zeigt aber auch, dass eine ausschließlich zeitbezogene Aufenthaltsermittlung mehrere Anschlussprobleme nach sich zieht. 97 Kritisiert wird insbesondere, dass die Verweildauer zwar in der Regel ein starkes Indiz für die Begründung eines Daseinsmittelpunktes darstelle, aber in der Praxis keineswegs der einzig relevante Faktor für die Aufenthaltsbestimmung sein könne. 98 Das Schrifttum lehnt sich im Rahmen des IPR daher an den staatsvertraglichen Aufenthaltsbegriff an; dort wird die tatsächliche Verweildauer als austauschbares Kriterium verstanden. 99 Ebenso hält es die Gerichtspraxis.100 Die ausschließlich zeitbezogene Definition des gewöhnlichen Aufenthalts im schweizerische Recht ist also rechtstatsächlich überholt; die Kombination des Aufenthaltsbegriffs mit einer Zeitbestimmung erscheint insofern wenig praktikabel und anknüpfungsungerecht.
Zum Steuerrecht RG, 20.11.1917 ± RGZ 91, 287 (288). Im Sozial- und Zivilprozessrecht BGH, 23.11.1971 ± VI ZR 97/70 ± BGHZ 57, 265 ± NJW 1972, 387. Bewertung bei Baetge, FS Kropholler, 2008, 77 (80). Inzwischen wird ein ausschließlich zeitbezogenes Aufenthaltsverständnis kaum noch vertreten, s. z.B. OLG Düsseldorf, 18.11.2016 ± I.3 Sa 2/16 ± FGPrax 2017, 36; Einschätzung bereits bei Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 46. Anders Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, 68. Das Aufenthaltsverständnis der herrschenden Lehre zum EGBGB (Nachw. bei Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 51 ff.) scheint dem Zeitelement bei der Aufenthaltsbestimmung im internationalen Vergleich ein größeres Gewicht zuzusprechen als andere Rechtsordnungen. Vgl. aber BGH, 3.2.1993 ± XII ZB 93/90 ± NJW 1993, 2047, wonach der Rückkehrwille bei der Frage von Bedeutung sein soll, ob ein gewöhnlicher Aufenthalt aufgegeben wurde. Ein ausreichend deutlich zutage tretender Niederlassungswille soll ein Minus in der Verweildauer ausgleichen können. Dazu statt vieler Staudinger/Spellenberg Art. 3 EuEheVO Rn. 75, 80. 96 Ä,P 6LQQH GLHVHV *HVHW]HV KDW HLQH QDWUOLFKH 3HUVRQ [...] ihren gewöhnlichen Aufenthalt in dem Staat, in dem sie während längerer Zeit lebt, selbst wenn diese Zeit zum YRUQKHUHLQEHIULVWHWLVW³ 97 Baetge, FS Kropholler, 2008, 77 (79 f.). 98 Zürcher Kommentar/Kren Art. 20 IPRG Rn. 54. 99 Siehr, Das IPR der Schweiz, 2002, 139, Schwander, Einführung in das Internationale Privatrecht, Band 1, 3. Auflage, 2000, 210. 100 BG, 10.03.2003 ± BG 129 III, 288 (292); Nachw. bei Baetge, FS Kropholler, 2008, 77 (80). 95
B. Grundstrukturen des gewöhnlichen Aufenthalts
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In Deutschland lässt sich eine vergleichbare Entwicklung beobachten. Auch hier entfernte sich die Rechtspraxis im Nachgang des Zweiten Weltkriegs zunehmend von einem ausschließlich zeitbestimmten Aufenthaltsverständnis und verlegte sich stattdessen auf eine Analyse der Lebensumwelt des Anknüpfungssubjekts. 101 In der Literatur setzte sich ebenfalls die Überzeugung durch, dass die Aufenthaltsdauer alleine keine trennscharfe Entscheidung darüber ermöglicht, wo sich der gewöhnliche Aufenthalt einer Person befindet. 102 Für einzelne Sachbereiche des sekundärrechtlichen IPR und IZVR scheint dies bereits konsentiert. 103 Eine mögliche Erklärung für den Bedeutungswandel liefert der Umstand, dass der gewöhnliche Aufenthalt durch die IPR-Reform 1986,104 die fortschreitende Harmonisierung des Kollisionsrechts durch die Haager Konferenz 105 und schließlich infolge der Kindschaftsrechtsreform 1999 im deutschen autonomen Kollisionsrecht stark an Bedeutung gewonnen hat. Ein rein zeitbezogenes Verständnis wäre dem neuen Anforderungsprofil des Begriffs nur unzureichend gerecht geworden. Diese Überlegung lässt sich auch auf das unionsrechtliche Aufenthaltsverständnis übertragen. Gerade weil der gewöhnliche Aufenthalt vom Vertragsrecht bis zum Erbrecht als kollisionsrechtliche Universalanknüpfung dient, liegt es nahe, dass die Aufenthaltsdauer nicht die einzig entscheidende Anknüpfungstatsache bei der Aufenthaltsbestimmung darstellen kann. Vielmehr müssen das Lebensumfeld des Anknüpfungssubjekts und die dieses Umfeld bestimmenden Umstände in die Aufenthaltsbestimmung einfließen. 106 Die Anwesenheit alleine kann also auch dann keinen Statutenwechsel nach sich ziehen, wenn sie sich über einen längeren Zeitraum hinzieht. 107 bb) Defizite einer zeitbasierten Zweifelsregelung Scheidet damit eine zeitbezogene Konkretisierung des gewöhnlichen Aufenthalts aus, erscheint die Aufenthaltsdauer dennoch geeignet, um den Gegenstand einer Zweifelsregelung zu bilden. Je länger der tatsächliche Aufenthalt 101 Nachw. aus der Rechtsprechung bei Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 51, Fn. 39. 102 Statt vieler Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 84 m.Verw. auf OVG Koblenz, 7.12.1989 ± NvWZ-RR 1990, 312. 103 So die Einschätzung bei Dilger, Internationale Zuständigkeit in Ehesachen, 2004, 224 unter anderem m.Verw. auf Spellenberg, FS Geimer, 2002 1257 (1266). 104 BT-Drucks. 10/504, 41. 105 Die Haager Konferenz lässt ihrerseits die Tendenz erkennen, den gewöhnlichen AufHQWKDOWQLFKWLQ$QVHKXQJGHUWDWVlFKOLFKHQ9HUZHLOGDXHUVRQGHUQGHVÄVR]LDOHQ8PIHOGV³ zu bestimmen, s. den Schlussbericht von Steigers zum MSA, Actes et Doc. 1961-IV, 225 ff., Diskussion bei Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 75. 106 So auch Baetge, FS Kropholler, 2008, 77 (80). 107 Besonders nachdrücklich Staudinger/Spellenberg Art. 3 EuEheVO Rn. 78 f.; Baetge, FS Kropholler, 2008, 77 (81).
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§ 5 Struktur und inhaltliche Grundlinien
im Geltungsbereich einer Rechtsordnung andauert, desto stärker dürfte nämlich die Integrationsvermutung wiegen, die ein Aufenthaltswechsel herbeiführt.108 Auch in der Funktion als Zweifelsregelung eignet sich die Verweildauer nicht, um einen autonom-unionsrechtlichen gewöhnlichen Aufenthalt zu konkretisieren. Erstens fehlt es im Hinblick auf die Mindestaufenthaltsdauer an einem rechtsvergleichenden Konsens. Während sich in Deutschland und Österreich die Faustformel etabliert hat, dass ein Aufenthaltswechsel nach circa sechs Monaten eintreten soll,109 wird in Großbritannien sogar zur Bestimmung der internationalen Zuständigkeit eine Mindestaufenthaltsdauer von einem Jahr angesetzt.110 In Bezug auf den Aufenthaltsbegriff der Haager Konventionen sind die nationalen Diskrepanzen noch deutlicher: Einerseits knüpft das Haager Erbrechtsübereinkommen den Aufenthaltswechsel an eine Frist von fünf Jahren.111 Andererseits wird im Hinblick auf das autonome IPR vorgeschlagen, dass bereits ein dreimonatiger Aufenthalt zum Statutenwechsel führen soll.112 Die Frage nach der indiziellen Mindestaufenthaltsdauer enthüllt mithin eine beinahe unüberschaubare Meinungsvielfalt anstatt einer klar konsentierten Leitlinie. Dieser Befund steht nicht nur der Identifikation einer überstaatlich identifizierbaren, einheitlichen Faustformel entgegen, sondern relativiert auch die Aussagekraft des Zeitelements als Zweifelsregelung in Fällen, in denen die soziale Integration einer Person sich nicht klar nachweisen lässt. Jenseits eines kleinsten gemeinsamen Nenners ± einem Mindestaufenthalt von fünf Jahren, wie er für das Erbrecht angesetzt wird ± führt eine Auswertung der Aufenthaltsdauer je nach zuständiger Jurisdiktion zu unterschiedlichen Ergebnissen. Eine dogmatische Fixierung des Zeitelements des gewöhnlichen Aufenthalts ist damit jedenfalls dann notwendigerweise dem Vorwurf der Willkür ausgesetzt, wenn sie nicht unmittelbar an den Fristenregelungen
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Nach Staudinger/Spellenberg Art. 3 EuEheVO Rn. 78. Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 109 mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung in Fn. 9 (Deutschland) und 10 (Österreich); a.A. Mansel, Perspektiven eines deutschen interlokalen Privat- und Verfahrensrechts nach der Wiedervereinigung, IPRax 1990, 283 (286) Fn. 48 (Zwei-Jahres-Frist). 110 S. statt vieler Law Commission No. 48, Report on Jurisdiction in Matrimonial Causes, 1.8.1972, 18. 111 S.o. § 4 B. III. 4. e), dazu Ansay, Legal Problems of Migrant Workers, RdC 156 (1977) 1 (52); Grasmann, Zur Dringlichkeit der Reform des deutschen Internationalen Privatrechts und Gesichtspunkte für deren stärkere Orientierung am Domizilprinzip, FS Neumayer, 1986, 249 (261). 112 Schwander, Einführung in das Internationale Privatrecht, Band 1, 3. Auflage, 2000, Rn. 206, der sogar deine prospektive Aufenthaltsdauer von drei Monaten genügen lassen möchte. 109
B. Grundstrukturen des gewöhnlichen Aufenthalts
159
der lex lata ansetzt. 113 Unabhängig davon fehlt es an einem gemeinsamen, rechtsvergleichenden acquis im Hinblick auf die Mindestverweildauer. Zweitens greift die weit verbreitete Überlegung zu kurz, eine zeitakzessorische Aufenthaltsbestimmung sei verlässlicher und vorhersehbarer als eine Bezugnahme auf die innere Willensbildung und andere als Äschwach³ bezeichnete Integrationsfaktoren. 114 Die vorstehenden Erwägungen zeigen, dass eine Aufenthaltsbestimmung in Ansehung der Verweildauer nur in einer geringen Zahl von Fällen eindeutige Ergebnisse erzeugt. Das gilt jedenfalls dann, wenn man ± auch insoweit herrscht, wie oben ausgeführt wurde, Übereinstimmung ± weder starr auf die polizeiliche Meldung in einem Land abstellt, noch nach dem Vorbild des Steuer- und Sozialrechts eine feste Mindestaufenthaltsdauer bei der Aufenthaltsfeststellung ansetzt. Soweit der tatsächliche Aufenthalt in einem Land nicht ununterbrochen und über mehrere Jahre angedauert hat, ist das Zeitelement für sich genommen also ebenso wenig verlässlich wie die oben aufgezählten Äweichen³ Integrationsfaktoren und der Niederlassungswille. Selbst dann können sich aber Konstellationen ergeben, in denen die Verweildauer als bestimmender Faktor schlichtweg ungeeignet ist.115 Drittens ist die Anwesenheitsdauer für sich genommen indifferent gegenüber der Frage, ob ein Aufenthaltswechsel selbstbestimmt erfolgt ist oder nicht. Dieser Mangel ist unschädlich bei Kleinkindern, die erst im Laufe der Zeit die Fähigkeit zur eigenständigen Willensbildung entwickeln. 116 Er fällt aber ins Gewicht, wenn die Anwesenheit einer zur selbstständigen Willensbildung fähigen Person nicht auf einem freien Willensentschluss beruht. Offensichtlich ist die Unfreiwilligkeit im Fall einer vorübergehenden Flucht, Vertreibung oder Verschleppung. Ebenso liegen Fälle, in denen die tatsächliche Niederlassung zwar oberflächlich freiwillig erfolgt ist und nicht unerheblich lange andauert, im Ergebnis aber kein Wille zur nicht nur vorübergehenden Niederlassung besteht. So ist es im Fall einer Arbeitnehmerentsendung, aber auch bei selbstständiger Saisonarbeit. Diese Beispiele zeigen, dass die Aufenthaltsdauer prima facie zwar rechtssichere und vorhersehbare Ergebnisse verspricht, bei Lichte besehen aber nicht nur eine relativ hohe Fehlerquote birgt, sondern auch ihre genaue Gestaltung nicht ohne gesetzgeberische Willkür erfolgen kann.
113 Baetge 'HU JHZ|KQOLFKH $XIHQWKDOW Ä-HGHU Festlegung haftet hier notZHQGLJHUZHLVHHLQJHZLVVHV0DDQ:LOONUDQ³ 114 So insbesondere Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 262 ff. 115 Dazu zählen insbesondere die im Erbrecht häufig diskutierten Fälle der Altersmigration. Dazu Pfeiffer, Ruhestandsmigration und EU-Erbrechtsverordnung, IPRax 2016, 310. 116 Dazu nachdrücklich Staudinger/Spellenberg Art. 3 EuEheVO Rn. 78, wonach die ]HLWDN]HVVRULVFKH $XIHQWKDOWVEHVWLPPXQJ ÄVLFKHU GLH $UEHLW >HUOHLFKWHUW@ ZRKO >DEHU@ LQ der Mehrheit der Fälle nicht die Fakten [trifft].³
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§ 5 Struktur und inhaltliche Grundlinien
Die Verweildauer ist damit als Grundlage einer Zweifelsregelung ungeeignet. cc) ÄZeitlich-effektiver³ gewöhnlicher Aufenthalt Die vorstehenden Ausführungen haben die Tauglichkeit der Aufenthaltsdauer als Gegenstand einer Zweifelsregelung in Frage gestellt. Das bedeutet aber nicht, dass ihr jedwede Bedeutung bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts abgesprochen werden sollte. Sofern der Gesetzgeber die Aufenthaltsdauer für relevant hält, verleiht er seiner Ansicht durch eine selbstständ ige Zeitbestimmung Ausdruck. Solch eine Regelung stellt Art. 26 Abs. 3 lit. a) EuGüVO dar. Die Vorschrift stellt es ins Ermessen der erkennenden Gerichte, zugunsten eines späteren Aufenthaltsrechts von der objektiven Grundanknüpfung an den ersten gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt (Art. 26 Abs. 1 lit. a) EuGüVO) abzuweichen, sofern die Ehegatten sich dort wesentlich länger aufgehalten haben als am ersten gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthaltsort. Die Aussagekraft der Vorschrift ist ihrer Rechtsgrundlage wegen freilich reduziert. 117 Um allgemeine Leitlinien des Aufenthaltsbegriffs zu identifizieren, wird man die Vorschrift dennoch als Änarrative Norm³118 lesen und ihr die allgemeine Maßgabe entnehmen können, dass die Verweildauer bei der Aufenthaltsbestimmung nicht gänzlich vernachlässigt werden darf.119 Bei Lichte besehen steht die Feststellung, dass die Wertigkeit des einen gegenüber einem anderen möglichen gewöhnlichen Aufenthalt mit zunehmender Anwesenheitsdauer steigen kann, auch nicht im Widerspruch zur oben vertretenen Ansicht. Ob eine Person einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat,120 ist richtigerweise davon zu unterscheiden, mit welchem Ort sie am engsten verbunden ist, wenn sie Verbindungen zu mehreren Ländern un117
S.o. § 2 D. II. 1. c) mit Kritik ibid., d). Dazu grundlegend Jayme, Narrative Normen im Internationalen Privat- und Verfahrensrecht, 1993, 29 ff. 119 'LH YRUOLHJHQGH .RQVWHOODWLRQ lKQHOW GHU )LJXU GHU ÄUDWLR VFULSWD³ ZLH VLH Jayme, Narrative Normen im Internationalen Privat- und Verfahrensrecht, 1993, 29 ff., für nicht ratifizierte Staatsverträge entwirft. 120 Säuglinge erwerben ihren ersten gewöhnlichen Aufenthalt nach herrschender Ansicht mit der Geburt in dem Land, in dem sie geboren wurden, s. statt Vieler MüKoBGB/Siehr Art. 8 EuEheVO Rn. 5 m.w.N. AA Thomale, Mietmutterschaft, 2015, 25 f. Hier eine Mindestaufenthaltsdauer zu verlangen würde bedeuten, die internationale Zuständigkeit über Kinder in den ersten Lebensmonaten ausschließlich in Ansehung des schlichten Aufenthalts zu bestimmen. Das ist in der Union zwar möglich (s. Art. 13 EuEheVO), aber nicht anzuraten, weil ein grundsätzliches Abstellen auf den schlichten Aufenthalt Gefahr läuft, Kinder der Schutzmechanismen der Art. 8 ff. EuEheVO zu berauben, die die Union im Fall einer grenzüberschreitenden Verbringung geschaffen hat. Für sie stellt sich die Frage nach einem Aufenthaltswechsel also erst bei einem späteren Umzug. 118
B. Grundstrukturen des gewöhnlichen Aufenthalts
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terhält. Im letzten Fall kann und muss die Aufenthaltsdauer berücksichtigt werden, um zu bestimmen, welcher tatsächliche Aufenthalt vermutungshalber die engsten sozialen Bindungen erzeugt hat. Das Zeitelement weist also im Konfliktfall den Äzeitlich-effektiven³ gewöhnlichen Aufenthalt aus. 121 Die Möglichkeit, solch einen zeitbezogenen Vergleich mehrerer Aufenthaltsorte durchzuführen, besteht aber von vornherein nur, wenn der gewöhnliche Aufenthalt nicht im Hinblick auf die Gegenwart, sondern bezogen auf die Vergangenheit festgestellt wird. dd) Zeitablauf als Trägheitsvermutung Die vorstehenden Überlegungen deuten darauf hin, dass es unter bestimmten Bedingungen sinnvoll sein kann, die Anwesenheitsdauer bei der Aufenthaltsbestimmung zu berücksichtigen. Dies entspricht auch der aktuellen Rechtslage im Unionsrecht.122 Die Aufenthaltsdauer wird in der einschlägigen EuGHRechtsprechung bei Lichte besehen nicht in den Rang eines Tatbestandsmerkmals erhoben, sondern verhilft einer vom gewöhnlichen Aufenthalt unabhängigen, allgemeinen Beständigkeitsregel, oder einem ÄTrägheitsprinzip³, zum Ausdruck. 123 Diese Regel muss immer dann Anwendung finden, wenn im Hinblick auf die soziale Integration einer Person an einem von mehreren tatsächlichen Aufenthaltsorten ein non liquet besteht124 und es an einem entsprechend deutlich manifestierten Niederlassungswillen fehlt. 125 In diesem Fall hat der EuGH die Vermutung bestätigt, dass der letzte gewöhnliche Aufenthalt einer Person bei der Bestimmung der internationalen Zuständigkeit zugrunde zu legen ist. 126 Die letzte Feststellung bestätigt die Ansicht, die im vorstehenden Abschnitt entwickelt wurde. Die Aufenthaltsdauer taugt zwar 'LH%HJULIIVELOGXQJHUIROJWLQ$QOHKQXQJDQGLHÄHIIHNWLYH³6WDDWVDQJHK|ULJNHLW S.u. § 3 B. II. 1. e) bb). 123 Nach Kegel, Was ist gewöhnlicher Aufenthalt?, FS Rehbinder, 2002, 699 (705), der sich selbst auf frühere Beiträge beruft; ders., Zur Reform des internationalen Rechts der persönlichen Ehewirkungen und des internationalen Scheidungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, FS Schwind, 1978, 145 (153, 155). In einem anderen, abstrakten oder konzeptionellen Sinne, verwendet Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, 197 ff., den Begriff des Trägheitsprinzips. Unter Anderem in Anlehnung an Esser, Grundsatz und Norm der richterrechtlichen Fortbildung des Privatrechts, 3. Auflage 1974, 82, definiert er das juristische Trägheitsprinzip DOV Ä6SLHODUW GHV :LGHUVWDQGHV GHQ MHGHV 5HFKWVV\VWHP 9HUlQGHUXQJHQHQWJHJHQVHW]W³,bid., 199, Fn. 683, mithin im Sinne einer Beständigkeitsvermutung in die Beibehaltung geltender Rechtssätze. 124 EuGH ± C-523/07, Rn. 37 ff. ± A ./. Perusturvalautakunta. 125 Dazu wiederum EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 69 ±Mercredi ./. Chaffe. 126 EuGH ± C-523/07, Rn. 41 ± A ./. PerusturvalautakuntaÄ'DVVVLFKGLH.LQGHULQHinem Mitgliedstaat aufhalten, in dem sie während eines kurzen Zeitraums ein Wanderleben führen, kann dagegen ein Indiz dafür sein, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt dieser Kinder QLFKWLQGLHVHP6WDDWEHILQGHW³ 121 122
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§ 5 Struktur und inhaltliche Grundlinien
als Gradmesser für einen Aufenthaltserhalt, nicht aber zur positiven Konkr etisierung des Tatbestandsmerkmals Ägewöhnlicher Aufenthalt³. Die Aufenthaltsdauer ist damit relativ zur Abgrenzung mehrerer möglicher gewöhnlicher Aufenthalte, nicht aber positiv zur Ermittlung eines gewöhnlichen Aufenthalts geeignet. ee) Zeitablauf und Ädoppelter gewöhnlicher Aufenthalt³ Die unter cc) und dd) vorgetragenen Überlegungen skizzieren eine Antwort auf die Frage, ob ein Ädoppelter³ oder mehrfacher gewöhnlicher Aufenthalt im Unionskollisionsrecht vorgesehen ist. 127 Nach der hier vorgeschlagenen Lesart des Begriffs gibt es solch eine Häufung von gewöhnlichen Aufenthalten jedenfalls im IPR und IZVR nicht. 128 Im Gegenteil benennt die Frage lediglich Probleme bei der Abschichtung unterschiedlicher Möglichkeiten der Aufenthaltslokalisierung. Sie lässt sich zunächst durch die oben unter § 6 B. II. 1. a) vorgestellten Zweifelsregelungen bewerkstelligen. Insbesondere die Überlegung, dass familiäre Bindungen den Vorrang vor beruflichen Kontakten haben sollten, fällt dabei ins Gewicht. Unklarheiten über die Verlegung eines gewöhnlichen Aufenthalts lassen sich dann mit Hilfe der beschriebenen Trägheitsvermutung beseitigen. Schließlich scheint es angebracht, den Willen zur Niederlassung zum Bestandteil einer Zweifelsregelung aufzuwerten. Auf ihn soll im Folgenden eingegangen werden. b) Niederlassungswille/settled intention Parallel zum beschriebenen Bedeutungsverlust des Zeitelements gewinnt historisch die Forderung Gewicht, den Willen zur Niederlassung, zum Verweilen oder zur Rückkehr in einen Staat zu einem entscheidenden Faktor in der Aufenthaltsbestimmung aufzuwerten. 129 Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bestätigt diese Forderung bereits teilweise. Sie deutet an, dass die nach außen erkennbare, feste Absicht, sich dauerhaft an einem Ort niederzulassen, unter bestimmten Umständen auch über die fehlende Beständigkeit eines längerwährenden tatsächlichen Aufenthalts hinweghelfen kann. 130 Dieses Substitutionspotential erkennt auch die Mehrheit des deutschen Schrifttums dem Niederlassungswillen an. 131 Freilich soll der Wille allein, also ohne 127
Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 137 ff. Alternativlösung über Analogien bei Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 140 ff. Für sie fehlt es im Unionsrecht an Anhaltspunkten, da weder die Staatsangehöri gkeitnoch der Wohnsitz autonom definiert werden. 129 Mann, JZ 1956, 466; Weller, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0Verordnung? 2013, 293 (317). 130 BGH ± IVb ZB 586/80 ± BGHZ 78, 293. 131 Vgl. nur SoergelBGB/Kegel Art. 5 EGBGB Rn. 53 f.; MüKoBGB/Sonnenberger, 5. Auflage 2010, Einl. IPR Rn. 735, der allerdings den prospektiven animus manendi als 128
B. Grundstrukturen des gewöhnlichen Aufenthalts
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gleichzeitige physische Präsenz, in keinem Fall einen Statutenwechsel bewirken können.132 Eine Privatperson soll bereits in dem Moment einen gewöhnlichen Aufenthalt erwerben können, in dem sie sich in einem Land niederlässt, wenn die Niederlassung einen ausreichend deutlich geäußerten Willen zur Niederlassung oder zum Verweilen erkennen lässt. Umgekehrt soll die erkennbar unfreiwillige Niederlassung einem Statutenwechsel im Grundsatz entgegenstehen. 133 Das Verbüßen einer Haftstrafe ist wahrscheinlich das augenfälligste Beispiels für diese Entwicklung. Insgesamt überbrückt das subjektive Element also den Mangel sonstiger objektiver Faktoren, ist ansonsten aber entbehrlich. Allerdings fehlt eine klare Sprachregelung darüber, welche technischen Anforderungen an das ÄWillenselement³ zu stellen sind. Entsprechend werden im Folgenden in einem ersten Schritt unterschiedliche Problemfelder identifiziert (aa)), bevor das Für und Wider einer an den Niederlassungswillen anknüpfenden Zweifelsregelung diskutiert werden kann (bb)). aa) Varianten einer willensakzessorischen Zweifelsregelung (1) Freiwilligkeit als Gegenindiz zur Aufenthaltsdauer In einem ersten Schritt muss die Diskussion um den Stellenwert des Niederlassungswillens bei der Aufenthaltsermittlung von der um die Konsequenzen einer unfreiwilligen tatsächlichen Niederlassung abgegrenzt werden. 134 Ein ausreichend deutlich erkennbarer Niederlassungswille macht den Rückgriff auf diffusere Indizien wie die Aufenthaltsdauer und soziale und familiäre Bindungen entbehrlich. 135 Die Freiwilligkeit der Niederlassung erfüllt einen umgekehrten Zweck. Sie dient dazu, die Vermutungswirkung anderer aufenthaltsrelevanter Indizien, insbesondere der Anwesenheitsdauer, zu widerlegen. Im Schrifttum scheint insoweit konsentiert, dass eine unfreiwillige Niederlassung den späteren Erwerb eines gewöhnlichen Aufenthalts nicht verhindern
Indiz für die Aufenthaltsbegründung und ± besonders bemerkenswert ± den retrospektiven animus revertendi als Indiz gegen die Aufenthaltsbegründung einordnet, was einer konstitutiven Funktion sehr nahekommt; Mansel, IPRax 1990, 283, 286, der zwischen prospektiver und retrospektiver Beurteilung unterscheidet. 132 Vgl. nur MüKoBGB/Sonnenberger, 5. Auflage 2010, Einl. IPR Rn. 735. 133 MüKoBGB/Sonnenberger, 5. Auflage 2010, Einl. IPR Rn. 735. 134 Diese Systematisierung wählt auch Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 121. 135 Hierin liegt der Unterschied zu Rogerson, ICLQ 49 (2000), 86 (94), die den Willen zum unbegrenzten Verweilen aus dem domicile-Begriff des Common Law als Maßstab verwendet und damit auch Fernziele und reine Motive in die Bewertung einbezieht. Diese Elemente sollten richtigerweise auch im Rahmen des Niederlassungswillens keine Rolle spielen; er sollte sich ausschließlich auf den objektiven Tatbestand des Aufenthaltserwerbs konzentrieren.
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§ 5 Struktur und inhaltliche Grundlinien
können soll.136 Zur Begründung wird unter anderem angeführt, die Freiwilligkeit der Niederlassung könne sich schwer einer geschlossenen Frage zuführen lassen. Vielmehr müsse sie sachverhaltsbezogenen bestimmt werden. 137 Sofern soziale Bindungen trotz einer unfreiwilligen Aufenthaltsbegründung zu einem späteren Zeitpunkt entstehen, soll die anfängliche Unfreiwilligkeit die spätere soziale Integration nicht verhindern. 138 Daran ist richtig, dass sich ein gewöhnlicher Aufenthalt gerade nicht in Abhängigkeit starr vorgegebener Kriterien, sondern in Ansehung der sozialen Bindungen einer Person bestimmen sollte. Die Freiwilligkeit liefert also ein Indiz dafür, dass solche sozialen Bindungen vorhanden sind. 139 Die überkommene Ansicht ist ansonsten aber nur bedingt anschlussfähig. Richtigerweise kommt es beim Erwerb eines gewöhnlichen Aufenthalts gerade nicht nur auf die anfängliche Unfreiwilligkeit an, sondern auf den natürlichen Willen, den derzeitigen Au fenthalt nicht nur vorübergehend aufrecht zu erhalten. Dieser Wille wird sich im Zeitpunkt der Niederlassung regelmäßig einfacher erkennen lassen als bei der Untersuchung der darauffolgenden Anwesenheit, muss grundsätzlich aber für die gesamte Dauer eines tatsächlichen Aufenthalts vorhanden sein. Als Dauertatbestand steht die Unfreiwilligkeit der Niederlassung einem Statutenwechsel so lange entgegen, bis sie einem freiwilligen Verweilen weicht. Ob ein Ortswechsel unmittelbar durch autonome oder heteronome Motive beeinflusst wird und ob die dahinterstehenden Umstände andauern, kann am selben Maßstab beurteilt werden. Richtigerweise steht die Unfreiwilligkeit des Aufenthalts damit so lange der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts entgegen, bis sie einem freiwilligen Verbleib weicht. Dieser Wechsel in der Willensrichtung führt dann einen Statutenwechsel herbei. Dass die Freiwilligkeit der Niederlassung als Freiwilligkeit des weiteren Verweilens verstanden werden sollte, verdeutlicht das folgende Beispiel: 140 Eine Frau reist mit ihrem Mann aus einem EU-Mitgliedstaat in einem anderen, um dort ihre Familie zu besuchen. Kurz nach ihrer Ankunft kommt es zum Streit, in dessen Folge die Frau insgesamt zwei Jahre lang gegen ihren Willen im Haus der Eltern festgehalten wird. Der Mann lässt sich während dieser Zeit am Wohnort der Eltern seiner Frau nieder und heißt das Verhalten der Verwandten gut. Als sie sich befreien kann, reist die Frau unverzüglich zurück in ihren Herkunftsstaat und stellt dort einen Scheidungsantrag. Richtigerweise müssen die Gerichte dieses Mitgliedstaates international zuständig sein, Art. 3 Abs. 1 lit. a) 2. Spstr. EuEheVO, da die Eheleute ihren letzten 136
Staudinger/Spellenberg Art. 3 EuEheVO Rn. 105. Anders aber Cheshire/North/Fawcett, Private International Law, 14. Auflage 2008, 190 f. 137 Rogerson, ICLQ 49 (2000), 86 (94); Staudinger/Spellenberg Art. 3 EuEheVO Rn. Ä(VJLEWYLHOH6WXIHQUHODWLYHU8QIUHLZLOOLJNHLW³ 138 Staudinger/Spellenberg Art. 3 EuEheVO Rn. 105. 139 Zu diesen Bindungen s.o. § 3 A. I. 140 Angelehnt an UKSC, AP Trinity Term [2013] UKSC 60.
B. Grundstrukturen des gewöhnlichen Aufenthalts
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gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt im Herkunftsmitgliedstaat hatten. Zwar ist die Frau zunächst freiwillig an den Lebensmittelpunkt ihrer Eltern gereist; dass sie später dauerhaft im Haus ihrer Eltern festgehalten wurde und nach ihrer Freilassung unverzüglich in ihr Herkunftsland zurückgereist ist, lässt aber darauf schließen, dass ihre freiwillige Anreise unmittelbar nach der Ankunft einem unfreiwilligen Aufenthalt gewichen ist. Diese Fälle sollten nicht anders behandelt werden als solche, in denen von vornherein ein unfreiwilliger Aufenthaltswechsel stattfindet. Umgekehrt sollte man einen Statutenwechsel ex nunc bejahen, wenn die Frau zunächst unfreiwillig in den Aufenthaltsstaat ihrer Eltern verbracht wird, nach ihrer Freilassung aber freiwillig dort verweilt; die internationale Zuständigkeit folgt dann aus Art. 3 Abs. 1 lit. a) 1. Spstr. EuEheVO. Technisch ist das hier vertretene Ergebnis nur möglich, wenn man die Freiwilligkeit der Aufenthaltsbegründung mit der Freiwilligkeit des späteren Verbleibs verbindet und unter einem Dauertatbestand zusammenführt. Ein Aufenthaltswechsel findet erst statt, wenn die unfreiwillige Niederlassung einem freiwilligen Anschlussaufenthalt weicht. Die spätere Freiwilligkeit heilt die anfängliche Unfreiwilligkeit nicht, sondern führt lediglich ex nunc zu einem Statutenwechsel. Insoweit muss man der herrschenden Ansicht auch im Ergebnis widersprechen. (2) Geschäftsähnlicher oder natürlicher Niederlassungswille Offen ist weiterhin, ob und in welche rechtsgeschäftlichen Kategorien der Niederlassungswille einer Person einzuordnen ist. Im Grundsatz stehen zwei Alternativen zur Diskussion. Zum einen wird vorgeschlagen, den im Rahmen der §§ 7 ff. BGB relevanten rechtsgeschäftlichen oder geschäftsähnliche Niederlassungswillen als animus manendi, oder alternativ den Rückkehrwillen, animus revertendi, im Wege der Analogie auf die Aufenthaltsbestimmung zu übertragen. 141 Bei Kindern und Geschäftsunfähigen erfolgt die Aufenthaltsbestimmung nach dieser Auffassung analog zu den Akzessorietätsregeln des nationalen Wohnsitzrechts. 142 Sofern der gewöhnliche Aufenthalt überhaupt als willensabhängiges Rechtsgebilde verstanden wird, findet eine zweite Variante weitaus mehr Befürworter. Sie spricht sich für die Einbeziehung eines Ätatsächlichen³ oder Änatürlichen³ Niederlassungswillens aus. Insbesondere die Gerichtspraxis in Großbritannien arbeitet mit dieser Form des Niederlassungswillens, die sich formell an die für den domicile-Erwerb notwendige, eine residence begründende settled intention anlehnt.143
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So Mann, JZ 1956, 466 (470). Mann, JZ 1956, 466 (468, 470). 143 S. dazu insbesondere Court of Justice (Queen¶s Bench Division) [2014] EWHC 3164 (QB) vom 6.10.2014, Winrow/Hemphill and Ageas Insurance Ltd., dazu Rentsch, Tatort142
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§ 5 Struktur und inhaltliche Grundlinien
Bevor die Alternativen diskutiert werden können, ist eine Begriffsklärung angebracht. Bezieht man die Etymologie und die Ursprünge des animusBegriffs im Römischen Recht in die Betrachtung ein, ist die Bezeichnung als animus auch für den tatsächlichen Niederlassungswillen berechtigt. Gaius gebraucht den animus synonym zur consuetudo revertendi,144 um den Instinkt von Wildtieren zu umschreiben, in den Herrschaftsbereich ihres Eigentümers zurückzukehren. 145 Der animus revertendi bildet also ursprünglich eine auflösende Bedingung für die Eigentümerstellung des Grundstücksinhabers an den Wildtieren auf seinem Gelände. 146 Um der Klarheit willen bietet es sich allerdings an, den animus-Begriff auch im Folgenden auf seine moderne Bedeutung, und damit auf die Umschreibung eines rechtsgeschäftlichen Willenselements in der Wohnsitzbegründung, zu beschränken. In dieser Funktion hat sich der Begriff sowohl im Common Law als auch in den kontinentaleuropäischen Rechtstraditionen bewährt. Ein rechtsgeschäftlicher oder geschäftsähnlicher Niederlassungswille 147 wird zum heutigen Tag nicht mehr gefordert. Erwähnung verdient aber ein entsprechender Vorschlag F. A. Manns aus dem Jahr 1956.148 Er konstatiert eine wachsende Bedeutung des gewöhnlichen Aufenthalts im völkerrechtlichen Internationalen Privatrecht, 149 mahnt aber an, dass der internationalprivatrechtliche Aufenthalt nicht mit dem gleichlautenden Begriff aus anderen Rechtsgebieten, beispielsweise dem Steuer- und Armenrecht,150 gleichgesetzt werden dürfe. 151 Dem deutschen Gesetzgeber sei ein Übersetzungsfehler unterlaufen, als er den konventionsrechtlichen Begriff der résidence habituelle mit dem aus dem nationalen Öffentlichen Recht übertragenen Aufenthaltsbeund Aufenthaltsanknüpfung im Internationalen Deliktsrecht ± Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO bei nachträglichem Aufenthaltswechsel des Geschädigten, GPR 2015, 191. 144 Aen. 7.485 f. 145 Gaius (2 Res Cott.) D. 41.1.5.5.: ÄOmnia animalia, quae terra mari caelo capiuntur, id est ferae bestiae et volucres at pisces, capientium fiunt. [...] quidquid autem eorum ceperimus, eo usque nostrum esse intellegitur, donec nostra custodia coerceretur [...] cervos quoque ita quidam mansuetos habent, ut in solvas eamt et redeant, quorum et ipsorum feram esse naturam nemo negat. In his autem animalibus, quae consuetudine abire et redire solent, talis regual comprobata est, ut eo usque nostra esse intelligantur, donec revertendi animum habeant, quodsi desiderint revertendi animum habere, desineant nostra esse et fiant occupantium. >@³ Zitat aus Hausmanninger/Gamauf, A Casebook on Roman Property Law, 2012, Case 94. 146 Ibid. 147 S. zur Gestaltung des rechtsgeschäftsähnlichen Niederlassungswillens die Nachweise unten Fn. 154. 148 Mann, JZ 1956, 466. Auswertung auch bei Weller, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0-Verordnung? 2013, 293 (321) Fn. 185. 149 Mann, JZ 1956, 466 (467). 150 Mann, JZ 1956, 466. 151 Mann, JZ 1956, 466 (468).
B. Grundstrukturen des gewöhnlichen Aufenthalts
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griff gleichgesetzt habe. 152 Richtigerweise verberge sich hinter dem Ägewöhnlichen Aufenthalt³ des staatsvertraglichen IPR eine international konsensfähige Version des autonom-internationalprivatrechtlichen Wohnsitzbegriffs. 153 Der gewöhnliche Aufenthalt müsse in Deutschland daher analog zu den völkerrechtlich unbedenklichen §§ 7 ff. BGB verstanden werden. 154 Die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts setze also eine Niederlassung und einen entsprechenden Domizilwillen oder animus voraus (§ 7 Abs. 1 BGB) und gestatte die Bestimmung des Aufenthalts von Kindern in Abhängigkeit von dem der Eltern.155 Die Überlegungen Manns lesen sich als dogmatische Antwort auf rechtspolitische Forderungen der späten 1940er Jahre, das interzonale und später das deutsch-deutsche Internationale Privatrecht nicht am Aufenthalts-, sondern am Wohnsitzprinzip auszurichten. 156 Gegenwärtig ist diese Ansicht überholt; auch unabhängig davon kann man sie kritisieren. Erstens erweist sich die Hypothese eines historischen Übersetzungsfehlers als zweifelhaft. Schließlich wurde der völkervertragsrechtliche Begriff der résidence habituelle nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich und der Schweiz mit Ägewöhnlicher Aufenthalt³ übersetzt; dort hatte sich diese Version des Aufenthaltsbegriffs zuvor nicht im Internationalen Privatrecht, wohl aber im Steuer- und Sozialrecht bewährt.157 Zweitens hat sich der gewöhnliche Aufenthalt mittlerweile nicht nur als fester Bestandteil des Personalstatuts etabliert, sondern im deutschen IPR auch einen von anderen Rechtsgebieten unabhängigen Wortsinn erlangt. 158 Mittlerweile hat sich ein Konsens herausgebildet, dass die Aufenthaltsbestimmung gerade nicht analog zu den §§ 7 ff.
Mann, JZ 1956, 466 Ä(U VROO GDV bTXLYDOHQW GHU résidence habituelle sein, dieser ist aber in Wahrheit von dem allgemeinen deutschen Begriff des gewöhnlichen AufHQWKDOWVY|OOLJYHUVFKLHGHQ³ 153 Mann-= Ä(UGHFNWVLFKPLWGHP%HJULIIGHUVWlQGLJHQ Niederlassung, also inhaltlich mit dem Begriff des Wohnsitzes des § 7 BGB und setzt demgemäß VRZRKOIDFWXPZLHDQLPXPYRUDXV³ 154 Mann, JZ 1956, 466 (469 f.). Ob der Wohnsitzerwerb im Rahmen des § 7 BGB eine geschäftsähnliche Handlung oder einen Realakt darstellt, ist umstritten. Für die Einordnung als geschäftsähnliche Handlung s. BGH, 14.7.1952 ± IV ZB 21/52 ± BGHZ 7, 104 (109); Bamberger/Roth/Bamberger § 7 BGB Rn. 18; Erman/Saenger § 7 BGB Rn. 4; MüKoBGB/Schmitt, 7. Auflage 2015, § 7 BGB Rn. 18; für die Einordnung als Realakt dagegen Brox/Walker, Allgemeiner Teil des BGB, 40. Auflage 2016, Rn. 726; Flume, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts II, 1992, § 9 a) cc). 155 Mann, JZ 1956, 466 (470). 156 S. z.B. Ficker, Grundfragen des Deutschen Interlokalen Rechts, 1952. 157 Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 131. 158 Ausführlicher dazu Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 40f. Rentsch, ZEuP 2015, 288 (306). 152
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§ 5 Struktur und inhaltliche Grundlinien
BGB, sondern nach eigenständigen Parametern erfolgen muss. 159 Das hat zwei Konsequenzen: Erstens wird ein rechtsgeschäftlicher Niederlassungswille einhellig als störend und der Aufenthaltsanknüpfung wesensfremd empfunden.160 Stattdessen soll ein Änatürlicher³161 oder Äfaktischer³162 Niederlassungs- oder Bleibewille in die Aufenthaltsfeststellung einfließen. Weitaus wichtiger ist aber, zweitens, dass der gewöhnliche Aufenthalt Minderjähriger sich in den Augen der Haager Konferenz und entgegen der Ansicht Manns nicht in Abhängigkeit von den betreuungsberechtigten Eltern, sondern so weit als möglich selbstständig bestimmen soll. 163 Diese fehlende Sachrechtsakzessorietät des gewöhnlichen Aufenthalts hat die kollisionsrechtliche Wohnsitzanknüpfung also gerade verdrängt. 164 Einen Entwicklungsfortschritt sollte man nicht nachträglich durch eine künstliche Rückanbindung des Begriffs an das nationale Sachrecht nivellieren. (3) Niederlassungswille als Substitut oder Oberbegriff Offen ist schließlich, welche Funktion einem natürlichen Niederlassungswillen zukommen kann. Konsens scheint darüber zu herrschen, dass eine hinreichend deutlich zu Tage tretende Absicht zum Aufenthaltserwerb alternativ zur Aufenthaltsdauer ein Fehlen anderer Indizien ausgleichen kann. 165 Ein Weniger an Aufenthaltsdauer soll also durch ein Mehr an objektiv manifestierter Niederlassungsabsicht kompensiert werden können. Der gewöhnliche Aufenthalt soll sich nach herrschender Ansicht trotzdem maßgeblich nach Äobjektiven³ Anknüpfungstatsachen bestimmen. 166 Insbesondere ein Abstellen auf die Anwesenheitsdauer entspricht nach wie vor der überwiegenden Ansicht in der Rechtsprechung und Literatur in der Bundesrepublik. 167 Alternativ wird aber die Forderung laut, die Bestimmung des gewöhnlichen Auf159
Zu den Nachteilen und Zirkelschlüssen eines solchen Vorgehens s. Rentsch, ZEuP 2015, 288 (309 f.). 160 Deutlich BGH, 5.2.1975 ± IV ZR 103/73 ± FamRZ 1975, 272, 273 ± NJW 1975, 1068 ± IPRspr. 1975 Nr. ÄIDNWLVFKHU :RKQVLW]³ %*+ 3.2.1993 ± IPRax 1994, 130; Staudinger/Spellenberg Art. 3 EheVO Rn. 96. 161 Staudinger/Spellenberg Art. 3 EheVO Rn. 95. 162 MüKoBGB/von Hein Einl. IPR Rn. 153. 163 So mit Nachdruck Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 131 m.w.N. 164 Für eine ausführlichere Darstellung sei auf die historische Rekonstruktion im dritten Teil der Arbeit verwiesen. 165 MüKoBGB/von Hein Einl. IPR Rn. 153, Baetge, The Max Planck Encyclopedia of European Private Law, 2012, 813 m.Verw. auf BGH ± IVb ZB 586/80 ± BGHZ 78, 293. 166 Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 132 m.w.N. in Fn. 52. 167 Vgl. nur OLG Frankfurt, 15.2.2006 ± 1 WF 231/05 ± NJW-RR 2006, 938 ± FamRZ 2006, 883 ± IPRspr. 2006, 883; ± IVb ZB 586/80 ± BGHZ 78, 293; MüKoBGB/von Hein, Einl. IPR Rn. 153; M. Weller Ä(XURSlLVFKHs Kollisionsrecht³ LQ Gebauer/Teichmann (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, § 8 Rn. 126.
B. Grundstrukturen des gewöhnlichen Aufenthalts
169
enthalts insgesamt am Niederlassungswillen einer Person auszurichten. 168 Der Niederlassungswille soll danach kein Substitutionspotential haben, sondern als konstitutives Kriterium der Aufenthaltsbegründung verstanden werden. Entsprechend muss er zwingend nachgewiesen werden. 169 Dieser Überlegung schließt im Ergebnis nur die konzeptionelle Folge an, ob die zuvor genannten objektiven Integrationsindizien einen selbstständigen Aussagewert haben, oder ob sie als objektive Ausprägungen eines natürlichen Niederlassungswillens verstanden werden müssen. 170 Die praktischen Unterschiede zur herrschenden Meinung sind demgegenüber gering.171 (4) ÄÄußerer³ Niederlassungswille und Äinnerer³ Vorbehalt Die vorstehenden Überlegungen verstehen den Niederlassungswillen einer Person ähnlich. Namentlich bauen sie auf der Annahme auf, dass er im Rahmen des gewöhnlichen Aufenthalts analog zur settled intention im Wege einer Gesamtbetrachtung 172 und in Ansehung äußerlich erkennbarer Lebensumstände des Anknüpfungssubjekts ermittelt werden soll. 173 Diese Hypothese deckt sich mit der einschlägigen Rechtsprechung. 174 Hier wird die innere Willensrichtung einer Person für unbeachtlich erklärt, wenn die Frage des gewöhnlichen Aufenthalts einer Person vom möglicherweise gegenläufigen Willen mehrerer Anknüpfungssubjekte abhängt. Das ist der Fall, wenn es um die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts von Kindern in Fällen internationaler Kindesentführungen geht (Art. 3, 11 HKÜ),175 scheint aber auch im Unterhaltsrecht keineswegs ausgeschlossen (Art. 3 Eu168
So insbesondere Weller, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0Verordnung?, 293 (317); Hilbig-Lugani, GPR 2014, 8; indirekt, da den anhaltenden Rückkehrwillen aufwertend Rogerson, ICLQ 49 (2000), 86 (94). In diese Richtung auch OLG Rostock, 25.3.2000 ± IPRax 2001, 588 (589); LG Karlsruhe, 2.10.2003 ± IPRax 2005, 145. Ablehnend MüKoBGB/von Hein Einl. IPR Rn. 153. 169 Eindeutig dagegen KG, 12.8.2013 ± 16 UF 122/13 ± BeckRS 2013, 18219, Leitsätze und Anmerkung bei Finger, Gewöhnliche Aufenthaltsnahme bei internationaler Kindesentführung, FamFR 2013, 552. 170 Weller, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0-Verordnung?, 2013, 293 (314). 171 A.A. MüKoBGB/von Hein Einl. IPR Rn. 153, mit Hinweis auf In the matter of LC (Children) [2014] UKSC 1 in Fn. 597. 172 BGH, 14.7.1952 ± IV ZB 21/52 ± BGHZ 7, 104 (109രf.) ± NJW 1952, 1251 (1252); OLG Hamm NJW-RR 1997, 1165. 173 Weller, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0-Verordnung?, 2013, 293. 174 S. im Zusammenhang mit Art. 3, 13 Abs. 2 HKÜ s. KG ± 16 UF 122/13 ± BeckRS 2013, 18219, Leitsätze und Anmerkung bei Finger, FamFR 2013, 552; ebenso High Court of Justice (Queen¶s Bench Division) [2014] EWHC 3164 (QB) 6.10.2014, Winrow/Hemphill and Ageas Insurance Ltd., dazu Rentsch, GPR 2015, 191. 175 Dazu KG ± 16 UF 122/13.
170
§ 5 Struktur und inhaltliche Grundlinien
UntVO, Art. 3 HUP). In diesen Fällen kann es nötig werden, den gewöhnlichen Aufenthalt der Kinder in Ansehung des Lebensumfelds der Eltern zu ermitteln. 176 Dem antragstellenden Elternteil, aber auch dem Kind selbst kann nicht die Gefahr zugemutet werden dass der Beweis eines fehlenden Verweilwillens nicht geführt werden kann oder er sich gerichtlich nicht feststellen lässt.177 Ähnliche Überlegungen lassen sich im Internationalen Vertragsrecht anstellen. 178 Hier haben die Vertragsparteien im Zeitpunkt des Vertragsschlusses notgedrungen begrenztes Wissen darüber, wie es um die innere Beziehung des Vertragspartners zu seinem äußerlich erkennbaren Lebensmittelpunkt bestellt ist. Ein Abstellen auf die innere Willensrichtung würde hier die Vorhersehbarkeit des anwendbaren Rechts empfindlich beeinträchtigen. 179 Die Überlegung gilt auch für die deliktische Grundanknüpfung. Dort rechtfertigt der gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt von Schädiger und Geschädigtem in einem Land ein Abweichen vom Erfolgsortrecht, setzt aber nicht voraus, dass zwischen den Parteien ein Näheverhältnis bestand, das ganz allgemein eine Kenntnis der anderen Partei über mögliche Rückkehr- oder Wegzugsabsichten vermuten lassen könnte. 180 Dass auch der Unionsgesetzgeber den Parteiwillen nur dann berücksichtigen möchte, wenn er sich in objektiv erkennbaren Umständen niederschlägt, lässt sich an den scheidungsrechtlichen Gerichtsständen der EuEheVO erkennen. In Art. 3 Abs. 1 lit. a) Spstr. 1 begründet der gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt der Eheleute im selben Staat, in Art. 3 Abs. 1 lit. a) Spstr. 4 dagegen der eines einzelnen Ehegatten die internationale Zuständigkeit. Letzteres ist aber nur möglich, wenn die Ehegatten einen Ägemeinsamen³ Scheidungsantrag gestellt haben.181 Das Erfordernis der Gemeinsamkeit wird weit verstanden und ist auch erfüllt, wenn die Parteien das Verfahren Äim sachlichen Einvernehmen³ führen.182 Die Zuständigkeit setzt aber zwingend voraus, dass der gemeinsame Scheidungswille ausdrücklich geäußert wurde. Die innere Willenseinigung der Parteien alleine reicht also nicht aus, um einen Gerichtsstand am gewöhnlichen Aufenthaltsort einer Partei zu begründen. Dies muss erst recht für den gewöhnlichen Aufenthalt gelten. Ein Äwillenszentrierter³ 183 Aufenthaltsbegriff unterscheidet sich von der nach wie vor vorherrschenden Äobjektiven³ Lesart also jedenfalls dann nur 176
Zu den Grenzen dieses Vorgehens s.u. 3. c). So ausdrücklich KG ± 16 UF 122/13 ± BeckRS 2013, 18219, 2. Leitsatz. 178 [2014] EWHC 3164 (QB). 179 [2014] EWHC 3164 (QB), Rn. 27. 180 [2014] EWHC 3164 (QB), Rn. 27. Kritik mit anderen Argumenten bei Rentsch, GPR 2015, 191 (197 f.). 181 Dilger, Internationale Zuständigkeit in Ehesachen, 2004, Rn. 235 ff., 239. 182 Dilger, Internationale Zuständigkeit in Ehesachen, 2004, 236. 183 Weller in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0-Verordnung?, 293 (321). 177
B. Grundstrukturen des gewöhnlichen Aufenthalts
171
unmerklich, wenn man die innere Willensrichtung einer Person für unerheblich erklärt.184 Dafür spricht nicht nur das aktuelle Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts in der Rechtsprechung, sondern auch ihr Sinn und Zweck in kombinierten Anknüpfungen. Innere Vorbehalte sind damit unerheblich für die Frage eines Aufenthaltswechsels. Die Frage nach dem richtigen Ausgangspunkt in der Aufenthaltsermittlung muss dagegen offenbleiben. Stattdessen sollen im Folgenden die Vorzüge des Niederlassungswillens bei der Aufenthaltsbestimmung hervorgehoben werden. Erstens erweist sich die Aufenthaltsdauer insbesondere im unionsrechtlichen Kontext als unklar und damit für die Zwecke einer Zweifelsregelung defizitär (s.o. a) bb)); zweitens sind die bislang gegen einen Äwillensakzessorischen³ Aufenthaltsbegriff vorgebrachten Einwände nur begrenzt stichhaltig (s.u. bb)). Schließlich kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass die Vorteile des Niederlassungswillens die Nachteile einer zeitbezogenen Zweifelsregelung überwiegen (s.u. cc)). bb) Argumente gegen den Niederlassungswillen Ein willenszentriertes Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts nivelliert in den Augen seiner Gegner die Unterschiede zum Wohnsitz oder domicile und zur Rechtswahl in einem gefährlichen Ausmaß. 185 Einerseits sollen systematische Widersprüche entstehen, sofern der gewöhnliche Aufenthalt eine Rechtswahl nicht ergänzt, sondern, wie in Art. 5 Rom III-VO, begrenzt. 186 Andererseits sollen die rechtspraktischen Vorteile beseitigt werden, die den gewöhnlichen Aufenthalt derzeit gegenüber dem Wohnsitzprinzip auszeichnen. 187 (1) Niederlassungswille und Wohnsitzanknüpfung Der zuletzt genannte Vorwurf erkennt zutreffend, dass die Abwesenheit eines zwingenden Willensnachweises den strukturellen Unterschied zwischen gewöhnlichem Aufenthalt und domicile ausmacht. Diese Besonderheit der Aufenthaltsanknüpfung darf nicht aufgegeben werden, hat sie doch historisch entscheidend zu deren Erfolg beigetragen.188 Die Entwicklungsgeschichte des 184
M. Weller in: Gebauer/Teichmann (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, § 8 Rn. 126 schlussfolgert zutreffend, dass ein richtig verstandener und praktikabler willenszentrierter Aufenthaltsbegriff sich vom herkömmlichen Aufenthaltsverständnis nur unwesentlich unterscheidet. 185 So M. Weller in: Gebauer/Teichmann (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, § 8 Rn. 126; MüKoBGB/von Hein Einl. IPR Rn. 153; Symeonides/Hay/Borchers, Conflict of Laws, 5. Auflage 2010, § 4.14. 186 MüKoBGB/von Hein Einl. IPR Rn. 153. 187 MüKoBGB/von Hein Einl. IPR Rn. 153. 188 MüKoBGB/von Hein Einl. IPR Rn. 153.
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§ 5 Struktur und inhaltliche Grundlinien
domicile in den Rechtssystemen des Common Law zeigt außerdem, dass der zwingende Nachweis eines Willenselements schwierige Beweisfragen aufwirft und die praktische Handhabung der persönlichen Anknüpfung im Zweifelsfall bedeutend erschweren kann. 189 Beide Argumente sprechen allerdings mehr gegen die Forderung nach einem rechtsgeschäftlichen als gegen die nach einem natürlichen Niederlassungswillen. 190 Von dem domicile of origin wesenseigenen animus unterscheidet sich die settled intention dadurch, dass entfernte Motive ebenso wie innere Vorbehalte einen Statutenwechsel nicht verhindern können. 191 Der notwendige Nachweis eines rechtsgeschäftlichen Niederlassungswillens macht das domicile of origin also gerade beständiger als den gewöhnlichen Aufenthalt. 192 Allerdings kommt auch der gewöhnliche Aufenthalt nicht ohne die Vermutung einer willentlichen Niederlassung an einem Ort aus. 193 Sofern man den für den Aufenthalt erforderlichen Niederlassungswillen mit der hier vertretenen Ansicht als Äpositive Kehrseite³ des in Kontinentaleuropa als ebenso selbstverständlich vorausgesetzten Freiwilligkeitserfordernisses versteht und den Umfang und die Intensität der insoweit erforderlichen Nachweise auf ein praktikables Maß beschränkt, 194 schwindet der Kontrast zur Wohnsitzanknüpfung. Ihr Scheitern im Haager Staatsvertragsrecht liefert dann auch kein entscheidendes Argument gegen den zwingenden Nachweis eines Willenselements. Vielmehr kommt es darauf an, in welches technische Gewand der Niederlassungswille gekleidet wird. Dass der gewöhnliche Aufenthalt richtigerweise durch einen natürlichen Niederlassungswillen bestimmt wird, wurde im vorstehenden Abschnitt bereits begründet.195 (2) Niederlassungswille und Minderjährige Einem willensakzessorischen Aufenthaltsverständnis wird ferner vorgeworfen, es versage gerade in Fällen, in denen der gewöhnliche Aufenthalt sich
189
Symeonides/Hay/Borchards, Conflict of Laws, 5. Auflage 2010, § 4.14. Gerade die Kollisionsrechte des Vereinigten Königreichs und der USA, wo parallel mit dem kollisionsrechtlichen Aufenthalts- und dem Wohnsitzprinzip gearbeitet wird, möchten den natürlichen Niederlassungswillen, die settled intention, bereits im Rahmen der residence berücksichtigen. Siehe insbesondere R v Barnet London Borough Council ex p Shah [1983] 2 AC 309; Cheshire/North/Fawcett, Private International Law, 2008, 185 Fn. 290 m.w.N. sowie 189 f.; Rentsch, GPR 2015, 191 (197); dies., ZEuP 2015, 288 (296). 191 [2014] EWHC 3164 (QB), 6.10.2014, dazu Rentsch, GPR 2015, 191 (197). 192 [2014] EWHC 3164 (QB), 6.10.2014, Rentsch, GPR 2015, 191 (197). 193 Cheshire/North/Fawcett, Private International Law, 2008, 185. 194 Ein Vorbild für eine solche Beschränkung liefert die bereits genannte Entscheidung des High Court of Justice [2014] EWHC 3164 (QB), 6.10.2014. 195 S.o. § 5 B. II. 2. a) bb). 190
B. Grundstrukturen des gewöhnlichen Aufenthalts
173
traditionell als Anknüpfungsmoment bewährt hat. Dies lasse sich insbesondere am Kinder- und Erwachsenenschutz erkennen.196 (D) Staatsvertragliche und unionsprimärrechtliche Leitbilder Gerade im Hinblick auf die Aufenthaltsbestimmung von Kindern wird dieser letzte Einwand durch die Rechtsentwicklung und die damit einhergehende Verschiebung früherer normativer Leitbilder relativiert. Art. 24 EuGrCh, die durch den Vertrag von Lissabon in den Status von Unionsprimärrecht erhoben wurde, verpflichtet die öffentliche Gewalt nicht nur zur Achtung des Kindeswohls (Abs. 1), sondern spricht Kindern auch ein Recht auf freie Meinungsäußerung zu (Abs. 1 S. 2). Dieses Recht soll insbesondere beachtet werden, wenn Kinder von öffentlichen Maßnahmen betroffen sind. 197 Da die EU-Grundrechtecharta nicht nur die Unionsorgane, sondern auch die mitgliedstaatliche öffentliche Gewalt bei der Durchführung von Unionsrecht verpflichtet (Art. 51 Abs. 1 GrCh),198 ist die Vorschrift im Grundsatz auch bei der Auslegung und Anwendung des sekundärrechtlichen IPR und IZVR zu beachten. Unabhängig von der EU-Grundrechtecharta sind die Mitgliedstaaten auch staatsvertraglich verpflichtet, die Willensbildung eines Kindes im Verfahren zu beachten: Art. 12 Abs. 1 der am 20.11.1989 verabschiedeten UNKinderrechtskonvention räumt einem Kind das Recht zur freien Meinungsäußerung ein; Abs. 2 verpflichtet staatliche Stellen, den Kindeswillen in Gerichts- und Verwaltungsverfahren so früh und so weit als möglich zu hören. 199 196
Statt vieler MüKoBGB/von Hein Einl. IPR Rn. 153. Ä(1) Kinder haben Anspruch auf den Schutz und die Fuȋrsorge, die fuȋr ihr Wohlergehen notwendig sind. Sie koȋnnen ihre Meinung frei aȋußern. Ihre Meinung wird in den Angelegenheiten, die sie betreffen, in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise beruȋcksichtigt. (2) Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen oȋffentlicher oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwaȋgung sein. (3) Jedes Kind hat Anspruch auf regelmaȋßige persoȋnliche Beziehungen und direkte .RQWDNWH ]X EHLGHQ (OWHUQWHLOHQ HV VHL GHQQ GLHV VWHKW VHLQHP :RKO HQWJHJHQ³ NKEuGrCh/Hölscheidt Art. (X*U&+5QEHWRQWGHQÄVFKLOOHUQGHQ,QKDOW³GHU9Rrschrift. Hervorzuheben ist, dass sie Kinder zu Grundrechtsträgern aufwertet, ibid., Rn. 18, und Erwachsene als Grundrechtsadressaten in die Pflicht nimmt. Ibid., Rn. 19. 198 EuGH± C-617/10 ± Åklagaren ./. Åkerberg Fransson ± EuZW 2013, 302. 199 Ä 'LH9HUWUDJVVWDDWHQVLFKHUQGHP.LQGGDVIlKLJLVWVLFKHine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife. (2) Zu diesem Zweck wird dem Kind insbesondere Gelegenheit gegeben, in allen das Kind berührenden Gerichts- oder Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen VerfahUHQVYRUVFKULIWHQJHK|UW]XZHUGHQ³ 197
174
§ 5 Struktur und inhaltliche Grundlinien
Ganz allgemein lesen sich die Vorschriften als allgemeines Bekenntnis der internationalen Gemeinschaft, die Rechtssubjektivität und Eigenständigkeit von Kindern zu achten und mit entsprechenden Rechten zu bewähren. 200 Gleichzeitig dehnt die Bestimmung aber auch die subjektiven Rechte des Kindes im Verfahren aus. 201 Liest man die Garantie des Art. 24 Abs. 1 S. 2 EuGrCh im Einklang mit dem in Art. 3 der KRK etablierten Recht zur freien Meinungsäußerung, ergibt sich daraus die Pflicht staatlicher Stellen, einen Kindeswillen immer dann zu berücksichtigen, wenn er vernünftigerweise einen ernsten und autonomen Willensentschluss erkennen lässt. 202 Sobald ein Kind die Fähigkeit zur eigenständigen Willensbildung entwickelt hat und sich ein soziales Umfeld aufbaut, das sich von dem der Eltern oder der faktischen Betreuungsperson unterscheidet, kann dies vermutet werden. Solch eine Entwicklungsstufe können im Grundsatz aber auch Grundschulkinder erreichen. Bevor ein solcher Wille vorhanden ist, erübrigt sich im Regelfall eine selbstständige Aufenthaltsprüfung. 203 Entsprechend ist die Ansicht berechtigt, dass der Daseinsmittelpunkt von Säuglingen und Kleinkindern regelmäßig mit dem der tatsächlichen Fürsorgeperson zusammenfällt. 204 (E ) Rezeption im Kommissionsentwurf zur EuEheVO Wie die Gesetzgebungsaktivität der Union zeigt, steht die Vorgabe, den Kindeswillen zu achten, in einem unmittelbaren Regelungszusammenhang mit der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen. Erstens nehmen die Erwägungsgründe 13 und 23 des Kommissionsentwurfs zur Neufassung der EuEheVO 205 explizit auf Art. 24 EuGrCh und Art. 12 KRK Bezug, um die 200
Szaj, The Right of the Child to be Heard, in: Todres/Wojcik/Revaz (Hrsg.), The United Nations Convention on the Rights of the Child, 2006, 127; für Art. 24 EuGrCh s. NKEuGrCh/Hölscheidt Art. 24 EuGrCH Rn. 15, wonach die Vorschrift allgemein den Wert der Kinderrechte in der Union unterstreichen soll. 201 Für die KRK Szaj, in: Todres/Wojcik/Revaz (Hrsg.), 127 (128); eine Einschränkung hat der belgische Kassationshof vorgenommen, sofern die Interessen des Kindes nicht unmittelbar durch das Verfahren tangiert werden, s. Cour de Cassation, 15.9.2010 ± RechtskundigWeekblad 2011, 1085 f., Nachw. bei Vandenhole, The Convention on the Rights of the Child in Belgian Case Law, in: Liefaard/Doek (Hrsg.), Litigating the Rights of the Child, 2015, 105 (109). Weitergehend schränkt der Conseil d¶Etat in Frankreich ein, indem er Art. 12 KRK die Qualität eines subjektiven Rechts abspricht. Dazu Couzins, France, in: Liefaard/Doek (Hrsg.), Litigating the Rights of the Child, 2015, 123 (130). Für die EuGrCH NK-EuGrCh/Hölscheidt Art. (X*U&+ 5Q Ä'LH %HUFNVLFKWLJXQJVSIOLFKW LVWGLH.HUQDXVVDJHGHV6DW]HV³ 202 Szaj, in: Todres/Wojcik/Revaz (Hrsg.), 127 (131 f.). 203 S. auch unten § 9 F. 2. b) bb). 204 Eine faktisch-akzessorische Aufenthaltsbestimmung nimmt auch EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 53±55 ± Mercredi ./. Chaffe, vor. 205 COM(2016) 411/2. Zusammenfassung bei Mansel/Thorn/Wagner, Europäisches Kollisionsrecht 2016: Brexit ante portas!, IPRax 2017, 1 (8 f.).
B. Grundstrukturen des gewöhnlichen Aufenthalts
175
Kindeswohlorientierung der EuEheVO zu effektuieren. 206 Zweitens möchte der Reformentwurf zur EuEheVO mit Art. 20 EuEheVO-E dem Kind in Verfahren der elterlichen Sorge ein Recht zur Anhörung und Meinungsäußerung einräumen. 207 Dieser Standard ist aktuell in Art. 11 EuEheVO verbindlich niedergelegt, der aber nur das Rückführungsverfahren bei Kindesentführungen mit zusätzlichen Kautelen versieht. 208 Mit dem Vorschlag einer umfassenden Anhörungspflicht, die sich an staatsvertragliche und primärrechtliche Vorbilder anlehnt,209 verfolgt die Kommission zwei Ziele: Erstens hält sie es für notwendig, den verfahrensrechtlichen Standard in den Mitgliedstaaten anzugleichen. 210 Da eine Kindesanhörung bislang nur in einigen Mitgliedstaaten zwingend vorausgesetzt wurde, entstanden Probleme im Hinblick auf die Anerkennung ausländischer Entscheidungen.211 Zweitens erscheint der Kommission eine Anhörung für notwendig, um das Kindeswohl zu wahren.212 Soweit man in Verfahren der elterlichen Sorge eine Anhörung des Kindes fakultativ anstatt zwingend gestalte, seien dessen Interessen nicht nachhaltig gesichert.213 Die Kommission erkennt also einen Bedarf nach einheitlichen Regeln zur Feststellung des Kindeswillens in Verfahren der elterlichen Sorge. Über die allgemeinen Verbürgungen des Staatsvertragsrechts und der EuGrCh hinaus
(13) ÄThe grounds of jurisdiction in matters of parental responsibility established in the present Regulation are shaped in the light of the best interests of the child; Any reference to the best interests of the child should be interpreted in light of Article 24 of the Charter of Fundamental Rights of the European Union and the United Nations Convention on the Rights of the Child of 20 November 1989.³ (23) The hearing of the child in accordance with Article 24(1) of the Charter of Fundamental Rights of the European Union and Article 12 of the United Nations Convention on the Rights of the Child (23) plays an important role in the application of this Regulation and should be aSSOLHGLQDFFRUGDQFHZLWKWKHP³ 207 ÄArt. 20 ± Right of the child to express his or her own views: When exercising their jurisdiction under Section 2 of this Chapter, the authorities of the Member States shall ensure that a child who is capable of forming his or her own views is given the genuine and effective opportunity to express those views freely during the proceedings. The authority shall give due weight to the child's views in accordance with his or her age and maturity and document its considerations in the decision.³ 208 Art. 21 ff. des Entwurfes. Art. 24 EuEheVO-E verweist im Hinblick auf die Anhörung des Kindes auf Art. 20 zurück. 209 S. Erwägungsgrund 23. 210 COM(2016) 411/2, 4. 211 COM(2016) 411/2, 4. 212 Verfahren der elterlichen Sorge müssen sich bereits jetzt am Kindeswohl orientieren, s. Erwägungsgrund 12 EuEheVO. 213 &20 ÄIf a decision is given without having heard the child, there is a danger that the decision may not take the best interests of the child into account to a sufILFLHQWH[WHQW³ 206
176
§ 5 Struktur und inhaltliche Grundlinien
scheint ihr dieses Anliegen ferner derart zentral, dass sie es zum Gegenstand einer sekundärrechtlichen Vorschrift der EuEheVO erklären möchte. Zweitens liefert der Kommissionsentwurf einen Beleg dafür, dass Kindeswille und Kindeswohl nicht als getrennte Bestandteile des Sorgerechtsverfahrens verstanden werden dürfen, sondern unmittelbar ineinandergreifen. Dieses Ergebnis deutet auch der ebenfalls im Entwurf formulierte Vorschlag an, den persönlichen Anwendungsbereich der Verordnung in Verfahren der elterlichen Sorge an das Haager Kinderschutzübereinkommen anzugleichen und auf Heranwachsende bis zum Alter von 18 Jahren zu erstrecken. 214 Entsprechend dürfte auch die Zahl der Verfahren wachsen, in denen über das Sorgerecht an einem Jugendlichen gestritten wird, der zur selbstständigen Willensbildung gerade fähig ist. Sollte der Reformentwurf zur EuEheVO in Kraft treten, steht also eine Leitbildverschiebung in Verfahren über die elterliche Sorge ins Haus. Sofern das Kindeswohl nicht in Ansehung externer normativer Erwägungen bestimmt wird, sondern dem Kindeswillen folgt, wird auch das Argument entkräftet, ein willensakzessorisches Aufenthaltsverständnis bei Erwachsenen führe eine begriffliche Spaltung des gewöhnlichen Aufenthalts herbei. Das Kindeswohl verleiht dem Aufenthaltsbegriff in Art. 8 Abs. 1 EuEheVO dann nämlich keine neue Qualität, sondern deutet nur an, dass ein nicht feststellbarer Kindeswille in manchen Fällen durch eigenständige Überlegungen des zuständigen Spruchkörpers substituiert werden muss. Aus diesen Einzelfällen allein lässt sich jedoch kein strukturelles Argument gegen eine Zweifelsregelung bei der Aufenthaltsfeststellung entwickeln, die maßgeblich an den Willen anknüpft. (F) Rezeption durch die EuGH-Rechtsprechung Die hier vorgestellten Überlegungen werden dadurch gestärkt, dass der EuGH bereits jetzt Art. 24 EuGrCh mit den Vorschriften des EuIPR und EuIZVR verknüpft. In einer 2015 ergangenen Vorabentscheidung begründete er eine restriktive Auslegung des Art. 3 EuUntVO unter Hinweis auf den primärrechtlichen Rahmen der Vorschrift.215 Die Entscheidung betont er freilich nur das entscheidende Gewicht des Kindeswohls in der justiziellen Zusammenarbeit, anstatt auf die Rolle des Niederlassungswillens einzugehen. 216 Ob darin ein Widerspruch zur hier vorgeschlagenen Deutung liegt oder nicht, lässt sich nicht abschließend klären; auch das Verhältnis der hier vorgeschlagenen COM(2016) 411/2, 21 ± Erwägungsgrund 12. EuGH, 16.7.2015 ± C-184/14 ± A ./. B.; dazu Rauscher, Unterhaltszuständigkeit zwischen Sorgerechts- und Ehesachenverbund, IPRax 2016, 215. 216 EuGH ± C-184/14, Rn. 46 ± A ./. BÄ'LHVJLOWXPVRPHKUDOVGLH'XUFKIKUXQJGHU Verordnung gem. Art. 24 II erfolgen muss, nach dem bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen das Wohl des Kindes eine vorranJLJH(UZlJXQJVHLQPXVV³ 214 215
B. Grundstrukturen des gewöhnlichen Aufenthalts
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Zweifelsregelung zur Kindeswohlprüfung muss gesondert diskutiert werden.217 Festhalten lässt sich aber, dass eine unionsverfassungsrechtliche Bestimmung, die unter anderem die Anhörung eines Kindes vorschreibt, vom EuGH bereits jetzt als Auslegungshilfe für das EuIPR und EuZVR verwendet wird. Indem er den Gegenstand unmittelbar verbindlichen und auslegungsrelevanten Unionsprimärrechts bildet, erfährt der Kindeswille also einen erheblichen Bedeutungsgewinn. Schließlich ist auch die mögliche Unfähigkeit des Kindes zur Willensbildung ist kein stichhaltiges Argument dafür, den Willen bei der Aufenthaltsbestimmung allgemein abzuwerten. Unabhängig von der Berücksichtigung eines Willenselements muss die Aufenthaltsfeststellung bei Geschäftsunfähigen und Kindern in der Praxis stärker auf normative Kriterien als auf Sac hverhaltselemente abstellen, da die eingangs beschriebenen Indizien sozialer Integration notwendig eine selbstbestimmte Lebensführung voraussetzen. 218 Der gewöhnliche Aufenthalt soll sich gerade dadurch auszeichnen, dass ein Kind gegen den Willen einer faktisch mit der elterlichen Sorge betrauten Person seinen gewöhnlichen Aufenthalt begründen kann. 219 Sofern es eine dahingehende, selbstbestimmte Entscheidung nicht treffen kann, ordnet aber bereits das einschlägige Konventions- und Verordnungsrecht einen Rückgriff auf Hilfskriterien wie das Kindeswohl an 220 oder greift entsprechend Art. 5 Abs. 1 des Haager Erwachsenenschutzübereinkommens anstatt des gewöhnlichen auf den schlichten Aufenthalt zurück. 221 Insofern der gewöhnliche Aufenthalt der Kinder und Geschäftsunfähigen ohnehin eigenen Regeln folgt, 217
S.u. c.). Die in MüKoBGB/Siehr Art. 8 EuEheVO Rn. 6, genannten Kriterien, darunter Ä[...] familiäre Bindungen an die Eltern, einen Elternteil und/oder andere Verwandte, Besuch des örtlichen Kindergartens oder der lokalen Schule sowie Kirche, Freundschaft mit Ki ndern der näheren Umgebung, Aktivität in Sportvereinen oder Jugendverbänden am Ort, .HQQWQLV RGHU (UOHUQHQ GHU LP $XIHQWKDOWVODQG JHVSURFKHQHQ 6SUDFKH³ KlQJHQ DOOHVDPW entweder von der autonomen Entscheidung der Eltern ab, die Kinder sportlich oder kirc hlich zu integrieren, oder sind dem autonomen Entschluss eines Kindes geschuldet, beispielsweise, eine bestimmte Sprache zu lernen. Insofern ist es widersprüchlich, wenn ibid. die objektive Begriffsnatur des gewöhnlichen Aufenthalts betont wird. 219 BGH, 30.11.1983 ± IV b ARZ 50/83 ± NJW 1984, 971; BayObLG, 21.12.1973 ± BayObLGZ 1973, 345; OLG Düsseldorf, 22.7.1993 ± 6 UF 150/92 ± NJW-RR 1994, 5. 220 Zu dessen rechtstheoretischer Konzeption s. Coester, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff, 1983, 133 ff.; ders., Das Kindeswohl als Rechtsbegriff, in: Sechster Deutscher Familiengerichtstag, Brühler Schriften zum Familienrecht, Band 4, 1985, 35 ff. 221 Nach Art. 5 Abs. 1 des Haager Uȋbereinkommens vom 13. Januar 2000 uȋber den internationalen Schutz von Erwachsenen, BGBl. 2007 II, 323, bestimmt der gewöhnliche Aufenthalt über die Behördenzuständigkeit. Zum Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts in diesem Zusammenhang siehe Ludwig, Der Erwachsenenschutz im Internationalen Privatrecht nach Inkrafttreten des Haager Erwachsenenschutzübereinkommens, DNotZ 2009, 251 (264). 218
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kann daraus weder ein Argument für die fehlende Universalität eines Willenselements, noch gegen die Idee eines willenszentrierten Aufenthaltsbegriffs erwachsen. Allenfalls wird man fragen können, welche Konsequenzen der grundlegende Unterschied in der Aufenthaltsfeststellung von Kindern auf die Hypothese einer begrifflichen Identität zwischen dem Aufenthalt von Kindern und Erwachsenen hat. Ihr ist ein späterer Abschnitt gewidmet (3.). (3) Verschwimmen von Aufenthaltsbegriff und Rechtswahl Ein willensakzessorisches Aufenthaltsverständnis begegnet schließlich dem systematischen Einwand, seine Akzeptanz drohe die Unterschiede zwischen objektiver Aufenthaltsanknüpfung und subjektiver Rechtswahl zu nivellieren.222 Solch eine Gefahr besteht insbesondere, wenn der gewöhnliche Aufenthalt eine begrenzte Rechtswahlmöglichkeit konkretisiert.223 Die Annahme eines in seiner Reichweite mit der Rechtswahl vergleichbaren willenszentrierten Aufenthaltsverständnisses erweist sich dann prima facie als zirkulär. Durch die beschränkte Rechtswahl verleiht der Gesetzgeber regelmäßig der Überzeugung Ausdruck, dass er parteiautonome Vereinbarungen über das anwendbare Recht nur begrenzt zulassen möchte. 224 Ginge man dann davon aus, ein selbstbestimmter Aufenthaltswechsel könne für sich genommen als Nachweis eines rechtswahlbeschränkenden gewöhnlichen Aufenthalts genügen, könnten die Parteien die Grenzen einer Rechtswahlmöglichkeit dann je nachdem ausdehnen oder einschränken, wie oft sie willentlich und in der Absicht dauernden Verweilens ihren tatsächlichen Aufenthaltsort verändert haben. 225 So würde der Zweck einer beschränkten Rechtswahl gefährdet, namentlich die Garantie einer engen räumlichen Verbindung zwischen anwendbarem Recht und kollisionsrechtlichem Rechtsverhältnis, 226 der Schutz der verhandlungsschwächeren Partei227 oder das staatliche Interesse an der Regulierung eines räumlich eng mit ihm verbundenen Rechtsgebietes. 228 Hinzu kommt, dass auch der Gesetzgeber Rechtswahlvereinbarungen regelmäßig nur für wirksam erachtet, wenn diese bestimmten Formanforderungen genügen oder zumindest ausdrücklich getroffen wurden. Regelungssystematisch, 222
M. Weller in: Gebauer/Teichmann (Hrsg.), (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, § 8 Rn. 126; MüKoBGB/von Hein Einl. IPR Rn. 153; Symeonides/Hay/Borchards, Conflict of Laws, 5. Auflage 2010, § 4.14. 223 So beispielsweise in Art. 5 Rom I-VO, Art. 5 Rom III-VO, Art. 8 Abs. 1 lit. b) HUP und Art. 22 EuGüVO. So auch MüKoBGB/von Hein Einl. IPR Rn. 153. 224 Kritisch gegenüber den Rechtswahlschranken im Familienrecht (und Erbrecht) Kroll-Ludwigs, Parteiautonomie, 2013, 591 ff. 225 M. Weller in: Gebauer/Teichmann (Hrsg.), (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, § 8 Rn. 126. 226 Kroll-Ludwigs, Parteiautonomie, 2013, 416 ff. 227 Kroll-Ludwigs, Parteiautonomie, 2013, 448 ff. 228 Kroll-Ludwigs, Parteiautonomie, 2013, 524 ff.
B. Grundstrukturen des gewöhnlichen Aufenthalts
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aber auch teleologisch, muss auch eine Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts solch ein Publizitätserfordernis erfüllen. Das ist nicht der Fall, wenn der abstrakte Wille zur Niederlassung an einem Ort ausreicht, um einen Aufenthaltswechsel zu begründen. Derart weitreichende Wirkungen lässt die Berücksichtigung eines Willenselements in der Aufenthaltsbestimmung allerdings kaum erwarten. Im Gegensatz zur Rechtswahl wechselt das anwendbare Recht unter dem gewöhnlichen Aufenthalt nicht infolge einer beidseitigen Vereinbarung oder im Fall des Art. 22 Abs. 1 EuErbVO einer Niederschrift, sondern setzt unabhängig von der Berücksichtigung eines Willenselements eine bereits erfolgte oder auf Dauer angelegte Veränderung des sozialen und beruflichen Umfeldes voraus. 229 Der einzige Unterschied zwischen einem willensbestimmten und einem objektiven Aufenthaltsbegriff liegt darin, dass ein Statutenwechsel je nach der äußerlich erkennbaren Willensrichtung und den Anstrengungen einer Person rascher oder langsamer erfolgt. Damit wird aber weniger die Manipulation von Anknüpfungstatsachen ermöglicht als vielmehr die zeitliche Anknüpfungsgerechtigkeit gefördert. Auch wer seinen gewöhnlichen Aufenthalt zum Zwecke der Zuständigkeits- oder ÄStatutserschleichung³ wechselt, muss Sorge für den Wechsel sämtlicher Äobjektiver³ Anknüpfungstatsachen treffen. Ein objektives oder faktisches Aufenthaltsverständnis verringert oder beseitigt mit anderen Worten nicht von vornherein die Manipulationsgefahr, die einer tatsachenbasierten Bestimmung des anwendbaren Rechts innewohnt. Richtig ist allerdings, dass ein ausschließliches Abstellen auf den natürlichen Niederlassungswillen das Kräftegleichgewicht zwischen einer objektiven Aufenthaltsanknüpfung und der subjektiven Anknüpfung an eine parteiautonome Vereinbarung stört. 230 Während die Rechtswahl ihre Verbindlichkeit zumindest aus den allgemeinen Anforderungen an das Zustandekommen eines Rechtsgeschäfts, regelmäßig aber auch aus weiteren Umständen bezieht, beruht ein willensbasiert bestimmter gewöhnlicher Aufenthalt im Grundsatz zunächst nur auf der schlichten Anwesenheit einer Person im räumlichen Geltungsbereich einer Rechtsordnung. 231 Gegen die hier vorgeschlagene Lösung können die genannten Bedenken aber nicht verfangen.232 Erstens bezweifelt sie gerade nicht, dass ein Aufenthaltswechsel sich vornehmlich in Ansehung äußerlich erkennbarer Faktoren beurteilt. Zweitens führt ein Niederlassungs- oder Umzugswille für sich genommen gerade keinen Aufenthaltswechsel herbei, sondern dient lediglich der Korrektur, der 229
M. Weller in: Gebauer/Teichmann (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, § 8 Rn. 126. Ibid. 231 Ibid.: Ä'HUEORH$XIHQWKDOWDP2UWGHU9HUODXWEDUXQJHLQHVHQWVSUHFKHQGHQQDWUOichen Niederlassungswillens ist als alternative Legitimationsgrundlage zur rechtsgeschäftsUHFKWOLFKDEJHVLFKHUWHQ5HFKWVZDKOHKHUVFKZDFK³ 232 M. Weller in: Gebauer/Teichmann (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, § 8 Rn. 126. 230
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§ 5 Struktur und inhaltliche Grundlinien
Neujustierung und der Legitimation233 derjenigen Kriterien, die in der Literatur und Rechtsprechung bereits aktuell als Indizien einer Aufenthaltsbegründung verwendet werden. Insgesamt erweisen sich die Bedenken, die in der Literatur gegen ein Äwillenszentriertes³ Aufenthaltsverständnis vorgetragen werden, jedenfalls dann als unbedenklich, wenn man den Niederlassungswillen nicht isoliert zur einzigen Voraussetzung für einen Aufenthaltswechsel erklärt, sondern ihn als Bestandteil einer Zweifelsregelung versteht, die in unklaren Fällen die Entscheidung über das ÄOb³ und den Zeitpunkt eines Statutenwechsels erleichtert. In dieser Funktion erweist sich der Wille einem zeitbestimmten Aufenthaltsverständnis nicht nur als konzeptionell überlegen, sondern erscheint auch praktikabler als ein in seinen Einzelheiten unklares und in seiner praktischen Umsetzung mit zahlreichen Unwägbarkeiten verbundenes Festhalten an der Anwesenheitsdauer. cc) Argumente für eine Zweifelsanknüpfung an den Willen (1) Internationalprivatrechtlicher Gerechtigkeitsgewinn Dass sich keine gewichtigen Einwände gegen den Niederlassungswillen finden, liefert freilich noch kein zwingendes Argument für eine Aufwertung des Niederlassungs- und Verweilwillens zum einzigen Gegenstand einer Zweifelsregelung. Wohl aber überwiegen die praktischen Nachteile des Abstellens auf die Aufenthaltsdauer denjenigen einer Bezugnahme auf den Niederlassungswillen. Zu nennen sind erstens die Rechtsunsicherheit kraft fehlender Klarheit, zweitens die Beliebigkeit im Ergebnis und drittens die Gefährdung internationalprivatrechtlicher Anknüpfungsgerechtigkeit. Umgekehrt schließt ein nicht nur Äwillenssensitives³ sondern willensakzessorisches Aufenthaltsverständnis Beweisschwierigkeiten an und erhöht die Kosten bei der Feststellung des anwendbaren Rechts. 233
Beispielsweise liefert der Niederlassungswille eine belastbare Erklärung dafür, warum die herrschende Literatur und Rechtsprechung eine polizeiliche Meldung für ungeeignet hält, um daran die Vermutung eines Aufenthaltswechsels zu knüpfen. Die Nichtvornahme einer Meldung ist jedenfalls in Deutschland nicht mit einer Sanktion verbunden, erfolgt also gerade nicht auf unmittelbaren staatlichen Zwang hin. Trotzdem soll das Vorhandensein einer polizeilichen Meldung keine Rückschlüsse auf das Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts erlauben. Diese Überzeugung wird erst verständlich, wenn man den gewöhnlichen Aufenthalt mit der hier vertretenen Ansicht als willensgeprägten Begriff versteht. Dann ist eine polizeiliche Meldung deswegen ohne Aussagekraft, weil sie ebenso wie die Existenz einer Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis auf keinen autonomen Willensentschluss einer Einzelperson zurückgeführt werden kann. Im Gegenteil genügt eine Einzelperson lediglich ordnungs- und einwanderungsrechtlichen Vorschriften, wenn sie sich erfolgreich um einen Aufenthaltstitel bemüht oder eine polizeiliche Meldung vornimmt. Ob diese Vorschriften sanktionsbewährt sind oder nicht, spielt insoweit zunächst keine Rolle.
B. Grundstrukturen des gewöhnlichen Aufenthalts
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Dem weiterreichenden Vorwurf der Unvorhersehbarkeit kann man begegnen, indem man bei der Definition des Niederlassungswillens unmittelbare Motive, innere Vorbehalte und entfernte Absichten voneinander trennt. Beispielsweise verliert die Ehefrau eines in Deutschland stationierten britischen Soldaten ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Großbritannien auch dann, wenn sie sich über die Dauer von beinahe zehn Jahren in ihre Heimat zurückwünscht, aber keine aktiven Schritte unternimmt, um diesen Wunsch zu realisieren. 234 Gegenüber einer zeitbezogenen Zweifelsregelung beansprucht die hier vertretene Aufwertung eines unmittelbaren oder manifestierten Niederlassungswillens den Vorteil, dass sie auch jenseits Äklarer³ Fälle eine verallgemeinerbare Ergebnisfindung erlaubt. Außerdem würdigt sie die aktive Lebensführung oder Passivität einer Person, anstatt sie durch eine starre Bezugnahme auf eine für sich genommen nur bedingt aussagekräftige Anwesenheitsdauer zu überlagern. Im zuvor besprochenen Fallbeispiel muss man davon ausgehen, dass die Ehegattin des Soldaten dessen Versetzung nach Deutschland nicht beeinflussen konnte, ihr Umzug also nicht durch einen autonomen Willensentschluss, sondern durch ihr familiäres Umfeld bedingt war.235 Dass die Frau den so geschaffenen Zustand duldet, deutet umgekehrt aber an, dass sie die räumliche Nähe zu ihrer Familie über die persönliche Präferenz stellt, in Großbritannien zu leben. Ihr Verbleib in Deutschland dürfte also von einem entsprechenden, wenn auch hinnehmenden Willen getragen sein. Die inneren Motive für ihren Verbleib ± die finanzielle und soziale Abhängigkeit von ihrem Ehemann, ein traditionelles Rollenbild oder der Wille, für ihre Kinder zu sorgen ± spielen nur dann eine Rolle, wenn sie sich in äußerlich erkennbaren Unternehmungen niederschlagen, die auf eine Änderung des aktuellen Lebensumfelds abzielen. Umgekehrt bestünde keine Korrekturmöglichkeit, wenn solche Anstrengungen nicht unternommen worden wären und man Grenzfälle der Aufenthaltsbestimmung über eine zeitbezogene Zweifelsregelung lösen wollte. (2) Publizität und zeitliche Fixierung von Statutenwechseln Ein zweiter Vorteil des Abstellens auf den Niederlassungs- und Verweilwillen liegt darin, dass dieser sich auf den tatsächlichen Aufenthaltswechsel zurückbezieht und damit auf ein regelmäßig einfach feststellbares, transparentes und zeitlich klar fixierbares Kriterium abstellt. Entscheidend ist doch, ob eine Person eine tatsächliche Niederlassung Äin der Absicht gewählt hat, [ihr] Dauer zu verleihen.³236 Die Ermittlung des Niederlassungswillens ist damit zeitlich auf den äußerlich erkennbaren Vorgang des tatsächlichen Ortswech-
234
Fall nach [2014] EWHC 3164 (QB), 6.10.2014. Kritisch daher auch Rentsch, GPR 2015, 191 (196 f.). 236 OGH, 6.7.2009 ± 1 Ob1 ± 15/09g, 4. 235
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§ 5 Struktur und inhaltliche Grundlinien
sels und die im unmittelbaren Vorfeld und Nachgang daran stattfindenden Ereignisse beschränkt. Für diese Lösung spricht auch, dass für trennscharfe Entscheidungen über einen Statutenwechsel im sekundärrechtlichen IPR der Union erkennbar Bedarf besteht. Derzeit arbeiten bis auf eine Ausnahme 237 alle Kollisionsnormen mit unwandelbaren Aufenthaltsanknüpfungen und beziehen den Anknüpfungszeitpunkt damit auf ein in der Vergangenheit liegendes Ereignis zurück. Diese retrospektive Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts erfordert eine klare Aussage darüber, ob und wann ein Statutenwechsel stattgefunden hat. Jedenfalls wenn man ± wofür auch in Anbetracht des Wortlauts des Unionssekundärrechts viel spricht238 ± eine zeitliche Zweifelsregelung nicht auf eine starre Mindestaufenthaltsdauer stützen möchte, sondern sie als Teil einer wertenden Gesamtbetrachtung konstruiert, gewährleistet ein zeitbestimmtes Aufenthaltsverständnis diese Klarheit nicht. Zugegebenermaßen fußt auch die hier bevorzugte Lösung auf einer unbestätigten Hypothese. Diese lautet, dass der Niederlassungswille einer Person sich im Zeitpunkt eines Ortswechsels am deutlichsten manifestiert und ein Statutenwechsel daher vermutungshalber auf den Zeitpunkt der tatsächlichen Niederlassung zurückzubeziehen ist. Sofern ein Rückgriff auf Zweifelsregelungen nötig wird, spricht aber viel dafür, die Willentlichkeitsvermutung mit einer Vermutung des sofortigen Aufenthaltswechsels zu verbinden: In solchen Fällen fehlt es nämlich gerade an anderen Indizien sozialer Integration, die eine Verzögerung des Statutenwechsels rechtfertigen würden. Hinzu kommt, dass die Ermittlung des Niederlassungswillens im Zeitpunkt eines tatsächlichen Ortswechsels regelmäßig die Perspektive einer bestimmten oder unbestimmten Verweildauer einschließt. Das Zeitelement wird also nicht vollständig irrelevant, wechselt aber von der objektiven Ebene der Anwesenheitsdauer auf die subjektive Ebene des dahingehenden Willens, der sich wiederum an objektiv nachweisbaren Lebensumständen belegen lassen muss. (3) Unabhängigkeit von staatlicher Regulierung Den dritten Vorteil einer willensbasierten Zweifelsregelung kann man darin erkennen, dass er eine möglichst weitgehende Unabhängigkeit der Aufenthaltsbestimmung von staatlichen Eingriffen und gesetzlicher Steuerung ermöglicht. Eine Anwesenheit von mehreren Jahren kann eine Vielzahl von Gründen haben. Sie müssen nicht immer der selbstbestimmten Entscheidung einer Person geschuldet sein, ohne dabei die Grenze der Unfreiwilligkeit zu 237
Gemeint ist die flexible Anknüpfung des Art. 3 Abs. 1 HUP; indirekt relevant ist auch Art. 16 KSÜ Allerdings ist im Reformentwurf zur EuEheVO ebenfalls vorgesehen, Art. 8 Abs. 1 EuEheVO durch eine wandelbare Anknüpfung zu ersetzen. 238 Ein Indiz liefert insbesondere Art. 3 Abs. 4 EuInsVO, der den gewöhnlichen Aufenthalt mit Mindestfristen versieht. Dazu unten § 6 A. II. 4. d) aa).
B. Grundstrukturen des gewöhnlichen Aufenthalts
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überschreiten. Häufig ist nicht die Verlegung des tatsächlichen Aufenthaltso rtes, wohl aber der Verbleib dort durch eine Einflussnahme des zuständigen Trägers von Hoheitsgewalt bedingt, die eine Einzelperson in ihrer Entscheidungsfreiheit einschränkt. Dazu gehören beispielsweise Steuernachteile und erhöhte Kontoführungsgebühren infolge einer Verlegung des polizeilichen Wohnsitzes. Dieser Wohnsitz fällt mit dem statistischen Schwerpunkt der Lebensführung zusammen. Der mitgliedstaatliche Gesetzgeber kann das Migrationsverhalten von Einzelpersonen daher durch Anreize oder indirekte Zwänge beeinflussen. Ein autonom-unionsrechtliches Konzept wie der gewöhnliche Aufenthalt sollte sich aber so weit als möglich von solchen indirekten regulatorischen Einflussnahmen lösen. Die vollständige Trennung eines Individuums von seiner rechtlich-administrativen Umwelt ist freilich schwer bis unmöglich; wohl aber lässt sich diese Umwelt besser vom eigentlichen sozialen und familiären Umfeld einer Person trennen, wenn man anstatt der insoweit indifferenten Aufenthaltsdauer den Willen einer Person und die unmittelbaren Motive des Aufenthaltswechsels rekonstruiert. (4) Ergebnis Insgesamt sprechen die Vor- und Nachteile von Willen und Aufenthaltsdauer, sowohl für die eine als auch für die andere Lösung. Nach der hier vertretenen Ansicht genießt eine am Willen des Rechtssubjekts ansetzende Zweifelsregelung aber mehrere praktische und konzeptionelle Vorteile. Zu ihnen gehört insbesondere, dass sie die Aufenthaltsbestimmung so weit als möglich von staatlichen Eingriffen loslöst. Zudem verfangen Argumente nicht, die eine Ausrichtung der Aufenthaltsanknüpfung am Niederlassungswillen in der Sorge um ein Verschwimmen zwischen subjektiver und objektiver Anknüpfung sowie ein Auseinanderfallen von Erwachsenen- und Kindesaufenthalt ablehnen. 3. Die Kindeswohlbindung des gewöhnlichen Aufenthalts Die vorstehenden Überlegungen haben angedeutet, dass das Kindeswohl als Bestandteil einer Zweifelsregelung eine gewisse Rolle spielen kann. Die Arbeit hat an früherer Stelle die Ansicht vertreten, dass die Kindeswohlprüfung und die Berücksichtigung eines Willenselements bei der Aufenthaltsbestimmung einander nicht widersprechen, sondern ineinandergreifen sollten. 239 Dabei ist allerdings offengeblieben, welche Charakteristika das Kindeswohl überhaupt aufweist und inwiefern es auf die Aufenthaltsbestimmung Einfluss nimmt, wenn es nicht durch einen hinreichend aussagekräftigen Kindeswillen abschließend ersetzt wird.
239
S.o. 2. b) bb) (3).
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a) Kindeswohl als Mehrebenenbegriff Dass das Kindeswohl und der gewöhnliche Aufenthalt im Unionsrecht überhaupt in einem Wechselwirkungsverhältnis stehen, ergibt sich aus Erwägungsgrund 12 zur EuEheVO.240 Die Aufenthaltszuständigkeit in Verfahren der elterlichen Sorge (Art. 8 Abs. 1 EuEheVO) soll danach ebenso wie alle anderen Zuständigkeitsbestimmungen im Einklang mit dem Wohle des Kindes ausgelegt werden. Was unter dem Kindeswohl zu verstehen ist, lässt die Verordnung hingegen offen: Weder enthält Art. 2 EuEheVO eine autonome Definition, noch formuliert die Verordnung an anderer Stelle Leitlinien oder sonstige Anhaltspunkte, an denen sich die Kindeswohlbestimmung orientieren kann.241 Damit spricht viel für eine unionsrechtsautonome Auslegung des Begriffs. 242 Literatur und Rechtsprechung zeichnen allerdings ein anderes Bild. Die Rechtsprechung des EuGH 243 verdeutlicht ebenso wie die Überlegungen im Schrifttum zum nationalen Kindeswohlbegriff des Art. 23 Abs. 1 lit. a) EuEheVO, dass bei der Auslegung offener unionsrechtlicher Rechtsbegriffe andere Regelungsebenen nicht nur einbezogen werden können, sondern sollten. 244 Richtigerweise konkretisiert sich der Kindeswohlbegriff der EuEheVO also sowohl durch völkerrechtliche Standards als auch durch den acquis der nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten. 245 b) Offenheit des Kindeswohlbegriffs Was den Inhalt des Kindeswohlbegriffs angeht, lassen sich rechtsvergleichend die folgenden gemeinsamen Eckpunkte erkennen: Erstens erfüllt das Kindeswohl eine Doppelfunktion. Einerseits dient es als Legitimationsgrundlage für staatliche Eingriffe in den Familienverbund, 246 andererseits steuert es als materieller Maßstab das richterliche Entscheidungs- und Auswahlermessen bei Ausübung seiner Eingriffsbefugnis. 247
240
Dazu ausführlicher unten § 6 A. II. 1. MüKoBGB/Siehr Art. 23 EuEheVO Rn. 3. 242 EuGH ± C-327/82, Rn. 11 ± Ekro ± Slg. 1984, 107 sowie EuGH ± C-98/07, Rn. 17 ± Nordania Finans ./. BG Factoring ± Slg. 2008, I-1281. 243 S.o. § 5 B. II. 2. b) bb) (2) (F). 244 S.o. § 5 B. II. 2. b) bb) (2) (F) sowie mit weiteren Argumenten MüKoBGB/Siehr Art. 23 EuEheVO Rn. 3; Geimer/Schütze/Paraschas Art. 23 EuEheVO Rn. 7; MüKoZPO/Gottwald Art. 23 EuEheVO Rn. 2. 245 Rechtsvergleichender Befund bei Coester, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff, 1983, 9 ff. 246 Bezogen auf das Kindeswohl im (deutschen) Scheidungsrecht (§ 1671 Abs. 2 BGB) vgl. Coester, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff, 1983, 135 ff. 247 Coester, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff, 1983, 142 f. 241
B. Grundstrukturen des gewöhnlichen Aufenthalts
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Zweitens ist ungeklärt, worin diese Steuerung konkret besteht und an welchen Kriterien sie sich orientieren soll.248 Im Grundsatz erscheint es gleichermaßen möglich, das Kindeswohl analog zur Referenz auf Verkehrssitten und Handelsbräuche (§§ 133, 157 BGB, 346 HGB) 249 als Verweis auf einen rechtsdogmatisch nicht fassbaren Entscheidungsmaßstab 250 oder als schlichten Appell an die freie richterliche Entscheidung zu verstehen. 251 Coester möchte das Kindeswohl anders erfassen. Er definiert es als Äpositiven Standard³252, dessen maßstabgebender Inhalt sich unabhängig vom Einzelfall aus seinem systematischen Umfeld ergeben soll. 253 So verstanden wird der Kindeswohlbegriff der EuEheVO also ebenfalls durch sein Normumfeld und den dahinterstehenden Zweck konkretisiert. Was dem Kindeswohl dient und was ihm schadet, muss sich also innerhalb des oben beschriebenen staatsvertraglichen und unionsprimärrechtlichen Rahmens 254 zuallererst aus dem normativen Kontext ergeben. c) Aufenthaltsbestimmung als Kindeswohlprüfung Wie sich das Zusammenspiel zwischen Kindeswohlprüfung und Aufenthaltsermittlung gestaltet, ist damit noch offen. Gemessen an den gerade skizzierten Überlegungen wird man weniger dem Kindeswohl eine konkretisierende Wirkung für den gewöhnlichen Aufenthalt zuerkennen können als vielmehr umgekehrt den gewöhnlichen Aufenthalt als Mittel zur Wahrung des Kindeswohls verstehen müssen. Für solch eine Äumgekehrte³ Konkretisierungsfunktion spricht auch die Entwicklungsgeschichte des gewöhnlichen Aufenthalts. Traditionell hat sich der Begriff als Schutzanknüpfung bewährt. Das wird insbesondere aus den Verhandlungen zum Unterhaltsübereinkommen deutlich. Hier gilt der gewöhnliche Aufenthalt seiner offenen Begriffsstruktur wie auch seiner selbstständigen Ermittlung wegen als Sicherungsmechanismus des Kindeswohls.255 Sofern man diese besondere Indienststellung auch für das Unionsrecht annimmt, steht einmal mehr die Frage im Raum, ob der Kindesaufenthalt vom allgemeinen Aufenthaltsbegriff getrennt werden muss. Dagegen spricht die Entwicklungsgeschichte der Aufenthaltsanknüpfung: Dort entwickelt sich der 248 Unterschiedliche Modelle für das Verhältnis von Richter und Rechtsnorm diskutiert Coester, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff, 1983, 143 ff. 249 Beispiele bei Coester, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff, 1983, 163. 250 Kritik bei Coester, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff, 1983, 164 f. 251 Zu eben dieser Handhabung des Begriffs in den USA und den Problemen der Übertragbarkeit auf die deutsche (und andere kontinentaleuropäische) Rechtsordnung(en) Coester, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff, 1983, 165 f. 252 Coester, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff, 1983, 171. 253 Coester, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff, 1983, 172 f. 254 S.o. § 5 B. II. 2. b) bb) (2) (F). 255 S.o. § 4 III. 4. b) dd) (4).
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Begriff vom kinderschutzspezifischen Sondermodell zur allgemeinen, rechtssubjektunspezifischen Grundanknüpfung für Unterhaltsansprüche. 256 Eine besondere Zweckbindung für Kinder wird namentlich durch das Haager Unterhaltsübereinkommen von 1973 aufgegeben, das Kinder und Erwachsene in dieselbe Generalnorm einschließt. Dass die Kindeswohlbindung praktische Unterschiede in der Konkretisierung des gewöhnlichen Aufenthalts erzeugen kann, lässt sich jenseits dessen aber nicht von der Hand weisen. Zunächst erscheint das wesentliche Charakteristikum der Aufenthaltsanknüpfung, die selbstständige und unabhängige Ermittlung, bei Kindern problematisch. So sich ein selbstständiger Kindeswille nicht mit ausreichender Eindeutigkeit ermitteln lässt, werden soziale Tatsachen relevant, die das Kind nicht beeinflussen kann. Dazu gehört einerseits der Wohnort der Eltern, andererseits der damit regelmäßig zusammenfallende Ort, an dem die Kinder die Schule oder den Kindergarten besuchen. Auch das Lebensumfeld desjenigen Elternteils, der unabhängig vom Sorgerecht tatsächlich die elterliche Sorge übernimmt, prägt den gewöhnlichen Aufenthalt eines Kleinkindes oder Säuglings faktisch vor.257 Sofern man fremdbestimmten Anknüpfungstatsachen die Relevanz bei der Aufenthaltsbestimmung von Kindern absprechen möchte, entsteht ein Folgeproblem. Dann ist man für die Konkretisierung des Begriffs auf selbstständige Wertungen des zuständigen Gerichts angewiesen. Diese Wertungen werden mit dem Kindeswohl erstens in eine griffige Formel gegossen. Zweitens kann die Kindeswohlbindung gerade im Kontext der EuEheVO dafür sorgen, dass das richterliche Ermessen in Ermangelung aussagekräftiger Sachverhaltselemente nicht in den nationalen Wertvorstellungen verhaftet bleibt, 258 sondern sich an Grundsätzen des europäischen und internationalen Kinderschutzrechts orientiert. Im Idealfall könnte dieser inter- oder supranationale Maßstab bei der Zuständigkeitsbestimmung sogar dazu beitragen, Kompetenzkonflikte zwischen den Mitgliedstaaten zu vermeiden.259 Auch wenn man sich anders entscheidet und den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes faktisch akzessorisch zu dem des Sorge tragenden Elternteils bestimmen möchte, kann das Kindeswohl eine Entscheidungshilfe bieten. Erstens bietet es eine Legitimationsgrundlage für die faktisch akzessorische Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern, die es zu vermeiden gilt. Zweitens kann das Kindeswohl die Zuordnung erleichtern, wenn die Lebensmittelpunkte der Eltern an unterschiedlichen Orten liegen und unklar ist, welcher der mögli256
S.o. II. 4. b) dd) (4). So ist es in den unten genannten Beispielen EuGH, 22.12.2010 ± C-497/10 PPU ± Mercredi ./. Chaffe sowie UKSC, LC Hilary Term [2014] UKSC 1. 258 Zu deren Problemen Coester, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff, 1983, 176 ff. 259 Die Praxis ist freilich eine andere, s. EuGH, 19.11.2015 ± C-455/15 PPU, Rn. 21 f. ± P ./. Q. Im Fall eines grenzüberschreitenden Kindesumzugs erklären sich regelmäßig die Gerichte aller beteiligten Mitgliedstaaten für zuständig. 257
B. Grundstrukturen des gewöhnlichen Aufenthalts
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chen gewöhnlichen Aufenthalte über die Zuordnung entscheiden soll. In dieser Funktion ersetzt das Kindeswohl also eine Analogiebildung zur akzessorischen Wohnsitzbestimmung durch eine selbstständige und einzelfallgerechte Entscheidungsmöglichkeit der zuständigen Stelle. Zusammengefasst stehen Kindeswohl und gewöhnlicher Aufenthalt in einem Wechselwirkungsverhältnis. Einerseits bildet der gewöhnliche Aufenthalt einen Bestandteil der Kindeswohlprüfung. Andererseits hilft das Kindeswohl bei der Aufenthaltsanknüpfung über einen Mangel an aussagekräftigen Sachverhaltselementen hinweg. Bei seiner Feststellung wird entweder auf das Lebensumfeld des sorgetragenden Elternteils Bezug genommen oder es wird sichergestellt, dass eine selbstständige Aufenthaltsbestimmung nicht im Wertungsgerüst des nationalen Familienrechts verhaftet bleibt und die Stereotypen und Grundentscheidungen dieser Ordnung unkritisch weiterträgt. III. Zwischenergebnis und offene Fragen Der letzte Arbeitsschritt hat im Anschluss an die historische Rekonstruktion des gewöhnlichen Aufenthalts (§ 4) den Versuch unternommen, offene Fragen um den Begriff zu identifizieren und sie unabhängig von der rechtspraktischen Handhabung der Aufenthaltsanknüpfung einer vorläufigen Lösung zuzuführen. Zunächst wurde die Ansicht begründet, dass der gewöhnliche Aufenthalt nicht als Tatsachen-, sondern als Rechtsbegriff verstanden werden sollte (A. III.). Sodann hat die Arbeit sich darum bemüht, dem Tatbestandsmerkmal der Äsozialen Integration³ grobe Konturen zu verleihen (B. II.). Die konzeptionelle Frage, ob die für die Aufenthaltsbestimmung vorgeschlagenen Integrationsindizien schlussendlich einem allumfassenden Niederlassungs- oder Bleibewillen Ausdruck verleihen, hat die Arbeit ebenfalls unbeantwortet gelassen. Stattdessen hat sie sich auf Fälle konzentriert, in denen die Lokalisierung des gewöhnlichen Aufenthalts, besser: die Feststellung eines Aufenthaltswechsels, Probleme bereitet. Speziell für solche Konstellationen hat die Arbeit sich auf die Suche nach geeigneten Kriterien begeben (B. II. 2.). Die Anwesenheitsdauer hat die Arbeit für sich genommen als ungeeignet erachtet, um den gewöhnlichen Aufenthalt in Pattsituationen zu bestimmen (B. II. 2. a). Erstens lässt sich aus der Entwicklungsgeschichte des gewöhnlichen Aufenthalts parallel zu dessen Bedeutungszuwachs im autonomen IPR eine Verschiebung in der Wortbedeutung von der Verweildauer zu normativen oder gar subjektiven Elementen beobachten (B. II. 2. a) aa)). Zweitens schmälert die Abwesenheit eines rechtsvergleichenden Konsenses über die notwendige Länge der Aufenthaltsdauer den Nutzen des Zeitelements als Gegenstand einer Zweifelsregelung. Drittens gibt die Aufenthaltsdauer für sich genommen keine Auskunft über die Freiwilligkeit der Anwesenheit an einem
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§ 5 Struktur und inhaltliche Grundlinien
Ort, obwohl diese eine zwingende Voraussetzung für den Wechsel eines gewöhnlichen Aufenthalts darstellen sollte (B. II. 2. b) aa) (1)). Der generellen Absage an den Nutzen eines selbstständigen Zeitelements zum Trotz hat die Arbeit festgestellt, dass eine Trägheits- oder Kontinuitätsvermutung für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts von großem Nutzen sein kann (B. II. 2. b) cc)). Bei Lichte besehen wird die Lokalisierung des gewöhnlichen Aufenthalts immer nur im Rahmen der Frage eines Aufenthaltswechsels relevant. Gerade hierfür ist der Niederlassungswille von größerem Nutzen als die Anwesenheitsdauer, wenngleich seine Aufwertung derzeit noch grundlegenden Bedenken begegnet. Die Arbeit hat sich zunächst darum bemüht, vorhandene Argumente gegen den Nutzen eines Willenselements bei der Aufenthaltsbestimmung zu relativieren (B. II. 2. b) bb)). Anschließend hat sie selbstständige Überlegungen zum Nutzen eines Willenselements bei der Aufenthaltsbestimmung in Zweifelsfällen entwickelt (B. II. 2. b) cc)). Abschließend hat sie sich mit den Wechselwirkungen zwischen Aufenthaltsanknüpfung und Kindeswohlprüfung beschäftigt (B. II. 3.) Sie ist zur Feststellung gelangt, dass nicht nur der gewöhnliche Aufenthalt die Wahrung des Kindeswohls sicherstellt, sondern umgekehrt auch die Kindeswohlprüfung Sachverhaltsschwierigkeiten bei der Aufenthaltsfeststellung bei Kindern überwinden kann. Mit diesen abstrakten Feststellungen kann die Arbeit sich nicht begnügen. Erstens ist unklar, ob und inwieweit das vorstehend skizzierte dogmatische Gerüst des gewöhnlichen Aufenthalts durch die Rechts- und Gesetzgebungspraxis bestätigt und inwieweit es umgekehrt auch relativiert wird. Zweitens ist offen, inwieweit die Regelungssystematik, aber auch das allgemeine Kompetenzgefüge des Unionsrechts auf den gewöhnlichen Aufenthalt einwirken. Zudem fehlen Überlegungen zur Kernfrage der vorliegenden Arbeit. Sie lautet, ob und wie im Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts zu differenzieren ist. Der letzte Abschnitt hat darauf hingewiesen, dass diese Frage mit der nach der Begriffs- oder Rechtsnatur in einem Zusammenhang steht. Ob die Aufenthaltsermittlung eine richterliche Wertungsentscheidung erfordert und welche Kriterien diese Entscheidung bestimmen sollten, lässt sich aber ebenso wie die nach der Begriffsdifferenzierung nur in Ansehung von Systematik und Telos des sekundärrechtlichen EuIPR und EuIZVR beantworten. Die erste und zweite Frage werden den Gegenstand des folgenden Arbeitsschrittes bilden (§ 9). Die dritte Frage kann dagegen erst am Ende der vorliegenden Arbeit beantwortet werden (§ 10).
C. Thesen
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C. Thesen C. Thesen
1. Die bewährte Bezeichnung des gewöhnlichen Aufenthalts als ÄTatsachenbegriff³ muss im Lichte der historischen Entwicklung des Begriffs als dezentraler Sicherungsmechanismus einer autonomen Auslegung eingeordnet werden. Da die Notwendigkeit solcher Sicherungen im institutionellen Gefüge der Europäischen Union entfällt, hat die Bezeichnung aktuell keinen unmittelbaren Aussagewert für die dogmatische Einordnung des Begriffs. 2. Inwieweit die Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts auf normative Erwägungen angewiesen ist, ist unmittelbar mit der Frage verbunden, ob und inwieweit im Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts zu differenzieren ist. 3. Begründung und Wechsel eines gewöhnlichen Aufenthalts setzen die tatsächliche Präsenz an einem Ort sowie die soziale Integration in die dortige Gesellschaft und Rechtsordnung voraus. Statusrechtlich verstetigte Integrationsindizien sind für die Aufenthaltsbestimmung im Unionsrecht jedenfalls dann untauglich, wenn sie nicht den Gegenstand eines unionsweiten Harmonisierungsvorhabens bilden, mithin der mitgliedstaatlichen Regelungsautonomie zufallen. 4. Argumente, die bislang gegen eine entscheidende Rolle des Niederlassungswillens vorgebracht wurden, können nicht verfangen. a) Der Gedanke eines geschäftsähnlichen Niederlassungswillens ist überholt. Ein natürlicher Niederlassungswille ist weitaus unproblematischer festzustellen. b) Ein willensakzessorisches Aufenthaltsverständnis führt nicht zwingend zu einer begrifflichen Spaltung der Aufenthaltsermittlung bei Kindern und Erwachsenen. Einerseits muss ein natürlicher Kindeswille so weit als möglich berücksichtigt werden; andererseits findet jenseits der Willensbildungsfähi gkeit von Kindern eine faktisch-akzessorische Aufenthaltsbestimmung in Ansehung der Lebensverhältnisse der Eltern statt. c) Ein Verschwimmen von Aufenthaltsanknüpfung und Parteiautonomie ist nicht zu erwarten. Einerseits erfordert die Rechtswahl eine Einigung oder Verschriftlichung, während ein Aufenthaltswechsel einen einseitigen autonomen Willensentschluss voraussetzt. Andererseits erfordert ein Aufenthaltswechsel eine objektive Willensmanifestation und tatsächliche Niederlassung, der eine Rechtswahl entbehrlich werden lässt. 5. In Zweifelsfällen muss sich der gewöhnliche Aufenthalt in Ansehung des Niederlassungswillens einer Person bestimmen. a) Da sich die Ermittlung des Niederlassungswillens auf den Zeitpunkt des tatsächlichen Ortswechsels bezieht, lässt sich ein Statutenwechsel im Gegen-
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§ 5 Struktur und inhaltliche Grundlinien
satz zu einem Rückgriff auf die Aufenthaltsdauer anhand eines äußerlich erkennbaren Vorgangs nachvollziehen. b) Im Gegensatz zur Verweildauer erlaubt eine Berücksichtigung des Niederlassungswillens eine Trennung autonomer und sozialer Motive und äußerlicher (rechtlicher) Rahmenbedingungen bei der Überprüfung der sozialen Integration einer Person. 6. Aufenthaltsanknüpfung und Kindeswohlprüfung wirken wechselweise aufeinander ein. Die Aufenthaltsanknüpfung ermöglicht im Gegensatz zu anderen Anknüpfungsmomenten eine selbstständige Überprüfung des sozialen Umfelds eines Kindes. Der Kindeswohlbegriff legitimiert umgekehrt eine selbstständige richterliche Wertungsentscheidung, wenn ein faktisches Abstellen auf die soziale Integration eines Elternteils unangemessen erscheint.
§ 6 Konturen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs § 6 Konturen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs
Der letzte Abschnitt hat abstrakt die Konturen des gewöhnlichen Aufenthalts skizziert. Er hat auch diskutiert, welche Kriterien sich bei der Aufenthaltsb estimmung abstrakt als mehr oder weniger geeignet erweisen. Die nachfolgenden Überlegungen sind konkreten Definitions- und Umschreibungsversuchen gewidmet, die dem gewöhnlichen Aufenthalt in der Vergangenheit Konturen verliehen haben.
A. Legaldefinitionen und Umschreibungen des gewöhnlichen Aufenthalts A. Legaldefinitionen und Umschreibungen
Vorhandene Legaldefinitionen des gewöhnlichen Aufenthalts erlauben zwei unterschiedliche Arten der Abschichtung. Erstens finden sich Versuche, den Begriffsinhalt des gewöhnlichen Aufenthalts für alle Anwendungsgebiete, also rechtsgebietsübergreifend, einheitlich zu bestimmen. Weitaus häufiger wird der gewöhnliche Aufenthalt für ein konkretes Rechtsgebiet oder Teile dieses Rechtsgebiets definiert. Zweitens sind Definitionsversuche auf völkerrechtlicher Ebene (I.) von nationalen Legaldefinitionen (II.) zu unterscheiden. I. Völkerrechtliche Definitionsversuche Umfassende Definitionsvorhaben werden ausschließlich im Völkerrecht unternommen. 1. Entschließung des Europarates vom 18.2.1972 Das einzige Beispiel für eine geglückte rechtsgebietsübergreifende Aufenthaltsdefinition liefert die Entschließung des Ministerkomitees des Europarates zur Vereinheitlichung der Rechtsbegriffe ÄWohnsitz³ und ÄAufenthalt³ vom 18.1.1972.1 1
Abgedruckt in amtlicher Fassung (englisch/französisch) in Annuaire Européen 20 (1974), 320; englische Fassung mit Motivbericht in NILR 20 (1973), 213; deutsche Über-
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§ 6 Konturen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs
a) Rechtsnatur Bei der Entschließung handelt es sich um eine nicht rechtsverbindliche Resolution.2 Dem Ministerrat des Europarates fehlt die Kompetenz zum Erlass von Sekundärrechtsakten, die für eine verbindliche Harmonisierung zentraler Begriffe des nationalen Rechts der Mitgliedstaaten notwendig wäre. 3 b) Inhalt aa) Charakteristika des gewöhnlichen Aufenthalts Die Entschließung beschreibt mehrere Charakteristika, die bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts beachtet werden sollten. Konkret soll der Begriff Ärein tatsächlich³ und damit unabhängig von einer Aufenthaltserlaubnis oder einem anderen Nachweis über die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts bestimmt werden (Nr. 7). Inhaltlich soll der Aufenthaltserwerb einen Verbleib von nicht zwingender Kontinuität, aber gewisser Dauer an einem bestimmten Ort voraussetzen (Nr. 8). Gegenüber dem Äschlichten³ soll sich der Ägewöhnliche³ Aufenthalt durch persönliche oder berufliche Bindungen einer Person auszeichnen, die auf einen gewissen Grad sozialer Integration schließen lassen (Nr. 9). Die Freiwilligkeit der Aufenthaltsbegründung soll im Rahmen der Feststellung sozialer Integration grundsätzlich keine Rolle spielen; allerdings soll der Wille, sich dauerhaft an einem Ort niederzulassen, im Einzelfall in die Bestimmung miteinbezogen werden können (Nr. 10). Schließlich soll die Aufenthaltsbestimmung für jede Person individuell erfolgen. Der gewöhnliche Aufenthalt einer abhängigen Person soll also ± im Gegensatz zum Wohnsitz ± nicht abgeleitet von anderen Personen bestimmt werden (Nr. 11).4 setzung (nicht amtlich) durch Loewe, ÖJZ 1974, 144; Nachw. bei Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 29. Besprechung bei Raape/Sturm, IPR, Band 1, 6. Auflage 1977, 118 f. 2 Rechtsgrundlage der Empfehlung ist Art. E GHV6WDWXWVGHV(XURSDUDWHVÄb) In appropriate cases, the conclusions of the Committee may take the form of recommendations to the Governments of Members, and the Committee may request the Governments of Members to inform it RIWKHDFWLRQWDNHQE\WKHPZLWKUHJDUGWRVXFKUHFRPPHQGDWLRQV³ 3 (LQHYHUELQGOLFKH)HVWOHJXQJGHU%HJULIIHÄ:RKQVLW]³XQGÄJHZ|KQOLFKHU$XIHQWKDOW³ hätte wahrscheinlich auch Reibungen mit anderweitigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten des Europarates erzeugt und die Kohärenz der Auslegung und Anwendung internationaler Verträge gefährdet, in denen einer der beiden Begriffe Verwendung findet. Ä1U 7. Der Aufenthalt einer Person bestimmt sich ausschließlich nach tatsächlichen Umständen; er hängt nicht von einer Aufenthaltserlaubnis ab. Nr. 8. Eine Person hat einen Aufenthalt in einem Land, in dem eine bestimmte Rechtsordnung gilt, oder an einem Ort, der in einem solchen Land liegt, wenn sie dort während eines gewissen Zeitraums wohnt. Die Anwesenheit muß nicht notwendigerweise ununterbrochen andauern.
A. Legaldefinitionen und Umschreibungen
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Im Ergebnis setzt die Entschließung also drei wesentliche Charakteristika des gewöhnlichen Aufenthalts fest: erstens seine Tatsachenakzessorietät oder Faktizität, zweitens seine individuelle Bestimmung und drittens seine Unabhängigkeit von anderen Rechtslagen und Statusverhältnissen, wie dem Vorhandensein einer aufenthaltsrechtlichen Bleibeerlaubnis oder dem Bestehen eines elterlichen Sorgerechts. bb) Definitionsqualität Inhaltlich entspricht die Entschließung des Europarates weniger einer Legaldefinition des gewöhnlichen Aufenthalts als vielmehr einer lockeren Umschreibung des Begriffs. 5 Anstatt den gewöhnlichen Aufenthalt in eine mit der Wohnsitzdefinition des § 7 Abs. 1 BGB vergleichbare, abstrakte und subsumtionsfähige Formel zu gießen, hebt sie einzelne Aspekte des Aufenthaltsbegriffs hervor, die bereits diskutiert wurden. Der Entschluss, den gewöhnlichen Aufenthalt durch eine allgemein verbindliche Umschreibung handhabbar zu machen, ist für sich genommen positiv zu bewerten. 6 Trotzdem wird die Resolution ihrer fehlenden definitorischen Schärfe wegen aber gemeinhin als zu unbestimmt kritisiert. Das konsensfähige Substrat der Entschließung beschränkt sich in der Tat auf offensichtlich erscheinende Eckdaten des Aufenthaltsbegriffs, die für sich genommen aber nicht umstritten sind. Eine Weiterentwicklung und Konturierung des Aufenthaltsbegriffs hätte dagegen Zweifelsregelungen erfordert, die Klarheit über das Verhältnis der unterschiedlichen begrifflichen Komponenten des gewöhnlichen Aufenthalts schaffen. Dass dies nicht unternommen wurde, lässt sich sich allerdings mit Hinweis auf die Kompetenzgrenzen des Europarates und den quasi-universellen Anwendungsbereich der Resolution entschuldigen.
Nr. 9. Für die Frage, ob ein Aufenthalt als gewöhnlicher Aufenthalt anzusehen ist, sind die Dauer und die Beständigkeit des Aufenthalts sowie andere Umstände persönlicher oder beruflicher Art zu berücksichtigen, die dauerhafte Beziehungen zwischen einer Person und ihrem Aufenthalt anzeigen. Nr. 10. Die freiwillige Begründung eines Aufenthalts und die Absicht des Betreffenden, diesen Aufenthalt beizubehalten, sind keine Voraussetzungen für das Bestehen eines Aufenthalts oder eines gewöhnlichen Aufenthalts. Die Absichten der Person können aber bei der Bestimmung, ob sie einen Aufenthalt hat und welcher Art dieser Aufenthalt ist, berücksichtigt werden. Nr. 11. Der Aufenthalt oder der gewöhnliche Aufenthalt einer Person hängt nicht von GHP HLQHU DQGHUHQ 3HUVRQ DE³ =XVDPPHQIDVVXQJ DXFK EHL Raape/Sturm, IPR, Band 1, 6. Auflage 1977, 118 f. 5 Diese Einschätzung teilen unter anderem Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 32; Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 113. 6 So auch Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 32, Nachw. Fn. 27.
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§ 6 Konturen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs
c) Rezeption und Weiterentwicklung Vor dem beschriebenen Hintergrund überrascht es nicht, dass die Resolution bislang bei der Auslegung und Anwendung des gewöhnlichen Aufenthalts, aber auch bei der Ausarbeitung von Legaldefinitionen nur selten ausdrücklich berücksichtigt wurde.7 Ob und inwieweit die Resolution indirekt die Grundlage für heutige Legaldefinitionen und Umschreibungen des gewöhnlichen Aufenthalts bildet, soll im Folgenden erläutert werden. aa) Schwache Rezeption in der Union Im Unionsrecht wurden direkte Anleihen aus der Entschließung des Ministerrates bislang ausdrücklich abgelehnt. Die dazu ergangene Entscheidung des EuGH 8 betraf den Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl. 9 Gemäß Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses entscheidet hier das ÄSich-Aufenthalten³ darüber, ob ein EU-Mitgliedstaat einen ausländischen Haftbefehl vollstrecken muss oder ablehnen kann. 10 Das OLG Stuttgart11 legte dem Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 AEUV die Frage vor, wie beide Tatbestandsmerkmale zu verstehen seien. Die Zweifel kamen auf, weil eine Person sich vor ihrer Inhaftierung in Deutschland nur vorübergehend und illegal dort aufgehalten hatte. Während dieser Zeit hatte sie ihren Lebensunterhalt vornehmlich aus der Begehung von Straftaten bestritten. 12 Der Vorlagebeschluss des Oberlandesgerichts ist von der Überzeugung getragen, dass die Entschließung des Europarates als Grundlage für ein europäisches Wohnsitz- und Aufenthaltsverständnis herangezogen werden kann. Die Schlussanträge des Generalanwalts Bot vom 28.4.2008 zur bereits ge7 Burghaus, Die Vereinheitlichung des internationalen Ehegüterrechts in Europa, 2010, 162. Eine Ausnahme bilden insoweit die Definitionsversuche im Rahmen der Haager Konferenz, die aber nie in geltendes Recht transformiert wurden. Insoweit fehlt es also an einer praktischen Relevanz. 8 EuGH, 17.7.2008 ± C-66/08 ± Kozlowski. 9 Rahmenbeschluss 2002/584/JI. 10 EuGH ± C-66/08 ± Kozlowski, Schlussanträge des Generalanwalts Bot, Rn. 17 f. 6WUHQJJHQRPPHQLVWQLFKWGHUJHZ|KQOLFKH$XIHQWKDOWVRQGHUQGDVÄ6LFK-$XIKDOWHQ³LP Vollstreckungsstaat erforderlich, der entscheidende Konnex wird erst durch das vorlegende OLG Stuttgart hergestellt. 11 OLG Stuttgart, 14.2.2008 ± 7 U 200/07 ± NJW-RR 2008, 1204. 12 :LHÄG>LH@8QWHUEUHFKXQJHQGHV$XIHQWKDOWVGHV+HUUQ.R]áRZVNLLQ'HXWVFKODQGLQ der Weihnachtspause 2005 und möglicherweise im Juni 2005 und Februar und März 2006; G>LH@ 7DWVDFKH GDVV +HUU 0 .R]áRZVNL GUHL 0RQDWH QDFKVHLQHU (LQUHLVH QDFK 'HXWVF hland dort nicht erwerbstätig war und sich den Unterhaltsbedarf im Wesentlichen durch Straftaten verschaffte, so dass die Rechtmäßigkeit seines Aufenthalts fragwürdig erscheint; d[ie] 7DWVDFKHGDVVVLFK+HUU.R]áRZVNLLQ6WUDIKDIWEHILQGHW³]XZUGLJHQVHLHQ1DFKZ s. die Schlussanträge des Generalanwalts Bot, Rn. 36; EuGH, 17.7.2008 ± C-66/08, Rn. 26 ± Kozlowski, sowie OLG Stuttgart ± 7 U 200/07, Rn. 22 ± NJW-RR 2008, 1204.
A. Legaldefinitionen und Umschreibungen
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nannten Rechtssache Kozlowski sprechen sich dagegen explizit gegen eine unmittelbare Übertragbarkeit der in der Entschließung formulierten Leitlinien aus. 13 Allenfalls könne die Resolution eine Ägewisse Berücksichtigung³ erfahren. 14 Richtigerweise lässt sich eine Einbeziehung angesichts der eindeutig ablehnenden Gesetzgebungs- und Rechtspraxis in den Mitgliedstaaten und der schwachen Rezeption der Entschließung auch nicht rechtfertigen. Das gilt jedenfalls dann, wenn man davon ausgeht, dass sich die Pflicht zur Berücksichtigung der Resolution letztlich aus dem Art. 6 Abs. 3 EUV zugrundeliegenden Gedanken wertender Rechtsvergleichung ergibt. Für rechtsvergleichende Bezüge ist richtigerweise kein Raum, wenn keiner der nationalen Gesetzgeber sich aktiv zu einem völkerrechtlichen Instrument bekennt. Die Entscheidung des EuGH thematisiert die Frage nach der Leitbildfunktion der Entschließung nicht. Dass der Gerichtshof ausdrücklich betont, dass es sich bei den Begriffen des Wohnsitzes und des Aufenthalts im Sinne der Regelung um autonom-unionsrechtliche Konzepte handelt, spricht dafür, dass er die Grundannahme des Generalanwaltes implizit übernimmt. Die Aussagen zum Inhalt des gewöhnlichen Aufenthalts bestätigen diesen Eindruck. Obwohl die Subsumtionsleistung selbst eine große Nähe zu Gliederungspunkt Nr. 9 der Resolution erkennen lässt, 15 teilt der EuGH die Überlegung des Vorlagegerichts, dass das Fehlen einer Aufenthaltserlaubnis einem gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland im Zweifel entgegenstehen soll. 16 Gliederungspunkt 7 der Entschließung des Europarates spricht dem Vorliegen einer Aufenthaltserlaubnis demgegenüber jedwede Relevanz ab.17 bb) Starke Rezeption in den Mitgliedstaaten Ein Blick auf das IPR einiger EU-Mitgliedstaaten zeichnet ein positiveres Bild von der Rezeption der Resolution. Während lange Zeit Österreich der einzige Mitgliedstaat des Europarates zu sein schien, in dem die Entschließung unmittelbar übernommen wurde (s.u. (1)),18 beziehen sich mittlerweile 13 EuGH ± C-66/08 ± Kozlowski, Schlussanträge des Generalanwalts Bot, BeckEuRS 2008, 494617. 14 Ibid. 15 EuGH ± C-66/08 ± Kozlowski5QÄ+LHU]XLVWIHVW]XVWHOOHQGDVVHLQH3HUVRQZLH der im Ausgangsverfahren Betroffene im Hinblick auf mehrere der Kriterien, die das vorlegende Gericht für die Kennzeichnung der Situation dieser Person anführt, insbesondere die Dauer, die Art und die Bedingungen ihres Verweilens sowie fehlende familiäre und sehr schwache wirtschaftliche Bindungen zum Vollstreckungsmitgliedstaat, nicht als unter GHQ%HJULIIÃVLFKDXIKlOWµ im Sinne des Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses fallend angeVHKHQZHUGHQNDQQ³ 16 Ibid. sowie Rn. 50. 17 Ä'HU $XIHQWKDOW HLQHU 3HUVRQ EHVWLPPW VLch ausschließlich nach tatsächlichen UmVWlQGHQHUKlQJWQLFKWYRQHLQHU$XIHQWKDOWVHUODXEQLVDE³ 18 So noch Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 31.
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§ 6 Konturen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs
auch die neu geschaffenen IPR-Gesetze Belgiens (2004), 19 Bulgariens (2005)20 und Rumäniens (2011)21 in der Erläuterung ihrer Legaldefinitionen des gewöhnlichen Aufenthalts 22 nicht nur auf die EuGH-Rechtsprechung, sondern auch auf die Resolution des Europarates (s.u. (2)). (1) Österreich In Österreich wurde die Entschließung des Europarates in der Zivilverfahrensnovelle von 1983 unmittelbar in § 66 Abs. 2 JN implementiert. 23 Der gewöhnliche Aufenthalt erfüllt hier de lege lata eine zentrale Funktion: Alternativ zum Wohnsitz dient er der Bestimmung des allgemeinen Gerichtsstands. 24 Auch wird die Empfehlung in der internationalprivatrechtlichen Literatur herangezogen, um den Inhalt des gewöhnlichen Aufenthalts in seiner Funktion als Anknüpfungspunkt des Personalstatuts von Staatenlosen und Mehrstaatlern, § 9 Abs. 2 österreichisches IPRG, 25 zu konkretisieren. 26 Die verhältnismäßig intensive Rezeption der Resolution dürfte sich durch den Umstand erklären, dass das durch den Europarat maßgebend verwaltete Grundrechtsdokument, die Europäische Menschenrechtskonvention, in Österreich einen hohen praktischen Stellenwert genießt. 27 Entsprechend höher scheint 19
S.u. § 6 A. I. 1. c) bb) (2). Art. 48 VII des bulgarischen Gesetzbuchs über das Internationale Privatrecht vom 4.5.2005, deutsche Übersetzung in RabelsZ 71 (2007), 457. 21 Art. 2.570 Nouveau Code civil roumain, in Kraft seit 1.10.2011. 22 Art. 20 IPRG wurde bereits diskutiert. S.o. § 5 B. II. 2. a) aa). 23 Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 31, der auch auf das IPR der Seychellen hinweist. 24 -1 Ä'HU DOOJHPHLQH *HULFKWVVWDQG HLQHU 3HUVRQ ZLUG DXFK GXUFK LKUHQ Jewöhnlichen Aufenthalt begründet. Der Aufenthalt einer Person bestimmt sich ausschließlich nach tatsächlichen Umständen; er hängt weder von der Erlaubtheit noch von der Freiwilligkeit des Aufenthalts ab. Bei der Beurteilung, ob ein Aufenthalt als gewöhnlicher Aufenthalt anzusehen ist, sind seine Dauer und seine Beständigkeit sowie andere Umstä nde persönlicher oder beruflicher Art zu berücksichtigen, die dauerhafte Beziehungen zwiVFKHQHLQHU3HUVRQXQGLKUHP$XIHQWKDOWDQ]HLJHQ³ 25 IPRG § 9 Ä(2) Ist eine Person staatenlos oder kann ihre Staatsangehörigkeit nicht geklärt werden, so ist ihr Personalstatut das Recht des Staates, in dem sie den gewöhnlichen Aufenthalt hat.³ Dazu Schwimmann, Internationales Privatrecht, 3. Auflage 2001, 31. 26 S. OGH, 22.5.1985 1 ± Ob 543/85; OGH, 27.8.1987 ± 2EÄ'HUJHZ|KQOLFKH Aufenthalt einer Person ist nach der Regel Nr. 9 der Entschließung des Ministerkomitees des Europarates vom 18.1.1972 zur VereinheitlLFKXQJGHU5HFKWVJUXQGEHJULIIHÃ:RKQVLW]µ XQGÃ$XIHQWKDOWµ dort gegeben, wo die Dauer und die Beständigkeit des Aufenthalts sowie andere Umstände persönlicher und beruflicher Natur die dauerhafte Beziehung zwischen einer Person und ihrem Aufenthalt anzeigen. Diese Entschließung kann bei der Auslegung GHV%HJULIIHVÃJHZ|KQOLFKHU$XIHQWKDOWµ DOV(QWVFKHLGXQJVKLOIHGLHQHQ³ 27 Österreichisches BGBl. 210/1958 (EMRK und 1. Zusatzprotokoll), 59/1964. Anders als in der Bundesrepublik (Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG) haben völkerrechtliche Verträge und mit ihnen auch die EMRK in Österreich den Rang von Verfassungsnormen. Entsprechend 20
A. Legaldefinitionen und Umschreibungen
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daher die Aufmerksamkeit der Rechtspraxis und auch der Legistik für das hinter der EMRK stehende völkerrechtliche Organ, den Europarat. Mit Österreich nimmt also ein Mitgliedstaat unmittelbar auf die Entschließung des Ministerrates Bezug. (2) Belgien und Bulgarien Eine ähnlich intensive Anlehnung an die Resolution des Europarates lassen das belgische IPRG (2004) 28 sowie das 2005 verabschiedete IPR-Gesetz Bulgariens erkennen. 29 Beide Projekte formulieren eine offene, inhaltlich nahezu identische Legaldefinition des gewöhnlichen Aufenthalts. 30 Die Gesetzesmaterialien zum belgischen IPRG betonen, dass die nationale Definition des gewöhnlichen Aufenthalts an die bisherigen Arbeiten der Haager Konferenz anknüpfen und sie mit der Entschließung des Europarates in Einklang bringen soll.31 Namentlich soll die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts unter besonderer Rücksicht auf die sachverhaltsrelevanten Tatsachen erfolgen; dem erkennenden Richter wird insoweit eine breite Einschätzungsprärogative zu-
stehen die Gewährleistungen der Menschenrechtskonvention in Österreich in einem vergleichbaren verfassungsdogmatischen Rang wie hierzulande der Katalog der Grundrechte, Art. 1±20 GG. 28 Loi portant le Code de droit international privé, 16.7.2004, 2004-07-16/31; dazu Pertegas, Le Nouveau Droit International Privé Belge, Journal des Tribunaux 124 N° 6173, 12.3.2005, 173; Franq, Das neue belgische IPR-Gesetzbuch, RabelsZ 70 (2006), 235. 29 'ÙDUaven Vestnik [Bulgarisches Gesetzblatt] vom 17.5.2005 Nr. 42, 1; im Folgenden wird Bezug genommen auf Jessel-Holst, Gesetzbuch über das Internationale Privatrecht vom 4.5.2005 ± Deutsche Übersetzung, RabelsZ 71 (2007), 457. 30 Art. 4 § 2 n° 1 des belgischen IPRG umschreibt den gewöhnlichen Aufenthalt QDWUOLFKHU3HUVRQHQDOVÄ[...] le lieu où une personne physique s'est établie à titre principal, même en l'absence de tout enregistrement et indépendamment d'une autorisation de VpMRXUQHURXGHV pWDEOLU³:HLWHUKLQIKUWGLH/HJDOGHILQLWLRQ DXVÄ>3@RXUGpWHUPLQHUFH lieu, il est tenu compte, en particulier, de circonstances de nature personnelle ou profesVLRQQHOOHTXLUpYqOHQWGHVOLHQVGXUDEOHVDYHFFHOLHXRXODYRORQWpGHQRXHUGHWHOVOLHQV³ Die Legaldefintion des Art. 48 VIII des bulgarischen IPRG entspricht dieser Vorschrift ZHLWHVWJHKHQGÄ ,P6LQQHGLHVHV*HVHW]EXFKV wird unter dem gewöhnlichen Aufenthalt einer natuȋrlichen Person der Ort verstanden, an dem sie sich niedergelassen hat, um dort uȋberwiegend zu leben, ohne dass dies mit der Notwendigkeit einer Registrierung oder Erlaubnis fuȋr den Aufenthalt oder die Niederlassung verbunden wäre. Fuȋr die Bestimmung dieses Ortes sind besonders die Umstände persönlichen oder beruflichen Charakters zu beruȋcksichtigen, die aus dauerhaften Verbindungen der Person zu diesem Ort oder aus ihrer Absicht herruȋhren, derartige VeUELQGXQJHQKHU]XVWHOOHQ³ Da die bulgarischen Gesetzgebungsmaterialien nicht in übersetzter Form zugänglich sind, beziehen sich die folgenden Ausführungen zur Gesetzgebungsgeschichte ausschließlich auf das belgische IPRG. 31 Senat Belge, Proposition de loi portant le Code de droit international privé, Session extraordinaire, 3.7.2003, 3-27/1 ± BZ 2003, Begründung zu Art. 4 CDIP, 27 ff.
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§ 6 Konturen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs
gestanden.32 Diese Technik lässt sich am gesamten Belgischen IPRG erkennen. Das Ziel der Gesetzgebung ist es, sowohl den aktuellen Bestand des konventionsrechtlichen IPR als auch den unionsrechtlichen acquis bei der Kodifikation nicht nur zu berücksichtigen, sondern unmittelbar zu fixieren. Dieser Rahmen soll andererseits aber auch nicht überschritten werden. 33 Um die inhaltliche Gestaltung der Legaldefinition vor dem Hintergrund des aktuellen Standes im Staatsvertrags- und Unionsrechts zu rechtfertigen, verweist der Gesetzgeber einerseits auf die jüngeren Entwicklungen im Unionsrecht. Andererseits nimmt er ausdrücklich auf die Resolution des Europarates Bezug. 34 Die Orientierungsfunktion der Resolution wird insbesondere im ersten Teil der Definition deutlich. Art. 4 § 2 betont ebenso wie Gliederungspunkt Nr. 7 der Resolution, dass der gewöhnliche Aufenthalt im Grundsatz unabhängig von einer behördlichen Meldung oder einem anderen Hoheitsakt bestimmt werden sollte.35 Insoweit weicht die Definition damit von den zuvor dargestellten Überlegungen des EuGH ab. Auch Gliederungspunkte Nr. 9 und 10 erfahren eine Würdigung, da der EuGH alternativ auf die beruflichen oder privaten Bindungen einer Person abstellt und dem Willen einer Person fakultativ Bedeutung zumisst. Anders als Gliederungspunkt Nr. 9 der Resolution erklärt das Belgische IPRG den Willen zur Aufenthaltsbegründung nicht ausdrücklich für irrelevant, sondern betont im Gegenteil, dass er alternativ zu den beruflichen und privaten Bindungen von Bedeutung sein kann. Insoweit entwickelt die Legaldefinition des belgischen IPRG die Resolution also weiter. Unterstützung erfährt diese Überlegung in der nicht amtlichen deutschen Übersetzung des Art. 48 VII des bulgarischen IPRG. Als gewöhnlicher Aufenthalt gilt danach der Ort, an dem sich eine Person niedergelassen hat, um dort dauerhaft zu leben.36 Innovationspotential hat schließlich die in der Gesetzesbegründung formulierte Überlegung, dass die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts nicht von einer Mindestaufenthaltsdauer abhängen darf. 37
,ELGÄ/H FRGHpWDEOLW OHVFULWqUHVFRQVWLWXWLIV GH ODUpVLGHQFHpWDQW HQWHQGX TXH l¶appréciation des éléments de IDLWDSSDUWLHQWDXMXJH³ 33 Näher Wautelet, Chronique de droit international privé: Le Code de droit international privé, in: Chronique de GURLWjO¶XVDJHGXQRWDULDW± Vol. XXXXII, 2005, 13. 34 ,ELG Ä/H FRGH pWDEOLW OHV FULWqUHV FRQVWLWXWLIV GH OD UpVLGHQFH pWDQW HQWHQGX TXH l¶appréciation des éléments de fait appartient au juge. La définition s¶inspire de celle proposée par le Conseil de l¶Europe dans sa résolution (72) du 18 janvier 1972, mais on retrouve aussi des éléments analogues, aujourd¶KXLHQGURLWFRPPXQDXWDLUH ³ 35 (LQVFKUlQNHQGDEHULELGÄ,OQ¶empêche que lorsque la personne a été inscrite sur le registre de la population, sur le registre des étrangers ou sur le registre d¶attente, une telle inscription constitue un indice ± mais rien de plus ± de la localisation de la résidence KDELWXHOOHHQ%HOJLTXH³ 36 S.o. Fn. 29. 37 Proposition de loi portant le Code de droit international privé, Session extraordinaire, 3.7.2003, document législatif n° 3-27/1. 32
A. Legaldefinitionen und Umschreibungen
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cc) Rezeption in Deutschland Auch in Deutschland wird die Entschließung des Europarates teilweise herangezogen, um dem gewöhnlichen Aufenthalt inhaltliche Konturen zu verleihen. Außerhalb des Internationalen Privatrechts findet die Entschließung insbesondere im urheberrechtlichen Schrifttum (§ 122 UrhG) Beachtung. 38 Auch der Gesetzesentwurf zum 1986 verabschiedeten IPRG nimmt ausdrücklich auf die Entschließung Bezug. 39 Der Stellenwert der Resolution ist relativ gering, da sie gleichrangig neben der Legaldefinition des gewöhnlichen Aufenthalts für die Zwecke des Steuerrechts, § 9 AO, und der bisherigen, aufenthaltsbezogenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs steht. 40 Die Regierungsbegründung nimmt jedoch mit Nr. 9 der Entschließung auf konkrete Aspekte Bezug, um die bereits im Vorfeld der Reform entwickelte, schlagwortartige Umschreibung des gewöhnlichen Aufenthalts als Ätatsächlicher Daseinsmittelpunkt³ zu verfeinern.41 Konkret will die Regierungsbegründung § 9 AO gemeinsam mit der Entschließung des Europarates die allgemeine Maßgabe entnehmen, dass der gewöhnliche Aufenthalt im Grundsatz unabhängig vom Willen des Anknüpfungssubjekts bestimmt werden sollte; diese Grundregel wird durch Art. 5 Abs. 2 EGBGB verstetigt. 42 Eine Ausnahme wird über Abs. 3 des Regierungsentwurfes eingeführt, der dem aktuellen Art. 5 Abs. 3 EGBGB entspricht. Danach sollen, insbesondere im Internationalen Kindschaftsrecht, auch subjektive Merkmale bei der Aufenthaltsbestimmung berücksichtigt werden. 43 Die Resolution des Europarates gibt vor diesem Hintergrund also allenfalls grobe, aber nicht letztverbindliche Leitlinien für das Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts im deutschen IPR vor.44 d) Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Resolution ihrer Unschärfe zum Trotz einer Reihe internationalprivatrechtlicher Kodifikationen neueren und älteren Datums als Vorbild gedient hat. Außerdem wurde sie durch die Rechtsprechung der Mitgliedstaaten verhältnismäßig dicht rezipiert. Aller38
BeckOKUrhR/Lauber-Rönsberg, 16. Ed. 2017, § 122 UrhG Rn. 3±4. Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Internationalen Privatrechts, BTDrucks. 1983 10/504, 41. 40 BT-Drucks. 1983 10/504, 41 m.Verw. auf BGH, 5.2.1975 ± IV ZR 103/73 ± NJW 1975, 1068. 41 BT-Drucks. 1983 10/504, 41. 42 Ibid., 41 f. 43 Ibid., 42. 44 S. auch Basedow, Die Neuregelung des Internationalen Privat- und Prozeßrechts, 1-: Ä$OV DXVIRUPXOLHUWH /HLWOLQLH N|QQHQ GDEHL (PSIHKOXQJHQ GHV (XURSDUDWVYRQGLHQHQ³ 39
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dings unterscheidet sich der Umgang des EuGH mit der Resolution deutlich von ihrem ursprünglichen Inhalt; auch der Gerichtshof spricht ihr die unmittelbare Geltung im Unionsrecht ab. IPR-Kodifikationen neueren Datums entwickeln die Resolution weiter, ohne Abweichungen zu thematisieren. Man kann das Dokument im Hinblick auf das unionsrechtliche IPR damit als groben Wegweiser verstehen, dessen Wert und Aussagekraft aber durch die bewussten und unbewussten Abweichungen in der Union und den Mitgliedstaaten bedeutend geschmälert wird. Obwohl die Resolution des Europarates sich inhaltlich auf allgemeine Umschreibungen beschränkt, überschreiten sowohl die ad hoc-Definitionen des EuGH als auch die Legaldefinitionen der Mitgliedstaaten den völkerrechtlich gesetzten Rahmen mitunter deutlich; teils geschieht dies bewusst, teils aber auch ohne deutliche Stellungnahme. 2. Haager Konferenz Zwei weitere relevante Definitionsversuche haben in den Verhandlungsrunden der Haager Konferenz stattgefunden. Ein erster Definitionsvorschlag wurde im Rahmen der Verhandlungen zum Adoptionsübereinkommen von 1965 unterbreitet,45 ein zweiter anlässlich der Ausarbeitung des Haager Erbrechtsübereinkommens. 46 In beiden Fällen wurde der Vorschlag einer Legaldefinition im Ergebnis verworfen, hat also das Entwurfsstadium nicht verlassen.47 Entsprechend gering ist der praktische Wert beider Vorschläge für das Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts im aktuellen Staatsvertragsrecht und im unionsrechtlichen IPR. In beiden Fällen sind die Diskussionen beachtlich, die die Delegierten um den Vorschlag einer Aufenthaltsdefinition führten. Im Rahmen des Haager Adoptionsübereinkommens beruhte der Impuls für den Vorschlag einer verbindlichen Aufenthaltsdefinition maßgeblich auf der Sorge der Delegierten, es könne auf Dauer zu nationalen Unterschieden in der Auslegung des gewöhnlichen Aufenthalts kommen. 48 Dass die Definition des gewöhnlichen Aufenthalts im Ergebnis verworfen wurde, erklärt sich dadurch, dass der Großteil der an den Verhandlungen beteiligten Parteien den gewöhnlichen 45
Die Bundesrepublik hat das Abkommen nie ratifiziert; inzwischen haben auch die vormaligen Vertragsstaaten, nämlich die Schweiz, Österreich und Großbritannien, das Abkommen gekündigt; Nachw. bei Kropholler, IPR, § 49 II Nr. 1, Fn. 7. Seit dem 1.1.2002 treten das Haager Adoptionsübereinkommen vom 29.5.1993, BGBl. 2001 I, 2950 und das Haager Übereinkommen über den Schutz von Kindern und die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der internationalen Adoption, BGBl. 2001 II, 1035, inhaltlich an die Stelle des Adoptionsübereinkommens von 1965. 46 Actes et Doc. 1988-II, 514. Das Übereinkommen ist nicht in Kraft getreten. 47 Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 34 f.; ders., Auf dem Weg zu einem gemeinsamen europäischen Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts, FS Kropholler, 2008, 77. 48 Dazu Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 33 f., m.w.N.
A. Legaldefinitionen und Umschreibungen
201
Aufenthalt als definitionsfeindliche Änotion de fait³, also als ÄTatsachenfrage³ verstanden wissen wollte und dementsprechend auch die Gefahr einer national divergierenden Begriffsauslegung für nicht gegeben hielt. 49 Im Haager Erbrechtsübereinkommen wurde eine Definition des gewöhnlichen Aufenthalts nicht nur diskutiert, sondern darüber hinaus auch ein Definitionsvorschlag formuliert. Dieser wurde allerdings nicht in den ratifikationsfähigen Konventionstext übernommen. 50 Das erklärt sich nicht zuletzt dadurch, dass der Vorschlag seiner sektoralen Gültigkeit zum Trotz an ähnlichen Schwächen leidet wie die Definition des Europarates, 51 nämlich zu unbestimmt und vage ist und keine Gewichtung der aufenthaltsrelevanten Kriterien vornimmt. 52 II. Der Aufenthaltsbegriff des EuIPR und EuZVR Wie zu Beginn angedeutet wurde,53 fehlt im Unionsrecht aktuell eine rechtsaktübergreifende Definition des gewöhnlichen Aufenthalts. Sektorale Umschreibungen und weitere Indizien, die das Verordnungsrecht für das Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht anbietet, sind dabei freilich unberücksichtigt geblieben. Namentlich der COMI von Privatpersonen soll neuerdings vermutungshalber mit dem gewöhnlichen Aufenthalt zusammenfallen, Art. 3 Abs. 1 UA 4 EuInsVO 2017 (s.u. 4. a), d) aa)). Art. 19 Rom I-VO und Art. 23 Rom II-VO setzen den gewöhnlichen Aufenthalt beruflich handelnder natürlicher Personen mit deren Hauptniederlassung gleich. Bei Unternehmen und juristischen Personen wird der Ort der Hauptverwaltung zur Bestimmung des anwendbaren Rechts für maßgeblich erklärt (s.u. 3. a)). Neben diese punktuellen Verknüpfungen des gewöhnlichen Aufenthalts mit anderen Begriffen tritt eine verhältnismäßig detaillierte Umschreibung des gewöhnlichen Aufenthalts in den Erwägungsgründen 23, 24 EuErbVO. Diese Umschreibungen liefern zwar ebenso wie bisherige Definitionsversuche nur Leitlinien und keine Definition des Begriffs, sind dabei aber so detailreich, dass sie aktuell die ver49
Actes et Doc. 1956-II, 127. Das Erbrechtsübereinkommen wird häufig als Vorbote der EuErbVO gelesen, arbeitet aber bei Lichte besehen mit einer Kombination aus Staatsangehörigkeits- und Aufenthaltsprinzip, s. Mankowski, Der gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers unter Art. 21 Abs. 1 EuErbVO, IPRax 2015, 39. 51 Actes et Doc. 1988-II, 196 ff, Stellungnahme bei Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 36. 52 Wichtig ist, dass die Diskussionen um das Erbrechtsübereinkommen die KonferenzPLWJOLHGHULQ]ZHLÄ/DJHU³VSDOWHWHQ1HEHQGie Befürworter eines rein objektiven Aufenthaltsverständnisses reihten sich andere, die zwingend die Einbeziehung eines subjektiven Elements in die Aufenthaltsdefinition forderten; Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 35. 53 S.o. § 1 B. 1. 50
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§ 6 Konturen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs
lässlichste Richtschnur bei der Auslegung des gewöhnlichen Aufenthalts darstellen.54 Schließlich äußert sich der 2005 veröffentlichte Leitfaden der Europäischen Kommission zur Auslegung des gewöhnlichen Aufenthalts (1.). 55 Über die Aussagekraft aller Rechtsquellen für ein rechtsaktübergreifendes Aufenthaltsverständnis lässt sich auf Grundlage dieser kursorischen Übersicht noch kein abschließendes Urteil fällen. Das gilt es in der Schlussbetrachtung (III.) nachzuholen. 1. Leitfaden der Kommission zur EuEheVO Der Leitfaden der Europäischen Kommission zur EuEheVO wurde im Nachgang an ihr Inkrafttreten der EuEheVO zum 1.1.2005 verabschiedet. Er versteht sich als rechtlich unverbindliche Vorgabe für die Rechtspraxis und die Mitgliedstaaten bei der Auslegung und Anwendung der EuEheVO. 56 Da das Dokument unmittelbar nach Inkrafttreten der EuErbVO verabschiedet wurde, wertet es weder die bisherige mitgliedstaatliche Praxis im Umgang mit der Verordnung aus, noch stellt es Zukunftsprognosen an. Stattdessen gibt der Leitfaden Aufschluss über das Verständnis der Europäischen Kommission, die als zentrales Initiativorgan der europäischen Sekundärrechtssetzung die inhaltliche Gestaltung der EuEheVO und ihrer zentralen Bestimmungen entscheidend beeinflusst hat. Zum gewöhnlichen Aufenthalt äußert sich der Leitfaden nur in Bezug auf Art. 8 Abs. 1 EuEheVO. Er trifft insoweit sowohl konzeptionelle als auch funktionsbezogene Aussagen. Erstens soll der Begriff nicht den Gegenstand einer Äabstrakten Definition³ bilden, sondern vom Richter im Einzelfall festgelegt werden. 57 Zweitens soll es sich um einen autonomen Begriff des Gemeinschaftsrechts handeln, der dementsprechend nicht in Anlehnung an funktionsäquivalente nationale Konzepte bestimmt werden darf.58 Bedeutsam ist der Leitfaden jenseits dieser allgemeinen Aussagen deshalb, weil er die Ansicht der Kommission über konkrete Streitpunkte innerhalb der Aufenthaltsanknüpfung verdeutlicht. Zum einen setzt in den Augen der Kommission jede Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts die Aufgabe eines früheren voraus; einen mehrfachen gewöhnlichen Aufenthalt soll es Ägrundsätzlich³ nicht geben.59 Zum anderen unterstreicht die Kommis54
So die h.M. in der Literatur, statt vieler Mankowski, IPRax 2015, 39 (42), Fn. 59. Leitfaden zur Anwendung der neuen Verordnung Bruȋssel II-Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 uȋber die Zustaȋndigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (im Folgenden: Kommission, Leitfaden EuEheVO). 56 Kommission, Leitfaden EuEheVO, 5. 57 Kommission, Leitfaden EuEheVO, 16. 58 Kommission, Leitfaden EuEheVO, 16. 59 Kommission /HLWIDGHQ (X(KH92 Ä:HQQ HLQ .LQG YRQ HLQHP 0LWJOLHGVWDDW LQ einen anderen MitJOLHGVWDDWXP]LHKWVROOWHGHUÃ(UZHUEµ des gewöhnlichen Aufenthalts in 55
A. Legaldefinitionen und Umschreibungen
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sion, dass das Tatbestandsmerkmal Ägewöhnlich ³ bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts keine feste Mindestaufenthaltsdauer vorschreibt.60 Stattdessen soll es auf die Umstände des Einzelfalls und ihre Auswertung durch den zuständigen Richter ankommen. 61 Obwohl die praktische Relevanz und auch der rechtsaktübergreifende Aussagewert des Leitfadens seiner unverbindlichen Natur und des ausdrücklichen Bezuges auf Art. 8 Abs. 1 EuEheVO wegen stark eingeschränkt sind, kann man dem beschriebenen Abschnitt zwei wichtige Aussagen über Inhalt und Struktur des gewöhnlichen Aufenthalts entnehmen. Erstens betont die Kommission die Selbstständigkeit und autonome Auslegung des Begriffs. Einen Bedarf nach internen Kollisions- und Vorrangregeln, wie sie in Deutschland vom Staatsangehörigkeits- (Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 2, S. 2 EGBGB) und Wohnsitzprinzip (§ 7 f. BGB) her bekannt sind, schließt die Kommission also auch auf längere Sicht aus. Zweitens entkoppelt der Leitfaden das Tatbestandsmerkmal der Gewöhnlichkeit vom Vorliegen einer Mindestaufenthaltsdauer. Besieht man die entsprechenden Vorschriften der EuEheVO, findet dieser Standpunkt eindeutig Rückhalt in der Verordnungssystematik. Sowohl Art. 9 Abs. 1 als auch Art. 10 Abs. 1 EuEheVO setzen nämlich eigenständige Zeitbestimmungen fest, die tatbestandlich eindeutig nicht als Bestandteile des Aufenthaltsbegriffs gewollt sind. Im Interesse der Transparenz und der Vorhersehbarkeit der Bestimmung des zuständigen Gerichts erscheint es in beiden Fällen sogar vorzugswürdig, eine widerlegliche Vermutung für einen Aufenthaltswechsel im Zeitpunkt des Ortswechsels einzuführen. Die Alternativlösung, dass der Aufenthaltswechsel zwar unabhängig von einer festen Eingewöhnungsfrist erfolgen soll, aber dem tatsächlichen Ortswechsel zwingend zeitlich nachgelagert sein muss, sieht sich in der Pflicht, konkrete Kriterien für diesen Wechsel zu entwickeln. Andernfalls sähe sie sich dem Vorwurf ausgesetzt, einen offensichtlich auf Vorhersehbarkeit abzielenden Normkomplex im dem neuen MitglLHGVWDDWJUXQGVlW]OLFKPLWGHPÃ9HUOXVWµ des gewöhnlichen Aufenthalts in GHPYRUKHULJHQ0LWJOLHGVWDDWHLQKHUJHKHQ³+HUYd. Verf.). 60 Kommission, Leitfaden EuEKH92 Ä2EZRKO GDV $GMHNWLY ÃJHZ|KQOLFKµ auf eine gewisse Dauer schließen lässt, sollte die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass ein Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt am Tag seiner Ankunft in einem Mitgliedstaat HUZLUEW³ (QWJHJHQ GHU hEHUOHJXQJ EHL Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 141, lässt sich kein Widerspruch zwischen dem Borrás-Bericht Nr. 32, ABl. 1998 L 221/4, und dem Leitfaden der Kommission erkennen. Der Leitfaden äußert sich zu Art. 8 EuEheVO, der Borrás-Bericht dagegen zur Zuständigkeit in Ehesachen nach Art. 3 EuEheVO. Außerdem lässt sich dem Bericht lediglich eine Beschreibung des Gesetzgebungsverfahrens entnehmen. Aufschlussreich ist insoweit, dass für die Brüssel IIa-VO zunächst eine den Art. 63 f. Brüssel Ia-92 YHUJOHLFKEDUH Ä%HVWLPPXQJVQRUP³ für den gewöhnlichen Aufenthalt geplant war, s. ibid., 32. 61 Kommission/HLWIDGHQ(X(KH92Ä'HU5LFKWHUZLUGVHLQH(QWVFKHLGXQJDXIGHU *UXQGODJHGHU)DNWHQGHVNRQNUHWHQ)DOOHVWUHIIHQ³
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rechtspraktischen Umgang von seinem ursprünglichen Regelungsziel zu entfremden. Derartige verbindliche Kriterien möchte der Gesetzgeber dem gewöhnlichen Aufenthalt nicht zuschreiben. Eine Vermutung des Zusammenfallens von Orts- und Aufenthaltswechsel entspricht damit jedenfalls im kindschaftsrechtlichen Teil der EuEheVO sowohl dem gesetzgeberischen Willen als auch der Gesetzessystematik. 2. Erwägungsgründe 23, 24 zur EuErbVO a) Entstehungsgeschichte Die Erwägungsgründe 23 und 24 zur EuErbVO haben ihre inhaltliche Gestaltung und ihren systematischen Standort erst gegen Ende des Gesetzgebungsprozesses zur EuErbVO erhalten. 62 Sowohl im 2005 vorgelegten Grünbuch 63 als auch im 2009 verabschiedeten Verordnungsentwurf zur EuErbVO 64 fehlen Auslegungshilfen und Zweifelsregelungen zum gewöhnlichen Aufenthalt noch vollständig. 65 Erst die parlamentarische Diskussion des Verordnungsentwurfs kam zu dem Ergebnis, dass die Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts im Einzelfall durch Auslegungshilfen in den Erwägungsgründen unterstützt werden muss. Der von Kurt Lechner ausgearbeitete Entwurf vom 23.2.2011 ergänzt den ausschließlich der politischen Motivation des Parlaments gewidmeten Erwägungsgrund 12 66 um einen die Aufenthaltsanknüpfung umschreibenden Erwägungsgrund 12a). Der gewöhnliche Aufenthalt soll danach den Interessenmittelpunkt des Erblassers im Zeitpunkt seines Todes und den vorangehenden Jahren ausweisen. Seine Feststellung soll in Ansehung der Dauer, Regelmäßigkeit und der Gründe für den tatsächlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat erfolgen. 67 Weitere Überarbeitungen der Vorschrift erfolgten zunächst durch das Europäische Parlament. 68 Die endgültige Fassung und Neunummerierung wurde erst im unmittelbaren Vorfeld der Verabschiedung des Entwurfs durch den Rat vorgenommen.69 62
Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 193 f., 222. KOM(2005) 65 endg. 64 KOM(2009) 154 endg. 65 Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 222. 66 Lechner, Draft report on the proposal for a regulation of the European Parliament and of the Council on jurisdiction, applicable law, recognition and enforcement of decisions and authentic instruments in matters of succession and the creation of a European Certificate of Successions vom 23.2.2011, 2009/157(COD). 67 Ä(12a)) For determining the habitual residence as the centre of interests, account should be taken of the circumstances of the life of the deceased at the time of his or her death, and during the preceding years, in particular the duration and regularity of his or her SUHVHQFHDQGWKHFLUFXPVWDQFHVRIDQGUHDVRQVIRULW³ 68 Lechner, 2009/157(COD). 69 Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 223. 63
A. Legaldefinitionen und Umschreibungen
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b) Inhalt aa) Erwägungsgrund 23 Erwägungsgrund 23 formuliert Leitlinien, aber keine konkreten Vorgaben für die Auslegung des gewöhnlichen Aufenthalts und die Gewichtung der für ihn relevanten Kriterien.70 S. 1 liest sich als Globalverweis auf die Teleologie der Aufenthaltsanknüpfung. Der behördlichen Feststellung des letzten gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers soll eine biographische 71 ÄGesamtbetrachtung der Lebensumstände des Erblassers im Zeitpunkt seines Todes³ vorangehen, 72 die unter dem Eindruck der Äspezifischen Ziele der Verordnung, eine besonders stabile Verbindung zwischen dem Erblasser und der berufenen Rechtsordnung erkennen lassen³ muss.73 bb) Erwägungsgrund 24 Wortlaut und Systematik des Erwägungsgrundes 23 lassen darauf schließen, dass der Verordnungsgeber die Pflicht zur ÄGesamtbeurteilung der Lebensumstände des Erblassers³ nicht durch eine gerichtliche Gewichtung aufenthaltsrelevanter Fakten anreichert. 74 Diese Faktoren finden also grundsätzlich gleichberechtigt Berücksichtigung. Daraus können sich Pattsituationen ergeben, in denen gleich starke Verbindungen zu mehreren Staaten bestehen. In 70 Ebenso Kränzle, Heimat DOV5HFKWVEHJULII"Ä,QVJHVDPWNOLQJHQGLH9RrJDEHQ YRQ (UZlJXQJVJUXQG ZHQLJ JUHLIEDU³ Wilke, Das internationale Erbrecht nach der neuen EU-Erbrechtsverordnung, RIW 2012, 601 (603). 71 Wörtlich Schulze, IPRax 2012, 526 (527). 72 Mankowski, IPRax 2015, 39 (43). 73 Aus dieser letzten Maßgabe schlussfolgert die Literatur, der gewöhnliche Aufenthalt PVVHIUGLH=ZHFNHGHV(UEUHFKWVÄYHURUGQXQJV³DXWRQRPYHUVWDQGHQZHUGHQ,QVEHVRndere seien an die Verbindung zwischen dem Erblasser und der berufenen Rechtsordnung höhere Anforderungen zu stellen als in anderen Sachgebieten, Bonomi, Successions internationales: Conflit de lois et de juridictions, RdC 350 (2010) 71 (192); Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 223f. Diese Überlegung spricht die Kernfrage der vorliegenden Arbeit an und soll dementsprechend an späterer Stelle ausführlicher gewürdigt werden. Ein Hinweis auf die Entwicklungsgeschichte der EuErbVO erlaubt es aber bereits an dieser Stelle, die Endgültigkeit dieser These anzuzweifeln. Die erste Fassung der Erwägungsgründe geht nämlich selbstverständlich davon aus, dass der gewöhnliche Aufenthalt den Interessenmittelpunkt einer Person in einem konkreten Zeitpunkt ± dem des Todes ± ausweist. Diese Umschreibung deckt sich, wie an früherer Stelle gezeigt wurde, sowohl mit dem Aufenthaltsverständnis der EuInsVO, als auch mit dem des Internationalen Vertragsund Deliktsrechts. Später wird diese Passage überschrieben; die Frage nach der gesetzgeberischen Überzeugung über die Aussagegehalt und Inhalt des gewöhnlichen Aufenthalts ist damit aber noch nicht beantwortet. 74 Mankowski ,35D[ Ä(LQH XPIDQJUHLFKH 'HILQLWLRQ GHV JHZ|KQOLFKHQ Aufenthalts hätte wahrscheinlich mehr Auslegungsprobleme aufgeworfen als gelöst, weil PDQVLFKGDQQXPGDV9HUVWlQGQLVGHUHLQ]HOQHQ7DWEHVWDQGVPHUNPDOHJHVWULWWHQKlWWH³
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§ 6 Konturen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs
diesen Fällen kommt Erwägungsgrund 24 zum Tragen, der die Handhabung des gewöhnlichen Aufenthalts in Zweifelsfällen präzise vorschreibt. Dahinter steht die gesetzgeberische Intention, Fälle, in denen sich Anwendungsschwierigkeiten erwarten lassen, bereits ex ante einer vorhersehbaren Lösung zuzuführen. Der Erwägungsgrund unterscheidet dabei zwei unterschiedliche Problemgruppen:75 Zur ersten gehören Personen, die außerhalb ihres Heimat- oder bisherigen Aufenthaltsstaates beschäftigt sind, 76 ihre anderswo gewachsenen persönlichen Bindungen aber beibehalten haben. Diese Kategorie umfasst erkennbar das Phänomen der Grenzpendler, reduziert diese Gruppe aber auf Personen, die ihren Wohnsitz dauerhaft ins Ausland verlegen. 77 Der gewöhnliche Aufenthalt soll in diesen Fällen an dem Ort bestehen bleiben, zu dem die persönlichen Bindungen bestehen. Mit dieser Zweifelsregelung übernimmt die Verordnung eine Gewichtung, die sowohl in der bisher herrschenden deutschen Literaturansicht 78 als auch im rechtsvergleichenden Befund konsentiert war. 79 Die zweite Gruppe erfasst Fälle, in denen sich die Suche nach dem Lebensmittelpunkt eines Grenzpendlers nicht strikt in die Kategorien Äberuflich³ und Äprivat³ einteilen lässt, sondern entweder die vorhandenen Anknüpfungstatsachen in mehrere unterschiedliche Rechtsordnungen deuten, oder eine Person gar keinen festen Lebensmittelpunkt vorweisen kann. In diesen Fällen erklärt Erwägungsgrund 24 sowohl die Staatsangehörigkeit des Erblassers als auch den Belegenheitsort seiner Vermögensgegenstände zu maßgeblichen Bezugsgegenständen. 80 Bereitet der gewöhnliche Aufenthalt Bestimmungsschwierigkeiten, wird er durch ergänzende Anknüpfungstatsachen angereichert. Zusammengefasst stellt der Erwägungsgrund damit zwei unterschiedliche Gewichtungsmöglichkeiten zur Disposition: Einerseits soll das Äjuristische Trägheitsprinzip³ 81 gelten, wenn eine Person über längere Zeit im Ausland arbeitet. Berufliche Bindungen zu einem anderen Staat relativeren die Bedeutung des bisherigen sozialen Lebensmittelpunkts für das Erbstatut also nicht zwingend. 82 Zum anderen sollen sich un75
Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 224. Kränzle, Heimat DOV 5HFKWVEHJULII" VSULFKW DOOJHPHLQ YRP ÄLP $XVland 7lWLJHQ³ 77 Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 225. 78 Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 115; Spickhoff, IPRax 1995, 185 (187); Lehmann, Die EU-Erbrechtsverordnung zur Abwicklung grenzüberschreitender Nachlässe, DStR 2012, 2085 (2086). 79 Bestätigung findet die Gewichtung insbesondere im Wohnsitzverständnis des britischen Common Law. Vgl. dazu Cheshire/North/Fawcett, Private International Law, 2008, 157 ff.; weitere Nachweise s. Rentsch, ZEuP 2015, 288 (298). 80 Dazu Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 225. 81 Kegel, Was ist gewöhnlicher Aufenthalt? Festschrift für Rehbinder, 2002, 699, 705 m.w.N. in Fn. 35. 82 (UZlJXQJVJUXQG Ä,Q HLQLJHQ )lOOHQNDQQ HVVLFK DOVNRPSOH[ HUZHLVHQ GHQ 2UW zu bestimmen, an dem der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Dies kann ins76
A. Legaldefinitionen und Umschreibungen
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klare Ergebnisse einer Aufenthaltsanknüpfung unter Rückgriff auf, erstens, die Staatsangehörigkeit des Erblassers und, zweitens, die Belegenheit der wesentlichen Vermögensgegenstände, überwinden lassen. 83 Erwägungsgründe formulieren freilich Leitlinien, stellen aber keine rechtsverbindlichen Vorgaben für die Handhabung von Unionssekundärrecht auf. 84 Erwägungsgrund 24 trifft mithin erstaunlich präzise Vorgaben für die Auslegung des gewöhnlichen Aufenthalts. 85 Einerseits werden konkrete Problemkonstellationen genannt und klassifiziert; andererseits werden präzise Lösungsvorschläge für ihre Auflösung unterbreitet. Die Diskrepanz zwischen der Unverbindlichkeit des Erwägungsgrundes und seinem hohen Konkretisierungsgrad lässt sich aufheben, wenn man der Bestimmung eine über ihre eigentliche Substanz hinausgehende Wirkung zumisst. 86 Der private Lebensmittelpunkt entscheidet unter der EuErbVO dann nicht nur in klaren Pattsituationen über die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts, sondern fließt bereits an früherer Stelle in die Beurteilung der Lebensumstände einer Person ein. 87 Unter dieser Prämisse lassen sich aus Erwägungsgrund 24 zwei bestimmende Leitbilder des Aufenthaltsbegriffs im Europäischen Erbrecht ablesen. Erstens siegen stabile über einseitig wandelbare und dauerhafte über flüchtige Anknüpfungstatsachen. 88 Das Interesse an der Stabilität der Verbindung zwischen Erblasser und Erbrecht überwiegt in den Augen des Gesetzgebers eindeutig das an der kollisionsrechtlichen Einhegung seiner Mobilität. Auf der beschriebenen Grundlage erklärt sich einerseits, warum in der Mehrheit der Fälle nur die einvernehmlich und unter Karenzfristen aufhebbaren privaten Kontakte über den je nach Kündigungsschutzsystem und Branche mehr oder weniger flüchtigen beruflichen Bindungen stehen sollen. 89 Andererseits liefert der hier vorgestellte Ansatz eine Erklärung dafür, warum die Staatsangehörigkeit und die Vermögensgegenstände des Erblassers auf einen mögbesondere der Fall sein, wenn sich der Erblasser aus beruflichen oder wirtschaftlichen Gründen ± unter Umständen auch für längere Zeit ± in einen anderen Staat begeben hat, um dort zu arbeiten, aber eine enge und feste Bindung zu seinem Herkunftsstaat aufrechtHUKDOWHQ KDW ,Q GLHVHP )DOO N|QQWH >«@ GDYRQ DXVJHJDQJHQ ZHUGHQ, dass der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt weiterhin in seinem Herkunftsstaat hat, in dem sich in familiärer und sozialer Hinsicht sein Lebensmittelpunkt befand.³ 83 ,ELGÄ:DUGHU(UEODVVHUHLQ6WDDWVDQJHK|ULJHUHLQHVGLHVHU6WDDWHQRGHUKDWWHHUDOOH seine wesentlichen Vermögensgegenstände in einem dieser Staaten, so könnte seine Staatsangehörigkeit oder der Ort, an dem diese Vermögensgegenstände sich befinden, ein EHVRQGHUHU)DNWRUEHLGHU*HVDPWEHXUWHLOXQJDOOHUWDWVlFKOLFKHQ8PVWlQGHVHLQ³ 84 Europäische Gemeinschaften, Gemeinsamer Leitfaden, 31. 85 Kritisch insoweit Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 226. 86 Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 226. 87 Ibid., m.Verw. auf Dutta, Das neue internationale Erbrecht der Europäischen Union ± Eine erste Lektüre der Erbrechtsverordnung, FamRZ 2013, 4 (6). 88 Andeutend Mankowski, IPRax 2015, 39 (43). 89 Mankowski, IPRax 2015, 39 (43).
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licherweise in einen anderen Staat verlegten, persönlichen Lebensmittelpunkt hindeuten sollen. Zweitens lässt sich ein gesetzgeberisches Interesse erkennen, die bislang im Internationalen Erbrecht der Mitgliedstaaten verwendeten Anknüpfungspunkte an Staatsangehörigkeit, Wohnsitz, domicile und Belegenheit unter dem offenen ÄDach³ des gewöhnlichen Aufenthalts zu vereinen. Hierin liegt auch das eigentliche Novum, das mit der Aufenthaltsanknüpfung im Internationalen Erbrecht einhergeht. c) Verallgemeinerbarkeit der erbrechtlichen Leitlinien Die Erwägungsgründe 23 und 24 zur EuErbVO liefern also einen brauchbaren Rahmen, um den gewöhnlichen Aufenthalt für die Zwecke des Europäischen Kollisionsrechts zu strukturieren. Der Wortlaut der Bestimmungen verhält sich freilich zurückhaltend, was den Wert der genannten Umschreibungen für andere Sachzusammenhänge betrifft. 90 Erwägungsgrund 23 gebietet bei der Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts die ÄBerücksichtigung der spezifischen Ziele der Verordnung³ und bezieht die Prüfung der Lebensumstände des Erblassers außerdem ausdrücklich auf den Zeitpunkt des Todes und die vorangehenden Lebensjahre. Auch die Zweifelsfälle des Erwägungsgrundes 24 sind erkennbar auf erbrechtliche Sachzusammenhänge zugeschnitten. Das gilt insbesondere für die Zweifelsregelung zugunsten des Belegenheitsorts der wesentlichen Vermögensgegenstände des Erblassers. Diese besondere Indienststellung schmälert den Aussagegehalt der Erwägungsgründe für die rechtsaktübergreifenden Strukturen und Wesensmerkmale des gewöhnlichen Aufenthalts zunächst. Auch muss man davon ausgehen, dass der Verordnungsgeber die dort formulierten Grundlinien und Zweifelsregelungen gerade nicht als allgemeine Leitlinien der Aufenthaltsbestimmung verstanden wissen möchte. Bei Lichte besehen erweisen sich sowohl die in Erwägungsgrund 23 formulierten Kriterien als auch die in Erwägungsgrund 24 aufgelisteten Zweifelsfallregelungen allerdings jedenfalls ihrem Inhalt nach als brauchbar, um die Aufenthaltsermittlung in anderen Rechtsgebieten zu erleichtern. Erstens besteht a priori kein Grund zur Annahme, dass der Belegenheitsort des Vermögens einer Einzelperson in anderen Bereichen des internationalen Rechtsverkehrs zwischen Privatpersonen 91 keine Aussagekraft haben sollte. Zweitens wird das durch Erwägungsgrund 24 teilweise geregelte Phänomen der Grenzpendelei im Erbrecht zwar besonders relevant, ist als solches aber keineswegs auf Nachlassverfahren beschränkt. Im Gegenteil kann die Frage nach dem gewöhnlichen Aufenthalt einer im Ausland arbeitenden Person sich 90
S. bereits oben § 6 A. II. Für beruflich handelnde und juristische Personen gilt insoweit die Konkretisierung der Art. 19 Abs. 1 Rom I-VO, Art. 23 Abs. 1 Rom II-VO. 91
A. Legaldefinitionen und Umschreibungen
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auch in vertrags-, insbesondere aber in deliktsrechtlichen Kontexten stellen. 92 Es finden sich keine Gründe, warum die in Erwägungsgrund 24 formulierten Leitlinien dann nicht analog auf Grenzpendlerfragen in diesen anderen Sachbereichen übertragen werden sollten. Weder ist das Phänomen in den Erwägungsgründen der Rom I- und II-Verordnungen, noch in denen anderer Verordnungen mit objektiver Primäranknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt geregelt. Noch scheint es, als sei die vorhandene Regelungs- oder Erklärungslücke planmäßig geschaffen worden. Im Gegenteil erklärt sich ein Offenlassen der Grenzpendlerfrage im Rahmen der Rom I- und II-Verordnungen durch die infolge der Teilüberformung der Art. 19 Rom I-VO, 23 Rom II-VO geringe rechtspraktische Bedeutung des gewöhnlichen Aufenthalts. Schließlich sind auch die vergleichbare Interessenlage und ein entsprechendes Regelungsbedürfnis vorhanden: Bei der Grenzpendelei handelt es sich um ein spezifisches Problem der Aufenthaltsbestimmung, das erstens unabhängig vom Regelungskontext identische Fragen aufwirft, zweitens bislang weder im autonomen noch im unionsrechtlichen IPR eine verbindliche Regelung erfahren hat, drittens aber ex ante durch verbindliche Wegweiser konkretisiert werden muss, um eine rechtssichere und individualinteressengerechte Handhabung unklarer Fälle zu garantieren. Das damit angesprochene Regelungsbedürfnis dürfte im Hinblick auf die EuErbVO zwar graduell höher sein als im Rahmen anderer Regelungszusammenhänge, was sich aber, viertens, nur dadurch erklärt, dass der Einfluss des gewöhnlichen Aufenthalts auf das Rechtsanwe ndungsergebnis im Erbrecht größer ist als in vertrags- und deliktsrechtlichen Konstellationen. Unter dem Vorbehalt einer vergleichbaren Interessenlage geben die Erwägungsgründe zur EuErbVO dem Rechtsanwender also ein nicht auf Nachlassfälle beschränktes, verallgemeinerungsfähiges Gerüst für die Aufenthaltsermittlung an die Hand. 93 Die dort formulierten Leitlinien und Zweifelsregelungen eignen sich insbesondere für das Vertrags- und Deliktsrecht. Allerdings lässt dieser Befund für sich genommen keine Schlussfolgerungen zu, sondern wirft im Gegenteil eine Anschlussfrage auf. Sie lautet, ob und inwiefern sich die hier vorgeschlagene Analogie mit den dort formulierten Umschreibungen der Aufenthaltsanknüpfung verträgt. Ihr ist der folgende Abschnitt gewidmet.
92 Die von Spickhoff, IPRax 1995, 185 besprochene Entscheidung des Österreichischen OGH, 28.4.1994 ± 2 Ob 10/93 betraf beispielsweise die Frage, ob ein in Österreich arbeitender Bosnier bei einem Autounfall im Ausland gemäß einer Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO entsprechenden Bestimmung österreichischem Deliktsrecht unterworfen werden darf, obwohl seine Familie und sozialen Bindungen sich nach wie vor in Bosnien befinden. 93 In unterhalts- und scheidungsrechtlichen Fällen kann die Interessenlage dagegen bereits deshalb anders gestaltet sein, weil die Schutzinteressen der Beteiligten, namentlich des Unterhaltsgläubigers, eine größere Rolle spielen. Hierauf wird zurückzukommen sein.
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§ 6 Konturen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs
3. Art. 19 Rom I-VO und Art. 23 Rom II-VO Art. 19 Rom I-VO und Art. 23 Rom II-VO formulieren Kriterien für die Aufenthaltsbestimmung juristischer und beruflich handelnder natürlicher Personen. 94 Beruflich handelnde Privatpersonen sollen ihren gewöhnlichen Aufenthalt am Ort ihrer Hauptniederlassung haben (Art. 19 Abs. 1 UA 2 Rom IVO). Bei Gesellschaften, Vereinen und juristischen Personen soll dagegen der Ort der Hauptverwaltung den Ausschlag geben (Art. 19 Abs. 1 UA 1 Rom I-VO).95 Art. 19 Abs. 3 Rom I-VO erklärt den Zeitpunkt des Vertragsschlusses, Art. 23 Abs. 3 Rom II-VO den der unerlaubten Handlung für entscheidend. Sofern die in Rede stehende vertragliche oder deliktische Pflicht mit der Tätigkeit oder Verantwortungssphäre einer Zweigniederlassung oder Agentur in einem Zusammenhang steht, entscheidet deren Sitz über das anwendbare Recht (Abs. 2). Die Erwägungsgründe zur Rom I-VO kennzeichnen die Vorschrift als ÄDefinition³, 96 die durch das Gebot der Rechtssicherheit gerechtfertigt sein soll. 97 Dass im Gegensatz zu Art. 63 EuGVVO bei Gesellschaften und juristischen Personen nicht alternativ an den Satzungssitz, die Hauptverwaltung oder die Hauptniederlassung angeknüpft wird, sondern stattdessen nach Art. 19 Abs. 1 Rom I-VO allein die Hauptverwaltung sachrechtsbestimmend sein soll, wird mit der Notwendigkeit begründet, durch eindeutige Zuordnungsparameter die Vorsehbarkeit von Verweisungsergebnissen sicherzustellen. 98 Der statistisch weniger bedeutsame gewöhnliche Aufenthalt nicht beruflich handelnder natürlicher Personen bleibt von dieser Konkretisierung ausgenommen. 99 Für ihn deutet die Existenz der sogenannten Teildefinitionen des Art. 19 Abs. 1 Rom I-VO zwar ein verordnungsautono-
94 Ä(1) Fr die Zwecke dieser Verordnung ist der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts von Gesellschaften, Vereinen und juristischen Personen der Ort ihrer Hauptverwaltung. Der gewöhnliche Aufenthalt einer natrlichen Person, die im Rahmen der Ausbung ihrer beUXIOLFKHQ7lWLJNHLWKDQGHOWLVWGHU2UWLKUHU+DXSWQLHGHUODVVXQJ³ 95 Dazu Briggs, Private International Law in English Courts, 2014, Rn. 7.124 ff. 96 Erwägungsgrund 39 (s.u.) 97 (UZlJXQJVJUXQG ÄAus Gründen der Rechtssicherheit VROOWH GHU %HJULII ÃJeZ|KQOLFKHU$XIHQWKDOWµLQVEesondere im Hinblick auf Gesellschaften, Vereine und juristische Personen, eindeutig definiert werden. [...]³+HUY. d. Verf.). 98 (UZlJXQJVJUXQG Ä,P8QWHUVFKLHG]X$UWLNHO$EVDW]GHU9HURUGQXQJ(* Nr. 44/2001, der drei Kriterien zur Wahl stellt, sollte sich die Kollisionsnorm auf ein einziges Kriterium beschränken, da es für die Parteien andernfalls nicht möglich wäre, vorher]XVHKHQZHOFKHV5HFKWDXILKUHQ)DOODQZHQGEDULVW³(Herv. d. Verf.). Dass das Bedürfnis QDFK HLQHU ÄYRUKHUVHKEDUHQ³ 5HFKWVDQZHQGXQJ IUHLOLFK DXFK EHL QLFKW JHZHUEOLFK KD ndelnden Einzelpersonen entsteht, deren gewöhnlicher Aufenthalt sich nicht nach der Legaldefinition in Art. 19 Rom I-VO, Art. 23 Rom II-VO richtet, sei hier nur am Rande erwähnt. 99 BeckOGKBGB/Rass-Masson Art. 19 Rom I-VO Rn. 22; Staudinger/Spellenberg Art. 19 Rom I-VO Rn. 29.
A. Legaldefinitionen und Umschreibungen
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mes Begriffsverständnis an. 100 Offen ist aber, ob und inwieweit sich aus den Begriffskonkretisierungen für Gewerbetreibende verallgemeinerungsfähige Leitlinien für einen Aufenthaltsbegriff entwickeln lassen. 101 Diese Frage gilt es für die Anknüpfung an die Hauptverwaltung (a)) und die Hauptniederlassung (b)) jeweils getrennt zu beantworten. a) Hauptverwaltung und Aufenthalt Die Art. 19 Abs. 1 Rom I-VO, 23 Abs. 1 Rom II-VO führen mit der Anknüpfung an die Hauptverwaltung eine gebotene konzeptionelle Trennung zwischen der Handhabung natürlicher Personen einerseits und der von Personenmehrheiten andererseits herbei. 102 Der in beiden Vorschriften wortlautgleichen Differenzierung nach Gesellschaften, Vereinen und juristischen Personen kommt keine Bedeutung zu. Erfasst ist jeder Personenzusammenschluss, der nach dem maßgeblichen Gesellschaftsstatut partei-, geschäftsoder handlungsfähig ist. 103 Im Gegensatz zum gewöhnlichen Aufenthalt juristischer Personen konnte der gewöhnliche Aufenthalt natürlicher Personen aus der Sicht des Verordnungsgebers undefiniert bleiben. Hier entscheiden also weiterhin die individuellen Lebensumstände des Anknüpfungssubjekts über das anwendbare Recht. Für juristische Personen fiele deren Bestimmung weitaus schwerer, da ihre Äpersönlichen Lebensumstände³ sich regelmäßig in der Unternehmensaktivität erschöpfen. Freilich wäre es möglich, auf das Äpersonale Substrat³ 104 der Gesellschaft abzustellen und den gewöhnlichen Aufenthalt der leitenden Gesellschafter als maßgeblichen Anknüpfungspunkt heranzuziehen. Dann müsste man aber, erstens, eine weitere Kollisionsnorm für den Fall einführen, dass die gewöhnlichen Aufenthalte der Gesellschafter sich in mehreren, unterschiedlichen Staaten befinden. Zweitens stünde die Frage im Raum, ob der persönliche Lebensmittelpunkt eines Gesellschafters tatsächlich Aufschluss über den Handlungsschwerpunkt der von ihm beruflich geleiteten Gesellschaft gibt. Wollte man den Gesellschafteraufenthalt für maßgeblich erklären, müsste man, sofern der berufliche und der private Le100
MüKoBGB/Martiny Art. 19 Rom I-VO Rn. 12; Staudinger/Spellenberg Art. 19 Rom I-VO Rn. 5; BeckOGK/Rass-Masson Art. 19 Rom I-VO Rn. 2; Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 166. 101 Ablehnend Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 167; kraft gewollten Auslegungszusammenhangs befürwortend im Verhältnis zwischen Rom I-VO und Rom II-VO BeckOGKBGB/Rass-Masson Art. 19 Rom I-VO Rn. 5, 22. 102 BeckOGKBGB/Rass-Masson Art. 23 Rom II-VO Rn. 2.1. 103 BeckOGKBGB/Rass-Masson Art. 23 Rom II-VO Rn. 10 m.w.N. 104 Begriffliche Anleihe bei der Konkretisierung des Art. 19 Abs. 3 GG durch BVerfG, 2.5.1967 ± 1 BvR 578/63 ± Sozialversicherungsträger ± BVerfGE 21, 362 (369). Anders, nämlich auf die grundrechtstypische Gefährdungslage abstellend, BVerfG, 7.6.1977 ± 1 BvR 108/73; 1 BvR 424/73; 1 BvR 226/74 ± Stadtwerke Hameln ± BVerfGE 54, 63 (69). Nachweise bei Kingreen/Poscher, Grundrechte: Staatsrecht II, 32. Auflage 2016, Rn. 168.
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bensmittelpunkt in unterschiedliche Rechtsordnungen weisen, eine zur EuErbVO umgekehrte Gewichtung vornehmen. Die Anknüpfung an die Hauptverwaltung ermöglicht im Gegensatz dazu eine direkte Bezugnahme auf das tatsächliche Aktionszentrum einer juristischen Person. Der Begriff wird freilich ebenso wenig definiert wie der gewöhnliche Aufenthalt selbst. In Anlehnung an die gleichlautenden Begriffe der EuGVVO und des Luganer Übereinkommens kann man die Anknüpfung an die Hauptverwaltung als Umschreibung des tatsächlichen oder effektiven Verwaltungssitzes einer Gesellschaft verstehen, der auch den maßgeblichen Anknüpfungspunkt der Sitztheorie bildet. 105 Darunter wird teils der wirtschaftliche Schwerpunkt 106 oder der Ort der tatsächlichen Verwaltung einer Gesellschaft107 verstanden, teils aber auch der Ort, an dem die Willensbildung der Leitungsorgane erfolgt 108 und an dem die wesentlichen Organisationsentscheidungen getroffen werden. Andere umschreiben den effektiven Verwaltungssitz mit dem Tätigkeitsort der Geschäftsführung, an dem grundlegende Entscheidungen einer Unternehmensleitung und die laufende Geschäftsführung zusammentreffen. 109 Der effektive Verwaltungssitz befindet sich demnach dort, wo die Geschäftsführung und ihre Vertretungsorgane tätig werden.110 Gemeinsam ist allen Ansätzen nur, dass der Satzungssitz bei der Bestimmung des Organisationszentrums einer Gesellschaft keine Bedeutung erlangt. 111 Eine Entscheidung darüber, welcher dieser beiden Definitionsvorschläge den Vorzug verdient, muss nicht fallen. 112 Der Aussagegehalt des Konzepts der Hauptverwaltung für das Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts natürlicher Personen ist gering. Dem Umstand, dass nicht dem Satzungs-, sondern dem effektiven Verwaltungssitz einer Gesellschaft sachrechtsbestimmende Wirkung zukommen soll, lässt sich allenfalls die Maßgabe entnehmen, dass der EU-Gesetzgeber die grenzüberschreitende Unternehmensmobilität kollisionsrechtlich würdigen und gleichzeitig den Schutz möglicher Vertragspartner sicherstellen möchte. Diese rechtspolitische Grundsatzentscheidung steht freilich ebenso hinter der Wahl des gewöhnlichen Aufenthalts anstelle der Staatsangehörigkeit, erlaubt aber keinerlei konkrete Rückschlüsse darauf, wie dieser im Einzelfall konkre105
Michalski/Leible Internationales Gesellschaftsrecht Rn. 72. BGH, 26. 9. 1966 ± II ZR 56/65 ± NJW 1967, 36 (38). 107 BFH, 9.7.1992 ± VII ZR 7/92 ± IPRax 1993, 248 (249). 108 Ebenroth/Sura, Das Problem der Anerkennung im Internationalen Gesellschaftsrecht, RabelsZ 43 (1979), 315 (324). 109 Ebenroth/Sura, RabelsZ 43 (1979), 315 (324). 110 Erstmals Sandrock, Die Konkretisierung der Überlagerungstheorie in einigen zentralen Einzelfragen. Ein Beitrag zum internationalen Gesellschaftsrecht, FS Beitzke, 1979, 669 (683). 111 Ibid. 112 Zum Streit Michalski/Leible Internationales Gesellschaftsrecht Rn. 72. 106
A. Legaldefinitionen und Umschreibungen
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tisiert werden sollte. Jenseits dieser groben Leitlinien erfolgt die Beurteilung von Personenzusammenschlüssen auf der Grundlage von Anknüpfungstatsachen, die natürliche Personen auch dann ratione materiae nicht aufweisen, wenn sie einer beruflichen Tätigkeit nachgehen. Das gilt vor allem für den gerade skizzierten Sandrock¶schen Ansatz, 113 der auf den Ort der gesellschaftlichen Willensbildung und Vertretung abstellt. 114 Damit ist eine besondere Eigenschaft der Binnenorganisation in Personenmehrheiten angesprochen, die natürliche Personen nicht aufweisen können. Sofern man auf andere der oben genannten Faktoren wie den wirtschaftlichen Schwerpunkt abstellen möchte, um dem Begriff des effektiven Verwaltungssitzes Konturen zu verleihen, gehen die Begriffe der Hauptverwaltung juristischer und der Hauptniederlassung natürlicher Personen ineinander auf. Inwieweit die begrifflichen Konkretisierungen der Art. 19 Rom I-VO, 23 Rom II-VO Rückschlüsse auf das Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts privat handelnder natürlicher Personen, und damit auf das Konzept des gewöhnlichen Aufenthalts insgesamt zulassen, hängt also davon ab, wie verallgemeinerungsfähig beide Begriffe sind. b) Hauptniederlassung und Aufenthalt Mit der Anknüpfung an die Niederlassung juristischer Personen greift der EU-Gesetzgeber auf einen bewährten Begriff des staatsvertraglichen und verordnungsrechtlichen Internationalen Privat- und Zivilverfahrensrechts sowie des Einheitsrechts zurück. 115 Die Niederlassung dient sowohl historisch als auch aktuell in der überwiegenden Zahl der Fälle der Bestimmung der internationalen Zuständigkeit, so beispielsweise in Art. 31 Abs. 1 lit. a) des Genfer Übereinkommens über den Beförderungsvertrag (CMR) 116 und in Art. 33 des Montrealer Luftfahrtübereinkommens (MÜ). 117 Eine im engeren Sinne 113
Ders., FS Beitzke, 1979, 669. Michalski/Leible Internationales Gesellschaftsrecht Rn. 72, Fn. 5 m.Verw. auf BGH, 21.7.1986 ± V ZR 10/85 ± BGHZ 97, 269 (272); OLG Muȋnchen, 6.5.1986 ± 5 U 2562/85 ± NJW 1986, 2197 (2198) ± BayObLGZ 1985, 272 (279); OLG Hamburg, 21.1.1987 ± RIW 1988, 816; KG, 13.6.1989 ± 6 U 591/89 ± NJW 1989, 3100. S. außerdem Bamberger/Roth/Mäsch Anhang zu Art. 12 EGBGB Rn 59; MüKoBGB/Kindler Internationales Gesellschaftsrecht Rn 434; Staudinger/Großfeld Internationales Gesellschaftsrecht Rn 228. 115 Zur Entwicklungsgeschichte Albers, Die Begriffe der Niederlassung und der Hauptniederlassung im Internationalen Privat- und Zivilverfahrensrecht, 2010, 47 f. 116 Übereinkommen vom 19. Mai 1956 uȋber den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr (CMR), BGBl. 1961 II 1119. 117 Montrealer Übereinkommen über die Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über den Internationalen Luftfahrtverkehr vom 28.5.1999, BGBl. 2004 II 459; dazu Weller/Rentsch/Thomale, Schmerzensgeld nach Flugzeugunglücken, NJW 2015, 1909. Weitere Anwendungsgebiete im Zuständigkeitsrecht (allerdings unter dem Oberbegriff des Internationalen Vertragsrechts) nennt Albers, Niederlassung, 2010, 126 ff. 114
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internationalprivatrechtliche Funktion erfüllt der Begriff dagegen bislang nur im staatsvertraglichen und verordnungsrechtlichen Internationalen Vertragsund Deliktsrecht. Auf dem Gebiet des Internationalen Vertragsrechts verdient Art. 3 des Haager Kaufrechtsübereinkommens von 1955 Erwähnung. 118 Er dient als Blaupause für spätere Kodifikationen, insbesondere für das EVÜ.119 Im Internationalen Deliktsrecht kommt die Anknüpfung an die Niederlassung insbesondere in den wettbewerbsrechtlichen Verordnungen der Union zum Einsatz, beispielsweise in der Fernseh- und E-Commerce-Richtlinie und in der MarkenVO. In allen drei Fällen dient der Begriff der Konkretisierung des als Äkollisionsrechtsneutral³ verstandenen Herkunftslandsprinzips. 120 In Art. 1 Abs. 1 des CISG 121 und Art. 2 Abs. 2 des UNIDROITÜbereinkommens über das Internationale Factoring (FactÜ) aus dem Jahr 1988122 dient die Niederlassung zur Bestimmung der Anwendbarkeit des Internationalen Einheitsrechts. Sie erfüllt also die gleiche Funktion wie der gewöhnliche Aufenthalt. 123 Über die gesetzgeberischen Motive für die Konkretisierung des gewöhnlichen Aufenthalts geben zunächst nur die Erwägungsgründe zur Rom I-Verordnung Aufschluss. 124 Sie setzen die Umschreibung in Art. 19 Rom I-VO mit dem Gebot der Rechtssicherheit in einen Zusammenhang. 125 Schon allein aufgrund des häufigen, wenn auch nicht dominanten Einsatzes des gewöhnlichen Aufenthalts in der Rom II-VO kann man davon ausgehen, dass auch die dortige ÄTeildefinition³ dem Anliegen der Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit geschuldet ist. 126
118
Übereinkommen vom 15. Juni 1955 betreffend das auf internationale Kaufverträge über bewegliche körperliche Sachen anzuwendende Recht. 119 Rauscher, Internationales Privatrecht, 5. Auflage 2017, Rn. 98. 120 Staudinger/Fezer/Koos Internationales Wettbewerbsrecht Rn. 503; Mansel, RabelsZ 70 (2006), 651. Anders Mankowski, Das Herkunftslandprinzip als Internationales Privatrecht der e-commerce-Richtlinie, ZVglRW 100 (2001) 137±181 (148 ff.); Michaels, EU Law as Private International Law? Re-conceptualising the Country-of-Origin Principle as Vested Rights Theory, 2 Journal of Private International Law (2006) 195. 121 Dazu Albers, Niederlassung, 2010, 123 ff. (Vertragsrecht), 177 ff. (Deliktsrecht) sowie unten § 7 C. 122 In Deutschland in Kraft seit 1.12.1998, BGBl. 1998 II 172. 123 Weitere Beispiele bei Albers, Niederlassung, 2010, 128 ff. 124 So Erwägungsgrund 39 sowie Weller, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0-Verordnung?, 2013, 293 (305). 125 (UZlJXQJVJUXQG Ä$XV *UQGHQ GHU 5HFKWVVLFKHUKHLW VROOWH GHU %HJULII ÃJewöhnlicher Aufenthaltµ, insbesondere im Hinblick auf Gesellschaften, Vereine und juristiVFKH3HUVRQHQHLQGHXWLJGHILQLHUWZHUGHQ³ 126 So auch BeckOGKBGB/Rass-Masson Art. 23 Rom II-VO Rn. 2.
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c) Aussagegehalt für den gewöhnlichen Aufenthalt Weder die Erwägungsgründe noch die historische Rekonstruktion der Teildefinition erlauben ein verbindliches Urteil über den Begriffsinhalt des gewöhnlichen Aufenthalts. Auch die Bedeutung des Begriffs im Kontext der Rom Iund Rom II-VO lässt sich nur schwer erkennen. aa) Definitionsqualität Ein Blick auf den Wortlaut der Definitionen lässt zunächst berechtigte Zweifel daran zu, dass sich aus der Anknüpfung an die Hauptniederlassung konkrete Rückschlüsse für das Verständnis des gewöhnlichen Aufenthaltes ableiten lassen. Zunächst fehlen beiden Vorschriften die wesentlichen Charakteristika einer Definition. Weder setzen die Art. 19 Rom I-VO, 23 Rom II-VO ein den gewöhnlichen Aufenthalt von der Niederlassung abgrenzendes tertium comparationis ein,127 noch legen sie die differentia specifica des gewöhnlichen Aufenthalts von anderen Anknüpfungsmomenten fest. Wie sich die Niederlassung zum gewöhnlichen Aufenthalt verhält, insbesondere ob es sich um eine besondere Ausprägung, ein Parallelkonzept oder einen Gegenbegriff handeln soll, wird aus den Bestimmungen also nicht deutlich. Ferner trifft keine der beiden Vorschriften eine auch nur vage Aussage über das Verhältnis zwischen Hauptniederlassung und Hauptverwaltung. Das betrifft insbesondere mögliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beruflich handelnden, natürlichen und juristischen Personen. 128 Entsprechend lassen sich aus den bloßen begrifflichen Gleichsetzungen beider Vorschriften auch im Wege der Analogie keine konkreten Rückschlüsse auf das insoweit maßgebliche Anknüpfungskriterium, den gewöhnlichen Aufenthalt, ziehen. Anders als Erwägungsgrund 39 zur Rom I-VO es nahelegt, kann also keine der beiden Vorschriften als Aufenthaltsdefinition verstanden werden. 129 Stattdessen ersetzen sie den gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich des Vertrags- und Deliktsrechts durch Begriffe, die eine vorhersehbarere Rechtsfindung versprechen.130
127
Zu den Grundlagen der Analogiebildung s. Kutschera, Elementare Logik, 1967; Kleinknecht, Grundlagen der modernen Definitionslehre, 1979. 128 Ferrari/Kieninger/Mankowski/Ferrari Art. 19 Rom I-92 5Q Ä'LH 9RUVFKULIW schreibt nicht fest, welcher Ort dem des gewöhnlichen Aufenthalts von nicht beruflich KDQGHOQGHQQDWUOLFKHQ3HUVRQHQJOHLFK]XVWHOOHQLVW³ 129 Zur Rom I-VO MüKoBGB/Martiny Art. 19 Rom I-VO Rn. 11; Magnus, Die Rom IVerordnung, IPRax 2010, 27 (35); Plender/Wilderspin, European Private International Law of Obligations, 4. Auflage 2014, Rn. 3-024; Zur Rom II-VO BeckOGKBGB/RassMasson Art. 23 Rom II-VO Rn. 8. 130 BeckOGKBGB/Rass-Masson Art. 23 Rom II-VO Rn. 8.
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Die Entwicklungsgeschichte des Europäischen Internationalen Schuldrechts bestätigt diese Überlegung. Unter dem EVÜ 131 waren gewöhnlicher Aufenthalt und Niederlassung anders als in Art. 19 Rom I-VO nicht unter dem Dach einer ÄTeildefinition³ verschränkt, sondern standen lediglich im Rahmen der Vermutungsregelung des Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO lose nebeneinander.132 Das Grünbuch der Kommission über die Umwandlung des EVÜ in einen Sekundärrechtsakt 133 diskutiert zwar, ob die in Art. 4 Abs. 2 EVÜ formulierte Zweifelsregelung in eine verbindliche Kollisionsnorm umformuliert werden sollte, 134 widmet der Parallele zwischen gewöhnlichem Aufenthalt und Hauptniederlassung aber keine Aufmerksamkeit. Die Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses unterlässt eine Diskussion ebenfalls. 135 Der Verordnungsentwurf begründet die vorgesehene ÄGleichstellung³ des gewöhnlichen Aufenthalts mit dem Ort der Hauptverwaltung und -niederlassung durch einen Verweis auf eine inhaltsgleiche Vorschrift in der Rom II-VO. 136 Die Vorschrift wird im Gesetzgebungsverfahren nur unwesentlich verändert. 137 Die Begründung zu Art. 19 des Entwurfs, der der aktuellen Fassung des Art. 23 weitgehend entspricht, spricht anstatt einer Definition von einer Gleichstellung der Hauptverwaltung und -niederlassung mit dem gewoȋhnlichen Aufenthalt. 138 Inhaltlich verweist der Entwurf auf die Wohnsitzdefinition in Art. 60 EuGVVO a.F.139 Übereinkommen ber das auf vertragliche Schuldverhlltnisse anzuwendende Recht vom 19. Juni 1980, BGBl. 1986 II, 810, konsolidierte Fassung ABl. 1998 C 27/2. 132 Ä 9RUEHKDOWOLFK GHV $EVDW]HV ZLUG YHUPXWHW GD GHU 9HUWUDJGLH HQJVWHQ 9Hrbindungen mit dem Staat aufweist, in dem die Partei, welche die charakteristische Leistung zu erbringen hat, im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses ihUHQ JHZ|hnlichen Aufenthalt oder, wenn es sich um eine Gesellschaft, einen Verein oder eine juristische Person handelt, ihre Hauptverwaltung hat. Ist der Vertrag jedoch in Ausbung einer beruflichen oder geZHUEOLFKHQ7ltigkeit dieser Partei geschlossen worden, so wird vermutet, daß er die engsten Verbindungen zu dem Staat aufweist, in dem sich deren Hauptniederlassung befindet oder in dem, wenn die Leistung nach dem Vertrag von einer anderen als der Hauptniederlassung zu erbringen ist, sich die andere NiHGHUODVVXQJEHILQGHW³ 133 KOM(2002) 654 endg. 134 KOM(2002) 654 endg., 30 f. 135 ABl EU 2004 C 108/1. 136 KOM(2005) 650 eQGJÄ:LHLP9RUVFKODJÃ5RP ,,µ enthllt Artikel 18 eine DefiniWLRQGHV%HJULIIVÃJHZ|hnlicher AufenthaltµLQVEesondere im Hinblick auf juristische PerVRQHQ³ 137 Die Änderungsvorschläge des Rates vom 12.10.2006, 13853/06, 2005/0261 (COD), JUSTCIV 224, CODEC 1085, 17, konkretisieren die Vorschrift, stellen die Gleichsetzung aber nicht in Frage. 138 .20 HQGJÄ,QGLHVHP$UWLNHOZird geregelt, welcher Ort bei Gesellschaften, Vereinen oder juristischen Personen sowie bei natrlichen Personen, die eine selbstlnzdige freiberufliche oder gewerbliche Tltigkeit ausbeQ DOV ÃJHZ|KQOLFKHU $XfHQWKDOWµJLOW³ 139 Ibid. 131
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Eine Diskussion darüber, ob die Begriffe der Hauptniederlassung und -verwaltung den gewöhnlichen Aufenthalt definieren, findet also nicht statt. Die Identifikation des gewöhnlichen Aufenthalts mit beiden Begriffen scheint vielmehr dem Anliegen geschuldet, den Gleichklang zwischen der EuGVVO, der Rom I-VO und der Rom II-VO her- und sicherzustellen. 140 Dieser Befund rechtfertigt eine rechtsaktübergreifende Begriffsbildung im Hinblick auf die Hauptverwaltung und -niederlassung. Er erlaubt aber keine verbindlichen Rückschlüsse auf das Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts, weil die EuGVVO mit einem allgemeinen Wohnsitzgerichtsstand arbeitet. bb) Indirekter Aussagegehalt Auch indirekt erlaubt die Identifikation von Hauptverwaltung und Hauptniederlassung mit dem gewöhnlichen Aufenthalt keine konkreten Schlussfolgerungen. Der Begriff der Niederlassung wird ebensowenig wie der des gewöhnlichen Aufenthalts im Verordnungstext definiert. Zwar ist man sich einig darüber, dass der Begriff der Hauptniederlassung nach Möglichkeit verordnungsübergreifend einheitlich ausgelegt werden sollte; 141 nicht zuletzt seines Einsatzes in den unterschiedlichsten konventions- und verordnungsrechtlichen Normen wegen lässt er aber ähnliche inhaltliche Unebenheiten erkennen wie der gewöhnliche Aufenthalt selbst. 142 Ein sowohl das Internationale Einheitsrecht als auch das staatsvertragliche und verordnungsrechtliche IPR und IZVR umspannender Niederlassungsbegriff hat sich bislang nicht entwickelt. 143 Unabhängig davon nehmen die Hauptniederlassung und Hauptverwaltung auf Anknüpfungstatsachen Bezug, die bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts von Privatpersonen ratione materiae nicht vorrangig berücksichtigt werden können. Der Gerichtshof der Europäischen Union definiert den Begriff der Niederlassung für die Zwecke des Art. 5 Nr. 5 EuGVÜ nämlich als ÄMittelpunkt geschäftlicher Tätigkeit [...]³144, auf den es bei pri140
So auch Albers, Niederlassung, 2010, 190. BeckOGKBGB/Rass-Masson Art. 23 Rom II-VO Rn. 5.2. 142 Albers, Niederlassung, 2010, 337. 143 Prägnant Albers 1LHGHUODVVXQJ Ä(LQHQ HLQKHLWOLFKHQ 5HFKWVEHJULII GHU Niederlassung gibt es [...] QLFKW³ EuGH, 22.11.1978 ± C-33/78, Rn. 12 ± Somafer SA ./. Saar Ferngas ± Slg. 1978, Ä>@ mit dem Begriff der Zweigniederlassung, der Agentur oder der sonstigen NieGHUODVVXQJ>LVW@HLQ0LWWHOSXQNWJHVFKlftlicher Tltigkeit gemeint, der auf Dauer als Außenstelle eines Stammhauses hervor tritt, eine Geschlftsfhrung hat und sachlich so ausgestattet ist, daß er in der Weise Geschlfte mit Dritten betreiben kann, daß diese, obgleich sie ZLVVHQGDP|glicherweise ein Rechtsverhlltnis mit dem im Ausland anslssigen Stammhaus begrndet wird, sich nicht unmittelbar an dieses zu wenden brauchen, sondern Geschlfte an dem Mittelpunkt geschlftlicher Tltigkeit abschließen k|nnen, der dessen AuHQVWHOOHLVW³ 141
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vat handelnden natürlichen Personen aus den vorstehend genannten Gründen nicht ankommen kann. d) Konsequenzen Die Begriffe der Hauptverwaltung und der Hauptniederlassung lassen damit keine Rückschlüsse auf das Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts nicht beruflich handelnder natürlicher Personen zu: Erstens beziehen sich die drei Begriffe auf unterschiedliche, einander jeweils ausschließende Anknüpfungstatsachen. Zweitens ist namentlich der Niederlassungsbegriff der RomVerordnungen selbst nicht ausreichend gefestigt, um für den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts einen geeigneten Konkretisierungsrahmen bereitzustellen. Der gewöhnliche Aufenthalt, die Hauptverwaltung und die Hauptniederlassung stehen dementsprechend nicht in einem Verhältnis der Interdependenz, sondern schließen einander begrifflich aus. Anstatt einer ÄTeildefinition³ des gewöhnlichen Aufenthalts sprechen die Art. 19 Rom I-VO, 23 Rom II-VO eine abweichende Teilverweisung aus. 4. Gewöhnlicher Aufenthalt und COMI Schließlich ist zu beachten, dass der gewöhnliche Aufenthalt natürlicher Personen in Art. 3 Abs. 1 UA 4 S. 2 EuInsVO 2017 mit dem Centre of Main Interests (COMI) identifiziert wird, der in der EuInsVO die internationale Zuständigkeit und das anwendbare Insolvenzrecht bestimmt. Die Vorschrift kodifiziert eine gefestigte Ansicht. Bereits der 1996 erstellte Virgos/SchmitBericht zum damals geplanten Europäischen Insolvenzrechtsübereinkommen setzt das COMI des Privatschuldners ganz selbstverständlich mit dem gewöhnlichen Aufenthalt gleich. 145 Auch die im Vorgängerprojekt zur EuInsVO, dem Entwurf eines Europäischen Insolvenzübereinkommens, vorgelegten Sachverständigengutachten setzen ohne weitere Erklärung voraus, dass das COMI natürlicher Personen durch den gewöhnlichen Aufenthalt konkretisiert wird.146 Der Entwurf einer Neufassung der EuInsVO, der diese Ansicht
145 Dies., Report on the Convention on Insolvency Proceedings, 3.5.1996, 6500/96, DRS 8 (CFC), 52; Rat vom 8.7.1996, 6500/1/96, 51, Rn. 7.75: ÄIn principle, the centre of main interests will in the case of professionals be the place of their professional domicile and for natural persons in general, the place RI WKHLU KDELWXDO UHVLGHQFH³ Veröffentlicht als VirJyV*DUFLPDUWtQ, The European Insolvency Regulation: Law and Practice, 2004; Hess, EuZPR, 2010, § 9 Rn. 16. 146 Gegenstimmen fanden sich bislang besonders im deutschen Schrifttum. Vorgeschlagen wurde hier, statt des gewöhnlichen Aufenthalts den Wohnsitz des privaten Insolvenzschuldners als Regelbezugspunkt einzusetzen, um die Gerichtsstandsbestimmung in der EuInsVO parallel zur EuGVVO zu gestalten, vgl. Huber, Internationales Insolvenzrecht in Europa, ZZP 114 (2001), 133 (140).
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in Gesetzesform gießt, wurde am 20.6.2015 vom Parlament genehmigt; 147 die Neufassung der Verordnung ist am 26.6.2015 in Kraft getreten. 148 Im Gegensatz zur Vorgängerbestimmung (Art. 3 EuInsVO)149 wird der COMI natürlicher Personen dort von Gesetzes wegen am gewöhnlichen Aufenthalt vermutet.150 Ausweislich des Art. 3 Abs. 1 UA 4 EuInsVO 2017 muss der Aufenthaltswechsel jedoch mindestens sechs Monate vor Eröffnung des Insolvenzantrags erfolgt sein. 151 Identifiziert man den gewöhnlichen Aufenthalt mit dem COMI des privaten Insolvenzschuldners, bestimmt er in dieser Funktion sowohl die internationale Zuständigkeit (Art. 3 Abs. 1 UA 4 EuInsVO 2017) als auch ± indirekt über den Verweis in die lex fori ± das anwendbare Insolvenzrecht (Art. 7 Abs. 1 EuInsVO 2017). 152 Dies wirft die Frage auf, welche Rückschlüsse sich aus der Identifikation des COMI mit dem gewöhnlichen Aufenthalt für dessen Begriffsinhalt gewinnen lassen. a) Strukturelle Gemeinsamkeiten Strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen COMI und gewöhnlichem Aufenthalt lassen sich leicht erkennen. Erstens werden beide Anknüpfungspunkte unionsrechtsautonom und in Ansehung der sachverhaltsrelevanten Tatsachen ausgelegt 153 und entsprechend angewendet. Zweitens stimmen sie im Hin147
Vallender, Europaparlament gibt den Weg frei für eine neue Europäische Insolvenzverordnung, ZIP 2015, 1513. 148 Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.5.2015 über Insolvenzverfahren, ABl. 2015 L 141/19. Die Verordnung gilt ab dem 26.6.2017, Art. 92 EuInsVO 2017. 149 Dazu aber BGH ± ,;=%5QPZ1ÄHandelt es sich bei dem Schuldner um eine abhängLJEHVFKlIWLJWH3HUVRQNDQQIUGHQ0LWWHOSXQNWGHUKDXSWVächlichen Interessen nach allgemeiner Rechtsansicht regelmäßig auf den gewöhnlichen Aufenthalt als tatsächlichen Lebensmittelpunkt abgestellt werden, wo der Schwerpunkt der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Beziehungen liegt³ 150 Zum Regelungszweck s. Erwägungsgrund 30 EuInsVO 2017 sowie Mankowski/Müller/Schmidt/Mankowski Art. 3 EuInsVO 2017 Rn. 18 ff. 151 Art. 3 Abs. 1 UA 4 S. ÄBei allen anderen natuȋrlichen Personen wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort ihres gewöhnlichen Aufenthalts ist. Diese Annahme gilt nur, wenn der gewöhnliche Aufenthalt nicht in einem Zeitraum von sechs Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des ,QVROYHQ]YHUIDKUHQVLQHLQHQDQGHUHQ0LWJOLHGVWDDWYHUOHJWZXUGH³'LH0LQGHVWGDXHUVROO eine missbräuchliche Verlagerung des Lebensmittelpunktes ausschließen, dient also dem Gläubigerschutz. Dazu Frind/Pannen, Einschränkung der Manipulation der insolvenzrechtlichen Zuständigkeiten durch Sperrfristen ± ein Ende des Forum Shopping in Sicht?, ZIP 2016, 398. 152 Zu den Ausnahmen zugunsten der lex causae s. EuGH, 16.4.2015 ± C-557/13 ± Bäuerle ./. Bäuerle ± RIW 2015, 357. 153 Vgl. für das COMI MüKoInsO/Reinhart Art. 3 EuInsVO Rn. 2; für den gewöhnlichen Aufenthalt vgl. nur Saenger/Dörner Art. 8 EuEheVO Rn. 3.
220
§ 6 Konturen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs
blick auf die Auslegungskompetenz und den Subsumtionsmodus überein. 154 Drittens lässt sich vermuten, dass das COMI von Privatpersonen und der gewöhnliche Aufenthalt sich auf vergleichbare Lebensumstände stützen und daher in dieselbe Rechtsordnung verweisen. Der vermögensbezogene Interessenmittelpunkt einer natürlichen, nicht gewerblich handelnden Person dürfte, wie auch Erwägungsgrund 24 zur EuErbVO voraussetzt, regelmäßig am selben Ort liegen wie der private Lebensmittelpunkt. 155 Zuletzt fehlt beiden Konzepten eine verbindliche Legaldefinition. 156 b) Strukturelle Unterschiede Trotzdem unterscheidet sich der COMI in einigen Aspekten von bisher erarbeiteten Strukturmerkmalen des gewöhnlichen Aufenthalts. aa) Unterschiede im Anknüpfungspunkt für Unternehmen Eine erste Abweichung liegt darin, dass der COMI in Ansehung von Unternehmen durch andere Merkmale konkretisiert wird als der gewöhnliche Aufenthalt. Art. 3 Abs. 1 EuInsVO vermutet den COMI juristischer Personen an deren Satzungssitz, während Art. 19 Abs. 1 Rom I-VO und Art. 23 Abs. 1 Rom II-VO den gewöhnlichen Aufenthalt verbindlich mit dem Ort der Hauptverwaltung der juristischen Person gleichsetzen. Die Begriffe wählen also unterschiedliche Bezugspunkte der Unternehmensaktivität. 157 Dieser Unterschied im Hinblick auf die Anknüpfungstatsachen deutet darauf hin, dass der insolvenzrechtliche gewöhnliche Aufenthalt bei Privatpersonen einen besonderen Ansatzpunkt wählen muss. Dass die EuInsVO zusätzlich zur Satzungssitzvermutung einen aktionsorientierten Begriff der Niederlassung kennt (Art. 3 Abs. 2, Art. 2 lit. h) EuInsVO 2001), 158 ändert nichts an den konzeptionellen Unterschieden zur Anknüpfung an den Satzungssitz. Auch die Gesetzgebungstechnik unterscheidet sich. Im ersten Fall ordnet der Verordnungsgeber eine verbindliche Gleichsetzung an, im zweiten arbeitet er mit einer Vermutungs- oder Zweifelsregelung.
Zum gewöhnlichen Aufenthalt ausdrücklich EuGH, 2.4.2009 ± C-523/07, Rn. 37 ± A ./. Perusturvalautakunta sowie EuGH, 22.12.2010 ± C-497/10 PPU, 1. Leitsatz, Rn. 47± 49 ± Mercredi ./. Chaffe. Zum COMI vgl. EuGH, 2.5.2006 ± C-341/04 ± Eurofood IFSC ± Slg. 2006, I-3813 ± ZIP 2006, 907. 155 So auch Hess, EuZPR, § 9 Rn. 16. 156 Zum Fehlen einer Legaldefinition des gewöhnlichen Aufenthalts Weller, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0-Verordnung?, 293 (296). 157 Mankowski, Die Rom I-Verordnung ± Änderungen im europäischen IPR für Schuldverträge, IHR 2008, S. 139; Gebauer/Wiedmann/Nordmeier § 37 Rn. 130. 158 MüKoInsO/Reinhart Art. 3 Abs. 1 EuInsVO Rn. 31. 154
A. Legaldefinitionen und Umschreibungen
221
Der Unterschied in den Referenzgrößen wird durch die Entscheidung in der Rechtssache Interedil überwunden. 159 Ihr lag die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer nach italienischem Recht gegründeten Gesellschaft zugrunde, deren satzungsmäßiger Sitz nach Großbritannien verlegt worden war. Fraglich war insbesondere die internationale Zuständigkeit, da die Gesellschaft auch nach der Sitzverlegung über Grundeigentum und Geschäftsbeziehungen in Italien verfügte und die italienischen Insolvenzgerichte dadurch die Satzungssitzvermutung widerlegt sahen. 160 Der EuGH fand diese Annahme durch die EuInsVO bestätigt: 161 Da der Verordnungsgeber davon ausgegangen sei, dass der satzungsmäßige Sitz regelmäßig mit dem der Hauptverwaltung und dadurch mit dem erkennbaren Aktionszentrum eines Unternehmens zusammenfalle, könne der Satzungssitz das COMI nur bestimmen, wenn sich der Ort der Hauptverwaltung ebenfalls dort befinde. 162 Soweit Satzungs- und Verwaltungssitz auseinanderfallen, bestimme im Zweifel der Hauptverwaltungssitz über die Zuständigkeit. Die Vermutung des Art. 3 Abs. 1 EuInsVO wird in diesen Fällen also entkräftet. 163 Dass die EuInsVO grundsätzlich nicht den Hauptverwaltungssitz (Art. 19 Abs. 1 Rom I-VO, Art. 23 Abs. 1 Rom II-VO), sondern den Satzungssitz (Art. 3 Abs. 1 EuInsVO) zum Ausgangspunkt der COMI-Bestimmung macht, wird damit praktisch irrelevant. 164 Stattdessen wird die Satzungssitzvermutung des Art. 3 Abs. 1 EuInsVO in eine Vermutung zugunsten des Gleichlaufs von Satzungs- und Hauptverwaltungssitz uminterpretiert. Auf Grundlage von Erwägungsgrund 13 EuInsVO erhält die zweite Lösung den Vorzug. 165 Der EuGH nivelliert also vormals bestehende, wesentliche Unterschiede der EuInsVO zu den Rom I- und II-Verordnungen. 166 Dieser Vorgang nähert auch COMI und gewöhnlichen Aufenthalt einander an. bb) Erkennbarkeit Erwägungsgrund 13 zur EuInsVO 2001 stellt alle für die COMI-Bestimmung relevanten Tatsachen unter den Vorbehalt der Erkennbarkeit und VorhersehEuGH, 21.1.2010 ± C-396/09 ± Interedil ± EuZW 2011, 912. EuGH ± C-396/09 ± Interedil ± EuZW 2011, 912 (913). 161 EuGH ± C-396/09, 3. Leitsatz, 1. Unterabsatz, Rn. 53 ± Interedil ± EuZW 2011, 912 (915 f.). 162 Ibid. 163 EuGH ± C-396/09, Rn. 51, 53, 58 ± Interedil ± EuZW 2011, 912 (915 f.). 164 Fehrenbach, ZEuP 2013, 353 (359 f.). 165 EuGH ± C-396/09 ± Interedil ± EuZW 2011, 912, 3. Leitsatz, 1. 8QWHUDEVDW]ÄBei der Bestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen einer Schuldnergesellschaft ist dem Ort der Hauptverwaltung dieser Gesellschaft, wie er anhand von objektiven XQGGXUFK'ULWWHIHVWVWHOOEDUHQ)DNWRUHQHUPLWWHOWZHUGHQNDQQGHU9RU]XJ]XJHEHQ³ 166 So auch Fehrenbach, ZEuP 2013, 353 (359 f.). 159 160
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§ 6 Konturen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs
barkeit für Dritte. 167 Damit wird eine praktisch bedeutsame Wahrnehmbarkeitsschwelle geschaffen, die bei der Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts grundsätzlich keine Entsprechung findet. Die rechtspraktische Handhabung des Art. 3 EuInsVO lässt erkennen, dass der für die COMI-Bestimmung angeordnete Erkennbarkeitsvorbehalt sich bei natürlichen Personen darin erschöpfen soll, dass ausschließlich auf Äobjektive³ Anknüpfungstatsachen Bezug genommen wird.168 Ist der Erkennbarkeitsschranke damit noch nicht Genüge getan, soll das COMI abweichend vom gewöhnlichen Aufenthalt bestimmt werden.169 Die Entscheidung Eurofood170 unterstreicht die Rolle der Erkennbarkeitsschwelle für die COMI-Bestimmung. Der EuGH setzt mit ihr einer instanzgerichtlichen Rechtsprechung ein Ende, 171 die das Insolvenzverfahren im Fall der Zahlungsunfähigkeit einer Konzernobergesellschaft auch über das Vermögen der Tochtergesellschaften eröffnete. 172 Seit Eurofood kann der bestimmende Einfluss der Muttergesellschaft die Sitzvermutung des Art. 3 Abs. 1 EuInsVO nur widerlegen, wenn die Konzernstruktur nach außen erkennbar zu Tage tritt. 173 Das zuerst genannte Zurechnungsmodell ist unter dem Begriff Mind of Management-Ansatz, 174 die vom EuGH gewählte Lösung als Business Activity-Ansatz175 bekannt. Allerdings stellt der EuGH so lediglich klar, dass die unternehmensinternen Machtverhältnisse als Bezugsgröße des Interessenmittelpunktes irrelevant sind. Stattdessen soll ausschließlich die werbende, also die mit Außenwirkung versehene, Unternehmensaktivität ins Gewicht fallen. 176 Eurofood betrifft damit ein Szenario, das bei der 167
Insoweit verengt der Erwägungsgrund den Kreis der COMI-relevanten Tatsachen. Hierzu und zum Kriterium der Erkennbarkeit Berends, The Eurofood Case: One Company, Two Main Insolvency Proceedings: Which One is the Real One?, NILR 53 (2006) 331 (341). 168 BGH ± IX ZB 70/16, Rn. 9. 169 BGH ± IX ZB 70/16, Rn. 9. 170 EuGH, 2.5.2006 ± C-341/04 ± Eurofood IFSC ± Slg. 2006, I-3813 ± ZIP 2006, 907. 171 Vgl. für Großbritannien High Court of Justice (Leeds), 16.5.2003, ISA-Daisytek, ZIP 2003, 1362 f.; High Court of Justice, 9.6.2006, Collins &Aikman, NZI 2006, 654 ff.; für Deutschland AG München ZIP 2004, 962 f.; AG Offenburg NZI 2004, 673. Ausführliche Anmerkung vgl. MüKoInsO/Reinhart Art. 3 EuInsVO Rn. 10 ff.; Weitere Nachweise bei Fehrenbach, ZEuP 2013, 353 (356) Fn. 13. 172 Vgl. die vierte Vorlagefrage des irischen Supreme Court, EuGH ± C-341/04, Rn. 24, 26 ff. ± Eurofood IFSC. Mit der Frage beschäftigten sich auch die Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs, Rn. 108 ff., 122 ff. ± Slg. 2006-I ± 3813 (3844). 173 EuGH ± C-341/04, 1. Leitsatz, Rn. 37 ± Eurofood IFSC; vgl. hierzu auch die Ausführungen des Generalanwalts Jacobs, Slg. 2006 I ± 3813 (3844). 174 Dazu MüKoInsO/Reinhart Art. 3 Abs. 1 EuInsVO Rn. 8, 20; MüKoBGB/Kindler Art. 3 EuInsVO Rn. 152. 175 MüKoInsO/Reinhart Art. 3 EuInsVO Rn. 21. 176 EuGH ± C-341/04 ± Eurofood IFSC.
A. Legaldefinitionen und Umschreibungen
223
Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts natürlicher Personen nicht relevant werden kann. Auch im Rahmen der EuInsVO können die schutzwürdigen Interessen der Gläubiger nur eine Rolle spielen, wenn der tatsächliche und der objektiv erkennbare Interessenmittelpunkt des Insolvenzschuldners auseinanderfallen. 177 Bei Privatpersonen dürfte das ohnehin nur der Fall sein, wenn auch der gewöhnliche Aufenthalt nicht eindeutig ermittelt werden kann. In solchen Fällen bietet es sich auch bei natürlichen Personen an, Erkennbarkeitserwägungen in die Aufenthaltsbestimmung einfließen zu lassen. 178 c) Konsequenzen Infolge der Entscheidung Interedil haben sich die Anknüpfungsmomente des gewöhnlichen Aufenthalts und des COMI also nicht nur strukturell, sondern auch inhaltlich aneinander angenähert. Wie der gewöhnliche Aufenthalt bestimmt sich der COMI nunmehr ausschließlich tatsachenbezogen, objektiv und individuell. Bei juristischen Personen bildet in beiden Fällen der Haup tverwaltungssitz den entscheidenden Bezugspunkt der Anknüpfung. Dass der gewöhnliche Aufenthalt das COMI von Privatschuldnern in der novellierten EuInsVO konkretisiert, erscheint vor diesem Hintergrund sowohl sinnvoll als auch geboten. d) Zeitunabhängiges Aufenthaltsverständnis? aa) EuInsVO Über den Aussagewert das COMI für den gewöhnlichen Aufenthalt schaffen die vorstehenden Ausführungen noch keine Klarheit. Im Grundsatz gilt es hier strukturelle und inhaltliche Überlegungen voneinander zu unterscheiden: Strukturell bestätigt die Rechtsprechungsentwicklung, dass der gewöhnliche Aufenthalt ebenso wie das COMI unionsrechtlich-autonom und individuell bestimmt wird. Ebenfalls lässt sich festhalten, dass es einer einzelfallorientierten Begriffskonkretisierung nicht generell abträglich ist, wenn die Berücksichtigungsfähigkeit bestimmter Sachverhaltselemente unter einen Erkennbarkeitsvorbehalt gestellt wird. Weitaus bedeutsamer ist aber die inhaltliche Beobachtung, dass der Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 UA 4 S. 2 EuInsVO 2017 ein Indiz gegen ein zeitbezogenes Aufenthaltsverständnis liefert. Die Vorschrift setzt eine Sperrfrist von sechs Monaten, binnen derer ein Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts keine Veränderung in der insolvenzrechtlichen Zuständigkeit nach sich ziehen
177 178
Dazu EuGH ± C-341/04 ± Eurofood IFSC. Dazu unten § 9 A II. 3.
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§ 6 Konturen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs
soll.179 Der Wortlaut der Vorschrift liefert für sich genommen keinen Beleg dafür, dass ein Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts selbst nicht an eine Mindestaufenthaltsdauer geknüpft wird. Im Gegenteil könnte man sich auf den Standpunkt stellen, dass Art. 3 UA 4 S. 2 EuInsVO 2017 eine über den ohnehin schon zeitgebundenen Aufenthaltswechsel hinausgehende Karenzfrist einführen will, um einer betrügerischen Verlegung des Lebensmittelpunktes vorzubeugen. Die insoweit einschlägigen Erwägungsgründe 29 und 31 verhalten sich nicht zu dieser Frage. Sie geben lediglich Auskunft darüber, dass die Mindestdauer von sechs Monaten Äbetrügerisches und missbräuchliches forum shopping³ im Europäischen Rechtsraum begrenzen soll. 180 Trotzdem spricht viel dafür, Art. 3 Abs. 1 UA 4 S. 2 EuInsVO 2017 dafür in Stellung zu bringen, dass der Europäische Gesetzgeber den Erwerb des gewöhnlichen Aufenthalts nicht an eine bestimmte Anwesenheitsdauer knüpfen möchte. Erstens eignet sich der Wechsel des tatsächlichen Aufenthalts einer natürlichen Person sich seiner äußeren Erkennbarkeit wegen besonders gut, um einen Statutenwechsel zeitlich zu fixieren. 181 Für das Insolvenzrecht gilt diese Überlegung umso mehr, da hier die Interessen einer im Eröffnungszeitpunkt unbekannten Gruppe von Gläubigern betroffen sind. Diese müssen gerade nicht verpflichtet werden, sich einen Einblick in die privaten Lebensumstände des Schuldners zu verschaffen. Eben dies würde man aber voraussetzen, würde man den gewöhnlichen Aufenthalt des insolventen Privatschuldners nicht in Ansehung des tatsächlichen Aufenthaltswechsels, sondern der daran anschließenden Aufenthaltszeit und der in diesem Zeitraum erfolgen sozialen Integration beurteilen. Außerdem finden sich kaum Gründe für die Annahme, dass der Gesetzgeber den gewöhnlichen Aufenthalt für die Zwecke der EuInsVO mit einer Zeitbestimmung oder Frist versehen wollte. Im Gegenteil deuten die Erwägungsgründe an, dass er seinem Bedürfnis nach der Vermeidung von rechtsmissbräuchlichen Aufenthaltswechseln bereits durch die sechsmonatige Sperrfrist Ausdruck verliehen hat. Es spricht daher viel dafür, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt im Rahmen der EuInsVO nicht in Ansehung der Aufenthaltsdauer bestimmen soll, sondern gerade im Zeitpunkt des Aufenthaltswechsels vermutet wird. bb) Gleichlauf mit dem Internationalen Familienrecht Die gerade skizzierte Vermutung erlaubt freilich keine allgemeinen Rückschlüsse darauf, welche Rolle das Zeitelement für den Begriffsinhalt des gewöhnlichen Aufenthalts insgesamt hat. Die Vermutung erhärtet sich erst
179
Frind/Pannen, ZIP 2016, 398 (407 ff.); Vallender, Rechtsmissbräuchliches Forum Shopping natürlicher Personen vor dem Aus?, VIA 2016, 57. 180 Frind/Pannen, ZIP 2016, 398 (407 ff.); Vallender, VIA 2016, 57. 181 S.o. § 5 B. II. 2. b) bb) (3).
A. Legaldefinitionen und Umschreibungen
225
durch einen Vergleich mit anderen Vorschriften, die den gewöhnlichen Aufenthalt ebenfalls mit einer Zeitbestimmung versehen. (1) Art. 9 Abs. 1 EuEheVO Ein erstes Indiz liefert Art. 9 Abs. 1 EuEheVO. Die Vorschrift ordnet eine perpetuatio fori für den Fall an, dass ein Kind in einem laufenden Verfahren über die elterliche Sorge rechtmäßig 182 in einen anderen Mitgliedstaat umzieht.183 In solchen Fällen soll die Zuständigkeit des zuerst befassten Gerichts für drei Monate aufrechterhalten werden. Die Vorschrift dient der Vermeidung von forum shopping, möchte gleichzeitig den Schutz des Umgangsrechts des verbliebenen Elternteils gewährleisten. Derjenige Elternteil, der mit dem Kind umzieht, soll keine Möglichkeit haben, eine bestehende gerichtliche Entscheidung über das Umgangsrecht im neuen Aufenthaltsstaat sofort zu seinen Gunsten ändern zu lassen. 184 Ähnlich wie Art. 3 Abs. 1 UA 4 EuInsVO trifft Art. 9 Abs. 1 EuEheVO keine direkte Aussage zum Verhältnis zwischen dem Aufenthaltswechsel und dem selbstständigen, mit der perpetuatio fori verbundenen Zeitelement. Auch hier könnte man also argumentieren, dass der gewöhnliche Aufenthalt vermutungshalber zunächst am vorigen Aufenthaltsort des Kindes bestehen bleibt und sich erst nach einer Weile zugunsten des neuen Aufenthaltsortes verschiebt. Systematisch wird diese Überlegung durch Art. 13 EuEheVO unterstützt, der in Notfällen eine Ersatzzuständigkeit am schlichten Aufenthaltsort des Kindes vorsieht. Der Wortlaut der Vorschrift deutet allerdings erkennbar darauf hin, dass der Gesetzgeber der Vorschrift im Zeitpunkt der Ortsverlegung von einem sofortigen Aufenthaltswechsel auszugehen scheint. 185 Erstens setzt er den Ortswechsel des Kindes indirekt mit dem Wechsel der Gerichtszuständigkeit in Sorgerechtsverfahren (Art. 8 Abs. 1 EuEheVO) gleich; zweitens bestünde in Ansehung des Telos der Vorschrift gar kein Bedarf für eine eigenständige Regelung der perpetuatio fori, wenn der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes ohnehin erst nach dem Ablauf einer gewissen Zeitspanne verlagert würde. Schließlich scheint es nicht angebracht, den Anwendungsbereich des Art. 9 EuEheVO auf Fälle zu reduzieren, in denen ausnahmsweise ein sofortiger Aufenthaltswechsel stattgefunden hat. Im Gegenteil beansprucht die Vorschrift allgemeine Geltung.
182
Die widerrechtliche Verbringung ist in Art. 10 EuEheVO geregelt. Für Umzüge in Drittstaaten s. MüKoBGB/Siehr Art. 9 EuEheVO Rn. 2. 184 MüKoBGB/Siehr Art. 9 EuEheVO Rn. 1. 185 So auch MüKoBGB/Siehr Art. 8 EuEheVO Rn. 5. 183
226
§ 6 Konturen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs
(2) Art. 26 Abs. 3 lit. a) EuGüVO Ein letztes, wenn auch begrenzt aussagekräftiges systematisches Argument lässt sich aus Art. 26 Abs. 3 EuGüVO gewinnen. Die Vorschrift unterstellt es dem richterlichen Ermessen, von der in Abs. 1 geregelten objektiven Grundanknüpfung des Ehegüterrechts abzuweichen. Die Ausnahme steht aber unter dem Vorbehalt, dass die Parteien sich an ihrem letzten gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthaltsort Äüber einen erheblich längeren Zeitraum³ aufgehalten haben als an ihrem ersten gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt, der ausweislich Art. 26 Abs. 1 EuGüVO den Gegenstand einer Regelanknüpfung bildet (lit. a)). Zusätzlich müssen die Ehegatten bei der Regelung ihrer vermögensrechtlichen Verhältnisse auf die Geltung eben dieser Rechtsordnung vertraut haben (lit. b)).186 Die Ausnahmeregel verdeutlicht einerseits, dass der Gesetzgeber der Aufenthaltsdauer eine wichtige Indizfunktion bei der Ermittlung sozialer Integration beimisst. Andererseits zeigt sie, dass die Aufenthaltsdauer gerade nicht als Schwellenkriterium, sondern als austauschbarer Faktor bei der Aufenthaltsermittlung fungieren soll. Der spätere gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt der Eheleute ist seiner längeren Aufenthaltsdauer wegen zwar intensiver als der erste gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt; für seinen Erwerb scheint aber keine Mindestaufenthaltsdauer vonnöten zu sein, sogar obwohl er in Art. 26 Abs. 1 EuGüVO die objektive Regelanknüpfung darstellt. III. Zwischenergebnis Der letzten, aber auch den vorherigen Überlegungen haftet ein spekulatives Element an. Grund dafür ist ein Transparenzmangel, der nicht zuletzt dem losen Umgang mit dem Begriff durch rechtsfortbildende Institutionen geschuldet ist. Besonders deutlich lassen sich Transferunschärfen in der Rezeption der Entschließung des Europarates (s.o. § 6 A. I. 1. b)) durch den EuGH erkennen (s.o. § 6 A. I. 1. c) aa)). Den Umgang des Gerichtshofs mit dem Begriff kann man durch seinen deutlichen Hinweis darauf rechtfertigen, dass er den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts autonom-unionsrechtlich und damit eigenständig entwickeln möchte. Dass der Gerichtshof sich im Ergebnis an einige Merkmale der Definition des Europarates anlehnt, steht dazu nur vordergründig im Widerspruch, da die unverbindliche Umschreibung derart allgemein gehalten ist, dass jeder Versuch einer eigenständigen Definition sich zwangsläufig mit ihr überschneidet. Trotzdem sorgen die Parallelen in der Begriffsbildung bei gleichzeitiger formaler Abstandnahme von der Verordnung gerade dort für Verwirrung, wo Klarheit über die Binnenstruktur und die wesentlichen Merkmale eines Begriffs geschaffen werden müsste. 186
Erwägungsgrund 51 wiederholt diese Voraussetzungen, betont aber auch das richterliche Ermessen bei der Entscheidung.
A. Legaldefinitionen und Umschreibungen
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Klarheit können auch die sektoralen Definitionen der Rom-Verordnungen nicht herstellen. Die Erwägungsgründe 23 und 24 zur EuErbVO formulieren wichtige Leitlinien für den gewöhnlichen Aufenthalt insgesamt, sind aber ihrem Wortlaut nach ausdrücklich auf erbrechtliche Zusammenhänge zugeschnitten. Insbesondere im Hinblick auf Erwägungsgrund 24 bleibt zu hoffen, dass die Rechtsprechung in naher Zukunft seine Analogiefähigkeit für andere Sachbereiche bestätigen wird, in denen Grenzpendlerprobleme entstehen können. Solange dies nicht geschehen ist, müssen die dazu angestellten Überlegungen Spekulation bleiben. Die Art. 19 Rom I-VO, 23 Rom II-VO lassen keine Rückschlüsse auf Begriff und Struktur des gewöhnlichen Aufenthalts zu. Hier handelt es sich um zwei selbstständige Anknüpfungsmomente, die zum Oberbegriff, den sie konkretisieren, in keinem definitorischen Verhältnis stehen. Ertragreicher ist die Konkretisierung des COMI durch den gewöhnlichen Aufenthalt. Obwohl sich hier abstrakt einige strukturelle Unterschiede festmachen lassen, erlaubt insbesondere die Entwicklung des COMI-Begriffs Rückschlüsse auf die Wesensmerkmale des unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs. Insbesondere die Absenkung der in Erwägungsgrund 12 EuInsVO 2001 betonten Erkennbarkeitsschwelle bei der COMI-Bestimmung kann man e contrario als Argument dafür verwenden, dass in bestimmten Fällen die Perspektive eines Dritten Unklarheiten bei der Aufenthaltsbestimmung ausgleichen kann. Aus den Bestimmungen zum COMI, wie auch aus Art. 9 Abs. 1 EuEheVO und Art. 26 Abs. 3 EuGüVO, lässt sich ablesen, dass der Unionsgesetzgeber den gewöhnlichen Aufenthalt nicht mit einer Mindestaufenthaltsdauer versehen möchte. Alle drei Vorschriften zeigen vielmehr, dass die Verordnungen das Zeitelement bei der Aufenthaltsbestimmung ausdrücklich verstetigen, wenn sie ihm einen bestimmten Aussagewert bei der Aufenthaltsermittlung zuerkennen möchten. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die Aufenthaltsdauer als Gegenstand einer Zweifelsregelung für den Aufenthaltsbegriff des Europäischen IPR regelmäßig ungeeignet ist. Der vorstehende Abschnitt verdeutlicht zusammengefasst, dass die RomVerordnungen zwar zurückhaltend, aber nachweisbar die Konturen des Begriffskerns eines unionsrechtlichen gewöhnlichen Aufenthalts zeichnen. Jenseits dieses Kerns stellt sich der Begriff zum aktuellen Zeitpunkt aber in weiten Teilen als sowohl strukturell als auch inhaltlich unerschlossen dar. Er erfüllt seine Funktion als Anknüpfungsmoment, ohne auf den ersten Blick charakteristische, vom Einzelfall und der groben Begriffsstruktur unterscheidb are konzeptionelle Eigenheiten auszuweisen,187 die sich dogmatisch verwerten ließen.188 Dieser Befund schließt die Frage an, ob der Begriff in der Recht-
187 188
Hall, ICLQ 24 (1975), 1 (2). Ibid.
228
§ 6 Konturen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs
sprechung des EuGH und der funktionalen Unionsgerichte ein deutlicheres Gepräge erhalten hat. Ihr ist der folgende Arbeitsabschnitt gewidmet.
B. Das Aufenthaltsverständnis der Unionsgerichte B. Das Aufenthaltsverständnis der Unionsgerichte
Der EuGH hat sich bislang in zwei Sachzusammenhängen mit der Frage befasst, nach welchen Kriterien der gewöhnliche Aufenthalt konkretisiert werden muss. Einerseits im Europäischen Sozialrecht (I.); andererseits im Zusammenhang mit der Zuständigkeit in Verfahren elterlicher Sorge (II.). Der zuletzt genannte Ausschnitt bildet das einzige Anwendungsfeld des EuIPR und EuIZVR, in dem der Gerichtshof sich bislang ausdrücklich zum gewöhnlichen Aufenthalt verhalten konnte. Umso wichtiger erscheint daher ein Blick auf die vorhandene Rechtsprechung der funktionalen Unionsgerichte (III.). I. Europäisches Sozialrecht Das sekundärrechtliche Europäische Sozialrecht kann nicht nur die älteste, sondern auch die bislang größte Zahl von Entscheidungen vorweisen, die sich mit der unionsrechtskonformen Gestaltung einer Aufenthaltsanknüpfung auseinandersetzen.189 Während sich die Europäische Rechtssetzung auf dem Gebiet des Internationalen Privat- und Zivilverfahrensrechts mitunter ausdrücklich an ihnen orientiert hat, 190 schwindet ihr Aussagegehalt durch die jeweils zu Art. 8 Abs. 1 EuEheVO ergangenen Entscheidungen des Gerichtshofs in den Rechtssachen A und Mercredi (s.u. II. 1., 2.). In A formuliert der EuGH die allgemeine Maßgabe, dass sich die in anderen Rechtsgebieten ergangenen Entscheidungen zur Bestimmung der internationalen Zuständigkeit in Sorgerechtsstreitigkeiten nicht direkt auf das Aufenthaltsverständnis im Rahmen der EuEheVO übertragen lassen. 191 Damit weicht er insbesondere von der EuGH ± C-452/93 ȇ ± Magdalena Fernández ./. Kommission ± Slg. 1994 I-4295; EuGH ± C-85/96 ± Martinez Sala; EuGH ± C-90/97 ± Swaddling ./. Chief Adjudication Officer ± Slg. 1999 I-1075; EuGH ± C-262/99 ± Louloudakis ./. Elleniko Dimosio ± Slg. 2001 I 5547; EuGH, 11.11.2004 ± C-372/02 ± Anadez-Vega ./. Bundesanstalt für Arbeit aus dem Recht der Sozialen Sicherheit ± Slg. 2004 I-10761; indirekt s. auch die bereits besprochene Entscheidung EuGH ± C-66/08 ± Kozlowski ± Slg. 2008, I-6041. Zur Übertragbarkeit des sozialrechtlichen Aufenthaltsbegriffs auf das deutsche IPR Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 40±42. Im aktuellen Verständnis steht der Inhaltsaufenthalt einer Person nach § 30 S. 6*%;,,ÄIUGHQ2UWZR>GLHVe] sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass [sie] an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur voUEHUJHKHQG YHUZHLOW³ YJO GD]X Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann/Kreikebohm § 41 SGB XII Rn. 11. 190 Borrás, ABl. 1998 C 221/27, Rn. 32. Dazu auch Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 121. 191 EuGH ± C-523/07, Rn. 36 ± A ./. Perusturvalautakunta. 189
B. Das Aufenthaltsverständnis der Unionsgerichte
229
Praxis des deutschen Gesetzgebers ab, wo zur Umschreibung des gewöhnlichen Aufenthalts im Rahmen der IPR-Reform 1986 noch ausdrücklich auf die Definition des § 9 der Abgabenordnung (AO) Bezug genommen wird.192 Der vom EuGH erklärte Vorbehalt hat sich in der Rechtsrealität aber noch nicht als allgemeine Leitlinie durchgesetzt. Die Rechtsprechung der mitgliedstaatlichen Gerichte nimmt nicht nur wechselseitige Bezugnahmen zwischen unterschiedlichen Verordnungskontexten vor, 193 sondern bestimmt den gewöhnlichen Aufenthalt teilweise sogar ausdrücklich in Anlehnung an sozial- und steuerrechtliche Vorschriften und die dazu ergangene Rechtsprechung. 194 Zudem enthalten die sozialrechtlichen Entscheidungen des EuGH wichtige allgemeine Vorgaben für eine primärrechtskonforme Auslegung des gewöhnlichen Aufenthalts. Entsprechend ist es gerechtfertigt, die wichtigsten beamtenund sozialrechtlichen Judikate des Europäischen Gerichtshofs im Folgenden knapp darzustellen. 1. Magdalena Fernandez (1994) Die 1994 entschiedene Rechtssache Magdalena Fernandez195 betraf die Klage eines über längere Zeit in Belgien beschäftigten spanischen Staatsangehörigen. Im Juni 1986 wurde Herr Fernandez von der Europäischen Kommission zum Beamten auf Probe ernannt. 196 Als Herkunfts- und Einberufungsort (Art. 7 Abs. 3 des Anhangs VII des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften) wurde im Ergebnis allerdings nicht seine spanische Heimat,
192
Begründung des Regierungsentwurfs BT-Drucks. 10/504, 41. S. OGH, 29.8.2013 ± 2ED/HLWVDW]Ä'HU%HJULIIGHVJHZ|KQOLFKHQ$Xfenthalts in Art. 3 EuUnterhaltsVO ist verordnungsautonom auszulegen. Hierbei kann auf die Auslegung des EuGH zu vergleichbaren Bestimmungen in der Bruȋssel II-VO und Bruȋssel I-VO zuruȋFNJHJULIIHQ ZHUGHQ³ 2/* .DUOVUXKe, 5.6.2015 ± 18 UF 265/14, Rn. Ä'HU %HJULII GHV JHZ|KQOLFKHQ $XIHQWKDOWV QDFK $UWLNHO 92 (* Nr. 2201/2003 ist zwar europarechtsautonom und unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles auszulegen, stimmt aber mit dem für das deutsche Verfahrensrecht entwiFNHOWHQ %HJULII GHV JHZ|KQOLFKHQ $XIHQWKDOWV LP :HVHQWOLFKHQ EHUHLQ³ ± NJW 2014, 3044. 194 Statt vieler VG Freiburg, 20.6.2012 ± 4 K 1983/11 (steuerrechtlicher gewöhnlicher Aufenthalt nach § 9 AO ist identisch mit dem aufenthaltsrechtlichen gewöhnlichen Aufenthalt). Im autonomen IPR der Bundesrepublik war die Übertragbarkeit dagegen umstritten. Dafür Maack, Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts im geltenden Bundesrecht, 1954, 134; Kegel/Schurig, IPR, § 13 III, 413; Spickhoff, Asylbewerber und gewöhnlicher Aufenthalt ± Anmerkung zu OLG Hamm, 5.5.1989 ± 1 WF 167/89 ± NJW 1990, 651 ± IPRax 1990, 225 (226 f.). Dagegen Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 42. 195 EuGH, 15.9.1994, C-ȇ± Magdalena Fernández ./. Kommission ± Slg. 1994 I-4295. 196 EuGH ± C- ȇ 5Q ± Magdalena Fernández ./. Kommission ± Slg. 1994 I4295 (4303). 193
230
§ 6 Konturen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs
sondern sein belgischer Aufenthaltsort bestimmt. 197 Infolgedessen stand dem Kläger kein Anspruch auf beamtenrechtliche Auslandszulagen zu. 198 Der Kläger wandte sich gegen diese Entscheidung mit dem Argument, sein insoweit bestimmungsrelevanter, ständiger Wohnsitz müsse richtigerweise in Spanien liegen, wo sich sowohl seine Eltern als auch seine sozialen und politischen Kontakte befänden. 199 Die in letzter Instanz zuständige beamtenrechtliche Kammer des EuGH lehnte das Rechtsmittelgesuch des Klägers ab. Bei der Feststellung des ständigen Wohnsitzes, umschrieben als ÄOrt, den der Betroffene als stćndigen oder gewƂhnlichen Mittelpunkt seiner Lebensinteressen in der Absicht gewćhlt hat, ihm Dauerhaftigkeit zu verleihen³,200 handle es sich, erstens, um eine Tatfrage, 201 die, zweitens, vom Instanzgericht richtig beantwortet worden sei. 202 Einerseits habe der Kläger seinen tatsächlichen Aufenthalt in Belgien nur für einen Zeitraum von wenigen Monaten unterbrochen, um nach Spanien zurückzukehren. Andererseits sei der vage Wille, auf Dauer in die Heimat zurückzukehren, aber unbeachtlich, da der in Belgien offensichtlich vorhandene Lebensmittelpunkt freiwillig gewählt worden sei.203 Der Gerichtshof begründet seine Entscheidung insbesondere mit dem Zweck der Auslandszulage. Sie soll dazu dienen, die mit dem Amtsantritt einhergehende, zusätzliche finanzielle Belastung auszugleichen. Da Herr Fernandez sich bereits vor seinem Amtsantritt in Brüssel aufgehalten habe, stünden Sinn und Zweck der Vorschrift einem Anspruch auf Sonderleistungen entgegen. 204 2. Martinez Sala (1998) Die Rechtssache Martinez Sala205 betraf unter anderem die Vereinbarkeit des damaligen Bundeserziehungsgeldgesetzes (BErzG) mit der EWG-Verordnung Nr. 1408/71 Nr. 3. Das BErzG knüpfte die Gewährung von Erziehungsgeld an Ausländer nicht nur an die durch die Verordnung vorgegebene Voraussetzung eines tatsächlichen Wohnsitzes im betroffenen Mitgliedstaat, sondern auch an die Vorlage einer förmlichen Aufenthaltserlaubnis. 206 Der Genuss einer Sozialleistung impliziert also einen wirksamen Aufenthaltstitel. Der Ge197
Zum Verfahrensgang s. EuGH C-ȇ5Q± Slg. 1994 I-4295 (4303). EuGH ± C- ȇ ± Magdalena Fernández ./. Kommission, Rn. 2 ± Slg. 1994 I4295 (4303). 199 EuGH ± C-452/93P, Rn. 2 ff. ± Magdalena Fernández ./. Kommission ± Slg. 1994 I4295. 200 EuGH ± C-ȇ, Rn. 7, 14 ± Magdalena Fernández ./. Kommission. 201 EuGH ± C-ȇ5Q ± Magdalena Fernández ./. Kommission. 202 EuGH ± C-ȇ, Rn. 8 ± Magdalena Fernández ./. Kommission. 203 EuGH ± C-ȇ, Rn. 9 f. ± Magdalena Fernández ./. Kommission. 204 EuGH ± C-ȇ, Rn. 20 ± Magdalena Fernández ./. Kommission. 205 EuGH ± C-ȇ5QII ± Magdalena Fernández ./. Kommission. 206 EuGH ± C-ȇ5Q± Magdalena Fernández ./. Kommission. 198
B. Das Aufenthaltsverständnis der Unionsgerichte
231
richtshof erkannte in der Regelung eine nicht gerechtfertigte und daher gemeinschaftsrechtswidrige Ungleichbehandlung von EU-Ausländern. 207 Konkrete Schlussfolgerungen für das Verständnis des durch den gewöhnlichen Aufenthalt konkretisierten, ständigen Wohnsitzes erlaubt das Judikat freilich nicht. Trotzdem lässt sich ihm die allgemeine Maßgabe entnehmen, dass der Genuss mitgliedstaatlicher Privilegien nicht an die förmliche Registrierung des tatsächlichen Aufenthalts in einem Mitgliedstaat geknüpft werden darf. 3. Swaddling (1999) Die Interdependenzen zwischen dem Begriff des ständigen Wohnsitzes und der Auslegung des gewöhnlichen Aufenthalts lassen sich insbesondere in der Rechtssache Swaddling erkennen. 208 Die Entscheidung erging zur Frage, ob nationale Behörden den gewöhnlichen Aufenthalt unionsrechtskonform konkretisiert hatten, soweit er mit dem Tatbestandsmerkmal des Äständigen Wohnsitzes³ in Art. 10a VO Nr. 1408/71 gleichgesetzt wird. 209 Dem Vorabentscheidungsgesuch lag die Klage eines britischen Staatsangehörigen zugrunde, der über Jahre hinweg abwechselnd in Großbritannien und Frankreich beschäftigt gewesen war, aber in Großbritannien Sozialbeiträge entrichtet hatte. Nach seiner Kündigung verzog er zunächst aus beruflichen Gründen nach Frankreich, kehrte aber nach dem Konkurs seines Arbeitgebers nach Großbritannien zurück und beantragte dort Einkommensbeihilfe. 210 Die britischen Behörden lehnten den Antrag ab, da Herr Swaddling mangels ausreichender Verweildauer in Großbritannien keinen gewöhnlichen Aufenthalt in Großbritannien begründet habe und daher als ÄGebietsfremder³ keinen Anspruch auf Sozialleistungen habe. 211 Der EuGH erkannte darin einen Verstoß gegen die sozialrechtliche Rahmenverordnung. Anstatt auf die Dauer des Aufenthalts müsse es darauf ankommen, wo Ädie Betroffenen gewöhnlich wohnen und [...] sich der gewöhnliche Mittelpunkt ihrer Interessen befind[e].³ 212 Dabei seien Äinsbesondere die Familiensituation des Arbeitnehmers, die Gründe, die ihn zur Wandern veranlaßt haben, die Dauer des Wohnens, gegebenenfalls die Innehabung einer festen Anstellung und die Absicht des Arbeitnehmers zu berücksichtigen, wie sie sich aus einer Gesamtbetrachtung ergibt.³213 Die Entscheidung betrifft streng genommen nicht die Auslegung des gewöhnlichen Aufenthalts selbst, sondern die Unionsrechtskonformität einer EuGH ± C-ȇ5QLeitsatz ± Magdalena Fernández ./. Kommission. EuGH ± C-90/97 ± Swaddling ./. Chief Adjudication Officer ± Slg. 1999 I-1075. 209 S.u. § 7 F. I. 210 EuGH ± C-90/97, Rn. 11±14 ± Swaddling ./. Chief Adjudication Officer. 211 EuGH ± C-90/97, Rn. 15 ± Swaddling ./. Chief Adjudication Officer. 212 EuGH ± C-90/97, Rn. 15 ± Swaddling ./. Chief Adjudication Officer. 213 EuGH ± C-90/97, Rn. 29 ± Swaddling ./. Chief Adjudication Officer. 207 208
232
§ 6 Konturen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs
von nationalen Behörden vorgenommenen Konkretisierung des Begriffs. Trotzdem kann man ihr erstens die verallgemeinerungsfähige Aussage entnehmen, dass die Annahme einer zwingenden Mindestaufenthaltsdauer bei der Anwendung des gewöhnlichen Aufenthalts einen Verstoß gegen Unionsrecht darstellen kann, soweit einer Person auf diese Weise der Genuss nationaler Privilegien verwehrt wird. Zweitens beziehen sich die vom EuGH entwickelten Kriterien für die Bestimmung des Wohnmitgliedstaates, die er in späteren Entscheidungen wiederholt und vertieft, auch auf den gewöhnlichen Aufenthalt.214 Dieser muss, drittens, im Sinne eines autonom und willentlich gewählten, sozialen und beruflichen Interessenmittelpunktes einer Person verstanden werden. 215 II. Art. 8 Brüssel IIa-VO Im Europäischen IPR und IZVR hat sich der Europäische Gerichtshof bislang in drei Entscheidungen mit dem Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts beschäftigt. Zwei davon betreffen die internationale Zuständigkeit in Sorgerechtsangelegenheiten, Art. 8 Abs. 1 EuEheVO, 216 die dritte hingegen den Zuständigkeitswechsel bei Kindesentführungen, die in Art. 11 EuEheVO geregelt ist. Der EuGH trifft in allen drei Fällen Aussagen zum Begriffsverständnis des gewöhnlichen Aufenthalts. Die Aussagekraft der drei Entscheidungen ist allerdings in mehrerlei Hinsicht geschmälert: Erstens handelt es sich bei der internationalen Zuständigkeit in Sorgerechtsangelegenheiten um einen zivilprozessualen Anschauungsgegenstand. Er unterscheidet sich, zweitens, auch von anderen zivilprozessualen Anwendungsfeldern dadurch, dass nicht die Lebensumstände einer voll geschäfts- und selbstbestimmungsfähigen Person, sondern die eines Kindes den Ausschlag bei der Bestimmung des zuständigen Gerichts geben. Das hat einerseits zur Folge, dass die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit in Verfahren der elterlichen Sorge dem Kindeswohl und damit einem normativen Maßstab verpflichtet ist; 217 andererseits erfolgt sie weitaus einzelfallabhängiger als in anderen Rechtsgebieten. Ein internationaler Rechtsstreit um das Sorgerecht eines Kindes entsteht regelmäßig erst dann, wenn ein Elternteil mit dem Kind grenzüberschreitend umgezogen ist, der andere Eltern214
S. insbesondere EuGH ± C-262/99 ± Louloudakis ./. Elleniko Dimosio ± Slg. 2001, I-
5547. 215
Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 147. Allgemein zur Rechtsprechung im Rahmen des Art. 8 EuEheVO Dutta/Schulz, Erste 0HLOHQVWHLQH LP HXURSlischen Kindschaftsverfahrensrecht, Die Rechtsprechung des Europlischen Gerichtshofs zur Brssel-IIa-Verordnung von A bis Mercredi, ZEuP 2012, 526. 217 Im Internationalen Kindschaftsrecht ist dieses Element nicht zuletzt deshalb erforderlich, weil es oft an Sachverhaltselementen fehlt, die abschließend die Richtigkeit einer rein quantitativen Analyse vorhandener Kontakte sicherstellen würde. S.o. § 5 B. II. 3. b). 216
B. Das Aufenthaltsverständnis der Unionsgerichte
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teil aber im früheren Aufenthaltsstaat geblieben ist. 218 Art. 8 Abs. 1 EuEheVO entscheidet damit oftmals hard cases, deren Ergebnisse sich natuergemäß schwer verallgemeinern lassen. Drittens schließlich wurden beide Entscheidungen im Rahmen eines Eilverfahrens getroffen (mittlerweile Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs 219).220 Dieser besondere Rahmen wirkt sich auf die Anforderungen an die Dichte der Urteilsbegründungspflicht aus. Anders als im Hauptverfahren sieht der EuGH sich nicht in der Pflicht, seine Entscheidung mit sämtlichen der vorgetragenen und möglichen Argumente in einen Bezug zu setzen; stattdessen soll es genügen, dass die Entscheidungsgründe in einem Schlüssigkeitsverhältnis zum eigentlichen Beschluss stehen und sich im Hauptverfahren kontrollieren lassen. 221 Die nachfolgende Besprechung wird zeigen, dass die verringerten Anforderungen an die Begründungsdichte erkennbar die Nachvollziehbarkeit der Entscheidungsfindeung reduzieren. Namentlich setzt der Gerichtshof seine Aussagen zur Aufenthaltsanknüpfung nur ansatzweise mit dem zugrundeliegenden Sachverhalt in einen Zusammenhang. Die so entstandene interpretative Lücke soll durch selbstständige Überlegungen geschlossen werden. 1. A ./. Perusturvalautakunta222 In der 2009 ergangenen Entscheidung A ./. Perusturvalautakunta äußert sich der Europäische Gerichtshof erstmalig zum Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts im unionsrechtlichen Kollisions- und Zuständigkeitsrecht. Weder der zugrundeliegende Sachverhalt, noch die entscheidungserheblichen Vorschriften bilden aber den Normalfall internationalprivatrechtlicher Normkonkretisierung ab.
218 Häufig wird ein Antrag auf Übertragung des Sorgerechts dann nicht allein gestellt, sondern durch einen Rückführungsantrag nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen ergänzt; so beispielsweise in EuGH, 19.11.2015 ± C-455/15 PPU ± P ./. Q. 219 ABl. 2012 L 265/1, geändert durch ABl. 2013 L 173/65. 220 Die verfahrensrechtliche Konsequenz der Überführung ins Eilverfahren liegt darin, dass für die Einreichung von Schriftstücken und Gutachten besondere Regelungen gelt en (Art. 105 Abs. 3 Verfahrensordnung Gerichtshof). Namentlich können die Parteien dazu aufgefordert werden, ihre Ausführungen auf die wesentlichen entscheidungsrelevanten Aspekte des Ausgangsverfahrens zu beschränken, ibid. 221 Ständige Rechtsprechung, s. EuGH, 8.4.2003 ± C-471/02 P(R), Rn. 29 ± GómezReino ./. Kommission ± Slg. 2003, I-8461; EuGH, 10.9.1997 ± C-248/97 P(R), Rn. 20 ± Chavez-Fonseca Ferrao ./. OHMI ± Slg. 1997, I-4729; EuGH, 19.7.1995 ± C±149/95 P(R), Rn. 58 ± Kommission ./. Atlantic Container Line ± Slg. 1995, I-2165. Nachweis und Diskussion bei Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, 2013, 298. 222 EuGH ± C-523/07 ± A ./. Perusturvalautakunta ± Slg. 2009 I 2831 ± NJW 2009, 1868.
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§ 6 Konturen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs
a) Sachverhalt Die zugrundeliegende Entscheidung betraf die Inobhutnahme dreier minderjähriger Kinder durch finnische Behörden. Die Kinder waren in Finnland geboren worden, aber, unter anderem infolge gewalttätiger Übergriffe des Stiefvaters, 2001 von Finnland nach Schweden umgezogen. 223 Nachdem die Unterbringung und der Zustand der Kinder die Aufmerksamkeit der schwedischen Behörden erregt hatte und im März 2005 vorläufige Maßnahmen gegen die Mutter erlassen wurden, 224 wich die Familie im Rahmen eines ausgedehnten Sommerurlaubs nach Finnland aus. 225 Im Laufe dieses Aufenthalts entschieden sich die Mutter und der Stiefvater scheinbar gegen eine Rückkehr in die schwedische Heimat: Die Familie verbrachte in ihrem Wohnwagen längere Zeit auf Campingplätzen, wanderte zwischen dem schwedischem und finnischem Hoheitsgebiet hin und her und beantragte schließlich eine Sozialwohnung in Finnland. 226 Die Kinder gingen in diesem Zeitraum nicht zur Schule und wurden schließlich von den finnischen Behörden in Obhut genommen und in einer Pflegefamilie untergebracht, da sie sich selbst überlassen gewesen waren. 227 Die Mutter, die zwischenzeitlich nach Schweden zurückgekehrt war, legte Rechtsmittel gegen die behördliche und später gegen die verwaltungsgerichtliche Entscheidung ein. 228 Sie wandte ein, dass ihre Kinder 2007, also während des laufenden Verfahrens, die schwedische Staatsangehörigkeit erhalten hätten. Damit sei der Nachweis erbracht, dass sich in diesem Land, und nicht in Finnland, ihr gewöhnlicher Aufenthalt befinde.229 Die finnischen Behörden seien im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EuEheVO also unzuständig gewesen. 230 Das Oberste Verwaltungsgericht Finnlands (Korkein Hallinto-oikeus) rief daraufhin im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens den Europäischen Gerichtshof an. Mit der zweiten der insgesamt drei Vorlagefragen bat es den Gerichtshof, verallgemeinerungsfähige Kriterien für die Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes zu formulieren, das sich im Zeitpunkt 223 EuGH ± C-523/07, Rn. 14 ± A ./. Perusturvalautakunta ± Slg. 2009 I 2831 ± NJW 2009, 1868; dazu auch Pirrung, Gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes bei internationalem Wanderleben, IPRax 2011, 50; Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2011, § 7 Rn. 56. 224 Nachw. bei Boulanger, L¶affaire des mineurs nordiques: La &RXUGpWHUPLQHODÄUpViGHQFH KDELWXHOOH³ HW SUpFLVH OHV PHVXUHV FRQVHUYDWRLUHV /D 6HPDLQH -XULGLTXH n° 41, 33. 225 Boulanger, La Semaine Juridique, 5.10.2009 n° 41, 33. 226 EuGH ± C-523/07, Rn. 14 ± A ./. Perusturvalautakunta. 227 EuGH ± C-523/07, Rn. 15 ± A ./. Perusturvalautakunta; Boulanger, La Semaine JuULGLTXHQIDVVWGHQ6DFKYHUKDOWDOVÄFRQGHQVpGHWRXVOHVSUREOqPHVGX mal-vivre de l¶HQIDQFH³]XVDPPHQ 228 EuGH ± C-523/07, Rn. 18 ± A ./. Perusturvalautakunta. 229 EuGH ± C-523/07, Rn. 19 ± A ./. Perusturvalautakunta. 230 EuGH ± C-523/07, Rn. 19 ± A ./. Perusturvalautakunta.
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der Verfahrenseröffnung in einem anderen Staat befindet als dort, wo es seinen letzten festen Wohnsitz hat.231 b) Entscheidung Der EuGH hielt die Frage nach der Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts für entscheidungsrelevant. Zwar könne die Zuständigkeit nach Art. 13 EuEheVO auch auf den schlichten Aufenthalt der Kinder gestützt werden. Diese Vorschrift sei gegenüber dem allgemeinen Gerichtsstand des Art. 8 Abs. 1 EuEheVO aber nachrangig. 232 Die Entscheidung nimmt die Vorlage des finnischen Gerichts daher zum Anlass, Kriterien für die Konkretisierung des gewöhnlichen Aufenthalts zu entwickeln. aa) Dreifach autonome Auslegung Der Gerichtshof widmete sich insbesondere der Begriffsnatur und den Rechtsquellen, die bei der Auslegung und Konkretisierung des gewöhnlichen Aufenthalts eine Rolle spielen können. Er kam zum Ergebnis, dass es sich beim gewöhnlichen Aufenthalt ebenso wie bei allen anderen Begriffen, die nicht automatisch in das Recht der Mitgliedstaaten zurückverweisen, um einen autonomen Begriff handelt. 233 Anhaltspunkte für die Auslegung des gewöhnlichen Aufenthalts im Einzelfall könne man dementsprechend nicht aus dem Recht der Mitgliedstaaten, sondern ausschließlich aus dem Wortlaut, der Systematik und dem Telos der Verordnungen gewinnen, in denen er zum Einsatz kommt. 234 Der gewöhnliche Aufenthalt muss also unionsrechtlichautonom ausgelegt werden. 235 In einem zweiten Schritt legte der EuGH fest, dass sich auch aus seiner bisherigen Rechtsprechung in anderen Bereichen des Europäischen Sekundärrechts keine unmittelbaren Rückschlüsse auf Art. 8 Abs. 1 EuEheVO ableiten lassen sollen.236 Der gewöhnliche Aufenthalt im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EuEheVO muss in den Augen des Gerichtshofs also dreifach verordnungsautonom verstanden werden: Erstens ist er unabhängig von etwaigen Begriffsdefinitionen der mitgliedstaatlichen RechtsordEuGH ± C-523/07, Rn. 20 ± A ./. PerusturvalautakuntaÄ:LHLVWGHU%HJULIIÃgewöhnliFKHU $XIHQWKDOWµ in Art. 8 Abs. 1 und dem damit zusammenhängenden Art. 13 Abs. 1 der Verordnung gemeinschaftsrechtlich auszulegen, insbesondere wenn sich der feste Wohnsitz des Kindes in dem einen Mitgliedstaat befindet, es sich aber in einem andeUHQ0LWJOLHGVWDDWDXIKlOWXQGGRUWHLQ:DQGHUOHEHQIKUW"³ 232 EuGH ± C-523/07, Rn. 33; Boulanger, La Semaine Juridique 5.10.2009 n° 41, 36. 233 EuGH ± C-523/07, Rn. 34f. ± A ./. Perusturvalautakunta m.Verw. auf EuGH ± C327/82, Rn. 11 ± Ekro ± Slg. 1984, 107; EuGH ± C̻98/07 ± Nordania Finans ± Slg. 2008, I̻1281, Rn. 17. 234 EuGH ± C-523/07, Rn. 34 ± A ./. Perusturvalautakunta. So auch Rauscher/ders. Art. 8 Bruȋssel IIa-VO Rn 11. 236 EuGH ± C-523/07, Rn. 36 ± A ./. Perusturvalautakunta. 231
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§ 6 Konturen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs
nungen zu ermitteln; zweitens verbieten sich Rückschlüsse aus dem Haager Staatsvertragsrecht, drittens sollen unmittelbare Bezugnahmen auf andere Bereiche des Europäischen Sekundärrechts ausgeschlossen sein. 237 bb) Unabhängigkeit der Aufenthaltsanknüpfung in Art. 8 Abs. 1 EuEheVO vom Staatsvertragsrecht Mit der ersten und dritten Überlegung distanziert sich der EuGH sowohl vom erläuternden Borrás-Bericht 238 zur EuEheVO als auch, wenn auch weniger deutlich, von den Schlussanträgen der Generalanwältin Kokott. 239 Während die Generalanwältin sich bei der Konkretisierung des gewöhnlichen Aufenthalts eng an den Bestand der Haager Konventionen anlehnt, 240 verweist der Borrás-Bericht auf die Leitlinien, die im Europäischen Sozialrecht zum Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts entwickelt wurden. 241 Beide gehen also mit gutem Grund davon aus, dass bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EuEheVO Querbindungen und Verstrebungen mit anderen Rechtsgebieten (Borrás) und insbesondere eine Entwicklung des Aufenthaltsverständnisses am Maßstab des Haager Konventionsrechts (Kokott) nicht nur dienlich, sondern geboten sind. Solche Überlegungen verdienen nicht nur im Hinblick auf die Systemkohärenz, sondern auch in Ansehung des Petitums rechtsaktübergreifender Auslegung Beifall.242 Letzteres wird zwar nur für das IPR und IZVR in Zivil- und Handelssachen ausdrücklich formuliert; gerade in Verfahren der elterlichen Sorge spricht 237
Im Grundsatz zustimmend Boulanger, Semaine Juridique 5.10.2009 n° 41, 36. ABl. 1998 C 221/27 Rn. 32, ebenso Borrás, in: Magnus/Mankowski (Hrsg.), Brussels IIbis-Regulation Art. 8 EuEheVO Rn. 6 ff. 239 EuGH ± C-523/07 ± A ./. Perusturvalautakunta, Schlussanträge der Generalanwältin Kokott 5Q Ä'LH hEHUHLQNRPPHQ >ELOGHQ@ HLQH wichtige entstehungsgeschichtliche Grundlage für die Verordnung. Zudem müssen die Anwendungsbereiche der jeweiligen Instrumente kohärent voneinander abgegrenzt werden. Dies setzt ein einheitliches Verständnis des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts voraus, an den sowohl die Regelungen GHUhEHUHLQNRPPHQDOVDXFKGHU9HURUGQXQJDQNQSIHQ³$XFKLQGHU/LWHUDWXUJLQJPDQ bislang selbstverständlich von der Identität der Aufenthaltsbegriffe aus, siehe Solomon, Brüssel IIa ± Die neuen europarechtlichen Regeln zum internationalen Verfahrensrecht in Fragen der elterlichen Verantwortung, FamRZ 2004, 1409 (1414); Coester-Waltjen, Die %HGHXWXQJ GHV ÄJHZ|KQOLFKHQ $XIHQWKDOWV³ LP +DDJHU (QWIKUXQJVDENRPPHQ, in: Basedow/Drobnig et al. (Hrsg.), Aufbruch nach Europa: 75 Jahre Max-Planck-Institut, 2001, 543 (550); Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 142; Geimer/Schütze/Dilger Art. 8 EuEheVO Rn. 3; Rauscher/ders. Art. 8 Brüssel IIa-VO Rn. 11; MüKoFamFG/Gottwald Art. 8 EuEheVO Rn. 4. 240 EuGH ± C-523/07 ± A ./. Perusturvalautakunta, Schlussanträge der Generalanwältin Kokott, Rn. 23. 241 ABl. 1998 C 221/27 Rn. 32. 242 Stürner, Deutsch-Italienische Erbfälle unter der kommenden Europäischen Erbrechtsverordnung, Jahrbuch für Italienisches Recht 26 (2013) 59 (65). 238
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aber viel dafür, sich bei der Auslegung des Aufenthaltsbegriffs möglichst eng an den Haager Übereinkommen zu orientieren. Diese Verträge stellen nicht nur das entstehungsgeschichtliche Vorbild der EuEheVO dar, 243 sondern sind, wie die Art. 60 bis 62 EuEheVO zeigen, auch in ihrem Anwendungsbereich gewollt eng mit der Verordnung verwoben. Das verdeutlichen nicht zuletzt die Koordinationsvorschriften der Art. 59 ff. EuEheVO. Die Haager Übereinkommen kommen danach, erstens, im Verhältnis zu Drittstaaten zur Anwendung (Art. 60 EuEheVO, Art. 62 Abs. 2 EuEheVO sowie Art. 61 lit. a) EuEheVO und Art. 52 Abs. 2, 4 KSÜ)244 und bleiben, zweitens, auch innerhalb der Union anwendbar, soweit ihr Regelungsgegenstand nicht von der Verordnung erfasst ist (Art. 62 Abs. 1 EuEheVO). Die genannten Bestimmungen lassen ebenso wie der Beitritt der Union zur Haager Konferenz 245 darauf schließen, dass der Europäische Gesetzgeber die Schaffung systemkohärenter Regeln zur Beilegung von Sorgerechtsstreitigkeiten gerade nicht auf das Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten beschränken möchte. Für den nationalen Rechtsanwender sollte dies Anlass genug sein, sich um wechselseitige Bezugnahmen zwischen den Haager Konventionen und der EuEheVO zu bemühen. 246 Über die reine Verfahrenskoordination hinaus sind die Regelungsebenen des Haager Staatsvertragsrechts und der Rom-Verordnungen auch systematisch derart eng miteinander verwoben, dass beide Verfahrensregime in der Rechtspraxis häufig nebeneinander zur Anwendung kommen. Das gilt jedenfalls für die Vorschriften der EuEheVO zur elterlichen Verantwortung. Die Art. 8±14 EuEheVO schaffen ein autonom-unionsrechtliches Zuständigkeitsregime, Art. 15 gestattet Abweichungen im Interesse der Einzelfallgerechtigkeit. 247 Art. 11 EuEheVO knüpft dagegen an die Vorschriften zur Kindesrückführung nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen an und verschärft und ergänzt diese Bestimmungen innerhalb der Europäischen Union. 248 Bereits regelungssystematisch steht Art. 11 EuEheVO also einerseits inmitten der unionsrechtlich-autonomen Bestimmungen zur Zuständigkeit in
EuGH ± C-523/07 ± A ./. Perusturvalautakunta, Schlussanträge der Generalanwältin Kokott, Rn. 23 f. 244 EuGH ± C-523/07 ± A ./. Perusturvalautakunta, Schlussanträge der Generalanwältin Kokott, Rn. 25. 245 Dazu Stone, EU Private International Law, 3. Auflage 2014, 12 f. 246 EuGH ± C-523/07 ± A ./. Perusturvalautakunta, Schlussanträge der Generalanwältin Kokott, Rn. 23. 247 Bei Art. 15 EuEheVO handelt es sich um einen kodifizierten Fall der Lehre vom forum non conveniens, s. MüKoZPO/Gottwald Art. 15 EuEheVO Rn. 1, anknüpfend an Solomon, FamRZ 2004, 1409 (1413 f.). 248 Art. 36 HKÜ gestattet diese Ergänzung, s. MüKoZPO/Gottwald Art. 11 EuEheVO Rn. 1, Solomon, FamRZ 2004, 1409 (1416). 243
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Verfahren der elterlichen Sorge, konkretisiert seinen Inhalt aber durch eine Bezugnahme auf das HKÜ. Auch in der Rechtspraxis laufen Rückführungsanträge nach den Vorschriften des HKÜ und Sorgerechtsklagen mit Auslandsbezug regelmäßig parallel nebeneinander her. Freilich geht es im Fall des HKÜ um die Kooperation staatlicher Behörden, in der EuEheVO dagegen um die Bestimmung des zuständigen Gerichts. Ein Vorabentscheidungsurteil des EuGH aus dem Jahr 2015 zeigt sich aber jedenfalls unkritisch gegenüber der Neigung mitgliedstaatlicher Gerichte, beiden Verfahren eine wechselseitige Tatbestandswirkung zuzuerkennen. 249 Im zugrundeliegenden Konflikt zwischen schwedischer und litauischer Familiengerichtsbarkeit250 hatten schwedische Gerichte vorgebracht, die litauischen Gerichte hätten aus der Zurückweisung des Rückführungsantrags nach Art. 13 HKÜ durch zuständige Behörden zu Unrecht gefolgert, dass der gewöhnliche Aufenthalt der Kinder von Schweden nach Litauen gewechselt habe. 251 Jedenfalls die Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet treten diesem Vortrag entgegen. Obwohl die erkennbaren Wertungsunterschiede zwischen dem Rückführungsverfahren und der Zuständigkeitsbestimmung im Rahmen der elterlichen Sorge mit dem PovseJudikat des EuGH direkte Inferenzen zwischen den Tatbeständen ausschließen,252 ist eine wechselbezügliche Verknüpfung der Verfahren auf der Tatbestandsebene also weder in der Praxis ausgeschlossen, noch steht sie als solche im Widerspruch zur Zuständigkeitsordnung der EuEheVO. Ein letztes Argument gegen eine Trennung des unionsrechtlichen vom staatsvertraglichem Aufenthaltsbegriff lässt sich aus einer Analogie zum Kindeswohl gewinnen. Wie an früherer Stelle ausgeführt wurde, wird dieser Begriff ebenso wenig wie der gewöhnliche Aufenthalt verordnungsautonom definiert oder umschrieben. 253 Anstatt einer streng autonomem Auslegung lässt der EuGH aber eine Neigung erkennen, den Begriff nicht nur in Ansehung des Art. 24 GrCh, sondern auch des Art. 12 UN-Kinderrechtsübereinkommen zu konkretisieren. 254 Nicht zuletzt weil die Aufenthaltsanknüpfung und das Kindeswohl in der EuEheVO in einem direkten Funktionszusammenhang stehen, besser: der gewöhnliche Aufenthalt das Kindeswohl räumEuGH ± C-455/15 PPU, Rn. 16 ± P ./. Q. EuGH ± C-455/15 PPU, Rn. 10 ff. ± P ./. Q. 251 EuGH ± C-455/15 PPU, Rn. 25 ± P ./. Q ± Slg. 2010, I-6669 sowie Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet, Rn. 32. 252 EuGH ± C-211/10 PPU, Rn. 38 ± Povse ./. Alpago. Eine Frau österreichischer Staatsangehörigkeit hatte hier nach der Trennung von ihrem italienischen Lebenspartner die gemeinsame Tochter absprachewidrig von Italien nach Österreich gebracht. Spätere Versuche des Vaters, sein Sorgerecht auf dem Rechtsweg durchzusetzen, hatte sie aktiv vereitelt, ibid., Rn. 24, 29. Vgl. hierzu auch Mansel/Thorn/Wagner, IPRax 2016, 1 (18 f.). 253 S.o. § 5 B. II. 3. b). 254 S.o. § 5 B. II. 3. c). 249 250
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lich konkretisiert, 255 sollte man beide Anknüpfungsmomente gleichermaßen für das Mehrebenensystem des Kinderschutzes öffnen. 256 Sofern man dem EuGH folgen und den unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriff tatsächlich vom staatsvertraglichen emanzipieren wollte, müsste man ein neues Verbindungsglied zwischen drei systematisch, teleologisch und praktisch eng verwobenen Verfahrensregimen schaffen. Bis dato ist es aber gerade der gewöhnliche Aufenthalt, der Parallelverfahren im Rahmen der elterlichen Sorge nicht nur koordiniert, sondern auch ihr harmonisches Zusammenspiel sicherstellt. Bevor man die insoweit wesentliche Identitätsvermutung aufgibt, die auch den Schlussanträgen der Generalanwältin zugrunde liegt, muss der EuGH selbst auf Alternativen zum einheitlichen Aufenthaltsverständnis hinweisen, um die Verfahrenskoordination sicherzustellen. Das hat er bislang nicht getan. cc) Relativierung der dreifachen Unabhängigkeitshypothese durch spätere Rechtsprechung Die gerade formulierte Kritik wird dadurch bestätigt, dass das dreifache Unabhängigkeitspostulat durch die anschließende Rechtsprechung des EuGH und der funktionalen Unionsgerichte nicht vollständig ernstgenommen wird. (1) OGH: Staatsvertraglicher und verordnungsrechtlicher gewöhnlicher Aufenthalt Erwähnenswert sind zunächst zwei jüngere Entscheidungen des österreichischen OGH. Beide betreffen das Verhältnis des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes nach Art. 3 EuUntVO zum Sorgerecht, Aufenthalt und Aufenthaltsbestimmungsrecht eines Elternteils.257 Die erste Entscheidung erging auf die Unterhaltsklage eines Kindes hin, das kurz zuvor mit seiner Mutter von Spanien in deren österreichische Heimat umgezogen war. Anspruchsgegner war der in Spanien lebende Vater des Kindes. Dieser wandte ein, die Mutter habe das Kind ohne seine Einwilligung in ihre österreichische Heimat zurückgebracht. 258 Entsprechend habe er bereits im Vorfeld der Unterhaltsklage eine Rückgabeanordnung nach Art. 12 des Haager Kindesentführungsübereinkommens von 1980 erwirkt. 259 Der OGH hatte zu entscheiden, ob das Bestehen einer Rückführungsanordnung sich auf die Aufenthaltsermittlung im Rahmen des Internationalen Unterhaltsrechts auswirken könne. Dies lehn255
S.o. § 5 B. II. 3. b). S.o. § 5 B. II. 3. a). 257 OGH, 27.6.2013 ± 1Ob 91/13h (allerdings zur Vorgängerbestimmung in Art. 5 Nr. 2 Brüssel I-VO); OGH, 29.8.2013 ± 1Ob136/13a, unalex AT-911, 1. 258 OGH ± 1Ob 91/13h; Weller/Schulz, Unterhaltsklage nach Kindesentführung: ZuVWlQGLJNHLWDPÄXQUHFKWPlLJHQ³JHZ|KQOLFKHQ$XIHQWKDOWGHV.LQGHV",35D[ 259 OGH ± 1Ob 91/13h. 256
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te er ab. Bei der Rückführungsanordnung handle es sich um eine Äbloße Tatsache³,260 der bei der Ermittlung des ausschließlich an sozialen Faktoren zu orientierenden gewöhnlichen Aufenthalts kein entscheidendes Gewicht zukomme. Aufenthaltsbestimmung und Aufenthaltsbestimmungsrecht seien also getrennt voneinander zu würdigen. 261 Der OGH bezieht somit deutlich Stellung zur Binnenstruktur des gewöhnlichen Aufenthalts, betritt aber auch kein judikatives Neuland. Vielmehr wird eine Haltung fortgesetzt, die bereits im Haager Konventionsrecht einen Teil der ständigen Rechtsprechung bildete. Der gewöhnliche Aufenthalt eines Kindes sollte dort zumindest im Grundsatz unabhängig vom Sorgerecht der Eltern und einem etwaigen Bruch desselben ermittelt werden. Diese Grundposition galt es nun auf die administrative Ebene der Verfahrenskoordination zu erweitern. Dass die bloße Existenz einer Rückführungsanordnung der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts nicht entgegenstehen kann, erkennt der OGH zutreffend. Das ist aber nicht zuletzt der Fall, weil die Wertungen des Rückführungsverfahrens denen der Zuständigkeitsprüfung im Unterhaltsverfahren wie auch in anderen regulären Familienverfahren nicht entsprechen. Die ausweislich Art. 8 HKÜ zentrale Frage lautet hier, ob durch den Ortswechsel eines Minderjährigen unter 16 Jahren (Art. 4 HKÜ) das Sorgerecht eines Elternteils verletzt wird. Der Verfahrensausgang steht also unter einem materiellrechtlichen Bewertungsmaßstab, der für die Aufenthaltsbestimmung in der Tat nicht relevant sein kann. Wo sich der gewöhnliche Aufenthalt eines Kindes befindet, beurteilt sich nämlich auch unter dem HKÜ getrennt von der Frage der Widerrechtlichkeit des Ortswechsels. Das ist insbesondere dem Umstand geschuldet, dass die Aufenthaltsermittlung für den Erfolg eines Rückführungsantrags ohne Bedeutung ist. Zwar entscheidet der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes einerseits über die Anwendbarkeit des HKÜ (Art. 4) und bestimmt andererseits die Behördenzuständigkeit (Art. 8); jenseits dieser Koordinationsfunktion kommt ihm aber kein Gewicht bei der Feststellung der Widerrechtlichkeit eines Ortswechsels zu. Die zweite Entscheidung setzt die so begonnene Linie für Fälle fort, in denen ein Parallelverfahren noch nicht stattgefunden hat. Sie betraf die Unterhaltszuständigkeit im Fall einer niederländisch-österreichischen Familie, die ursprünglich in den Niederlanden gewohnt hatte. Die Eltern trennten sich und vereinbarten, dass die Kinder gemeinsam mit der Mutter von den Niederlanden nach Österreich umziehen und dort das Jahr 2012 verbringen sollten. Eine Langzeitregelung wurde nicht getroffen Als die Kinder im Jahr 2013 eine Unterhaltsklage bei den örtlich zuständigen österreichischen Gerichten gegen den Vater anstrengten, wandte dieser ein, die Kinder hätten mangels Zusti mmung von seiner Seite keinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich erwer260 261
OGH ± 1Ob 91/13h. OGH ± 1Ob 91/13h. Befürwortend Weller/Schulz, IPRax 2015, 176.
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ben können. 262 Das Verfahren hätte daher in den Niederlanden eingeleitet werden müssen. Der OGH entschied, dass sich die fehlende Gestattung des Vaters ebenso wenig wie sein entgegenstehender Wille auf die Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts der Kinder auswirken können. 263 Er betonte außerdem, dass der gewöhnliche Aufenthalt in der EuUntVO Äverordnungsautonom³, also ausschließlich im Lichte der Verordnung, auszulegen sei. 264 Dass sich der OGH zur Konkretisierung des gewöhnlichen Aufenthalts unmittelbar auf die Äzu einer vergleichbaren Bestimmung³ ergangene Entscheidung A bezieht, 265 zeigt, dass er das vom EuGH formulierte, dreifache Unabhängigkeitsgebot allenfalls als grobe Maßgabe versteht. Jedenfalls in der beschriebenen Entscheidung erkennt er ihm kein bestimmendes Gewicht zu. Die Entscheidung knüpft insofern an den Vorbefund an: Der OGH konturiert den gewöhnlichen Aufenthalt im sekundärrechtlichen IPR und IZVR der Union gerade nicht selbstständig, sondern in Anlehnung an Staatsverträge und andere, inhaltlich vergleichbare Verordnungstexte. Beide Entscheidungen bestätigen im Ergebnis, dass der gewöhnliche Aufenthalt von Kindern unabhängig von sachrechtlichen Vorfragen wie dem Sorgerecht eines Elternteils, aber auch ohne Rücksicht auf Parallelverfahren wie solche nach dem HKÜ bestimmt werden muss. Insoweit schließt die Rechtsprechung zu den familienrechtlichen Rom- und Brüssel-Verordnungen einerseits unmittelbar an den acquis des Haager Staatsvertragsrechts an. Andererseits schwinden infolge dieser strengen Unabhängigkeitsforderung auch die Unterschiede in der Aufenthaltsfeststellung von Kindern und Erwachsenen, wie sie der EuGH in A und Mercredi indirekt andeutet. Abgesehen davon, dass bei Kindern und Erwachsenen unterschiedliche Integrationsindizien in die Tatbestandskonkretisierung einfließen können, sorgt gerade die hier einmal mehr bestätigte Unabhängigkeit des gewöhnlichen Aufenthalts von rechtlichen Vorfragen für eine weitgehend homogene Begriffsstruktur. (2) EuGH: Unterhaltsrechtlicher und sorgerechtlicher gewöhnlicher Aufenthalt Auch ein 2015 ergangener Vorabentscheidungsbeschluss relativiert die Aussagen des EuGH. 266 Hier erkannte der Gerichtshof selbst darauf, dass der Begriff der Nebensache in Art. 3 lit. c), d) EuUntVO im Hinblick auf die Verfahrensregime der EuEheVO einschränkend auszulegen ist. Er erfasst mithin nur Verfahren über die elterliche Sorge (Art. 8 ff. EuEheVO). Dem Vorabentscheidungsgesuch lag der Scheidungsantrag eines Italieners mit ge262
Zum Sachverhalt Weller/Schulz, IPRax 2015, 176 (177 f.). OGH, 29.8.2013 ± 1Ob136/13a, unalex AT-911, 3. Leitsatz. 264 OGH ± 1Ob136/13a, unalex AT-911, 2. Leitsatz. 265 OGH ± 1Ob136/13a, unalex AT-911, 2. Leitsatz. 266 EuGH, 16.7.2015 ± C-184/14 ± A ./. B. ± NJW 2015, 3021. 263
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wöhnlichem Aufenthalt in Großbritannien vor dem italienischen Tribunale di Milano zugrunde.267 Die nach wie vor in Großbritannien lebende Mutter hatte parallel dazu ein Sorgerechtsverfahren vor britischen Gerichten eingeleitet. 268 Die Vorlagefrage lautete, ob ein Antrag auf Kindesunterhalt gemäß Art. 3 lit. c) EuUntVO vor diesem Gericht gestellt werden könne, obwohl es nur für Personenstandssachen zuständig sei und gleichzeitig ein Sorgerechtsverfahren anhängig sei (Art. 3 lit. d) EuUntVO).269 Der EuGH entschied, dass als Nebensache nur Verfahren zur elterlichen Verantwortung in Frage kämen (Art. 3 lit. c) EuUntVO). Zur Begründung stützte er sich einerseits auf das Ziel einer ordnungsgemäßen Rechtspflege, andererseits aber auch auf die Interessen der unterhaltsberechtigten Kinder. Zudem sei bei der Auslegung der Art. 3 lit. c), d) EuUntVO das Kindeswohl zu berücksichtigen. 270 Durch diese Entscheidung beschneidet der EuGH zwar die Klagemöglichkeiten des Unterhaltsgläubigers empfindlich, 271 lässt aber erkennen, dass er EuUntVO und EuEheVO von einem identischen Standard getragen wissen will. Konsequent zu Ende gedacht muss diese Maxime auch Berücksichtigung finden, wenn es um die Auslegung der unabhängigen Zuständigkeitsnorm des Art. 3 lit. b) EuUntVO geht. Der gewöhnliche Aufenthalt muss dann in der EuUntVO und der EuEheVO identischen, normativen Leitbildern folgen. Diese Beobachtung relativiert die in A und Mercredi aufgestellte Behauptung, der Aufenthaltsbegriff des Art. 8 Abs. 1 EuEheVO müsse den Gegenstand einer selbstständigen Auslegung bilden. Dass der Gerichtshof im Interesse des Kindeswohls sogar die von Verordnung wegen gewährten Klagemöglichkeiten eines Unterhaltsgläubigers einschränkt, legt nahe, dass auch der zuständigkeitsbestimmende gewöhnliche Aufenthalt in EuUntVO und EuEheVO jedenfalls im Hinblick auf den dortigen Abschnitt zur elterlichen Verantwortung identischen Kriterien folgt.
267 Der Vater hatte seinen Scheidungsantrag mit einem Antrag auf Zuweisung des gemeinsamen Sorgerechts verbunden. Seine Ehefrau, die sich wie die Kinder nach wie vor in Großbritannien befand, bestritt im Rahmen einer Widerklage die Zuständigkeit des Mailänder Gerichts bezüglich des Sorgerechts und beantragte selbst vor dem örtlich zuständigen Londoner Gericht Unterhalt für sich und ihre Kinder, NJW 2015, 3021. 268 EuGH ± C-184/14 ± A ./. B ± NJW 2015, 3021. 269 EuGH ± C-184/14 ± A ./. B ± NJW 2015, 3021. 270 EuGH ± C-184/14 ± A ./. B ± NJW 2015, 3021 (3022). 271 Kritisch daher Reuß, Anmerkung zu EuGH ± C-184/14 ± A ./. B ± NJW 2015, 3021 (3024). In der Tat verdient das Urteil des EuGH insoweit Kritik, als mit der ausschließl ichen Zuordnung zum Gerichtsstand der elterlichen Verantwortung nicht nur die Klagemöglichkeiten aus Art. 3 lit. c) und d) reduziert werden, sondern auch lit. d) und Art. 8 EuEheVO regelmäßig in dieselbe Jurisdiktion führen; freilich mit dem Unterschied, dass die EuUntVO auch die örtliche Zuständigkeit mitbestimmt.
B. Das Aufenthaltsverständnis der Unionsgerichte
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dd) Autonomes Aufenthaltsverständnis als Narrativ zur Sicherung der eigenen Auslegungshoheit Die genannten Beispiele verdeutlichen, dass die in A begonnene Rechtsprechungslinie weder in der lex lata des Unionssekundärrechts noch in späteren Judikaten des EuGH vollumfänglich umgesetzt wird. Dass der Gerichtshof sich gegen Anleihen am konventions- und sonstigen sekundärrechtlichen IPR ausspricht, verspricht außerdem weder einen Praktikabilitäts- noch einen Kohärenzgewinn in der Handhabung des EuIPR und EuIZVR. Im Gegenteil schmälert der EuGH sein Unabhängigkeitspostulat an anderer Stelle selbst, indem er Kohärenzerwägungen in seine Entscheidungsfindung einbezieht. Um die Harmonie zwischen unterhalts- und sorgerechtlicher Zuständigkeit zu wahren, ist in seinen Augen insbesondere ein einheitliches Verständnis der Nebensache in der EuUntVO und der EuEheVO geboten. Diese Vorgabe wird sich aber nur umsetzen lassen, wenn man auch den zuständigkeitsbestimmenden gewöhnlichen Aufenthalt in beiden Verordnungen nach identischen Grundsätzen ermittelt. Diese Tendenz lässt auch die nachfolgende Rechtsprechung funktionaler Unionsgerichte erkennen, die an späterer Stelle eine ausführliche Würdigung erfahren soll. 272 Entsprechend wird man das in A formulierte ÄUnabhängigkeitspostulat³ des Gerichtshofs vor dem Hintergrund des institutionellen Gefüges der Union und der begrenzten Kompetenz des EuGH relativieren müssen. Dafür finden sich neben dem beschriebenen Rechtsprechungskontext auch institutionelle Gründe: Schließlich entscheidet der Gerichtshof nicht nur auf einer anderen Kompetenzgrundlage, sondern auch in einem anderen institutionellen Gefüge als nationale Gerichte. 273 Indem der EuGH betont, dass weder der staatsvertragliche noch der verordnungsrechtliche acquis bei der Konkretisierung des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne der EuEheVO unmittelbare Bedeutung 272
S.u. III. 2. Erstens steht der EuGH einem supranationalen, also gerade nichtstaatlichen Organismus voran, der konstant um seinen Selbsterhalt bemüht ist. Die Grenzen seiner Jurisdiktion lassen sich einfacher auf dem Weg der Rechtsprechung erweitern als im Rahmen eines Vertragsänderungsverfahrens. Entsprechend erscheint es verständlich, dass der EuGH seit seiner Schaffung erkennbar darum bemüht ist, seine eigene Kompetenz abzusichern, und sie sogar zu erweitern, wo sich die Gelegenheit bietet. Von einer kritischen Warte aus liest sich die Entwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs als anhaltender Versuch, die eigene Machtbasis zu sichern und auszubauen. Den Angelpunkt der Jurisdiktionssicherung stellt traditionell das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV dar. Zweitens ist der EuGH kein Zivilgericht, sondern ein Oberstgericht, in dem jedenfalls im Internationalen Privatrecht bislang keine erkennbare personelle Spezialisierung durch Zuweisung an bestimmte Kammern erfolgt ist. Ausführlicher Rentsch, Präzedenzfall versus Machterhalt ± eine kritische Rekonstruktion der EuGH-Rechtsprechung zum gewöhnlichen Aufenthalt, in: Behme/Fervers/Maute et al. (Hrsg.), Perspektiven einer europäischen Zivilrechtswissenschaft, 2017, 273 (284 ff.). 273
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haben können, schafft er einerseits Freiräume für eine Weiterentwicklung seiner insofern nicht präzedenzgebundenen eigenen Rechtsprechung. Andererseits sichert er seine Kompetenz im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens, da die Mitgliedstaaten unter dem aktuellen System eine Vorlage aufenthaltsrelevanter Entscheidungen nicht mit Hinweis auf die aus Art. 267 AEUV entwickelte acte clair-Doktrin274 zurückweisen können. Die Sicherung seiner eigenen Verfahrenshoheit macht es aber gerade nicht erfo rderlich, dass der EuGH jedwede Rückbezüge aus dem Haager Staatsvertragsrecht zurückweist. Im Gegenteil hätte er sich damit begnügen können, seinen Ausführungen die Analogiefähigkeit innerhalb des Unionsrechts abzusprechen. Damit hätte er freilich ein deutliches Argument gegen den im Rahmen dieser Arbeit vorgenommenen Versuch formuliert, rechtsaktübergreifende Strukturen des gewöhnlichen Aufenthalts zu identifizieren. Gerade dieser Aspekt der autonomen Auslegung des gewöhnlichen Aufenthalts wird im Judikat aber nur am Rande berücksichtigt. In Anbetracht der eingangs formulierten Überlegungen zu den Besonderheiten des Art. 8 Abs. 1 EuEheVO im Gefüge der Rom- und Brüssel-Verordnungen erscheint es schließlich unwahrscheinlich, dass Vorlagegerichte die Entscheidungen des EuGH überhaupt als Freizeichnung im Rahmen anderer Rechtsgebiete verstanden und infolgedessen von einer Vorlage abgesehen hätten. ee) Übereinstimmung mit dem Haager Recht Der Verdacht, dass das dreifache Unabhängigkeitspostulat dem justiziellen Selbsterhalt und nicht dem Anliegen zuzuschreiben ist, den gewöhnlichen Aufenthalt strukturell zu erschließen, erhärtet sich in Ansehung der Kriterien, die der Gerichtshof für die Aufenthaltsbestimmung aufstellt. 275 Da die EuEheVO keine Definition des gewöhnlichen Aufenthalts formuliert, kann der Auslegungsmaßstab für den gewöhnlichen Aufenthalt nur aus der Systematik und dem Telos der EuEheVO, konkret aus Erwägungsgrund 12, folgen.276 Der Aufenthaltsgerichtsstand in Art. 8 Abs. 1 EuEheVO dient danach dem Wohl des Kindes und soll die räumliche Nähe des Gerichtsstandes zum Sachverhalt sicherstellen. 277 Der Gerichtshof leitet daraus den Schluss ab, dass der gewöhnliche Aufenthalt, erstens, Äanhand aller tatsächlichen Um-
274 Grundlegend EuGH ± C-283/81 ± C.I.L.F.I.T. ± Slg. 1982, 3415, Rn. 5, 13 f.; allgemein Hummert, Neubestimmung der acte clair-Doktrin im Kooperationsverhältnis zwischen EG und Mitgliedstaat, 2006. 275 EuGH ± C-523/07, Rn. 35 ± A ./. Perusturvalautakunta. 276 EuGH ± C-523/07, Rn. 35 ± A ./. Perusturvalautakunta. 277 Ä'LH LQ GLHVHU 9HURUGQXQJ IU GLH HOWHUOLFKH 9HUDQWZRUWXQJ IHVWJHOHJWHQ =uständigkeitsvorschriften wurden dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgesWDOWHW³(Herv. d. Verf.).
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stände des Einzelfalls³ zu ermitteln sei. 278 Zweitens müsse man neben der schlichten, körperlichen Anwesenheit der Suche nach Sachverhaltselementen besondere Aufmerksamkeit schenken, die sich als ÄAusdruck einer gewissen Integration in ein soziales und familiäres Umfeld³ deuten lassen. 279 Drittens müsse Sicherheit darüber herrschen, dass die einmal festgestellte Anwesenheit nicht nur Ävorübergehende[r] oder gelegentliche[r] Natur³ ist.280 Weiterhin konkretisiert der Gerichtshof diese allgemeinen Leitlinien durch präzise Vorgaben für die Sachverhaltsauswertung. 281 Bei der Ermittlung der sozialen und familiären Integration des Kindes seien Äinsbesondere die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts in einem Mitgliedstaat sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familie in diesen Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände der Einschulung, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat³ zu berücksichtigen. 282 Der Gerichtshof stimmt außerdem den Anträgen der Generalanwältin zu, wonach der Niederlassungswille der Eltern bei der Aufenthaltsbestimmung der Kinder erheblich sein soll. Ein entscheidendes Gewicht bei der Aufenthaltsbestimmung habe der Wille aber nur, wenn er sich in konkreten Maßnahmen zur Begründung eines Lebensmittelpunktes äußere. 283 Die konkrete Entscheidung über den Aufenthaltsort überlässt der EuGH dann ausdrücklich dem vorlegenden nationalen Gericht. 284 Vergleicht man diese Kriterien mit dem acquis der mitgliedstaatlichen Rechtsprechung zu den Haager Übereinkommen, fallen weitaus mehr bedeutende Parallelen als Unterschiede zwischen beiden Aufenthaltsbegriffen ins Auge. Ebenso wie unter den Haager Konventionen soll die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts, erstens, tatsachenakzessorisch erfolgen. Zweitens stellt der EuGH mit Ausnahme der Staatsangehörigkeit 285 Äadministrative³ EuGH ± C-523/07, Rn. 37 ± A ./. Perusturvalautakunta. EuGH ± C-523/07, Rn. 38 ± A ./. Perusturvalautakunta. 280 EuGH ± C-523/07, Rn. 38 ± A ./. Perusturvalautakunta. 281 EuGH ± C-523/07, 2. Leitsatz ± A ./. Perusturvalautakunta: Ä'HU%HJULIIÃJHZ|KQOiFKHU$XIHQWKDOWµ im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 ist [...] der Ort [...], der Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration GHV .LQGHV >LVW@³ Ebenso ibid., Rn. 33, 37, 38, 44. 282 EuGH ± C-523/07, Rn. 38 ± A ./. Perusturvalautakunta. 283 EuGH ± C-523/07, Rn. 40 ± A ./. PerusturvalautakuntaÄ[...] die Absicht der Eltern, sich mit dem Kind dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen, die sich in bestimmten äußeren Umständen, wie in dem Erwerb oder der Anmietung einer Wohnung im Zuzugsstaat, manifestiert, [kann] ein Indiz für die Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts sein. Ein anderes Indiz kann die Einreichung eines Antrags auf Zuweisung einer Sozialwohnung bei den zuständigen %HK|UGHQVHLQ³'D]XDXFK(X*+ ± C-523/07 ± A ./. Perusturvalautakunta, Schlussanträge der Generalanwältin Kokott, Rn. 44. 284 EuGH ± C-523/07, Rn. 42 ± A ./. Perusturvalautakunta. 285 Dazu s.u. d). 278 279
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Anknüpfungstatsachen wie die polizeiliche Meldung und die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts in den Hintergrund und hebt stattdessen die Bedeutung von Kriterien hervor, die ein möglichst akkurates Bild der individuellen Haltung einer Person zu einem Land und ihrer Integration in ihre Gesellschaft zeichnen. Boulanger merkt zutreffend an, dass sich der durch den EuGH gezeichnete Aufenthaltsbegriff damit nur unmerklich von demjenigen abhebt, der aus dem Haager Konventionsrecht bekannt ist. 286 Die Zurückhaltung des EuGH gegenüber staatsvertragsrechtlichen Anleihen muss in der Literatur und Rechtsprechung also mehr Beachtung finden, als es aktuell der Fall ist: Man darf nicht pauschal annehmen, dass der autonom-unionsrechtliche, der staatsvertragliche und der nationale Aufenthaltsbegriff allenfalls unmerklich voneinander abweichen. 287 Gleichzeitig bestätigen die Leitlinien, die der EuGH für den gewöhnlichen Aufenthalt entwickelt, die zuvor geäußerte Vermutung, dass der Aufenthaltsbegriff des Haager Staatsvertragsrechts und der des Unionsrechts jedenfalls im Rahmen des Kinderschutzes und der internationalen Zuständigkeit in Sorgerechtsangelegenheiten weitgehend übereinstimmen. Dass der Aufenthaltsbegriff, den der EuGH für Art. 8 Abs. 1 EuEheVO entwickelt hat, sich mit dem des Haager Rechts weitgehend deckt, ist anders formuliert dem Umstand geschuldet, dass beide Begriffe nicht nur identische Interessen und Schutzbedürfnisse bedienen, sondern auch in einem identischen sachlichen Kontext zur Anwendung kommen. Nimmt man die Aussagen des EuGH ernst, ist die inhaltliche Überschneidung freilich zufällig. Insbesondere für Rechtsgebiete, die vom Haager Recht inhaltlich weit entfernt sind, wie die Rom I- und II-Verordnung, wird man dagegen einen genuin unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriff entwickeln müssen. 288 Sollte der Appell des EuGH im Kern diese Maßgabe aufstellen, leuchtet es aber freilich nicht ein, warum dieser unionsrechtliche Begriff sich nicht an die strukturellen Vorgaben anlehnen darf, die der Gerichtshof in A formuliert hat. c) Bisherige Deutungen der Entscheidung In der Literatur wird A jenseits der beschriebenen Kompetenzabgrenzung als Präzedenzfall verstanden, der Staatsangehörigkeit bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts eine starke Indizwirkung zuzuerkennen. 289 Im 286
Boulanger, La Semaine Juridique 5.10.2009 n° 41, 33 (37). So statt vieler MüKoBGB/Martiny Art. 19 Rom I-VO Rn. 12. 288 S. dazu den dritten Teil der Arbeit. 289 In diese Richtung deutet Weller, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0-Verordnung?, 2012, 293 (310) die Entscheidung, wenngleich er freilich später (ibid., 317) die Gegenposition vertritt. Ebenso sieht es Jayme, Zugehörigkeit und kulturelle Identität ± die Sicht des Internationalen Privatrechts, 2011, 34. Allgemein für eine Indizwirkung der Staatsangehörigkeit bei der Aufenthaltsbestimmung Kegel, FS Rehbinder, 2002, 699 (705). Entschieden dagegen Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 119 f. 287
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Verhältnis zu anderen Anknüpfungstatsachen soll die Entscheidung ihr gemäß der überwiegenden Deutung in der Literatur ein besonders großes Gewicht bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts zuerkennen. Zweitens beanspruchen Vertreter eines Äobjektiven³ Aufenthaltsverständnisses, die den Begriff vornehmlich durch Äharte³ Kriterien wie die Anwesenheitsdauer konkretisiert wissen wollen, 290 die Entscheidung für sich, um die rechtspraktische Gültigkeit ihrer Überzeugung zu beweisen. 291 Nach dieser Lesart etabliert der EuGH in A also einen sowohl soziologischen als auch regelungssystematisch durch Art. 3 Abs. 1 lit. a) SpStr. 6 Brüssel IIa-VO begründbaren Konnex zwischen der Staatsangehörigkeit und der aufenthaltsrelevanten sozialen Integration eines Kindes. Die Rolle der Staatsangehörigkeit soll aber die einer rein statistischen Größe, nicht die eines die Aufenthaltsanknüpfung normativ überformenden Leitbilds sein. 292 d) Eigene Deutung der Entscheidung Dass die Aufenthaltsanknüpfung eine Entschleunigung erfährt, wenn man der Staatsangehörigkeit bei ihrer Bestimmung ein entscheidendes Gewicht zuerkennt, lässt sich nicht von der Hand weisen. Ein Statutenwechsel erscheint nämlich nur möglich, wenn der soziale Abstand einer Person von ihrem Heimatstaat so groß geworden ist, dass die Indizwirkung der Staatsangehörigkeit nicht mehr trägt. Der Wert der Entscheidung A wird dadurch geschmälert, dass der Gerichtshof der besonderen Verfahrensart wegen nur eingeschränkt begründungsverpflichtet ist. 293 Insbesondere steht er im Gegensatz zum Hauptsacheverfahren nicht in der Pflicht, Sachverhalt und Entscheidungsgründe zueinander ins Verhältnis zu setzen. 294 So man diesen Arbeitsschritt selbstständig nachvollzieht und Sachverhalt und Entscheidungsgründe zueinander ins Verhältnis setzt, überraschen die vorhandenen Deutungsversuche in der Literatur allerdings. Erstens erklärt der EuGH den Niederlassungswillen der Eltern keineswegs für unbeachtlich, sondern unterstreicht in einem obiter dictum dessen grundsätzliche Relevanz für die Aufenthaltsbestimmung (aa)). Zweitens wird die Rolle der Staatsangehörigkeit bei der Aufenthaltsbestimmung durch A gerade nicht bestätigt, sondern entscheidend relativiert, da es im
290 So insbesondere Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 131 ff.; Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 236 ff. 291 Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 236. 292 Diesen Unterschied zwischen soziologischer und normativer Indizfunktion betont Schulze, IPRax 2012, 526 (528). Zur fehlenden Eignung der Staatsangehörigkeit als Aufenthaltsindiz dagegen Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 119 ff. 293 S.o. II. 294 S.o. II.
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Ausgangsverfahren nicht um eine von Geburt an vorhandene, sondern einen später im Wege der Einbürgerung erworbene Nationalität geht (bb)). aa) Keine verbindlichen Aussagen zum Niederlassungswillen Insbesondere die Generalanwältin spricht sich in ihren Schlussanträgen gegen eine Berücksichtigung des Niederlassungswillens aus. Sie lehnt eine Bezugnahme auf vorhandene Aufenthaltskonkretisierungen in anderen Bereichen des Verordnungsrechts gerade mit dem Argument ab, dass dem Niederlassungswillen dort ein zu großes Gewicht eingeräumt werde. 295 Tatsächlich lässt sich ein möglicher Niederlassungswille der Eltern nicht eindeutig aus dem Sachverhalt herauslesen und kann bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts der Kinder daher nicht als maßgebliche Größe berücksichtigt werden. Auf ein Äobjektives³ Aufenthaltsverständnis legen sich entgegen anderslautender Deutungen in der Literatur 296 aber weder der Gerichtshof 297 noch die Schlussanträge der Generalanwältin 298 fest. Im Gegenteil lässt der Gerichtshof die Frage, wann der Niederlassungswille der Eltern Berücksichtigung finden kann, ausdrücklich offen. 299 Eine verbindliche Antwort gibt die Nachfolgeentscheidung in der Rechtssache Mercredi, dort allerdings entgegen der herrschenden Deutung der Entscheidung A zugunsten einer Indizwir-
295 EuGH ± C-523/07 ± A ./. Perusturvalautakunta, Schlussanträge der Generalanwältin Kokott, Rn. 34±37, insb. 36. Die Generalanwältin weist erstens mit Recht auf die speziell ÄGLHQVWUHFKWOLFKH³ =ZHFNVHW]XQJ GHV VR]LDOUHFKWOLFKHQ $XIHQWKDOWVEHJULIIV KLQ *HZl hrung von Zulagen vs. Bestimmung des sachnächsten Gerichts), ibid., Rn. 35; zweitens IKUW VLH DXV GDVV ÄDEJHVHKHQ GDYRQ GDVV GLHVHU GLHQVWUHFKWOLFKH +LQWHUJUXQG NHLQHUOHL Berührungspunkte zu dem hier vorliegenden familienrechtlichen Kontext aufweist, die Definition auch inhaltlich nicht für eine Übertragung geeignet [ist]. Sie stellt nämlich die Absicht des BetroffeneQ ]X VHKU LQ GHQ 9RUGHUJUXQG³ Lbid., 36. Eben diese Absicht könne bei Kindern und Jugendlichen nicht in derselben Weise in den Blick genommen werden, ibid., 37. Allgemeiner Nachweis bei Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 142; Linke/Hau, Internationales Zivilverfahrensrecht, 6. Auflage 2015, Rn. 183. 296 Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 236; dagegen aber Lamont, Case Note on A, CMLR 47 (2010) 235 (241). 297 EuGH ± C-523/07, Rn. 40 ± A ./. Perusturvalautakunta. 298 EuGH ± C-523/07 ± A ./. Perusturvalautakunta, Schlussanträge der Generalanwältin Kokott, 5Q ÄJedenfalls bei jüngeren Kindern ist der eigene Wille jedoch nicht ausschlaggebend, sondern der Wille der Eltern, denen als Teil des Sorgerechts auch das Recht auf Bestimmung des Aufenthaltsorts des Kindes zukommt. Gerade im Rahmen von Sorgerechtsstreitigkeiten fallen die Vorstellungen der sorgeberechtigten Personen darüber, wo sich das Kind aufhalten soll, aber möglicherweise auseinander. Daher kann die Absicht des Vaters und/oder der Mutter, sich mit dem Kind an einem bestimmten Ort niederzulassen, nur ein Indiz für dessen gewöhnlichen Aufenthalt sein, aber keine allein entscheidende 9RUDXVVHW]XQJ³ 299 EuGH ± C-523/07, Rn. 40 ± A ./. Perusturvalautakunta.
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kung des Niederlassungswillens der Eltern. 300 Im Spiegel dieser Entscheidung setzt der EuGH in A ein noch deutlicheres Zeichen, dass der Elternwille im Zweifel keine Rolle spielt. In Mercredi geht es darum, den Lebensmittelpunkt eines Säuglings zu bestimmen. Das wird sich schon alleine der natürlichen Bedürfnisse des Kindes wegen schwer ohne eine Einbeziehung des Lebensumfelds der sorgenden Mutter bewerkstelligen lassen. A betrifft dagegen die Inobhutnahme zweier Kinder, die im Zeitpunkt der Vorabentscheidung mindestens acht Jahre alt waren. 301 Dass in diesem Fall keine Willenszurechnung, sondern eine selbstständige, wenn auch stärker an objektiven Lebensumständen orientierte Aufenthaltsermittlung erfolgt, spricht im Lichte beider Entscheidungen gerade nicht gegen, sondern vielmehr für die generelle Relevanz des Kinderwillens. Zusammengenommen zeigen beide Entscheidungen, dass das Petitum einer unabhängigen Aufenthaltsermittlung bei Kindern und die allgemeine Maßgabe, den Kindeswillen soweit möglich zu berücksichtigen, einander nicht widersprechen, sondern ineinandergreifen. 302 In Mercredi ist ein Abstellen auf den Eingewöhnungswillen der Mutter alleine deswegen notwendig, weil der wenige Wochen alte Säugling, um den es geht, offenkundig nicht die Fähigkeit zur selbstständigen Willensbildung besitzt und kurzfristig auch keinen solchen selbstständigen Niederlassungswillen entwickeln wird. Umgekehrt verhält es sich in A. Dort sind die Kinder zwar sozial in einen Familienverbund eingegliedert, der dazu führt, dass ihr schlichter Aufenthalt sich zwangsläufig in Abhängigkeit von dem der Eltern bestimmt; dennoch betont der EuGH gerade die Notwendigkeit, die Aufenthaltsbestimmung unabhängig von der Willensrichtung und den Integrationsabsichten der Eltern vorzunehmen. Dass der EuGH innerhalb dieser selbstständigen Prüfung nicht selbstständig auf den Kindeswillen eingeht, kann viele Gründe haben, spricht aber nicht gegen die generelle Relevanz dieses Kriteriums bei der Aufenthaltsb estimmung. Möglich ist beispielsweise, dass sich ein solcher im zugrundeliegenden Sorgerechtsverfahren schlicht nicht feststellen ließ oder im Vorlagesachverhalt nicht deutlich beschrieben war. Unter dieser unbestätigten Voraussetzung ist es nur konsequent, dass der Gerichtshof dem vorlegenden Gericht keine spekulativen Überlegungen über den möglichen Kindeswillen an die Hand gibt, sondern es stattdessen zur Auswertung der vorhandenen Sachverhaltselemente anweist.
EuGH, 22.12.2010 ± C-497/10 PPU ± Mercredi ./. Chaffe. S. insoweit die Sachverhaltsangaben in EuGH ± C-523/07, Rn. 15 ± A ./. Perusturvalautakunta. 302 S.o. § 5 B. II. 3. c). 300 301
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bb) Keine Aufwertung der Staatsangehörigkeit Auch der zweiten Schlussfolgerung der Literatur muss man nicht zwingend folgen. Die Behauptung, die Staatsangehörigkeit habe eine bestimmende Rolle bei der Aufenthaltsermittlung, wird gerade in A nämlich durch den der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt relativiert. Zu Beginn des Ausgangsverfahrens Ende 2005 besaßen die Kinder ausschließlich die finnische Staatsangehörigkeit. Erst 2007 wurde ihnen auf Betreiben der Mutter auch die schwedische Staatsangehörigkeit verliehen. Wer die Entscheidung argumentativ verwenden möchte, um die Rolle des Staatsangehörigkeitsprinzips bei der Aufenthaltsbestimmung zu unterstreichen, muss sich also dazu äußern, wie die kraft Geburt verliehene Nationalität sich zu einer später durch Einbürgerung erworbenen Staatsangehörigkeit verhält. Je nachdem, welcher Alternative man einen größeren sozialen Aussagewert beimisst, spricht die Entscheidung für oder gegen das Staatsangehörigkeitsprinzip. Sofern man sich auf den Standpunkt stellt, dass gerade die neu erlangte Staatsangehörigkeit ein besonders aussagekräftiges Integrationsindiz darstellen soll, lassen sich aus dem richterlichen Votum gerade keine allgemeinen Schlussfolgerungen für die Rolle der Staatsangehörigkeit bei der Aufenthaltsbestimmung gewinnen. Im Gegenteil müsste man sie ± sofern in diesem Fall tatsächlich die neu erlangte schwedische Staatsangehörigkeit den Ausschlag bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts geben soll ± als nicht analogiefähigen hard case vom unionsrechtlichen acquis isolieren. Nur wenn es eine entscheidende Rolle spielen soll, dass die Kinder von Geburt an die finnische Staatsangehörigkeit besaßen, darf die Entscheidung mit dem Ergebnis gelesen werden, das die Literatur ihr entnehmen möchte. Sofern dagegen die Einbürgerung einen entscheidenden Faktor gegen den Aufenthaltswechsel nach Finnland darstellen soll, betont der EuGH mit der Staatsangehörigkeit die Rolle eines Willensentschlusses der Mutter, den die Kinder mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht beeinflussen konnten. Möchte man die Entscheidung dagegen lediglich als deklaratorischen Hinweis auf die allgemeine Bedeutung der Staatsangehörigkeit verstehen, entsteht ein Folgeproblem, zu dem sich der Gerichtshof nicht verhalten hat. Erstens deuten die Sachverhaltsangaben des Vorabentscheidungsbeschlusses darauf hin, dass die Kinder ihre mit der Geburt erworbene, finnische Staatsangehörigkeit nicht aufgegeben haben und dementsprechend sowohl die schwedische als auch die finnische Staatsangehörigkeit besitzen. Unter dieser Voraussetzung schwindet die normative Aussagekraft der Staatsangehörigkeit Sie erzeugt nämlich perplexe und damit wertlose Ergebnisse, wenn sie je nach Präferenz in das finnische als auch in das schwedische Recht verweist. Der Jurisdiktionenkonflikt, der der Vorlage zugrunde liegt, wird so gerade nicht beigelegt.
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Dasselbe Ergebnis ist angezeigt, wenn man annimmt, dass die Kinder ab 2007 ausschließlich die schwedische Staatsangehörigkeit besessen haben. Die kraft Geburt erworbene Staatsangehörigkeit liest sich als Ausweis kultureller Integration, als statistisches Indiz für den räumlichen Lebensmittelpunkt einer Person, die Sprachkenntnisse und die Ethnie eines Kindes. Die Einbürgerung weist dagegen den autonomen Willensentschluss eines Individuums aus, sich vermöge eines öffentlich-rechtlichen Hoheitsaktes dem Personalverbund eines Nationalstaates anzuschließen. Sofern die Entscheidung A auf die neu verliehene schwedische Staatsangehörigkeit abstellt, liefert sie gerade keinen Beleg für die entscheidende Bedeutung der Staatsangehörigkeit bei der Aufenthaltsbestimmung. Im Gegenteil bildet diese Lesart einen direkten Widerspruch zu den vorhandenen Deutungen des Urteils in der Literatur. 303 Mit einem autonomen Willensentschluss der Eltern, die schwedische Staatsangehörigkeit für ihre Kinder zu beantragen, würdigt der Gerichtshof nämlich nicht die durch das Statusrecht der Staatsangehörigkeit verstetigte kulturelle Identität einer Einzelperson,304 sondern den elterlichen Willen, die von Geburt an bestehende Verbindung ihrer Kinder zu einer Rechtsordnung zu durchbrechen und durch eine neue Statusbeziehung zu ersetzen. Mit dieser Deutung widerspräche der EuGH dann aber wieder seiner eigenen Vorgabe, den gewöhnlichen Aufenthalt von Kindern unabhängig und ohne Ansehung des elterlichen Willens zu ermitteln. Die Entscheidung in der Rechtssache A legt auf dieser Grundlage weder zwingend ein objektives Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts nahe, noch liefert sie verlässliche Indizien für die Bedeutung der Staatsangehörigkeit bei der Aufenthaltsbestimmung. Im Gegenteil betont der EuGH sowohl die abstrakte Bedeutung als auch das entscheidende Gewicht einer konkreten Manifestation des elterlichen Niederlassungswillens. Den letzten Aspekt teilt er mit der Generalanwältin. e) Aussagen über die Binnenstruktur des gewöhnlichen Aufenthalts Jenseits dieser Deutungsschwierigkeiten trifft der EuGH in A mehrere wichtige Aussagen über die Struktur des gewöhnlichen Aufenthalts im Kontext des Europäischen Kollisionsrechts. Erstens betont der EuGH einmal mehr, dass er seine eigenen Aussagen aus anderen Bereichen des Europäischen Sekundärrechts, namentlich aus dem Europäischen Sozialrecht, nicht auf den 303
Weller, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0-Verordnung?, 2013, Ä%HPHUNHQVZHUW LVW IUHLOLFK GDVV GHU (X*+ Duch der Staatsangehörigkeit des .LQGHV ,QGL]ZLUNXQJ EHLPLVVW³ m.Verw. auf Rauscher LMK 2009, 282910. Ähnliche Deutung bei Jayme, Zugehörigkeit und Identität: Die Sicht des Internationalen Privatrechts, 2012, 32 f. 304 So aber Jayme, Zugehörigkeit und Identität ± Die Sicht des Internationalen Privatrechts, 2012, 32 f.
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gewöhnlichen Aufenthalt im Rahmen des IPR und IZVR übertragen möchte. Stattdessen sollen die funktionalen Unionsgerichte ein autonomes Aufenthaltsverständnis entwickeln. Zweitens betont der EuGH, dass der manifestierte Niederlassungswille der Eltern wie auch der Antrag der Mutter auf Zuweisung einer Sozialwohnung eine eigenständige Bedeutung bei der Aufenthaltsbestimmung haben müssen. 305 Indirekt folgt daraus eine allgemeine Maßgabe an die Gerichte der Mitgliedstaaten, sich bei der Sachverhaltsauswertung und der an sie anschließenden Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts nicht an die durch Legaldefinitionen überformte, regelmäßig einem zweigliedrigen Schema folgende Bestimmung des Wohnsitzes anzulehnen. Stattdessen muss die Aufenthaltsbestimmung auf einem möglichst breiten Spektrum von Indizien aufbauen, um so nicht nur präzise, sondern auch einzelfallgerechte Resultate zu garantieren. aa) Ausschluss des Mehrfachaufenthalts Der Gerichtshof beleuchtet in A auch das Verhältnis zwischen der Regelzuständigkeit nach Art. 8 Abs. 1 EuEheVO und der (schlichten) Anwesenheitszuständigkeit nach Art. 13 Abs. 1 EuEheVO. Letztere soll dann zur Anwendung kommen, wenn eine Auswertung der vom Gerichtshof vorgegebenen Sachverhaltsindizien ergibt, dass sich kein gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes feststellen lässt. 306 Legt man dieser Maßgabe den indirekten Aufruf zur Präzisierung und differenzierten Anwendung der aufenthaltsrelevanten Sachverhaltsindizien zugrunde, bleibt für die Anwendung von Art. 13 Abs. 1 EuEheVO immer dann Raum, wenn die aufenthaltsrelevanten Sachverhaltsindizien im Streitfall nicht eindeutig in eine bestimmte Rechtsordnung deuten. Indem er die Relevanz der schlichten Aufenthaltszuständigkeit nach Art. 13 Abs. 1 EuEheVO betont, schließt der Gerichtshof indirekt Möglichkeit eines Mehrfachaufenthalts aus. 307 Sofern sich keine ausreichend eindeutigen Bezüge zu einer bestimmten Rechtsordnung ergeben, entscheidet nicht der Äeffektive³, sondern der schlichte Aufenthalt über die Zuständigkeit. 308 bb) Juristisches Trägheitsprinzip309 Zuletzt führt der Gerichtshof in A seine Äußerungen zum gewöhnlichen Aufenthalt mit dem Äjuristischen Trägheitsprinzip³ und damit mit einer allgemeiEuGH ± C-523/07, Rn. 40 ± A ./. Perusturvalautakunta. EuGH ± C-523/07, Rn. 43 ± A ./. Perusturvalautakunta. 307 Dafür noch Spickhoff , IPRax 1990, 225; Schulze, IPRax 2012, 526 (528). 308 Dazu auch Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 129 mit zahlreichen Nachweisen in Fn. 211. 309 Kegel, FS Rehbinder, 2002, 699 (705), unter Berufung auf ders., FS Baumgärtel, 1990, 202; ders., FS Riesenfeld, 1983, 141. 305 306
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nen kollisionsrechtlichen Vermutungsregel zusammen.310 Sofern es die relevanten Sachverhaltsangaben erlauben, einen früheren gewöhnlichen Aufenthalt der Kinder mit ausreichender Sicherheit festzustellen, bleibt dieser vermöge einer unwiderlegbaren Vermutung so lange bestehen, bis sich genügend aussagekräftige Indizien für einen Statutenwechsel finden. 311 Diese Überlegung erklärt, warum der Gerichtshof ein kurzzeitiges Wanderleben der Kinder nicht durch einen Wechsel der Gerichtszuständigkeit gewürdigt wissen möchte. 312 2. Mercredi Die 2010 ergangene Entscheidung Mercredi313 führt in der durch A begonnenen Rechtsprechungslinie in einigen zentralen Punkten Klarheit herbei. a) Sachverhalt Ebenso wie in A liegt der Entscheidung ein Jurisdiktionenkonflikt in der Ziviljustiz zugrunde. Barbara Mercredi, eine in Großbritannien lebende Flugbegleiterin französischer Staatsangehörigkeit, hatte ihre zwei Monate alte Tochter am 7. Oktober 2009 von britischem Hoheitsgebiet auf die Insel La Réunion (Frankreich) verbracht, um mit ihr fortan bei ihrer Familie zu leben. 314 Der Vater, Richard Chaffe, mit dem die Mutter vor der Geburt des Kindes und der kurz darauf erfolgten Abreise in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft gelebt hatte, blieb in Großbritannien. 315 Das Paar hatte zuletzt keine gemeinsame Wohnung besessen, Chaffe hatte Mercredi und das Kind aber regelmäßig besucht. Als der Vater feststellte, dass die Wohnung von Frau Mercredi verlassen war, stellte er am 9. Oktober 2009 vor dem zuständigen High Court in Großbritannien einen Antrag auf Feststellung des Wohnsitzes der gemeinsamen Tochter. 316 Dieser erließ daraufhin eine location or310 Kegel, FS Rehbinder, 2002, 699 (705). Zur Relevanz dieser Beständigkeitsvermutung als Zweifelsregelung bei der Aufenthaltsbestimmung s.o. § 5 B. II. 2. a) dd). 311 Kegel, FS Rehbinder, 2002, 699 (705). 312 EuGH ± C-523/07, Rn. 41 ± A ./. PerusturvalautakuntaÄ'DVVVLFh die Kinder in einem Mitgliedstaat aufhalten, in dem sie während eines kurzen Zeitraums ein Wanderleben führen, kann dagegen ein Indiz dafür sein, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt dieser .LQGHUQLFKWLQGLHVHP6WDDWEHILQGHW³ 313 EuGH ± C-497/10 PPU ± Mercredi ./. Chaffe ± IPRax 2012, 340; m.Anm. Henrich, FamRZ 2011, 617; Idot, Compétence en cas de déplacement d'enfant et résidence habituelle, Europe 2011 Mars Comm. nº 3, 26; Mankowski, Der gewöhnliche Aufenthalt eines verbrachten Kindes unter der Brüssel IIa-VO, GPR 2011, 209; Siehr, Kindesentführung und EuEheVO ± Vorfragen und gewöhnlicher Aufenthalt im Europäischen Kollisionsrecht, IPRax 2012, 316. 314 EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 22 ± Mercredi ./. Chaffe. 315 Zum Sachverhalt auch Mankowkski, GPR 2011, 209. 316 EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 25 ± Mercredi ./. Chaffe.
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der nach englischem Recht; ein Rückführungsgesuch nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen leitete er aber absichtlich nicht ein. 317 Am 12. Oktober, also nur wenige Tage später, stellte der Vater außerdem einen Antrag auf Erteilung der gemeinsamen elterlichen Verantwortung sowie des Aufenthaltsbestimmungs- und Umgangsrechts für die gemeinsame Tochter. 318 Am 28.10.2009 erwiderte Mercredi dieses Gesuch mit einem Antrag auf Erteilung des alleinigen Sorgerechts, den sie vor dem Tribunal de Grande Instance in Saint Dénis de la Réunion stellte. 319 Dem setzte der Vater einen Rückführungsantrag nach dem Haager Kindesentführungsübereinkommen von 1980 entgegen. 320 Das Tribunal de Grande Instance sprach Frau Mercredi am 23. Juni 2010 in einem nicht rechtskräftigen Urteil das alleinige Sorgerecht über die Tochter zu. Es stellte außerdem fest, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes im Sinne des Art. 8 EuEheVO zum Zeitpunkt der Antragstellung in Frankreich befunden habe. 321 Kurz zuvor, nämlich am 15. April 2010, wurde das von Richard Chaffe eingeleitete Verfahren vor dem High Court of England and Wales eröffnet. Dem Vater wurde in der weiteren Folge das Sorgerecht über seine Tochter zugesprochen. 322 Bevor dieses Urteil rechtskräftig wurde, leitete Mercredi im Juni 2010 ein Rechtsmittelverfahren ein, wo sie die Unzuständigkeit des britischen Gerichts rügte. 323 Der High Court legte das Verfahren daraufhin dem EuGH zur Vorabentscheidung vor. b) Entscheidung In der ersten der insgesamt drei Vorlagefragen befasst sich der EuGH mit der Frage, nach welchen Kriterien der gewöhnliche Aufenthalt für die Zwecke des Art. 8 Abs. 1 und des Art. 10 EuEheVO zu bestimmen ist. Für den in Mercredi aufgeworfenen Zuständigkeitskonflikt ist insbesondere die Frage nach der Rolle des Zeitelements bei der Aufenthaltsbegründung von entscheidendem Gewicht. Eine Zuständigkeit französischer Gerichte würde voraussetzen, dass zwischen den nur vier Tage auseinanderliegenden Sorgerechtsanträgen des Vaters und der Mutter 324 ein Aufenthaltswechsel des Kin-
EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 24 ± Mercredi ./. Chaffe. EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 27 ± Mercredi ./. Chaffe. 319 EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 27 ± Mercredi ./. Chaffe. 320 EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 28 ± Mercredi ./. Chaffe 321 EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 29 ± Mercredi ./. Chaffe. 322 EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 30 ± Mercredi ./. Chaffe. Er ging dabei von der Zuständigkeit britischer Gerichte aus, da sich der gewöhnliche Aufenthalt der Tochter am 9. Oktober 2009 noch in England befunden habe, und betonte außerdem, die französischen Behörden hätten das von der Mutter eingeleitete Verfahren nicht annehmen dürfen. 323 EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 33 ± Mercredi ./. Chaffe. 324 EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 43 ± Mercredi ./. Chaffe. 317 318
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des von London ins französische Hoheitsgebiet stattgefunden hat. 325 Der Gerichtshof paraphrasiert auf seinem Lösungsweg zunächst die Vorgaben, die er in A für die Konkretisierung des gewöhnlichen Aufenthalts getroffen hat, und überträgt sie sinngemäß auf die Umstände der Mercredi-Entscheidung.326 Im Lichte der besonderen Ziele der EuEheVO setze der gewöhnliche Aufenthalt eine gewisse Integration des Kindes in ein soziales oder familiäres Umfeld voraus.327 Ä[Zu] den Kriterien, in deren Licht das nationale Gericht den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts eines Kindes IHVW]XVWHOOHQ KDW >«@ ]lKO>W@HQ insbesondere die Umstände und Gründe des Aufenthalts des Kindes im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats sowie dessen Staatsangehörigkeit.³ 328 Der Gerichtshof will also sowohl die familiäre und soziale Integration als auch die Dauer des Aufenthalts bei der Feststellung des Aufenthalts berücksichtigt wissen. 329 Es müsse sichergestellt sein, dass die körperliche Anwesenheit eines Kindes nicht nur vorübergehender oder gelegentlicher Natur sei. 330 Der Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts sollen die mitgliedstaatlichen Gerichte schließlich einerseits eine autonom-unionsrechtliche Auslegung zugrunde legen 331 und andererseits Äunter Berücksichtigung aller besonderen tatsächlichen Umstände jedes Einzelfalls den Ort ermitteln, an dem sich der gewöhnliche Aufenthalt im konkreten Fall befindet.³332 Obwohl der EuGH die Entscheidung in der Rechtssache Mercredi ausdrücklich nach den für A entwickelten Parametern entscheiden möchte, fällt seine Gewichtung der relevanten Sachverhaltselemente anders aus als im Präzedenzfall. Grundsätzlich sei es ± so der Gerichtshof mit Verweis auf die Entscheidung A ± geboten, den für die Gewöhnlichkeit erforderlichen Nachweis der Beständigkeit des Aufenthalts von einer bestimmten Anwesenheitsdauer abhängig zu machen. 333 Dass die EuEheVO gerade keine Mindestanwesenheitsdauer für die Begründung einer Gerichtszuständigkeit fordert, erklärt er damit, dass es Äfür die Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts in den Aufnahmestaat vor allem [auf den] Wille[n] des Betreffenden [ankommt], dort den ständigen oder gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Interessen in der Absicht zu begründen, ihm Beständigkeit zu verleihen.³334 Die Aufenthaltsbestimmung darf also nicht durch eine quantitative, sondern muss vermöge 325
Mankowski, GPR 2011, 209 (210). Mankowski*35 Ä(UVFKUHLEWGLHLQVHLQHP8UWHLO$QLHGHUJHOHgWHQ*UXQGVlW]HIDOOEH]RJHQIRUW³ 327 EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 47 ± Mercredi ./. Chaffe. 328 EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 48 ± Mercredi ./. Chaffe. 329 EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 47±49, 1. Leitsatz ± Mercredi ./. Chaffe. 330 EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 49 ± Mercredi ./. Chaffe. 331 EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 45 ± Mercredi ./. Chaffe. 332 EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 48 ± Mercredi ./. Chaffe. 333 EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 51 ± Mercredi ./. Chaffe. 334 EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 51 ± Mercredi ./. Chaffe. 326
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einer qualitativen Analyse der relevanten Sachverhaltselemente entschieden werden; insoweit folgt der EuGH den Schlussanträgen des Generalanwaltes Villarón.335 Anders als in der Entscheidung A steht der Wille der Mutter, nach La Réunion zurückzukehren und künftig dort zu leben, in Mercredi also nicht nur als hypothetische Größe im Raum, sondern liegt im Gegenteil im Zentrum der kursorischen Sachverhaltsdeutung durch den Gerichtshof. 336 Seine Bezugnahme auf den durch den Umzug manifestierten Willen der Mutter begründet der Gerichtshof mit deren faktischen Bestimmungshoheit über das Lebensumfeld des Kindes. 337 Anders als bei Schulkindern und Jugendlichen werde das soziale Umfeld eines Säuglings nahezu ausschließlich durch die familiäre Betreuungssituation geprägt. 338 Entscheidend sei, wer tatsächlich die Pflege und Obhut für das Kind übernehme. 339 Entsprechend bestimme sich der Lebensmittelpunkt eines Kleinkindes im Säuglingsalter in Ermangelung selbstständig gebildeter, sozialer Kontakte nicht autonomindividuell, sondern in Abhängigkeit vom sozialen Umfeld der vorliegend tatsächlich betreuungsberechtigten Mutter. 340 Insoweit seien wiederum diejenigen Kriterien relevant, die der EuGH in der Entscheidung A entwickelt habe.341 c) Deutung in der Literatur aa) Niederlassungswille Die Entscheidung im Fall Mercredi hat sowohl in der Literatur342 als auch in der nachfolgenden Rechtsprechung 343 große Beachtung gefunden. Hervorgehoben wird erstens, dass die Aufenthaltsdauer bei der Bestimmung des ge335 EuGH ± C-497/10 PPU ± Mercredi ./. Chaffe, Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón, Rn. 66. 336 Für das Kind selbst wird ± dies gilt es zu betonen ± weiterhin die Formel der sozialen und familiären Integration angewandt, vgl. EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 53±55 ± Mercredi ./. Chaffe. 337 EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 52±55 ± Mercredi ./. Chaffe. 338 EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 54 ± Mercredi ./. Chaffe. 339 EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 55 ± Mercredi ./. Chaffe. 340 EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 55 ± Mercredi ./. ChaffeÅDies gilt erst recht, wenn das betreffende Kind ein Säugling ist. Dieser teilt zwangsläufig das soziale und familiäre Umfeld des Personenkreises, auf den er angewiesen ist. Wird, wie im Ausgangsverfahren, der Säugling tatsächlich von seiner Mutter betreut, ist folglich deren Integration in ihr soziales und familiäres Umfeld zu beurteilen. Dabei können die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Kriterien, etwa die Gründe für den Umzug der Kindesmutter in einen anderen Mitgliedstaat, ihre Sprachkenntnisse oder ihre geografische und familiär e +HUNXQIWHLQH5ROOHVSLHOHQ³ 341 EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 55 ± Mercredi ./. Chaffe. 342 Vgl. nur Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 122, und passim. 343 EuGH, 9.10.2014 ± C-376/14 PPU, Rn. 69 ± Povse ./. Alpago.
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wöhnlichen Aufenthalts ausdrücklich als austauschbares und vernachlässigbares Indiz gekennzeichnet wird, das im Zweifel hinter dem Willen zur Aufenthaltsbegründung zurücktreten soll. 344 Die Entscheidung Mercredi wird darüber hinaus als Bestätigung dafür verstanden, dass der gewöhnliche Aufenthalt im Europäischen Kollisionsrecht im Grundsatz den Nachweis eines Willenselements voraussetzt. 345 Liest man diese Überlegung vor dem Hintergrund der in dieser Arbeit für A vorgeschlagenen Deutung, muss Mercredi im Gegensatz zur Literatur freilich nicht als willkommene Weiterentwicklung, sondern als Bestätigung der in dieser Entscheidung begonnenen Linie verstanden werden. Allerings erklärt Mercredi die Aufenthaltsdauer nicht für irrelevant. Der Äkomparative Satz³ 346, dass sich die soziale Integration einer Person umso leichter nachweisen lässt, je länger der betreffende Aufenthalt andauert, wird im Gegenteil nicht widerlegt, sondern lediglich durch eine Ausnahme aufgelockert: Soweit sich der Wille zur Aufenthaltsbegründung derart deutlich manifestiert wie in der Mercredi zugrundeliegenden Sachverhaltskonstellation, wird der Nachweis einer Mindestaufenthaltsdauer entbehrlich. Ein verbindlicher Beleg für ein Äsubjektives³ oder willenszentriertes Aufenthaltsverständnis lässt sich daraus aber nicht gewinnen. 347 Im Gegenteil bestätigt die Mercredi-Entscheidung des EuGH im Grundsatz nur das bereits anerkannte Substitutionspotential eines ausreichend deutlich manifestierten Niederlassungswillens. bb) Herkunft Es ist schließlich offen, ob der Gerichtshof die Rolle des Rückkehrwillens auch in einem anders gelagerten Auslandsfall derart deutlich betont hätte. Frau Mercredi zog gerade nicht an einen Ort, an dem sie zuvor nicht gelebt hat. Im Gegenteil kehrt sie in das französische Übersee-Département zurück, dem sie entstammt. Diese Heimat unterscheidet sich sowohl im Hinblick auf ihren territorialen Status ± in den französischen Überseeregionen (Départements d¶Outre-Mer) gelten die Gründungsverträge von vornherein nur ver-
344 EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 51 ± Mercredi ./. Chaffe: Ä0DJHEOLFKIUGLHVerlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts in den Aufnahmestaat ist nämlich vor allem der Wille des Betreffenden, dort den ständigen oder gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Interessen in der Absicht zu begründen, ihm Beständigkeit zu verleihen. Die Dauer des Aufenthalts kann daher nur als Indiz im Rahmen der Beurteilung seiner Beständigkeit dienen [...]³ 'D]X insbesondere Siehr, IPRax 2012, 316 (317). 345 Weller, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir ein Rom 0-Verordnung? 2013, 293 (317); zu den Gründen ibid., 318±321. 346 Mankowski, GPR 2011, 209 (210). 347 So aber Weller, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir ein Rom 0-Verordnung?, 2013, 293 (311, 317).
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möge des Art. 355 Abs. 1 AEUV 348 ± als auch durch deutliche ethnische, sprachliche und kulturelle Besonderheiten sowohl vom französischen Festland als auch vom restlichen Unionsgebiet. Zwar gilt auf La Réunion französisches Recht; gerade die für eine Aufenthaltsbegründung relevante, soziale Eingewöhnung wird aber je nachdem länger oder kürzer ausfallen, wie ein Individuum sich kulturell und sprachlich bereits bei der Ankunft der Inselb evölkerung nahe fühlt und wie vertraut die Person mit den dortigen Sitten und Bräuchen ist. Die französische Staatsangehörigkeit Mercredis fängt diese Besonderheiten gerade nicht ein. Würde man in Anlehnung an den Sachverhalt der Nationalität das entscheidende Gewicht bei der Aufenthaltsbestimmung zuerkennen, müsste man sich auch zu der Anschlussfrage verhalten, ob der EuGH bei einem Umzug der Mutter auf das französische Festland mit der gleichen Selbstverständlichkeit einen Aufenthaltswechsel bejaht hätte. Diese Überlegung würde freilich in einer Spekulation enden. Stattdessen wertet die Mercredi-Entscheidung die Aussagekraft der Heimat einer Person auf, 349 sofern diese sich durch kulturell prägende Merkmale von anderen Zuordnungsgegenständen abhebt.350 cc) Ursprungsaufenthalt Wie Mankowski zutreffend anmerkt, beschäftigt sich der EuGH außerdem nicht mit der Kernfrage, ob Mercredis Tochter überhaupt vermöge ihrer Geburt in Großbritannien einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hatte. 351 Dass das Kind in London einen gewöhnlichen Aufenthalt besessen hatte, war vom Gericht zugrunde gelegt worden,352 hätte aber die Frage nach einer perpetuatio fori nach Art. 10 EuEheVO aufgeworfen. 353 Ob sich in Anlehnung an das Staatsangehörigkeitsprinzip und das Domizilprinzip ein ÄUrsprungsaufenthalt³ von Säuglingen und Kleinkindern an ihrem Geburtsort vermuten lässt, ist in der Tat nicht klar. 354 Teilweise wird ein gewöhnlicher Aufenthalt nach Ablauf der Äersten Lebenswochen³ pauschal am Geburtsort vermutet. 355 Teilweise wird auch argumentiert, der Aufenthalt im Geburtsstaat entstehe 348
Siehr, IPRax 2012, 316 (317). Siehr, IPRax 2012, 316 (317). 350 Insofern betrifft Mercredi also einen FallLQGHPGLHÄNXOWXUHOOH,GHQWLWlW³HLQHU3Hrson und ihre Staatsangehörigkeit auseinanderfallen. Zu diesem Begriff und seiner Bedeutung im IPR s. statt vieler Jayme RdC 251 (1995) 33. 351 Mankowski, GPR 2011, 209. 352 EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 23 ± Mercredi ./. Chaffe. 353 Mankowski, GPR 2011, 209. 354 Streitentscheidend wird diese Frage insbesondere im Kontext der Bestimmung des Abstammungsstatuts bei Leihmutterschaften. Dazu Thomale, Mietmutterschaft ± eine international-privatrechtliche Kritik, 2015, 25 f. 355 Heiderhoff, Der gewöhnliche Aufenthalt von Säuglingen, IPRax 2012, 523 (525); MKoBGB/Helms Art. 19 EGBGB Rn. 8 in Fn. 12; Siehr, IPRax 2012, 316 (317). 349
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zunächst als schlichter Aufenthalt und könne erst dann zum gewöhnlichen erstarken, wenn zusätzliche Integrationsindizien schlüssig nachgewiesen werden356 oder eine ausreichende Zeitspanne verstrichen ist, die die Beibringung zusätzlicher Beweise entbehrlich macht. 357 Steht bereits im Zeitpunkt der Geburt fest, dass das Kind kurze Zeit später in ein anderes Land reisen und dort aufwachsen soll ± der Regelfall in Leihmutterschaftsfällen ±, wird der erste gewöhnliche Aufenthalt nach dieser Ansicht nicht im Geburtsland, sondern im Destinationsstaat begründet. 358 Der dargestellte Streit betrifft freilich nicht das Europäische Kollisionsrecht, sondern die Bedeutung des gewöhnlichen Aufenthalts im Kontext von Art. 19 EGBGB. 359 Entsprechend lassen sich weder aus der verfügbaren Rechtsprechung deutscher Gerichte noch aus den Argumenten der Literatur Ergebnisse oder Prognosen dafür gewinnen, wie im Unionsrecht mit dieser Problematik umgegangen werden wird. Der EuGH enthält sich in Mercredi einer Entscheidung. d) Eigene Deutung Vorstehend wurde angedeutet, dass sich die außergewöhnlich starke Betonung des mütterlichen Niederlassungswillens in Mercredi nicht zuletzt den tatsächlichen Umständen des vorgelegten Sachverhalts zuschreiben lässt. Diese Erkenntnis relativiert freilich den Aussagegehalt des Urteils für den Inhalt des gewöhnlichen Aufenthalts. Frau Mercredi kehrte in ihre sowohl territorial als auch kulturell deutlich abgegrenzte Heimat La Réunion zurück, wo sie vor ihrem Umzug nach Großbritannien sprachlich und sozial integriert gewesen war. Im Fall A war eine vergleichbare Integration in Finnland dagegen weder bei den Kindern noch bei den Eltern zu erkennen gewesen. Mercredi unterscheidet sich also in zwei Aspekten von A. Erstens bildet nicht der Bleibewille einer Person in ihrem Heimatland, sondern der manifestierte Rückkehrwille in ein geographisch abgegrenztes, kulturell, sprachlich und ethnisch selbstständiges Teilgebiet einer Jurisdiktion den Ausgangspunkt einer Überlegung. Entsprechend widersprechen die Judikate in der Rechtssache A und Mercredi einander nicht, sondern betreffen zwei streng voneinander zu So OLG Celle, 10.3.2011 ± FamRZ 2011, 1518 (1519); OLG Stuttgart ± FamRZ 2012, 1740; KG Berlin ± StAZ 2013, 348 (351); Kropholler, IPR, § 39 II 2; Duden, Leihmutterschaft im internationalen Privat- und Verfahrensrecht, 2015, 98 ff.; Henrich, Das Kind mit zwei Müttern (und zwei Vätern) im Internationalen Privatrecht, FS Schwab, 2005, 1141 (1147). 357 Nach Thomale 0LHWPXWWHUVFKDIW VROO GDQQ ÄGLH VXEMHNWLY-objektive Sinneinheit des gewöhnlichen Aufenthalts gleichsam LQV2EMHNWLYHNLSS>HQ@³ 358 S. Nachw. in Fn. 356. 359 Zur Entwicklung der Vorschrift und dem Einfluss des KindRG s. Budzikiewicz, Materielle Statuseinheit und kollisionsrechtliche Statusverbesserung, 2007, 19 ff. 356
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unterscheidende Perspektiven der Freizügigkeit: einmal den Wegzug aus dem Heimatland im Fall A, und ein anderes Mal die Rückkehr in die Heimat im Fall Mercredi. Zweitens hat die Rückkehr Frau Mercredis in ihre Heimat eine andere Bedeutung als die monatelange Wanderschaft der finnisch-schwedischen Familie im Fall A: Während dort die Verbindung zu Finnland durch den Erwerb der schwedischen Nationalität bewusst aufgegeben worden war, findet hier eine bewusste Rückkehr in die Heimatkultur und in den dort vorhandenen familiären Rahmen statt. 3. C ./. M Letztmalig konnte sich der Gerichtshof in der Entscheidung C ./. M zum gewöhnlichen Aufenthalt äußern. Sie erging ± ebenfalls infolge eines Eilverfahrens ± im Jahr 2014 auf eine Vorlage des Irischen Supreme Court hin. 360 Die Entscheidung betrifft das Zusammenspiel zwischen dem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts beim Kind und der gerichtlichen Zuweisung des Aufenthaltsbestimmungsrechts an einen erziehungsberechtigten Elternteil. 361 Sie erörtert also, ähnlich wie schon der Fall Mercredi, im Kern ein Phänomen, das nur beim gewöhnlichen Aufenthalt von Kindern und regelmäßig nur im Rahmen der Art. 8 ff. EuEheVO Bedeutung erlangt. Diesen Ausgangsbefund nimmt der folgende Abschnitt zum Anlass, sich soweit möglich auf die Ausführungen zum gewöhnlichen Aufenthalt zu beschränken.362 a) Sachverhalt Der Entscheidung lag ein Sorgerechtsstreit zwischen zwei 2012 mit Wirkung für 2009 durch ein französisches Gericht geschiedenen Ehegatten über das gemeinsame Kind zugrunde, das 2008 geboren worden war.363 Das zuständige Scheidungsgericht, das Tribunal de Grande Instance d¶Angoulême, hatte den Eltern das gemeinsame Sorgerecht zugesprochen. Gleichzeitig hatte es aber bestimmt, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes bei der Mutter befinden und schrittweise dorthin verlegt werden solle. 364 Das Gericht traf auch Vorsorge für die väterlichen Umgangsrechte für den Fall, dass die Mutter ihren gewöhnlichen Aufenthalt nach Irland verlegen und das Kind mit
EuGH, 9.10.2014 ± C-376/14 PPU ± C ./. M ± FamRZ 2015, 107; IPRax 2015, 239 m.Anm. Pirrung, IPRax 2015, 239. 361 EuGH ± C-376/14 PPU, Rn. 3f. ± C ./. M. 362 Für eine ausführlichere Besprechung der Entscheidung s. Pirrung, EuEheVO und HKÜ: Steine statt Brot? ± Eilverfahren zur Frage des gewöhnlichen Aufenthalts eines vierbis sechsjährigen Kindes, IPRax 2015, 207; Dutta, Entwicklungen im internationalen Familien- und Erbrecht der Europäischen Union bis Gogova, ZEuP 2016, 427 (446 ff.). 363 EuGH ± C-376/14 PPU, Rn. 19 ff. ± C ./. M. 364 EuGH ± C-376/14 PPU, Rn. 20 ± C ./. M. 360
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sich nehmen würde, was grundsätzlich gestattet wurde.365 Der Vater legte gegen die Entscheidung Rechtsmittel ein mit der Folge, dass die Cour d¶appel de Bordeaux im März 2013 den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes nicht bei der Mutter, sondern bei ihm bestimmte.366 Nachdem sich die Mutter nicht an die erstinstanzlich getroffene Umgangsregelung gehalten hatte, wurde dem Vater auch das alleinige Sorgerecht übertragen. 367 Die Mutter war aber bereits im Juli 2012 nach Irland umgezogen und hatte das Kind mit sich genommen.368 Fraglich war also, wo sich der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes befand. Während das Tribunal de Grande Instance de Niort diesen infolge der gerichtlichen Aufenthaltsbestimmung selbstverständlich mit dem des Vaters gleichsetzte und eine Zuständigkeit irischer Gerichte entsprechend ausschloss,369 wiesen irische Gerichte umgekehrt einen Rückführungsantrag des Vaters nach Art. 12 HKÜ zurück, da für sie erwiesen war, dass das Kind seit seinem Umzug im Jahr 2012 seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Irland habe.370 b) Entscheidung Die Entscheidung präzisiert zunächst die Vorfragefragen des Irischen Supreme Court. Im Kern stellte sich die Frage, nach welchen Kriterien das mit dem Rückführungsantrag nach Art. 12 HKÜ befasste Gericht zu bestimmen hat, wo das Kind unmittelbar vor der widerrechtlichen Zurückhaltung im Sinne des Art. 11 Abs. 1 EuEheVO seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.371 Nur wenn der gewöhnliche Aufenthalt in Frankreich bestehen geblieben ist, ist der Tatbestand des Äwiderrechtlichen Zurückhaltens³ im Sinne des Art. 11 Abs. 1 EuEheVO erfüllt.372 EuGH ± C-376/14 PPU, Rn. 20 ± C ./. M. EuGH ± C-376/14 PPU, Rn. 23 ± C ./. M. 367 EuGH ± C-376/14 PPU, Rn. 24 ± C ./. M. 368 EuGH ± C-376/14 PPU, Rn. 22 ± C ./. M. 369 EuGH ± C-376/14 PPU, Rn. 31 ± C ./. M. 370 EuGH ± C-376/14 PPU, Rn. 32 ± C ./. M. 371 EuGH ± C-376/14 PPU, Rn. 45 ± C ./. M: Ä'DKHULVWLQ$QEHWUDFKWGHU$XVIKUXngen in den Rn. 37 bis 43 des vorliegenden Urteils davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten und seiner dritten Frage wissen möchte, ob Art. 2 Nr. 11 und Art. 11 der Verordnung dahin auszulegen sind, dass in dem Fall, dass die Verbringung des Kindes im Einklang mit einer vorläufig vollstreckbaren gerichtlichen Entscheidung erfolgt ist, die später durch eine gerichtliche Entscheidung aufgehoben wurde, mit der der Aufenthalt des Kindes bei dem im Ursprungsmitgliedstaat wohnenden Elternteil bestimmt wurde, das mit einem Antrag auf Rückgabe des Kindes befasste Gericht des Mitgliedstaats, inden das Kind verbracht wurde, im Zuge einer Würdigung sämtlicher besonderen Umstände des Einzelfalls prüfen muss, ob das Kind unmittelbar vor dem behaupteten widerrechtlichen =XUFNKDOWHQVHLQHQJHZ|KQOLFKHQ$XIHQWKDOWQRFKLP8UVSUXQJVPLWJOLHGVWDDWKDWWH³ 372 EuGH ± C-376/14 PPU, Rn. 46 f. ± C ./. M, präzisierend auch Dutta, ZEuP 2016, 427 (446). 365 366
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Für die inhaltlichen Konturen des gewöhnlichen Aufenthalts bezieht sich das Urteil auf die Entscheidungen A und Mercredi.373 Einerseits sei die Kindeswohlbindung und andererseits die Ausgestaltung der Gerichtsstände nach einem Kriterium räumlicher Nähe zu beachten;374 ferner sei der gewöhnliche Aufenthalt in Ansehung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls zu bestimmen.375 Welche Umstände schwerer und welche leichter wiegen, ergebe sich ebenfalls aus den vorherigen Entscheidungen. 376 Dauer und Regelmäßigkeit des tatsächlichen Aufenthalts seien dabei zwar gewichtige Indizien, könnten aber im Einzelfall durch entgegenstehende Tatsachen entkräftet werden.377 Gegenüber den vorangegangenen Entscheidungen entwickelt der EuGH sein Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts dann in drei Aspekten weiter: Erstens hebt er über indirekte Bezugnahmen auf A und Mercredi hinaus hervor, dass er den Aufenthaltsbegriff der Art. 9±11 EuEheVO mit dem des Art. 8 Abs. 1 EuEheVO gleichsetzen möchte.378 Zweitens stellt der Gerichtshof klar, dass die nur vorläufige Vollstreckbarkeit des erstinstanzlichen französischen Urteils im Rahmen der Gründe für den Aufenthaltswechsel zu berücksichtigen ist; konkret spreche der Umstand, dass die Entscheidung noch mit Rechtsmitteln angegriffen werden kann, gegen einen Aufenthaltswechsel des Kindes.379 Obwohl er sich einer verbindlichen Maßgabe enthält, erkennt EuGH ± C-376/14 PPU, Rn. 50 ff. ± C ./. M. EuGH ± C-376/14 PPU, Rn. 50 ± C ./. M. 375 EuGH ± C-376/14 PPU, Rn. 51 ± C ./. M. 376 EuGH ± C-376/14 PPU, Rn. 52 ± C ./. M: Ä'HU *HULFKWVKRI KDW IHVWJHVWHOOW GDVV hierfür insbesondere die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts in einem Mitgliedstaat sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familie in diesen Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände der Einschulung, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat zu berücksichtigen sind (Urteile A, EU:C:2009:225, Rn. 39 und 44 sowie Mercredi, EU:C:2010:829, Rn. 48, 49 und 56). Er hat weiter ausgeführt, dass die Absicht der Eltern oder eines Elternteils, sich mit dem Kind dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen, die sich in bestimmten äußeren Umständen, wie in dem Erwerb oder der Anmietung einer Wohnung in diesem Mitgliedstaat, manifestiert, ein Indiz für die Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes sein kann (vgl. Urteile A, EU:C:2009:225, Rn. 40 und 44 sowie Mercredi, EU:C:2010:829, Rn. ³ 377 EuGH ± C-376/14 PPU, Rn. 53 ± C ./. M. 378 EuGH ± C-376/14 PPU, Rn. 54 ± C ./. M: Ä'HU%HJULIIÄJHZ|KQOLFKHU $XIHQWKDOW³ des Kindes in Art. 2 Nr. 11 und Art. 11 der Verordnung kann keinen anderen als den in den genannten Urteilen im Zusammenhang mit den Art. 8 und 10 der Verordnung erläuterten ,QKDOWKDEHQ³ 379 EuGH ± C-376/14 PPU, Rn. 55 ± C ./. MÄ%HLGHU3UIXQJQDPHQWOLFKGHU*UQGH für den Aufenthalt des Kindes im Mitgliedstaat, in das es verbracht wurde, und der Absicht des Elternteils, der es dorthin mitgenommen hat, ist unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens zu berücksichtigen, dass die gerichtliche Entscheidung, die die Verbri ngung gestattet hat, vorläufig vollstreckbar und mit einem Rechtsmittel angefochten war. 373 374
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der EuGH der Natur der zugrundeliegenden Sorgerechtsentscheidung eine Rolle bei der Beantwortung der Frage zu, ob das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Frankreich verloren oder behalten hat. Dass dieser Einfluss nicht nur untergeordneter Natur ist, zeigt sich daran, dass tatsächliche Umstände nach der endgültigen Aufhebung der Sorgerechtsentscheidung Äkeinesfalls³ in die Aufenthaltsermittlung einfließen dürfen. 380 Drittens schafft der EuGH Klarheit über das Verhältnis von Aufenthaltsbestimmungsrecht, Sorgerecht und widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten. Unter Hinweis auf Art. 2 Nr. 9, 11 EuEheVO betont der Gerichtshof, dass ein Verstoß gegen das Aufenthaltsbestimmungsrecht für sich genommen nicht zur Widerrechtlichkeit eines Zurückhaltens des Kindes im Sinne des Art. 11 Abs. 1 EuEheVO führt (Art. 2 Nr. 11 EuEheVO). Wohl aber wird das Aufenthaltsbestimmungsrecht als Bestandteil des elterlichen Sorgerechts relevant. Wer einer gerichtlichen Aufenthaltsbestimmung des Kindes zuwiderhandelt, bricht also auch das Sorgerecht des anderen Ehegatten. 381 c) Bewertung Die Entscheidung wird insofern kritisiert, als der EuGH laufende Gerichtsverfahren als selbstständiges Entscheidungskriterium bei der Aufenthaltsbestimmung von Kindern einführt. Damit verknüpft er die Frage der Widerrechtlichkeit mit derjenigen, wo dieses unmittelbar vor der Zurückhaltung seinen gewöhnlichen Aufenthalt besaß. Dass diese beiden Tatbestandsmerkmale streng zu trennen sind, hebt auch die Stellungnahme des Generalanwalts Szpunar hervor; der gewöhnliche Aufenthalt soll danach Ädeskriptiv³382 verstanden werden, beziehungsweise Äeinen im tatsächlichen Sinne zu verstehenden Begriff³ darstellen. 383 Der Deskriptivität des gewöhnlichen AufentDiese Gesichtspunkte lassen nämlich nicht auf eine Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes schließen, da die gerichtliche Entscheidung vorläufiger Natur war und der Elternteil zum Zeitpunkt der Verbringung nicht sicher sein konnte, dass der Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat nicht vorübergehend sein würde.³ 380 EuGH ± C-376/14 PPU, Rn. 56 ± C ./. M, hervorhebend auch Dutta, ZEuP 2016, 427 (447). 381 EuGH ± C-376/14 PPU, Rn. 63 ± C ./. M: Ä+LHU]X JHQJW GLH )HVWVWHOOXQJ GDVV HV eine Verletzung des Sorgerechts im Sinne der Verordnung darstellt, wenn das Kind im Anschluss an eine gerichtliche Entscheidung des Ursprungsmitgliedstaats, mit der der Aufenthalt des Kindes bei dem dort wohnenden Elternteil bestimmt wurde, nicht dorthin z urückgeführt wird, da das Sorgerecht nach Art. 2 Nr. 9 der Verordnung das Recht auf Bestimmung des Aufenthaltsorts des Kindes umfasst. Das Zurückhalten des Kindes unter Verstoß gegen eine solche Entscheidung ist daher widerrechtlich im Sinne der Verordnung. Deren Art. 11 findet somit Anwendung, wenn das Kind unmittelbar vor diesem ZurückhalWHQVHLQHQJHZ|KQOLFKHQ$XIHQWKDOWLP8UVSUXQJVPLWJOLHGVWDDWKDWWH³ 382 Stellungnahme des Generalanwalts Szpunar, 24.9.2014 ± C-376/14 PPU, Rn. 83. 383 Stellungnahme des Generalanwalts Szpunar ± C-376/14 PPU, Rn. 79.
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halts läuft es jedenfalls zuwider, dass die vorläufige Natur der Sorgerechtsentscheidung zum widerleglichen Indiz bei der Aufenthaltsbestimmung des Kindes erklärt wird. Hier werden zwei Parallelen zur indiziellen Aufwertung der Staatsangehörigkeit in A deutlich. Einerseits wird mit der Relevanz des vorläufigen Charakters einer Sorgerechtsentscheidung ein Kriterium eingeführt, das den gewöhnlichen Aufenthalt zunehmend von seiner ursprünglichen Natur als ausschließlich an sozialen Tatsachen orientierter Begriff entfernt und ihn stattdessen an statusrechtliche Vorfragen anbindet. Damit widerspricht der Gerichtshof jedenfalls ausweislich der Stellungnahme des Generalanwaltes, schickt dieser seinen Ausführungen doch als allgemeine Maßgabe voran, dass der Gerichtshof Äbei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts [...] auf tatsächliche Umstände abstellt.³384 Andererseits handelt es sich bei der Vorläufigkeit der Sorgerechtsentscheidung um ein Kriterium, das im Ausgangsfall gerade keine klare Entscheidung erlaubt.385 Es ist nämlich weder klar, ob auch gegen das Urteil des Tribunal de Grande Instance de Niort Rechtsmittel der Mutter zulässig sind, noch äußert sich der EuGH dazu, wie er die ÄVorläufigkeit³ verstanden wissen will. Unklar bleibt insbesondere, ob auch die Inanspruchnahme von Rechtsmitteln außerhalb des ordentlichen Rechtsweges wie eine Verfassungsbeschwerde oder question prioritaire de constitutionalité und Vorlagen an den EuGH selbst zur Vorläufigkeit einer Sorgerechtsentscheidung führen. Schließlich überrascht es, dass der Gerichtshof das Datum der endgültigen Zuweisung des Sorgerechts an den Vater als absolute zeitliche Schranke für die tatsachenbasierte Aufenthaltsbestimmung festlegt. Diese Grenze wird regelungssystematisch gesehen zutreffend identifiziert: Schließlich entscheidet der Zeitpunkt der endgültigen Sorgerechtszuweisung über die Widerrechtlichkeit. Sie bestimmt damit auch darüber, welche tatsächlichen Umstände den gewöhnlichen Aufenthalt unmittelbar vor dem Eintritt der Widerrechtlichkeit prägen sollen. Allerdings verträgt sich der apodiktische Ausschluss jedweder Relevanz späterer Integrationstatsachen nicht damit, dass umgekehrt die Vorläufigkeit der Sorgerechtsentscheidung bereits im Vorfeld der endgültigen Entscheidung als Indiz bei der Aufenthaltsbestimmung Gewicht haben soll. Wenn die Sorgerechtsentscheidung die Aufenthaltsbestimmung unmittelbar konditionieren soll, müsste man den Ausgang des Sorgerechtsverfahrens nämlich ganz von der Frage der Aufenthaltsbestimmung trennen. Indem er der Sorgerechtsentscheidung nicht nur eine Steuerungswirkung für den Bezugszeitraum zuerkennt, sondern sie auch als Indiz im Rahmen der Aufenthaltsbestimmung anerkennt, schafft der Gerichtshof also eine Abhän-
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Stellungnahme des Generalanwalts Szpunar, C-376/14 PPU, Rn. 78. Dieser entscheidenden Unschärfe wegen ist der Aussagegehalt der Entscheidung ähnlich vage wie die Ausführungen, die in A entwickelt werden, s.o. § 6 B. II. 1. d) bb). 385
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gigkeit vom innerstaatlichen Verfahrensausgang, die sich regelungssystematisch nur schwer erklären lässt.386 4. Zwischenbewertung der EuGH-Rechtsprechung Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass der Gerichtshof sowohl in A als auch in Mercredi und C seine Möglichkeit genutzt hat, dem gewöhnlichen Aufenthalt im Rahmen der Art. 8 ff. EuEheVO ein Gepräge zu geben. A umschreibt den gewöhnlichen Aufenthalt als ÄAusdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration³387, der sich nach Maßgabe der ÄDauer, Regelmäßigkeit und [...] Umstände des Aufenthalts in einem Mitgliedstaat³ bestimmen388 und eine ÄBerƺcksichtigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls³389 erfordern soll. Diese Umschreibung deckt sich im Wesentlichen mit den allgemeinen Leitlinien, die Erwägungsgrund 23 EuErbVO aufstellt. Ähnlich wie im Internationalen Erbrecht weist der Gerichtshof der Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt auch einen konkreten Zweck zu. Er soll darin liegen, in Sorgerechtsfragen die ausreichende Sachnähe des zuständigen Gerichts sicherzustellen. Diese Indienststellung schmälert freilich die Verallgemeinerungsfähigkeit der Aufenthaltsumschreibung, die der EuGH entwickelt. Erschwerend kommt hinzu, dass der Gerichtshof die begrenzte Geltung seiner aufenthaltsbezogenen Aussagen deutlich unterstreicht. Erstens sollen Judikate aus anderen Sachgebieten nur eine begrenzte Aussagekraft fuȋr die Zuständigkeit im Sorgerecht haben; zweitens weist der Gerichtshof in A und Mercredi darauf hin, dass er keine verbindlichen Aussagen über die Geltung der zu Art. 8 Abs. 1 EuEheVO gelieferten Umschreibung treffen möchte. Dass der Gerichtshof in C lakonisch feststellt, dass die Aufenthaltsbegriffe der Art. 8, 9, 10 und 11 EuEheVO übereinstimmen, ist zwar zu begrüßen, erlaubt aber keine Rückschlüsse auf weitere Verknüpfungen, beispielsweise ein Ineinanderfließen der Aufenthaltsbegriffe der Art. 3 und 8 ff. EuEheVO. Auch die Querverbindungen mit anderen familien- und internationalprivatrechtlichen EU-Verordnungen bleiben unklar. Drittens stimmen auch die Kriterien, die der EuGH in den bisherigen Leitentscheidungen zum Gerichtsstand im Sorgerecht nach Art. 8 Abs. 1 EuEheVO und zu Art. 9±11 EuEheVO entwickelt, nicht zwingend uȋberein. Während der Gerichtshof in A die
386 Ebenso kritisch unter Hinweis auf die Stellungnahme des Generalanwaltes Szpunar s. Dutta, ZEuP 2016, 427 (447). 387 EuGH ± C-523/07, Rn. 39, 2. Leitsatz ± A ./. Perusturvalautakunta; ebenso EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 44 ± Mercredi ./. Chaffe Ä[...] gewisse Beständigkeit oder RegelmäLJNHLW³ 388 EuGH ± C-523/07, Rn. 39 sowie 2. Leitsatz ± A ./. Perusturvalautakunta. Dazu Palandt/Thorn Art. 5 EGBGB Rn. 13. 389 Ibid.
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Staatsangehörigkeit der Kinder 390 und ihren bisherigen sozialen Lebensmittelpunkt für maßgeblich erklärt,391 möchten Literaturstimmen in Mercredi einen Rechtsprechungswechsel hin zur Maßgeblichkeit des Niederlassungswillens der Mutter erkennen. 392 Diese Deutung ist freilich nicht zwingend, wenn man die zugrundeliegenden Sachverhalte in die Betrachtung einbezieht. 393 Im Fall Mercredi entspricht der Destinationsort ± die Insel La Réunion ± nicht nur der Staatsangehörigkeit des Kindes und der Mutter, sondern reflektiert auch die Zugehörigkeit beider Personen zu einer kulturell, sprachlich ethnisch abgegrenzten Inselgesellschaft. 394 Dafür, ob der Wille ein entscheidendes Gewicht bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts haben soll, lässt sich Mercredi also entgegen der überkommenen Deutung nicht verwenden. Ein weiterer Bruch wird in C deutlich. Dort knüpft der Gerichtshof zwar vordergründig an die Präzedenzentscheidungen A und Mercredi an, schafft im Rahmen des Art. 11 EuEheVO aber einen Sonderweg der Aufenthaltsbestimmung, der sich an vorangegangene Judikaten allenfalls in seiner fehlenden Konsistenz mit den Spezifika des Ausgangssachverhalts rückanbinden lässt.395 III. Der unionsrechtliche gewöhnliche Aufenthalt in der Rechtsprechung der Mitgliedstaaten Gerade weil der allgemeine, über Art. 8 EuEheVO hinausgehende Aussagegehalt der Entscheidungen A und Mercredi unklar ist, steigt der Wert von mitgliedstaatlichen Entscheidungen, die sich selbstständig mit dem Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts befassen. Insoweit muss aber eine Auswahl getroffen werden. Einerseits widmet sich der folgende Abschnitt Judikaten aus dem deutschen Inland, die Aussagen zu den eingangs angestellten Überlegungen zur Begriffsnatur des gewöhnlichen Aufenthalts anstellen (2.). Andererseits befasst sich die Arbeit mit Auslandsfällen, die die in A und Mercredi aufgestellten Grundlinien weiter auskonturieren (1.).
EuGH ± C-523/07, Rn. 44 ± A ./. Perusturvalautakunta. EuGH ± C-523/07, Rn. 39, 41 ± A ./. PerusturvalautakuntaÄ'DVVVLFKGLH.LQGHULQ einem Mitgliedstaat aufhalten, in dem sie während eines kurzen Zeitraums ein Wanderleben fuȋhren, kann dagegen ein Indiz dafuȋr sein, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt dieser Kinder nicht in diesem Staat EHILQGHW³ 392 EuGH ± C-523/07, Rn. 51± A ./. Perusturvalautakunta; Weller, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0-Verordnung?, 2013, 293 (310). 393 Weller/Rentsch, Habitual Residence in a Rome 0-Regulation ± a plea for settled intention, in: Leible (Hrsg.), General Principles of European Private International Law, 2016, 171 (182). 394 EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 21 ± Mercredi ./. Chaffe. 395 S.o. § 6 B. II. 3. c). 390 391
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1. Art. 8 Abs. 1 EuEheVO Urteile der beschriebenen Form finden sich insbesondere im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 EuEheVO. In der Rechtsprechung der funktionalen Unionsgerichte der Mitgliedstaaten wurde bislang sowohl die Frage nach einem vermuteten Ursprungsaufenthalt von Kleinkindern als auch die Aufenthaltsbestimmung bei heranwachsenden Jugendlichen im Rahmen von Art. 8 Abs. 1 EuEheVO kontrovers diskutiert. Die folgende Auswahl verdeutlicht, inwiefern die in A und Mercredi skizzierten Konturen der Aufenthaltsanknüpfung in den Mitgliedstaaten Beachtung gefunden haben. a) UKSC, AP Trinity Term [2013] UKSC 60 In der Rechtssache A (Children) AP396 befasste sich der Supreme Court des Vereinigten Königreichs mit der Frage, ob ein Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in England und Wales begründen kann, obwohl es nie britisches Territorium betreten hat.397 Das Kind war während des unfreiwilligen Aufenthalts seiner Mutter in Pakistan geboren worden und wurde nach der Flucht der Mutter nach Großbritannien gemeinsam mit seinen drei älteren Geschwistern dort festgehalten. 398 Die Mutter begehrte auf Grundlage ihres ausschließlichen Sorgerechts die Herausgabe der Kinder.399 In erster Instanz wurde die internationale Zuständigkeit britischer Gerichte bejaht, da es maßgeblich auf das Lebensumfeld der Mutter und darauf ankomme, ob diese Pakistan freiwillig betreten habe.400 Dabei stützte sich das angerufene Gericht allerdings auf Präzedenzfälle aus dem Family Law Act (1986), deren Verbindlichkeit oder sogar persuasive authority der Supreme Court für das Aufenthaltsverständnis in Art. 8 Abs. 1 EuEheVO in Anlehnung an die Schlussanträge zur Entscheidung A aber entschieden ablehnte. 401 Im Ergebnis sprach sich der Oberste Gerichtshof daher gegen die Annahme eines fiktiven Ursprungsaufenthalts in Großbritannien aus und stützte seine internationale Zuständigkeit auf Art. 14 f. EuEheVO. Seine Entscheidung begründete das Gericht mit dem Argument, dass die Entscheidungen A und Mercredi die eindeutige Maßgabe erkennen ließen, dass die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthaltes die physische Präsenz des Kindes voraussetze. Dass die Mutter an einem Ort, an dem sie unfreiwillig und unter haftähnlichen Bedingungen lebt, keinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet, erlaubt es also nicht, die fehlende tatsächliche Anwesenheit der Kinder durch eine Fiktion normativ zu korrigieren. UKSC,
9.9.2013, in the matter of A (Children), AP Trinity Term [2013] UKSC 60. UKSC, AP Trinity Term [2013] UKSC 60, Rn. 9 ff. 398 UKSC, AP Trinity Term [2013] UKSC 60, Rn. 2 ff. 399 UKSC, AP Trinity Term [2013] UKSC 60, Rn. 8. 400 UKSC, AP Trinity Term [2013] UKSC 60, Rn. 34. 401 UKSC, AP Trinity Term [2013] UKSC 60, Rn. 34 f. 397
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§ 6 Konturen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs
Die Entscheidung zeigt Funktionsgrenzen des gewöhnlichen Aufenthalts auf. 402 Das Erfordernis tatsächlicher Anwesenheit steht normativen Korrekturen abschließend entgegen, obwohl eine diachrone Zurechnung des tatsächlichen Aufenthalts der Mutter in Großbritannien zum ungeborenen Kind im zugrundeliegenden Fall und in verwandten Sachverhaltskonstellationen durchaus zu begrüßen wäre. Dass Art. 14 EuEheVO eine Notzuständigkeit am tatsächlichen Aufenthaltsort des Kindes vorsieht, zeigt, dass sich der Gesetzgeber dieser Schranken in der Aufenthaltsanknüpfung bewusst war. Gleichzeitig schließt die Zuständigkeit am schlichten Anwesenheitsort nicht die Schutzlücke, die im beschriebenen Fall ebenso wie in ähnlich gelagerten Konstellationen entstehen kann. 403 b) UKSC, LC Hilary Term [2014] UKSC 1 In der Entscheidung LC (Children) und LC (Children) (No 2) befasste sich der Supreme Court des Vereinigten Königreichs mit der Frage, welches Stadium der geistigen Reife erforderlich ist, damit der Niederlassungswille eines Kindes bei der Bestimmung der internationalen Zuständigkeit nach Art. 8 Abs. 1 EuEheVO berücksichtigt werden kann. Der Entscheidung lag ein Streit um das Sorgerecht für die insgesamt vier Kinder eines britischen Vaters und einer spanischen Mutter zugrunde. 404 Die dreizehn, elf, neun und sieben Jahre alten Kinder besaßen sowohl die spanische als auch die britische Staatsangehörigkeit. Im Zeitpunkt der der Klageerhebung nach Art. 8 Abs. 1 EuEheVO am 5.1.2013 lebten sie beim Vater in London; 405 im Sommer 2012 hatten sie sich im Anschluss an einen Sommerurlaub auf den Wunsch der Mutter hin aber für ein halbes Jahr in Spanien aufgehalten und waren im Dezember 2012 für einen kurzen, zwischen den Eltern vereinbarten Aufenthalt nach England zurückgekehrt, wo sie entgegen der elterlichen Abrede bis zur Verfahrenseröffnung verblieben waren. 406 Fraglich war also, ob die Kinder 402
Zum Anwesenheitserfordernis s.o. § 5 B. I. Die absolute Schranke ist ein Ausdruck des Territorialitätsprinzips. Großbritannien behält infolge des unfreiwilligen Aufenthalts der Mutter zwar seine Jurisdiktion über deren Rechtsverhältnisse, kann die Ausübung von Hoheitsgewalt im Hinblick auf das Kind aber, wenn überhaupt, auf seine Personalhoheit stützen. Aus den vorstehenden Ausführungen zum rechtspolitischen Hintergrund des gewöhnlichen Aufenthalts folgt, dass die Personalhoheit im Zweifel hinter der aktuellen räumlichen Bindung einer Person zurückstehen soll. Vor dem Hintergrund des unionsbürgerlichen Freizügigkeitsrechts (Art. 20 f. AEUV) ergibt diese eindeutige Zuordnung Sinn, da sie die Vermutung selbstbestimmter Ortswechsel einer Einzelperson erlaubt. Über Fälle von Freiheitsberaubung und Verschleppung hilft trotzdem weder der gewöhnliche Aufenthalt noch die Notzuständigkeit nach Art. 14 EuEheVO hinweg. 403 Zum Substitutionspotential des Kindeswohls s. aber oben § 5 B. II. 3. 404 UKSC, LC Hilary Term [2014] UKSC 1, Rn. 3. 405 UKSC, LC Hilary Term [2014] UKSC 1, Rn. 3. 406 UKSC, LC Hilary Term [2014] UKSC 1, Rn. 4.
B. Das Aufenthaltsverständnis der Unionsgerichte
269
während ihrer sechsmonatigen Anwesenheit einen gewöhnlichen Aufenthalt in Spanien erworben hatten. Äußere Faktoren der sozialen Integration wurden nachgewiesen: Die Kinder wurden von der Mutter in der Schule angemeldet, verfügten über die spanische Nationalität und beherrschten die spanische Sprache.407 Außerdem stand der Mutter jedenfalls für die beiden älteren Kinder das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu.408 Eine psychologische Befragung der Kinder ergab, dass jedenfalls der dreizehnjährige Sohn und die elfjährige Tochter nicht über ihre Abreise nach Spanien und ihre dortige Einschulung informiert gewesen waren, sich dort nicht wohlgefühlt hatten und ihre Rückkehr nach England begrüßten. 409 Der Supreme Court entschied erstens, dass diese Aussagen vom erkennenden Gericht nicht ausreichend berücksichtigt worden seien und verwies den Fall an den zuständigen Court of Appeal zurück.410 Die äußeren Integrationsfaktoren müssten bei der Aufenthaltsermittlung zwar vollumfänglich berücksichtigt werden; andererseits lasse die geistige Reife der älteren Tochter und ihre deutliche Ablehnung des Aufenthalts in Spanien aber darauf schließen, dass jedenfalls sie, wohl aber auch die jüngeren Kinder in mütterlicher Obhut ihren gewöhnlichen Aufenthalt behalten hätten.411 Die Entscheidung verdeutlicht, dass, aber auch wie sich die zuvor skizzierten Überlegungen zur Berücksichtigung des Kindeswillens rechtspraktisch umsetzen und in die richterliche Tatsachenauswertung einflechten lassen. Sie zeigt auch, dass innerhalb eines Familienverbundes nicht zwingend für die Kinder jeden Alters ein identischer gewöhnlicher Aufenthalt bestimmt werden muss, sondern vielmehr je nach geistiger Reife eine Zuordnung zum elterlichen Willen oder eine Emanzipation von ihm stattfinden kann. Allerdings verdeutlicht die Entscheidung auch, dass eine effektive Aufwertung des Kindeswillens verfahrensrechtliche Vorbedingungen hat, die ihrerseits nicht unionssekundärrechtlich harmonisiert sind. Im Ergebnis entscheidet das Familienverfahrensrecht der Mitgliedstaaten darüber, ob und inwieweit bei der Aufenthaltsermittlung bei Kindern auf deren Willen Rücksicht zu nehmen ist. Jenseits des breiten grundrechtlichen Rahmen, den die EuGrCh und die KRK vorgeben, werden die Modalitäten einer willensbasierten Kindeswohlprüfung also durch das nationale Verfahrensrecht geprägt.
407
UKSC, LC Hilary Term [2014] UKSC 1, Rn. 3, 26. UKSC, LC Hilary Term [2014] UKSC 1, Rn. 29. 409 UKSC, LC Hilary Term [2014] UKSC 1, Rn. 26. 410 UKSC, LC Hilary Term [2014] UKSC 1, Rn. 41. 411 UKSC, LC Hilary Term [2014] UKSC 1, Rn. 43. 408
270
§ 6 Konturen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs
2. Art. 4 EuErbVO Details und Probleme der Aufenthaltsermittlung im Rahmen der EuErbVO wurden erstmals 2016 durch das Kammergericht thematisiert. 412 Der Entscheidung lag der Erbfall eines Rentners zugrunde. Er hatte bis 2010 im Berliner Stadtteil Wedding gelebt und war dort auch polizeilich gemeldet gewesen, war dann aber nach Westpolen umgezogen, um nebenberuflich im Grenzgebiet an der Oder als Bauberater zu arbeiten. 413 ÄFür Meldezwecke³414 hatte er aber einen Zweitwohnsitz bei seiner Tochter in Berlin-Pankow behalten. 415 Anfang 2016 verstarb der Erblasser in Berlin. 416 Als die Tochter die Erbschaft vor dem Amtsgericht Pankow ausschlagen wollte, stellte sich unter anderem die Frage nach der internationalen Zuständigkeit deutscher Gerichte. 417 Das Kammergericht befasste sich in diesem Zusammenhang mit der Frage, wo sich der gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers befunden haben könnte, Art. 4 EuErbVO.418 Es betonte zunächst, dass der gewöhnliche Aufenthalt unionsrechtlich-autonom auszulegen ist, eine Gesamtbeurteilung der Lebensumstände des Erblassers erfordere und der Suche nach dem ÄMittelpunkt des Lebensinteresses des Erblassers³ 419 verpflichtet sein müsse. Auf dieser Grundlage gelangte das KG zu dem Ergebnis, dass der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland behalten habe. Das Gericht stützte seine Überlegungen einerseits auf die Vorgaben, die die Erwägungsgründe zur EuErbVO für sogenannte ÄGrenzpendler³ machen. Danach soll der gewöhnliche Aufenthalt im Herkunftsstaat bestehen bleiben, wenn der Erblasser seinen familiär-sozialen Schwerpunkt nicht verlegt. Das ist hier der Fall: Zwar war der Erblasser nur mit einem polizeilichen Zweitwohnsitz in Berlin gemeldet, hatte sich aber ausschließlich zu beruflichen Zwecken nach Polen begeben. Auch die Lebensbedingungen, der Mangel an sozialer Integration in Polen, die fehlenden Sprachkenntnisse des Rentners und der Umstand, dass er ärztlichen Beistand nur in Deutschland aufgesucht habe, sprächen dafür, dass der gewöhnliche Aufenthalt in Deutschland bestehen geblieben war. 420 Hinzu komme, dass auch die berufliche Tätigkeit des Rentners auf Deutschland ausgerichtet gewesen sei. Nicht nur habe er sämtliche seiner Konten nach wie vor in Deutschland unterhalten, sondern auch mehrmals die KG, 26.5.2016 ± 1 AR 8/16, ZErb 2016, 199. Ibid., Rn. 1, 7. 414 Ibid., Rn. 1. 415 Ibid. 416 Ibid. 417 Zur Frage der Zuständigkeit zur Annahme der Ausschlagung s. ibid., Rn. 4 ff. 418 Ibid., Rn. 7 ff. Streng genommen handelt es sich dabei um ein obiter dictum, da das KG nur zur Entscheidung des Zuständigkeitsstreits zwischen den AGen Pankow und Wedding angerufen worden war. 419 Ibid., Rn 7, m.Verw. auf Geimer/Schütze/Wall Art. 4 EuErbVO Rn. 6, 54 ff. 420 Ibid., Rn. 8. 412 413
B. Das Aufenthaltsverständnis der Unionsgerichte
271
Woche die Grenze überquert, um Baustellen auf deutschem Boden zu betreuen.421 Die Entscheidung des KG zeigt, dass die Aufenthaltsfeststellung Rahmen der EuErbVO komplexer ausfallen kann als in den anderen zuvor beschriebenen Sachgebieten. Regelmäßig wird nicht nur eine Abschichtung zwischen den beruflichen und privaten Lebensumständen eines Gläubigers erforderlich, sondern kann auch die Notwendigkeit für eine Abwägung, also eine selbstständige Bewertung durch das Nachlassgericht entstehen, wenn das Berufsund das Privatleben einer Person in unterschiedliche Rechtsordnungen deuten. Die Legitimationsgrundlage für diesen Vorgang folgt, wie das KG ebenfalls erkennt, aus den Erwägungsgründen der EuErbVO selbst. Wie an früherer Stelle gezeigt wurde,422 betont insbesondere Erwägungsgrund 24, dass die berufliche Tätigkeit einer Person im Ausland keinen Aufenthaltswechsel nach sich ziehen muss. Der Fall zeigt, dass sich diese Maßgabe mit einer Argumentationsfigur verbinden lässt, die im Fall A mit dem Begriff Äjuristisches Trägheitsprinzip³ umschrieben wurde: Solange die beruflichen Bindungen des Erblassers im Ausland nicht eine Quantität (Wochenarbeitszeit und Zahl der Heimatbesuche) und Qualität (Sprachkenntnisse und soziale Bindungen) erreicht haben, die die am ursprünglichen Aufenthaltsort erkennbar übersteigen, bleibt der Aufenthalt im Herkunftsstaat bestehen. Mit dieser Figur lässt sich auch eine Lösung für das häufig diskutierte Problem der Alters- oder Ruhestandsmigration skizzieren. 423 Entgegen der Befürchtungen, die insbesondere in der Literatur laut werden, erfordert die Beibehaltung eines gewöhnlichen Aufenthalts gerade keine regelmäßige Rückkehr in den Heimat- oder den letzten Aufenthaltsstaat.424 Vielmehr setzt ein Aufenthaltserhalt lediglich voraus, dass die Bindungen zum Ort der Altersresidenz die zum letzten gewöhnlichen Aufenthaltsort nicht übertreffen. Ob dies der Fall ist, lässt sich sowohl im Wege einer quantitativen, indizienbasierten Analyse als auch vermöge einer qualitativen Auswertung am Maßstab der Erwägungsgründe ermitteln. Quantitative Indizien sind in Erwägungsgrund 23 genannt. Besonders deutliche Ergebnisse verspricht die Frage, ob ein signifikanter Vermögenstransfer in den neuen Aufenthaltsstaat stattgefunden hat. Dass dies im oben beschriebenen Fall nicht der Fall war, versteht das KG zu Recht als wichtiges Indiz gegen einen Aufenthaltswechsel. Auch die Frage, ob im neuen Aufenthaltsstaat Ärzte aufgesucht werden und diese Teil des dortigen Versicherungsnetzes sind, sollte bei der Aufenthaltsfeststellung ein entsprechendes Gewicht beanspruchen. Hat hingegen sowohl ein be421
Ibid. S.o. § 6 A. II. 2. b) bb). 423 Dazu zuletzt Pfeiffer, IPRax 2016, 310 (312 ff.). 424 So aber Pfeiffer, IPRax 2016, 310 (312), der freilich zutreffend darauf hinweist, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt nicht uferlos ausdehnen lässt. 422
272
§ 6 Konturen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs
achtlicher Vermögenstransfer als auch ein Wechsel ins neue Gesundheitssystem sowie schließlich eine sprachliche Integration in den Aufnahmestaat stattgefunden, muss die Grundsatzentscheidung der EuErbVO für den gewöhnlichen Aufenthalt respektiert werden. Auch im hohen Alter müssen Statutenwechsel daher grundsätzlich möglich sein. 425 Erblasser sind dann auf die Möglichkeit einer Rechtswahl, Erben auf die Möglichkeit einer Ausschlagung verwiesen. 426 Härtefälle lassen sich dann auf der Ebene des anwendbaren Rechts und über die Ausweichanknüpfung an eine wesentlich engere Verbindung, Art. 21 Abs. 2 EuErbVO, lösen.427
C. Zwischenergebnis C. Zwischenergebnis
Die besprochenen Judikate bestätigen die abstrakten Überlegungen, die im Vorfeld zur Analyse der lex lata und der unionsgerichtlichen Rechtsprechung zum gewöhnlichen Aufenthalt angestellt wurden. Erstens untermauern A und Mercredi die Vermutung, dass es sich beim gewöhnlichen Aufenthalt auch im Unionsrecht um einen autonom auszulegenden Begriff handelt. Zweitens deuten beide Judikate an, dass seine Ermittlung eine Auswertung und Abwägung unterschiedlicher Sachverhaltselemente erfordern kann. Beide Aussagen werden durch die entschiedene Absage des EuGH an Rückbezüge auf die Aufenthaltsbegriffe anderer Rechtsgebiete relativiert. Namentlich Analogien aus dem Sozial- und Beamtenrecht sollen verboten sein. Dass der Gerichtshof den Begriff je nach Rechtsgebiet unterschiedlich verstanden wissen möchte, sollte aber nicht dahingehend gedeutet werden, dass er einer rechtsdogmatischen Aufarbeitung insgesamt nicht zugänglich sein soll. Die Arbeit hat dazu, sowohl unter Bezugnahme auf die spätere Rechtsprechung als auch anhand eigener Überlegungen, die Ansicht entwickelt, dass die vom EuGH geforderte, Ädreifache Unabhängigkeit³ des sorgerechtlichen gewöhnlichen Aufenthalts aus kritischer Distanz betrachtet und entsprechend behandelt werden muss. Der letzte Abschnitt hat auch einmal mehr gezeigt, dass entgegen der herrschenden Deutung in der Literatur weder A noch Mercredi eine klare Aussage zum Inhalt des gewöhnlichen Aufenthalts trifft. In A spricht der zugrundelie425
Im Ergebnis auch Pfeiffer, IPRax 2016, 310 (314), der freilich trotzdem vor den Folgen einer ausufernden Aufenthaltsanknüpfung warnt. 426 Dazu Pfeiffer, IPRax 2016, 310 (312). 427 Pfeiffer, IPRax 2016, 310 (312), der unter Rückgriff auf Erwägungsgrund 25 insbesondere betont, dass kurzfristige Aufenthaltswechsel unter diese Ausnahmevorschrift fa llen können. Nach der hier vertreteten Ansicht erledigt sich die Notwendigkeit eines Rückgriffs auf die Ausweichklausel freilich, zumal die Formulierung des Erwägungsgrundes ± wohl im Interesse der Vermeidung einer allzu rigiden Auslegung des gewöhnlichen Aufenthalts durch Nachlassgerichte ± unglücklich gewählt ist.
C. Zwischenergebnis
273
gende Sachverhalt gegen die herrschende Deutung, dass das Judikat die Staatsangehörigkeit bei der Aufenthaltsermittlung aufwertet. Im Gegenteil misst die Entscheidung nur einer neu erworbenen Staatsangehörigkeit ausdrücklich Bedeutung bei. Umgekehrt lässt auch Mercredi keine allgemeingültigen Rückschlüsse auf die Bedeutung des Niederlassungswillens bei der Aufenthaltsbestimmung zu. Die Entscheidung bestätigt aber die abstrakten Überlegungen zur Aufenthaltsbestimmung bei Erwachsenen und Kindern. Allein des unterschiedlichen Zuschnitts der lebensmittelpunktbestimmenden Umstände wegen werden verschiedene Faktoren erheblich; abstrakt ist die Bestimmung aber durch auffällige Parallelitäten gekennzeichnet. Die Urteile der funktionalen Unionsgerichte bestätigen diesen Befund, verdeutlichen aber auch, dass der gewöhnliche Aufenthalt in den einzelnen Anwendungsfeldern unterschiedlich eingebunden ist. Art. 3 EuUntVO erfordert eine von normativen Randbedingungen unabhängige ad hoc-Beurteilung der tatsächlichen Lebensumstände eines Unterhaltsgläubigers, während bei Kindern ebenso wie im Rahmen des Art. 8 Abs. 1 EuEheVO Prognosen für den unmittelbaren weiteren Lebensverlauf der Kinder angezeigt sind. Wie das Urteil des KG zeigt, folgt die Aufenthaltsbestimmung in Art. 4 EuErbVO wieder einem anderen Ziel. Die Vorschrift erfordert eine retrospektive Analyse der Lebensumstände des Erblassers. Anders als die Aufenthaltsermittlung bei Kindern ist sie damit von der Frage beherrscht, ob der Erblasser seinen letzten erkennbaren gewöhnlichen Aufenthalt behalten oder aufgegeben hat. Bei der Beantwortung dieser Frage orientiert sich das Kammergericht allerdings an denselben Regeln, die zur Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts allgemein Anwendung finden. Insgesamt erscheint es trotz zahlreicher Anhaltspunkte schwer, zum aktuellen Zeitpunkt eine allgemeine Linie im Aufenthaltsverständnis der Unionsgerichte zu identifizieren. Das gilt insbesondere für die hier vertretene Ansicht, dass der gewöhnliche Aufenthalt im Zweifel am Willen des Anknüpfungssubjekts anknüpfen sollte. Einerseits lässt sich mit ausreichender Sicherheit festhalten, dass die Aufenthaltsdauer ungeeignet ist, um einen Au fenthaltswechsel zu begründen. Dafür spricht besonders die regelungssystematische Trennung von Aufenthaltsdauer und gewöhnlichem Aufenthalt. 428 Entsprechend scheint es für die Zwecke der vorliegenden Arbeit angebracht, die abstrakten Überlegungen zur Natur und zum Inhalt der Aufenthaltsanknüpfung so lange aufrecht zu erhalten, bis sie durch die Rechtsprechung entweder bestätigt oder widerlegt werden.
428
S.o. § 6 A. II. 4. d) im Internationalen Insolvenzrecht und in der EuGüVO.
274
§ 6 Konturen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs
D. Thesen D. Thesen
1. Eine rechtsverbindliche staatsvertragliche oder unionsrechtliche Definition des gewöhnlichen Aufenthalts ist nicht erfolgt. Umso bedeutsamer sind daher die rechtsunverbindlichen Umschreibungen des Begriffs, wie sie die Erwägungsgründe 23 und 24 zur EuErbVO, die Teildefinitionen der Art. 19 Rom I-VO, Art. 23 Rom II-VO sowie die Diskussionen zur Notwendigkeit einer Definition des gewöhnlichen Aufenthalts, die im Rahmen der Haager Konferenz geführt wurden, erkennen lassen. 2. Die Entschließung des Europarates vom 18.12.1972 formuliert nur detailarme Aussagen zum rechtsvergleichenden acquis im Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts. Der normative Aussagehalt der Entschließung wird zusätzlich dadurch relativiert, dass die Rechtsprechung sich zwar formal auf sie beruft, inhaltlich aber deutlich von ihr abweicht. Diese Brüche und Unschärfen treten in der Rezeption der Entschließung durch den EuGH und funktionale Unionsgerichte besonders deutlich hervor (Kozlowski). 3. Das sekundärrechtliche Unionsrecht formuliert einige Anhaltspunkte zum Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts. Die dort getroffenen Aussagen beanspruchen aber erstens nur eine residuale Geltung. Zweitens ist ihr verallgemeinerbarer Gehalt gering. Insbesondere lassen die Teildefinitionen der Art. 19 Rom I-VO, 23 Rom II-VO keinerlei Rückschlüsse auf das Verständnis des gewöhnlichen Aufenthaltes privat handelnder Einzelpersonen zu; wohl aber enthalten die Erwägungsgründe 23 und 24 zur EuErbVO ein verallgemeinerungsfähiges Substrat, das in Zweifelsfällen beachtet werden muss. 4. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union hat bislang im Europäischen Internationalen Sozialrecht und im Rahmen der internationalen Zuständigkeit in Verfahren der elterlichen Sorge Leitlinien für die Handhabung des gewöhnlichen Aufenthalts aufgestellt. a) Im Internationalen Sozialrecht darf der Erwerb eines gewöhnlichen Aufenthaltes nicht vom Vorliegen einer Mindestaufenthaltsdauer abhängen. Das gilt jedenfalls dann, wenn damit ein Verlust nationaler Sozialleistungen verbunden ist und die Ausübung des unionsbürgerlichen Freizügigkeitsrechts erschwert wird. b) Im Internationalen Familienrecht erfordert die Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthaltes eine Auswertung aller relevanten Umstände des Einzelfalls. Ein besonderes Gewicht beanspruchen dabei Handlungen des Anknüpfungssubjekts, durch die sich ein natürlicher Niederlassungswille manifestiert (A). Der Niederlassungswille wird vermutet, wenn eine Person in ihre räumlich und ethnisch abgegrenzte Heimat zurückkehrt (Mercredi). Bei Minder-
D. Thesen
275
jährigen tritt regelmäßig der Niederlassungswille der tatsächlich betreuenden Personen an die Stelle der eigenen Absicht. Ein mehrfacher gewöhnlicher Aufenthalt wird ausgeschlossen; in Zweifelsfällen entscheidet das Äjuristische Trägheitsprinzip³. c) Die Rechtsprechung der Mitgliedstaaten setzt diese Linie logisch fort und ergänzt sie in Zweifelsfällen schlüssig um Details. Trennscharfe, verbindliche Aussagen zum Begriffsinhalt des gewöhnlichen Aufenthalts sind dennoch nur begrenzt möglich.
Dritter Teil
Grundlagen eines rechtswahlakzessorischen Aufenthaltsverständnisses § 7 Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht § 7 Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht
§ 7 Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht
Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass sich sowohl Elemente eines rechtsaktübergreifenden Begriffskerns des gewöhnlichen Aufenthalts als auch erste Ansätze für eine dogmatische Einhegung des Begriffs erkennen lassen. Trotzdem besteht weiter Handlungsbedarf: Erstens erschöpft sich der universell über alle Regelungsebenen akzeptierte, subsumtionsfähige Inhalt des gewöhnlichen Aufenthalts in der floskelartigen Umschreibung als Daseins- oder Lebensmittelpunkt. Dieses gemeinsame Substrat aller Aufenthaltsbegriffe ist, zweitens, derart konturarm, dass sich aus ihm allein keine konkreten Leitlinien für die Bestimmung des anwendbaren Rechts gewinnen lassen. Drittens ist nicht klar, zu welchem Grad die den Daseinsmittelpunkt konkretisierenden Kriterien in einzelnen Regelungszusammenhängen nachgewiesen werden müssen. Das Interesse an vorhersehbaren und transparenten Ergebnissen in der Rechtsanwendung erzeugt insofern ein Bedürfnis, im Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts zu differenzieren. Die Strukturarmut des gewöhnlichen Aufenthalts wurde auch im deutschen IPR bemängelt. Dort wie hier ist allerdings unklar, inwieweit ein differenziertes Begriffsverständnis geboten ist und welche Kriterien bei der Differenzierung richtigerweise herangezogen werden dürfen. Im Grundsatz lassen sich zwei Fragenkomplexe unterscheiden. Erstens ist offen, ob der gewöhnliche Aufenthalt im Rahmen des Internationalen Privat- und Zivilverfahrensrechts eine eigenständige, von anderen Rechtsgebieten verschiedene Bedeutung erhalten muss (§ 9 A.). Zweitens ist fraglich, ob und nach welchen Parametern
§ 7 Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht
277
auch innerhalb des Internationalen Privatrechts eine Abschichtung erforderlich wird (§ 8 B.). Der folgende Abschnitt verschreibt sich dem Ziel, diese Unklarheiten zu beheben. In einem ersten Schritt wird er einen Überblick über die unterschiedlichen Einsatzgebiete des gewöhnlichen Aufenthalts innerhalb wie außerhalb des Europäischen Kollisionsrechts geben (§ 7). Neben dem IPR und IZVR der Europäischen Union wird die Arbeit auch die Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts in anderen Bereichen des Unionssekundärrechts (§ 7 C.±E.) sowie den Einfluss des Unionsprimärrechts auf das nationale IPR thematisieren (§ 7 B.). In einem zweiten Arbeitsschritt (§ 8) wird die Frage erörtert, ob und inwieweit sich die unter § 7 analysierten nationalen Differenzierungsvorschläge auf das Unionsrecht übertragen lassen. 1 Die Arbeit macht bei der Analogiefähigkeit bestehender Vorschläge freilich nicht Halt, sondern entwickelt diese speziell mit Blick auf das Unions-IPR weiter (§ 9). Im Ergebnis wird sie eine abstrakt-rechtsdogmatische Differenzierung in weiten Teilen ablehnen. Eine wichtige Ausnahme bildet die Unterscheidung nach rechtswahlkonkretisierendem und objektivem gewöhnlichem Aufenthalt (§ 9 C. I. 2. c) cc)). Aufbauend auf diesem Befund wird die Arbeit in einem letzten Schritt (§ 10 B.) ein neues, rechtsaktübergreifendes Differenzierungsmodell entwickeln. Sie wird dort die Kernthese der Arbeit näher begründen, wonach Umfang und Reichweite sekundärrechtlicher Rechtswahlbestimmungen als Gradmesser für Abschichtungen im Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts genutzt werden müssen. Diese Überlegung wird die Arbeit in einem letzten Schritt durch systematische, ideengeschichtliche und praktische Argumente abstützen. Der gewöhnliche Aufenthalt beansprucht innerhalb wie jenseits des Europäischen Kollisionsrechts mittlerweile eine nahezu allumfassende Geltung im sekundärrechtlichen Unionsrecht. 2 Sein thematischer Bezugsrahmen beschränkt sich weder auf das Internationale Privatrecht im engeren Sinne 3 , noch auf die Regelungsebene des Unionsrechts. 4 Vielmehr scheint mit ihm eine rechtsgebietsindifferente Universalanknüpfung eingeführt worden zu sein. Die Fülle an Anknüpfungszwecken, aber auch die politischen Hintergründe der unterschiedlichen Normtexte lassen sich bereits aktuell kaum
1 Berücksichtigt werden sowohl diejenigen Vorschläge, die unter dem nationalen Recht gerechtfertigt erscheinen, als auch diejenigen, die es abzulehnen gilt (z.B. § 8 B. I. 2.). 2 Weller, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0-Verordnung?, 2013, 293 (298 ff.); Hilbig-Lugani, GPR 2014, 8; Rentsch, ZEuP 2015, 288; Rauscher, FS Coester-Waltjen, 2015, 637. Zur Expansion der Aufenthaltsanknüpfung in autonomen IPRVorschriften Baetge, FS Kropholler, 2008, 77 f. 3 Zu den Aufenthaltsanknüpfungen im EuZVR s. § 7 A. III.; § 7 A. V. 4 Rentsch, ZEuP 2015, 288 (293 f.).
278
§ 7 Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht
überschauen, geschweige denn systematisieren. 5 Im Folgenden werden neben den Verweisungs- und Zuständigkeitsnormen des sekundärrechtlichen Internationalen Privatrecht- und Zivilverfahrensrechts der Europäischen Union (A.) auch das autonome IPR und IZVR der Bundesrepublik Deutschland (B.), das Internationale Einheitsrecht (C.), das sekundärrechtlich vereinheitlichte Zivilprozessrecht (D.), die Anwendungsbereiche der EU-Verordnungen (E.) und das Internationale Sozialrecht der Europäischen Union (F.) Berücksichtigung finden. Wie in der Grundlegung angedeutet wurde, wird die Arbeit den Einsatzfeldern des Begriffs dabei unterschiedlich große Aufmerksamkeit widmen. Im Internationalen Privatrecht und, soweit erforderlich, im internationalen Verfahrensrecht der Union wird sie sich um eine eingehende Betrachtung bemühen. Die Aufenthaltsanknüpfungen im Internationalen Einheitsrecht und Europäischen Zivilprozessrecht wird die Arbeit dagegen in einer geboten kurzen Zusammenfassung würdigen. Größere Aufmerksamkeit ist wiederum im Hinblick auf das Internationale Sozialrecht geboten, wo der gewöhnliche Aufenthalt die längste unionsrechtliche Tradition besitzt. Schließlich erscheint es sachdienlich, Rechtsgebiete in die Betrachtung einzubeziehen, in denen der gewöhnliche Aufenthalt zwar nicht aktuell, aber de lege ferenda Bedeutung besitzt. Dazu zählen einerseits das EuIZVR der internationalen Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen (A. V.) und andererseits das autonome IPR der Bundesrepublik (B.). Das internationale Insolvenzrecht ist bereits im zweiten Teil der Arbeit zur Sprache gekommen. 6
A. Aufenthaltsanknüpfungen des sekundärrechtlichen Europäischen Kollisionsrechts A. Aufenthaltsanknüpfungen
Im Zuge der Kollisionsrechtsharmonisierung wurde der gewöhnliche Aufenthalt flächendeckend als Anknüpfungsmoment eingeführt. Er dominiert als objektive Anknüpfung die Rom I-, II- und III-Verordnungen, das kraft Art. 15 EuUntVO unionssekundärrechtlich integrierte Haager Unterhaltsprotokoll (Art. 3) 7 und den verweisungsrechtlichen Abschnitt der EuErbVO
5 Kritisch daher d¶Avout, Mélanges en l¶honneur Bernard Audit, 2014, 18; Bewertung bei Rentsch, ZEuP 2015, 288 (298 ff.). 6 S.o. § 6 A. II. 4. 7 Haager Protokoll vom 23.11.2007 über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht, ABl. 2009 L 331/19. Das Protokoll wurde von der Europäischen Union am 8.4.2010 gezeichnet und ist, ungeachtet der völkerrechtlichen Verbindlichkeit, gemeinsam mit der EuUntVO am 18.6.2011 in Kraft getreten, vgl. Anm. 4 f. zu Art. 24, 25. Art. 15 EuUntVO verweist für das Kollisionsrecht auf das Haager Unterhaltsprotokoll.
A. Aufenthaltsanknüpfungen
279
(Art. 21)8. Die internationale Zuständigkeit bestimmt der gewöhnliche Aufenthalt in der EuEheVO (Art. 3, 8 ff.), in der EuUntVO (Art. 3) sowie im zuständigkeitsrechtlichen Teil der EuErbVO (Art. 3) und der EuGüVO (Art. 6). Die EuGVVO als Kernstück des IZVR der Union wird derzeit noch durch eine allgemeine Wohnsitzanknüpfung bestimmt (Art. 4, 63f. EuGVVO), sollte aber ebenfalls de lege ferenda zum gewöhnlichen Aufenthalt wechseln. 9 I. Rom I-Verordnung Die Rom I-VO wurde auf Grundlage von Art. 65 EGV a.F. am 17.6.2008 erlassen. Sie regelt mit Wirkung ab dem 17.12.2009 das Internationale Privatrecht vertraglicher Schuldverhältnisse in Zivil- und Handelssachen (Art. 1 Abs. 1 lit. a) Rom I-VO). 10 Entstehungsgeschichtlich reichen die vertraglichen Kollisionsnormen der Rom I-VO in das 1980 von der Union verabschiedete Europäische Vertragsübereinkommen (EVÜ) zurück. 11 Durch Art. 65 EGV a.F., mittlerweile Art. 81 AEUV, wurde die Kollisionsrechtsharmonisierung anschließend von einer mitgliedstaatlichen Kooperationspflicht zu einer Gemeinschaftspolitik aufgewertet. 12 1. Systematik der Rom I-VO a) Vorrang der Rechtswahl Die Regelungssystematik der Rom I-VO liest sich als Zusammenspiel zwischen einer weitgehend unbeschränkten, vorrangigen subjektiven und einer nachrangigen objektiven Anknüpfung. Die eminente Bedeutung der Parteiautonomie lässt sich im Internationalen Vertragsrecht damit besonders deutlich erkennen. Nach Art. 3 Abs. 1 Rom I-VO ist vorrangig dasjenige Recht zur Anwendung berufen, das die Parteien kraft kollisionsrechtlichen Verweisungsvertrags13 für anwendbar erklärt haben. 14
8 VO (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.12.2010 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines europäischen Nachlasszeugnisses, ABl. 2012 L 201/107. 9 Rühl/von Hein, RabelsZ 79 (2015), 701 (729). 10 Zu den Ausnahmen vom Anwendungsbereich vgl. Art. 1 Abs. 2 Rom I-VO. 11 Übereinkommen vom 19. Juni 1980 uȋber das auf vertragliche Schuldverhaȋltnisse anzuwendende Recht, ABl EG 1980 L 266/1, BGBl. III 1998/208; zuletzt geaȋndert durch 3. Beitrittsübereinkommen, ABl. EG 1997 C 191/11. 12 Basedow, CMLR 37 (2000), 687 (691); Burghaus, Die Vereinheitlichung des Internationalen Ehegüterrechts, 2010, 281; Drappatz, Art. 65 EGV, 2002, 8 f. 13 Basedow, RabelsZ 75 (2011), 33, 52; zum Gegenstück des materiellrechtlichen Verweisungsvertrags MüKoBGB/Martiny Art. 3 Rom I-VO Rn. 15. 14 Basedow, RabelsZ 75 (2011), 33 (52); Kroll-Ludwigs, Parteiautonomie, 2013, 53.
280
§ 7 Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht
Bei der eigenverantwortlichen Bestimmung des anwendbaren Rechts sind die Parteien sowohl inhaltlich (Art. 3 Abs. 1 Rom I-VO) als auch zeitlich (Art. 3 Abs. 2 Rom I-VO)15 ungebunden.16 Lediglich Art. 3 Abs. 3, 4 Rom IVO stellt sicher, dass im Fall einer Äkünstlichen Internationalisierung³17 eines Sachverhalts die einfach zwingenden Bestimmungen desjenigen Staates zur Anwendung kommen, zu dem das vertraglich bedungene Rechtsverhältnis objektiv die meisten Verbindungen aufweist. 18 Art. 3 Abs. 1 Rom I-VO hebt die Rechtswahl einerseits in den Rang einer kollisionsrechtlichen Primäranknüpfung. Andererseits schafft die unbeschränkte Rechtswahl nach Art. 3 Abs. 1 Rom I-VO ein freiheitsfreundliches Anknüpfungsleitbild, das Beschränkungen und Herabstufungen der Rechtswahl in anderen Bereichen, insbesondere im Familien- und Erbrecht, indirekt rechtfertigungsbedürftig erscheinen lässt.19 b) Default- und Leitbildfunktion des Art. 4 Rom I-VO Die durch Art. 4 Rom I-VO geregelte objektive Grundanknüpfung von Verträgen steht formell im Nachrang zu Art. 3 Rom I-VO.20 Gerade diese Subsidiarität macht sie zu einer wichtigen default rule gegenüber einer inhaltlich unbeschränkten Rechtswahlmöglichkeit in vertraglichen Schuldverhältnissen. 21 Art. 4 Rom I-VO schafft mit anderen Worten gesetzliche Anknüpfungsleitbilder.22 Diese Leitbilder erfüllen mehrere Funktionen. Erstens sind sie so beschaffen, dass sie eine parteiautonome Vereinbarung über das anwendbare Recht antizipieren, sofern diese nicht stattgefunden hat. Auf diese Weise erleichtern und sichern sie die Vertragsgestaltung im internationalen Rechtsverkehr. Zweitens bilden sie den Maßstab für eine Überprüfung von
15 MüKoBGB/Martiny Art. 3 Rom I-VO Rn. 3; Kroll-Ludwigs, Parteiautonomie, 2013, 56. 16 Kroll-Ludwigs, Parteiautonomie, 2013, 48. 17 MüKoBGB/Martiny Art. 3 Rom I-VO Rn. 4; Kroll-Ludwigs, Parteiautonomie, 2013, 64 f. 18 Garcimartín Alférez, ELF 2-2008, 61 (64); zu den Unterschieden gegenüber anderen Schutzregimen (insbesondere dem kollisionsrechtlichen Verbraucherschutz) Magnus/Mankowski, The Green Paper on a Future Rome I Regulation ± on the Road to a Renewed European Private International Law of Contracts, ZVglRW 103 (2004), 131 (140). 19 Für eine unbeschränkbare Geltung der Parteiautonomie argumentiert Kroll-Ludwigs, 3DUWHLDXWRQRPLHÄ(VLVWDQGHU=HLW5HFKWVZDKOIUHLKHLWDXFKLP)DPLOLHQ- und Erbrecht niFKWPHKUDOVÃ9HUOHJHQKHLWVO|VXQJµVRQGHUQDOVÃ:HUWDQVLFKµ anzuerkennHQ³ 20 MüKoBGB/Martiny Art. 4 Rom I-VO Rn. 17. 21 Magnus, Article 4 Rome I Regulation: The Applicable Law in the Absence of Choice, in: Ferrari/Leible, Rome I Regulation, 2009, 27. 22 Magnus, in: Ferrari/Leible, Rome I Regulation, 27.
A. Aufenthaltsanknüpfungen
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Rechtswahlklauseln im Rahmen der AGB-Kontrolle.23 Drittens helfen sie dabei, atypische Vertragsstrukturen, darunter Franchise- und Vertriebsverträge, kollisionsrechtlich zu vertypen. Durch eigenständige geschaffene, besondere Anknüpfungsregeln werden diese schwer handhabbaren Vertragstypen in eine ex ante berechenbare Rechtsordnung verwiesen. c) Heterogene Binnenstruktur der vertraglichen Grundanknüpfung Die vertragliche Grundanknüpfung des Art. 4 Rom I-VO setzt sich aus insgesamt drei Kollisionsregeln und einer Ausweichklausel zusammen. Neben acht besonderen Kollisionsnormen für einzelne Vertragsarten, 24 die rechtsvergleichend eine die kollisionsrechtliche ÄBündelung³ 25 erlaubende Typisierung erfahren haben (Abs. 1), sieht Abs. 2 eine Zweifelsanknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt des Erbringers der vertragscharakteristischen Leistung vor. Diese Bestimmung wird durch die leges speciales des Art. 4 Abs. 1 verdrängt. 26 Sofern ein Vertrag weder einer der besonderen Kollisionsnormen des Abs. 1 zugeordnet noch eine vertragscharakteristische Leistung identifiziert werden kann, beruft hilfsweise Art. 4 Abs. 4 Rom I-VO diejenige Rechtsordnung zur Anwendung, mit der der Vertrag am engsten verbunden ist. Die besonderen Kollisionsnormen des Abs. 1 lesen sich vordergründig als selbstverständliche27 Konkretisierungen der in Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO festgesetzten Grundanknüpfung. 28 Das gilt allerdings nur für die in lit. a), b), e) und f) genannten Vertragsarten. Grundstücksverträge (lit. c)), Kurzzeitmieten und -pachten (lit. d))29, Versteigerungen (lit. g)) und Verträge über Finanzinstrumente (lit. h)) folgen dagegen einer eigenständigen gegenstandsbezogenen Verweisung. 30 Die Sonderregelung erklärt sich also durch den Um-
23 Zur Interdependenz von Rechtswahl und AGB-Kontrolle (allerdings mit Bezug auf Art. 6 Rom I-VO) LG Hamburg, 2.9.2014 ± 327 O 187/14, NJOZ 2015, 535. 24 Staudinger/Magnus Art. 4 Rom I-VO Rn. 28. 25 Zum Übergang von der Elemente-Kollisionsnorm auf die allseitige Kollisionsnorm im Wege der vertikalen Bündelung Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, 102 ff. 26 Staudinger/Magnus Art. 4 Rom I-VO Rn. 30. 27 Staudinger/Magnus Art. 4 Rom I-VO Rn. 28. 28 Staudinger/Magnus Art. 4 Rom I-VO Rn. 28 m.Verw. auf Mankowski, Die Rom IVerordnung ± Änderung im europäischen IPR für Schuldverträge, IHR 2008, 133 (136 f.); Palandt/Thorn Art. 4 Rom I-VO Rn. 2; Rauscher/Thorn Art. 4 Rom I-VO Rn. 18; Wagner, Der Grundsatz der Rechtswahl und das mangels Rechtswahl anwendbare Recht (Rom IVerordnung), IPRax 2008, 382. Zur Schutzfunktion der Sonderanknüpfungen für Fra nchise- und Vertriebsverträge (lit. e), f)), s.u. dd) sowie Staudinger/Magnus Art. 4 Rom IVO Rn. 14, 32. 29 Zum formellen Vorrang des Art. 4 Abs. 1 lit. d) gegenüber lit. c) s.u., Fn. 31. 30 Staudinger/Magnus Art. 4 Rom I-VO Rn. 28.
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§ 7 Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht
stand, dass diese Verträge inhaltlich von der vertraglichen Basisanknüpfung abweichen.31 Die Motivation für die ausdifferenzierte ÄAufzählungslösung³32 liegt laut Erwägungsgrund 16 zur Rom I-VO 33 im Interesse an einer vorhersehbaren und rechtssicheren Kollisionsrechtsanwendung im grenzüberschreitenden Rechtsverkehr. 34 Diese neue Leitidee unterscheidet die Rom I-VO deutlich vom Vorgängerinstrument, dem EVÜ. Dort hatte das Anliegen, durch flexible Kollisionsnormen einzelfallgerechte Anwendungsergebnisse zu ermöglichen, das Interesse an der Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit noch deutlich überwogen.35 Die Rom I-VO hebt sich also durch erkennbare Wertungsunterschiede vom EVÜ ab.36 31 Diese Unterschiede schlagen sich im Konkurrenzverhältnis der einzelnen Katalogvorschriften zueinander nieder. Erstens gehen die vom Telos des Abs. 2 abweichenden, besonderen Anknüpfungen den Vertragsanknüpfungen der lit. a), b), e)±f) vor. Ein Versteigerungskauf fällt also nicht unter Art. 4 Abs. 1 lit. a) Rom I-VO, sondern unter lit. g). Dieselbe Konkurrenzregel gilt überschießend auch dann, wenn die Qualifikation des Vertragsverhältnisses nicht eindeutig gelingt, beispielsweise weil es tatbestandlich die Charakteristika mehrerer besonderer Kollisionsnormen erfüllt. Verpflichtet sich der Verkäufer eines Grundstücks im Kaufvertrag außerdem dazu, den auf dem Grundstück belegenen Müll zu beseitigen, fügt diese Nebenpflicht dem Grundstücksgeschäft ein werkvertragliches Element hinzu. Trotzdem kommt anstatt Art. 4 Abs. 1 lit. b) oder, mangels eindeutiger Zuordnung des Vertrags, Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO, die Kollisionsnorm für Grundstücksverträge nach Art. 4 Abs. 1 lit. c) Rom I-VO zur Anwendung, soweit die werkvertragliche Pflicht den Vertrag nicht eindeutig dominiert. Auch innerhalb der Konkretisierungen des Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO gilt ein zweckbezogenes Vorrangverhältnis: Franchise- und Vertriebsverträge, die über die schlichte Vertragsallokation hinaus einen eigenen Schutzgedanken umsetzen, müssen unter Art. 4 Abs. 1 lit. e) bzw. f) und nicht unter lit. b) fallen, obwohl sie tatbestandlich Dienstleistungen im Sinne des Art. 57 AEUV darstellen. Ebenso werden sie auch dann nicht der Verweisung in lit. a) zugeordnet, wenn sie über den franchisetypischen Pflichtenkatalog hinausgehende, kaufvertragliche Elemente in sich tragen, um das Schutzziel der einseitigen Zuweisung in das Recht des Franchisenehmers nicht zu gefährden. Zum Ganzen Staudinger/Magnus Art. 4 Rom I-VO Rn. 28. 32 MüKoBGB/Martiny Art. 4 Rom I-VO Rn. 17. 33 Ä 'LH.ROOLVLRQVQRUPHQVROOWHQHLQKRKHV0DDQ%HUHFKHQEDUNHLWDXIZHLVHQXP zum allgemeinen Ziel dieser Verordnung, nämlich zur Rechtssicherheit im europäischen 5HFKWVUDXPEHL]XWUDJHQ³ 34 Ferrari, RabelsZ 73 (2009), 750. 35 Art. 4 Abs. 1 EVÜ hatte, vergleichbar mit Art. 4 Abs. 4 Rom I-VO, primär vermöge einer Generalklausel in die Rechtsordnung verwiesen, zu welcher der streitgegenständliche Vertrag die engste Verbindung aufwies. Diese Grundregel wurde aber einerseits durch insgesamt drei Vermutungsregelungen (Abs. 2±4) typisierend konkretisiert und wurde andererseits durch den Vorbehalt einer de facto engeren Verbindung des Vertragsverhältnisses nach Art. 4 Abs. 5 EVÜ relativiert. Nach Art. 4 Abs. 2 EVÜ, dessen Wortlaut in der Rom I-VO weitgehend unverändert geblieben ist, sollte das Recht des Staates Anwendung finden, in dem der Erbringer der vertragscharakteristischen Leistung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat; das freilich nur, soweit eine solche eindeutig zu erkennen war (vgl.
A. Aufenthaltsanknüpfungen
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2. Bestand an Aufenthaltsanknüpfungen Dass die Rolle des gewöhnlichen Aufenthalts innerhalb der Rom I-VO bislang kaum diskutiert wurde, überrascht vor dem Hintergrund, dass der Anknüpfungspunkt statistisch den weit überwiegenden Teil der Kollisionsnormen des Instruments ausmacht. 37 Er bestimmt, erstens, sowohl die objektive Generalanknüpfung an die vertragscharakteristische Leistung, Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO, 38 als auch die in Art. 4 Abs. 1 Rom I-VO enumerativ aufgelisteten Konkretisierungen (lit. a)), b)) dieser allgemeinen Regel, das Statut der Kurzzeitmiete (lit. d)) sowie der
Art. 4 Abs. 5 S. 2 EVÜ). Eine weitere besondere Anknüpfung war in Art. 4 Abs. 3 für Grundstücksverträge und in Art. 4 Abs. 4 EVÜ für Güterbeförderungsverträge vorgesehen; hier sollte im Zweifel das Sitzrecht des Beförderers zur Anwendung kommen. Art. 4 Abs. 5 S. 2 EVÜ hatte dem Rechtsanwender darüber hinaus vermöge einer Ausweichklausel die Möglichkeit eingeräumt, einen Vertrag im Einzelfall einer Rechtsordnung zu unWHUZHUIHQ ]X GHU HU LQ $QEHWUDFKW GHU Ä[...] *HVDPWKHLW GHU 8PVWlQGH³ HLQH HQJHUH 9Hrbindung aufwies. Dazu Rauscher/Thorn Art. 4 Rom I-VO Rn. 1; Ferrari, RabelsZ 73 (2009), 750 (751 ff.); Magnus, in: Ferrari/Leible, Rome I Regulation, 27, 29, 31. 36 Diese Unterschiede betreffen insbesondere Art. 4 Rom I-VO. Hier wird erstens die Grundanknüpfung an die engste Verbindung zugunsten der vertragscharakteristischen Leistung, Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO, aufgegeben. Art. 4 Abs. 2 EVÜ wird dabei inhaltlich unverändert übernommen, wird aber systematisch von einer Konkretisierung der engsten Verbindung zur Basisanknüpfung für einen neu geschaffenen Katalog besonderer Anknüpfungen in Art. 4 Abs. 1 Rom I-VO aufgewertet. Der Katalog ersetzt, zweitens, die vormalige Grundanknüpfung an die engste Verbindung, die ausweislich Art. 4 Abs. 4 Rom I-VO zu einer formal subsidiären Hilfsanknüpfung herabgestuft wird. Drittens werden neben den unter dem EVÜ bekannten Vermutungsregeln für Grundstücksverträge neue Kollisionsnormen geschaffen, deren Handhabung vor Inkrafttreten der Rom I-VO der Rechtsanwendung im Einzelfall überlassen war. Das sind: ein Statut der Franchise- (lit. e), Vertriebs- (lit. f) und Finanzverträge (lit. h) sowie eine eigens für Versteigerungen geschaffene Kollisionsnorm (lit. g). Viertens setzt sich die selbstständige Anknüpfungsvermutung für Grundstücksverträge des Art. 4 Abs. 3 EVÜ zwar in Art. 4 Abs. 1 lit. c) Rom I-VO fort, wird aber ebenso wie die Anknüpfung an die vertragscharakteristische Leistung (Abs. 2) von einer Vermutung zu einer verbindlichen Sonderanknüpfung aufgewertet. Sie wird auch durch die insoweit spezielle Anknüpfung des Art. 4 Abs. 1 lit. d) bei kurzzeitigen Mietund Pachtverträgen relativiert. Auch innerhalb der besonderen Vertragsanknüpfungen kommt es zu Abweichungen. Hier wird lediglich die vermutete Anknüpfung für Güterbeförderungsverträge in eine eigenständige, ihrerseits nicht fakultative Kollisionsnorm für Beförderungsverträge (Art. 5 Rom I-VO) ausgelagert und um eine eigenständige Kollisionsnorm für die Personenbeförderung ergänzt. Hier galt vorher der Grundsatz der freien Rechtswahl (Art. 3 EVÜ) und eine vermutete Anknüpfung an die vertragscharakteristische Leistung (Art. 4 Abs. 2 EVÜ). 37 So auch MüKoBGB/von Hein Einl. IPR Rn. 153. 38 Magnus, Article 4 Rome I Regulation: The Law Applicable in the Absence of Choice, in: Ferrari/Leible (Hrsg.), Rome I Regulation, 2009, 27, 28 f.
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Franchise- (lit. e)) und Vertriebsverträge (lit. f)).39 Zweitens knüpfen auch die besonderen Kollisionsnormen über Personenbeförderungsverträge (Art. 5 Abs. 2 UA 1 Rom I-VO) und der Katalog der insoweit wählbaren Rechtsordnungen (Art. 5 Abs. 2 UA 2 lit. a), c) Rom I-VO), das objektive Verbrauchervertragsstatut (Art. 6 Abs. 1 Rom I-VO), das objektive Versicherungsvertragsstatut über Großrisiken 40 (Art. 7 Abs. 2 UA 2 Rom I-VO) 41 sowie schließlich die Reichweite vorhandener Rechtswahlmöglichkeiten (Art. 7 Abs. 3 lit. b), e) Alt. 2 Rom I-VO) an den gewöhnlichen Aufenthalt an. Drittens möchte man das Wirkungsstatut im Rahmen der Forderungsabtretung nach dem gewöhnlichen Aufenthalt verweisen. 42 Das Statut der Forderungsabtretung (Art. 14 Abs. 1 Rom I-VO) erfasst die Abtretungswirkungen nämlich grundsätzlich nicht. 43 Der Vorschlag einer Aufenthaltsanknüpfung steht freilich im Widerspruch zur bislang überwiegenden Ansicht, die das durch Art. 14 Abs. 1 Rom I-VO berufene Recht, mithin das Statut des Abtretungsvertrags,44 auch auf die Zessionswirkungen anwenden will. 45 Darüber hinaus sind die Vertreter einer aufenthaltsbasierten Anknüpfung der Zessionswirkungen uneins über das maßgebliche Anknüpfungssubjekt. 46 Teils wird vorgeschlagen, entsprechend den Art. 26 ff. der UNCITRAL-Konvention über die internationale Forderungsabtretung 47 den gewöhnlichen Aufenthalt des Zedenten über das anwendbare Recht bestimmen zu lassen. 48 Mitunter wird 39
Zum dahinterstehenden Anliegen, gegenüber dem EVÜ mehr Rechtssicherheit zu gewährleisten, Pfeiffer, Neues Internationales Vertragsrecht ± Zur Rom I-VO, EuZW 2008, 622, 625. 40 Zum Begriff MüKoBGB/Martiny Art. 7 Rom I-VO Rn. 20. 41 MüKoBGB/Martiny Art. 7 Rom I-VO Rn. 22. 42 Zu den Anknüpfungsgegenständen der Forderungsabtretungs. auch von Bar, Abtretung und Legalzession im neuen deutschen Internationalen Privatrecht, RabelsZ 53 (1989), 462 (464). 43 Flessner, Die internationale Forderungsabtretung nach der Verordnung Rom I, IPRax 2009, 35. Zum Inhalt der Vorgängervorschrift (Art. 33 EGBGB) von Bar, RabelsZ 53 (1989), 462 (467 f.). 44 von Bar, RabelsZ 53 (1989), 462 (468). 45 Dazu und zur breiten Akzeptanz dieser Lösung in den Niederlanden s. Kieninger, Die Vereinheitlichung des Kollisionsrechts der Abtretung, in: Basedow/Remien/Wenckstern (Hrsg.), Europäisches Kreditsicherungsrecht, 2009, 147; dies., Das Statut der Forderungsabtretung im Verhältnis zu Dritten, RabelsZ 62 (1998), 692 (694); Martiny, Europäisches Internationales Vertragsrecht ± Ausbau und Konsolidierung, ZEuP 1999, 246 (266 f.). 46 Dazu ausführlich Heine, Das Kollisionsrecht der Forderungsabtretung: UNCITRALAbtretungskonvention und Rom I-Verordnung, 2012. 47 United Nations Convention on the Assignment of Receivables in International Trade, UN Pub. Sales No. E.04.V.14. 48 Tendenziell befürwortend MüKoBGB/Martiny Art. 14 Rom I-VO Rn. 39. Für die vorliegende Abhandlung ist der genannte Meinungsstreit freilich nur bedingt relevant. Erstens interessiert die Funktion, die dem gewöhnlichen Aufenthalt durch seine Befürworter für die Bestimmung des Zessionsstatuts zugewiesen wird. Der gewöhnliche Aufenthalt
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der gewöhnliche Aufenthalt, genauer: der insolvenzrechtliche COMI des Vollrechtsinhabers der Forderung, als Anknüpfungsmoment vorgeschlagen. 49 Viertens kommt der gewöhnliche Aufenthalt im Rahmen des Art. 10 Abs. 2 Rom I-VO zum Einsatz, um das Wirksamkeitsstatut von Verträgen zugunsten einer Vertragspartei abzuändern. Der gewöhnliche Aufenthalt hilft hier einem Auseinanderfallen von Vertragsstatut und tatsächlichem Lebensmittelpunkt einer Partei ab. Art. 10 Abs. 2 Rom I-VO gewährt in Abweichung von der durch Art. 10 Abs. 1 Rom I-VO bestätigten Lehre vom Einheitsstatut 50 jeder Vertragspartei gesondert die Einrede, dass der Vertrag nach dem Aufenthaltsrecht nicht wirksam zustande gekommen ist. 51 Fünftens findet sich der Vorschlag, den gewöhnlichen Aufenthalt als schlüssig mitgeschriebenes Anknüpfungsmoment in den Tatbestand des Art. 13 Rom I-VO hineinzulesen.52 Der kollisionsrechtliche Verkehrs- und Vertrauensschutz,53 den die Vorschrift gewährleisten soll, wird so auf eine solide Tatsachenbasis gestellt. Insbesondere sollen Fälle ausgeschlossen werden, in denen bei einer zufälligen Anwesenheit beider Vertragsparteien kein Schutzbedürfnis besteht. 54 Sechstens kann der gewöhnliche Aufenthalt im Rahmen der Erfüllungsortanknüpfung in Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO Bedeutung erlangen. Der Erfüllungsort ist dabei verordnungsautonom und tatsachenbezogen auszulegen 55 und entscheidet unter anderem über die Frage der fakultativen Beachtlichkeit ausländischer Eingriffsnormen in inländischen Zivilverfahren. 56 Die normatisoll, vergleichbar seiner Rolle in Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO (dazu s.u.), dazu dienen, den Ä6LW]³HLQHU)RUGHUXQJ]XORNDOLVLHUHQ=ZHLWHQVLVWYRQ%HGHXWXQJGDVVGLH$QNQSIXQJ an den gewöhnlichen Aufenthalt mit dem COMI gleichgesetzt wird und auf diese Weise eine Interdependenz vorgezeichnet wird, die seit der Reform der EuInsVO durch Art. 3 Abs. 4 EuInsVO in einer widerleglichen gesetzlichen Vermutung Niederschlag gefunden hat. 49 So nur Bauer, Die Forderungsabtretung im IPR, 2008, 292 f. 50 NKBGB/Leible Art. 10 Rom I-VO Rn. 1. 51 OLG Düsseldorf, 20.6.1997 ± 7 U 196/95 ± RIW 1997, 780; NKBGB/Leible Art. 10 Rom I-VO Rn. 33; MüKoBGB/Spellenberg Art. 10 Rom I-VO Rn. 232; Bamberger/Roth/Spickhoff Art. 10 Rom I-VO Rn. 13. 52 Zur Geltung bei Distanzgeschäften bereits Fischer, Verkehrsschutz im internationalen Vertragsrecht, 1990, 35±40; allgemein MüKoBGB/Spellenberg Art. 13 Rom I-VO Rn. 57. 53 Fischer, Verkehrsschutz, 1990, 26 ff. 54 Fischer, Verkehrsschutz, 1990, 63± IU ÄYHUNHKUVWHFKQLVFK EHJUQGHWH ,QODQGVDbschlüsse ohQHZHLWHUHQ,QODQGVEH]XJ³LELG 55 MüKoBGB/Martiny Art. 9 Rom I-VO Rn. 116±116 b). 56 Dagegen MüKoBGB/Martiny Art. 9 Rom I-VO Rn. 113 m. zahlreichen w.N. in Fn. 363. Nach dieser Ansicht kommt der Vorschrift keine Sperrwirkung für die Eingriffsnormen von Drittstaaten zu. Wie hier aber Rühl, Rechtswahlfreiheit im europäischen Kollisionsrecht, FS Kropholler, 2008, 187 (206 f.). Allgemein Rentsch, Krisenbewältigung durch konstitutionalisiertes Kollisionsrecht, in: Bauerschmidt/Fassbender et al. (Hrsg.) Konstitutionalisierung in Zeiten globaler Krisen, 2015, 255.
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ve Bedeutung des gewöhnlichen Aufenthalts in diesem Rahmen ist aber derart reduziert, dass seine Rolle für die Anknüpfung von Eingriffsnormen ebenso wie die Problematik ordnungspolitischen Rechts insgesamt im Folgenden unberücksichtigt bleiben kann. Eine abweichende objektive Primäranknüpfung ist nur für Individualarbeitsverträge, Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO, vorgesehen. Hier bestimmt das Recht des Staates Ä[...] in dem oder von dem aus der Arbeitnehmer in Erfüllung seines Vertrages gewöhnlich seine Arbeit verrichtet³, mithin der tatsächliche Mittelpunkt der arbeitsrechtlichen Beziehungen 57 oder die lex loci laboris58, das anwendbare Recht. 59 Den gewöhnlichen Aufenthaltsort und den gewöhnlichen Arbeitsort trennt trotz terminologischer Überschneidungen ein wesentlicher Unterschied: Der gewöhnliche Aufenthalt nimmt unbestrittenermaßen als rechtssubjektbezogenes oder persönliches Anknüpfungsmoment 60 auf das individuelle Lebensumfeld einer natürlichen oder juristischen Person Bezug.61 Der gewöhnliche Arbeitsort bestimmt als normativer Ersatz der Anknüpfung an den Erfüllungsort 62 dagegen den räumlichen Gesamtschwerpunkt eines Arbeitsverhältnisses 63 und zählt damit zu den handlungsbezogenen Anknüpfungsmomenten. 64 Durch Art. 19 Rom I-VO wird der gewöhnliche Aufenthalt juristischer und beruflich handelnder Privatpersonen Äteildefiniert³. Die Einzelheiten dieser Regelung wie auch ihre Relevanz für das Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts im Allgemeinen werden an späterer Stelle erörtert. 65
57 Begriff seit EuGH, 9.1.1997 ± C-383/95 ± Rutten ./. Cross Medical ± Slg. 1997-I, 57 (77) ± IPRax 1999, 365, 367 (zu Art. 5 EuGVÜ); Palandt/Thorn Art. 8 Rom I-VO Rn. 10; Ferrari/Kieninger/Mankowski/Staudinger Art. 8 Rom I-VO Rn. 18. Entscheidend ist nicht der vertraglich vereinbarte Arbeitsort, sondern der Schwerpunkt der tatsächlichen Leistung, Ferrari/Kieninger/Mankowski/Staudinger (ibid.); Wurmnest, Das neue Internationale Arbeitsvertragsrecht der Rom I-VO, EuZA 2009, 481, 491 58 Ferrari/Kieninger/Mankowski/Staudinger Art. 8 Rom I-VO Rn. 18; BeckOKBGB/Spickhoff Art. 8 Rom I-VO Rn. 21. 59 MüKoBGB/Martiny Art. 8 Rom I-VO Rn. 48 (gewöhnlicher Arbeitsort); Rn. 54 (Erweiterungen). 60 von Bar/Mankowski, IPR I, § 7 Rn. 16. 61 von Bar/Mankowski, IPR I, § 7 Rn. 1; ausführlicher zur Funktion der Aufenthaltsanknüpfung s. den zweiten Teil. 62 von Bar/Mankowski, IPR I § 7, Rn. 59 mit Verweis auf Art. 19 Nr. 2 lit. a) EuGVVO a.F., Art. 4 Nr. 1 HS 2 EuGVÜ/LugÜ. 63 Mankowski, Der gewöhnliche Arbeitsort im Internationalen Privat- und Prozessrecht, IPRax 1999, 332 (335 f.); von Bar/Mankowski, IPR I, § 7 Rn. 59. 64 Mankowski, IPRax 1999, 332 (335 f.); von Bar/Mankowski, IPR I, § 7 Rn. 51. 65 S.o. § 6 A. II. 3. c) aa).
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3. Gewöhnlicher Aufenthalt und vertragscharakteristische Leistung Der gewöhnliche Aufenthalt steht im Rahmen der vertraglichen Grundanknüpfung des Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO in einem unmittelbaren Wechselwirkungsverhältnis mit der Anknüpfung an die vertragscharakteristische Leistung. a) Herkunft Mit der Anknüpfung an die vertragscharakteristische Leistung führen die Berichterstatter des Vorentwurfs zum Europäischen Vertragsübereinkommen, Mario Giuliano und Paul Lagarde, ein Konzept ein, das in der Schweizer Kollisionsrechtswissenschaft entwickelt wurde 66 und sich vor der Verabschiedung des EVÜ bereits in Art. 117 des schweizerischen IPRG 67 sowie in der niederländischen Rechtsprechung etabliert hatte. 68 Ihr gedankliches Fundament bezieht die Lehre von der vertragscharakteristischen Leistung im Wesentlichen69 aus den Arbeiten Adolf Schnitzers.70 Er setzt sich einerseits das Ziel, die Leitgedanken der in seinen Augen zu stereotyp und damit interessenwidrig umgesetzten ÄSitzlehre³ Savignys 71 weiterzuentwickeln. Andererseits möchte er das IPR durch die Erkenntnisfortschritte der politischen Schule des IPR, namentlich das in diesem Rahmen entstandene, flexible Konzept 66
Vischer, Internationales Vertragsrecht, 1962, Rn. 89±144; Neuauflage Vischer/Huber/Oser, Internationales Vertragsrecht, 2000, Rn. 218 ff. 67 Vischer/Huber/Oser Rn. 227 m.Verw. auf die BG-Entscheidung Chevalley v. Genimporex, BGE 78 II 113. 68 NAP NV v. Christophery, 1.4.1970. 69 Staudinger/Magnus Art. 4 Rom I-VO Rn. 106. Zu den Vorläufern Gunst, Die charakteristische Leistung, 1994, 56 ff. 70 Ders., Handbuch des Internationalen Privatrechts, Band I, 1950, 34 f., 52±54; Band II, 1950, 639±648; ders., Les contrats internationaux en droit international privé suisse, RdC 123 (1968-I) 541±636; ders., Die Zuordnung der Verträge im IPR, RabelsZ 33 (1969), 17; ders., Betrachtungen zur Gegenwart und Zukunft des Internationalen Privatrechts, RabelsZ 38 (1974), 317 (325 f.); vgl. auch Leonhard, Erfüllungsort und Schuldort, 1907, 2; Batiffol, Les conflits des lois en matière de contrats (1938) Rn. 93; Zusammenfassung bei Neuhaus, Grundbegriffe, 188; Vischer/Huber/Oser Rn. 227. Als Begründer der Lehre von der vertragscharakteristischen Leistung wird Schnitzer bei Ferid, Internationales Privatrecht, 1975, 6±39 sowie durch die Denkschrift der Bundesregierung zum EGSchuldvertragsübereinkommen, 21, 25, bezeichnet. 71 Schnitzer, RabelsZ 38 (1974), 317 (325 f.) mit dem Vorwurf, Savigny unterliege einem inneren Widerspruch, wenn er einerseits das Wesen eines Rechtsverhältnisses zum maßgeblichen Anknüpfungsmerkmal erhebe und andererseits als RomDQLVW Ä[...] ganze Rechtsgebiete ohne Rücksicht auf die Eigenart der einzeln zu regelnden Kategorie einem im vornhinein bestimmten Anknüpfungspunkt [unterstellte], so zum Beispiel die Obliga tion ihrem Erfüllungsort, obwohl oft gar nicht von vorhinein feststeht, wo zu erfüllen ist, XQGHVRIWZHVHQWOLFKHULVWGDVVEHUKDXSWHUIOOWZLUG³Lbid., 326. Dazu auch Gunst, Die charakteristische Leistung, 1994, 50 f.
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§ 7 Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht
des most significant relationship des US-amerikanischen Restatement 2 nd, anreichern. 72 Mit dem Vorschlag, den charakteristischen Inhalt eines Rechtsverhältnisses 73 in den Status einer Basisanknüpfung des Internationalen Vertragsrechts zu erheben, entwickelt Schnitzer eine in seinen Augen neue Variante autonomer Vertragsallokation, die dem ÄWesen³ eines Schuldverhältnisses die entscheidende Bedeutung bei der kollisionsrechtlichen Normallokation zuerkennt. 74 Die überkommenen Anknüpfungen an den Handlungs- oder Erfüllungsort oder die Nationalität der Parteien werden so durch ein sachnäheres Modell abgelöst. Gerade die Nationalität, die im Internationalen Vertragsrecht Mancinis nach der Parteiautonomie die wichtigste Position einnimmt, 75 lehnt Schnitzer als Relikt der ÄZeit der Stammesrechte³ ab. 76 Die Anknüpfung an den Erfüllungsort akzeptiert Schnitzer zwar als normative Weiterentwicklung der Handlungsortanknüpfung, lehnt sie aber der praktischen Folgeprobleme, insbesondere der durch sie ausgelösten Äunnatürlichen³ Vertragsspaltung wegen, ab. 77 b) Inhalt Die vertragscharakteristische Leistung zeichnet sich aus Sicht Schnitzers durch den Umstand aus, dass anstatt der äußeren Vertragsumstände78 das innere Vertragsgepräge über das anwendbare Recht entscheidet. Durch diese Eigenschaft hebt sich die Anknüpfung von äußeren Kriterien wie dem Erfüllungsort oder der gemeinsamen Staatsangehörigkeit der Parteien ab. Auch der hypothetische Parteiwille 79 soll zur Bestimmung des anwendbaren Rechts aber nur dann Bedeutung erlangen, wenn er unmittelbar in die Leistungsvereinbarung eingeflossen ist. 80 Mit der vertragscharakteristischen Leistung wird 72 Zusammenfassend Symeonides, The American Choice-of-Law Revolution: Past, Present and Future, 2006; ders., The American Choice-of-Law Revolution in the Courts: Today and Tomorrow, 2000, passim; ders., American Private International Law, 2008; zur Rezeption in Deutschland s. insbes. Zweigert, RabelsZ 37 (1973), 435 (452); zum Zusammenspiel von politischer Schule und klassischem IPR Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, passim. 73 So die Paraphrase bei Neuhaus, Grundbegriffe, 188. 74 Schnitzer, Handbuch I, 34 f., 37. 75 Dazu Nishitani, Mancini und die Parteiautonomie im Internationalen Privatrecht, 2000. 76 Ders., Handbuch I, 1950, 505, 512f. 77 Ders., Handbuch I, 1950, 505. 78 Schnitzer, RabelsZ 33 (1968), 17 (19 f.); Giuliano/Lagarde, ABl. 1980 C 282/19 f. 79 Dazu Schnitzer, RabelsZ 33 (1968), 17 (19 f.); Giuliano/Lagarde, ABl. 1980 C 282/19. 80 Ancel, La loi applicable à défaut de choix, in: Ritaine/Bonomi (Hrsg.), Le nouveau rèJOHPHQW HXURSpHQ Ä5RPH ,³ UHODWLI j OD ORL DSSOL[DEOH DX[ REOLJDWLRQV FRQWUDFWXHOOHV 2008, 77. Das Konzept der vertragscharakteristischen Leistung wird daher insbesondere in der französischen Kollisionsrechtswissenschaft als Bestandteil einer sogenannten ÄPpWKo-
A. Aufenthaltsanknüpfungen
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also ein elastischer 81, gleichzeitig aber auch ein tatsachenakzessorischer und damit individuell vorhersehbarer Anknüpfungsrahmen geschaffen. 82 Ökonomisch ist das Modell dem Vertrauen in die selbstregulierenden Kapazitäten einer vertraglichen Leistungsvereinbarung geschuldet. So soll erstens sichergestellt werden, dass ein Vertrag in diejenige Rechtsordnung verwiesen wird, die sein soziales und wirtschaftliches Umfeld prägt. 83 Auch wird die Vertragsanknüpfung gegenüber der Anknüpfung nach Äexternen³ Faktoren individualisiert und flexibilisiert. 84 Zweitens lässt sich die Frage, welche von zwei Vertragsleistungen die charakteristische ist, insbesondere bei Distanzgeschäften meist wesentlich einfacher beantworten als die nach dem Vertragsschluss- oder dem Erfüllungsort. 85 Auf diese Weise werden die Prozesskosten verringert. Unterstützung erfährt dieser grundlegende Effizienzgedanke durch den Umstand, dass das Recht der vertragscharakteristischen Leistung wenigstens einer der Vertragsparteien bekannt ist. Im Gegensatz zur Handlungsortanknüpfung kann es außerdem jedenfalls durch eine Partei kostengünstig ermittelt werden. 86 c) Interdependenz Die vertragscharakteristische Leistung stellt aber für sich genommen keine räumliche Verbindung zwischen einem Sachverhalt und einer Rechtsordnung her.87 Die Lokalisierung eines Rechtsverhältnisses durch Zuweisung an eine nationale Rechtsordnung 88 wird dementsprechend auch innerhalb des Vertragsstatuts durch ein räumliches Anknüpfungsmoment erfüllt. 89 Erst in Kombination mit einem Anknüpfungspunkt weist die vertragscharakteristische Leistung den ÄSchuldort³ aus und wird damit zum tauglichen AnknüpGH REMHFWLYLVWH³ GHP IUKHU LP GRUWLJHQ DXWRQRPHQ ,35 YHUWUHWHQHQ VXEMHNWLYHQ $QVDW] gegenübergestellt. Der letzte hatte Anschluss an die Lehren Charles Dumoulins, die objektive Anknüpfung mittels einer Hypothese implizit-parteiautonomer Rechtssetzung verstanden. 81 Schnitzer, RabelsZ 33 (1968), 17 (22). 82 So auch Staudinger/Magnus Art. 4 Rom I-VO Rn. 106. 83 ,ELGÄ7KHFRQFHSWRIFKDUDFWHULVWLFSHUIRUPDQFHHVVHQWLDOO\OLQNVWKHFRQWUDFWWRWKH VRFLDODQGHFRQRPLFHQYLURQPHQWRIZKLFKLWZLOOIRUPDSDUW³ 84 Schnitzer, RabelsZ 33 (1968), 17 (22 ff.). Zur notwendigen Typisierung von Verträgen als Folge der Anknüpfung an die vertragscharakteristische Leistung s. ibid., 24 sowie Gunst, Die vertragscharakteristische Leistung, 107 ff. 85 Rühl, Statut und Effizienz, 2011, 533 m.Verw. auf Mankowski, The Principle of Characteristic Performance Revisited Yet Again, FS Siehr, 2010, 433 (437 f.). 86 Rühl, Statut und Effizienz, 2011, 534. 87 Solomon, The Private International Law of Contracts in Europe: Advancements and Retreats, 82 Tulane Law Review (2008) 1709 (1714 ff.). 88 von Bar/Mankowski,35,5QÄ=XQlFKVWPXVVMHGHU$QNQSIXQJVSXQNWDXI eine Rechtsordnung KLQIKUHQ³ 89 Solomon, 82 Tulane Law Review (2008), 1709 (1714 ff.)
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fungselement. 90 Diese Aufgabe wird in der Rom I-VO durch den gewöhnlichen Aufenthalt erfüllt. II. Rom II-Verordnung 1. Aufenthaltsanknüpfungen In der Rom II-VO nimmt der gewöhnliche Aufenthalt eine weitaus weniger zentrale, wenn auch statistisch nicht unbedeutende Rolle ein. 91 Im Rahmen der deliktischen Grundanknüpfung weist er eine enge persönliche Verbindung zwischen Schädiger und Geschädigtem aus, die ein Abweichen von der deliktischen Grundanknüpfung an den Ort des schadensbegründenden Ereignisses (Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO) rechtfertigen soll (Art. 4 Abs. 2 und Abs. 3 Rom II-VO). Der gewöhnliche Aufenthalt kommt auch im Rahmen der deliktischen Produkthaftung zum Einsatz, Art. 5 Abs. 1 S. 1 und Art. 5 Abs. 1 S. 1 lit. a) sowie Art. 5 Abs. 1 S. 2 Rom I-VO, ferner im Rahmen des unlauteren Wettbewerbs, Art. 6 Abs. 2, im Rahmen des Deliktsrechts der Arbeitskampfmaßnahmen, Art. 9, der ungerechtfertigten Bereicherung, Art. 10 Abs. 2, der Geschäftsführung ohne Auftrag, Art. 11 Abs. 2, und schließlich im Rahmen der culpa in contrahendo, Art. 12 Abs. 2 lit. b) Rom II-VO. In den zuletzt genannten Fällen wird der gewöhnliche Aufenthalt nur durch eine gesetzliche Analogie auf Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO verweisungserheblich. Die innere Systematik der Aufenthaltsanknüpfungen in der Rom II-VO erscheint verhältnismäßig uniform. Der gewöhnliche Aufenthalt erfüllt schon allein der gesetzlichen Analogie in Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO wegen in allen Kollisionsnormen den identischen Zweck, eine wesentlich engere Verbindung der Parteien eines außervertraglichen Schuldverhältnisses zu identifizieren. Infolge eines solchen Befundes wird es gestattet, von der Grundanknüpfung an den Tatort abzuweichen. 2. Hintergrund und Konsequenzen Nicht der gewöhnliche Aufenthalt einer Person, sondern der gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt zweier natürlicher Personen entscheidet im Rahmen der Rom II-VO über das anwendbare Recht. 92 Mit dieser Regelung orientiert sich auch der EU-Gesetzgeber an der common domicile rule,93 die sich in den autonomen Kollisionsrechten zahlreicher Nationalstaaten bewährt hatte. 94 Vorher war auch in Art. 40 EGBGB a.F. mit der Anknüpfung an den gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt lediglich im Fall einer gemeinsamen Staats90
Schnitzer, RabelsZ 33 (1968), 17 (22). So auch BeckOGKBGB/Rass-Masson Art. 23 Rom II-VO Rn. 2. 92 BeckOGKBGB/Rass-Masson Art. 23 Rom II-VO Rn. 2.2. 93 Ausführlich Symeonides, Codifying Choice of Law Around the World, 2014, 72 ff. 94 Übersicht bei Symeonides, Codifying Choice of Law Around the World, 2014, 74. 91
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angehörigkeit der Beteiligten ein Abweichen vom Tatortprinzip vorgesehen. Verglichen mit der autonom-internationalprivatrechtlichen Regelung ist die Anwendungsschwelle für die kombinierte Aufenthaltsanknüpfung gering. Wie eine jüngere Entscheidung des High Court of Justice zeigt, gilt dasselbe im Verhältnis zur britischen Fassung des domicile.95 Sobald sich sowohl der Schädiger als auch der Geschädigte über längere Zeit im selben Land aufhalten, werden die Motive für den Aufenthalt und der Wille zur längerfristigen Rückkehr in die Heimat irrelevant.96 III. Internationales Familienrecht (Rom III-VO, EuEheVO, EuUntVO, HUP, EuGüVO, EuPartVO) Im Internationalen Familienrecht ist der gewöhnliche Aufenthalt besonders traditionsbewährt. Auch aktuell konturiert der Begriff sowohl die wesentlichen Vorschriften der EuEheVO über die internationale Zuständigkeit, Art. 3 (Scheidungssachen) und Art. 8±12 (Maßnahmen über die elterliche Verantwortung) als auch die Kollisionsnormen der Rom III-VO. Schließlich bildet der gewöhnliche Aufenthalt auch das Kernstück der Verordnung zum Internationalen Ehegüterrecht (EuGüVO). 1. Internationales Scheidungsrecht Das Internationale Scheidungsrecht wird vollständig von der Aufenthaltsa nknüpfung dominiert. Er bestimmt dort die internationale Zuständigkeit mitgliedstaatlicher Gerichte in Scheidungsverfahren (Art. 3 EuEheVO). In der ähnlich gestalteten Rom III-VO erfüllt der Begriff eine Doppelfunktion. Zum einen dient er dazu, den Kreis der wählbaren Rechtsordnungen (Art. 5 Rom III-VO) zu konkretisieren. Zum anderen bestimmt er darüber, welches Recht in Ermangelung einer Rechtswahl zur Anwendung kommt. a) Zuständigkeit: Art. 3 EuEheVO aa) Regelungssystematik Die internationale Zuständigkeit in Scheidungssachen ergibt sich aus Art. 3 EuEheVO.97 Scheidungsfolgen sind grundsätzlich nicht erfasst, 98 ebenso we95
High Court of Justice (Queen¶s Bench Division) [2014] EWHC 3164 (QB) 6.10.2014, Winrow/Hemphill and Ageas Insurance Ltd., dazu Rentsch, GPR 2015, 191. 96 [2014] EWHC 3164 (QB); Rentsch, GPR 2015, 191. Das gilt sogar dann, wenn die Parteien nach dem Unfall tatsächlich umziehen. Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO kommt dann nicht zur Anwendung. 97 Zur sachlichen und örtlichen Zuständigkeit s. Staudinger/Spellenberg Art. 3 EuEheVO Rn. 2 f. 98 Staudinger/Spellenberg Art. 3 EuEheVO Rn. 1; Dilger, Internationale Zuständigkeit in Ehesachen, 2004, Rn. 95.
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nig eheliche Statusfragen. 99 Art. 3 Abs. 1 lit. a) sieht alternativ insgesamt sechs Aufenthaltsgerichtsstände vor. Gemeinsam mit der durch lit. b) geschaffenen Zuständigkeit im gemeinsamen Heimatstaat der Ehegatten stehen einzelne fora dabei gleichrangig und in freier Konkurrenz nebeneinander. 100 Der Antragsteller hat damit mehrere Wahlmöglichkeiten im Hinblick auf die Frage, vor welchem Gericht er den Scheidungsantrag stellen möchte. 101 Der im Vorfeld der EuEheVO geäußerte Gegenvorschlag, anstatt dieser freien Konkurrenz gestaffelte, ausschließliche Zuständigkeiten einzuführen, 102 hätte den Vorteil gehabt, das forum shopping einzugrenzen, fand aber keine ausreichende Zustimmung bei den Mitgliedstaaten. 103 Hier wurde gerade eine Konkurrenz alternativer Gerichtsstände und der damit verbundenen Justizapparate befürwortet. 104 Mit dem Inkrafttreten der Rom III-VO ist dieses Problem jedenfalls in Ansehung der 16 Mitgliedstaaten beseitigt, die an der Verstärkten Zusammenarbeit teilnehmen. Zwischen ihnen wird das auf Scheidungsfragen anwendbare Recht nach einheitlichen Grundsätzen bestimmt.105 bb) Einzelne Aufenthaltsgerichtsstände Im Einzelnen kommt der gewöhnliche Aufenthalt in Art. 3 Abs. 1 lit. a) EuEheVO in folgenden Varianten zum Einsatz: Spstr. 1 eröffnet die Zustä ndigkeit am aktuellen 106 gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt der Ehegatten.107 Da die EuEheVO nur die internationale, nicht aber die örtliche Zuständigkeit regelt, muss der Aufenthalt freilich nicht am selben Ort, sondern nur im selben Staat liegen. 108 lit. a) begründet also auch dann die Zuständigkeit der Gerichte, wenn die Eheleute im selben Land getrennt leben. 109 Spstr. 2 eröffnet eine identische Möglichkeit am letzten gemeinsamen gewöhnlichen
99 Dilger, Internationale Zuständigkeit in Ehesachen, 2004, Rn. 96, m.Verw. auf Borrás, ABl. 1998 C 221/27, Rn. 22. 100 Staudinger/Spellenberg Art. 3 EuEheVO Rn. 6, 8 f. 101 Staudinger/Spellenberg Art. 3 EuEheVO Rn. 6. 102 Dieser Vorschlag geht auf das Betreiben der deutschen Delegation zum Brüssel IIÜbereinkommen zurück, vgl. Pirrung, Europäische justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen ± insbesondere das neue Scheidungsübereinkommen, ZEuP 1999, 834 (844); Staudinger/Spellenberg Art. 3 EuEheVO Rn. 9. 103 Ibid. 104 Staudinger/Spellenberg Art. 3 EuEheVO Rn. 9. 105 Zur alternativen, unharmonisierten Rechtslage vgl. noch Staudinger/Spellenberg Art. 3 EuEheVO Rn. 9. 106 Dilger, Internationale Zuständigkeit in Ehesachen, 2004, Rn. 222. 107 Dilger, Internationale Zuständigkeit in Ehesachen, 2004, Rn. 221. 108 Dilger, Internationale Zuständigkeit in Ehesachen, 2004, Rn. 225 f. 109 Staudinger/Spellenberg Art. 3 EuEheVO Rn. 25.
A. Aufenthaltsanknüpfungen
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Aufenthalt der Eheleute. 110 Spstr. 3 bestimmt entsprechend der Grundformel actor sequitur forum rei den Gerichtsstsand nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Beklagten. 111 Nach Spstr. 4 darf ein gemeinsamer Scheidungsantrag im Land des gewöhnlichen Aufenthalts eines jeden Ehegatten gestellt werden.112 Spstr. 5 und 6 gestatten schließlich dem Kläger die Antragstellung im Land seines gewöhnlichen Aufenthalts, sofern er sich dort mindestens ein Jahr vor der Antragstellung tatsächlich aufgehalten hat (Spstr. 5) oder vermöge seiner Staatsangehörigkeit oder seines domicile mit diesem Staat verbunden ist (Spstr. 6). Die durch Spstr. 4 besonders geregelte gemeinsame, und damit einvernehmliche Antragstellung hebt also die Wartefristen und die zusätzlichen Erfordernisse der Spstr. 5 und 6 auf. Trotzdem handelt es sich nicht um eine Prorogation. Das Einvernehmen der Parteien bezieht sich vielmehr nur auf den Scheidungsantrag und damit auf ein sachliches Kriterium; der Gerichtsstand wird dagegen im Grundsatz objektiv kraft richterlicher Feststellung begründet. 113 Die Spstr. 5 und 6 erlangen in Fällen einer nicht einvernehmlichen Scheidung Bedeutung. Spstr. 5 eröffnet dem Kläger die Möglichkeit, nach einer Trennung in ein anderes Land zu ziehen und den dortigen Justizapparat zu nutzen. Durch die Karenzfrist soll ein Gerichtsstand smissbrauch verhindert werden. 114 Grundsätzlich lassen sich in Art. 3 Abs. 1 lit. a) EuEheVO damit zwei Varianten der aufenthaltsbasierten Gerichtsstandsbestimmung unterscheiden: Beidseitige (Spstr. 1, 2) fora nehmen auf die räumlichen Verbindungen beider Ehegatten Rücksicht, einseitige (Spstr. 3±6) fora lassen die Verbindung eines Ehegatten zu einer Rechtsordnung genügen. Mit Ausnahme von Spstr. 3, der sich durch seine Parallelität zum Grundprinzip der internationalen Zuständigkeit rechtfertigt, sind einseitige Aufenthaltsgerichtsstände mit zusätzlichen Kautelen versehen, die den Missbrauch durch eine Partei beschränken sollen. Spstr. 4 setzt einen gemeinsamen Antrag der Parteien voraus, sofern das Scheidungsverfahren am gewöhnlichen Aufenthaltsort nur eines Ehegatten eingeleitet werden soll. 115 So soll sichergestellt werden, dass der Gerichtsstand dem übereinstimmenden Parteiwillen entspricht. 116 Dieser Wille muss aber ausdrücklich kundgetan wer110
Dilger, Internationale Zuständigkeit in Ehesachen, 2004, Rn. 227. Ob es sich hier um den allgemeinen Gerichtsstand des Art. 5 Brüssel Ia-VO handelt, ist allerdings umstritten, vgl. die Unregelmäßigkeit in Borrás, ABl. 1998 C 221/27, Rn. 28, 31 sowie Staudinger/Spellenberg Art. 3 EuEheVO Rn. 29. 112 Dilger, Internationale Zuständigkeit in Ehesachen, 2004, Rn. 234, der ibid., Rn. 235, DEHUGDUDXIKLQZHLVWGDVVGHU%HJULIIGHUÄHLQYHUQHKPOLFKHQ6FKHLGXQJ³XQNODULVW 113 Staudinger/Spellenberg Art. 3 EuEheVO Rn. 31. 114 Dazu und zur rechtspolitischen Kritik an der Karenzzeiz Staudinger/Spellenberg Art. 3 EuEheVO Rn. 32. 115 Zu den Voraussetzungen Dilger, Internationale Zuständigkeit in Ehesachen, 2004, Rn. 234, ibid., Rn. 237 ff. 116 Dilger, Internationale Zuständigkeit in Ehesachen, 2004, Rn. 237. 111
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den.117 Spstr. 5 gestattet auch den einseitigen Antrag eines Ehegatten, sofern dieser nicht nur seinen gewöhnlichen, sondern seit mindestens einem Jahr vor der Antragstellung auch seinen schlichten Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Rechtsordnung hat, in der sich auch das zuständige Gericht befindet. 118 Spstr. 6 erlaubt eine einseitige Antragstellung auch nach einem schlichten Aufenthalt von nur sechs Monaten, wenn das Aufenthaltsland der Staatsangehörigkeit des Antragstellers entspricht. 119 Die Alternativität der scheidungsrechtlichen Gerichtsstände wird mitunter als Einfallstor für forum shopping kritisiert. Abhilfe schafft einerseits die lis pendens-Regelung des Art. 19 EuEheVO, andererseits auch der Umstand, dass sämtliche Gerichtsstandsvorschriften um einen Interessenausgleich zwischen den Parteien bemüht sind. Beispielsweise gleicht das Erfordernis eines einvernehmlichen Scheidungsantrags (Art. 3 Abs. 1 lit. a) Spstr. 4 EuEheVO) ein Kräfteungleichgewicht zwischen Antragsteller und -gegner aus, da es die ausdrückliche Zustimmung der Ehegatten voraussetzt. 120 Damit steht die einfache Aufenthaltszuständigkeit der am gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt der Eheleute gleichrangig gegenüber. b) Anwendbares Recht: Rom III-VO Die Aufenthaltsanknüpfungen der Art. 5 und Art. 8 Rom III-VO empfinden die Systematik der EuEheVO weitgehend nach. 121 Art. 8 lit. a) beruft das Recht am gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthaltsort im Zeitpunkt der Stellung des Scheidungsantrags. Nach lit. b) kommt subsidiär das Recht des letzten gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts zur Anwendung; dieser Aufenthalt muss aber weniger als Jahr vor der Stellung des Scheidungsantrags au fgegeben worden sein und einer der Ehegatten muss dort verblieben sein. Art. 8 lit. c) beruft das Recht der gemeinsamen Staatsangehörigkeit, lit. d) die lex fori. Art. 8 lit. a) und b) verlaufen also parallel zu den Art. 3 Abs. 1 lit. a) Spstr. 1, 2. Der Gleichlauf von forum und ius wird hier von Gesetzes wegen begünstigt. Da die EuEheVO weder mit einer Staffelung noch mit einer Rangfolge, sondern mit alternativen Gerichtsständen arbeitet, bleibt die Entscheidung über den Gleichlauf den Parteien überlassen. Die durch Art. 5 Abs. 1 Rom III-VO bereitgestellten Rechtswahlmöglichkeiten sind nach einem ähnlichen Grundmuster gestaltet, beanspruchen aber sowohl systematisch als auch nach dem eindeutigen gesetzgeberischen Wil117
Dilger, Internationale Zuständigkeit in Ehesachen, 2004, Rn. 238, der daraus Rückschlüsse für die Bedeutung des Willens bei der Aufenthaltsbestimmung zieht, ibid., Rn. 237. 118 Dilger, Internationale Zuständigkeit in Ehesachen 2004, Rn. 240. 119 Dilger, Internationale Zuständigkeit in Ehesachen, 2004, Rn. 242. 120 Dilger, Internationale Zuständigkeit in Ehesachen, 2004, Rn. 234, der ibid., Rn. 238. 121 Becker, NJW 2011, 1543 (1544).
A. Aufenthaltsanknüpfungen
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len den Vorrang vor der objektiven Anknüpfung. 122 Die Ehegatten können zwischen dem Recht ihres aktuellen (lit. a)) oder letzten gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts wählen, sofern einer der Ehegatten diesen noch besitzt (lit. b)) sowie zwischen dem Heimatrecht eines Ehegatten (lit. c)) und der lex fori wählen (lit. d)).123 Gegenüber Art. 8 Rom III-VO wirkt Art. 5 in zweierlei Hinsicht optionenerweiternd: Erstens können die Parteien über den Anknüpfungszeitpunkt disponieren. Im Rahmen des Art. 5 Rom III-VO kann das Recht des im Zeitpunkt der Rechtswahlvereinbarung aktuellen gemeinsam gewöhnlichen Aufenthalts gewählt werden; im Rahmen des Art. 8 kommt dagegen entweder der gemeinsame Scheidungs- oder der letzte gemeinsame Eheaufenthalt zur Anwendung (Art. 8 lit. a). Eine zweite Erweiterung erfolgt im Hinblick auf die Anknüpfung an das Heimatrecht. Im Rahmen von Art. 5 steht das Heimatrecht eines Ehegatten zur Wahl, soweit ein Paar keine gemeinsame Nationalität besitzt. Art. 8 lit. c) Rom III-VO verweist dagegen vorrangig zur lex fori auf das Recht der gemeinsamen Staatsangehörigkeit. Art. 5 Rom III-VO lässt das gesetzgeberische Interesse am Gleichlauf von forum und ius hinter der Parteiautonomie und dem Anliegen der vorhersehbaren Gestaltung grenzüberschreitender Lebensgemeinschaften zurücktreten. Ein Wahlrecht zugunsten der lex fori, Art. 5 lit. d), schafft insoweit einen Ausgleich. Eine solche Vereinbarung dürfte aber regelmäßig erst im Verfahren getroffen werden. c) Wert der Rom III-VO für die rechtsaktsübergreifende Begriffsbildung Die Rom III-VO kann bei Schaffung eines allgemeinen Referenzrahmens für den gewöhnlichen Aufenthalt allerdings nur indirekt Berücksichtigung erfahren, da im Rahmen der Verstärkten Zusammenarbeit die acquis-Wirkung nach Art. 20 Abs. 4 EUV ausgeschlossen ist. 124 2. Internationales Unterhaltsrecht Im Europäischen Unterhaltsrecht dient der gewöhnliche Aufenthalt ebenfalls dazu, den losen Gleichlauf von forum und ius sicherzustellen.125 Erstens be-
122 Becker, NJW 2011, 1543 (1544). Ibid. wird aber darauf hingewiesen, dass das Kräfteverhältnis zwischen Rechtswahl und objektiver Anknüpfung in der Praxis umgekehrt ausfallen dürfte. 123 Zur Systematik s. auch Becker, NJW 2011, 1543; Raupach, Ehescheidung mit Auslandsbezug in der Europäischen Union, 2014, 23 ff. 124 § 2 D. II. 1. c). 125 Dazu Heger, Gerichtliche Zuständigkeiten nach der EuUntVO fuȋr die Geltendmachung von Kindes-, Trennungs- und Nacheheunterhalt, FPR 2013, 1.
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stimmt sich die Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte 126 nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Beklagten (Art. 3 lit. a) EuUntVO) oder des Klägers (Art. 3 lit. b) EuUntVO). Zweitens entscheidet der gewöhnliche Aufenthalt sowohl über das objektiv berufene (Art. 3 HUP) als auch über das subjektiv qua Rechtswahl wählbare (Art. 8 Abs. 1 lit. b) HUP) Recht. a) Aufenthaltsgerichtsstände in der EuUntVO Art. 3 EuUntVO stellt für die Geltendmachung eines familienrechtlichen Unterhaltsanspruchs 127 insgesamt vier Gerichtsstände zur Wahl. Die Art. 3 lit. c) und lit. d) EuUntVO verweisen auf nationale Bestimmungen 128, sofern Unterhaltsansprüche als Nebenentscheidungen in personenstandsrechtlichen Statusverfahren (lit. c)) oder in Verfahren über die elterliche Verantwortung (lit. d)) geltend gemacht werden.129 Art. 3 lit. a) und b) formulieren dagegen originär Äunterhaltsrechtliche³ Zuständigkeiten. Nach Art. 3 lit. a) EuUntVO kann der Kläger seinen Anspruch vor einem Gericht durchsetzen, in dessen Bezirk der Beklagte 130 seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. 131 Art. 3 lit. b) EuUntVO privilegiert dagegen alternativ den Kläger. Er räumt ihm die Möglichkeit ein132, den Anspruch auch am international und örtlich zuständigen Gericht seines eigenen gewöhnlichen Aufenthalts geltend zu machen. 133 Der Kläger hat die Wahl zwischen einer Klage an seinem eigenen gewöhnlichen Aufenthaltsort und dem des Gläubigers. 134 Die Bestimmungen des Art. 3 EuUntVO sind überdies doppelfunktional 135 und bestimmen sowohl die internationale als auch die örtliche Zuständigkeit. 136 Daneben konkretisiert der gewöhnliche Aufenthalt die Prorogationsmöglichkeiten der EuUntVO. 137 Nach Art. 4 Abs. 1 lit. a) EuUntVO kommt als forum prorogatum jedes Gericht in Frage, in dessen Bezirk eine der Parteien 126
Eine teilweise Geltung der EuUntVO für Drittstaatensachverhalte wird durch die Notzuständigkeiten des Art. 7, 8 EuUntVO erreicht. 127 Zum autonomen Begriff des Unterhaltsanspruchs vgl. Art. 1 Abs. 1 EuUntVO. 128 Hess, EuZPR, § 7, Rn. 102, kritisiert diese Regelungstechnik, da so die Rechtsaktformen der Richtlinie (Rückverweis) und der Verordnung (Direktregelung) verschwimmen. Für den Zuständigkeits-renvoi ist dieses Vorgehen tatsächlich bedenklich. 129 Zu den Voraussetzungen Rauscher/Andrae Art. 3 EuUntVO Rn. 47 ff. 130 Der Begriff des Beklagten ist weit zu verstehen, vgl. Rauscher/Andrae Art. 3 EuUntVO Rn. 22. 131 Diese Regelung entspricht der Vorgängerbestimmung des Art. 5 EuGVVO a.F., s.u. Fn. 143. 132 Rauscher/Andrae Art. 3 EuUntVO Rn. 23, 40. 133 Rauscher/Andrae Art. 3 EuUntVO Rn. 40. 134 Heger, FPR 2013, 1 (2). 135 Rauscher/Andrae Art. 3 EuUntVO Rn. 7. 136 Rauscher/Andrae Art. 3 EuUntVO Rn. 7; Heger, FPR 2013, 1 (2). 137 Rauscher/Andrae Art. 4 EuUntVO Rn. 3, 27 f.
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ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. 138 Die Vorschrift ermöglicht den Parteien, die durch die allgemeine Zuständigkeitsvorschrift des Art. 3 EuUntVO vorgesehenen alternativen Gerichtsstände im Wege einer Gerichtsstandsvereinbarung zu verengen. Sie erweitert den Katalog des Art. 3 EuUntVO andererseits aber, wenn außer dem Kläger und dem Beklagten noch andere Parteien am Unterhaltsprozess beteiligt sind. Art. 4 Abs. 1 lit. c) (2) EuUntVO erlaubt den Ehegatten, in Unterhaltsstreitigkeiten eine Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten des letzten gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts zu treffen. 139 Die Voraussetzung dafür ist aber, dass dieser Aufenthalt mindestens ein Jahr lang angedauert hat. In beiden Fällen stellt der Nachweis des gewöhnlichen Aufenthalts einer oder beider Parteien sicher, dass ein ausreichender Bezug zwischen dem Unterhaltsstreit und dem vereinbarten Gericht besteht. 140 Das bereits durch Art. 3 EuUntVO begünstigte forum shopping141 wird im Rahmen einer Prorogation also auf eine feste Zahl enumerativ aufgelisteter Gerichtsstände beschränkt, die sich durch eine ausreichende Sachnähe zum Unterhaltsstreit rechtfertigen müssen. 142 Die genannten Bestimmungen weichen insoweit wesentlich von den Vorgängervorschriften der EuGVVO ab. 143 Unter dem alten Regime hatte den Parteien eines Unterhaltsstreits noch eine inhaltlich unbeschränkte Prorogationsmöglichkeit nach Art. 23 EuGVVO offengestanden. Umgekehrt folgt die EuUntVO bei der Bestimmung des objektiven Gerichtsstands mit Art. 3 lit. a) teilweise nach wie vor dem aus der Vorgängerbestimmung des Art. 2 Abs. 1 EuGVVO überkommenen Grundsatz des actor sequitur forum rei.144 Ein wesentlicher Unterschied zum unterhaltsrechtlichen Vorgängerregime der EuGVVO ergibt sich aber erstens daraus, dass die EuUntVO, wie bereits erwähnt, den allgemeinen Gerichtsstand durch klägerfreundliche Sondervorschriften auflockert. 145 Zweitens setzt die EuUntVO nicht auf den Wohnsitz, sondern auf den gewöhnlichen Aufenthalt, um das zuständige Gericht zu bestimmen. Der Verordnungsgeber begründet diese Maßnahme ausdrücklich mit dem Anliegen, den Gleichlauf zwischen dem Europäischen Rechtsakt und den relevanten Bestimmungen des Haager
138
Hess, EuZPR, § 7 Rn. 102; Rauscher/Andrae Art. 4 EuUntVO Rn. 3. Heger, FPR 2013, 1 (2). 140 Hess, EuZPR § 7 Rn. 102; Rauscher/Andrae Art. 4 EuUntVO Rn. 28. 141 Rauscher/Andrae Art. 3 EuUntVO Rn. 6; vor Art. 3 Rn. 23. 142 Hess, EuZPR, § 7 Rn. 102; Rauscher/Andrae Art. 4 EuUntVO Rn. 28. 143 Die EuUntVO löst seit dem 18.6.2011 Art. 5 Nr. 2 EuGVO ab, R. Wagner, NJW 2011, 1404, 1406. Zur früheren Rechtslage Junker, Internationales Zivilprozessrecht, 2. Auflage 2016, § 11, Rn. 1 ff.; zur EuUntVO Gruber, Die neue Unterhaltsverordnung, IPRax 2010, 128; Hau, FamRZ 2010, 516 ff. 144 MüKoFamFG/Lipp Rn. 12. Zum Grundsatz actor sequitur forum rei s. statt vieler Geimer/Schütze/Reuß Art. 3 EuUntVO Rn. 24; Saenger/Dörner Art. 2 EuGVVO Rn. 2. 145 Rauscher/Andrae vor Art. 3 EuUntVO Rn. 23. 139
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§ 7 Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht
Rechts herzustellen. 146 Konkret zählen dazu das Haager Unterhaltsübereinkommen von 2007, das ebenfalls 2007 verabschiedete Haager Unterhaltsprotokoll und das 1958 verabschiedete und 1973 inhaltlich revidierte Haager Unterhaltsvollstreckungsübereinkommen. 147 Gerade dem zuletzt genannten Übereinkommen gehören zahlreiche Mitgliedstaaten der Union an, weshalb es besondere Beachtung im Gesetzgebungsvorgang in der Union beanspruchte.148 Das Interesse an der Herstellung und Wahrung von Kohärenz zwischen dem Europäischen Verordnungsrecht und dem 2007 verabschiedeten Haager Übereinkommen dürfte dagegen dem Umstand geschuldet sein, dass die Union selbst unmittelbar an den Verhandlungen zu diesem Vertrag beteiligt war.149 b) Optionaler statt indizierter Gleichlauf Gerade weil die EuUntVO am Grundsatz des Beklagtengerichtsstands festhält, führt der Übergang zum gewöhnlichen Aufenthalt bei der Bestimmung der internationalen Zuständigkeit zwar regelmäßig, 150 aber keinesfalls automatisch einen Gleichlauf von internationaler Zuständigkeit und anwendbarem Recht herbei.151 Anders als die EuUntVO perpetuiert Art. 3 des HUP152 die im Internationalen Unterhaltsrecht bewährte Grundanknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt des Unterhaltsberechtigten. 153 Ob die Zuständigkeit und das anwendbare Recht parallel zueinander bestimmt werden oder auseinanderfallen, hängt daher maßgeblich davon ab, ob der Unterhaltsberechtigte von seinem durch Art. 3 lit. b) EuUntVO zugestandenen Privileg Gebrauch macht, die Unterhaltsklage an seinem Aufenthaltsort zu erheben. Die Klageerhebung am Aufenthaltsort des Beklagten führt damit in doppelter Hinsicht zu Nachteilen. Einerseits trifft den Kläger das Klagerisiko im Ausland, and ererseits muss er mit einem Auseinanderfallen von forum und ius und der damit verbundenen Erfolgsverzögerung rechnen. 154 Das gilt jedenfalls dann,
146 S. Erwägungsgründe 8, 17. S. auch EuGH ±C-184/14 ± A ./. B. ± NJW 2015, 3021; dazu oben § 6 B. II. 1. a) cc) (2). 147 MüKoFamFG/Lipp EWGVO 4/2009 Rn. 12; Andrae, Zum Verhältnis der Haager Unterhaltskonvention 2007 und des Haager Protokolls zur geplanten EUUnterhaltsverordnung, FPR 2008, 196. 148 Liste der Mitgliedstaaten . 149 S. Erwägungsgrund 8. 150 Rauscher/Andrae vor Art. 3 EuUntVO Rn. 23. 151 So auch der Befund bei Weller, FS Coester-Waltjen 2015, 897 (905 ff.). 152 Über die Vorgängerregelungen aus deutscher Perspektive Johannsen/Henrich Art. 18 EGBGB Rn. 1. 153 Johannsen/Henrich Art. 18 EGBGB Rn. 11. 154 Rauscher/Andrae vor Art. 3 EuUntVO Rn. 23.
A. Aufenthaltsanknüpfungen
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wenn die Parteien sich nicht gemäß Art. 7 Abs. 1 HUP auf die Wahl der lex fori einigen können. 155 Der aufenthaltsindizierte Gleichlauf von Zuständigkeit und anwendbarem Recht wird auch dadurch gestört, dass die Bestimmung des anwendbaren Rechts nach Art. 3 Abs. 2 HUP einer wandelbaren Anknüpfung unterliegt. Wechselt der Kläger im Laufe des Verfahrens seinen gewöhnlichen Aufenthalt, kommt ex nunc das Recht am neuen gewöhnlichen Aufenthaltsort zur Anwendung. 156 Diese Regelung liegt, vergleichbar mit den Grundanknüpfungen in früheren Haager Konventionen, im Interesse des Berechtigten, da sie die Anpassung laufender Unterhaltsansprüche an veränderte Lebensbedingungen erlaubt. 157 Zusammengefasst sieht die derzeitige Anknüpfungstechnik der EuUntVO im Zusammenspiel mit dem HUP aber nur dann einen Gleichlauf von Zuständigkeit und anwendbarem Recht vor, wenn das Verfahren am Aufenthaltsort des Klägers eingeleitet wird. 3. Internationales Kindschaftsrecht Die internationale Zuständigkeit in Sorgerechtssachen wird in der Union durch die EuEheVO geregelt, die sich vollständig der Aufenthaltsanknüpfung verschrieben hat.158 Da diese keine Regelungen über das anwendbare Recht vorsieht, wird das Internationale Privatrecht grenzüberschreitender Sorgerechtsstreitigkeiten auch im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten durch die Art. 15 ff. KSÜ bestimmt. 159 a) Sorgerechtsverfahren (Art. 8 Abs. 1 EuEheVO) Art. 8 Abs. 1 EuEheVO bestimmt die allgemeine Zuständigkeit der Gerichte und Behörden in Sorgerechtsfragen. Maßgeblich ist, wo das Kind im Zeitpunkt der Antragstellung (Art. 16 EuEheVO) seinen gewöhnlichen Aufenthalt besitzt. Aufenthaltswechsel des Kindes im Nachgang an die Verfahrenseröffnung sind unbeachtlich; das gilt allerdings nur, sofern der Umzug nicht in einen Drittstaat erfolgt. 160
155
Rechtspolitische Kritik bei Rauscher/AndraeArt. 3 EuUntVO Rn. 3. Johannsen/Henrich Art. 18 EGBGB Rn. 11; Rauscher/Andrae, Art. 3 HUP Rn. 13. 157 S.u. § 9 D. I. 158 Dazu Lamont, Habitual Residence and Brussels IIbis: Developing Concepts for European Private International Law, Journal of Private International Law 2007, 261. 159 E contrario Art. 61 EuEheVO; MüKoBGB/Siehr Anhang EuEheVO, Art. 15 KSÜ Rn. 1, 3. 160 Dazu KG, 2.3.2015 ± 3 UF 156/14 m.Anm. Rentsch, NZFam 2015, 474; Gruber, Die perpetuatio fori im Spannungsfeld von EuEheVO und den Haager Kinderschutzabkommen, IPRax 2013, 409; Saenger/Dörner Art. 8 EheGGVO Rn. 6. 156
300
§ 7 Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht
Innerhalb der Union ordnet Art. 8 Abs. 1 EuEheVO eine perpetuatio fori an.161 Sowohl der Anwendungsbereich als auch die an Art. 8 EuEheVO anschließenden Rechtsfolgen sind verhältnismäßig großzügig gehalten und ermöglichen einen effektiven Minderjährigenschutz. 162 Anders als die Vorgängernorm der Brüssel II-VO ist, erstens, der Anwendungsbereich der Norm weder persönlich auf eheliche Kinder (Art. 2 Nr. 7) noch sachlich auf Verfahren im Zusammenhang mit einer Ehesache beschränkt. 163 Zweitens setzt im Gegensatz zum gegenständlich parallelen KSÜ die perpetuatio fori bei späteren Umzügen unabhängig davon ein, ob der Aufenthaltswechsel des Kindes widerrechtlich164 oder rechtmäßig erfolgt ist. Art. 8 Abs. 1 EuEheVO genießt außerdem innerhalb der EU den Vorrang vor völkerrechtlichen Übereinko mmen (Art. 60 f. EuEheVO), insbesondere vor den Haager Konventionen zum Kinderschutz und zur Rechtshilfe. Für das Sekundärrecht sind diese Konventionen aber trotzdem relevant. Erstens bestimmen sie ergänzend zu den Vorschriften der EuEheVO die internationale Zuständigkeit in Fällen mit Drittstaatenbezug. 165 Insbesondere gilt das KSÜ dann, wenn das Kind nach der Eröffnung des Sorgerechtsverfahrens nach Art. 8 EuEheVO in einen Drittstaat umzieht und daher keine perpetuatio fori am Ort des früheren gewöhnlichen Aufenthalts erfolgt. In diesen Fällen bestimmt sich die internationale Zuständigkeit nach Art. 5, 7 KSÜ; anders als unter der EuEheVO muss in solchen Fällen die Widerrechtlichkeit des Ortswechsels nachgewiesen werden, um eine perpetuatio fori nach Art. 7 Abs. 1 KSÜ sicherzustellen. 166 Auch die mit Art. 8 EuEheVO verbundenen, völkerrechtlichen Verträge weisen dem gewöhnlichen Aufenthalt eine dominante Rolle zu. Er bestimmt sowohl in Art. 1 des MSA von 1961,167 als auch in Art. 5 Abs. 1 des KSÜ die
BGH, 17.2.2010 ± XII ZB 68/09 ± BGHZ 184, 269 ± FamRZ 2010, 720; Solomon, FamRZ 2004, 1409 (1411); Saenger/Dörner Art. 8 EheGGVO, Rn. 6. Diese perpetuatio fori soll laut Reformentwurf zur EuEheVO durch eine wandelbare Aufenthaltszuständigkeit ersetzt werden. 162 Coester-Waltjen, Die Berücksichtigung der Kindesinteressen in der neuen Verordnung Brüssel II a, FamRZ 2005, 241 (244). 163 Saenger/Dörner Vor Art. 8±15 EheGGVO, Rn. 1. 164 Das heißt gegen den Willen einer erziehungsberechtigten Person oder Behörde (Art. 7 Abs. 1 lit. a) KSÜ). 165 Zum Verhältnis der Übereinkommen zur EuEheVO s. Bericht der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss über die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates uȋber die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Veror dnung (EG) Nr. 1347/2000 vom 15.4.2014, COM(2014) 225 endg., 2. Zu den praktischen Konsequenzen KG ± 3 UF 156/14 ± m.Anm. Rentsch, NZFam 2015, 474. 166 KG Berlin ± 3 UF 156/14 ± m.Anm. Rentsch, NZFam 2015, 474. 167 Der Vorrang der EuEheVO ergibt sich aus deren Art. 61 lit. a) EuEheVO. 161
A. Aufenthaltsanknüpfungen
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internationale Zuständigkeit der Behörden und Gerichte. 168 Vor deutschen Gerichten dient der gewöhnliche Aufenthalt schließlich der Bestimmung der örtlichen Zuständigkeit, § 152 Abs. 2 FamFG. 169 Auch in Art. 9 Abs. 1 EuEheVO nimmt der gewöhnliche Aufenthalt eine dominante Rolle ein. Die Vorschrift gilt ausschließlich für Änderungsanträge zu bereits vorhandenen Sorgerechtsentscheidungen. 170 In solchen Fällen bleiben bei einem Aufenthaltswechsel des Kindes in einen anderen Mitgliedstaat die Gerichte am früheren Aufenthaltsort für eine Dauer von drei Monaten zuständig, sofern ein sorgeberechtigter Elternteil sich noch dort befindet und dem Umzug nicht nach Art. 9 Abs. 2 EuEheVO zugestimmt hat. Ebenso wie im Rahmen des Art. 8 Abs. 1 EuEheVO ordnet das Gesetz dann eine perpetuatio fori an. 171 Der gewöhnliche Aufenthalt bestimmt in diesem Rahmen sowohl, an welchem Ort die Gerichtszuständigkeit erhalten bleibt, als auch, wo im Nachgang an einen Aufenthaltswechsel eine neue Gerichtszuständigkeit begründet wird. b) Rückführungsmaßnahmen (Art. 10±12 EuEheVO) Für behördliche Rückführmaßnahmen, insbesondere für Kindesentführungen, Art. 10 EuEheVO, gilt Ähnliches. 172 Gemeinsam mit den Art. 9, 12 EuEheVO geht die Vorschrift der allgemeinen Zuständigkeit in Art. 8 Abs. 1 EuEheVO vor.173 Im Fall einer widerrechtlichen Verbringung des Kindes in einen anderen Mitgliedstaat bleiben die Gerichte des Herkunftsstaates so lange zuständig, bis entweder sämtliche sorgerechtsberechtigten Personen der Verbringung zugestimmt haben ( lit. a)) oder der Aufenthaltswechsel mehr als ein Jahr zurückliegt und Rückführungsversuche entweder gewollt unterlassen wurden oder gescheitert sind (lit. b). In Rückführungsfällen entscheidet der gewöhnliche Aufenthalt damit in doppelter Hinsicht über die behördliche und gerichtliche Zuständigkeit: Erstens bestimmt er mittelbar die ursprüngliche Zuständigkeit, zweitens determiniert er unmittelbar die nachfolgende Zuständigkeit. Das Rückführungsregime der EuEheVO ist wesentlich straffer als das des HKÜ. Die effektive Rechtsdurchsetzung überwiegt hier den Respekt vor der behördlichen Souveränität der Mitgliedstaaten. 174
168
Zum Zusammenspiel der drei Instrumente s. Trimmings, Child Abduction within the European Union, 2013, 7 ff. 169 BeckOKFamFG/Schlünder Art. 152 FamFG, Rn. 6a. 170 Saenger/Dörner Art. 9 EuEheVO, Rn. 4. 171 OLG München, 26.7.2011 ± 33 UF 874/11 | V 1347/00 ± FamRZ 2011, 1887; Saenger/Dörner Art. 9 EheGVVO Rn. 4, 6. 172 Zur Entwicklungsgeschichte Trimmings, Child Abduction, 2013, 7 ff. 173 Saenger/Dörner Art. 8 EheGGVO, Rn. 1. 174 Trimmings, Child Abduction, 2013, 4, passim, hält die Verschärfung für unnötig.
302
§ 7 Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht
c) Anwendbares Recht: Haaager Kinderschutzübereinkommen Das Haager Kinderschutzübereinkommen verdrängt in seinem Anwendungsbereich das autonome kindschaftsrechtliche IPR der Mitgliedstaaten, steht aber nachrangig hinter der EuEheVO. 175 Entsprechend wird innerhalb der Union die internationale Zuständigkeit durch die EuEheVO, das anwendbare Recht dagegen durch das KSÜ bestimmt. Art. 15 Abs. 1 KSÜ bestimmt, dass die zuständigen staatlichen Stellen für Maßnahmen auf dem Gebiet des Kinderschutzes ihr eigenes Recht anwenden. Im Grundsatz verweist das KSÜ damit auf die durch die EuEheVO ermittelte lex fori. 176 Der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes erfüllt hier indirekt eine sachrechtsbestimmende Funktion: Gemäß Art. 8 Abs. 1, 10, 12 und 15 EuEheVO bestimmt er über die internationale Gerichtszuständigkeit in Sorgerechtsfragen und Rückführmaßnahmen. In allen Fällen kann es auch zu einer Spaltung zwischen internationaler Zuständigkeit und anwendbarem Recht kommen, wenn das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hat. In Fällen einer gesetzlichen (Abs. 1) oder rechtsgeschäftlichen (Abs. 2) Zuweisung der elterlichen Verantwortung, Art. 16 KSÜ, bestimmt der gewöhnliche Aufenthalt auch das anwendbare Recht. Im Gegensatz zu den Regelungen des MSA bestimmen sich ex lege-Gewaltverhältnisse nicht nach dem Heimatrecht des Kindes, sondern nach dem gewöhnlichen Aufenthalt. 177 Im Fall eines Aufenthaltswechsels ordnet das KSÜ eine Fortgeltung des Rechts am letzten gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes an (Art. 16 Abs. 3 KSÜ).178 Zu einem Statutenwechsel im Hinblick auf das Kind kommt es dagegen, wenn die elterliche Sorge nicht geändert, sondern neu zugewiesen wird (Art. 16 Abs. 4 KSÜ).179 d) Fazit Der gewöhnliche Aufenthalt bestimmt sowohl im verordnungsrechtlichen als auch im staatsvertraglichen IZVR der elterlichen Sorge die internationale Zuständigkeit und das anwendbare Recht. Diese sämtliche Regelungsebenen überspannende Bedeutung des Begriffs ist aber keineswegs nur der Pionierarbeit des EU-Gesetzgebers durch die EuEheVO geschuldet. Vielmehr ist das genaue Gegenteil der Fall. Sowohl Art. 8 als auch Art. 10 EuEheVO orientieren sich in ihrer inhaltlichen Gestaltung unmittelbar an den staatsvertraglichen Vorbildern des MSA, des KSÜ und des HKÜ.180
175
Art. 61 EuEheVO. Zu Alternativvorschlägen MüKoBGB/Siehr Anhang EuEheVO Art. 15 KSÜ Rn. 6. 177 S.o. § 4 B. III. 4. c) bb). 178 MüKoBGB/Siehr Anhang EuEheVO Art. 15 KSÜ Rn. 3. 179 MüKoBGB/Siehr Anhang EuEheVO Art. 15 KSÜ Rn. 4. 180 Vgl. statt vieler EuGH ± C-523/07 ± A ./. Perusturvalautakunta, Schlussanträge der Generalanwältin Kokott, Rn. 23. Zum Einfluss dieser Staatsverträge auf das deutsche 176
A. Aufenthaltsanknüpfungen
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4. Internationales Ehegüterrecht a) Institutioneller Rahmen Auch in der EuGüVO und in der EuPartVO nimmt der gewöhnliche Aufenthalt eine bestimmende Rolle bei der Ermittlung des anwendbaren Rechts ein. Ebenso wie bei der EuErbVO handelt es sich bei beiden Projekten um ÄPaketverordnungen³: Sowohl die Vorschriften über die internationale Zuständigkeit als auch die über das anwendbare Recht sind also im selben Verordnungsdokument geregelt. 181 Regelmäßig sind zuständigkeits- und sachrechtsbestimmende Vorschriften auch stärker aneinander angeglichen, als es bei getrennten Verordnungen der Fall wäre. Die EuGüVO wurde zunächst als reguläre Verordnung auf Grundlage der Art. 81 Abs. 2, 3 AEUV diskutiert. Dass und warum das Ehegüterrecht mittlerweile den Gegenstand einer Verstärkten Zusammenarbeit von insgesamt 18 Mitgliedstaaten bildet (Art. 326 AEUV), wurde im ersten Teil der Arbeit erläutert. 182 Dort wurde auch erwähnt, dass der Wechsel in der Rechtsgrundlage vergleichbar mit der Rom III-VO die acquis-Teilhabe der Rechtsprechung und Dogmatik zum EuGüVO ausschließt. b) Systematik der Aufenthaltsanknüpfungen Dass die güterrechtlichen Verordnungen im Ergebnis nicht auf Grundlage von Art. 81 Abs. 3 AEUV verabschiedet werden konnten, ist umso bedauerlicher für das Ziel der vorliegenden Arbeit, als der gewöhnliche Aufenthalt in der EuGÜVO in zahlreichen Schattierungen zum Einsatz kommt. Grob lassen sich vier Funktionen erkennen. In der EuGüVO bestimmt der gewöhnliche Aufenthalt die regelmäßige internationale Zuständigkeit (Art. 6 lit. a)±c) EuGüVO). In beiden Verordnungen entscheidet er, welche Rechtsordnungen die Partner im Wege einer Rechtswahl als anwendbares Recht bestimmen können (Art. 22 Abs. 1 lit. a) EuGüVO/EuPartVO). Auch das in Ermangelung einer Rechtswahl anwendbare Recht bestimmt sich in Ansehung des gewöhnlichen Aufenthalts (Art. 26 Abs. 1 lit. a) EuGüVO/EuPartVO), wobei er, viertens, auch die Grundlage für ein Abweichen von der Grundanknüpfung bilden kann (Art. 26 Abs. 3 lit. a) EuGüVO bzw. Art. 26 Abs. 2 EuPartVO). Lediglich in Art. 26 Abs. 1 EuPartVO wird die Aufenthaltsanknüpfung nicht durchgehalten. Stattdessen kommt, ebenso wie in Art. 17b EGBGB, das
Recht s. Graul, Die Tendenz zur Aufenthaltsanknüpfung im Internationalen Kindschaftsrecht, 2002. 181 Wagner, Aktuelle Entwicklungen in der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen, NJW 2011, 1404 (1405). 182 S.o. § 2 D. II. 1. b) aa).
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§ 7 Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht
Recht zur Anwendung, nach dem die Lebenspartnerschaft begründet wurde.183 Die allgemeine Zuständigkeit nach Art. 6 EuGüVO/EuPartVO ist subsidiär zu den durch Art. 4 und 5 vorgeschriebenen, vorrangigen Verbundgerichtsständen.184 Ehegüterrechtliche Streitigkeiten sind also vorrangig vor solchen Gerichten anhängig zu machen, die bereits mit einem laufenden Nachlass(Art. 4 EuGüVO/EuPartVO) oder einem Scheidungsverfahren (Art. 5 Abs. 1 EuGüVO/EuPartVO) befasst sind. Die Rechtsfolgeanordnungen beider Zuständigkeitsbestimmungen sind allerdings unterschiedlich. In ein laufendes Nachlassverfahren müssen ehegüterrechtliche Streitigkeiten mit einbezogen werden, Art. 4 EuGüVO/EuPartVO. Im laufenden Scheidungsverfahren weicht diese zwingende Anordnung unter den alternativen 185 Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 2 EuGüVO/EuPartVO einer Prorogationsmöglichkeit der Parteien. Auch hier hat der gewöhnliche Aufenthalt sowohl direkt als auch indirekt ein bestimmendes Gewicht. Abs. 2 lit. a) und b) eröffnen den Parteien eine Prorogationsmöglichkeit, sofern sich die Zuständigkeit des Scheidungsgerichts aus Art. 3 Abs. 1 lit. a) 5. und 6. Spstr. EuEheVO ergibt, also nur ein Ehegatte in der Jurisdiktion des zuständigen Gerichts seinen gewöhnlichen und seit mindestens einem Jahr seinen tatsächlichen Aufenthalt hat (5. Spstr.) oder sich dort seit sechs Monaten aufhält, aber die Staatsangehörigkeit des Aufenthaltslandes besitzt (6. Spstr.). Dabei handelt es sich aber nicht um eine Äechte³ Gerichtsstandsvereinbarung, sondern lediglich um eine deklaratorische oder bestätigende Prorogation.186 Dass sich die an der Verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten hier für eine Öffnung der EuGüVO und der EuPartVO entschieden haben, erklärt sich durch die schwache Aussagekraft des tatsächlichen und gewöhnlichen Aufenthalts eines einzigen Ehegatten für den räumlichen Schwerpunkt einer ehelichen Lebensgemeinschaft. Inhaltliche Unterschiede zwischen beiden Statuten geben dabei nicht den Ausschlag. Im Gegenteil stehen die Rechtsverhältnisse einer einzigen ehelichen Lebensgemeinschaft im Zentrum der Betrachtung. Der Vorrang der Verbundsachen relativiert jedenfalls in der EuGüVO den gesetzgeberisch intendierten Gleichlauf von forum und ius. Zwar bestimmt auch im Scheidungsverfahren der gewöhnliche Aufenthalt der Ehegatten über die internationale Gerichtszuständigkeit, die Beurteilungszeitpunkte weichen aber voneinander ab. In ehegüterrechtlichen Fragen soll sowohl in Zuständigkeits183 Zur autonom-unionsrechtlichen Definition des Lebenspartnerschaftsbegriffs in Art. 3 Abs. 1 lit. a) EuPartVO s. Dutta, Das neue internationale Güterrecht der Europäischen Union ± ein Abriss der europäischen Güterrechtsverordnungen, FamRZ 2016, 1973 (1976). 184 Dutta, FamRZ 2016, 1973 (1978). 185 S. Art. 5 Abs. OLWF (X*92ÄRGHU³GD]XDutta, FamRZ 2016, 1973 (1978). 186 Mankowski, Die internationale Zuständigkeit in Ehegütersachen, in: DNotI (Hrsg.), Die Europäischen Güterrechtsverordnungen, Tagungsband, i.E.
A. Aufenthaltsanknüpfungen
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als auch in Verweisungsfragen der räumliche Schwerpunkt einer Ehe oder Partnerschaft entscheiden, der ex ante aus dem Zeitpunkt der Eheschließung beurteilt wird. Anders verhält es sich bei der Auflösung der ehelichen Gemeinschaft, der regelmäßig ein Zeitraum der Trennung nachfolgt. Für Nachlassverfahren gilt nichts Anderes. Die gleichlautenden Erwägungsgründe 32 187 und 34 188 zur EuGüVO und EuPartVO bestätigen, dass der indizierte Vorrang der Verbundzuständigkeit im Spannungsverhältnis zwischen der Verfahrenskonzentration im Verbundverfahren und einer mobilitätsgerechten Zuordnung von Güterrechtsstreitigkeiten steht. Ob die bereits erwähnte, bestätigende Prorogation diese Spannung interessengerecht überwindet, ist fraglich, muss aber im vorliegenden Rahmen unbeantwortet bleiben. Obwohl die Subsidiarität des allgemeinen Aufenthaltsgerichtsstandes (Art. 6 Abs. 1 EuGüVO/EuPArtVO) den Gleichlauf von forum und ius relativiert, der jedenfalls durch die EuGüVO eindeutig beabsichtigt ist, 189 lässt die EuGüVO ein deutliches Bekenntnis zur Gleichlaufförderung erkennen. 190 Zuständig ist nach Art. 6 Abs. 1 das Gericht am gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthaltsort der Ehegatten im Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung (lit. a)), alternativ das Gericht des letzten gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthaltes, sofern ein Ehegatte im Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat (lit. b)), ferner das Gericht am gewöhnlichen Aufenthaltsort des Antragsgegners (lit. c)), und alternativ, viertens, das Gericht im Land der gemeinsamen Staatsangehörigkeit oder des gemeinsamen domicile der Ehegatten (lit. d)). Art. 7 Abs. 1 EuGüVO/EuPartVO räumt den Ehegatten das Recht ein, die Gerichtszuständigkeit im Wege der Prorogation an Ä8P GHU ]XQHKPHQGHQ 0RELOLWlW von Paaren während ihres Ehelebens Rechnung zu tragen und eine geordnete Rechtspflege zu erleichtern, sollten die Zuständigkeit svorschriften in dieser Verordnung den Buȋrgern die Möglichkeit geben, miteinander zusammenhängende Verfahren vor den Gerichten desselben Mitgliedstaats verhandeln zu ODVVHQ³ 188 Ä)UDJHQGHVHKHOLFKHQ*uȋterstands, die sich im Zusammenhang mit einem Verfahren ergeben, das bei einem mit einer Ehescheidung, einer Trennung ohne Auflösung des Ehebands oder der Unguȋltigerklärung einer Ehe gemäß der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 befassten Gericht eines Mitgliedstaats anhängig ist, [sollen] in die Zustä ndigkeit der Gerichte dieses Mitgliedstaats fallen, es sei denn, die Zuständigkeit fuȋr Entscheidungen uȋber Ehescheidung, Trennung ohne Auflösung des Ehebands oder Unguȋltigerklärung der Ehe darf nur auf spezielle Zuständigkeitsregeln gestuȋtzt werden. In solchen Fällen sollte eine Buȋndelung der Zuständigkeit der Zustimmung der Ehegatten beduȋUIHQ³ 189 Ganz anders hält es die EuErbVO: Sie scheint vorauszusetzen, dass ein Gleichlauf von forum und ius den Interessen von Einzelpersonen regelmäßig zuträglich ist, s. Erwägungsgrund 27 zur EuErbVO. 190 S. Erwägungsgrund 32. Art. 26 Abs. 1 EuPartVO fällt mit der Anknüpfung an den Begründungsort der Lebenspartnerschaft aus diesem Rahmen. Die folgenden Ausführungen beschränken sich daher auf die Systematik der EuGüVO. 187
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§ 7 Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht
das kraft Art. 22 EuGüVO/EuPartVO gewählte und sogar das nach Art. 26 EuGüVO/EuPartVO objektiv berufene Recht anzupassen. Die Bestimmung des in Ermangelung einer Rechtswahl anwendbaren Rechts folgt in der EuGüVO der Gestaltung der Gerichtsstandsnormen. Art. 26 Abs. 1 EuGüVO beruft vorrangig das Recht am ersten gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthaltsort der Ehegatten (lit. a)), dann das Recht der einzigen gemeinsamen Staatsangehörigkeit (lit. b) Abs. 2) und schließlich subsidiär das Recht der engsten Verbindung im Einzelfall (lit. c)). Der Gleichlauf wird nicht durch einseitige Zuständigkeiten durchbrochen, wie es in den Art. 3 Abs. 1 lit. a), 4.-6. Spstr. EuGüVO/EuPartVO der Fall ist. Unterschiede zwischen Art. 6 Abs. 1 und Art. 26 Abs. 1 EuGüVO lassen sich insbesondere im Hinblick auf den Anknüpfungszeitpunkt erkennen. Die Art. 6 lit. a) und b) EuGüVO wählen mit dem Moment der Verfahrenseröffnung und dem der letzten gemeinsamen Aufenthaltsbegründung zwei alternative Bezugspunkte, während Art. 17 Abs. 1 lit. a) unwandelbar an den ersten gewöhnlichen Aufenthalt nach der Eheschließung anknüpft. Wie Erwägungsgrund 46 belegt, soll die unwandelbare Anknüpfung Äunkontrollierte³ Statutenwechsel verhindern.191 So werden einerseits die berechtigten Erwartungen der Parteien geschützt, wird andererseits aber auch die Sicherheit des Rechtsverkehrs gewährleistet. Gleichzeitig vergrößert die starre Anknüpfung aber den Abstand zwischen aufenthaltsbasierten Gerichtsstands- und Kollisionsnormen. Insbesondere muss der gewöhnliche Aufenthalt der Ehegatten im Zeitpunkt der Verfahrenseinleitung nicht zwingend mit dem im Zeitpunkt der Eheschließung zusammenfallen. Indem der Verordnungsgeber sich für einen Gleichlauf im Anknüpfungsmoment, aber gegen eine zeitliche Gleichschaltung der Bestimmung von Zuständigkeit und anwendbarem Recht entschieden hat, stellt er jedoch sicher, dass die räumlich-zeitliche Gerechtigkeit auf beiden Ebenen der Lokalisierung von Sachverhalten mit Auslandsbezug bestmöglich berücksichtigt wird. IV. Internationales Erbrecht Im Internationalen Erbrecht hat die Kollisionsrechtsharmonisierung eine Äkleine Revolution³ 192 zugunsten des gewöhnlichen Aufenthalts eingelei-
191 Ä,P ,QWHUHVVH der Sicherheit des Rechtsverkehrs und um zu verhindern, dass sich das auf den ehelichen Guȋterstand anzuwendende Recht ändert, ohne dass die Ehegatten davon unterrichtet werden, sollte ein Wechsel des auf den ehelichen Guȋterstand anzuwendenden Rechts nur nach einem entsprechenden ausdruȋcklichen Antrag der Parteien möglich sein. Dieser von den Ehegatten beschlossene Wechsel sollte nicht ruȋckwirkend gelten, es sei denn, sie haben das ausdruȋcklich vereinbart. Auf keinen Fall duȋrfen dadurch die Rechte DriWWHUYHUOHW]WZHUGHQ³ 192 Mankowski, IPRax 2015, 39.
A. Aufenthaltsanknüpfungen
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tet. 193 Anstatt der überkommenen, erbrechtlichen Anknüpfungen der Mitgliedstaaten an die Staatsangehörigkeit, den Wohnsitz oder den Belegenheitsort194 bestimmt der letzte gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers als objektive Universalanknüpfung sowohl nach Art. 3 EuErbVO über die internationale Zuständigkeit der Nachlassgerichte als auch nach Art. 21 Abs. 1 EuErbVO über das anwendbare Recht. In der Gesetzgebungsgeschichte der EuErbVO wird die Entscheidung für das Aufenthaltsprinzip im ersten Grünbuch zur EuErbVO getroffen. 195 Anders als die rechtsvergleichende Studie des Deutschen Notarinstituts aus dem Jahr 2001, die eine eindeutige Präferenz für die objektive Primäranknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt erkennen lässt,196 bezieht der Entwurf nicht klar Stellung zu den Vor- und Nachteilen der Staatsangehörigkeit, des Domizils oder Wohnsitzes und des gewöhnlichen Aufenthalts. 197 Stattdessen stellt er die Vor- und Nachteile aller drei Momente zur Diskussion. 198 Insbesondere lässt der Kommissionsentwurf offen, ob die erbrechtlichen Anknüpfungsinteressen überhaupt durch einen einzigen der drei zur Verfügung stehenden objektiven Anknüpfungspunkte angemessen geschützt werden können oder ob ein Verordnungsentwurf stattdessen mit einer Kombination der Anknüpfungsmomente arbeiten sollte. 199 Die endgültige Entscheidung für den gewöhnlichen Aufenthalt fällt damit erst im Verordnungsvorschlag aus dem Jahr 2009. 200 Ihre wesentliche Motivation scheint sie aus der Überlegung zu beziehen, dass der gewöhnliche Aufenthalt im Gegensatz zum in Kontinentaleuropa vorher weit verbreiteten Staatsange-
193
Geimer, Die geplante Europäische Erbrechtsverordnung, in: Reichelt/Rechberger (Hrsg.), Europäisches Erb- und Erbverfahrensrecht, 2011, 1 (24). 194 Rechtsvergleichender Überblick unter anderem bei Bonomi, Successions internationales: Conflit de lois et de juridictions, RdC 350 (2010) 91 (172 f.). 195 KOM(2005) 65 endg. (nicht im Amtsblatt veröffentlicht). 196 Dörner/Lagarde, in: DNotI, Perspektiven, 2002, 169. 197 Ibid., 169 (262). 198 .20 HQGJ Ä,P (Ubrecht gibt es jedoch kein Anknpfungskriterium, mit dem nicht auch Nachteile verbunden wären. Wird als Anknpfungspunkt der letzte Wohnsitz des Erblassers gewählt, könnte dies beispielsweise zur Anwendung eines Rechts fhren, das nur sehr wenige Verbindungen zur Erbsache aufweist: z.B. wenn der Erblasser nicht die Staatsangehörigkeit des Landes besitzt, in dem der Erbfall eintritt, und sich der größte Teil seines Vermögens in einem anderen Land befindet. Soll man also an einem HLQ]LJHQ $QNQpfungspunkt festhalten? Oder wäre eine gewisse Flexibilität vorzuziehen, d.KVROOWHGHQ%HWHLOLJWHQJDUHLQHJHZLVVH0LWVSUDFKHHLQJHUlXPWZHUGHQ"³ 199 .20 HQGJ Ä:LH VR RIW LP ,QWHUQDWLRQDOHQ 3ULYDWUHFKW LVW GLH 9HUV uchung groß, nach einem Anknpfungspunkt zu suchen, der alle Probleme löst. In Frage käme die Staatsangehörigkeit, die lange Zeit die erste Wahl war, oder der Ort des gewöhnliFKHQ$XIHQWKDOWVDOVÃPRGHUQHUHµ /|VXQJ³ 200 KOM (2009)154 endg., 6.
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hörigkeitsprinzip 201 integrationspolitische und zeitgeistbedingte gesellschaftliche Erwartungen an das anwendbare Recht befriedigen kann. 202 1. Anknüpfungssystematik Die internationale Zuständigkeit der Nachlassgerichte, Art. 3 EuErbVO, erfolgt abschließend durch den gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers. Die Möglichkeit, vom Aufenthaltsgerichtsstand abzuweichen, besteht nur, wenn der Erblasser eine Rechtswahl zugunsten seines Heimatrechts getroffen hat (Art. 5 Abs. 1 EuErbVO); sie steht außerdem nicht dem Erblasser, sondern dessen Nachkommen zu. Zur Bestimmung des anwendbaren Rechts arbeitet die EuErbVO mit mehreren Optionen. Der Erblasser kann zunächst durch eine Rechtswahl bestimmen, dass sein Heimatrecht zur Anwendung kommt (Art. 22 Abs. 1 EuErbVO). Bleibt diese aus, bestimmt der letzte gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers das anwendbare Recht, allerdings mit zwei Ausnahmen. Erstens erlaubt die Ausweichklausel des Art. 21 Abs. 2 EuErbVO ein Abweichen von der objektiven Grundanknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt, wenn sich eine offensichtlich engere Verbindung zum Recht eines anderen Staates erkennen lässt. Zweitens erklärt Art. 34 Abs. 1 EuErbVO das Internationale Privatrecht eines Drittstaates 203 für beachtlich, wenn dieser in das Recht eines Mitgliedstaates zurückführt (lit. a)) oder das Recht eines Staates zur Anwendung bringt, dessen Erbstatut sich nach der lex fori bestimmt (lit. b)).204 Führt die Aufenthaltsanknüpfung in einen Drittstaat, spricht sie also kein endgültiges Verweisungsergebnis aus, sondern steht unter dem Vorbehalt eines renvoi. Mit dieser Regelung hebt sich die EuErbVO entscheidend von den Verordnungen Rom I, II und III ab.205 2. Anknüpfungszwecke Die Folgen dieser grundlegenden Neuorientierung 206 für die Rechtspraxis lassen sich aus heutiger Sicht nur prognostizieren; umso wichtiger wiegt daher die Motivation des Unionsgesetzgebers. Insoweit kann weitgehend auf die im ersten Teil der Arbeit skizzierten Überlegungen verwiesen werden. Darüber hinaus weist die Verordnung dem gewöhnlichen Aufenthalt zwei spezifische Funktionen zu. Erstens findet der Begriff Verwendung, um angesichts wachsender individueller Mobilität einen nicht nur sinnvollen, sondern auch mit 201
Rechtsvergleichender Überblick bei Bonomi RdC 350 (2010) 91 (172 f.). Die Einschätzung bei Mankowski, IPRax 2015, 39 (40) deckt sich insoweit mit der in Fn. 157 wiedergegebenen Passage des EuErbVO-Entwurfes. 203 Im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten gilt ohnehin die EuErbVO. 204 Vgl. Erwägungsgrund 57 EuErbVO. 205 Dazu Rühl/von Hein, RabelsZ 79 (2015), 701 (724). 206 Mankowski, IPRax 2015, 39: ÄEHUUDJHQGZLFKWLJH,QQRYDWLRQ³. 202
A. Aufenthaltsanknüpfungen
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primärrechtlichen Justizgewährleistungsaspekten vereinbaren Gleichlauf zwischen internationaler Zuständigkeit und anwendbarem Recht positiv sicherzustellen. Dieses Ziel stellt wie erwähnt ein zentrales Anliegen der EuErbVO dar. 207 Neben dem bereits erwähnten parallelen Rückgriff auf die Aufenthaltsanknüpfung führt die Verordnung weitere Mechanismen ein, um das Gleichlaufziel zu fördern. Erwägungsgrund 27 bestätigt, 208 dass dazu auch Art. 5 Abs. 1 EuErbVO gehört. Sofern der Erblasser von seiner Rechtswahlmöglichkeit nach Art. 22 Abs. 1 EuErbVO Gebrauch gemacht hat und das Erbstatut infolgedessen vom aufenthaltsindiziert ermittelten forum abweicht (Art. 3 EuErbVO),209 eröffnet diese Vorschrift den Erben die Möglichkeit, die Gerichtszuständigkeit im Wege einer Prorogation an das vom Erblasser gewählte Heimatrecht anzugleichen. Allerdings wird der Gleichlauf auch im Rahmen des anwendbaren Rechts nur bedingt umgesetzt. Erstens besteht die Möglichkeit eines renvoi in das Recht eines Drittstaates; zweitens kann die Ausweichklausel des Art. 21 Abs. 1 EuErbVO einem anderen Recht als dem des Forumstaates zur Anwendung verhelfen. Ein weiterer Anknüpfungszweck lässt sich aus dem 2005 ausgearbeiteten Grünbuch der Kommission zur EuErbVO erkennen. Die Entscheidung für den gewöhnlichen Aufenthalt wird dort mit dem Argument begründet, die Anknüpfung an den Wohnsitz und die Staatsangehörigkeit führe regelmäßig in eine andere Rechtsordnung als diejenige, an dem sich der Belegenheitsort der wesentlichen Vermögensgegenstände des Erblassers befindet.210 Die aktuelle Fassung der EuErbVO berücksichtigt dieses Anliegen durch die Zweifelsregelung in Erwägungsgrund 24. 211
Mankowski, IPRax 2015, 39: ÄSROLWLVFKH>V@.HUQVWFN³. Ä 'LH9RUVFKULIWHQGLHVHU9HURUGQXQJVLQGVRDQJHOHJWGDVVVLFKHUJHVWHOOWZLUG dass die mit der Erbsache befasste Behörde in den meisten Situationen ihr eigenes Recht anwendet. Diese Verordnung sieht daher eine Reihe von Mechanismen vor, die dann greifen, wenn der Erblasser fuȋr die Regelung seines Nachlasses das Recht eines Mitgliedstaats gewählt hat, dessen StaatsangehörigeUHUZDU³ 209 S. Erwägungsgrund 28. 210 Indirekt KOM(2005) 65, 2. 211 Es spricht aber auch unabhängig von dieser Auslegungsregel viel dafür, dass der Gesetzgeber dem gewöhnlichen Aufenthalt auch die Funktion zuerkennt, die kollisionsrechtliche Gerechtigkeitserwartung hinter der lex rei sitae einzufangen. Diese Eigenschaft grenzt den gewöhnlichen Aufenthalt sowohl vom Staatsangehörigkeits- als auch vom Domizilprinzip ab, s. bereits oben § 6 II. 2. b) bb). 207 208
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V. Allgemeiner Aufenthaltsgerichtsstand de lege ferenda 1. Stand der Diskussion Die im Jahr 2012 revidierte Fassung der EuGVVO 212 öffnet sich im Gegensatz zur EuInsVO nicht für den gewöhnlichen Aufenthalt, 213 sondern greift zur Bestimmung des allgemeinen Gerichtsstands nach wie vor auf den Wohnsitz zurück.214 Mit der Entscheidung, mit Art. 4 Abs. 1 EuGVVO den allgemeinen Wohnsitzgerichtsstand beizubehalten, setzt sich der Verordnungsgeber über vergangene und aktuelle Kritik in der Literatur hinweg. 215 Der folgende Abschnitt nimmt diesen Befund zum Anlass für eine kritische Bewertung der allgemeinen Wohnsitzanknüpfung in der EuGVVO. Er möchte zeigen, dass nicht nur die ursprüngliche Übernahme der Wohnsitzanknüpfung in das EuGVÜ auf kritikwürdigen Motiven beruht, sondern auch aktuell kein Anlass für einen allgemeinen Wohnsitzgerichtstand besteht. 216 Soweit die folgenden Ausführungen auf den Wohnsitzgerichtsstand Bezug nehmen, beschränken sie sich auf die allgemeine Gerichtsstandsbestimmung in Art. 4 Abs. 1 EuGVVO. Die besonderen Wohnsitzgerichtsstände sowie deren Funktion der Wohnsitzanknüpfung im Rahmen der Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen müssen dagegen unbeachtet bleiben. Ein Vergleich von gewöhnlichem Aufenthalt und Wohnsitzanknüpfung legt deutliche Unterschiede zwischen beiden Konzepten offen. Der gewöhnliche Aufenthalt wird unionsrechtsautonom bestimmt, während der Wohnsitz sich traditionell nach der lex fori, in der Bundesrepublik nach § 7 BGB, bemisst. 217 Da dem EuGH damit die Auslegungshoheit für den Wohnsitzbegriff fehlt, ist auch einer in die Kodifikation einmündenden, begrifflichen Annäherung, wie sie für das COMI zu beobachten war, grundsätzlich der Weg ver212
Verordnung (EU) Nr. 517/2013 vom 13.5.2013, in Kraft getreten am 1.7.2013. VO (EU) Nr. 1215/2012 vom 6.12.2012, in Kraft seit 10.1.2015. Vgl. zur Genese der Reform Vorschlag für eine Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Neufassung) vom 14.12.2010, KOM (2010) 748 endg., 25; dazu auch Wagner, NJW 2012, 1333. 214 Vgl. Art. 5 Brüssel Ia-VO. 215 Vgl. statt vieler Hess, EuZPR, § 6 Rn. 40, der die :RKQVLW]]XVWlQGLJNHLWDOVÄXQEeIULHGLJHQG XQG XQSUDNWLNDEHO³ EH]HLFKQHW sowie Kropholler/von Hein Art. 59 EuGVVO 5QGLHGDULQHLQHÄNRPSOL]LHUW>H@XQGVFKZHUIlOOLJ>H@ /|VXQJ³VHKHQ)UGHQ$XIHQthaltsgerichtsstand sprechen sich Hess/Pfeiffer/Schlosser Study JLS/C4/2005/03, Rn. 187 f. sowie dies., The Brussels I Regulation, Rn. 177, aus. 216 Die Argumente für eine Übernahme der Aufenthaltsanknüpfung in die EuGVVO können hier nur kurz dargestellt werden; eine Aufarbeitung in gutachterlicher Form mit ausführlichen Länderberichten halten Hess/Pfeiffer/Schlosser, Study JLS/C4/2005/03, 85 ff., Rn. 180 ff. bereit. 217 Zu den Versuchen der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht, ein Konventionsdomizil und mit ihm eine autonome Wohnsitzdefinition zu schaffen, s.o. § 4 B. II. 1. 213
A. Aufenthaltsanknüpfungen
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schlossen. 218 Allerdings erscheint es möglich, entweder die allgemeine Wohnsitzanknüpfung de lege ferenda zugunsten des gewöhnlichen Aufenthalts aufzugeben oder die besonderen Zuständigkeiten der EuGVVO für den gewöhnlichen Aufenthalt zu öffnen. Dass die EuGVVO nach wie vor mit einer Grundanknüpfung an den Wohnsitz arbeitet, beruht keineswegs auf einem Versehen des Verordnungsgebers. Zwar wurde die insoweit maßgebliche Ausgangsvorschrift des Art. 5 Abs. 1 EuGVVO weitgehend kommentarlos 219 aus dem Konventionstext des EuGVÜ von 1968 übernommen; 220 im Rahmen der Verhandlungen und Expertenberichte zum Übereinkommen selbst wurde dem Wohnsitz aber ausdrücklich der Vorzug vor einem möglichen Aufenthaltsgerichtsstand gewährt. 221 Allgemeine Akzeptanz hat die Überlegung erfahren, dass ein allgemeiner Aufenthaltsgerichtsstand der mitgliedstaatlichen Tradition im internationalen Zivilprozessrecht widerspreche.222 Vorgetragen wurde auch, der gewöhnliche Aufenthalt lasse sich durch das normative Tatbestandselement der ÄGewöhnlichkeit³ nur schwer abstrakt einfassen.223 Die Probleme dieser Unschärfe ließen sich nicht zuletzt daran erkennen, dass der Begriff in den Mitgliedstaaten der damaligen EWG durch unterschiedliche Zweifelsregelungen konkretisiert worden sei.224 Die Argumente, die im Zeitpunkt der Verabschiedung des EuGVÜ für einen allgemeinen Wohnsitzgerichtsstand sprachen, legen aus heutiger Sicht ein anderes Ergebnis nahe. Zunächst wird der Vorwurf, der gewöhnliche Aufenthalt sei als Anknüpfungsmoment für die allgemeine Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen ungeeignet, durch die Ausführungen im zweiten Teil der Arbeit relativiert. Hinzu kommt, dass begriffliche Unsicherheiten durch die Vorabentscheidungskompetenz des EuGH abgefedert werden Bereits unter dem EuGVÜ,225 jedenfalls aber seit der Verabschiedung der EuGVVO226 wacht nämlich der EuGH über die einheitliche Auslegung und An218
Zu allem vgl. nur Hess, EuZPR, § 7 Rn. 51. Hess, EuZPR, § 7 Rn. 51 220 Hess, EuZPR, § 7 Rn. 51. 221 Vgl. insoweit die zusammenfassenden Ausführungen des Berichterstatters Jenard, Bericht zu dem Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 1968 C 59/1 15 ff. und KapiWHO $OVÄ*HEXUWVIHKOHU³EH]HLFKQHW GLHVH (QWVFKHLGXQJ Geimer, Einige Bemerkungen zur Zuständigkeitsordnung der Brüssel I-Verordnung, FS Musielak, 2004, 159 (162). 222 Nachweise bei Jenard, ABl. 1968 C 59/1, 15, Fn. 2. 223 Jenard, ABl. 1968 C 59/1, 15. 224 Ibid. Die Überlegung erhält ihre Berechtigung dadurch, dass der EuGH zunächst keine Auslegungskompetenz über das EuGVÜ besaß. 225 Auf Grundlage des 1971 verabschiedeten Auslegungsprotokolls wurde bereits das EuGVÜ autonom ausgelegt. 226 Hintergrund ist ein Kompetenzzuwachs der Union durch den Vertrag von Amsterdam. 219
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wendung der Rechtsakte. 227 Jedenfalls eine kasuistische Einhegung des gewöhnlichen Aufenthalts ist damit möglich.228 Die Bestimmung des Wohnsitzes gem. Art. 62 Abs. 1 EuGVVO unterliegt dagegen weiterhin vollständig der lex fori229 und erzeugt infolgedessen erhebliche rechtspraktische Probleme. Beispielsweise ist ein Gericht im Fall des Art. 62 Abs. 1 EuGVVO gehalten, fremdes Sachrecht anzuwenden. 230 Außerdem wird der Anwendungsbereich der EuGVVO indirekt durch das Sachrecht des Forumstaates bestimmt und kann daher unterschiedlich weit ausfallen. 231 Mit dem gewöhnlichen Aufenthalt würden diese Differenzen durch ein autonom-unionsrechtliches Konzept ausgeglichen. 232 Wäre der Unionsgesetzgeber ebenso wie die Parteien des EuGVÜ um die einheitliche Anwendung der EuGVVO besorgt gewesen, hätte er konsequenterweise die veränderten institutionellen Rahmenbedingungen in der EuGVVO durch einen Wechsel zum Aufenthaltsgerichtsstand würdigen müssen. 233 Dafür hätte es gute Gründe gegeben: Seit der Verabschiedung des EuGVÜ hat sich der Kreis der beteiligten Mitgliedstaaten erweitert. Damit geht eine zunehmende Vielfalt der nationalen Wohnsitzbegriffe einher. Außerdem lässt sich auch in der aktuellen Handhabung der Wohnsitzanknüpfung deutlich erkennen, dass eine lege fori definierte Wohnsitzanknüpfung ein Gefahrenpotential für die einheitliche Anwendung der EuGVVO hat: Erstens weichen die Definitionstechniken voneinander ab. In manchen Staaten wird der Wohnsitz eigens für die Zwecke der EuGVVO legaldefiniert;234 in anderen findet sich eine allgemeine Definition; 235 in anderen wird er richterrechtlich konkretisiert. 236 Auch ein mehrfacher Wohnsitz 227
MüKoZPO/Gottwald Vorbemerkung zu Art. 1 ff. EuGVVO, Rn. 32. Zum Problem der Bestimmung des Erfüllungsortes nach der lex causae im Rahmen von Art. 5 Nr. 1 lit. c) EuGVVO vgl. MüKoZPO/Gottwald Art. 5 EuGVVO Rn. 30 ff. 228 Beim gewöhnlichen Aufenthalt handelt es sich traditionell um ein staatsvertraglich bzw. verordnungsrechtlich autonom zu bestimmendes Merkmal, dazu s.o. § 4 B. III. 4. b) dd) (2); § 5 A. II. 229 $UWLNHO Ä,VW ]X HQWVFKHLGHQ RE HLQH 3DUWHL LP +RKHLWVJHELHW GHV 0LWJOLHdstaats, dessen Gerichte angerufen sind, einen Wohnsitz hat, so wendet das Gericht sein 5HFKWDQ³ 230 Hess/Pfeiffer/Schlosser, Study JLS/C4/2005/03 Rn. 186. 231 Hess/Pfeiffer/Schlosser, Study JLS/C4/2005/03Rn. 186. 232 So statt vieler Hess, EuZPR, § 7 Rn. 51 233 Dies raten auch Hess/Pfeiffer/Schlosser, Study JLS/C4/2005/03 Rn. 186 dem Unionsgesetzgeber an. 234 Hess/Pfeiffer/Schlosser, Study JLS/C4/2005/03 Rn. 180 f., sowie den dritten Fragebogen im Anhang, Frage 2.2.1. 235 Eine Wohnsitzdefinition enthalten beispielsweise die Zivilgesetzbücher folgender Mitgliedstaaten: Estland, Griechenland, Lettland, Niederlande, Polen, Spanien, Österreich, Deutschland. 236 Keine Wohnsitzdefinition kennen unter anderem Finnland, Slowenien und Frankreich.
A. Aufenthaltsanknüpfungen
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wird teilweise befürwortet, teilweise aber auch abgelehnt, 237 wie auch eine Unterscheidbarkeit von Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt im nationalen Sachrecht nicht immer klar feststellbar ist. 238 Drittens führt die Wohnsitzanknüpfung zu konzeptionellen und funktionalen Unterschieden zwischen den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen und dem Common Law, welches mit dem domicile ein vom kontinentalen Verständnis wesensverschiedenes Konzept bereithält.239 In Großbritannien wurde eigens für die EuGVVO ein vom domicile des britischen Common Law getrennter, gesetzlicher Wohnsitzbegriff eingeführt, 240 der sich seinerseits wieder am Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts orientiert. 241 Obwohl das nationale internationale Zivilprozessrecht der Mitgliedstaaten die internationale Zuständigkeit überwiegend nach dem Wohnsitz bestimmt, wird dieser Begriff jedenfalls gegenwärtig derart unterschiedlich verstanden, dass von einer einheitlichen Rechtstradition keine Rede sein kann. 2. Annäherungstendenzen Der Vorschlag eines Wechsels zum Aufenthaltsgerichtsstand de lege ferenda deckt sich mit einer verhaltenen, aber erkennbaren Tendenz in der EuGHRechtsprechung. Im Rahmen der Zuständigkeitsbestimmung von Art. 7 Nr. 2 EuGVVO überformt der Gerichtshof den deliktischen Erfolgsortgerichtsstand durch den gewöhnlichen Aufenthalt. 242 Besonders die Entscheidung eDate Advertising 243 zu Streuschäden bei Persönlichkeitsverletzungen durch Interneterzeugnisse verdient insoweit Erwähnung. Der EuGH entschied hier, dass der aus der Persönlichkeitsrechtsverletzung entstandene Schaden in toto vor den Gerichten desjenigen Mitgliedstaates liquidiert werden kann, in dem der Geschädigte seinen Interessenmittelpunkt hat.244 Die Abkehr von der bisheri237
Hess/Pfeiffer/Schlosser, Study JLS/C4/2005/03, Rn. 182. Hess/Pfeiffer/Schlosser, Study JLS/C4/2005/03 Rn. 182. 238 Hess/Pfeiffer/Schlosser, Study JLS/C4/2005/03 Rn. 182. 239 Zum Begriff des domicile Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 22 ff. 240 Hess/Pfeiffer/Schlosser, Study JLS/C4/2005/03, Rn. 183 f. 241 Vgl. Sections 46 bis 51 des Civil Jurisdiction and Judgments Act 1982. Dazu Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff?, 2014, 87. 242 Hess, EuZPR, § 6 Rn. 73. 243 EuGH, 25.10.2011 í &-509/09 ± eDate AdvertisingGmbH ./. X und Martinez ./. MGN Limited ± NJW 2012, 137 m.Anm. Heinze, EuZW 2011, 947. 244 (X*+ í &-509/09, Rn. 49 ± eDate AdvertisingGmbH ./. X und Martinez/MGN Limited. Darin liegt eine wesentliche Neuerung gegenüber der insoweit bislang maßgeblichen Entscheidung in EuGH, 7.3.1995 ± C-68/93, Rn. 32f. ± Shevill u.a ./. Presse Alliance SA, Slg. 1995, I-415, wonach der Schaden nur entweder in voller Höhe im Niederlassungsstaat des Presseerzeugers oder, nach dem so genannten Mosaikprinzip, teilweise am Verbreitungsort des Presseerzeugnisses geltend gemacht werden konnte. +LHU]X (X*+ í &509/09, Rn. 42, 48 ± eDate Advertising GmbH ./. X und Martinez ./. MGN Limited sowie 237
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§ 7 Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht
gen Rechtsprechung 245 rechtfertigt der EuGH mit den Besonderheiten elektronischer Medien: Im Unterschied zu Druckerzeugnissen, die der ShevillRechtsprechung als Leitbild vorgestanden hatten, werde dort mit dem OnlineStellen eine ungebremste grenzüberschreitende Verbreitung ermöglicht. 246 Eine Eingrenzung der Gerichtsstände auf die möglichen Vertriebsstaaten eines Mediums biete sich daher nicht an. 247 Stattdessen müsse es auf den Interessenmittelpunkt des Geschädigten ankommen. Der gewöhnliche Aufenthaltsort kommt erst in einem weiteren Schritt zum Tragen, um den Interessenmittelpunkt zu lokalisieren. 248 Er dient also der Konkretisierung des Interessenmittelpunktes und ist kein Synonym zu ihm. 249 Vergleichbar mit dem COMI privater Insolvenzschuldner bildet der gewöhnliche Aufenthalt mit anderen Worten den Gegenstand einer Regelvermutung. 250 Seine Funktion im Rahmen des Internationalen Deliktsrechts ist also mit der im internationalen
Rn. 51 ff. sowie Heinze, EuZW 2011, 947 (948). Kritisch und für das Kriterium der Ausrichtung der Webseite Hess, EuZPR, § 6 Rn. 73, 100; Berger, Die internationale Zuständigkeit bei Urheberrechtsverletzungen in Internet-Websites aufgrund des Gerichtsstands der unerlaubten Handlung nach Art. 5 Nr. 3 EuGVO, GRURInt 2005, 465 (468). 245 In EuGH ± C-68/93 ± Shevill u.a. ./. Presse Alliance SA hatte der Gerichtshof die Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte an den unterschiedlichen Erfolgsorten eines Pressedelikts noch auf die Geltendmachung des jeweils eingetretenen Teils eines Streuschadens beschränkt. Schmidt, Rechtssicherheit im europäischen Zivilverfahrensrecht, 2015, 40 f., erkennt darin erstens eine Überschreitung der Wortlautgrenze des Art. 5 Nr. 3 EuGVÜ a.F., die, zweitens, umso schwerer ins Gewicht fällt, weil sie den Anwendungsbereich einer richterrechtlich geschaffenen Ausnahme ausdehnt. 246 (X*+ í &-509/09, Rn. 45 ± eDate AdvertisingGmbH ./. X und Martinez ./. MGN Limited. 247 (X*+ í &-509/09, Rn. 44 f., 46 ± eDate AdvertisingGmbH ./. X und Martinez ./. MGN Limited Ä'DV ,QWHUQHW VFKUlQNW GHQ 1XW]HQ GHV 9HUEUHLWXQJVNULWHULXPV HLQ GD die Reichweite der Verbreitung im Internet veröffentlichter Inhalte grundsätzlich weltumspa nQHQG LVW³ 'D GHU 7HORV GHU 6FKDIIXQJ EHVRQGHUHU *HULFKWVVWlQGH LP JHVWHLJHUWHQ 1XW]HQ für die Rechtspflege liege, den eine im Vergleich zum allgemeinen Gerichtsstand engere Verbindung des Sachverhalts zum Gerichtsstand mit sich brächte, müssten auch die entsprechenden Zuständigkeitsvorschriften im Lichte dieses Grundlanliegens ausgelegt werden. Ibid., Rn. 44. 248 (X*+ í &-509/09, Rn. 49 ± eDate AdvertisingGmbH ./. X und Martinez ./. MGN LimitedÄ'HU2UWDQGHPHLQH3HUVRQGHQ0LWWHOSXQNWLKUHU,QWHUHVVHQKDWHQWVSULFKWLP $OOJHPHLQHQLKUHPJHZ|KQOLFKHQ$XIHQWKDOW³ 249 (X*+ í &-509/09, Rn. 49 ± eDate AdvertisingGmbH ./. X und Martinez ./. MGN LimitedÄ-HGRFKNDQQHLne Person den Mittelpunkt ihrer Interessen auch in einem anderen Mitgliedstaat haben, in dem sie sich nicht gewöhnlich aufhält, sofern andere Indizien wie die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit einen besonders engen Bezug zu diesem Staat herstellen könneQ³ 250 Vgl. die englische Fassung der Entscheidung, Rn. 49, die mit dem center of interests im Übrigen einen mit der EuInsVO nahezu identischen Begriff einführt.
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Insolvenzrecht vergleichbar. 251 Der gewöhnliche Aufenthalt wird also zu Konkretisierungszwecken in den richterrechtlich geschaffenen Interessengerichtsstand hineingelesen. Nicht nur weil der Gerichtshof die Grenzen seiner Rechtsprechungsbefugnis gefährlich weit ausdehnt, 252 sondern auch weil die Entscheidung eDate Advertising nur eine punktuelle Referenz auf den gewöhnlichen Aufenthalt vornimmt, kann man der Entscheidung keine abschließende Aussage über die allgemeine Relevanz des gewöhnlichen Aufenthalts in der EuGVVO entnehmen. Hinzu kommt schließlich, dass der Einfluss der Rechtsprechungslinie auf das Zuständigkeitssystem in Zivil- und Handelssachen mit der Wintersteiger-Entscheidung abnimmt. 253 Danach darf der durch eDate Advertising skizzierte Interessengerichtsstand auch bei einer Verletzung von Persönlichkeitsrechten nicht als allgemeines Prinzip angewendet werden. 254 Sofern ein Persönlichkeitsrecht markengeschützt ist, ist ein Gerichtsstand nur dort vorhanden, wo auch das Schutzzeichen anerkannt ist.255 Er folgt also dem Geltungsbereich der Marke, nicht dem Erfolgsort der Persönlichkeitsverletzung, für die wieder der Interessenmittelpunkt des Geschädigten den Ausschlag gibt. 256 Schließlich ist die beschriebene Rechtsprechung auf die Verletzung von Persönlichkeitsrechten beschränkt. Sie bildet also den Gegenstand einer bereits weit ausdifferenzierten und nur bedingt verallgemeinerbaren Einzelfalljudikatur, 257 die für die verschiedenen Fälle deliktischer Haftung unterschiedliche Gerichtsstandsregeln geschaffen hat. 258
251
Voraussetzung dafür ist freilich, dass der Begriff des COMI mit dem vom EuGH eingeführten, deU(X*992IUHPGHQ7HUPLQXVGHVÄ,QWHUHVVHQPLWWHOSXQNWHV³LGHQWisch ist. Hierfür spricht aber einiges: Erstens muss es sich auch beim Interessenmittelpunkt der EuGVVO um einen autonom-unionsrechtlichen Begriff handeln. Zweitens entspricht eine verordnungsübergreifende, vereinheitlichende Auslegung von Rechtsbegriffen des Unionssekundärrechts den Zielen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit und stellt so per interpretationem die Erreichung der Harmonisierungsziele des Art. 81 AEUV sicher. 252 Schmidt, Rechtssicherheit im europäischen Zivilverfahrensrecht, 2015, 42. 253 EuGH, 19ര4.2012 ± C-523/10 ± Wintersteiger-AG ./. Products 4U Sondermaschinenbau-GmbH. 254 EuGH ± C-523/10 ± Wintersteiger-AG ./. Products 4U Sondermaschinenbau-GmbH m.Anm. Dietze, EuZW 2012 513 (516). 255 EuGH ± C-523/10, Rn. 25 ± Wintersteiger-AG ./. Products 4U Sondermaschinenbau-GmbH; dazu Dietze, EuZW 2012, 513 (516). Ebenfalls McGuire, Internationale Zustaȋndigkeit bei Markenverletzung durch Keyword-Advertising, ZEuP 2014, 155. Zum ähnlichen Problem des Gerichtsstandes bei Patentverletzungen Hess, EuZPR, § 6 Rn. 74. 256 Dietze, EuZW 2012, 513 (516). 257 Vgl. insbesondere EuGH, 25.10.2011 ± C-509/09, C-161/10 ± Melzer ± NJW 2012, 137. 258 Vgl. zum Beispiel zum deliktischen Gerichtsstand der Durchgriffshaftung EuGH, 18.7.2013 ± C-147/12 ± ÖFAB ./. Knoot.
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B. Aufenthaltsanknüpfung und EGBGB-Reform B. Aufenthaltsanknüpfung und EGBGB-Reform
In Anlehnung an einen der im Jahr 1980 vorgelegten Reformentwürfe zum IPR259 hat der Deutsche Rat für Internationales Privatrecht in jüngerer Vergangenheit vorgeschlagen, sowohl die Restbestände des autonomen Internationalen Ehegüterrechts 260 als auch das Recht der Eheschließung 261 nach dem gewöhnlichen Aufenthalt zu verweisen (I.). Daran schließt sich die allgemeine Frage an, ob das Personalstatut des EGBGB mit dem gewöhnlichen Aufenthalt unter ein neues, europäisches Leitbild gestellt werden sollte (II.). Für die vorliegende Arbeit sind diese Vorschläge insofern von Bedeutung, als an ihnen der indirekte Einfluss des Europäischen Kollisionsrechts auf nationale Rechtsordnungen deutlich wird. Diese Beobachtung deckt sich mit dem Modell des Kollisionsrechts als Teil des Mehrebenensystems, das im ersten Teil der Arbeit (§ 2 A., C.) skizziert wurde. I. Vorhandene Reformvorschläge 1. Art. 14 EGBGB Die Reformbestrebungen des nicht harmonisierten Internationalen Privatrechts knüpfen mehrheitlich an bereits verabschiedete und künftige Verordnungsprojekte der EU an.262 Der Deutsche Rat für IPR 263 sprach sich bereits vor Inkrafttreten der EuGüVO sowohl in Ansehung der persönlichen 264 und vermögensrechtlichen Ehewirkungen 265 (Art. 14 EGBGB) als auch im Hinblick auf Art. 13 EGBGB266 für eine wandelbare objektive Anknüpfung an den gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt der Ehegatten aus. 267 Die vermögensrechtlichen 259
Kropholler/Neuhaus, RabelsZ 44 (1980), 326 (335); anders Basedow/Dopffel/Drobnig et al., RabelsZ 44 (1980), 344 (345), Kühne, Entwurf eines Gesetzes zur Reform des internationalen Privat- und Verfahrensrechts, 1980, 34 f. die, wie auch die IPR-Reform von 1986, grundsätzlich am Staatsangehörigkeitsprinzip festhalten möchten. 260 Coester-Waltjen, FamRZ 2013, 170. 261 Coester-Waltjen, StAZ 2013, 10. 262 Coester-Waltjen, StAZ 2013, 10 (10 ff., 18) (mit Formulierungsvorschlag). 263 Mansel, Beschlüsse der Sitzung der Ersten Kommission des Deutschen Rates für IPR zur Reform des Ehe- und Lebenspartnerschaftsrechts, IPRax 2013, 200 (201); s. auch Coester-Waltjen, Fernwirkungen der Europäischen Verordnungen auf die internationalfamilienrechtlichen Regelungen des EGBGB, FamRZ 2013, 170 (172 ff.). 264 Persönliche Ehewirkungen sind etwa die gegenseitigen Hilfs- und Rücksichtspflichten, die Vertretungsbefugnis in gesundheitlichen Angelegenheiten und die interne Aufgabenverteilung, ferner ehebedingte Minderungen der Geschäftsfähigkeit, Coester-Waltjen, FamRZ 2013, 170 (172). 265 Coester-Waltjen, FamRZ 2013, 170 (172). 266 Coester-Waltjen, StAZ 2013, 10. 267 Für eine Reform auch Weller, FS Coester-Waltjen, 2015, 897 (905 f.).
B. Aufenthaltsanknüpfung und EGBGB-Reform
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Ehewirkungen sind reformbedürftig, weil Art. 14 EGBGB jenseits der Rom III-VO und EuGüVO nur ein geringer Anwendungsbereich verbleibt.268 Hinzu kommt aber, dass die primäre Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit (Art. 14 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 EGBGB) die Interessenlage der Eheleute oft nur unzureichend einfängt. Viele der ehebezogenen Rechtsgeschäfte sind im Zweifel nicht mit dem Heimatrecht der Ehegatten am engsten verbunden, sondern umgebungsgeprägt. 269 Außerdem würde eine primäre Anknüpfung des Ehewirkungsstatuts an den gewöhnlichen Aufenthalt den Gleichklang mit dem Scheidungsfolgenstatut, dem Unterhaltsstatut und dem geplanten Ehegüterstatut fördern. Auf diese Weise könnten Abgrenzungsund Qualifikationsprobleme reduziert werden. 270 2. Art. 13 EGBGB Auch Art. 13 EGBGB soll nach Ansicht des Deutschen Rates für Internationales Privatrecht zugunsten einer primären Aufenthaltsanknüpfung reformiert werden.271 Ein Wechsel zum gewöhnlichen Aufenthalt könne die zunehmende individuelle Mobilität im europäischen Rechtsraum reflektieren, 272 eine Brücke zum Erfordernis der Inlandsform (Art. 13 Abs. 3 EGBGB) schlagen 273 und Fälle der ordre public-widrigen Fremdrechtsanwendung auf ein Minimum begrenzen. 274 Jenseits dieser praktischen Erwägungen komme ein Wechsel der Anknüpfungsmomente auch der grundrechtlich indizierten Liberalisierung der sachrechtlichen Vorschriften des deutschen Eheschließungsrechts zugute. 275 Eine Reform des Art. 13 EGBGB würde damit eine Entwicklung abschließen, die in der Aufhebung des Ehegesetzes und der in ihm enthaltenen Eheverbote zum 1.7.1998 ihren vorläufigen Abschluss gefunden hat.276 Aktuell wird die Rechtsentwicklung nur durch eine Erweiterung des ordre public-Vorbehalts sichtbar: Ausländische Ehehindernisse, die dem Katalog des EheG a.F. entsprechen, sind vor deutschen Gerichten und Standesämtern nicht beachtlich. 277 Richtigerweise sollte das EGBGB die sachrechtli268 Er erfasst die Mahr der islamischen Rechte, die Wohnungszuweisung im Falle der Gewaltanwendung, die impresa familiare des italienischen Rechts sowie etwa die japanischen und koreanischen Sonderanfechtungsrechte von Ehegatten bezüglich der von ihnen abgeschlossenen Geschäfte, Coester-Waltjen, FamRZ 2013, 170 (172 f.). 269 Coester-Waltjen, FamRZ 2013, 170 (172). 270 Coester-Waltjen, FamRZ 2013, 170 (173). 271 Dies., StAZ 2013, 10. 272 Ibid. 273 Ibid. 274 Ibid. 275 Zur allgemeinen Entwicklung Hohmann-Dennhardt, Die Ehe ist kein Auslaufmodell, ZRP 2005, 137 ff. 276 Hepting, Das Eheschließungsrecht nach der Reform, FamRZ 1998, 713. 277 Ausführlich BeckOGKBGB/Rentsch Art. 13 EGBGB Rn. 74 ff.
318
§ 7 Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht
che Kehrtwende durch eine Hinwendung zum gewöhnlichen Aufenthalt auf die Ebene des Kollisionsrechts spiegeln. Über den gewöhnlichen Aufenthalt könnte die inländische Eheschließungsfreiheit im Sinne eines favor matrimonii gegen etwaige ausländische Ehehindernisse durchgesetzt werden. Schließlich könnte man durch ein Abstellen auf den gewöhnlichen Aufenthalt bei der im Inland lebenden Bevölkerung Anerkennungs- und ordre public-Fragen im Hinblick auf polygame Ehen, Kinderehen oder Zwangsehen verhindern. 278 II. Europäisierung des Personalstatuts Zuletzt ist dem Gesetzgeber auch eine Reform des Art. 5 EGBGB und der dahinterstehenden, kollisionsrechtlichen Instanz des Personalstatuts 279 anzuraten. Art. 5 EGBGB steht nach wie vor unter dem Primat des Staatsangehörigkeitsprinzips, während das internationalprivatrechtliche Unionsrecht ausnahmslos auf den gewöhnlichen Aufenthalt abstellt. Rechtspraktisch führt der Einsatz unterschiedlicher Anknüpfungsmomente im nicht harmonisierten Personen- und im harmonisierten Familienrecht genau in solchen Fällen zu Schwierigkeiten, in denen der Einzelne von den subjektivrechtlichen Verbürgungen des Unionsprimärrechts Gebrauch gemacht hat. 280 Eng benachbarte Sachfragen werden verschiedenen Regelungssystemen unterworfen; in der Konsequenz häufen sich Fälle vermeidbarer dépeçage.281 Ein Wechsel zum gewöhnlichen Aufenthalt würde innerhalb dieses allgemeinen Rahmens insofern entscheidend dazu beitragen, das Personalstatut als integraler Bestandteil des Äallgemeinen Teils³ des Kollisionsrechts konzeptuell wiederzubeleben. 282 Ungeachtet intertemporaler und rechtssubjektsbezogener Differenzierungen würden alle personenbezogenen Verweisungsnormen wieder demselben Muster folgen. Das Internationale Personen- und Namensrecht, aber auch das Familien- und Eherecht würde dann einem einheitlichen Leitbild folgen. 283
278
Coester-Waltjen, FamRZ 2013, 170 (174). Zum Begriff Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 43; Batiffol, Une évolution possible du statut personnel dans l¶Europe continentale, FS Hessel Yntema 1961, 295. Dagegen Rauscher, FS Jayme, Band I, 2004, 719 (733 ff.), der sich mit beachtlichen Argumenten sowohl für das Unionsrecht als auch für das autonome IPR für eine Beibehaltung der Staatsangehörigkeit ausspricht. 280 Rentsch, ZEuP 2015, 288 (291) 281 Rentsch, ZEuP 2015, 288 (292). 282 Einen solchen, umfassenden Referenzrahmen sieht mit dem Recht der Person (Art. 29) bereits der Entwurf von Kropholler/Neuhaus, RabelsZ 44 (1980), 326 (335) vor. 283 So auch Rentsch, ZEuP 2015, 288. 279
C. Aufenthaltsanknüpfung und Einheitsrecht
319
C. Der gewöhnliche Aufenthalt im Internationalen und Europäischen Einheitsrecht (CISG, GEK-E) C. Aufenthaltsanknüpfung und Einheitsrecht
Neben dem internationalen Zivilprozessrecht und dem Verweisungsrecht kommt der gewöhnliche Aufenthalt in Art. 1 Abs. 1, 10 lit. b) des Wiener UN-Übereinkommens über den Internationalen Warenkauf (CISG) 284 und in Art. 4 Nr. 2 des Entwurfs für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht (GEK-E) 285 zum Einsatz. In beiden Fällen bestimmt er den räumlichen Anwendungsbereich der Instrumente. I. Hintergrund der Rechtsakte 1. CISG Beim CISG handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag, der im Jahr 1981 aus den Arbeiten der UNCITRAL entstanden ist. 286 In Deutschland ist das Übereinkommen, das auf dem Haager Warenkaufübereinkommen aufbaut,287 im Jahr 1991 in Kraft getreten. 288 Seine hohe internationale Ratifikationsdichte 289 erhöht die praktische Bedeutung des CISG, 290 erhebt es aber auch in den Stand eines Modellgesetzes für spätere Vorhaben auf dem Gebiet der Privatrechtsvereinheitlichung. Besonders hoch ist der praktische Stellenwert des CISG deshalb, weil es ausweislich Art. 1 Abs. 1 lit. a) immer dann zur Anwendung kommt, wenn ein Kaufvertrag zwischen zwei Parteien geschlossen wird, die ihre Niederlassung in je einem anderen CISGVertragsstaat haben.291 Im Gegensatz zum GEK-E, der nur vermöge eines aktiven Opt-in durch die Parteien überhaupt zur Anwendung gelangt, erfordert die Nicht-Anwendbarkeit des CISG also eine aktive Abwahl durch die Parteien.
284
BGBl. 1989 II, 586. KOM(2011) 635 endg. 286 Grundlegend Schlechtriem/Schwenzer/Schlechtriem, Kommentar zum Einheitlichen UN-Kaufrecht, 6. Aufage 2013, Einleitung I; Ferrari/Kieninger/Mankowski/Saenger Einleitung CISG Rn. 1. 287 BGBl. 1973 I, 856, 868. 288 Ibid. 289 Ferrari/Kieninger/Mankowski/Saenger Einleitung CISG Rn. 1. 290 Dazu Staudinger/Magnus Einleitung CISG Rn. 4, wonach das CISG in internationalen Käufen mit deutscher Beteiligung sämtliche Export- und annähernd 75% aller Importgeschäfte regelt. 291 Ferrari/Kieninger/Mankowski/Saenger Art. 1 CISG Rn. 8. Alternativ kommt das Übereinkommen zur Anwendung, wenn das Sachrecht eines Vertragsstaates kraft kollisionsrechtlicher Verweisung berufen wird, Art. 1 Abs. 1 lit. b). 285
320
§ 7 Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht
2. GEK-E Auch der 2011 verabschiedete Entwurf des Gemeinsamen Europäischen Kaufrechts 292 knüpft an das CISG an. Das Projekt setzt das politische Anliegen um, ein gemeinsames Vertragsrecht für die Mitgliedstaaten zu schaffen. 293 Einerseits sollte so die Rechtsunsicherheit im grenzüberschreitenden Rechtsverkehr minimiert werden; 294 andererseits sollte das Instrument Anreize für kleine und mittelständische Unternehmen setzen. 295 Im Gegensatz zum CISG muss der GEK-E vermöge einer Rechtswahlvereinbarung aktiv bestimmt werden (Art. 3 GEK-E).296 II. Funktion des gewöhnlichen Aufenthalts Der gewöhnliche Aufenthalt bestimmt in beiden Instrumenten den grenzüberschreitenden Bezug eines Sachverhalts. Auf diese Weise wird der räumlichpersönliche Anwendungsbereich der Rechtsakte eingegrenzt. Die Anforderungen des GEK-E sind dabei aber insgesamt höher als die des CISG; auch die Bedeutung des gewöhnlichen Aufenthalts ist unterschiedlich. 1. Art. 1, 10 CISG Die Anwendbarkeit des UN-Warenkaufübereinkommens setzt gemäß Art. 1 Abs. 1 lit. a) CISG die Internationalität einer Transaktion voraus. Dieses Kriterium ist nicht bereits dann erfüllt, wenn eine Ware grenzüberschreitend transportiert wird, sondern erst, wenn die Parteien eines Warenkaufs ihre Niederlassung in unterschiedlichen Staaten haben. 297 Mit dieser Formel soll der ÄBegriffskern internationaler Verträge³ umschrieben werden, 298 Damit entwickelt sich das CISG gegenüber dem Haager Warenkaufübereinkommen weiter, dessen Anwendungsbereich sich ohne räumlich-persönliche Einschränkung nach dem Universalitätsprinzip bestimmte. Der gewöhnliche 292
KOM(2011) 635 endg. Statt vieler Leible, Der räumlich-persönliche Anwendungsbereich des Gemeinsamen Europäischen Kaufrechts, in: Remien/Herrler/Limmer (Hrsg.), Gemeinsames Europäisches Kaufrecht für die EU?, 2012, 23. 294 KOM(2011) 635 endg., 2; zum dahinter stehenden Gedanken des international transaction dilemma und seinem Verhältnis zum IPR vgl. statt vieler Basedow, The Law of Open Societies ± Private Ordering and Public Regulation of International Relations, RdC 360 (2014) 1 (91), Rn. 137 m.Verw. auf Schmidt-Trenz, Außenhandel und Territorialität des Rechts, 1990, 144 (267 ff.); Schmidchen, Territorialität des Rechts, internationales Privatrecht und die privatautonome Regelung internationaler Sachverhalte, RabelsZ 59 (1995), 56; Rühl, Statut und Effizienz, 2011, 29 ff. 295 KOM(2011) 635 endg., 2 296 KOM(2011) 635 endg., 2. 297 MüKoBGB/Huber Art. 1 CISG Rn. 25. 298 Dazu auch Calliess, Grenzüberschreitende Verbraucherverträge, 2006, 27. 293
D. Aufenthaltsanknüpfung und EU-Einheitsprozessrecht
321
Aufenthalt findet erst im Rahmen des Art. 10 lit. b) CISG Erwähnung. Sofern es sich bei einer Partei, erstens, um eine natürliche Person handelt und diese, zweitens, keiner gewerblichen Tätigkeit nachgeht, 299 bestimmt der gewöhnliche Aufenthalt den räumlichen Anwendungsbereich der Verordnung. Statistisch ist das selten der Fall. Ihrem konzeptionellen Gewicht zum Trotz ist die praktische Bedeutung der Aufenthaltsanknüpfung für das UN-Warenkaufrecht also gering.300 2. Art. 4 Nr. 2 GEK-E Art. 4 Nr. 2 GEK-E bestimmt seinen räumlichen Anwendungsbereich im Grundsatz analog zur genannten Definition im CISG. Darüber hinaus verlangt der Entwurf aber, dass es sich bei mindestens einem der Sitzstaaten um einen EU-Mitgliedstaat handeln muss. So soll eine exzessive Erstreckung des Instruments auf Drittstaatensachverhalte verhindert werden. 301 Auch das Verhältnis des gewöhnlichen Aufenthalts zu den Parallelkonzepten der Niederlassung und der Hauptniederlassung (Art. 4 Nr. 4, 5 GEK-E) ist anders gestaltet als im CISG. Dort substituiert der gewöhnliche Aufenthalt bei natürlichen Personen eine fehlende Niederlassung; hier wird er über den Ort der Hauptverwaltung von juristischen Personen (Art. 4 Nr. 4 Alt. 1) oder den Hauptgeschäftssitz beruflich handelnder natürlicher Personen (Art. 4 Nr. 4 Alt. 2) konkretisiert. Der gewöhnliche Aufenthalt dient im GEK-E also ähnlich wie in Art. 19 Rom I-VO und in Art. 23 Rom II-VO als Basisanknüpfung, die für die statistisch sicherlich überwiegende Zahl von Fällen durch andere Kriterien substituiert wird. 302
D. Aufenthaltsanknüpfungen im EU-Einheitsprozessrecht D. Aufenthaltsanknüpfung und EU-Einheitsprozessrecht
Vergleichbar mit CISG und GEK-E dient der gewöhnliche Aufenthalt auch in Art. 3 Abs. 1 EuBagatellVO 303 sowie im gleichlautenden Art. 3 Abs. 1
299
Zum Begriff der Niederlassung Brekoulakis, in: Kröll/Mistelis/Viscasillas (Hrsg.), UN-Convention on the International Sales of Goods, 1. Auflage 2011, Art. 10 CISG Rn. 13. 300 Ferrari/Kieninger/Mankowski/Saenger Art. 10 CISG Rn. 4. 301 Zum rechtspolitischen Hintergrund Schmidt-Kessel, Anwendungsbereich, Ausgestaltung der Option, und andere Fragen zur Verordnung, in: Remien/Herrler/Limmer (Hrsg.), Gemeinsames Europäisches Kaufrecht für die EU?, 2012, 29. 302 Zum definitorischen Gehalt der Art. 19 Rom I-VO, 23 Rom II-VO s.o. § 6 A. II. 3. a). 303 VO(EG) 861/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen, ABl. 2007 L 199/1; dazu Kindl/Meller-Hannich/Wolf/Netzer Vor BagatellVO Rn. 2 f.
322
§ 7 Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht
EuMahnVO 304 dazu, den räumlich-persönlichen Anwendungsbereich der Verordnungen zu bestimmen. I. Hintergrund der Rechtsakte EuMahnVO 305 und EuBagatellVO 306 beruhen auf dem Tampere-Beschluss des Europäischen Rates über die Schaffung eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Anschluss an eine Sondertagung im Oktober 1999.307 Neben ÄLeitfäden³ zur justiziellen Zusammenarbeit in der Union und in den Mitgliedstaaten308 hat der Rat auf Vorschlag der Kommission Äbesondere gemeinsame Verfahrensregeln für vereinfachte und beschleunigte grenzüberschreitende Gerichtsverfahren bei verbraucher- und handelsrechtlichen Klagen mit geringem Streitwert sowie bei Unterhaltsklagen und bei unbestrittenen Forderungen ³309 geschaffen. Beschlossen wurde auch die Notwendigkeit Äneue[r] verfahrensrechtliche[r] Vorschriften[...], die unabdingbar für eine reibungslose justizielle Zusammenarbeit und für einen verbesserten Zugang zum Recht sind.³310. Die EuMahnVO und die EuBagatellVO sind das Ergebnis der an diesen politischen Impuls anschließenden Arbeiten der Kommission und des Rates. Beide Verordnungen bauen auf dem 2002 vorgelegten Grünbuch der Kommission auf. 311 Die EuMahnVO wurde am 11.12.2006 vom Rat verabschiedet und ist seit dem 12.12.2008 in Kraft (Art. 33 Abs. 2 EuMahnVO). Die EuBagatellVO geht auf einen 2005 vorgelegten Kommissionsentwurf zurück. 312 Sie wurde am 11.7.2007 verabschiedet 304 VO (EG) 1896/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens, ABl. 2006 L 199/1, berichtigt in ABl. 2008രL 46/52 und ABl.ര2008 L 333/17; dazu Kindl/Meller-Hannich/Wolf/Netzer Vor EuMahnVO Rn. 3 f. der zutreffend darauf hinweist, dass im Fall des Europäischen Mahnverfahrens auch die Belegenheit des zuständigen Gerichts (Art. 6 EuMahnVO) über den Anwendungsbereich der Verordnung entscheidet. Anders noch KOM(2004) 173 endg. 305 Vgl. Erwägungsgrund 9 zur EuMahnVO: Der [aus der Unzulässigkeit oder Undurchführbarkeit der Durchführung grenzüberschreitender Beitreibungsverfahren] resultierende erschwerte Zugang zu einer effizienten Rechtsprechung bei grenzüberschreitenden Rechtssachen und die Verfälschung des Wettbewerbs im Binnenmarkt aufgrund des unterschiedlichen Funktionierens der verfahrensrechtlichen Instrumente, die den Gläubigern in den einzelnen Mitgliedstaaten zur Verfügung stehen, machen eine Gemeinschaftsregelung erforderlich, die für Gläubiger und Schuldner in der gesamten Europäischen Union gleiche Bedingungen gewährleLVWHW³ 306 Vgl. den weitgehend inhaltsgleichen Erwägungsgrund 4 zur EuBagatellVO. 307 Schlussfolgerungen des Vorsitzes Europäischer Rat (Tampere) 15./16.10.1999, in Auszügen abgedruckt in NJW 2000, 1925. 308 Abdruck in NJW 2000, 1925, Gliederungspunkt 29. 309 Ibid., 30. 310 Ibid., 38. 311 KOM (2002) 746 endg. 312 KOM (2005) 87 endg.
D. Aufenthaltsanknüpfung und EU-Einheitsprozessrecht
323
und ist am 1.1.2009 in Kraft getreten (Art. 29 EuBatagellVO). Beide Verordnungen bauen auf der Beobachtung auf, dass die grenzüberschreitende Forderungsbeitreibung regelmäßig an höhere praktische Durchsetzungshürden stößt als die innerstaatliche Rechtsdurchsetzung.313 Das Ziel der Projekte lautet daher, die grenzüberschreitende Rechtsdurchsetzung inhaltlich zu vereinfachen, die Verfahrensdauer zu verringern und die Verfahrenskosten zu senken. 314 Allerdings verdrängen die beiden Verordnungen nationale Rechtsbehelfe nicht (Art. 1 Abs. 2 EuMahnVO und Art. 1 S. 2 EuBagatellVO). Vielmehr ergänzen sie vorhandene Instrumente durch autonom-europäische fakultative Verfahrensmodelle, die ausdrücklich auf grenzüberschreitende Rechtsstreitigkeiten zugeschnitten sind. 315 II. Funktion des gewöhnlichen Aufenthalts Die Anwendbarkeit beider Verordnungen setzt voraus, dass ein Sachverhalt Bezüge zu mindestens zwei unterschiedlichen Mitgliedstaaten aufweist. 316 Das soll nur der Fall sein, wenn Kläger und Beklagter ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in zwei unterschiedlichen EU-Mitgliedstaaten haben (Art. 3 Abs. 1 Alt. 1 EuMahnVO, Art. 3 Abs. 1 EuBagatellVO). 317 Die restriktive Definition des räumlich-persönlichen Anwendungsbereichs der Verordnungen soll sicherstellen, dass nur Verfahren von ihnen geregelt werden, die unmittelbar den grenzüberschreitenden Rechtsverkehr betreffen und daher eindeutig dem Binnenmarktziel dienen. 318 In der Praxis erleichtern die Rechtsakte ausländischen Gläubigern trotz dieser Einschränkung nicht nur den Zugang zur inländischen Justiz, sondern regelmäßig auch die grenzüberschreitende Vollstreckung von Forderungen. 319 313
S.o. Fn. 294. Kindl/Meller-Hannich/Wolf/Netzer Vor EuMahnVO Rn. 1; Kindl/Meller-Hannich/Wolf/Netzer Vor EuBagatellVO, Rn. 1. 315 Ibid. 316 Zur Beschränkung der EuMahnVO auf grenzüberschreitende Sachverhalte s. Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates der Europäischen Union ± Rechtsgrundlage ± vom 30.6.2005, 10748/05, JUSTCIV 130. 317 Die Wohnsitzbestimmung erfolgt nach Art. 62f. Brüssel Ia-VO, vgl. Art. 3 Abs. 2 EuMahnVO. Die EuMahnVO ist außerdem anwendbar, wenn sich das im Erkenntnisverfahren zuständige Gericht in einem anderen Mitgliedstaat befindet als der Wohnsitz der Parteien (Art. 3 Abs. 2 Alt. 2 EuMahnVO). Zusammenfassung bei Kindl/Meller-Hannich/Wolf/Netzer Art. 3 EuMahnVO Rn. 3 f. 318 Jahn, Das Europäische Verfahren für geringfügige Forderungen, NJW 2007, 2890 (2891); in Bezug auf die EuMahnVO Hess, EuZPR, 2010, § 10 Rn. 51. 319 Die zurückhaltende Definition des Anwendungsbereichs der Verordnungen erklärt sich durch die ursprünglich beschränkte Rechtssetzungskompetenz der Union (Art. 61 lit. c), 65 EG), Rat der Europäischen Union, Gutachten des Juristischen Dienstes vom 4.6.2004, 10107/04 JUSTICIV 80; Hess, EuZPR, 2010, § 10 Rn. 52. Kritisch daher Su314
324
§ 7 Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht
E. Der gewöhnliche Aufenthalt und der Anwendungsbereich der EuEheVO E. Aufenthaltsanknüpfung und Anwendungsbereich der EuEheVO
Der gewöhnliche Aufenthalt bestimmt außerdem den Anwendungsbereich von EU-Kollisionsrecht im weiteren Sinne. Diese Funktion erfüllt er insbesondere in Art. 60, 61 EuEheVO. Der sachliche Anwendungsbereich der Verordnung überschneidet sich in Verfahren zur elterlichen Verantwortung (Art. 1 Abs. 1 lit. b) EuEheVO) mit dem MSA von 1961 und dem KSÜ von 1996.320 Keine dieser beiden völkerrechtlichen Konventionen wurde von der Europäischen Union ratifiziert. Stattdessen ging die Union den Weg über eine Äeuropäische Insellösung³ 321 , wobei sie mit der EuEheVO einen autonomeuropäischen und in Teilen wesentlich weitgehenderen 322 Schutzmechanismus geschaffen hat. 323 Für die Mitgliedstaaten können die inhaltlichen Überschneidungen zwischen EuEheVO, MSA und KSÜ problematisch werden. Ein Teil hat vor dem Beitritt der Union selbstständig das MSA ratifiziert, ein anderer hat nach dem Vertrag von Amsterdam von der Ermächtigung des Rates Gebrauch gemacht 324 und ist dem KSÜ beigetreten.325 Die Mitgliedstaaten sind in grenzüberschreitenden Sorgerechtsstreitigkeiten damit zur Bestimmung der internationalen Zuständigkeit unionsrechtlich an die Bestimmungen der EuEheVO, völkerrechtlich aber an MSA und KSÜ gebunden. Die Union hilft möglichen Pflichtenkollisionen durch Art. 60 f. EuEheVO ab. Im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten genießt die EuEheVO Vorrang vor dem Konventionsrecht; im Verhältnis zu Drittstaaten sind dagegen die Zuständigkeitsvorschriften des MSA (Art. 60 lit. a) EuEheVO) und das KSÜ (Art. 61 lit. a) EuEheVO) vorrangig zu berücksichtigen. 326 Wann ein Sachverhalt intern und wann er extern ist, entscheidet Art. 61 lit. a)
jecki, Europäisches Mahnverfahren, ZEuP 2006, 125 (131); Hess, EuZPR, 2010, § 10 Rn. 51; Erklärung bei Jahn, NJW 2007, 2890 (2891). 320 Rauscher/ders. Art. 8 EuEheVO Rn. 1. 321 Rauscher/ders. Art. 8 EuEheVO Rn. 2. 322 Rauscher/ders. Art. 8 EuEheVO Rn. 2. 323 Rentsch, NZFam 2015, 474. 324 Art. 1 Abs. 1 der Entscheidung des Rates vom 5.6.2008 zur Ermächtigung einiger Mitgliedstaaten, das Haager Übereinkommen von 1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern im Interesse der Europäischen Gemeinschaft zu ratifizieren oder ihm beizutreten, und zur Ermächtigung einiger Mitgliedstaaten, eine Erklärung über die Anwendung der einschlägigen internen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts abzugeben (2008/431/EG), ABl. 2008 L 151/36. 325 Zu den Mitgliedstaaten vgl. Art. 1 Abs. 1 der Erklärung 2008/431/EG. 326 Rauscher/ders., Art. 8 EuEheVO Rn. 3. Art. 14 EuEheVO auf das nationale Recht der Mitgliedstaaten verweist, kommen auch hier MSA und KSÜ zur Anwendung.
F. Aufenthaltsanknüpfung und Europäisches Sozialrecht
325
EuEheVO in Ansehung des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes. 327 Liegt dieser innerhalb eines Mitgliedstaates, ergibt sich die internationale Zuständigkeit aus Art. 8 Abs. 1 EuEheVO. Der praktische Unterschied zwischen beiden Regimen liegt darin, dass ein Aufenthaltswechsel des Kindes unter der EuEheVO eine perpetuatio fori auslöst. Art. 7 KSÜ knüpft diese Rechtsfolge dagegen an den Vorbehalt, dass das Kind widerrechtlich in den Staat verbracht wurde, in dem es seinen neuen gewöhnlichen Aufenthalt begründet hat. Der insoweit geringere Schutzmechanismus des KSÜ soll überschießend auch dann zur Anwendung kommen, wenn der gewöhnliche Aufenthalt eines Kindes während eines laufenden, auf Art. 8 Abs. 1 EuEheVO gestützten Sorgerechtsverfahrens in einen Drittstaat verlegt wird. 328 Art. 60 f. EuEheVO werden hier als Rechtsgrundlage für eine allgemeine Pflicht verstanden, den Anwendungsbereich der Verordnung einschränkend auszulegen.329
F. Aufenthaltsanknüpfungen im Europäischen Sozialrecht F. Aufenthaltsanknüpfung und Europäisches Sozialrecht
Schließlich hat sich der gewöhnliche Aufenthalt im Europäischen Internationalen Sozialrecht bewährt. Als Europäisches Sozialrecht gelten alle sozialrechtlichen Vorschriften unionsrechtlichen Ursprungs, die auf das nationale Sozialrecht einwirken. 330 Europäisches Internationales Sozialrecht bezeichnet wiederum die Gesamtheit der Bestimmungen, die die Anwendungsbereiche nationalen Sozialrechte der Mitgliedstaaten miteinander koordinieren. 331 In diesen Rechtsakten hat sich der gewöhnliche Aufenthalt lang vor der Schaffung des unionsrechtlichen IPR bewährt, um nationale Sozialrechtsordnungen durch entsprechende Zuordnungsnormen zu koordinieren.332 I. Entwicklung und Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts Die Koordination nationaler Sozialversicherungssysteme durch die Union reicht bis in die Anfänge der EWG in den späten 1950er Jahren zurück Der gewöhnliche Aufenthalt begleitet das Europäische Internationale Sozialrecht damit jedenfalls indirekt seit seiner Entstehung. Die Rechtsprechung zu 327
Die Vorschrift entspricht inhaltlich Art. 52 Abs. 1 KSÜ; dazu Rauscher/ders. Art. 8 EuEheVO Rn. 4. 328 Dazu KG ± 3 UF 156/14 m.Anm. Rentsch, NZFam 2015, 474. 329 KG ± 3 UF 156/14 ± NZFam 2015, 427; OLG Stuttgart, 12.4.2012 ± 17 UF 22/12 ± FamRZ 2013, 49. 330 Eichenhofer, Der Europäische Gerichtshof und das Europäische Sozialrecht, FS Everling, 1995, Band II, 297 (298) m.w.N. in Fn. 3. 331 Definition aus Eichenhofer, Sozialrecht, 8. Auflage 2012, Rn. 86; ders., FS Everling, 1995, Band II, 297 (299) m.w.N. in Fn. 8. 332 Eichenhofer, Sozialrecht, Rn. 86.
326
§ 7 Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht
Art. 12 der EU-Verordnung Nr. 3 (1958) greift auf den Begriff zurück, um den Äständigen Wohnsitz³ einer Person zu konkretisieren. 333 Der ständige Wohnsitz bestimmt darüber, welcher Sozialversicherungsträger und welche Jurisdiktion für die Vergabe von Sozialversicherungsbeiträgen zuständig sind.334 Die Grundverordnung 1408/71 über die Anwendung der Systeme sozialer Sicherheit gießt diese richterliche Rechtsfortbildung in ein gesetzliches Gewand. Art. 19 erklärt weiter den Wohnsitz für maßgeblich. Art. 1 lit. h) setzt diesen Begriff verordnungsautonom mit dem gewöhnlichen Aufenthalt der Person gleich. Art. 1 lit. j) der Nachfolge-Grundverordnung 883/2004 vom 30.4.2004 zur Koordinierung der Systeme sozialer Sicherheit 335 übernimmt diese Regelung unverändert. Der gewöhnliche Aufenthalt bestimmt im Internationalen Sozialrecht der Europäischen Union gegenwärtig also nicht direkt, wohl aber als anknüpfungserheblicher definiens des ständigen Wohnsitzes darüber, welchem Sozialsystem eine natürliche Person unterliegt. Der gewöhnliche Aufenthalt bzw. ihm nahestehende, strukturell vergleichbare Konzepte zu finden auch im Internationalen Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland und in anderen EU-Mitgliedstaaten Einsatz. Regelmäßig bilden die dortigen Aufenthaltsanknüpfungen aber nicht den Gegenstand einer allseitigen Kollisionsnorm nach europäischem Vorbild, sondern bestimmen einseitig über die räumlichen Kriterien, nach denen eine natürliche Person in den Genuss eines gesetzlichen Privilegs kommen kann.336 333 S. EuGH ± C-452/94, 2. Leitsatz ± Magdalena Fernandez ./. Kommission, Slg. 1994 I-4295. Wortlautgleich übernommen wird das Judikat im von Borrás vorgelegten, erläuWHUQGHQ %HULFKW ]X GHP hbereinkommen aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags ber die Europlische Union ber die Zustlndigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen ± ABl. 1998 C 221/27 Rn. 32: Ä(VZXUGH]ZDULQ(UZlgung gezogen, eine Vorschrift zur Bestimmung des gew|hnlichen Aufenthalts in Analogie zu Artikel 52 des Brsseler hbereinkommens betreffend die Bestimmung des Wohnsitzes aufzunehmen, doch wurde schließlich beschlossen, dies nicht zu tun. Indessen wurde dem Umstand besonders Rechnung getragen, daß der Gerichtshof bei verschiedenen Gelegenheiten ± wenn auch nicht bezglich des Brsseler hbereinkommens von 1968 ± folgende 'HILQLWLRQ GHV VWlndigen Wohnsitzes gegeben hat: Ãder Ort, den der Betroffene als stlndigen oder gew|hnlichen Mittelpunkt seiner Lebensinteressen in der Absicht gewlhlt hat, ihm Dauerhaftigkeit zu verleihen, wobei fU GLH )HVWVWHOOXQJ GLHVHV :RKQVLW]HV DOOH KLHUIr wesentlichen tatslchlichen Gesichtspunkte zu berFNVLFKWLJHQVLQGµ³ 334 McEleavy, Applicable Law and Relations with Third States: The Use and Application of Habitual Residence, in: Malatesta et al. (Hrsg.), The External Dimension of European Private International Law: EC Family Law and Relations with Third States, 2008, 269 (278 f.). 335 ABl. 2004 L 166/1. 336 In Artikel 1 Abs. 1 des Belgischen Gesetzes vom 7. August 1974 zur Einfuȋhrung eiQHV $QVSUXFKV DXI *HZlKUXQJ GHV ([LVWHQ]PLQLPXPV EHVWLPPWH EHLVSLHOVZHLVH GHUÄWDtVlFKOLFKH $XIHQWKDOW³ résidence réelle oder résidence permanente), ob ein belgischer Staatsangehöriger berechtigt ist, die Sicherung seines Existenzminimums durch staatliche =XVFKXVVOHLVWXQJHQ]XYHUODQJHQRGHUQLFKWÄ-HGHUYROOMlKULJH%HOJLHUGHUVHLQHQWDWVlF h-
F. Aufenthaltsanknüpfung und Europäisches Sozialrecht
327
II. Kollisionsrechtliche gegen sachrechtliche Funktion 1. Kollisionsrechtliche Zuweisungsfunktion Traditionell dient der gewöhnliche Aufenthalt im Internationalen Sozialrecht dazu, grenzüberschreitend tätige natürliche Personen einem klar bestimmbaren nationalen Sozialversicherungsträger zuzuweisen. 337 Er bestimmt also die internationale Zuständigkeit. Seitdem Art. 2 Abs. 5 AEUV die Methode der offenen Koordinierung 338 als Leitbild in der Harmonisierung sozialer Sicherheit etabliert hat, beschränken sich auch die Legislativakte der Union auf diese Koordinationsfunktion. Vermöge des gewöhnlichen Aufenthalts wird der internationale Geltungsbereich nationaler Sozialrechte insoweit nach identischen Kriterien ermittelt. Konkret bestimmt sich sowohl die Frage der Sozialversicherungspflicht als auch die spiegelbildliche sozialversicherungsrechtliche Berechtigung aus Mechanismen der sozialen Sicherheit, namentlich der Arbeits- und Sozialhilfe, in grenzüberschreitenden Sachverhallten nach dem gewöhnlichen Aufenthalt. 2. Sachrechtliche Koordinationsfunktion Sowohl in der VO 1408/71 als auch in der VO 883/2004 dient der gewöhnliche Aufenthalt auch dazu, die Privilegien des nationalen Sozialrechts durch überstaatlich gültige Äquivalenzregeln zu koordinieren. 339 Dazu zählen unter anderem die Leistungsaushilfe und Versicherungszeiten. Übersetzt in die kollisionsrechtliche Terminologie liefert der gewöhnliche Aufenthalt jenseits der bloßen Koordination von Sozialsystemen auch Kriterien für eine sachrechtliche Angleichung. Anders als im IPR ist die sachrechtliche Angleichung im Sozialrecht aber nicht dem richterlichen Ermessen überantwortet, sondern wird vermöge des gewöhnlichen Aufenthalts auf eine gesetzliche Grundlage gestellt.
lichen Aufenthalt in Belgien hat, nicht ƺber ausreichende Mittel verfƺgt und sie sich nicht aus eigener Kraft oder in anderer Weise beschaffen kann, hat Anspruch auf Gewährung des ([LVWHQ]PLQLPXPV³ Deutsche Übersetzung nach EuGH ± C-184/99 ± Grzelczyk, Schlussanträge des Generalanwalts Alber, Slg. 2001 I-6199. Die Entscheidung darüber, wo sich der ständige Aufenthalt einer Person befindet, sollte allerdings nicht durch das zuständige Gericht, sondern durch den belgischen König getroffen werden (Abs. 1 S. 2). 337 McEleavy, in: Malatesta et al. (Hrsg.) The External Dimension of European Private International Law: EC Family Law and Relations with Third States, 2008, 269 (278 f.). 338 Grabitz/Hilf/Nettesheim/Langenfeld/Benecke Art. 151 AEUV Rn. 28; Streinz/Eichenhofer Art. 151 AEUV Rn. 26. 339 Zu dieser Dimension der VO 883/2004 Streinz/Eichenhofer Art. 151 AEUV Rn. 26.
328
§ 7 Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht
G. Erste Abschichtung der Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts G. Erste Abschichtung
Der vorstehende Arbeitsabschnitt hat sich dem Versuch verschrieben, das breite Spektrum an Einsatzfeldern des gewöhnlichen Aufenthalts im derzeitigen Unionsrecht zu skizzieren. Diese Darstellung liefert auch die Grundlage für eine erste Abschichtung unterschiedlicher Funktionen, die der Begriff im Unionssekundärrecht erfüllt. Der gewöhnliche Aufenthalt findet gegenwärtig sowohl im Europäischen Internationalen Privat- und Verfahrensrecht als auch im Einheitsrecht, im Europäischen Einheitsprozessrecht und im Europäischen Sozialrecht Einsatz. Vorschläge, ihm auch im autonomen IPR der Bundesrepublik und im Rahmen der internationalen Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen zur Anwendung zu verhelfen, verdienen ebenfalls Beifall. Bereits im Internationalen Privatrecht der Europäischen Union lässt sich ein breites Spektrum an Anknüpfungsfunktionen und -zwecken erkennen, die der gewöhnliche Aufenthalt erfüllt. In der Rom I-VO bildet er sowohl den Bestandteil einer Regel-, als auch den einer Ausnahmeanknüpfung. Ferner konkretisiert er in Personenbeförderungs- und Versicherungsverträgen die Reichweite einer Rechtswahlmöglichkeit. In der Rom II-VO begründet der gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt der Parteien eine Ausnahme von der Grundanknüpfung an den Erfolgsort, die in Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO vorgesehen ist. In der Rom III-VO, der EuGüVO und im HUP bestimmt der gewöhnliche Aufenthalt einerseits den Rahmen einer subjektiven Anknüpfung durch Rechtswahl und prägt andererseits die primäre objektive Verweisung bestimmend mit. In der EuErbVO bestimmt er schließlich das objektiv anwendbare Recht, nicht aber die Reichweite einer Rechtswahlmöglichkeit. Die Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts im internationalen Zivilprozessrecht der Union sind ähnlich facettenreich, interessieren hier aber nur insoweit, als das Verhältnis zum EuIPR betroffen ist. In der EuEheVO und EuUntVO bestimmt er in verschiedenen alternativen Gerichtsständen die Zuständigkeit in Scheidungssachen. In beiden Fällen skizzieren die Verordnungstexte einen losen Gleichlauf von forum und ius, setzen ihn aber weder zwingend voraus noch umfassend um. Anders verhält es sich in der EuErbVO. Dort ist der Gesetzgeber ersichtlich um einen möglichst stabilen Gleichlauf bemüht. Im Gegensatz zu den genannten Fällen einer Älosen³ Koordination sichert er das Gleichlaufziel insbesondere vor den Folgen einer parteiautonomen Wahl des Erbstatuts nach Art. 22 Abs. 1 EuErbVO ab, indem er den Erben eine entsprechende Prorogationsmöglichkeit an die Hand gibt. Ähnlich umfassend wird das Gleichlaufziel durch die EuEheVO und das KSÜ verfolgt. Hier findet der gewöhnliche Aufenthalt als ausschließliches Anknüpfungsmoment in Verfahren der elterlichen Sorge Anwendung, während das
G. Erste Abschichtung
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anwendbare Recht nur in Ausnahmefällen einer zeitlich versetzten, objektiven Aufenthaltsanknüpfung folgt. Einen Mittelweg beschreitet die Verstärkte Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Ehegüterrechts. Zuständigkeit und anwendbares Recht folgen hier zwar der systematischen Verknüpfung in einer Paketverordnung wegen identischen Leitlinien, können aber nicht nur kraft unterschiedlicher Kombina tionsmöglichkeiten, sondern auch durch die Möglichkeit einer vom forum unabhängigen Rechtswahlvereinbarung voneinander abweichen. Innerhalb des Internationalen Privatrechts stellt das Nebeneinander von subjektiver und objektiver Anknüpfung den wohl deutlichsten Funktionsunterschied des gewöhnlichen Aufenthalts dar. In einem Teil der Fälle konkretisiert er eine beschränkte Rechtswahl, während er in einem anderen Teil das Recht bestimmt, das in Ermangelung einer solchen zur Anwendung kommt. Als Anknüpfungsmoment einer beschränkten Rechtswahl dient der gewöhnliche Aufenthalt in der Rom I-VO, der Rom II-VO, der Rom III-VO, dem HUP und der EuGüVO. Als objektiver Anknüpfungspunkt findet er in allen genannten Verordnungen und in der EuErbVO Anwendung. Unterschiede lassen auch die Anknüpfungsgegenstände erkennen, auf die der gewöhnliche Aufenthalt trifft. Hier bietet bereits die Rom I-VO eine kaum überschaubare Vielzahl an Varianten. In Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO lokalisiert der gewöhnliche Aufenthalt mit der vertragscharakteristischen Leistung einen flexiblen, einzelfallbezogenen und für den Vertragsinhalt sensiblen Begriff. Ein weitaus geringerer Flexibilitätsgrad lässt sich in den in Art. 4 Abs. 1 Rom I-VO genannten Vertypungen, aber auch den in Art. 5 und 7 Rom I-VO geregelten besonderen Vertragsarten erkennen. Ganz anders, nämlich in Ansehung der tatsächlichen Situation der Anknüpfungssubjekte, bestimmt sich der Anknüpfungsgegenstand des Art. 6 Abs. 2 Rom I-VO. In den restlichen Rom-Verordnungen sind die strukturellen Unterschiede im Flexibilitätsgrad der Anknüpfung weniger deutlich, lassen sich aber trotzdem nur schwer unter verallgemeinerungsfähige Kategorien zusammenfassen. Hier erscheint es im Grundsatz angezeigt, jeden Rechtsakt gesondert einer Lösung zuzuführen; allenfalls wird man eine Bündelung nach überkommenen autonom-internationalprivatrechtlichen Kategorien vornehmen können. So man sich an einer rechtsaktübergreifenden Systematisierung versuchen möchte, erscheint auf den ersten Blick eine Unterscheidung zwischen punktuellen und dauerhauften Rechtsverhältnissen angebracht. Während die deliktische Haftung durch ein regelmäßig unvorhergesehenes, punktuelles Ereignis begründet wird, regeln das Güterrechts- und Unterhaltsstatut Dauerrechtsverhältnisse. Der Verordnungsgeber ordnet auch innerhalb der zuletzt genannten Gruppe unterschiedliche Rechtsfolgen an, um die Besonderheit dauerhafter Rechtsverhältnisse einzufangen: Im Rahmen des HUP wählt er eine wandelbare, im Rahmen der EuGüVO eine unwandelbare Anknüpfung.
330
§ 7 Funktionen des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionsrecht
In den sonstigen Bereichen des Europäischen Sekundärrechts koordiniert der gewöhnliche Aufenthalt die Regelungssphären nationaler, völkerrechtlicher und unionsrechtlicher Vorschriften. Er bestimmt, wie gezeigt wurde, den Anwendungsbereich des Europäischen Einheitsprozessrechts (EuMahnVO, EuBagatellVO) und koordiniert schließlich Unionsrecht mit universellen völkerrechtlichen Verträgen (Art. 60 ff. EuEheVO). Die Frage, ob und inwiefern er in dieser Funktion vom IPR und IZVR der Union unterschieden werden muss, wird unter § 9 ausführlicher erörtert werden. 340
H. Thesen H. Thesen
1. Im Internationalen Privat- und Verfahrensrecht der Europäischen Union nimmt der gewöhnliche Aufenthalt eine beherrschende Rolle ein. Im Europäischen IPR bestimmt er das objektiv anwendbare Recht sowie, mit Ausnahme der EuErbVO, die Reichweite einer Rechtswahlmöglichkeit. 2. In der EuGVVO und im autonomen IPR der Bundesrepublik ist ein Wechsel zum gewöhnlichen Aufenthalt de lege ferenda angezeigt. a) Erstens beruht die aktuelle Grundanknüpfung an den Wohnsitz, Art. 5 Abs. 1 EuGVVO, auf einer historischen wie auch aktuellen politischen Fehleinschätzung. Zweitens erweist sich das Wohnsitzprinzip vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Rechtszustandes als defizitär. Weder ist eine einheitliche Handhabung des Begriffs durch die Mitgliedstaaten erkennbar, noch ist es der Prozessökonomie zuträglich, wenn Mitgliedstaaten infolge der durch Art. 5 Abs. 1 EuGVVO ausgesprochenen Verweisung im Rahmen der Anerkennung und Vollstreckung das Sachrecht eines anderen Mitgliedstaates anwenden müssen. b) Im Rahmen des EGBGB empfiehlt sich ein Wechsel vom Staatsangehörigkeits- zum Aufenthaltsprinzip in drei Fällen. Einerseits ist eine Reform der Art. 13 Abs. 1, 14 Abs. 1 EGBGB angezeigt, um die Vorschriften an die Rechtsentwicklung in der Union an- und vorhandene, praktische Anwendungsprobleme auszugleichen. Andererseits empfiehlt sich aber auch in Ansehung der Art. 5, 7 EGBGB eine Abkehr vom Staatsangehörigkeitsprinzip, da der nationale Regelungsspielraum insoweit weitestgehend durch unionsprimärrechtliche Vorgaben überformt ist. 3. Im Internationalen Einheitsrecht (CISG, GEK-E) sowie in der EuEheVO dient der gewöhnliche Aufenthalt dazu, den Anwendungsbereich von Unionsrecht zu bestimmen.
340
S.u. § 9 B. II. 2. b) cc).
H. Thesen
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4. Im Europäischen Internationalen Sozialrecht bestimmt der gewöhnliche Aufenthalt sowohl den Anwendungsbereich von Verordnungsrecht als auch das anwendbare Sachrecht. Daneben dient er aber auch der materiellen Koordination von sozialrechtlichen Regelwerken der Mitgliedstaaten; internationalprivatrechtlich gesehen konkretisiert er insoweit einen Angleichungsvorgang.
§ 8 Bedingungen und Varianten eines differenzierten Aufenthaltsverständnisses § 8 Differenziertes Aufenthaltsverständnis
A. Legitimität und praktische Notwendigkeit A. Legitimität und praktische Notwendigkeit
Die Frage nach der Zulässigkeit und Legitimität eines rechtsdogmatisch vertretbaren Differenzierungsmodells im Umgang mit dem gewöhnlichen Aufenthalt wurde eingangs angesprochen, aber nicht abschließend beantwortet. Eine Differenzierung im Begriffsverständnis ist nur notwendig, wenn allgemeine Umschreibungen des Begriffs keine ausreichend vorhersehbaren Ergebnisse für die Einzelfallanwendung versprechen. Dass genau das der Fall ist, wurde freilich sowohl zu Beginn der Arbeit als auch zum Ende ihres zweiten Teils festgestellt. 1 Über die Legitimität der Unterscheidung im Unionsrecht ist damit noch nichts gesagt. Sie lässt sich nur beweisen, wenn ein abgeschichtetes Begriffsverständnis die Vorhersehbarkeit und Transparenz der Handhabung der Aufenthaltsanknüpfung steigert, kurz: sofern sie für eine dogmatische Durchdringung des Begriffs nicht nur zweckdienlich, sondern notwendig ist. I. Begriffsentwicklung als Aufgabe der Gerichte Eine abstrakte dogmatische Differenzierung im Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts läuft einerseits Gefahr, die gesetzgeberische Entscheidung gegen eine ebenso abstrakte Begriffsdefinition zu konterkarieren; andererseits muss sie dem Vorwurf begegnen, dass die Aufgabe der Begriffsentwicklung der Rechtsprechung im Einzelfall obliegen soll. Beide Aspekte stehen im vorliegenden Fall in einem legitimatorischen Sinnzusammenhang: Dass der EUGesetzgeber den gewöhnlichen Aufenthalt nur im Rahmen der EuErbVO einer Umschreibung zugeführt hat, 2 legt die Annahme nahe, dass er die Entwicklung vorhersehbarer Leitlinien zur Konkretisierung des gewöhnlichen Aufenthalts in allen anderen Fällen gerade nicht der Rechtsdogmatik, sondern den funktionalen Unionsgerichten überlassen möchte. Die Entwicklungsgeschichte des gewöhnlichen Aufenthalts scheint den Gesetzgeber zu bestätigen, lehnte man eine Definition des gewöhnlichen Aufenthalts im Zusam1 2
S.o. § 1 B. II.; § 6 C.; vgl. zu den historischen Mängeln § 4 C II. 2. Ausführlich s.o. § 6 A. II. 2. b).
A. Legitimität und praktische Notwendigkeit
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menhang mit dem Haager Erbrechtsübereinkommen doch gerade mit dem Hinweis ab, Überlegungen zum Wortinhalt des Begriffs seien bei der Rechtsprechung besser aufgehoben. 3 Im selben Zusammenhang wurde aber auch die berechtigte Befürchtung geäußert, dem Begriff drohe gerade der Abwesenheit einer Definition wegen die rechtskulturelle Usurpation durch einzelne Mitgliedstaaten. 4 Obwohl die Begriffsbildung in der Union unter anderen Vorzeichen und unter Aufsicht eines nach Art. 267 AEUV kontrollbefugten EuGH stattfinden könnte, ist diese Gefahr keineswegs gebannt. Hinzu kommt, dass eine Begriffskonkretisierung durch die Rechtsprechung Rezeptionsunschärfen nicht nur erzeugen kann, sondern sie beinahe notwendig nach sich zieht: Die funktionalen Unionsgerichte müssen sich aktuell parallel mit ÄAltfällen³ zum nationalen IPR und Staatsvertragsrecht und mit Neufällen zum unionsrechtlichen IPR befassen. Entsprechend lässt sich nur schwer kontrollieren, ob im Einzelfall nationale Grundsätze zur Handhabung des Begriffs auf das Verordnungsrecht übertragen werden oder ob ein Beitrag zur Entwicklung des autonom-unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs geleistet wird. II. Rechtsunsicherheit Nicht nur die Erschließung des gewöhnlichen Aufenthalts durch die Dogmatik, sondern auch seine differenzierte Handhabung ist begründungsbedürftig. 5 Dogmatische Konstrukte werden nämlich per definitionem nicht Teil des kodifizierten Gesetzesrechts. Eine rechtsunkundige Einzelperson muss sich also um professionellen Rechtsbeistand bemühen, wenn sie eine Auskunft über die konkrete Bedeutung der Aufenthaltsanknüpfung erhalten möchte. Besonders problematisch ist eine Differenzierung im Aufenthaltsverständnis, wenn sie innerhalb eines Rechtsakts oder sogar innerhalb einer Kollisionsnorm zu begrifflichen Spaltungen führt. 6 Genau diese Entwicklung droht, wenn man eine Unterscheidung nach unterschiedlichen Faktoren und mit unklarem Ausgang vorschlägt. Der Rechtssicherheit wäre es aber ebenso abträglich, wenn man die Anwendungsdisparitäten ignorierte und sich auf den Standpunkt stellte, der gewöhnliche Aufenthalt sei im Kern überall gleich zu verstehen.7 Der Kontrast zwischen allgegenwärtigem Einsatz und geringer Begriffsdichte würde durch diese Haltung auf Dauer noch verschärft. 8 Bereits jetzt ist es 3
Baetge, FS Kropholler, 2008, 77; Rauscher, FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (641). S.o. § 4 B. III. 4. e). 5 So mit Blick auf das autonome IPR MüKoBGB/Sonnenberger, 5. Auflage 2010, Einl. IPR 5QlKQOLFKÄZLGHUVSUFKOLFK³ DXFKKindler, IPRax 2010, 44 (46). 6 So auch Kindler, IPRax 2010, 44 (46). 7 So Rauscher, FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (641). 8 Mit dieser Erwägung spricht sich auch Hilbig-Lugani, GPR 2014, 8 (15), für eine abstrakte Differenzierung im Aufenthaltsverständnis aus. 4
334
§ 8 Differenziertes Aufenthaltsverständnis
jenseits klarer Fälle schwer vorhersehbar, nach welchen Parametern und auf welcher Tatsachenbasis der gewöhnliche Aufenthalt zu bestimmen ist. Diese Unsicherheit kann nur durch eine typisierende Abschichtung überwunden werden. III. Zwischenergebnis Eine Differenzierung im Aufenthaltsverständnis ist also nicht nur möglich, sondern lässt sich auch mit den unionsprimärrechtlichen Vorgaben an die Kollisionsrechtsharmonisierung vereinbaren. Auch die Rechtssicherheit wird nicht beeinträchtigt, sondern gefördert, wenn die Aufgabe, den gewöhnlichen Aufenthalt zu erschließen, weder pauschal dem Einzelfall noch langfristig dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Entscheidung überantwortet wird. Die Aufgabe, jenseits grober Konturen einen Auslegungsleitfaden für den gewöhnlichen Aufenthalt zu entwickeln, lässt sich also berechtigterweise der Rechtsdogmatik zuordnen. Andererseits setzen die angeführten Erwägungen einer begrifflichen Differenzierung enge Grenzen. Eine Abschichtung ist erstens nur dort zulässig, wo die Hypothese eines einheitlichen Aufenthaltsverständnisses den Anknüpfungszweck abstrakt konterkariert. Das ist nur der Fall, wenn sich Bedeutungsunterschiede nicht rechtsrealistisch durch Abweichungen im Verfahrensrecht oder in der praktischen Handhabung des Begriffs erklären lassen. Zweitens muss jeder Differenzierungsvorschlag einerseits dem der Kollisionsrechtsharmonisierung zugrundeliegenden Gebot der Vorhersehbarkeit genügen 9 und drittens muss er die gesetzgeberische Grundsatzentscheidung respektieren, dass das Europäische Kollisionsrecht gerade nicht durch eine Gesamtkodifikation, sondern durch einzelne Rechtsakte harmonisiert wird.10 Die Überlegung, im Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts nach Rechtsakt (§ 9 A.) und Rechtsgebiet (§ 9 B.) zu differenzieren, soll daher an erster Stelle gewürdigt werden. Dem soll ein Überblick über vorhandene Differenzierungsvorschläge vorangehen.
S. statt vieler Erwägungsgrund (16) zur Rom II-VO Ä(LQKHLWOLFKH %HVWLPPXQJHQ sollten die Vorhersehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen verbessern [...]³ +HUY d. Verf.). 10 Zum Vorschlag eines IPR-Gesetzbuches s. aber Rühl/von Hein, RabelsZ 79 (2015), 701 (714). 9
B. Vorhandene Differenzierungsmöglichkeiten
335
B. Vorhandene Differenzierungsmöglichkeiten B. Vorhandene Differenzierungsmöglichkeiten
Das Unterfangen, im Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts tragfähige Differenzierungsparameter zu entwickeln, kann auf vorhandenen Überlegungen aufbauen. Die nationale und staatsvertragliche IPR-Dogmatik hat nämlich bereits unterschiedliche Ansätze entwickelt, um den gewöhnlichen Aufenthalt zu systematisieren. I. Internationalprivatrechtlicher gegen öffentlich-rechtlicher Aufenthaltsbegriff 1. Begründung Die kollisionsrechtliche Literatur schlägt vor, den gewöhnlichen Aufenthalt im Rahmen des Internationalen Privatrechts dogmatisch von anderen Rechtsgebieten zu isolieren.11 Die praktische Konsequenz dieser Forderung liegt darin, dass sich Rückschlüsse aus Legaldefinitionen des gewöhnlichen Aufenthalts auf seine Bedeutung im Internationalen Privatrecht verbieten. In der Bundesrepublik sind von dieser Sperre namentlich das Steuerrecht (§ 9 AO12) und das Sozialrecht (§ 30 Abs. 3 S. 2 SGB I 13 ) betroffen. Im Unionsrecht stellt sich die Frage, ob den sozialrechtlichen Judikaten des Gerichtshofs von vornherein die Relevanz für das Kollisionsrecht abgesprochen werden muss. Diese Überlegung erzeugt auf den ersten Blick Spannungen mit den Ergebnissen, die die historische Rekonstruktion im zweiten Teil der Arbeit erzeugt hat. Dort wurde festgestellt, dass der Begriff nicht im IPR, sondern im Recht der Prozesskostenhilfe entwickelt wurde. 14 Angesichts der rechtspolitischen Kritik an der Aufenthaltsanknüpfung erscheint die Differenzierung aber be11
Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 41. A.A. aber Kegel/Schurig, IPR, § 13 III, 413; Spickhoff, Asylbewerber und gewöhnlicher Aufenthalt im internationalen Zivilprozeß- und Privatrecht, IPRax 1990, 225 (226); SoergelBGB/Kegel Art. 29 EGBGB Rn. 30. Maack, Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts, 1954, 135. 12 § 9: ÄDen gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Als gewöhnlicher Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes ist stets und von Beginn an zeitlich zusammenhängender Aufenthalt von mehr als sechs Monaten Dauer anzusehen; kurzfristige Unterbrechungen bleiben unberücksichtigt. Satz 2 gilt nicht, wenn der Aufenthalt ausschließlich zu Besuchs-, Erholungs-, Kur- oder ähnlichen SULYDWHQ=ZHFNHQJHQRPPHQZLUGXQGQLFKWOlQJHUDOVHLQ-DKUGDXHUW³ 13 Ä'HQJHZ|KQOLFKHQ$XIHQWKDOWKDWMHPDQGGRUWZRHUVLFKXQWHU8PVWlQGHQDXIKlOW die erkennen lassen, daß er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend YHUZHLOW³%HPHUNHQVZHUWHUZHLVHGHFNWVLFKQLFKWQXUGLHVH'HILQLWLRQQDKH]XYROOVWlQGLJ mit der des § 9 AO, sondern zeigt auch bedeutsame inhaltliche Überschneidungen mit der Umschreibung, die der EuGH dem Aufenthaltsbegriff in den an früherer Stelle diskutierten Judikaten Mercredi und A zuweist. 14 Siehe oben § 4 B. III. 1.
336
§ 8 Differenziertes Aufenthaltsverständnis
rechtigt. Schließlich wurde die Dominanz des gewöhnlichen Aufenthalts im internationalprivatrechtlichen Unionskollisionsrecht gerade seiner sozial- und steuerrechtlichen Herkunft wegen kritisiert. 15 Eine begriffliche Trennung kann insofern dem Vorwurf begegnen, dass ein Konzept aus dem Recht der Daseinsvorsorge und dem Steuerrecht die besonderen Anforderungen internationalprivatrechtlicher Anknüpfungspunkte seiner öffentlich-rechtlichen Provenienz wegen nicht zu lösen vermag. 16 2. Gegenargumente Der Vorschlag einer Differenzierung zwischen internationalprivatrechtlichem und Äöffentlich-rechtlichem³ gewöhnlichem Aufenthalt kann sich auf gewichtige Argumente stützen, ist aber trotzdem kritikwürdig. a) § 9 S. 1 AO und § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I als praktische Begriffseinheit Zunächst stützt sich der Vorschlag auf die Annahme, dass der Gesetzgeber die steuer- und sozialrechtlichen Definitionen des gewöhnlichen Aufenthalts ausschließlich auf diejenigen Rechtsgebiete beziehen möchte, für die er sie verabschiedet hat. 17 Auch zwischen dem steuer- und dem sozialrechtlichen Aufenthaltsbegriff soll es damit keine Überschneidungen geben. Diese Annahme steht allerdings im Widerspruch zu Wortlaut, Entstehungsgeschichte und rechtspraktischer Handhabung beider Vorschriften. Erstens sind § 9 S. 1 AO und § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I im Wortlaut nahezu identisch. 18 Auch wurden die Bestimmungen und die dazugehörenden Gesetze in enger zeitlicher Abfolge erlassen, nämlich 1975 (SGB I) und 1977 (AO). Freilich hatte zwischenzeitlich, am 3.10.1976, die Wahl zum 8. Deutschen Bundestag stattgefunden. Am 16. Dezember 1976 hatte eine neue Legislaturperiode begonnen. 19 Das Ausfertigungsdatum der AO datiert allerdings auf den 16.3.1976. Das Gesetz wurde also ebenso wie das SGB I durch den siebten Deutschen Bundestag verabschiedet, das am 11.12.1975 ausgefertigt wurde. 20 15
Für ein aktuelles Beispiel solcher Kritik vgl. d¶Avout, Mélanges en l¶honneur Audit, 2014, 17; Rauscher, FS Coester-Waltjen, 2015, 637. 16 Ausführlicher dazu Rentsch, ZEuP 2015, 288. 17 Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 42. 18 S.o. § 3 A. I. 19 Stimmvergabe, insbesondere im Verhältnis zur Wahl des 7. Deutschen Bundestages 1974, s. . Für diesen Hinweis danke ich Prof. Dr. Christoph Kern, LL.M. (Harvard) (Heidelberg). 20 Richtig ist aber, dass der erste Regierungsentwurf der Abgabenordnung dem Bundestag noch in der 6. Wahlperiode, am 19.3.1971, zugeleitet worden war, BT-Druckrs. VI/1982, 1, und das Justizministerium erst seit 1974 unter der ministerialen Leitung HansJochen Vogels stand. Für die Identität im Willen des parlamentarischen Gesetzgebers
B. Vorhandene Differenzierungsmöglichkeiten
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Diese parlamentarische Kontinuität erzeugt eine starke Vermutung dafür, dass die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt in beiden Fällen auf identischen Motiven beruht. Diese Vermutung durch einen Blick auf die nachfolgende Rechtsprechung bestätigt. Dort werden die Definitionen in § 9 AO und § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I als analogiefähige Parallelbestimmungen verstanden und entsprechend angewandt. 21 Insbesondere wird die durch § 9 S. 2 AO aufgestellte Vermutung, wonach ein gewöhnlicher Aufenthalt erst nach einer sechsmonatigen tatsächlichen Anwesenheit begründet wird, in die Aufenthaltsdefinition des § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I hineingelesen. 22 b) Gesetzgebungsgeschichte Ebenso wenig lässt es sich verbindlich belegen, dass der sozial- und steuerrechtliche Aufenthaltsbegriff sich grundlegend von seinem internationalprivatrechtlichen Partner unterscheiden soll. Im Gegenteil zeigt sowohl die im zweiten Teil der Arbeit besprochene Resolution 72 (1) des Europarates vom 18.1.1972 als auch die Praxis der Haager Konferenz im Vorfeld des Haager Erbrechtsübereinkommens von 1989, 23 dass die Mehrheit der mit dem gewöhnlichen Aufenthalt befassten rechtssetzenden Organe einen im Sozialund Steuerrecht und IPR und IZVR gleichermaßen gültigen Aufenthaltsbegriff zugrunde gelegt hatte. 24 Dieser Verdacht erhärtet sich in Anbetracht der Begründung zum IPRG von 1986. Der Gesetzgeber lehnt sein Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts hier ausdrücklich an § 9 AO an.25 c) Konsequenzen für das Unionsrecht Die beschriebene Debatte ist auch für das Unionsrecht bedeutsam. Konkret ist fraglich, ob sich die sozialrechtliche Rechtsprechung zum ständigen Wohnsitz in Grundzügen für den gewöhnlichen Aufenthalt im EU-
spricht aber trotzdem die enge zeitliche Folge, in der beide Gesetze im Bundestag verabschiedet wurden. 21 S. nur OVG Greifswald, 8.9.1998 ± 2 M 80/98 (Anwendung von § 30 SGB I auf § 3 VwVfG); OVG Münster, 20.8.2015 ± 12 A 661/14, Rn. 3 ± BeckRS 2015, 52543 (Verw. auf § 9 AO in einem Urteil zu § 30 SGB I). 22 LSG Nordrhein-Westfalen, 29.8.2011 ± L 3 R 454/10, Rn. 6. 23 Im Rahmen der Verhandlungen um das Erbrechtsabkommen 1989 wurde vorgeschlagen, die Aufenthaltsdefinition des OECD-Musterabkommens zur Doppelbesteuerung analog auf das Erbrechtsübereinkommen zu übertragen, Actes et Doc. 1988-II, 298. Dazu auch Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 42. 24 Das gibt auch Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 42, zu, der sich aber dennoch gegen ein einheitliches Aufenthaltsverständnis entscheidet. 25 BT-Drucks. 10/504, 41; Pirrung, Internationales Privat- und Verfahrensrecht nach dem Inkrafttreten der Neuregelung des IPR, 1987, 122; Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 42.
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§ 8 Differenziertes Aufenthaltsverständnis
Kollisionsrecht gelten sollte. 26 Die bereits erwähnte Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 8 Abs.1 EuEheVO scheint die Analogiefähigkeit sozialrechtlicher Rechtsprechung auf das Kollisionsrecht in der Tendenz abzulehnen. 27 Allerdings wurde auch darauf hingewiesen, dass offen ist, ob diese Entscheidung für das Unionskollisionsrecht insgesamt gilt oder lediglich der besonderen Zweckbindung der Aufenthaltsanknüpfung im Internationalen Sorgerecht geschuldet ist. Ein starkes Indiz für die zweite Lösung liefert der Borrás-Bericht zur EuEheVO. 28 Im Hinblick auf Art. 3 EuEheVO begründet er den Verzicht auf eine Legaldefinition oder eine entsprechend Art. 63 Brüssel Ia-VO formulierte Kollisionsnorm, die eine autonome Definition ersetzen kann, damit, dass der EuGH den Begriff bereits ausreichend präzise umschrieben habe. 29 Dabei bezieht sich der Bericht nicht auf das EUKollisionsrecht, sondern auf die Swaddling-Entscheidung, die ihrerseits aber wieder das Europäische Internationale Sozialrecht betrifft.30 Bereits die damit bewiesene Unklarheit über die Analogiefähigkeit der Aufenthaltsbestimmungen in anderen Rechtsgebieten berechtigt zur Einbeziehung von Funktion und Zweckbindung des gewöhnlichen Aufenthalts in diesen Nachbardisziplinen in die vorliegende Abhandlung. II. Funktionale Differenzierung innerhalb des Internationalen Privatrechts Wie zuvor angedeutet wurde, hat sich auch innerhalb des Internationalen Privatrechts die Ansicht durchgesetzt, dass es sich beim gewöhnlichen Aufenthalt um einen funktionalen Begriff handelt, der je nach Regelungskontext unterschiedlich verstanden werden muss. 31
26
Zum Bestand s.o. § 6 B. I. S.o. § 6 B. II. 1. b) aa). Einen pauschalen Ausschluss des Europäischen Sozialrechts und benachbarter Gebiete aus der vorliegenden Analyse rechtfertigen die genannten, eher vagen Aussagen des Gerichtshofs, aber nicht. 28 Borrás, ABl. 1998 C 221/27, Rn. 32. 29 ,ELG5QÄ,QGHVVHQZXUGHGHP8PVWDQGEHVRQGHUV5HFKQXQJJHWUDJHQGDGHU Gerichtshof bei verschiedenen Gelegenheiten ± wenn auch nicht bezƺglich des Brƺsseler Übereinkommens von 1968 ± folgende Definition des ständigen Wohnsitzes gegeben hat: ÄGHU2UWGHQGHU%HWURIIHQHDOVVWlQGLJHQ oder gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Lebensinteressen in der Absicht gewählt hat, ihm Dauerhaftigkeit zu verleihen, wobei fƺr die Feststellung dieses Wohnsitzes alle hierfƺr wesentlichen tatsächlichen Gesichtspunkte zu berƺFNVLFKWLJHQVLQG³ 30 EuGH ± C-90/97 ± Swaddling ./. Chief Adjudication Officer ± Slg. 1999 I-1075. 31 Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 90, m.Verw. auf Schwind'HUÄJHZ|KnOLFKH$XIHQWKDOW³LP,35)6)HULG ders., RabelsZ 55 (1991), 391. 27
B. Vorhandene Differenzierungsmöglichkeiten
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1. Vorhandene Differenzierungsansätze a) Differenzierung nach Anknüpfungsgegenstand Die breiteste Zustimmung hat insoweit der Ansatz Jan Krophollers und PaulHeinrich Neuhaus¶ gefunden. Danach soll der gewöhnliche Aufenthalt je nachdem unterschiedlich verstanden werden, welchen Anknüpfungsgegenstand32 er bedient.33 Diese Überlegung gebietet einerseits eine Trennung zwischen Vertragsrecht und Familienrecht. 34 Andererseits wird zwischen einem zuständigkeitsrechtlichen und einem im engeren Sinne internationalprivatrechtlichen Aufenthaltsbegriff unterschieden. Während der gewöhnliche Aufenthalt im Rahmen der Zuständigkeitsbestimmung exorbitante Gerichtszuständigkeiten vermeidet, soll er im Internationalen Privatrecht eine Maximalverbindung zwischen einer Person und einer Rechtsordnung ausweisen. 35 Das praktische Resultat der Trennungsthese ist, dass der gewöhnliche Aufenthalt im Rahmen der Zuständigkeit und des anwendbaren Rechts gesondert festgestellt wird. Im deutschen Recht betraf diese Überlegung namentlich § 606 Abs. 2 ZPO a.F. und Art. 14, 15 EGBGB.36 Die Aufenthaltsfeststellung im Rahmen der ZPO sollte in den Augen der Autoren die Frage des anwendbaren Rechts nicht präjudizieren;37 im Gegenteil sollte es möglich sein, den gewöhnlichen Aufenthalt für die Zwecke der internationalen Zuständigkeit zu bejahen und ihn für das anwendbare Recht abzulehnen. b) Differenzierung nach Anknüpfungssubjekt und innerem Regelungszusammenhang Dietmar Baetge greift die von Kropholler und Neuhaus vertretene These auf und entwickelt sie zu einem dreistufigen Differenzierungsmodell weiter. In seinen Augen ist erstens mit Rücksicht auf das Anknüpfungssubjekt (Kinder und Erwachsene), zweitens im Hinblick auf den kollisionsrechtlichen Regelungszusammenhang (Bereiche des Kollisionsrechts) und drittens in Ansehung der Funktion des gewöhnlichen Aufenthalts innerhalb einer Kollisionsnorm zu differenzieren. Für die letztgenannte Unterscheidung ist entschei-
32
Klärung bei Weller, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0Verordnung?, 2013, 293 (312 f.). 33 Neuhaus, Grundbegriffe, 227; Kropholler, IPR, § 39 II 4. 34 Neuhaus, Grundbegriffe, 227; Kropholler, IPR, § 39 II 4; Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 87 f. 35 Allgemein Mankowski, internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht ± Parallelen und Divergenzen, FS Heldrich, 2005, 867. 36 Schack, Rezension ]X Ä,QWHUQDWLRQDOHV 3ULYDWUHFKW³ YRQ -DQ .URSKROOHU AcP 191 (1991) 373 (375). 37 Schack, AcP 191 (1991), 373 (375).
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§ 8 Differenziertes Aufenthaltsverständnis
dend, ob der gewöhnliche Aufenthalt den Gegenstand einer Regel- oder den einer Ausnahmeanknüpfung bildet.38 c) Differenzierung nach Art des Rechtsverhältnisses Unabhängig von der Systematik des EGBGB schlagen Fritz Schwind und René van Rooij vor, die Natur des angeknüpften Rechtsverhältnisses zum entscheidenden Faktor in der Unterscheidung aufzuwerten. Schwind spricht sich insoweit für eine Differenzierung nach Äpunktuellen³ und Dauerrechtsverhältnissen aus. 39 Sofern die Allokation einer punktuellen Verbindung gefragt ist,40 sollen insbesondere in zeitlicher Hinsicht geringe Anforderungen an den gewöhnlichen Aufenthalt gestellt werden. Je breiter der zeitliche Bezugsrahmen eines Rechtsverhältnisses ist, sei es ein Dauerschuldverhältnis oder eine Ehe, desto höhere Anforderungen möchte er an einen Statutenwechsel stellen.41 Diese Überlegung soll jedenfalls dann gelten, wenn nicht ein punktueller Akt, wie beispielsweise eine Eheschließung, zur Diskussion steht, sondern der gewöhnliche Aufenthalt den Gegenstand einer wandelbaren Anknüpfung bildet. 42 Van Rooij rät darüber hinaus eine Unterscheidung zwischen natürlichen Personen und Personenmehrheiten an. 43 Es lasse sich nämlich im Interesse der Vorhersehbarkeit annehmen, dass je nach Umfang und abstrakter Erkennbarkeit des Adressatenkreises, höhere oder niedrigere Anforderungen an den Aufenthaltsnachweis gestellt werden sollen. d) Differenzierung nach innerem Regelungszusammenhang Veit Stoll spricht sich für eine kategorische Trennung zwischen dem gewöhnlichen Aufenthalt im Zusammenhang mit einer Rechtswahlbestimmung und im Rahmen einer objektiven Verweisung aus.44 Der rechtswahlbeschränkende gewöhnliche Aufenthalt soll im Interesse der Publizität und Rechtssicherheit nach formalen, äußerlich feststellbaren Tatsachen bestimmt werden. Im Rahmen einer objektiven Anknüpfung soll dagegen ein breiterer Spielraum für den Parteivortrag und die richterliche Tatsachenauswertung bestehen. 45 Die Ansicht ist für das Unionsrecht von hoher Relevanz, da der gewöhnliche Aufenthalt dort an zahlreichen Stellen zur Konkretisierung von Rechtswahl38
Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 98±100. Schwind, FS Ferid, 1988, 423 (425); van Rooij, The Concept of domicile (Woonplaats) in Netherlands Private International Law, NILR 22 (1975) 165 (176 ff.). 40 Schwind nennt das Beispiel eines rumänischen Straßenmalers in Paris, der gegen Kommission Portraits anfertigt. Ders., FS Ferid, 1988, 423 (425). 41 Schwind, FS Ferid, 1988, 423 (426). 42 Schwind, FS Ferid, 1988, 423 (427). 43 van Rooij, NILR 22 (1975), 165 (176, 179). 44 Stoll, Rechtswahl, 1991, 144. 45 Stoll, Rechtswahl, 1991, 144. 39
B. Vorhandene Differenzierungsmöglichkeiten
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tatbeständen eingesetzt wird. Sie wird an späterer Stelle daher eine ausführliche Würdigung erfahren.46 e) Zusammenfassung Insgesamt lassen sich in der autonom-internationalprivatrechtlichen und der staatsvertraglichen Debatte folgende Differenzierungsvorschläge identifizieren: Erstens sind an den internationalprivatrechtlichen Aufenthaltsbegriff andere Anforderungen zu stellen als an den gleichlautenden sozial- und steuerrechtlichen, aber auch den zivilprozessualen Aufenthaltsbegriff. Zweitens muss innerhalb des Kollisionsrechts im engeren Sinne abgeschichtet werden. Zunächst folgt der Aufenthaltsbegriff des Personen-, Familien- und Erbrechts einer anderen Zweckbindung als der des Vertrags- und Deliktsrechts. Ferner soll für Bargeschäfte des täglichen Lebens ein geringerer Maßstab gelten als bei Dauerschuldverhältnissen. Bei der retrospektiven Bestimmung des anwendbaren Rechts im Rahmen zeitlich fixierter Rechtsverhältnisse (Eheschließung und Ehescheidung) liegen die Dinge anders als bei einer wandelbaren Anknüpfung von Dauerrechtsverhältnissen (Ehegüterrecht). Schließlich folgt der gewöhnliche Aufenthalt von Kindern nicht nur anderen Parametern, sondern soll im Zweifel schneller wechseln können als derjenige Erwachsener;47 auch soll der gewöhnliche Aufenthalt im Rahmen einer Regelanknüpfung fungibler sein als im Rahmen einer Ausnahmeanknüpfung. Schließlich muss der gewöhnliche Aufenthalt nach anderen Kriterien als im Rahmen der objektiven Anknüpfung bestimmt werden, wenn er der Konkretisierung einer Rechtswahlbestimmung dient. 2. Differenzierungsmodus Der Modus, also die Art der Differenzierung, die die unterschiedlichen Ansätze für die praktische Umsetzung ihrer Typologie vorschlagen, kommt regelmäßig nicht zur Sprache. Allgemein gelten insoweit die Grundprinzipien der systematischen Auslegung: Je nach Regelungs- oder Wortzusammenhang ist es möglich, die Deutungsvarianten, die ein Begriff in der Alltagssprache besitzt, zu reduzieren oder auf einen möglichen Begriffssinn zu verengen. 48 46
S.u. § 9 C. I. 2. c) cc). Diese Überlegung beruht auf der Überlegung Baetges, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 98, dass Kinder sich rascher in ein neues Umfeld einfügen als Erwachsene. 48 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Auflage 1983, 310: Ä:HOFKH GHU mannigfachen Bedeutungsvarianten, die einem Ausdruck nach dem Sprachgebrauch zukommen können, jeweils in Betracht kommt, das ergibt sich in der Regel, wenn auch nicht immer mit letzter Genauigkeit, aus dem Zusammenhang, in GHP HU JHEUDXFKW ZLUG³ )U den vorliegenden Fall bedeutet das, dass die Gesamtheit der möglichen Wortsinne des gewöhnlichen Aufenthalts sich je nach systematischem Zusammenhang auf eine Bedeutungsvariante vHUHQJW'LHYRQGHU/LWHUDWXUYRUJHVFKODJHQHÄ'LIIHUHQ]LHUXQJ³LP$XIHQt47
342
§ 8 Differenziertes Aufenthaltsverständnis
Die genannten Literaturstimmen begnügen sich meist mit dem Hinweis, dass der gewöhnliche Aufenthalt je nach Rechtsgebiet Ägroßzügiger³ oder Ästrenger³ verstanden werden müsse. 49 Diese Indifferenz findet ihre Rechtfertigung darin, dass die meisten Autoren die Aufenthaltsdauer zwar in ihrer Funktion als einziges Integrationsindiz ablehnen, 50 sie aber trotzdem in der Aufenthaltsbestimmung als zentralen Gradmesser sozialer Integration verstanden wissen möchten. 51 Sofern man diesem Ansatz folgt, erscheint der Differenzierungsmodus auf der Hand zu liegen: Je länger ein tatsächlicher Aufenthalt in einem Land angedauert hat, desto intensiver sind die sozialen Bindungen an die dortige Rechtsordnung. 52 Je länger die Anwesenheit, desto Äintensiver³ also der gewöhnliche Aufenthalt. Die Arbeit hat sich darum bemüht, eine Alternative zu diesem Verständnis zu entwickeln.53 Sie hat einerseits argumentiert, dass sich eine verbindliche Zeitangabe für die Mindestverweildauer rechtsvergleichend nur schwer ermitteln lässt. Andererseits hat sie an der lex lata des EU-Kollisionsrechts und IZVR nachgewiesen, dass der Verordnungsgeber die Verweildauer anscheinend selbst unabhängig vom gewöhnlichen Aufenthalt geregelt wissen möchte. Sofern man dem Vorschlag der Abhandlung folgt und bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts mit der im Rahmen dieser Arbeit vertretenen Ansicht im Zweifel nicht auf die Verweildauer, sondern auf den Niederlassungswillen abstellt, stellt sich also die Folgefrage, welcher Differenzierungsmodus anzusetzen ist, wenn man einen Aufenthaltswechsel nicht in Ansehung zeitlicher Kriterien, sondern auf der Grundlage des Verweilwillens bestimmen möchte. Einerseits erscheint es möglich, die Kriterien für einen Statutenwechsel je nach Rechtsgebiet und Anknüpfungsfunktion an unterschiedlichen äußeren Tatsachen festzumachen. Im Vertragsrecht, aber auch im Insolvenzrecht steht der gewöhnliche Aufenthalt stereotyp für die rechtliche Umwelt einer Person, soweit diese verkehrsrelevant, insbesondere aber für den Vertragspartner er-
haltsverständnis ist also genau genommen eine nuancierende Konkretisierung des abstrakten, allgemeinen Wortsinnes, den der gewöhnliche Aufenthalt in der Alltagssprache b esitzt. 49 Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 101, deutet an, dass sich gelockerte Anforderungen an den gewöhnlichen Aufenthalt in Form einer geringeren Eingewöhnungsdauer auswirken können. 50 Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 52. 51 S. Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 101. 52 Freilich ist auch Art. 26 Abs. 3 lit. a) EuGüVO von dieser Erwägung getragen. Sie soll im Rahmen dieser Arbeit auch nicht angezweifelt werden; lediglich haben die vorstehenden Überlegungen zum Begriffsinhalt des gewöhnlichen Aufenthalts verdeutlicht, dass die Aufenthaltsdauer ungeeignet ist, um einen Aufenthaltswechsel trennscharf zu bestimmen. 53 S.o. § 5 B. II. 2. b) cc).
B. Vorhandene Differenzierungsmöglichkeiten
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kennbar, ist. Persönliche Wünsche und familiäre Bindungen dürften nur relevant sein, wenn sie das Vertragsschlussverhalten einer Person beeinflussen. Im Unterhaltsrecht besteht dagegen ein Interesse daran, eine Unterhaltsforderung ihrem Grund und ihrer Höhe nach an die sich wandelnden Bedürfnisse einer Person anzupassen. Im Nachlassverfahren können die Aufenthaltsdauer und die familiären Bindungen einer Person schon deshalb eine größere Rolle spielen als in anderen Sachzusammenhängen, weil außer dem testierenden Erblasser selbst kein Beteiligter ein schützenswertes Vertrauen in das anwendbare Recht entwickelt. In Sorgerechtsstreitigkeiten sollte sich die Aufenthaltsbestimmung schließlich am Kindeswohl orientieren. Dessen Ermittlung stellt sich wiederum als Wechselspiel zwischen einem tatsächlichen Kinderwillen und einer gerichtlichen Wertungsentscheidung darüber dar, wie dieser Wille beschaffen sein könnte oder sollte. 54 Es erscheint aber möglich, den Vorstoß der Vertreter eines zeitbezogenen Aufenthaltsverständnisses unter veränderten Vorzeichen für den hier vorgeschlagenen Begriffsinhalt zu verwerten. Entsprechend muss dann die Frage nach der ÄIntensität³ des Aufenthaltsverständnisses beantwortet werden, deren Auswirkungen dann freilich in weiten Teilen von der prozessualen Handhabung des gewöhnlichen Aufenthalts abhängen würden. 55 Eine Entscheidung zwischen beiden Alternativen ist insofern geboten, als beide Umsetzugsmodi sich unterschiedlich auswirken. Die Differenzierung nach den aufenthaltsrelevanten Kriterien aktiviert die allgemeinen Lehren der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe. Im Fall einer Äintensitätsbezogenen³ Abschichtung liefern die gerade diskutierten Differenzierungsvorschläge dagegen Prognosen für die praktischen Anwendungsergebnisse der Aufenthaltsanknüpfung in unterschiedlichen Regelungszusammenhängen. 56 Allerdings fehlen der Arbeit sowohl die analytischen Mittel als auch die Anhaltspunkte, um die Frage nach dem Differenzierungsmodus all54
S.o. § 5 B. II. 3. c). :HQ GLHVH Ä,QWHQVLWlW³ WULIIW KlQJW DXFK GDYRQ DE, in welchem Verfahren sich die Frage des anwendbaren Rechts stellt. Im Familienverfahren trifft eine verstärkte Nachweispflicht ausweislich des in den §§ 26, 127 Abs. 1 FamFG festgeschriebenen, eingeschränkten Amtsermittlungsgrundsatzes die Gerichte, vgl. BeckOKFamFG/Nickel § 127 FamFG Rn. 4±5; in Zivil- und Handelssachen, die dem Beibringungsgrundsatz folgen, sind im Grundsatz die Parteien beweisbelastet, Musielak/Voit/Musielak Einleitung ZPO Rn. 37 ff. Die besondere Struktur der Beweislastfrage im Kollisionsrecht relativiert diesen Unterschied aber entscheidend, s. Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, 126 ff. Die Frage nach dem Auslandsbezug eines Sachverhalts und dem anwendbaren Recht ist auch im Zivilverfahren in den meisten Mitgliedstaaten von Amts wegen zu prüfen. Zur deutschen Rechtslage s. Trautmann, Europäisches Kollisionsrecht und ausländisches Recht im Zivilverfahren, 2011, 19, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung in Fn. 5, und solchen aus der Literatur in Fn. 6. 56 In diese Richtung auch Weller, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0-Verordnung?, 2013, 293 (321). 55
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§ 8 Differenziertes Aufenthaltsverständnis
gemeinverbindlich zu beantworten. Die Antwort hängt vielmehr davon ab, nach welchem Kriterium eine Abschichtung erfolgen soll. Der Modus der Differenzierung und die Frage, wann der gewöhnliche Aufenthalt mehr und wann er weniger Äintensiv³ ausfällt, hängt also unmittelbar von den Parametern und Kriterien der Abschichtung ab (§ 10). III. Übertragbarkeit auf das Unionsrecht Die besprochenen Vorschläge geben grobe Leitlinien für eine Systematisierung des gewöhnlichen Aufenthalts vor. Grob können, erstens, der Anknüpfungsgegenstand (B.), zweitens das Anknüpfungssubjekt (E.), drittens der äußere (C.) und viertens der innere Regelungszusammenhang (D.) das Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts beeinflussen. Inwieweit sich diese Überlegungen auf das Europäische Kollisionsrecht übertragen lassen, ist damit aber noch nicht geklärt. Alle dargestellten Modelle setzen nämlich nicht an den Anknüpfungsprinzipien und der Systematik des Europäischen IPR an, sondern legen das EGBGB, das Österreichische IPRG oder das Haager Konventionsrecht zugrunde. Sie berücksichtigen damit gerade nicht die Besonderheiten harmonisierter Kollisionsnormen in der Union. Ob die gerade vorgestellten Differenzierungen für das autonome IPR oder für das Staatsvertragsrecht Gewicht haben, muss nicht beantwortet werden. Der folgende Abschnitt wird sich stattdessen ausschließlich der Frage nach der Analogiefähigkeit für das Unionsrecht widmen.
C. Thesen C. Thesen
1. In der nationalen IPR-Dogmatik wird mehrheitlich eine Trennung zwischen dem gewöhnlichen Aufenthalt als kollisionsrechtlichem Anknüpfungspunkt und dem identisch lautenden Begriff im nationalen Steuer- und Sozialrecht vorgeschlagen. Diese Überlegung kann im Kontext des Unionsrechts nur eingeschränkt gelten. Entsprechend muss die Funktion des gewöhnlichen Aufenthalts im Europäischen Sozialrecht und anderen Nachbargebieten des Europäischen IPR und IZVR bei der Skizzierung eines unionskollisionsrechtlichen Aufenthaltsbegriffs Berücksichtigung finden. 2. Das nationale IPR unterscheidet im Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts nach Anknüpfungsgegenstand und Rechtsgebiet (Kropholler/Neuhaus/Baetge), nach Anknüpfungssubjekt und innerem Regelungszusammenhang (Baetge), nach der Natur und gewöhnlichen Dauer des Rechtsverhältnisses (Schwind/van Rooij) und schließlich nach objektiver oder subjektiver Anknüpfung (Stoll).
C. Thesen
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3. In Ansehung dieser Kriterien wird ein abgestufter Intensitätsgrad für den Nachweis oder die Begründung einess gewöhnlichen Aufenthalts gefordert. Die für die Aufenthaltsbestimmung relevanten Kriterien bleiben gleich.
§ 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht § 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht
A. Differenzierung nach Rechtsakt A. Differenzierung nach Rechtsakt
I. Differenzierung nach Rechtsaktinhalt Ein Blick auf die Systematik der Rom- und Brüssel-Verordnungen legt es nahe, die für das autonome IPR vorgeschlagene ÄDifferenzierung nach Rechtsgebieten³ in den Vorschlag einer Trennung nach Rechtsakten zu übersetzen. 1. Argumente für eine Differenzierung Dass die Kodifikation des EU-Kollisionsrechts nicht in einem IPRGesetzbuch, sondern im Wege unabhängiger Einzelrechtsakte erfolgt ist, lässt die Vermutung zu, dass der gewöhnliche Aufenthalt in jeder Einzelverordnung eigenständigen Anknüpfungsregeln folgen muss. 1 Für diese Überlegung sprechen drei Gründe. Erstens sind die Rom- und Brüssel-Verordnungen nicht nur auf verschiedene materiellrechtliche Regelungsgebiete zugeschnitten, sondern knüpfen auch an unterschiedliche Lebenssituationen einer natürlichen Person an. 2 Im Erbrecht soll bei der Aufenthaltsbestimmung der räumliche Schwerpunkt der letzten Lebensjahre über die Zuständigkeit und das anwendbare Recht entscheiden.3 Im Vertragsrecht, aber auch im Unterhaltsrecht, ist für die Frage nach dem anwendbaren Recht dagegen das aktuelle Lebens- und Rechtsumfeld einer Person ausschlaggebend. Im Scheidungs- und Güterrecht kommt es weniger auf den individuellen als auf den gemeinsam gewählten Lebensmittelpunkt zweier Personen, also auf den ÄSitz³ der Ehe an. In Sorgerechtsstreitigkeiten entsteht häufig die Notwendigkeit, bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts normative Elemente wie die Sach- und Beweisnähe des Gerichts und die Gewährleistung raschen und unkomplizierten Rechtsschutzes zu berücksichtigen. Diese Überlegung scheinen, zweitens, auch den Verordnungsgeber bei der Verabschiedung der kollisionsrechtlichen Rechtsakte der Union motiviert zu haben. Dass mit den Erwägungsgründen 23, 24 zur EuErbVO und mit Erwä1
Hilbig-Lugani, GPR 2014, 8 (14). Hilbig-Lugani, GPR 2014, 8 (14); Rauscher, FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (643). 3 Vgl. Erwg. Nr. 23, 24 EuErbVO, Mankowski, IPRax 2015, 39. 2
A. Differenzierung nach Rechtsakt
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gungsgrund 12 zur EuEheVO jeweils verordnungs- bzw. zuständigkeitsnormspezifische Auslegungshilfen für den gewöhnlichen Aufenthalt geschaffen wurden, setzt ein gesetzgeberisches Bewusstsein voraus, dass die Anforderungsprofile an die Aufenthaltsanknüpfung je nach Rechtsakt unterschiedlich gestaltet sind. 4 Drittens schließlich wird eine Differenzierung nach Rechtsakten durch die Unterschiede in der primärrechtlichen Rechtsgrundlage der einzelnen Verordnungstexte gerechtfertigt.5 Während die Rom I- und II-Verordnungen, die EuUntVO und das HUP auf Grundlage von Art. 61 lit. c), 67 Abs. 5, 2. Spstr. AEUV verabschiedet wurden, beruht die EuErbVO auf Art. 81 Abs. 2 AEUV. Die EuGüVO und die Rom III-VO bilden, wie im ersten Teil der Arbeit beschrieben wurde, das Ergebnis einer Verstärkten Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten; die Rechtsgrundlage bilden hier die auf Art. 326 AEUV erlassenen, ermächtigenden Beschlüsse des Rates. 6 Während die Kollisionsrechtsharmonisierung im Kompetenzgefüge des Amsterdamer Vertrages noch unter der Bedingung einer Förderung des Binnenmarktes stand, ist diese Einschränkung durch den Vertrag von Lissabon und die Verabschiedung von Art. 81 AEUV weggefallen. 7 Es erscheint jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen, dass der Wechsel der Kompetenzgrundlage sich auch auf den breiteren Anknüpfungszweck der Verordnungen und damit auf das Verständnis der in ihnen enthaltenen Systembegriffe auswirkt. 2. Gegenargumente Eine Differenzierung nach Rechtsakten muss man aber jedenfalls dann ablehnen, wenn sie pauschal und ohne Rücksicht auf gewollte Interdependenzen zwischen den Sekundärrechtsakten erfolgt. Erstens ignoriert eine Trennung gelungene gesetzgeberische Bemühungen um eine kohärente Abstimmung der kollisionsrechtlichen Sekundärrechtsakte. Dieses Vorhaben ist insbesondere im IPR und IZVR der Zivil- und Handelssachen gelungen. 8 Der gemeinsame Erwägungsgrund 7 der Rom I- und II-Verordnungen weist den Rechts4
Rauscher, FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (641). Mit ähnlichen Ansätzen, aber im Hinblick auf die staatsvertragliche Herkunft des HUP s. Hilbig-Lugani, GPR 2014, 8 (11 f.). 6 Für die Rom III-VO: Beschluss 2010/405/EU des Rates vom 12.6.2010; für die EuGüVO: Beschluss 2016/954 des Rates vom 9.6.2010. 7 Zu den möglichen methodischen Konsequenzen der Kompetenzerweiterung s. Weller, Anknüpfungsprinzipien im HXURSlLVFKHQ .ROOLVLRQVUHFKW $EVFKLHG YRQ GHU ÄNODVVLVFKHQ³ IPR-Dogmatik?, IPRax 2011, 429 (431 ff.). 8 Umfassend Köck, Die einheitliche Auslegung der Rom I-, Rom II- und Brüssel IVerordnung im europäischen internationalen Privat- und Verfahrensrecht, 2014, passim; Ansatz auch bei Magnus, Konventionsübergreifende Interpretation, in: Basedow/Drobnig et al. (Hrsg.), Aufbruch nach Europa: 75 Jahre Max Planck-Institut, 2001, 571; Würdinger, RabelsZ 75 (2011), 102. 5
348
§ 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht
anwender explizit an, die Vorschriften beider Instrumente und die der EuGVVO als methodische Einheit zu verstehen und entsprechend anzuwenden.9 In der Kollisionsrechtsdogmatik werden die Rom I-, II- und Brüssel IaVerordnungen ebenso verstanden.10 Auch jenseits des Rechts der Zivil- und Handelssachen lässt der Gesetzgeber ein deutliches Anliegen erkennen, die kollisions- und zivilprozessrechtlichen Verordnungen entweder zu koordinieren oder miteinander zu verknüpfen. Einerseits sind die Anwendungsbereiche der zivilprozessualen Verordnungen aufeinander abgestimmt. Seit dem Erlass der EuUntVO schließt die Brüssel Ia-VO ihre Geltung für Unterhaltssachen ausdrücklich aus. 11 Andererseits arbeitet der Gesetzgeber im Rahmen der familienrechtlichen Zuständigkeitsbestimmungen mit Referenzen in Nachbargebiete. Art. 3 lit. d) der EuUntVO räumt dem Unterhaltsgläubiger das Recht ein, eine Klage vor einem Gericht anhängig zu machen, das in einem parallel laufenden Verfahren auf elterliche Sorge (Art. 1 Abs. 1, 8 EuEheVO) zuständig ist. 12 Entsprechend ist bei der Anwendung der EuUntVO nicht nur das Anwendungsergebnis, sondern auch der Inhalt der Definition entscheidend, die Art. 1 Abs. 1 EuEheVO für Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung vorsieht. 13 Umgekehrt entscheidet der Begriff der ÄNebensache³ in Art. 3 lit. c), d) EuUntVO erst in Kombination mit den Art. 3, 8 Abs. 1 EuEheVO, wie viele unterschiedliche unterhaltsrechtliche Gerichtsstände dem Anspruchsteller zur Verfügung stehen. Art. 4 Abs. 1 lit. c) i) EuUntVO erweitert die Reichweite dieser Konzentration durch die Möglichkeit einer Gerichtsstandsvereinbarung; 14 Art. 8 Abs. 1 lit. c) und d) HUP erlauben ergänzend eine Rechtswahl zugunsten des Güter- und ScheiErwägungsgrund 7 zur Rom I-92 ÄDer materielle Anwendungsbereich und die Bestimmungen dieser Verordnung sollten mit der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates YRP 'H]HPEHU ber die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und HanGHOVVDFKHQÃBrVVHO,µ) und der Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 ber das auf außervertragliche SchuldveUKlOWQLVVHDQ]XZHQGHQGH5HFKWÃ5RP ,,µ) im EinNODQJVWHKHQ³ (V LVWDQ]XQHKPHQ GDVVVLFK GHr Hinweis auf die EuGVVO seit ihrem Inkrafttreten in der Brüssel Ia-VO fortsetzt. Deutlicher Hinweis auch bei Kuipers, EU Law and Private International Law, 2012, 41, m.w.N. in Fn. 41. 10 S. Lüttringhaus, RabelsZ 77 (2013), 31; Kramer, Harmonisation of Civil Procedure and the Interaction with Private International Law, in: dies./Rhee (Hrsg.), Civil Litigation in a Globalising World, 2012, 121. 11 Vgl. Art. 1 Abs. 2 lit. e) und Erwägungsgrund 10 zur Brüssel Ia-VO. 12 Zur Handhabung und zum Hintergrund MüKoFamFG/Lipp Art. 3 EuUntVO Rn. 39. 13 EuGH ± C-184/14 ± A ./. B ± NJW 2015, 3021; MüKoFamFG/Lipp Art. 3 EuUntVO Rn. 39; Rauscher/Andrae Art. 3 EuUntVO Rn. 52. 14 Die Vorschrift hat keine beschränkende Wirkung, sondern steht ergänzend auch in den in lit. a) und b) genannten Fällen zur Verfügung, vgl. MüKoFamFG/Lipp Art. 4 EuUntVO Rn. 19; in Geimer/Schütze/Reuß Art. 4 EuUntVO Rn. 26; Gruber, IPRax 2010, 128 (133). 9
A. Differenzierung nach Rechtsakt
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dungsstatuts. Diese akzessorische Rechtswahlmöglichkeit ist gerade geschaffen worden, um bestehende sachrechtliche Zusammenhänge zu wahren.15 Die EuGüVO ordnet bereits ihre Zuständigkeiten anderen Verordnungen unter.16 Auch bei der Ermittlung des anwendbaren Rechts arbeitet der Gesetzgeber mit Querverweisen. Art. 5 Abs. 1 lit. d) Rom III-VO 17 räumt den scheidungswilligen Ehegatten das Recht ein, die durch Art. 3 EuEheVO bestimmte lex fori zu wählen; auch Art. 4 Abs. 3 HUP spricht für Unterhaltsverpflichtungen im Eltern-Kind-Verhältnis eine zwingende Verweisung in die im Rahmen der EuUntVO ermittelte lex fori aus, sofern nach dem Aufenthaltsrecht (Art. 3 Abs. 1 HUP) kein Unterhalt erlangt werden kann. 18 Schließlich verweist die durch Art. 8 Abs. 1 lit. c) und d) HUP eröffnete, beschränkte Rechtswahlmöglichkeit auf das gewählte oder objektiv anwendbare Güter(lit. c)) oder Ehescheidungsstatut (lit. d)). Eine getrennte Prüfung der Rechtsakte würde die gesetzgeberisch gewollten Zusammenhänge der Verordnungen also relativieren. Ebensowenig erscheint es sachgemäß, im Aufenthaltsverständnis ausschließlich nach Maßgabe einzelner Verordnungstexte zu differenzieren. Im IZVR gilt das insbeso ndere dann, wenn sowohl das Haupt- als auch das mögliche Nebenverfahren sich grundsätzlich in Ansehung des gewöhnlichen Aufenthalts derselben Person bestimmen. 19 Dieses Vorgehen findet in der lex lata der RomVerordnungen keinen Rückhalt. 20
15
Wandt, Rechtswahlregelungen, 2014, 38; Palandt/Thorn Art. 8 HUP Rn. 30. Zur begrenzten Aussagekraft der EuGüVO für die vorliegende Arbeit s. aber oben § 2 D. II. 1. c). 17 Ibid. 18 Zur Interessenlage und den rechtspolitischen Motiven BeckOKBGB/Heiderhoff Art. 18 EGBGB Rn. 48. 19 Das ist beispielsweise in Art. 3 lit. b) EuUntVO und Art. 8 EuEheVO der Fall, der über Art. 3 lit. d) EuUntVO eine Annexklage auf Kindesunterhalt erlaubt. Freilich kann man insoweit die von Reuß, NJW 2015, 3021 (3024), an EuGH ± C-184/14 ± A ./. B geäußerte Kritik aufgreifen und argumentieren, der gewöhnliche Aufenthalt müsse gerade unterschiedlich verstanden werden, um die Wahlmöglichkeiten des klagenden Kindes zu erweitern. Erstens sind aber Fälle selten, in denen sich solch eine Möglichkeit überhaupt anbietet. Eine Grenzpendlerproblematik kann bei Kindern nicht entstehen; der EuGH weist selbst darauf hin, dass die Aufenthaltsbestimmung sowohl in der EuUntVO als auch im zweiten Teil der EuEheVO am Wohl des Kindes orientiert sein muss. Zweitens folgt eine Maximierung der Klagemöglichkeiten auch ohne Modifikationen im Aufenthaltsverständnis automatisch daraus, dass eine Unterhaltsklage nach Art. 3 lit. b) EuUntVO zu einem anderen Zeitpunkt angestrengt werden kann als die auf Übertragung der elterlichen Sorge nach Art. 8 EuEheVO. Da der gewöhnliche Aufenthalt gerade ad hoc-Veränderungen im Lebensumfeld des Klägers nachvollzieht, führt dieser Umstand alleine dazu, dass er im Hinblick auf eine Unterhaltsklage die Wahl zwischen seinem alten und neuen gewöhnlichen Aufenthalt hat. 20 So auch Rauscher, FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (642). 16
350
§ 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht
Anders verhält es sich, wenn man sich dafür entscheidet, nicht nach Verordnungstext, sondern in Ansehung des Anknüpfungszwecks zu differenzieren. Denkbar wäre beispielsweise, zwischen dem gewöhnlichen Aufenthalt im Internationalen Eherecht, im Internationalen Erbrecht und im Internationalen Vertragsrecht zu differenzieren. Es ist aber weder klar, welcher Modus sich hierfür empfiehlt, noch, wie sich eine Differenzierung über ihre bloße Sachdienlichkeit hinaus rechtfertigen lässt. Dieser Frage wird im letzten Abschnitt der Arbeit daher erneut aufgegriffen (§ 10). II. Differenzierung nach Rechtsaktvorbild Alternativ ließe sich im Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts danach differenzieren, ob eine Verordnung auf einem konventionsrechtlichen Vorbild aufbaut oder das Ergebnis einer autonom-unionsrechtlichen Rechtssetzungstätigkeit ist. Wie die vorangegangenen Ausführungen zum Inhalt und zur Entwicklungsgeschichte der Aufenthaltsanknüpfung zeigen, lässt sich eine Interdependenz zwischen Haager Staatsvertragsrecht und Unionsrecht insbesondere im Familienrecht deutlich erkennen. 21 Die im zweiten Teil der Arbeit besprochenen Schlussanträge zur Entscheidung A deuten an, dass für die Konkretisierung des gewöhnlichen Aufenthalts je nachdem unterschiedliche Bezugspunkte und Rechtsquellen in Frage kommen, ob sich der fragliche Verordnungstext auf ein staatsvertragliches Rechtsaktvorbild bezieht oder nicht.22 Sofern man diese Hypothese verallgemeinern möchte, erscheint folgende Differenzierung im Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts angebracht: 1. Haager Unterhaltsprotokoll und EuUntVO Erstens müssen die Aufenthaltsanknüpfungen des HUP nicht im Einklang mit dem Unionsrecht, sondern in Übereinstimmung mit dem Haager Staatsvertragsrecht ausgelegt werden. Indem die Europäische Union im Jahr 2006 der Haager Konferenz beigetreten ist, 23 hat sie für sich nicht nur das Privileg geschaffen, die Rechtssetzung im Rahmen der Konferenz aktiv zu beeinflussen, sondern ausweislich Art. 20 HUP auch die Verpflichtung übernommen, bei der Auslegung des HUP einen einheitlichen internationalen Standard zu sichern.24 Sofern er die Anwendung des HUP durch die Mitgliedstaaten kontrolliert, agiert der EuGH also funktional nicht als Unionsgericht, sondern als 21
S.o. § 4 B. I. Zu diesem Vorschlag im Rahmen des Art. 8 EuEheVO s. EuGH ± C-523/07 ± A ./. Perusturvalautakunta, Schlussanträge der Generalanwältin Kokott, Rn. 23 und oben § 6 B. II. 1. 23 Beschluss des Rates 2006/719/EG vom 5.10.2006, ABl. 2006 L 297/ 1. 24 Hilbig-Lugani, GPR 2014, 8 (12). 22
A. Differenzierung nach Rechtsakt
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kohärenzbestrebtes Mitglied einer Haager Konvention. 25 Das gilt jedenfalls für alle Fälle, die nach dem weltweiten Inkrafttreten des HUP am 1.8.2013 anhängig geworden sind. 26 Indirekt wirkt sich dieser Unterschied auch auf die EuUntVO aus. Deren Erwägungsgrund 8 weist darauf hin, dass bei der Auslegung der EuUntVO das HUP und das Haager Unterhaltsübereinkommen angemessen berücksichtigt 27 werden müssen. 28 2. EuEheVO Indirekt wirkt sich der Beitritt der Union zur Haager Konferenz auch auf die Begriffsbildung im Rahmen der EuEheVO aus. Zwar entsteht insoweit keine direkte Verpflichtung zur Einhaltung der Haager Auslegungsstandards; die Art. 8±10 EuEheVO lehnen sich aber inhaltlich erkennbar an die Haager Sorgerechts- und Rechtshilfe-Übereinkommen an. 29 Der in diesem Rahmen entwickelte Aufenthaltsbegriff orientiert sich ebenso wie Erwägungsgrund 12 EuEheVO es vorschreibt, am Gedanken effektiver Rechtsschutzgewährung und sachlicher Nähe. 30 Weitaus entscheidender wiegt der Umstand, dass der Verordnungsgeber mit den Art. 60 ff. EuEheVO den Willen erkennen lässt, das harmonische Zusammenspiel zwischen der Verordnung und den Haager Übereinkommen auf dem Gebiet des Sorgerechts sicherzstellen (§ 7 E). Diese Vorschriften liefern ein starkes Indiz für den gesetzgeberischen Willen, das Haager Staatsvertragsrecht bei der Anwendung der EuEheVO nicht aus-, sondern einzuschließen.
25
Hilbig-Lugani, GPR 2014, 8 (12). Für die Übergangszeit sei auf den Regelungsvorschlag bei Hilbig-Lugani, GPR 2014, 8 (12) verwiesen. 27 Ä,P5DKPHQGHU Haager Konferenz fuȋr Internationales Privatrecht haben die Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten an Verhandlungen teilgenommen, die am 23. November 2007 mit der Annahme des Übereinkommens ƺber die internationale Geltendmachung der Unterhaltsanspruȋche von Kindern und anderen Familienangehörigen (nachstehend das ÃHaager hEHUHLQNRPPHQ YRQµ genannt) und des Protokolls ƺber das auf Unterhaltspflichten anzuwHQGHQGH 5HFKW QDFKVWHKHQG GDV Ã+DDJHU 3URWRNROO YRQ µ genannt) abgeschlossen wurden. Daher ist diesen beiden Instrumenten im Rahmen der vorliegenden 9HURUGQXQJ5HFKQXQJ]XWUDJHQ³ 28 Nur im Hinblick auf das HUP Hilbig-Lugani, GPR 2014, 8 (12). 29 Zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden MüKoBGB/Siehr Art. 8 EuEheVO Rn. 2; ders., Kollisionen des Kollisionsrechts, FS Kropholler, 2008, 211. 30 (12) Die in dieser Verordnung fƺr die elterliche Verantwortung festgelegten Zustćndigkeitsvorschriften wurden dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der rćumlichen Nćhe ausgestaltet. 26
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§ 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht
3. Rom I-VO, Rom II-VO und EuInsVO In der Rom I-VO, der Rom II-VO sowie im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 UA 4 EuInsVO 2017 steht der gewöhnliche Aufenthalt demgegenüber nicht unter dem Einfluss des Haager Konventionsrechts. Wie der zweite Teil der Arbeit angedeutet hat, 31 verläuft die Erfolgsgeschichte der schuldrechtlichen Aufenthaltsanknüpfung sogar unabhängig von der Häufung der Aufenthaltsanknüpfungen im Internationalen Familienrecht. Auch die Teleologie der vertrags- und deliktsrechtlichen Aufenthaltsanknüpfung gestaltet sich anders als im Familienrecht. Der gewöhnliche Aufenthalt dient hier der Lokalisierung einer durch die vertragscharakteristische Leistung kollisionsrechtlich vorstrukturierten, meist punktuellen vertraglichen Transaktion; 32 dort weist er den Lebensmittelpunkt einer schutzbedürftigen Person aus. 33 Der schuldvertragsrechtliche Aufenthaltsbegriff weist damit strukturelle Bezüge zum insolvenzrechtlichen COMI natürlicher Personen auf, das nach Art. 3 Abs. 1 UA 4 EuInsVO 2017 durch den gewöhnlichen Aufenthalt konkretisiert wird. Gemeinsam ist beiden Aufenthaltsanknüpfungen auch, dass sie unter einem Vorbehalt der Erkennbarkeit durch Dritte stehen sollen. Für die Aufenthaltsanknüpfung in der Rom I-VO wird dieser Erkennbarkeitsvorbehalt lediglich vermutet, 34 im Rahmen der EuInsVO setzt ihn auch die Rechtsprechung voraus.35 4. EuErbVO Auch die Aufenthaltsanknüpfung in Art. 3, 21 Abs. 1 EuErbVO muss ohne ein unmittelbares staatsvertragliches Vorbild auskommen. Freilich erlaubt das Haager Erbrechtsübereinkommen gewisse Bezugnahmen; da die Konvention nicht in Kraft getreten ist und der gewöhnliche Aufenthalt dort eine andere, das Staatsangehörigkeitsprinzip konkretisierende Funktion erfüllt, 36 fehlt es aber sowohl an aussagekräftigen Belegen über die praktische Handhabung der Aufenthaltsanknüpfung als auch an einem unmittelbaren kodifikatorischen Zusammenhang mit dem Unionsrecht. 5. Differenzierungsmodus Die vorstehenden Überlegungen legen es nahe, je nach Verordnungszusammenhang und Zweckrichtung unterschiedliche Aufenthaltsbegriffe zu entwickeln. Diese Begriffe unterscheiden sich nicht nur graduell, sondern le31
§ 4 B. II. Dazu Schwind, 'HUÄJHZ|KQOLFKH$XIHQWKDOW³LP,PR, FS Ferid, 1988, 423 (425). 33 S.o. § 7 A. I.±III.; § 8 B. II. 1. b), c). 34 Dazu oben § 8 B II. 1. a). 35 BGH IX ZB 70/16, Rn. 9. 36 § 4 B. III. 4. e). 32
B. Differenzierung nach Rechtsgebiet
353
gen je nach Kontext andere Kriterien an, um den gewöhnlichen Aufenthalt zu bestimmen. Wollte man stattdessen nach der Aufenthaltsintensität differenzieren, müsste man zuvor Klarheit über den Rang oder die unterschiedlichen ÄWertigkeiten³ des gewöhnlichen Aufenthalts im Unionssekundärrecht schaffen. Solch ein Stufenverhältnis lässt sich aber aus der obigen Skizze nicht erkennen. 6. Gegenargumente Staatsvertragliche Vorbilder können bei der Begriffsbestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts im Einzelfall zweifellos hilfreich sein. Ob sie eine abstrakte Differenzierung im Begriffsverständnis erforderlich machen, ist damit aber noch nicht bewiesen. Erstens wird die Vorbildfunktion der Haager Staatsverträge in vielen Fällen der unionsrechtlichen Rechtssetzung nicht au sreichend eindeutig identifiziert. Im zweiten Teil der Arbeit wurde zwar ausführlich begründet, inwiefern die Zuständigkeiten der EuEheVO mit denen des MSA und KSÜ verbunden sind. 37 In § 7 E. wurde außerdem skizziert, inwieweit die EuEheVO ihren Anwendungsbereich gerade in Ansehung universeller Staatsverträge bestimmt. Dem zum Trotz führt die EuEheVO keine der EuUntVO vergleichbare ausdrückliche Verknüpfung von Staatsvertragsund Verordnungsrecht ein. Auch die oben vertretene Ansicht, dass das Haager Staatsvertragsrecht bei der Auslegung des gewöhnlichen Aufenthalts berücksichtigt werden sollte, 38 muss noch nicht als Vorgabe für die Begriffskonkretisierung verstanden werden. Wie im zweiten Teil der Arbeit gezeigt wurde, hat der gewöhnliche Aufenthalt in den Haager Konventionen keine verbindliche und transparente Konkretisierung erfahren, die man um den Preis der Aufgabe eines formal einheitlichen Begriffsverständnisses aufgreifen könnte. Nur das Vorhandensein solcher Vorgaben würde ein abgestuftes Aufenthaltsverständnis aber überhaupt sinnvoll erscheinen lassen. Eine Differenzierung nach Rechtsaktvorbild ist dementsprechend abzulehnen.
B. Differenzierung nach Rechtsgebiet B. Differenzierung nach Rechtsgebiet
Alternativ dazu kann man den gewöhnlichen Aufenthalt je nach Rechtsgebiet unterschiedlich konturieren. Der vorliegende Abschnitt widmet sich insoweit zwei unterschiedlichen Fragen. Erstens verifiziert er die im Hinblick auf das nationale Recht widerlegte These, wonach der gewöhnliche Aufenthalt im Internationalen Privatrecht zwingend eine andere Bedeutung haben muss als in anderen Rechtsgebieten (II. 1.). Zweitens geht er der Frage nach, ob der 37 38
§ 6 B. II. 1. b) bb). § 6 B. II. 1. b) dd)±ee).
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§ 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht
Vorschlag einer Trennung im Aufenthaltsverständnis nach Zuständigkeit und anwendbarem Recht auch im Europäischen Kollisionsrecht Geltung beansprucht (II. 2.). Keiner dieser beiden Vorschläge lässt sich isoliert auf seine Berechtigung hin überprüfen. Vielmehr verbirgt sich hinter ihnen die Grundfrage nach dem Verhältnis des Internationalen Privatrechts zu anderen Teilen der Rechtsordnung. I. Eigenrationalität des Internationalen Privatrechts 1. Funktion der Anknüpfungspunkte im verweisungsrechtlichen IPR Wie in der Grundlegung zur vorliegenden Arbeit erwähnt wurde, dienen internationalprivatrechtliche Normen der systematischen Koordination von Privatrechtsordnungen. 39 In Erfüllung dieser Aufgabe sind sie, was ebenfalls erwähnt wurde, dem Ideal räumlicher Anknüpfungsgerechtigkeit verpflichtet. 40 Die anwendbaren Rechtsnormen, im Idealfall aber auch das international zuständige Gericht41, werden daher nach festen Kriterien bestimmt, die einerseits die Sachnähe, andererseits die zum Lebensumfeld der rechtsunterworfenen Subjekte garantieren. Ihr Ziel ist damit die Anwendung derjenigen Rechtsordnung, zu der die Parteien und das streitbefangene Rechtsverhältnis42 die engste Verbindung aufweisen. 43 Das dahinterstehende Ideal der AnBatiffol, Aspects Philosophiques du Droit ,QWHUQDWLRQDO3ULYpÄ>@ il s¶agit de faire »vivre ensemble« des systèmes juridiques différents [...]³ LELG m.Verw. auf Wolff, Private International Law, 2. Auflage 1950, 157; von Bar/Mankowski, IPR I, § 1 Rn. 2; Mills, The Confluence of Public and Private International Law, 2009, 4 f., 16 f. 40 Dieses Ideal verbirgt sich auch hinter dem Ziel des Internationalen Entscheidungseinklangs nach Savigny, System des heutigen römischen Rechts VIII, 1849, 27, 117, 127; dazu Batiffol, Aspects, 2002, 212 f. Zum kollisionsrechtlichen Gehalt des IZVR Geimer, IZVR, 7. Auflage 2015, Rn. 18 f. Zur Eigenständigkeit der kollisionsrechtlichen gegenüber der sachrechtlichen Gerechtigkeit aber von Bar/Mankowski, IPR I, 196. 41 Die Ziel- und Basiskonvergenz zwischen internationalem Zivilverfahrensrecht einerseits und des Internationalen Privatrecht andererseits wird in dieser Arbeit an späterer Stelle ausführlicher thematisiert. Ein Überblick über verschiedene Zuständigkeitsmodelle und ihr Verhältnis zum internationalen Privatrecht findet sich unter anderem bei van Mehren, Adjudicatory Authority in Private International Law, 2007, 28 ff.; 51 ff.; Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, 1995, 99 ff., 200 ff. Zur Entwicklung der Gerichtsstände im 21. Jahrhundert Gaudemet-Tallon, La compétence judiciaire internationale directe à l¶aube du XXI siècle, Clés pour le siècle, 2000, 123 (129). 42 %HNDQQW DOV 6XFKH QDFK GHP Ä6LW]³ GHV 5HFKWVYHUKlOWQLVVHV Savigny, System des heutigen römischen Rechts VIII, 27, 117, 127; zur aktuellen Abkehr von diesem Paradi gma Weller, IPRax 2011, 429. 43 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Band VIII, 1849, 27, 117, 127; Besprechung bei Kropholler, IPR, § 6 I. Batiffol, Aspects, 2002, 163 f.; Gutzwiller, Der Einfluss Savignys auf die Entwicklung des Internationalen Privatrechts, 1923, deuten den hinWHU GHP *UXQGVDW] GHU HQJVWHQ 9HUELQGXQJ VWHKHQGHQ VDYLJQ\VFKHQ $SSHOO DQ GLHÄ1DWXU GHU6DFKH³DOV5HIHUHQ]DXIGLHWKRPLVWische Naturrechtslehre. 39
B. Differenzierung nach Rechtsgebiet
355
knüpfungsgerechtigkeit wird im Kollisionsrecht der Europäischen Union 44 durch einen festen Katalog von Anknüpfungspunkten 45 sichergestellt. 46 Sie schlagen die Brücke 47 zwischen Rechtsverhältnis, Anknüpfungssubjekt und Rechtsordnung 48 und dienen als unmittelbare Konkretisierungen des Grundsatzes der engsten Verbindung der Auffindung des naturgegebenen ÄSitzes³ eines Rechtsverhältnisses. 49 Ihre Identifikation, gesetzliche Setzung und sorgfältige Anwendung im Zivilprozess sind gleichermaßen Gerechtigkeitsbedingung und -garantie des Internationalen Privatrechts. 50 2. Funktion anderer Koordinationsordnungen Die Aufzählung deutet an, dass grenzüberschreitende Sachverhalte nicht nur im Privatrecht, sondern auch in anderen Bereichen einer Rechtsordnung entstehen können. 51 Das Bedürfnis nach einer Koordination konkurrierender staatlicher Regelungsansprüche wird durch das Internationale Verwaltungsrecht52, aber auch durch das Straf- und Steuerrecht befriedigt. Das durch allseitige Kollisionsnormen geprägte Internationale Privatrecht weicht aber sowohl in seiner Zielsetzung als auch in seinen Leitprinzipien entscheidend von seinen Nachbardisziplinen ab. Es dient weder der Sicherung der Effektivität sachrechtlicher Ge- und Verbote wie das Internationale Strafrecht, noch der auf völkerrechtlichen und geopolitischen Erwägungen aufbauenden Eingrenzung exterritorialer Rechtsanwendung, unter deren Verdikt das Verwaltungsrecht ebenso fallen kann wie das Steuerrecht.53 Das Äklassische³54 Internatio-
Die Systemqualität der Alternative ± des rechtsrealistisch-observierenden, prinzipienbasierten Kollisionsrechts der Vereinigten Staaten bezweifelt Batiffol, Aspects, 2002, 164. 45 Laut Ficker, Verknüpfung von Anknüpfungen, FS Nipperdey, 1965, Band I, 297 erstmals bei Kahn, Gesetzeskollisionen. Ein Beitrag zur Lehre des internationalen Privatrechts, Jherings Jb 30 (1891) 1 (56). 46 von Bar/Mankowski, IPR I, § 1 Rn. 1 f.; § 7 Rn. 3, 12. 47 Angelehnt an den britischen Terminus der connecting factors, dazu von Bar/Mankowski, IPR I, § 7 Rn. 3. 48 von Bar/Mankowski, IPR I, § 7 Rn. 3, 12. 49 S.o. Fn. 42. 50 Vgl. von Bar/Mankowski, IPR I, § 7 Rn. 12, die allerdings nicht zwischen Existenz, Setzung und Anwendung unterscheiden. 51 Ohler, Die Kollisionsordnung des allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, 2 ff., m.w.N. 52 Grundlegend von Stein, Die Verwaltungslehre, Band 2, 1866/1962, 94 ff.; Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht, 1910, passim; Ohler, Die Kollisionsordnung des allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, 15 ff. 53 Zur Fehldeutung der Exterritorialität als Verstoß gegen das Territorialitätsprinzip Ohler, Die Kollisionsordnung des allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, 47. Zum Begriff der Exterritorialität im Internationalen Privatrecht Rentsch, Krisenbewältigung durch konstitu44
356
§ 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht
nale Privatrecht baut vielmehr auf der Erkenntnis auf, dass ein souveräner Herrschaftsanspruch und die Überzeugung von der Richtigkeit der eigenen Rechtsordnung für sich genommen nicht ausreichen, um dessen Anwendung auf Fälle zu rechtfertigen, die Verbindungen zu mehreren Staaten aufweisen.55 Im Gegenteil setzt die räumlich gerechte Anwendung von Rechtssätzen den Respekt räumlich-kultureller Unterschiede voraus. 56 Das Gerechtigkeitsideal des Internationalen Privatrechts geht also über das dem Territorialitätsprinzip verpflichtete zweite Axiom Ulrich Hubers 57 hinaus. Dort heißt es noch: ÄPro subiectis imperio habendi sunt omnes, qui intra terminos eiusdem reperiuntur, sive in perpetuum, sive ad tempus ibi commorentur³.58 Nur im Einzelfall soll das Äfreundliche Entgegenkommen der Herrscher³ (comitas) eine Durchbrechung des Territorialitäts- durch das Personalitätsprinzip rechtfertigen. Die Legitimationsbasis der Privatrechtsanwendung bildet das Recht einer Privatperson auf eine einzelfallgerechte Behandlung durch staatliche Stellen. 59 Die räumlich und persönlich differenzierende Anwendung von Rechtsnormen innerhalb eines Staates stellt im modernen IPR damit nicht die Ausnahme, sondern die Regel dar. II. Konsequenzen 1. Kollisions- und ÄKoordinationsrecht³ Der beschriebene Unterschied wirkt sich auch im Rahmen der Anknüpfungspunkte des IPR aus. Sie erfüllen nicht nur eine zentrale Funktion im internationalprivatrechtlichen Verweisungsvorgang, sondern dienen auch dazu, die Forderung nach einer räumlich differenzierenden Rechtsanwendung, also das Proprium des Internationalen Privatrechts, für den Einzelfall handhabbar zu tionalisiertes Kollisionsrecht, in: Bauerschmidt/Fassbender/Müller et al. (Hrsg.) Konstitutionalisierung in Zeiten globaler Krisen, 2015, 255 (268). 54 Nach Weller, IPRax 2011, 429. 55 Kegel, Die selbstgerechte Sachnorm, GS Ehrenzweig, 1976, 51. 56 $OVÄ$FKWXQJYRUGHP)UHPGHQ³SDUDSKUDVLHUWVHLWGHU$XVVDJHGoldtschmidtsÄ'LH Kultur einer Gemeinschaft kann daran gemessen werden, in welchem Umfange sie fremdes Recht aQHUNHQQW³ ders., Die philosophischen Grundlagen des IPR, FS Wolff, 1952, 203, (205). Umformuliert durch Jayme RdC 251 (1995) 251. Referenz auch bei Weller, Die neue Mobilitätsanknüpfung im internationalen Familienrecht, IPRax 2014, 225. 57 De conflictu legum, in: Praelectiones iuris Romani at hodierni, 1968, II, liber I, tit. III, deutsche Übersetzung bei Gutzwiller, Geschichte des Internationalprivatrechts, 156 ff.; von Bar/Mankowski, IPR I, § 6 Rn. 36. 58 II Axiom. Zu Deutsch: Alle Personen, die sich im Hoheitsgebiet eines Staates befinden, gleichgültig, ob ihr Aufenthalt dort andauert oder nur vorübergehender Natur ist, gelten als Rechtsunterworfene dieses Staates (Übersetzung bei Volken, Wenn Wächter mit Story, FS Siehr, 2000, 815, 822; alternativ Kegel/Schurig, IPR, § 3 VI, 158). 59 0LWÄGURLWjODGLIIpUHQFH³DOVHLQHVYRQIQI3ULQ]LSLHQGHU3RVWPRGHUQH in das Internationale Privatrecht übersetzt von Jayme RdC 251(1995) 251.
B. Differenzierung nach Rechtsgebiet
357
machen. Der Respekt vor der Herkunft einer Person erlaubt im Interesse der Vorhersehbarkeit zwar eine Konkretisierung dieses Leitbilds durch normative Realtypen60; die Feststellung der engsten Verbindung eines Sachverhalts sollte aber im Idealfall durch eine umfassende Einzelfallbeurteilung erfolgen. 61 Der Entscheidung über das anwendbare Recht muss also eine umfassende Auswertung aller normausfüllenden Sachverhaltselemente vorausgehen. 62 Die Vorschriften des Internationalen Privatrechts effektuieren weder materielle Rechtssätze, wie beispielsweise die §§ 3±7 StGB, noch dienen sie der Abgrenzung souveräner Herrschaftssphären, wie es im Internationalen Sozialrecht der Fall ist. 63 Bereits deshalb dürfen sie sich weder in einem auf der Personal- und Territorialhoheit aufbauenden Rechtsanwendungsautomatismus erschöpfen64 noch die Frage nach dem räumlich gerechten Recht insgesamt unter Rückgriff auf starre materielle Vorrangregeln beantworten.65 2. Zuweisung und Koordination von Rechtssätzen Diese Feststellung rechtfertigt es, begrifflich zwischen einem negativkoordinierenden und einem positiv-zuweisenden gewöhnlichen Aufenthalt zu unterscheiden. Der erste Aufenthaltsbegriff nimmt auf die individuellen Lebensverhältnisse einer Einzelperson nur insoweit Bezug, als daraus Rückschlüsse auf die Abgrenzung räumlicher Regelungssphären möglich werden. Die natürliche Person ist in diesen Fällen nicht Anknüpfungssubjekt, sondern Anknüpfungsgegenstand. Dieser Unterschied gestattet es zunächst, alle Anwendungsgebiete des gewöhnlichen Aufenthalts auszugrenzen, in denen die Koordination staatlicher Hoheitssphären im Vordergrund steht. Dazu gehören auch die beschriebenen Fälle, in denen die Aufenthaltsanknüpfung den räumlichen Anwendungsbereich des EuZVR bestimmt. Die Unterscheidung bietet aber auch Anlass, die Analogiefähigkeit des sozialrechtlichen Aufenthaltsbegriffs für das Kollisionsrecht zu hinterfragen.
60
Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Auflage 1983, 448 ff. So Mansel3HUVRQDOVWDWXW5QII]XU%HVWLPPXQJGHUÄHIIHNWLYHQ³6WDDWsangehörigkeit. 62 Entsprechend ist nach Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 303, die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit nur unter dem Vorbehalt ihrer Effektivität und mithin als Ergebnis einer Einzelfallbewertung der engsten Verbindung rechtspolitisch zulässig. 63 Dazu Eichenhofer, Sozialrecht, 2012, Rn. 79. 64 Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 50. 65 Daher rührt auch die rechtspolitische Unzulässigkeit des automatisierten Vorrangs deutschen Rechts in Art. 5 Abs. 1 S. 2 EGBGB zur Ermittlung der effektiven aus mehreren StaatsangehörigNHLWHQÄ,VWGLH3HUVRQ'HXWVFKHUVRJHKWGLHVH5HFKWVVWHOOXQJYRU³ Mansel, Personalstatut, 1988, Rn. 231 ff. 61
358
§ 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht
a) Anwendungsbereich einer Norm Im Einheitsrecht (CISG, GEK) (§ 7 D.), im EU-Einheitsprozessrecht (EuMahnVO, EuBagatellVO) (§ 7 E.), aber auch bei der Koordination von EUSekundärrecht mit internationalen Konventionen (Art. 60 ff. EuEheVO) (§ 7 F.) ist die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt nicht dem Anliegen verpflichtet, aus mehreren möglichen Alternativen das räumlich nächste Recht für einen zwischen zwei Personen entstandenen Lebenssachverhalt auszuwählen. Der gewöhnliche Aufenthalt der Parteien in zwei unterschiedlichen Mitgliedstaaten konkretisiert dabei vielmehr die zentralen völkerrechtlichen Zuordnungsparameter, Territorialität und Personalität, und macht diese für die Bestimmung des räumlichen Anwendungsbereichs internationaler Rechtsnormen handhabbar. Im Rahmen des CISG konkretisiert der gewöhnliche Aufenthalt beispielsweise das Kriterium der Internationalität des Warenkaufs.66 Die individuellen Lebensumstände einer Person sind dafür nur insoweit relevant, als sie die Anwendung harmonisierter Rechtsvorschriften rechtfertigen. Der Lebensmittelpunkt einer Person dient also nicht der Auffindung des am besten geeigneten Rechts, sondern legitimiert die Anwendung einer von mehreren möglichen Rechtsordnungen. Bezieht man diesen Funktionsunterschied auf die Frage, wie der gewöhnliche Aufenthalt im Einzelfall zu konkretisieren ist, zurück, werden mehrere Abweichungen von den im zweiten Teil der Arbeit entwickelten Kriterien deutlich. Im Gegensatz zum Internationalen Privatrecht soll es bei der Bestimmung des Anwendungsbereichs zulässig sein, anstatt mit einer Auswertung aller Umstände des Einzelfalls mit typisierbaren Tatbestandselementen zu arbeiten. 67 Dafür kommt es insbesondere auf die Aufenthaltsdauer, aber auch auf schwache Integrationsfaktoren wie die polizeiliche Meldung und die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts an. 68 Diese verkürzte Analyse rechtfertigt sich durch zwei Erwägungen. Systematisch steht die individuelle Lebenssituation einer Person in den genannten Fällen nicht im Zentrum der Betrachtung, sondern stellt lediglich eines von mehreren Tatbestandsmerkmalen dar. Teleologisch wird der Einsatz des gewöhnlichen Aufenthalts zur Bestimmung des Anwendungsbereichs internationaler Verträge und der EU-Verordnungen erkennbar von einer anderen gesetzgeberischen Motivation getragen als seine Verwendung im Rahmen des Europäischen Kollisionsrechts. Einerseits spielen Erwägungen der Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit eine wesentlich größere Rolle, wenn es nicht um die Ermittlung des individuell passenden Rechts, sondern um die kohärente Definition des räumlichen Anwendungsbe66
MüKoBGB/Huber Art. 1 CISG Rn. 25. Für eine umfassende Typisierung s. aber Rauscher, FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (641 f.). 68 Ein weiteres starres Kriterium bildet die Nationalität der Parteien. Ihr wird in Art. 1 Abs. 3 CISG aber ausdrücklich jede Relevanz abgesprochen. 67
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359
reichs einer Einheitsnorm geht. Entsprechend steigt die Legitimität starrer Kriterien bei der Konkretisierung des gewöhnlichen Aufenthalts. Andererseits ist in Ansehung der unter I. 3. skizzierten Funktionsunterschiede die gesetzgeberische Rechtfertigungslast wesentlich geringer als im Rahmen der Kollisionsnormgestaltung und -anwendung. Im Einheitsprozessrecht, im materiellrechtlichen Einheitsrecht und im Rahmen der Art. 60 ff. EuEheVO hat der gewöhnliche Aufenthalt keine konstitutiv zuweisende, sondern eine räumlich eingrenzende Funktion. Dieses Regelungsziel steht dem Anknüpungsleitbild des Kollisionsrechts diametral entgegen. b) Internationales Sozialrecht In A spricht der EuGH den sozialrechtlichen Entscheidungen zum gewöhnlichen Aufenthalt die Geltung im Rahmen des Art. 8 Abs. 1 EuEheVO ab. 69 Diese Entscheidung wurde bereits kontextualisiert. Die vorstehenden Überlegungen geben darüber hinaus Anlass dazu, diese Kritik zu verschärfen. aa) Gemeinsamkeiten Die Interessenlage im Internationalen Sozialrecht weist bedeutsame Parallelen zu der im Kollisionsrecht auf. Erstens kann man den Zugang zu Privatrechtssystemen ebenso wie die Gewährung von Sozialleistungen abstrakt als Privileg verstehen. Sowohl das Internationale Privatrecht als auch das Internationale Sozialrecht dient der effizienten Ressourcenallokation. Diese Allokation kann sich, zweitens, nicht mit alternativen Lösungen zufriedengeben, sondern muss eindeutige Ergebnisse erzeugen. Weder kann eine Person sich gleichzeitig auf zwei Privatrechtsnormen unterschiedlichen Ursprungs berufen, noch sollte sie gleichzeitig die Sozialleistungen zweier unterschiedlicher Staaten in Anspruch nehmen. Die Vergleichbarkeit der Interessenlagen wirkt sich auch auf das Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts aus. In beiden Rechtsgebieten dient die Aufenthaltsanknüpfung der Bestimmung des effektiven Lebensmittelpunktes einer Person. Entsprechend scheint auch die im zweiten Teil besprochene sozialrechtliche Rechtsprechung des EuGH analogiefähige Aussagen zum Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts im IPR zu enthalten. Die Entscheidung Magdalena Fernandez70 bestätigt die in der nationalen Rechtsdogmatik unbestrittene Ansicht, dass eine vorübergehende Abwesenheit nicht zwingend zu einem Aufenthaltswechsel führen muss. Vielmehr bleibt der gewöhnliche Aufenthalt bestehen, sofern der Lebensmittelpunkt im Herkunftsstaat erkennbar aufrechterhalten wird. 71 Die Entscheidung Martinez SaEuGH ± C-523/07, Rn. 36 ± A ./. Perusturvalautakunta. EuGH ± C-452/93 ȇ ± Magdalena Fernandez ./. Kommission ± Slg. 1994 I-4295. 71 S. zur konzeptionellen Erklärung Kegel, FS Rehbinder, 2002, 699 (705). 69 70
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§ 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht
la72 gibt Auskunft darüber, dass die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts nicht vom Vorhandensein einer Aufenthaltserlaubnis abhängen darf, ohne mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV in Konflikt zu geraten. Swaddling 73 enthält schließlich die verallgemeinerungsfähige Aussage, dass das Erfordernis einer Mindestaufenthaltsdauer gegen das Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger verstoßen kann. bb) Unterschiede Aus den drei Entscheidungen wird allerdings auch deutlich, dass das Internationale Sozialrecht aus der Perspektive des Unionsprimärrechts andere Spannungen und Pflichtenkollisionen erzeugt als das IPR im engeren Sinne. In Swaddling steht die Verknüpfung von Sozialhilfeleistungen und Mindestaufenthaltsfristen in einem erkennbaren Spannungsverhältnis mit dem Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger. Für das sekundärrechtliche Europäische Kollisionsrecht ist diese Frage schwieriger zu beantworten. Weder herrscht Konsens darüber, ob die Kollisionsnormgestaltung überhaupt Implikationen für die primärrechtlichen Freizügigkeitsgarantien hat, noch ist ausreichend klar, ob der verzögerte Einschluss einer Person in ein System von Privatrechtsnormen der Freizügigkeit abträglich ist oder sie durch die Schaffung einer Karenzzeit gerade fördert. 74 cc) Ergebnis Verbindliche Rückschlüsse für das kollisionsrechtliche Aufenthaltsverständnis liefert die EuGH-Rechtsprechung zum Internationalen Sozialrecht damit nicht. Umgekehrt erscheint aber auch die vehemente Ablehnung einer punktuellen Bezugnahme im Einzelfall überzogen. Obwohl die Grundfreiheitenrelevanz des Europäischen Sozialrechts weitaus intensiver und die praktischen Folgen einer Versagung von Sozialleistungen wesentlich deutlicher sind als die einer kollisionsrechtlichen Verweisung, lassen sich Parallelen zwischen beiden Rechtsgebieten erkennen. Sie verbieten es, dem Sozialrecht jede Relevanz für die Begriffsbildung im Kollisionsrecht abzusprechen. Gerade mit Blick auf die Unionsrechtskonformität einzelner Auslegungsvarianten trifft die sozialrechtliche Rechtsprechung des Gerichtshofs mitunter verallgemeinerungsfähige Aussagen zum Begriffsinhalt, die hilfsweise auch im Kollisionsrecht Verwendung finden können. Schließlich ist jeder praktische Nachteil, der aus der Anwendung einer ausländischen Rechtsordnung resultiert, EuGH ± C-85/96 ± Marinez Sala ./. Kommission. EuGH ± C-90/97 ± Swaddling ./. Chief Adjudication Officer. 74 Die Diskussion um die richtige, mithin freizügigkeitsfördernde Gestaltung des gewöhnlichen Aufenthalts wird insbesondere im Internationalen Erbrecht geführt. Grundl egend oben § 3 B. II. 1. sowie oben § 7 A. IV. 2. 72 73
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auch abstrakt geeignet, die grenzüberschreitende Migration von Personen zu erschweren. Dennoch muss man der herrschenden Ansicht in der Literatur wie auch der Rechtsprechung des EuGH darin zustimmen, dass die beschriebenen sozialrechtlichen Präzedenzfälle regelmäßig andere Fragestellungen und Interessenlagen betreffen als das im IPR vorhandene Fallrecht. Eine Übertragung scheitert also nicht daran, dass der Aufenthaltsbegriff des Sozialrechts und der des Kollisionsrechts grundsätzlich verschieden sind, sondern daran, dass die rechtspraktische Handhabung des gewöhnlichen Aufenthalts in beiden Fällen unterschiedliche Probleme bewältigen muss. Soweit die Analogievoraussetzungen für die sozialrechtliche Rechtsprechung erfüllt sind, sind Anleihen umgekehrt nicht nur zulässig, sondern wünschenswert. 3. Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht An diese Feststellung schließt sich die Frage an, ob zwischen internationaler Zuständigkeit und anwendbarem Recht eine begriffliche Differenzierung im Aufenthaltsverständnis geboten ist. Eben diese Unterscheidung wurde bereits im kollisionsrechtlichen Schrifttum der Bundesrepublik intensiv diskutiert, fand dort aber unter anderen regelungssystematischen Vorbedingungen statt. Im Folgenden soll die nationale Diskussion daher zunächst systematisch dargestellt werden (a)), bevor die Arbeit eigene Überlegungen dazu anstellt und sie am Maßstab des EU-Verordnungsrechts auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüft (b)). a) Strukturelle Unterschiede aa) Nahepunkt und Nächstpunkt Der Ruf nach einer kategorischen Differenzierung wurde bislang damit gerechtfertigt, dass Anknüpfungspunkte des IPR auf eine andere Systematik und Teleologie treffen als bei der Bestimmung der internationalen Zuständigkeit.75 Im Internationalen Privatrecht sollen persönliche Anknüpfungspunkte 76 idealtypisch diejenige Rechtsordnung ausweisen, die der Gesetzgeber abstrakt als räumlich gerechteste (Art. 4 Rom I-VO, Art. 8 Abs. 1 Rom III-VO) oder gerechtere (Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO) versteht. 77 Nur in atypischen Ausnahmefällen wird der durch die Anknüpfung etablierten Vermutung eine generalisierende Ausweichklausel zur Seite gestellt (Art. 4 Abs. 3 Rom I-VO, Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO).
75
Allgemein zur Funktion der Anknüpfungspunkte von Bar/Mankowski, IPR I, § 7 Rn. 3, 7 ff. 76 Zum Proprium der persönlichen Anknüpfungspunkte von Bar/Mankowski, IPR I, § 7 Rn. 7. 77 von Bar/Mankowski, IPR I, § 7 Rn. 7 f.; Geimer, IZVR, 7. Auflage 2015, Rn. 30.
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Im Rahmen der internationalen Zuständigkeit weisen die Anknüpfungspunkte dagegen im Grundsatz nicht den engsten, sondern nur einen von mehreren möglichen Kontakten aus. 78 Anstatt der räumlichen Maximalverbindung muss also lediglich ein ausreichend enger nexus zwischen Anknüpfungssubjekt und Rechtsordnung sichergestellt sein. 79 Anstatt den Nächstpunkt zwischen Anknüpfungssubjekt und Rechtsordnung zu definieren, weisen die Anknüpfungspunkte im Kontext der internationalen Zuständigkeit also einen von mehreren möglichen Nahepunkten aus, die dem Kläger alternativ zur Verfügung stehen.80 Auch zwischen diesen Nahepunkten besteht freilich ein Stufenverhältnis. Den Grundsatz bildet die allgemeine Zuständigkeit am Wohnsitz des Beklagten, also der Grundsatz actor sequitur forum rei, der im IZVR der Europäischen Union in Art. 5 Brüssel Ia-VO niedergelegt ist. Dieser Gerichtsstand wird durch abweichende Klägergerichtsstände der Art. 8 ff. EuGVVO, aber auch durch klagegegenstandsbezogene Gerichtsstände, wie den Gerichtsstand am Ort des Schadenseintritts, ergänzt. 81 Die allgemeine Zuständigkeit am Beklagtenwohnsitz bildet mit anderen Worten die Regel, die Eröffnung besonderer Zuständigkeiten und damit das Vorhandensein einer Zuständigkeitsalternative dagegen die Ausnahme. bb) Sinn und Nutzen alternativer Gerichtsstände Der beschriebene Unterschied erklärt sich zunächst durch praktische und prozessökonomische oder Effizienzerwägungen. Zuallererst gilt im Zivilverfahren die Dispositionsmaxime. Der Kläger kann also selbstständig darüber bestimmen, ob er eine Rechtsverletzung überhaupt vor Gericht rügen möchte oder nicht. Entschließt er sich zur Klageerhebung, muss die Frage nach dem anwendbaren Recht hingegen ± nach herrschender Meinung ± ex officio berücksichtigt werden. 82 Eine Verengung der internationalen Zuständigkeit auf eine einzige Option zwingt im Gegensatz zum IPR mindestens eine Partei, auf ausländische Prozessvertreter zurückzugreifen, eine unbekannte Verfahrenssprache in Kauf zu 78
Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, 1995, 484 f. Zu den Interessen hinter der internationalen Zuständigkeit Heldrich, Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht, 1969, 104 ff. 79 Mankowski, FS Heldrich, 2005, 867 (869); Geimer, IZVR, 7. Auflage 2015, Rn. 30. 80 Mankowski, FS Heldrich, 2005, 867 (869); Geimer, IZVR, 7. Auflage 2015, Rn. 30. 81 =XU 6\VWHPDWLN GHU Ä.OlJHUJHULFKWVVWlQGH³ LP ,=95 GHU 8QLRQ V Coester-Waltjen, Klägergerichtsstände im europäischen Zivilverfahrensrecht, FS Klamaris, 2016, 173 (175 ff.). 82 Rechtsvergleichender Überblick mit bedeutenden Relativierungen bei Trautmann, Europäisches Kollisionsrecht und ausländisches Recht im Zivilverfahren, 2011, 17 ff.; Coester-Waltjen, Internationales Beweisrecht, 1983, 39 ff. Ein rechtsvergleichendes Kompendium wurde beispielsweise herausgegeben von Müller (Hrsg.), Die Anwendung ausländischen Rechts im internationalen Privatrecht, 1968.
B. Differenzierung nach Rechtsgebiet
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nehmen und ihr Verhalten an die Verfahrensnormen des forums anzupassen. 83 Auch die Verfahrensführung wird unter Umständen erschwert, wenn eine Partei ihren Lebensmittelpunkt im Ausland hat. 84 Entsprechend ist es für den Interessenausgleich zwischen den Parteien förderlich, wenn die Letztentscheidung über das forum den Parteien überantwortet wird. Die Wahlfreiheit des Klägers endet mithin im Schutz des Beklagten.85 Darin liegt eine nicht zwingende inhaltliche Grenze der internationalen Zuständigkeit. Innerhalb dessen dürfen die Anknüpfungspunkte des IZVR die Frage, welches von mehreren sachnahen Gerichten den Rechtsstreit entscheiden sollte, regelmäßig unbeantwortet lassen. Die Gefahr von Parallelverfahren als klassisches Folgeproblem konkurrierender Gerichtsstände wird durch die Schaffung ausschließlicher Gerichtsstände 86 , durch formale Koordinationsregeln wie lis pendens (Art. 27 Brüssel Ia-VO, Art. 19 EuEheVO, Art. 12 Abs. 1 EuUntVO)87 und zusätzlich, im Fall des Art. 15 EuEheVO, durch materiell flexible Lockerungsformeln wie das forum non conveniens 88 gebannt. Hinzu treten das Verbot des Zuständigkeitsmissbrauchs als rechtspraktische sowie das Gebot der Vermeidung von forum shopping als kodifikatorische und im Fall des Unionsrechts primärrechtlich indizierte Grenze bei der Schaffung alternativer Gerichtsstände.89 Die Entscheidung über das anwendbare Recht duldet eine gleichwertige Koexistenz mehrerer möglicher Varianten dagegen nur sehr begrenzt, näm83 Zum Ersten Ingerl, Sprachrisiko im Verfahren, 1988; zu Letztem auch CoesterWaltjen, Internationales Beweisrecht, 1983, 199 ff., freilich im Rahmen der davon zu unterscheidenden Fragestellung, ob es sinnvoll ist, den Parteien eine Ausrichtung ihres Verhaltens an der lex fori zuzumuten. 84 Für die Praktikabilität der Maßgeblichkeit der lex fori bei der Bestimmung des maßgeblichen Verfahrensrechts Coester-Waltjen, Internationales Beweisrecht, 1983, 110. 85 Zur Beklagtenzentriertheit des IZVR s. Neuner, Internationale Zuständigkeit, 1929, Schröder, Internationale Zuständigkeit, 1971, 229 ff.; Schack, IZVR, 6. Auflage 2014, Rn. 222. 86 Zu deren Problemen Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, 1995, 484±487. 87 EuGH, 8.12.1987 ± C-144/86 ± Gubisch ./. Palumbo ± NJW 1989, 665; EuGH, 19.5.1998 ± C-351/96 ± Drouot Assurances ± Slg. 1998-I, 3075; MüKoZPO/Gottwald Art. 27 EuGVVO Rn. 1; Magnus/Mankowski/Fentiman, Introduction to Arts. 27±30, Rn. 11 ff.; Gaudemet-Tallon, Clés pour le Siècle, 2000, 122 (143). 88 Zu Art. 15 als Fall des forum non conveniens s. MüKoZPO/Gottwald Art. 15 EuEheVO Rn. 1, anknüpfend an Solomon, FamRZ 2004, 1409 (1413 f.); zum internationalen forum non conveniens in den USA s. Piper Aircraft Co v Reyno, 454 US 235; 102 S Ct 252; 70 L Ed 2d 419 (1981). Die Verweisung zwischen den Federal Courts in USBundesstaaten (change of venue) ist gesetzlich geregelt, vgl. 28 U.S.C. § 1404, 1406 (Federal Rules of Civil Procedure), nicht aber die zwischen den Gerichten der Bundesstaaten. Allgemein Gaudemet-Tallon, Clés pour le Siècle, 2000, 122 (138 f.). 89 Besonders intensiv werden beide Grenzen im Hinblick auf die Gerichtsstandsvorschriften der EuUntVO diskutiert, s. Geimer/Schütze/Reuß Art. 3 EuUntVO Rn. 11 ff.
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§ 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht
lich im Rahmen einer meist konsensualen 90 Rechtswahl der Parteien. Jenseits dieser punktuellen Öffnung für die Parteiautonomie müssen Kollisionsnormen eine klare Rangfolge zwischen unterschiedlichen Anknüpfungsalternativen vorsehen; Ausnahmen von dieser strukturellen Regel der Anknüpfungsleiter 91 rechtfertigen sich zumeist nur durch das unmittelbare gesetzgeberische Interesse an einem bestimmten materiellen Ergebnis.92 Kollisionsnormen sind mithin durch Anknüpfungsleitern strukturiert, Zuständigkeitsvorschriften dulden dagegen eine Alternativität. Selbst wenn eine Rechtswahl stattgefunden hat, muss der Gesetzgeber aber subsidiär eine objektive Anknüpfung für diejenigen Fälle bereitstellen, in denen keine wirksame parteiautonome Vereinbarung des anwendbaren Rechts stattgefunden hat. Im Gegensatz zum internationalen Zivilverfahrensrecht, das regelmäßig mehrere gleichrangige Nahepunkte für gerichtsstandstauglich erklärt, ist das Internationale Privatrecht also der Suche nach dem Nächst- oder Schwerstpunkt 93 eines Rechtsverhältnisses verpflichtet. 94 cc) Justizgewährung gegen Verweisungsgerechtigkeit Unabhängig vom Regelungskontext stehen die Vorschriften des IPR und die des IZPR auch unter dem Einfluss unterschiedlicher verfassungsrechtlicher Garantien. 95 Da das IZPR aus Sicht des deutschen Verfassungsrechts dem Justizgewährleistungsanspruch und aus Sicht der internationalen Menschenrechte dem fair trial-Grundsatz (Art. 6 EMRK) genügen muss, 96 ist der nationale Gesetzgeber verpflichtet, durch die Schaffung alternativer Gerichtsstände den
90 Eine Ausnahme bildet die unilaterale Rechtswahlmöglichkeit des Erblassers, Art. 22 Abs. 1 EuErbVO. 91 Allgemein von Bar/Mankowski, IPR I, § 7, Rn. 95; Zur Ausnahme der Alternativund Exklusivanknüpfung Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, 156 ff.; Baum, Alternativanknüpfungen, 1985, 89 ff., 95 ff. 92 Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, 158. 93 Mankowski, Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht, FS Heldrich, 2005, 867 (868). 94 Mankowski, FS Heldrich, 2005, 867 (868). 95 Die Vorschriften zur internationalen Zuständigkeit dienen der Ausübung judikativer Hoheitsgewalt. Sie müssen daher (bestrittenermaßen) die völkerrechtlichen Grenzen der Ausübung staatlicher Souveränität beachten, internationale Grund- und Menschenrechte respektieren und verfassungsrechtlich dem Justizgewährleistungsanspruch genügen. Die Normen des IPR werden dagegen im Prinzip als neutral-mechanische Allokationsmechanismen verstanden, mittels derer ein Sachverhalt dem für ihn geschaffenen, räumlich gerechten Recht zugewiesen wird. Zur Eigenrationalität des Zuständigkeitsrechts Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, 1995, 132 f. 96 Ausführlich Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, 1995, 30, 433; Coester-Waltjen, FS Klamaris, 2016, 173.
B. Differenzierung nach Rechtsgebiet
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effektiven Rechtsschutz sicherzustellen. 97 Die Zuständigkeitsarchitektur des Europäischen IZVR ist mit anderen Worten also durch unionsverfassungsrechtliche Prinzipien überformt. Der Anspruch des Klägers auf Zugang zu den Gerichten und effektiven Rechtsschutz steht der Gestaltung der Gerichtsstände als Leitprinzip voran. 98 Solch eine unmittelbare justizverfassungsrechtliche Einhegung fehlt dem IPR zweifelsohne. Allerdings lässt sich auch hier eine Tendenz zur beschränkten oder sogar unbeschränkten Rechtswahl erkennen. 99 Mitunter wird diesem Trend auch ein grund- oder besser menschenrechtliches Fundament zuerkannt. 100 Ebenso wie der vertragstheoretische Erklärungsansatz, dass staatliche Souveränität sich ausschließlich durch den kollektiven Willen der Rechtsunterworfenen rechtfertigt 101 und sich daher die Wahl ebenso wie die vollständige Abwahl der eigenen Rechtsordnung im Grundsatz ohne weiteres rechtfertigen lässt 102, fungiert als Legitimationsbasis der Parteiautonomie ein negativ-freiheitsrechtliches Grundkonzept. Institutionelle Mindeststandards wie der Justizgewährleistungsanspruch erklären sich dagegen durch den status positivus103 und die eng damit verbundenen Grundund Menschenrechte. 104 b) Wert für das Europäische Kollisionsrecht Die gerade angestellten Überlegungen verdienen uneingeschränkt Zustimmung, soweit es um das Verhältnis zwischen nationalem IPR und nationalem internationalen Zivilverfahrensrecht in Zivil- und Handelssachen geht. Im internationalen Familien- und Unterhaltsverfahrensrecht sowie im Nachlassverfahrensrecht der Europäischen Union lassen sich jedenfalls aus der Sicht des Internationalen Privatrechts aber Prinzipienverschiebungen erkennen, die mittelbar auch die einst klare Unterscheidung zwischen dem zuständigkeitsund dem sachrechtsbestimmenden gewöhnlichen Aufenthalt relativieren.
97
Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, 1995, 337; Coester-Waltjen, FS Klamaris, 2016, 173 (174 f.). 98 Coester-Waltjen, FS Klamaris, 2016, 173 (175). 99 Kroll-Ludwigs, Parteiautonomie, 2013, 401. 100 Kroll-Ludwigs, Parteiautonomie, 2013, 189 ff., 262; Basedow, RabelsZ 75 (2011), 32 (50 ff.). 101 Basedow, RabelsZ 75 (2011), 32 (41 f.). 102 Basedow, RabelsZ 75 (2011), 32 (43). 103 Aufbauend auf Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 1905/2011, 109 ff. 104 Zum Justizgewährleistungsanspruch Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, 1995, 356. Zu den Grenzen der internationalen Zuständigkeit ibid., 620 ff.
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§ 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht
aa) Von allgemeinen und besonderen zu alternativen Gerichtsständen Die EuEheVO und die EuUntVO sind von vornherein anders strukturiert als die EuGVVO. Art. 3 Abs. 1 lit. a) EuEheVO behält die überkommene Differenzierung zwischen allgemeinen und besonderen Gerichtsständen nicht etwa bei, sondern stellt dem Kläger mehrere alternative fora zur Wahl, in denen dieser seine Klage anhängig machen kann. 105 Der gewöhnliche Aufenthalt kommt in sechs der insgesamt sieben Alternativen als Anknüpfungspunkt zum Einsatz. Er bezieht sich aber in jedem Fall auf einen anderen Zeitpunkt oder auf unterschiedliche Personen. 106 Jeder einzelne Aufenthaltsgerichtsstand steht also zunächst für sich. Der gewöhnliche Aufenthalt weist nicht einen von mehreren möglichen Nahepunkten, sondern den relativ bestimmenden Lebensmittelpunkt des Anknüpfungssubjekts aus. 107 Innerhalb der einzelnen Zuständigkeiten steht die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt wiederum für eine jeweils unterschiedlich begründete Sachnähe zum forum,108 die ebenso wie im Rahmen des IPR die Lebensumwelt des Anknüpfungssubjekts würdigt und die schwächere Partei schützen möchte.109 Besonders deutlich wird die Konvergenz der Gerichtsstände am Beispiel von Art. 3 Abs. 1, 5. Spstr. EuEheVO.110 Damit der Zweck dieser Bestimmung gewahrt bleibt, ist es gerade erforderlich, dass der letzte gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt der Eheleute nach identischen Kriterien wie der neue gewöhnliche Aufenthalt eines Ehegatten bestimmt wird.111 Um diesen Zweck zu erreichen, darf man den gewöhnlichen Aufenthalt aber gerade nicht als Minimalverbindung, sondern muss ihn als Ausweis vollständiger sozialer Eingliederung in einen Staat verstehen. 112 Ähnliche Überlegungen gelten im Hinblick auf Art. 3 lit. a) und b) EuUntVO. Auch hier hat der Kläger ein Wahlrecht zwi105
MüKoZPO/Gottwald Art. 3 EuEheVO Rn. 2; Meyer-Götz/Noltemeier, Internationale Scheidungszuständigkeit im Europäischen Eheverfahrensrecht, FPR 2004, 282 (283); Mankowski, in: Magnus (Hrsg.), Brussels IIbis-Regulation, Art. 3 EuEheVO Rn. 7; Rauscher/ders. Art. 3 EuEheVO Rn. 14. 106 Überblick bei MüKoZPO/Gottwald Art. 3 EuEheVO Rn. 6±24. 107 Das gilt insbesondere im Nachgang zu EuGH ± C-184/14 ± A ./. B ± NJW 2015, 3021, s.o. § 6 B. II. 1. cc) (2). A.A. noch Helms, FamRZ 2011, 1765 (1770); Rösler, RabelsZ 78 (2014), 155 (166). 108 MüKoZPO/Gottwald Art. 3 EuEheVO Rn. 3. 109 A.A. MüKoZPO/Gottwald Art. 3 EuEheVO Rn. 13, der im Rahmen des Beklagtengerichtsstandes auch einen unfreiwillig begründeten Aufenthalt ausreichen lassen möchte. 110 Hau, Das System der Internationalen Ehescheidungszuständigkeit im Europäischen Eheverfahrensrecht, FamRZ 2000, 1333 (1334 f.). 111 MüKoZPO/Gottwald Art. 3 EuEheVO Rn. 18±20. Zur Interessenlage auch Rauscher/ders. Art. 3 EuEheVO Rn. 39 ff. 112 A.A. Helms, FamRZ 2011, 1765 (1770); Rösler, RabelsZ 78 (2014), 155 (166), die den gewöhnlichen Aufenthalt im Interesse der Justizgewährleistung weit verstanden wissen möchten.
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schen der Klage am örtlich zuständigen Gericht des gewöhnlichen Aufenthalts des Anspruchsgegners oder an dem seines eigenen Aufenthalts. 113 Gleichzeitig lassen sich keine bedeutenden Unterschiede zwischen dem Anknüpfungszweck im Zuständigkeitsrecht und im Verweisungsrecht erkennen: Die aufenthaltsbasierte Anknüpfung des Unterhaltsstatuts in Art. 3 HUP dient dazu, die Bemessungsgrundlage des Unterhaltsanspruchs an die Lebensumwelt des Kindes anzupassen. 114 Ebenso wie im Rahmen der EuUntVO bestimmt sich der gewöhnliche Aufenthalt also in Ansehung der Sach- und Beweisnähe des Gerichts sowie nach den Lebensumständen des Gläubigers und muss Überlegungen des Schwächerenschutzes ebenso wie fiskalische Interessen der zuständigen Sozialversicherungsträger beachten. 115 Für die Zuständigkeit mitgliedstaatlicher Gerichte in Sorgerechtssachen nach Art. 8 Abs. 1 EuEheVO hat der Gerichtshof schließlich ohnehin eine umfassende Auswertung aller Sachverhaltselemente verfügt.116 Die Relevanz dieser Maßgabe für das vorliegende Argument wird freilich dadurch geschmälert, dass der Begriff dort den Gegenstand einer ausschließlichen Zuständigkeit bildet.117 bb) Verknüpfung von Zuständigkeit und anwendbarem Recht Eine Differenzierung im Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts nach Zuständigkeit und anwendbarem Recht muss sich auch vor dem Ziel rechtfertigen lassen, einen Gleichlauf zwischen forum und ius herzustellen.118 In der EuEheVO und der EuUntVO sind die internationale Zuständigkeit und das anwendbare Recht weder konditional miteinander verbunden noch deutlich erkennbar aufeinander abgestimmt. 119 Die Entscheidung darüber, ob die lex fori oder eine ausländische Rechtsordnung zur Anwendung kommt, ist damit dem Kläger oder den Parteien überlassen. Sofern man den an früherer Stelle vertretenen Argumenten zur EuEheVO und EuUntVO folgen möchte, sind identische Parameter für die Bestimmung von Zuständigkeit und anwendbarem Recht daher umso mehr geboten, wenn der Gesetzgeber beide Stufen der Rechtsfindung institutionell unter einem Rechtsakt vereint und dabei die Bestimmungen zur internationalen Zuständigkeit und zum anwendbaren Recht ausdrücklich aufeinander abstimmt. Das ist in der EuErbVO und der EuGüVO der Fall. Die EuGüVO arbeitet ähnlich wie die EuUntVO mit einem Modell des fakultativen Gleichlaufs. Ein Auseinanderfallen von Zuständig113
Heger, FPR 2013, 1 (2). Heger, FPR 2013, 1 (2). 115 Heger, FPR, 2013, 1. 116 S.o. § 6 B. I. 1. b) bb). 117 Ibid. 118 Ausführlich auch Weller, FS Coester-Waltjen, 2015, 897 (907 ff.). 119 Zur EuUntVO siehe Rauscher, FS Coester-:DOWMHQ ÄORVHYHUEXnGHQ³ 114
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§ 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht
keit und anwendbarem Recht kann im Rahmen des Art. 22 EuGüVO nicht durch eine nachträgliche Rechtswahl korrigiert werden. 120 Allgemein wird man im Rahmen der objektiven Anknüpfung an die engste Verbindung (Art. 26 Abs. 1 lit. c) EuGüVO) die Gerichtszuständigkeit berücksichtigen müssen. In der EuErbVO kommt der letzte gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers sowohl zuständigkeits- als auch sachrechtsbestimmend zum Einsatz (Art. 4, 21). Zudem gibt die Verordnung den Erben mit Art. 5 EuErbVO eine Korrekturmöglichkeit an die Hand, um ein Auseinanderfallen von forum und ius zu verhindern, sofern der Erblasser von seiner Rechtswahlmöglichkeit in Art. 22 Abs. 1 EuErbVO Gebrauch gemacht hat. Das gesetzgeberische Interesse an einer Parallelisierung von Zuständigkeit und anwendbarem Recht tritt neben dieser aufschlussreichen Regelungssystematik auch in Erwägungsgrund 27 deutlich zutage. 121 Würde man hier ein differenziertes Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts fordern, widerspräche das dem gesetzgeberischen Anliegen einer Erleichterung der grenzüberschreitenden Nachlassabwicklung. 122 Die EuErbVO entkräftet außerdem die eingangs formulierte Vermutung, dass ein differenziertes Aufenthaltsverständnis nötig ist, um die Alternativität von Zuständigkeitsnormen von der internationalprivatrechtlichen Verweisung abzugrenzen. Art. 4 und Art. 21 EuErbVO verhalten sich genau umgekehrt zu der Hypothese, die dieser Annahme zugrunde liegt. Art. 4 EuErbVO bestimmt die internationale Zuständigkeit der Nachlassgerichte ausschließlich in Ansehung des letzten gewöhnlichen Aufenthalts. Abweichungen sind nur zulässig, wenn der Erblasser eine Rechtswahl vorgenommen hat (Art. 5 i.V.m. Art. 7 EuErbVO) oder andernfalls die Gerichte eines Drittstaates zuständig wären (Art. 10 EuErbVO).123 Außerdem steht die Anknüpfung nach Art. 21 Abs. 1 EuErbVO unter dem Vorbehalt einer wesentlich engeren Verbindung zu einem anderen Mitgliedstaat (Art. 21 Abs. 2 120
Anders zum Vorentwurf noch Wagner, NJW 2011, 1404 (1405). (27) ÄDie Vorschriften dieser Verordnung sind so angelegt, dass sichergestellt wird, dass die mit der Erbsache befasste Behörde in den meisten Situationen ihr eigenes Recht anwendet. Diese Verordnung sieht daher eine Reihe von Mechanismen vor, die dann greifen, wenn der Erblasser fƺr die Regelung seines Nachlasses das Recht eines Mitgliedstaats JHZlKOWKDWGHVVHQ6WDDWVDQJHK|ULJHUHUZDU³ 122 So sieht es auch die im Vordringen befindliche h.M. zu Art. 4, 21 EuErbVO, s. MüKoBGB/Dutta Art. 21 EuErbVO Rn. 4, m.Verw. auf Lübcke, Das neue europäische internationale Nachlassverfahrensrecht, 2013, 359; Schäuble, Die Einweisung der Erben in die Erbschaft nach österreichischem Recht durch deutsche Nachlassgerichte, 2011, 181 f.; Süß, Das Europäische Nachlasszeugnis, ZEuP 2013, 725 (733); Bonomi, in: ders./Wautelet, Le droit européen des succesions, Chapitre III, Rn. 16; Franzina/Leandro, Il nuovo diritto internazionale delle successioni per causa di morte in Europa, NLCC 2013, 275 (315); Müller-Lukoschek, Die neue EU-Erbrechtsverordnung, 2015, 114. A.A. Buschbaum/Kohler, Vereinheitlichung des Erbkollisionsrechts in Europa, GPR 2010, 106 (112). 123 Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff, 2014, 200. 121
C. Differenzierung nach äußerer Regelungssystematik
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EuErbVO). 124 Auch eine Rechtswahl des Erblassers (Art. 22 EuErbVO) 125 und der renvoi aus drittstaatlichen IPR-Normen (Art. 34 EuErbVO)126 wirken sich im Gegensatz zur Zuständigkeitsbestimmung unmittelbar auf das anwendbare Recht aus. Die Bestimmungen über das anwendbare Recht lassen also insgesamt mehr Alternativen zu als die Gerichtsstände der EuErbVO. Die allgemeine Annahme, dass die internationale Zuständigkeit stets einen von mehreren Nahe-, die kollisionsrechtliche Verweisung dagegen den Nächstpunkt ausweist, wird mit anderen Worten jedenfalls durch die familien- und erbrechtliche lex lata relativiert. c) Zusammenfassung Im aktuellen Europäischen IPR und IZVR begegnet der Wunsch nach einer Differenzierung nach Zuständigkeit und anwendbarem Recht also einer gesteigerten Rechtfertigungslast. Zwar bleiben kategorische Unterschiede zwischen forum und ius erhalten, sie stehen aber gerade in den Sachbereichen, in denen der gewöhnliche Aufenthalt bereits die internationale Zuständigkeit bestimmt, in keinem eindeutig erkennbaren Zusammenhang mit der Aufenthaltsanknüpfung. Ein unmittelbarer Bedarf nach einer Differenzierung, auf den man im autonomen IPR zu Recht hinweisen konnte, lässt sich also nicht mehr erkennen. Die vorliegende Abhandlung muss sich dennoch einer verbindlichen Entscheidung enthalten, da sie das Verhältnis von prozessualer Aufenthaltsermittlung und dogmatischer Handhabung des Aufenthaltsbegriffs nicht thematisiert hat. Insbesondere der Zusammenhang zwischen dem vorgestellten Differenzierungsvorschlag und der Lehre von den doppelrelevanten Tatsachen, aber auch der Einfluss der Dispositionsmaxime, sind daher nicht zur Sprache gekommen. Festzuhalten bleibt also, dass die Differenzierung zwischen internationaler Zuständigkeit und anwendbarem Recht aus Sicht des Internationalen Privatrechts der Union entbehrlich wird. Ob dasselbe auch für das IZVR gilt, lässt sich innerhalb der thematischen Schranken, die sich die Arbeit gesetzt hat, nicht beurteilen.
C. Differenzierung nach äußerer Regelungssystematik C. Differenzierung nach äußerer Regelungssystematik
Die Aufarbeitung der unterschiedlichen Einsatzfelder des gewöhnlichen Aufenthalts im ersten Teil des vorliegenden Arbeitsabschnitts hat gezeigt, dass der Begriff sich sowohl im Europäischen Zuständigkeitsrecht als auch im 124
Kritisch dazu MüKoBGB/Dutta Art. 21 EuErbVO Rn. 6 m.w.N. aus der Literatur in
Fn. 7. 125 126
Zu den Voraussetzungen Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff, 2014, 207 ff. Kränzle, Heimat als Rechtsbegriff, 2014, 206 ff.
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§ 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht
Kollisionsrecht in unterschiedliche systematische Bedeutungszusammenhänge einfügen muss (§ 7 G.). Diese Unterschiede können sowohl das äußere systematische Umfeld des gewöhnlichen Aufenthalts als auch den inneren Regelungszusammenhang, mithin seine Funktion innerhalb einer Kollisionsnorm, betreffen. Zur ersten Kategorie zählt die bereits erwähnte, grundlegende Unterscheidung zwischen rechtswahlkonkretisierendem und objektiv-verweisendem gewöhnlichen Aufenthalt. Der folgende Abschnitt konzentriert sich zunächst darauf, welche Auswirkungen die Unterschiede im äußeren Regelungszusammenhang auf den Wortsinn der Aufenthaltsanknüpfung haben können. Dabei stehen die verweisungsrechtlichen Vorschriften des Europäischen IPR im Mittelpunkt. Die Unterschiede im inneren Regelungszusammenhang und die Konsequenzen für den Aufenthaltsbegriff werden in einem weiteren Schritt selbstständig untersucht (D.). Unter dem Oberbegriff des äußeren Regelungszusammenhangs lassen sich mehrere Funktionsunterschiede des gewöhnlichen Aufenthalts diskutieren. Erstens dient der gewöhnliche Aufenthalt in den verweisungsrechtlichen Verordnungen des Europäischen Kollisionsrechts einerseits der Konkretisierung einer beschränkten Rechtswahlmöglichkeit, andererseits der einer objektiven Anknüpfung (I.). Zweitens bildet der gewöhnliche Aufenthalt teils den Gegenstand einer Regelanknüpfung, während er in anderen Fällen eine Ausnahme von dieser Regel begründet (II.). Drittens erfolgt die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts teils mit Blick auf die Gegenwart, teils aber auch ausschließlich vergangenheitsbezogen (III.). Es lässt sich aber nicht ausschließen, dass diese Varianzen in der Rechtsfolge ± Regel und Ausnahme ± und im Anknüpfungszeitpunkt dem gewöhnlichen Aufenthalt unterschiedliche Bedeutungen verleihen können. Während der Begriff im Rahmen einer Regelanknüpfung beispielsweise der gesetzgeberischen Überzeugung Ausdruck verleiht, dass der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts einer Person vermutungshalber mit dem räumlichen Schwerpunkt eines Rechtsverhältnisses zusammenfällt, soll dieser Schwerpunkt im Fall einer Ausnahmeanknüpfung gerade anderswo liegen. Im einen Fall dient der gewöhnliche Aufenthalt also der Konkretisierung einer Grundregel, im anderen fungiert er als Korrektiv. Die Funktionsunterschiede der Aufenthaltsanknüpfung werden also an Unterschieden in der Regelungssystematik deutlich. Der Schluss liegt nahe, dass sie dem allgemeinen, abstrakten Wortsinn des gewöhnlichen Aufenthalts also unterschiedliche Nuancen verleihen können.127
127
Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Auflage 1983, 310.
C. Differenzierung nach äußerer Regelungssystematik
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I. Beschränkte Rechtswahl und objektive Verweisung128 Wie die eingangs angestellte Übersicht andeutet, bildet der gewöhnliche Aufenthalt einerseits den Gegenstand objektiver Verweisungsnormen; andererseits dient er der Konkretisierung begrenzter Rechtswahltatbestände. 1. Befund Eine objektive Verweisung erzeugt der gewöhnliche Aufenthalt in Art. 4 Abs. 1 lit. a) (Kaufverträge über bewegliche Sachen), b) (Dienstleistungsverträge), d) (Kurzzeitmiet- und Pachtverträge), e) (Franchiseverträge) und f) Rom I-VO (Vertriebsverträge), ferner in Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO (Grundanknüpfung), in Art. 5 Abs. 1 UA 1 Rom I-VO (Güterbeförderungsverträge) und 2 UA 1 Rom I-VO (Personenbeförderungsverträge), in Art. 6 Abs. 1 Rom I-VO (Verbraucherverträge), in Art. 7 Abs. 2 UA 2 Rom I-VO (Versicherungsverträge) und im Rahmen des von Art. 14 Abs. 1 Rom I-VO nicht erfassten Wirkungsstatuts der Abtretung; zweitens in Art. 4 Abs. 2, in Art. 5 Abs. 1 lit. a) Rom II-VO; drittens in Art. 8 lit. a) und lit. b) Rom IIIVO; viertens in Art. 3 Abs. 1 HUP; fünftens in Art. 26 Abs. 1 lit. a), b) EuGüVO; und schließlich in Art. 21 Abs. 1 EuErbVO. Eine beschränkte Rechtswahl konkretisiert der gewöhnliche Aufenthalt in Art. 5 Abs. 2 UA 2 lit. a) und b) Rom I-VO (Personenbeförderungsverträge)129, in Art. 7 Abs. 2 lit. b) und e) Alt. 2) Rom I-VO (Versicherungsverträge), in Art. 5 Abs. 1 lit. a) und b) Rom III-VO, in Art. 8 Abs. 1 lit. b) HUP und in Art. 22 Abs. 1 lit. a) EuGüVO. 2. Optionenerweiternde und -verengende Wirkung Zwischen dem gewöhnlichen Aufenthalt im Rahmen einer Rechtswahl und dem im Rahmen einer objektiven Anknüpfung bestehen erkennbare Funktionsunterschiede. a) Anwendungsbeispiel Als Mechanismus zur Konkretisierung einer Rechtswahlbestimmung dient der gewöhnliche Aufenthalt nicht dazu, die gesetzlich typisierend vorgezeichnete engste Verbindung eines Rechtsverhältnisses positiv zu lokalisieren. Vielmehr grenzt er negativ den Kreis der zulässigerweise qua Rechtswahlvereinbarung wählbaren, da mit dem Sachverhalt ausreichend eng ver0LW DQGHUHQ )ROJHQ DOV ÄRSWLRQHQHUZHLWHUQGH³ )XQNWLRQ EHVFKULHEHQ EHL HilbigLugani, GPR 2014, 8 (10). 129 Indirekt, nämlich über Art. 19 Rom I-VO, liest sich auch die in Art. 5 Abs. 2 UA 2 lit. c) Rom I-VO vorhandene Anknüpfung an die Hauptverwaltung als Aufenthaltsanknüpfung. 128
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bundenen Rechtsordnungen ein. Technisch erweitert der gewöhnliche Aufenthalt, sofern er den Gegenstand einer Rechtswahlmöglichkeit bildet, also die Optionen der Parteien, 130 während er als objektiver Anknüpfungspunkt lediglich eine gesetzlich vorgezeichnete und normativ Äabgeschlossene³ Zuordnung konkretisiert. Unterstützt wird dieser Erstbefund durch offensichtliche strukturelle Unterschiede, die die objektiven Anknüpfungsnormen von subjektiven Rechtswahlmöglichkeiten abheben. Kollisionsnormen, in denen der gewöhnliche Aufenthalt als objektiver Anknüpfungspunkt zum Einsatz kommt, fügen sich regelmäßig in gesetzlich vorgefertigte Rangschemata, sogenannte Anknüpfungsleitern, 131 ein.132 Wird der gewöhnliche Aufenthalt auf der ersten Anknüpfungsstufe der Leiter bejaht, hat dies den Ausschluss sämtlicher nachrangiger Anknüpfungsoptionen zur Folge, die unter Umständen in eine andere Rechtsordnung geführt hätten. Diese Überlegung lässt sich am Beispiel des Art. 5 Abs. 2 UA 1 Alt. 1 Rom I-VO verdeutlichen. 133 Der gewöhnliche Aufenthalt des Beförderten bestimmt hier das anwendbare Recht, wenn er mit dem Abgangs- oder Bestimmungsort der Reise zusammenfällt. Gleichzeitig entfällt aber die Option, das Recht am gewöhnlichen Aufenthalt des Beförderten zu berufen (Art. 5 Abs. 2 UA 1 Alt. 2 Rom I-VO). Im Rahmen des Art. 5 Abs. 2 UA 2 Rom I-VO erweitert die Lokalisierung des gewöhnlichen Aufenthalts die Rechtswahloptionen dagegen: Wenn der gewöhnliche Aufenthalt des Beförderten (lit. a) weder mit dem des Beförderers (lit. b)),134 noch mit dem Abgangs- (lit. d)) und Bestimmungsort der Reise (lit. e)) zusammenfällt, mehren sich infolgedessen die Rechtswahloptionen der Parteien. b) Differenzierung nach dem Telos der Anknüpfung Ob und wie man diesen Unterschied durch ein differenziertes Begriffsverständnis des gewöhnlichen Aufenthalts einfangen möchte, hängt davon ab, welchen Zweck der Gesetzgeber durch eine beschränkte Rechtswahl einerseits und eine objektive Anknüpfung andererseits verfolgt. Eine erste Vermutung könnte lauten, dass der gewöhnliche Aufenthalt im Rahmen einer jeden objektiven Anknüpfung der Suche nach der engsten Ver-
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Hilbig-Lugani, GPR 2014, 8 (10); Stoll, Rechtswahl, 1991, 144. Althammer, Das europäische Scheidungskollisionsrecht der Rom III-VO unter Berücksichtigung aktueller deutscher Judikatur, NZFam 2015, 9 (13); Helms, FamRZ 2011, 1765. Eine Ausnahme bildet Art. 3 HUP; dazu unten III. 132 Hilbig-Lugani, GPR 2014, 8 (10 f.). 133 Die Darstellung wählt bewusst ein Beispiel aus der Rom I-VO. Wie an früherer Stelle festgestellt wurde, kann weder die Rom III-VO noch das HUP als Regelungsvorbild für ein autonom-unionsrechtliches Aufenthaltsverständnis dienen. 134 Ohne weitere Diskussion dagegen MüKoBGB/Martiny Art. 5 Rom I-VO Rn. 30. 131
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bindung verpflichtet ist. 135 Entsprechend hoch sind daher die Anforderungen, die das Konzept im Rahmen einer objektiven Anknüpfung erfüllen muss. Im Rahmen einer beschränkten Rechtswahl soll der gewöhnliche Aufenthalt dagegen lediglich eine von mehreren möglichen Rechtsordnungen identifizieren, denen ein Sachverhalt kraft ausreichender Sachnähe unterworfen werden darf.136 Die eigentliche Entscheidung über das anwendbare Recht ist also im Gegensatz zur objektiven Anknüpfung den Parteien überantwortet. Da eine ausreichend eindeutige gesetzliche Bestimmung des anwendbaren Rechts nicht möglich ist, 137 sind diese letztentscheidungsbefugt darüber, wo sich der Schwerpunkt eines Rechtsverhältnisses im Einzelfall befindet. Auf dieser Grundlage könnte man argumentieren, dass der gewöhnliche Aufenthalt im Rahmen einer Rechtswahloption großzügiger gehandhabt werden darf als im Rahmen der objektiven Anknüpfung. 138 Indem der Gesetzgeber eine begrenzte Rechtswahloption einführt, ermächtigt er die Parteien gerade, selbst die Rechtsordnung zu bestimmen, zu der ein Sachverhalt die engste Verbindung aufweist. Diese Ermächtigung schlägt sich neben der eigentlichen Wahlmö glichkeit darin nieder, dass die Parteien in Bezug auf die relevanten Anknüpfungstatsachen eine mehr oder weniger umfangreiche Dispositionsfreiheit besitzen. Sofern man die Legitimationsgrundlage der beschränkten Rechtswahl darin sieht, dass der Gesetzgeber im Interesse der Einzelfallgerechtigkeit von einer verbindlichen Bestimmung des anwendbaren Rechts abgesehen hat, 139 sollten die Grenzen der Rechtswahl außerdem nicht enger gesteckt sein als die einer objektiven Anknüpfung. Außerdem erscheint es widersprüchlich, anzunehmen, der Gesetzgeber wolle zwar seine Letztentscheidungsbefugnis über das anwendbare Recht abgeben, die Wahlfreiheit selbst aber so weit wie möglich einschränken. Erweitert der gewöhnliche Aufenthalt als Bestandteil einer beschränkten Rechtswahlmöglichkeit die Optionen der Parteien, muss er danach mindestens im Einklang mit einer objektiven Verweisung ausgelegt werden. c) Differenzierung nach Unterschieden in der rechtspraktischen Handhabung Die rechtspraktische Handhabung einer beschränkten Rechtswahl legt ein anderes Ergebnis nahe. Erstens wird der gewöhnliche Aufenthalt im Rahmen einer beschränkten Rechtswahl regelmäßig in einem anderen institutionellen Kontext, zweitens zu einem anderen Zeitpunkt relevant als in Ansehung der 135
Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 77 ff. Stoll, Rechtswahl, 1991, 144; Kroll-Ludwigs, Parteiautonomie, 2013, 413. 137 Hier liegt auch die Legitimation des gewöhnlichen Aufenthalts im Internationalen Familienrecht, vgl. Looschelders, Scheidungsfreiheit und Schutz des Antragsgegners im internationalen Privat- und Prozessrecht, FS Kropholler, 2008, 331 (350). 138 So, allerdings mit anderen Argumenten, Hilbig-Lugani, GPR 2014, 8 (10 f.). 139 Looschelders, FS Kropholler, 2008, 331 (350). 136
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objektiven Anknüpfung. Im Rahmen der Rechtswahl wird der gewöhnliche Aufenthalt anhand der gegenwärtigen Lebensumstände einer Person ermittelt, im Rahmen der objektiven Anknüpfung erfolgt eine retrospektive Auswertung eines Lebenssachverhalts. 140 Das liegt daran, dass die Frage des anwendbaren Rechts in Ermangelung einer Rechtswahl regelmäßig erst im Rahmen eines späteren Verfahrens thematisiert wird.141 Wo sich der gewöhnliche Aufenthalt einer Partei befindet, wird dann nicht durch die Parteien, sondern stets durch die rechtsanwendende Behörde bestimmt. Umgekehrt erfolgt die Lokalisierung des gewöhnlichen Aufenthalts im Rahmen einer beschränkten Rechtswahl nicht durch das erkennende Gericht, sondern durch die Parteien des Rechtsverhältnisses, beziehungsweise durch Notare oder Vertragsunterhändler.142 Auch die Funktion des rechtswahlkonkretisierenden gewöhnlichen Aufenthalts ist eine andere als im Rahmen einer objektiven Anknüpfung. Sofern eine Rechtswahl zugunsten des Aufenthaltsrechts stattfindet, entscheidet der gewöhnliche Aufenthalt als Anknüpfungspunkt des Wirkungsstatuts über die Gültigkeit des zugrundeliegenden Verfügungsvertrages.143 Im Rahmen der objektiven Anknüpfung ist er dagegen dem Grundsatz der engsten Verbindung verpflichtet. Da die Parteien eine Rechtswahl häufig gerade vornehmen, um Unsicherheiten einer späteren gerichtlichen Ermittlung des anwendbaren Rechts vorzubeugen, 144 muss im Rahmen der Rechtswahl einerseits sichergestellt sein, dass sich die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts an Kriterien orientiert, die einer späteren Überprüfung standhalten. Andererseits ist aber die Frage berechtigt, inwieweit solch eine Überprüfung der Rechtswahlvoraussetzungen überhaupt stattfinden darf, wenn die Parteien von ihrem begrenzten Dispositionsrecht Gebrauch machen und das anwendbare Recht selbstständig bestimmen. Auf dieser Grundlage sind zwei Alternativen denkbar, um den rechtswahlkonkretisierenden gewöhnlichen Aufenthalt begrifflich von anderen Anwendungsfeldern des Begriffs abzugrenzen. Einerseits kann man auch den Standpunkt vertreten, dass dem Niederlassungs- oder Verweilwillen der Parteien ein größeres Gewicht zukommen sollte als im Rahmen der objektiven Anknüpfung (aa)).145 Ebenso berechtigt erscheint es jedoch, das Zeitelement aufzuwerten, da gerade die 140 Stoll, Die Rechtswahl, 1991, 144 f. Besonders deutlich wird dieser Unterschied dort, wo die objektive Anknüpfung eine unbeschränkte Rechtswahlmöglichkeit ergänzt wie in der Rom I-VO. Sofern die Parteien hier keine Rechtswahl getroffen haben, haben sie die Frage nach dem anwendbaren Recht einer Rechtswahl entweder nicht bedacht oder eine Rechtswahl absichtlich unterlassen. 141 Stoll, Die Rechtswahl, 1991, 144. 142 Zu den inhaltlichen Konsequenzen für das Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts Stoll, Die Rechtswahl, 1991, 145. 143 Rösler, RabelsZ 78 (2014), 155 (167). 144 Rösler, RabelsZ 78 (2014), 155 (167). 145 Stoll, Die Rechtswahl, 1991, 145.
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Unsicherheit der Parteien über die Richtigkeit der selbstbestimmten Konkretisierung mehr als in anderen Fällen den Rückgriff auf Äobjektive³, also von außen leicht feststellbare Anknüpfungstatsachen, rechtfertigen dürfte (bb)). aa) Aufwertung des Willenselements Gerade vor dem Hintergrund der im zweiten Teil der Arbeit geäußerten Überlegungen scheint das Vertrauen der Parteien in die Wirksamkeit einer Rechtswahlvereinbarung am besten geschützt, wenn man ihnen die volle Dispositionsmacht über die aufenthaltsrelevanten Dispositionstatsachen einräumt. Rechtspraktisch spricht das für eine Aufwertung des natürlichen Niederlassungs- und Verweilwillens der Parteien vom Gegenstand einer Zweifelsregelung zum ausschließlichen Tatbestandsmerkmal. Die gerade beschriebene Variante, ein Äliberales³ Aufenthaltsverständnis, ist aber insofern problematisch, als die Parteien jederzeit durch eine tatsächliche Ortsveränderung ihren parteiautonomen Handlungsspielraum erweitern können. Zwar muss der Ortswechsel im beidseitigen Einverständnis stattfinden, weshalb die Interessen der schwächeren Partei ausreichend geschützt werden. Gefährdet sind aber die Interessen des Verordnungsgebers, der durch die Schaffung begrenzter Rechtswahltatbestände gerade seinem Interesse Ausdruck verliehen hat, auch das konsensuale system shopping im familienrechtlichen und vertragsrechtlichen IPR einzugrenzen. 146 Dieses Interesse würde konterkariert, wenn man den gewöhnlichen Aufenthalt ausschließlich in Ansehung der tatsächlichen Anwesenheit im Rechtswahlzeitpunkt bestimmte. Zudem widerspricht ein selbstverständlicher Rückschluss von der Rechtswahl auf den Niederlassungswillen den zuvor angestellten konzeptionellen Überlegungen. Die Befürchtung, Aufenthaltsanknüpfung und Rechtswahl würden verschwimmen, wurde schließlich durch die Überlegung entkräftet, dass die subjektiven Elemente, die bei der Aufenthaltsbestimmung eine Rolle spielen können, nicht zwingend mit der Annahme eines rechtswahlkonstitutiven Willens übereinstimmen, sondern wesensverschieden sind. 147 Einerseits haben die Parteien im Rahmen einer beschränkten Rechtswahl nämlich ein schützenswertes Interesse an der Wirksamkeit ihrer Vereinbarung, das sich durch ein volles Dispositionsrecht sicher am besten umsetzen lässt. Andererseits verschwimmen die Unterschiede zwischen Rechtswahl und Aufenthaltsanknüpfung aber auch, wenn die Parteien im Zeitpunkt der Rechtswahlvereinbarung den Kreis der wählbaren Rechtsordnungen beeinflussen können. Obwohl de lege ferenda viel für eine Aufga146
Man kann bezweifeln, ob dieses Interesse berechtigt ist. Kommt man zum Ergebnis, dass dies nicht der Fall ist, sollte man de lege ferenda für eine Abschaffung der Rechtswahlschranken argumentieren. Die hier relevante lex lata des Europäischen IPR setzt diese Überlegung aber nicht um. 147 S.o. § 5 B. 2. b) bb) (3).
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be der Figur der beschränkten Rechtswahl spricht, darf der gewöhnliche Aufenthalt nicht durch eine maximale Ausdehnung des Parteiwillens dazu verwendet werden, Rechtswahlschranken auszuweiten. Auch das Parteiinteresse an einer individuell-parteiautonomen Tatbestandskonkretisierung anstatt einer nachträglichen Aufenthaltsnachprüfung durch Organe der Rechtspflege kann Grundsatzentscheidungen im geltenden Recht nicht überwinden. Eine Aufwertung des Parteiwillens über die Funktion als ausschlaggebender Faktor in Zweifelsfällen hinaus ist also abzulehnen. bb) Aufwertung des Zeitelements Für ein objektives Aufenthaltsverständnis im Rahmen der Rechtswahl spricht erstens das Parteiinteresse, eine in der Nachprüfung wirksame Rechtswahlvereinbarung zu treffen,148 und das Ordnungsinteresse an Rechtssicherheit. 149 Beide Kriterien lassen es angemessen erscheinen, die Parteien neben der aktuellen physischen Präsenz an einem bestimmten Ort auch auf den Nachweis einer nicht unerheblichen Verweildauer oder anderer, äußerlich einfach erkennbarer Kriterien sozialer Integration zu verpflichten.150 Eine Substitution der andauernden tatsächlichen Anwesenheit durch eine entsprechend deutlich erkennbare kulturelle und willensgetragene Verbindung zu einem Land oder einem Landesabschnitt, wie sie der Europäische Gerichtshof in Mercredi annimmt, erscheint dagegen weniger geeignet. 151 Veit Stoll, der die hier skizzierte Option für das Internationale Familienrecht nach dem EGBGB entwickelt hat, schlägt sogar einen vollständigen Verzicht auf subjektive Faktoren vor. Andernfalls würden die Grenzen zwischen dem optionenerweiternden und dem optionenbeschränkenden gewöhnlichen Aufenthalt, also zwischen Rechtswahlmöglichkeit und Rechtswahlschranke, verschwimmen. 152 Eine Rechtsordnung müsse entweder ausdrücklich gewählt werden ± im Rahmen dieser subjektiven Anknüpfung sei ein entsprechender Wille konstitutiv zu berücksichtigen ± oder ihre Anwendung müsse sich durch ausreichend starke Anknüpfungstatsachen rechtfertigen lassen. Dafür eigne sich insbesondere die Verweildauer. 153 Im Rahmen einer begrenzten Rechtswahl liefen beide Stränge zusammen; entsprechend müsse man die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt hier umso mehr von rechtswahlbezogenen Elementen trennen.154
148
So Stoll, Die Rechtswahl, 1991, 145. Ibid. 150 Ibid. 151 Ibid. 152 Ibid. 153 Ibid. 154 Ibid. 149
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Eine Aufwertung der Aufenthaltsdauer ist entgegen dieser Ansicht auch im Rahmen des rechtswahlkonkretisierenden gewöhnlichen Aufenthalts abzulehnen. Das Bedürfnis der Parteien nach einer aussagekräftigen und verbindlichen Leitlinie in der autoritativen Aufenthaltsbestimmung wird durch die Anwesenheitsdauer nämlich nicht gewahrt, sondern gefährdet. Das liegt daran, dass die Verweildauer einen relativen und damit unsicheren Aussagewert für den dahinterstehenden unbestimmten Tatbestand der sozialen Integration besitzt. Erstens zeigt die rechtsvergleichende Beobachtung, dass eine ausschließlich zeitbezogene Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts rechtspraktische Unsicherheiten erzeugt, anstatt sie zu beheben, da sich rechtsvergleichend kein Konsens über die Mindestverweildauer entwickelt hat. 155 Zweitens gibt die Dauer weder Auskunft über die tatsächlichen Bindungen noch über die innere Gewöhnung einer Person. 156 Drittens hat der EuGH die Aufenthaltsdauer auch im Europäischen Internationalen Sozialrecht als Gradmesser ausgeschlossen. Freilich ist eine analoge Übertragung sozialrechtlicher Judikate auf die vorliegende Fragestellung nur begrenzt möglich. 157 Für die beschränkte Rechtswahl ist die dafür erforderliche vergleichbare Interessenlage aber gerade gegeben, da der gewöhnliche Aufenthalt dem Sozialrecht funktional weitaus näher steht als anderen Bereichen des IPR. Erstens besteht dort ein vergleichbar großes Interesse an vorhersehbaren Anknüpfungsergebnissen; zweitens geht es nicht um eine letztverbindliche Zuordnung zu einer Rechtsordnung, sondern um eine Vergabe von Privilegien. Der optionenbegrenzende gewöhnliche Aufenthalt beschränkt schließlich zwar den Handlungsspielraum der Parteien. 158 Solche Schranken werden durch das Partei- und Ordnungsinteresse an einer ausreichend starken Verbindung zwischen Rechtssubjekt und Rechtsordnung aber gerade gerechtfertigt.159 Die Swaddling-Entscheidung des EuGH verdeutlicht, dass die Zuordnung zu Sozialsystemen einen vergleichbaren Abwägungsbedarf erzeugt. 160 Der Gerichtshof stellt dort einerseits klar, dass die Gewährung von Sozialleistungen nicht von einer Mindestverweildauer abhängen darf; andererseits ist auch nach Swaddling unstreitig, dass der Genuss wohlfahrtsstaatlicher Privilegien im Grundsatz eine Mindestintegration des Anspruchstellers voraussetzt. Die Interessenlage, auf deren Grundlage die Abwägung stattfindet, ähnelt dem vorliegenden Problem in zwei Punkten. Erstens bildet ebenso wie 155
S.o. § 5 B. II. 2. a). § 5 B. II. 2. a) bb). 157 S.o. § 9 B. II. 2. b) cc). 158 Das gilt jedenfalls unter der Voraussetzung, dass die Wahlfreiheit der Parteien auch im Familien- und Erbrecht das normative Leitbild darstellt, Kroll-Ludwigs, Die Parteiautonomie, 2013, 146, m.w.N. 159 Kroll-Ludwigs, Parteiautonomie, 2013, 146, m.w.N. 160 EuGH ± C-90/97 ± Swaddling ./. Chief Adjudication Officer ± Slg. 1999 I-1075. 156
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bei der Frage der Privatrechtsanwendung die Allokation von Gütern den Gegenstand der Betrachtung. Bei der Bestimmung der Reichweite einer Rechtswahlmöglichkeit ist dieser Aspekt weitaus deutlicher ausgeprägt als im Rahmen der objektiven Verweisung, bei der es zuallererst um die räumlich gerechte Zuordnung zu einer Rechtsordnung geht. Je nachdem, wie breit der Kreis der wählbaren Rechtsordnungen gestaltet ist, verengen oder verbreitern sich die Handlungsoptionen der Parteien. Der so geschaffene Optionenreichtum ist mit der Zulassung zu Sozialsystemen unionspolitisch vergleichbar. Je nachdem, ob die Parteien durch eine Verlegung ihres Lebensmittelpunktes auf eine Erweiterung ihrer Rechtswahloptionen hoffen können oder nicht, entsteht oder verschwindet ein Anreiz, primärrechtlich gewährte Freizügigkeitsrechte wahrzunehmen. Das Privileg einer Optionenerweiterung durch eine beschränkte Rechtswahl kann also je nachdem, welches Aufenthaltsverständnis man der Beschränkung zugrunde legt, die Wahrnehmung von Mobilitätsgarantien fördern oder ihr abträglich sein. Ferner steigt mit der Abschaffung ordnungspolitisch motivierter Mindestanforderungen in beiden Fällen die Gefahr eines Systemmissbrauchs. So man Swaddling durch die Aussagen in der Entscheidung Magdalena Fernandez 161 ergänzen möchte, wird man diesen Missbrauch so lange in Kauf nehmen müssen, wie der grenzüberschreitende Umzug dem Gebrauch einer primärrechtlich garantierten Freizügigkeitsgarantie entspricht. Das Europäische Internationale Sozialrecht lässt also den Schluss zu, dass der gewöhnliche Aufenthalt auch im Rahmen einer Rechtswahlbestimmung nicht ausschließlich in Abhängigkeit formaler Kriterien und insbesondere nicht in Ansehung einer Mindestverweildauer bestimmt werden sollte. cc) Diskussion und Lösungsvorschlag Die vorstehenden Überlegungen deuten einerseits an, dass im Rahmen einer beschränkten Rechtswahloption ein besonderes Parteiinteresse an einer Wirksamkeitsvermutung parteiautonomer Tatbestandskonkretisierung bestehen kann. Andererseits verschwimmen die Grenzen zwischen Rechtswahl und rechtswahlkonditionierendem gewöhnlichen Aufenthalt, wenn man den Parteien indirekt ein Dispositionsrecht über die Anknüpfungstatsachen einräumt. Eben das ist der Fall, wenn die Parteien nicht nur über das anwendbare Recht, sondern auch über dessen Wählbarkeit frei disponieren können. 162 Die letzte EuGH ± C-452/93-ȇ ± Magdalena Fernández ./. Kommission ± Slg. 1994 I-4295. Dass im zweiten Teil der Arbeit die Ansicht vertreten wurde, eine Aufwertung des Willens bei der Aufenthaltsbestimmung führe nicht zu einem Verschwimmen von objektiver Anknüpfung und Rechtswahl, widerspricht dieser Befürchtung nicht. Im Regelfall ist die Frage, ob die Parteien sich tatsächlich an einem Ort aufhalten, Teil der gerichtlichen Tatsachenfeststellung; hier steht gerade zur Debatte, ob die Anwesenheit selbst den Gegenstand einer Parteidisposition bilden kann. 161 162
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Befürchtung lässt sich nicht durch die Überlegung überwinden, die tatsächliche Präsenz der Parteien im Rechtswahlzeitpunkt lasse sich nachträglich prüfen; aus Falschangaben kann ohnehin kein schutzwürdiges Interesse entstehen. Umgekehrt wurde argumentiert, dass ein zeitakzessorisches Aufenthaltsverständnis die Prognoseunsicherheit und das schutzwürdige Interesse der Parteien gerade nicht einfängt. Zudem deutet eine ± im Fall der beschränkten Rechtswahl zulässige ± Analogie auf die sozialrechtliche Rechtsprechung des EuGH die unionsprimärrechtlichen Probleme an, die mit einer Aufwertung des Zeitelements verbunden sein können. Obwohl sich sowohl in Ansehung der Interessenlage als auch im Hinblick auf die praktische Handhabung Unterschiede erkennen lassen, spricht vor diesem Hintergrund mehr gegen als für eine Differenzierung nach Rechtswahl und objektiver Anknüpfung. Eine belastbare Prognoseentscheidung dürfte aber nur dann möglich sein, wenn anstatt einer unbestätigten dogmatisch begründeten Überlegung der acquis communautaire zum gewöhnlichen Aufenthalt den Maßstab für die Beurteilung einer Mindestverbindung bildet. Das ist umso mehr geboten, als im Rahmen der beschränkten Rechtswahl Rückschlüsse aus der sozialrechtlichen Rechtsprechung des EuGH gerechtfertigt sind. Dort wird nämlich gerade die Frage verhandelt, welche Kriterien für die Mindestverbindung zwischen Parteien und Rechtsordnung anzulegen sind. Der Konflikt zwischen Freizügigkeitsrecht und mitgliedstaatlicher Regelungsautonomie lässt sich daher jedenfalls im Grundsatz mit dem zwischen umfassender parteiautonomer Rechtssetzung und staatlichem Regelungsanspruch über das anwendbare Recht gleichsetzen. II. Regel- und Ausnahmeanknüpfung163 Ein weiterer Funktionsunterschied liegt in der Rechtsfolgenanordnung, die die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt tatbestandlich auslöst. Regelmäßig bildet er den Bestandteil einer Regelanknüpfung. In manchen Zusammenhängen rechtfertigt er aber auch eine Ausnahmeanknüpfung und begründet daher ein Abweichen von einer anderweitig gefundenen Regelverweisung. 1. Regelanknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt Als Regelanknüpfung fungiert der gewöhnliche Aufenthalt in allen oben genannten Fällen, also in Art. 4 Abs. 1 lit. a), b) und d) bis f) Rom I-VO, in Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO, in Art. 5 Abs. 1 UA 1 Rom I-VO und Abs. 2 UA 1 Rom I-VO, in Art. 6 Abs. 1 Rom I-VO, in Art. 7 Abs. 2 UA 2 Rom I-VO, in Art. 14 Abs. 1 Rom I-VO, ferner in Art. 8 lit. a) und lit. b) Rom III-VO, in 163
Zu dieser Kategorie, aber mit anderen Beispielen, Hilbig-Lugani, GPR 2014, 8 (10).
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Art. 3 Abs. 1 HUP, in Art. 26 Abs. 1 lit. a) und in Art. 21 Abs. 1 EuErbVO. In allen Fällen lässt sich vermuten, dass sein Einsatz der gesetzgeberischen Überzeugung Ausdruck verleiht, dass der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts eines oder beider Anknüpfungssubjekte mit dem Schwerpunkt des angeknüpften Rechtsverhältnisses zusammenfällt. 164 2. Ausnahmeanknüpfungen a) Im Sinne einer Ergebniskorrektur An anderer Stelle kommt der gewöhnliche Aufenthalt zum Einsatz, um ein qua Gesetzesanwendung gefundenes Verweisungsergebnis abzuwandeln oder durch eine kumulative Anknüpfung zu ergänzen. Diese Option erfüllt der gewöhnliche Aufenthalt in zwei Fällen, in Art. 10 und Art. 13 Rom I-VO sowie in Art. 5 Abs. 1 S. 2 Rom II-VO. aa) Art. 10 Rom I-VO Art. 10 Rom I-VO schließt eine Sonderanknüpfung vorkonsensualer Elemente, also auch eine allgemeine Vertragsspaltung, im Grundsatz aus (Art. 10 Abs. 1 Rom I-VO). Die Frage der äußeren und inneren Vertragswirksamkeit165 bestimmt sich daher nach dem Vertragsstatut.166 Auf die ausdrückliche oder konkludente Einrede einer Partei hin 167 mutiert die Anknüpfung nach Abs. 2 von einer ausschließlichen Anknüpfung an das Vertragsstatut zu einer kumulativen Anknüpfung an das Vertrags- und Aufenthaltsstatut. 168 Durch diese Option möchte die Rom I-VO die Freiheit vor rechtlicher Bindung durch eine kollisionsrechtliche Zumutbarkeitsregel absichern. 169 Freilich gilt dieser Vorbehalt nur, sofern die infolge dieser Anknüpfung hypothetisch berufenen Rechtsordnungen zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Ein Vertrag muss nach dem regulär berufenen Vertragsstatut also wirksam, nach dem Aufenthaltsstatut dagegen unwirksam sein. 170 Dass die Vorschrift gegenüber der Regelanknüpfung nach Art. 10 Abs. 1 Rom I-VO einen Ausnahmecharakter besitzt, wird insbesondere aus ihrem Wortlaut deutlich. Namentlich muss die belastete Partei eine Einrede erheben, um die kumulative Auf164
S. insoweit auch die Überlegungen und Nachweise in § 9 B. I. 1.; § 9 B. II. 3. a) aa). MüKoBGB/Spellenberg Art. 10 Rom I-VO Rn. 26. 166 MüKoBGB/Spellenberg Art. 10 Rom I-VO Rn. 27; a.A. Linke, Sonderanknüpfung der Willenserklärung?, ZVglRWiss 79 (1980), 1. 167 Zu den Einredevoraussetzungen vgl. OLG München, IPRax 1991, 46 (49 f.); OLG Düsseldorf, RIW 1997, 780. 168 MüKoBGB/Spellenberg Art. 10 Rom I-VO Rn. 216. Zur Entstehungsgeschichte der Vorschrift aus der deutschen Rechtsprechung ibid., Rn. 190, Fn. 394 m.Verw. auf BGH, 6.2.1970 ± V ZR 158/66 ± BGHZ 53, 189; Linke, ZVglRWiss 79 (1980), 1 (6, 21). 169 MüKoBGB/Spellenberg Art. 10 Rom I-VO Rn. 190. 170 MüKoBGB/Spellenberg Art. 10 Rom I-VO Rn. 217. 165
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enthaltsanknüpfung zu aktivieren. 171 Eine einheitliche Vertragsanknüpfung soll die Regel, eine gespaltene Anknüpfung in Zustandekommen und Wirksamkeit dagegen die Ausnahme bilden. 172 bb) Art. 13 Rom I-VO In Art. 13 Rom I-VO dient der gewöhnliche Aufenthalt ebenfalls als Korrektiv. Die Ausschaltung der Einwendung der Rechts-, Geschäfts- und Handlungsunfähigkeit einer Person zugunsten des Ortsrechts zieht im Verhältnis zu Art. 10 Rom I-VO aber die umgekehrte Rechtsfolge nach sich. Dort wird eine Einrede gewährt, hier eine grundsätzlich bestehende rechtshindernde Einwendung der Rechts- und Geschäftsunfähigkeit unter Verkehrsschutzaspekten ausgeschaltet. 173 Außerdem wird der gewöhnliche Aufenthalt im Wortlaut der Vorschrift nicht ausdrücklich genannt, sondern bildet lediglich den Gegenstand kollisionsrechtsdogmatischer Debatten über die Norm. 174 cc) Art. 5 Abs. 1 S. 2 Rom II-VO Einen dritten Fall der aufenthaltsindizierten Ergebniskorrektur bildet Art. 5 Abs. 1 S. 2 Rom II-VO. Die Vorschrift beruft in Abweichung von Art. 5 Abs. 1 lit. a), b) und c) Rom II-VO das Aufenthaltsrecht des Anspruchsgegners eines Produkthaftungsanspruchs zur Anwendung, 175 sofern dieser das Inverkehrbringen des haftungsauslösenden Erzeugnisses 176 im Aufenthaltsstaat des Geschädigten (Art. 5 Abs. 1 S. 1 lit. a) Rom II-VO), im Staat, in dem das Produkt erworben wurde (Art. 5 Abs. 1 S. 1 lit. b) Rom IIVO) sowie im Staat des Schadenseintritts (Art. 5 Abs. 1 S.1 lit. c) Rom IIVO) vernünftigerweise nicht erwarten konnte. Diese Vorhersehbarkeitsklausel177 wird weit verstanden und erfasst auch Fälle, in denen ein Produkt nicht
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MüKoBGB/Spellenberg Art. 10 Rom I-VO Rn. 217. MüKoBGB/Spellenberg Art. 10 Rom I-VO Rn. 217. 173 Allgemein Fischer, Verkehrsschutz, 1990, 65. 174 Über die de lega lata notwendige, gemeinsame Anwesenheit der Parteien und damit über den Wortlaut der Vorschrift hinaus wird einschränkend verlangt, dass die Parteien entweder ihren gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt in dem Staat haben müssen, in dem sich auch der Abschlussort des Vertrags befindet, Fischer, Verkehrsschutz, 1990, 35 ff., oder dass der Inlandsaufenthalt gezielt zum Zweck des Vertragsschlusses und damit nicht rein zufällig erfolgt ist, Fischer, Verkehrsschutz, 1990, 65. 175 MüKoBGB/Junker Art. 5 Rom II-VO Rn. 45. 176 EuGH, 9.2.2006 ± C-127/04 ± O'Byrne ./. Pasteur MSD Ltd. u.a. ± NJW 2006, 825; NKBGB/Dörner Art. 5 Rom II-VO Rn. 5; MüKoBGB/Junker Art. 5 Rom II-VO Rn. 26 ff. 177 MüKoBGB/Junker Art. 5 Rom II-VO Rn. 41. 172
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in einem der von Art. 5 Abs. 1 S. 1 Rom II-VO erfassten Staaten auf den Markt gelangt ist. 178 dd) Art. 4 Abs. 3 S. 2 HUP Schließlich dient der gewöhnliche Aufenthalt im Rahmen des Haager Unterhaltsprotokolls der Korrektur eines Anknüpfungsergebnisses. Art. 4 Abs. 3 HUP beruft in Abweichung vom Aufenthaltsrecht des Berechtigten, Art. 3 Abs. 1 HUP, die lex fori, sofern der Berechtigte die Behörden am Aufenthaltsort des Unterhaltsverpflichteten angerufen hat. 179 Eine Rückausnahme vom so hergestellten Gleichlauf zwischen Behördenzuständigkeit und anwendbarem Recht soll aber dann gelten, wenn der Berechtigte in Ansehung der lex fori keinen Unterhaltsanspruch gegen den Berechtigten hat. 180 Für diesen Fall beruft Art. 4 Abs. 3 S. 2 HUP das Aufenthaltsrecht des Berechtigten. Es bleibt dann im Grundsatz bei der durch Art. 3 Abs. 1 HUP ausgesprochenen Basisverweisung. ee) Art. 26 Abs. 3 EuGüVO Eine weitere Spielart der Ausnahmeanknüpfung lässt sich aus Art. 26 Abs. 3 EuGüVO entwickeln. Hiernach wird es ins Ermessen des erkennenden Gerichts gestellt, vom regulär, also dem nach Art. 26 Abs. 1 EuGüVO berufenen Recht des ersten gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts abzuweichen. Die Ehegatten müssen dazu nachweisen, dass sie sich an ihrem späteren gewöhnlichen Aufenthaltsort wesentlich länger aufgehalten haben als am ersten (lit. a)) und dass sie bei ihrer Vermögensplanung auf die Anwendbarkeit des späteren Aufenthaltsrechts vertraut haben (lit. b)). Die Vorschrift liest sich als besondere Ausprägung der Lehre von der Heilung durch Statutenwechsel, 181 wenngleich die Unwirksamkeit des ehegüterrechtlichen Rechtsgeschäfts keine Voraussetzung für ein Abweichen von der Regelanknüpfung darstellt. Mit Art. 5 Abs. 1 S. 2 Rom II-VO, aber auch mit Art. 10 Rom I-VO hat die Vorschrift gemeinsam, dass sie das schutzwürdige Vertrauen der Anknüpfungssubjekte in den Rang einer Tatbestandsvoraussetzung erhebt. 178 MüKoBGB/Junker Art. 5 Rom II-VO Rn. 46; Wagner, Die neue Rom-II-Verordnung, IPRax 2008, 1 (7). Art. 4 Abs. 3 HUP: ÄHat die berechtigte Person die zustaȋndige BehƂrde des Staates angerufen, in dem die verpflichtete Person ihren gewƂhnlichen Aufenthalt hat, so ist ungeachtet des Artikels 3 GDVDP2UWGHVDQJHUXIHQHQ*HULFKWVJHOWHQGH5HFKWDQ]XZHQGHQ³ 180 ,ELGÄKann die berechtigte Person jedoch nach diesem Recht von der verpflichteten Person keinen Unterhalt erhalten, so ist das Recht des Staates des gewoȋhnlichen Aufenthalts der berechtigWHQ3HUVRQDQ]XZHQGHQ³ 181 Allgemein dazu Voit, Ä+HLOXQJ GXUFK 6WDWXWHQZHFKVHO³ LP LQWHUQDWLRQDOHQ (Keschließungsrecht, 1997; Siehr, Heilung durch Statutenwechsel, GS Ehrenzweig, 1976, 129; Wengler, Skizzen zur Lehre vom Statutenwechsel, RabelsZ 23 (1958), 535.
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b) Kollisionsrechtliche Ausnahmeanknüpfungen In der Anknüpfung von Kurzzeitmietverträgen (Art. 4 Abs. 1 lit. d) Rom IVO)182 und insbesondere im Rahmen des allgemeinen Deliktsstatuts, Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO, bildet der gewöhnliche Aufenthalt den Gegenstand einer Ausnahmeanknüpfung. Um die Anforderungen des Art. 4 Abs. 1 lit. d) Rom I-VO zu erfüllen, müssen Mieter und Vermieter ihren gewöhnlichen Aufenthalt im selben Staat haben. Auch muss die Mietdauer unter sechs Monaten liegen. Ist eine dieser Voraussetzungen nicht gegeben, kommt Art. 4 Abs. 1 lit. c) Rom I-VO183, beziehungsweise, in Einzelfällen, das Recht des Ortes der wesentlich engeren Verbindung nach Art. 4 Abs. 3 Rom I-VO, zur Anwendung. 184 Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO nimmt den gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt der Parteien in einem anderen Staat als dem des Erfolgsortes zum Anlass, um von der Regelanknüpfung an den Erfolgsort abzuweichen. 185 Die Vorschrift verleiht der Überzeugung Ausdruck, dass die räumliche Verbindung zwischen den Parteien die durch den locus damni geschaffene Regelvermutung strukturell derart überwiegt, dass ein Abweichen von der durch ihn geprägten Grundregel gerechtfertigt ist. 186 c) Häufung von Anknüpfungsvoraussetzungen 187 Als Ausnahmeanknüpfung operiert der gewöhnliche Aufenthalt auch dann, wenn er gemeinsam mit anderen Anknüpfungsmomenten ein Abweichen von einer anderweitig gefundenen Regelanknüpfung rechtfertigt. 188 Eine Privatrechtsordnung kommt in diesen Fällen nur unter der Voraussetzung zur Anwendung, dass die sachverhaltsprägende Tatsachenbasis mindestens zwei Parallelverweisungen in dieselbe Rechtsordnung ausfüllt. 189 aa) Rom I-VO In der zuletzt genannten Form kommt der gewöhnliche Aufenthalt in der Rom I-VO im Statut der Güter- (Art. 5 Abs. 1 Rom I-VO) und Personen-
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Dabei handelt es sich um eine Konkretisierung der in Art. 4 Abs. 3 Rom I-VO formulierten Ausweichklausel. 183 Ferrari/Kieninger/Mankowski/Ferrari Art. 4 Rom I-VO Rn. 42. 184 Ferrari/Kieninger/Mankowski/Ferrari Art. 4 Rom I-VO Rn. 43; MüKoBGB/Martiny Art. 4 Rom I-VO Rn. 137. 185 Allgemein zum Verhältnis der beiden Vorschriften MüKoBGB/Junker Art. 4 Rom II-VO Rn. 46. 186 Zur gleichlautenden Vorgängernorm des Art. 40 EGBGB Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 99. 187 Zum Begriff von Bar/Mankowski, IPR I, § 9 Rn. 107. 188 von Bar/Mankowski, IPR I, § 9 Rn. 107. 189 von Bar/Mankowski, IPR I, § 9 Rn. 107.
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beförderungsverträge (Art. 5 Abs. 2 UA 2 Rom I-VO) zum Einsatz. 190 Bei Personenbeförderungsverträgen gilt in Ermangelung einer Rechtswahl das Aufenthaltsrecht des Beförderten nämlich nur, soweit dieser seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Staat hat, der entweder mit dem Abflugs- oder mit dem Ankunftsort übereinstimmt. 191 Befindet sich der Beförderte dagegen nur auf der Durchreise, kommt hilfsweise das Sitzrecht des Beförderers zur Anwendung. 192 bb) Rom II-VO Vergleichbar ist auch die Funktion, die der gewöhnliche Aufenthalt in Art. 4 Abs. 2 und Art. 5 Abs. 1 lit. a) Rom II-VO erfüllt. Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO stellt wie beschrieben eine Ausnahme von der lex loci delicti dar. Art. 5 Abs. 1 lit. a) Rom II-VO beruft das Aufenthaltsrecht der geschädigten Person, sofern ein Produkt im Aufenthaltsstaat in den Verkehr gebracht wurde. 193 Auch hier wird die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt durch das Erfordernis des Inverkehrbringens 194 verstärkt;195 der gewöhnliche Aufenthalt des Geschädigten vermag das anwendbare Recht für sich genommen also nicht zu bestimmen. 196 d) Ausnahmeanknüpfungen als grouping of contacts (Art. 4 Abs. 3, 4 Rom I-VO) Eine im Ergebnis identische Funktion erfüllt der gewöhnliche Aufenthalt, wenn er im Rahmen der Ausweichklausel des Art. 4 Abs. 3 Rom I-VO und im Rahmen der formell subsidiären Anknüpfung an die engste Verbindung (Art. 4 Abs. 4 Rom I-VO) eingesetzt wird.197 Beide Vorschriften beheimaten den grouping of contacts-Ansatz,198 der sich im Nachgang zu der Conflicts Revolution in den USA durchgesetzt hat, um die most significant relationship eines Sachverhalts zu ermitteln. 199 Sie berufen anstatt eines gesetzlich be190
A.A. MüKoBGB/Martiny Art. 5 Rom I-VO Rn. 33. MüKoBGB/Martiny Art. 5 Rom I-VO Rn. 35 f.; Staudinger/Magnus Art. 5 Rom IVO Rn. 52 f. 192 MüKoBGB/Martiny Rom I-VO Art. 5 Rn. 37; Staudinger/Magnus Art. 5 Rom I-VO Rn. 57. 193 MüKoBGB/Junker Art. 5 Rom II-VO Rn. 31. 194 Zum Begriff s.o. Fn. 176; EuGH ± C-127/04 ± NJW 2006, 825; NKBGB/Dörner Art. 5 Rom II-VO Rn. 5; MüKoBGB/Junker Art. 5 Rom II-VO Rn. 26 ff. 195 MüKoBGB/Junker Art. 5 Rom II-VO Rn. 32. 196 MüKoBGB/Junker Art. 5 Rom II-VO Rn. 30. 197 Zu den Veränderungen beider Vorschriften gegenüber den EVÜ s.u. cc). 198 Zu Vorschlägen einer unterschiedlichen Handhabung beider Normen dagegen MüKoBGB/Martiny Art. 4 Rom I-VO Rn. 292. 199 Dazu Estate of Knippel (1959), 7 Wis. (2d) 335, 342, 96 N. W. (2d) 514 und dazu McManus, Conflict of /DZV7KHµ&HQWHURI*UDYLW\¶ Theory Applied to Torts: Babcock v. 191
C. Differenzierung nach äußerer Regelungssystematik
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nannten Anknüpfungspunktes direkt ein Leitprinzip als maßgebliche Anknüpfungstatsache. Die im Sachverhalt vorhandenen Anknüpfungstatsachen werden zunächst quantitativ ausgewertet und anschließend im Wege einer wertenden Gesamtbetrachtung gegen entgegenstehende Anknüpfungstatsachen abgewogen. 200 Lediglich ihre systematische Stellung unterscheidet beide Normen voneinander. 201 Obwohl sich vertragstypspezifisch unterschiedliche Gewichtungen ergeben können,202 hat der gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt der Parteien in beiden Fällen ein besonders großes Gewicht bei der Gesamtabwägung der anknüpfungsrelevanten Tatsachen. 203 Er kommt also als ungeschriebenes Anknüpfungsmoment zum Tragen. 204 3. Mögliche Konsequenzen Die vorstehenden Überlegungen zeigen, dass der gewöhnliche Aufenthalt im Grundsatz zwei unterschiedliche Anknüpfungsprofile bedient. In einer ersten, statistisch größeren Gruppe von Fällen konkretisiert er eine objektive Primäranknüpfung. In einer zweiten Gruppe rechtfertigt er ein Abweichen von dieser Regel. Ob dieser Funktionsunterschied durch ein differenziertes Au fenthaltsverständnis gewürdigt werden sollte, ist offen. Die Antwort auf diese Frage hängt zunächst davon ab, ob sich die einzelnen Ausnahmeanknüpfungen des Europäischen IPR überhaupt vergleichen lassen. Das wiederum entscheidet sich danach, ob die Anknüpfungen jenseits ihrer systematischen Stellung parallele Zwecke verfolgen. In einem ersten Schritt wird der folgende Abschnitt daher unterschiedliche Ausprägungen der Ausnahmeanknüpfungen abschichten (a)). In einem zweiten Schritt wird er der Frage nachgehen, ob der Funktionsunterschied des gewöhnlichen Aufenthalts eine begriffliche Differenzierung erfordert (siehe unten b)). Dafür ist einerseits die Beweislastverteilung zwischen bei Kollisionsnormen relevant (siehe unten c) aa)), andererseits aber auch die Frage, ob einzelne Typen von Ausnahmeanknüpfungen unterschiedlichen Regelungsinteressen Ausdruck verleihen (siehe unten c) bb)).
Jackson, 47 Marquette Law Review (1963) 255 (261); Hartmann, Das Vertragsstatut in der deutschen Rechtsprechung seit 1945, 1972, 182; MüKoBGB/Martiny Art. 4 Rom I-VO Rn. 321; von Bar/Mankowski, IPR I, § 7 Rn. 108. 200 Zu Art. 4 Abs. 4 Rom I-VO MüKoBGB/Martiny Art. 4 Rom I-VO Rn. 321; von Bar/Mankowski, IPR I, § 7 Rn. 108. 201 von Bar/Mankowski, IPR I, § 7 Rn. 107. 202 von Bar, IPR II, Rn. 490 (zu Art. 28 EGBGB a.F.). 203 Zu Art. 4 Abs. 4 Rom I-VO MüKoBGB/Martiny Art. 4 Rom I-VO Rn. 321. 204 Für die weiteren Überlegungen soll diese Fallgruppe nicht weiter vertieft werden, da sie sich außerhalb des an der Regelungssystematik und am geschriebenen Recht orientierten Arbeitsgegenstandes der Arbeit bewegen.
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§ 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht
a) Varianten und Zwecke aufenthaltsbasierter Ausnahmeanknüpfungen Für eine Differenzierung im Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts nach Regel- und Ausnahmeanknüpfung spricht grundsätzlich, dass beide Normgruppen unterschiedliche Zwecke bedienen. 205 Eine Regelanknüpfung gibt abstrakt die gesetzgeberische Vermutung wieder, dass sich am Ort des gewöhnlichen Aufenthalts nicht nur der Schwerpunkt der Lebensverhältnisse einer Person, sondern auch der eines kollisionsrechtlichen Rechtsverhältnisses befindet. Eine Ausnahmenanknüpfung korrigiert dagegen eine auf andere Weise begründete Regelverweisung. aa) Interessenlage bei Äeinfachen³ Ausnahmeanknüpfungen an den gewöhnlichen Aufenthalt An Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO lässt sich die gerade skizzierte Überlegung direkt belegen. Hier misst der Gesetzgeber dem gemeinsamen Lebensmittelpunkt der Parteien genug Aussagekraft bei, um eine Abweichung von der gesetzlich verstetigten Vermutung des Zusammenfallens von Erfolgsort und Sitz des außervertraglichen Rechtsverhältnisses zu begründen. Das Parteiinteresse an der Anwendung des gemeinsamen Umweltrechts überwiegt das Opferinteresse an der Anwendung des Erfolgsortrechts. 206 Anders verhält es sich in Art. 5 Abs. 1 S. 2 Rom II-VO. Erwägungsgrund 20 zur Rom II-VO gibt zwar Auskunft darüber, dass die Ausnahme ebenfalls dem Interessenausgleich zwischen Schädiger und Geschädigtem geschuldet ist; 207 während der Geschädigte an effektiver Rechtsdurchsetzung interessiert ist, liegt dem Erzeuger, mithin dem Schädiger, die Vorhersehbarkeit und Kalkulierbarkeit des mit der Marktteilnahme verbundenen Haftungsrisikos am Herzen. 208 Art. 5 Abs. 1 S. 1 Rom II-VO belegt, dass der Verordnungsgeber grundsätzlich dem Opferschutz den Vorzug gewähren möchte. 209 Art. 5 Abs. 1 S. 2 Rom II-VO durchbricht diese Regel, sofern der Erzeuger 205
Ebenso im (vergleichbaren) Zusammenhang des Art. 40 Abs. 2 EGBGB a.F. Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 99. 206 So die Begründung des Bundesgerichtshofs zu Art. 40 Abs. 2 EGBGB a.F., die sich aber auf Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO übertragen lässt, BGH, 7.7.1992 ± VI ZR 1/92 ± BGHZ 119, 137 ± NJW 1991, 3091. Zum methodischen Rahmen der kollisionsrechtlichen Interessenlehre, an der sich die vorliegende Argumentation anlehnt, siehe Kegel/Schurig, IPR, § 2 II, 117 ff. 207 (20) ÄDie Kollisionsnorm fƺr die Produkthaftung sollte fƺr eine gerechte Verteilung der Risiken einer modernen, hochtechnisierten Gesellschaft sorgen, die Gesundheit der Verbraucher schuȋtzen, Innovationsanreize geben, einen unverfälschten Wettbewerb gewährleisten und den Handel erleichtern. Die Schaffung einer Anknƺpfungsleiter stellt, zusammen mit einer Vorhersehbarkeitsklausel, im Hinblick auf diese Ziele eine ausgewogene /|VXQJGDU³+HUYd. Verf.). 208 So ohne Bezug auf Art. 5 Abs. 1 S. 2 MüKoBGB/Junker Art. 5 Rom II-VO Rn. 3. 209 BeckOGKBGB/Spickhoff Art. 5 Rom II-VO Rn. 8.
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das Ergebnis der Regelanknüpfung nachweislich 210 nicht vorhersehen konnte.211 In diesem Fall gebührt seinem Interesse an der Anwendung seines Umweltrechts der Vorrang.212 Wieder anders gestaltet sich die Interessenlage in Art. 10 und 13 Rom I-VO. Auch hier reicht der gewöhnliche Aufenthalt für sich genommen aus, um eine fakultative Ergänzung des Vertragsstatuts zu rechtfertigen. 213 Ebenso wie Art. 5 Abs. 1 S. 2 Rom II-VO arbeiten beide Vorschriften tatbestandlich mit einer Vorhersehbarkeitsschwelle und einem Vernünftigkeitsvorbehalt. Außerdem ordnen sie eine Beweislastumkehr zulasten des Erzeugers, beziehungsweise der begünstigten Vertragspartei, an.214 Die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt dient dazu, die schutzwürdigen Erwartungen einer Partei zu wahren. Die Ausnahmeanknüpfungen der Rom I-VO erstrecken sich aber nicht auf das Vertragsstatut als Ganzes, sondern nur auf einzelne Bestandteile und verdrängen das regelmäßig berufene Recht nicht, sondern ergänzen es. 215 Prima facie erscheint der Vorschlag, den gewöhnlichen Aufenthalt im Rahmen einer Ausnahmeanknüpfung mit höheren Anforderungen zu versehen als bei einer Regelverweisung, 216 trotzdem in allen Fällen sinnvoll. In Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO wird der Zweck einer kollisionsrechtlichen Ausnahmeanknüpfung nur gewahrt, wenn der gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt nicht nur eine mehr oder weniger zufällige räumliche Schnittstelle von Schädiger und Geschädigtem ausweist, sondern auch mit ihrem Parteiinteresse an der Anwendung des gemeinsamen Umgebungsrechts anstelle der lex loci damni übereinstimmt. Nur wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, werden die Parteien durch die Anwendung des gemeinsamen Umweltrechts tatsächlich privilegiert. Hinzu kommt, dass die Ausnahme zugunsten des gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts nicht die einzige Möglichkeit darstellt, die Lebensumwelt der Beteiligten kollisionsrechtlich zu würdigen. Erwägungsgrund 33 zur Rom II-VO verpflichtet die Gerichte unabhängig von der Ausnahmeanknüpfung, die Lebensumstände des Opfers bei der Schadensbemessung zu 210
Zur Beweislast MüKoBGB/Junker Art. 5 Rom II-VO Rn. 4, 45. MüKoBGB/Junker Art. 5 Rom II-VO Rn. 55. 212 BeckOGKBGB/Spickhoff Art. 5 Rom II-VO Rn. 8. 213 Die Vorschriften bestimmen autonom, dass die Ausnahme nicht von Amts wegen berücksichtigt werden muss, sondern die Parteien sich darauf berufen müssen. Im Hinblick auf Art. 10 Rom I-VO ist dies konsentiert, s. MüKoBGB/Spellenberg Art. 10 Rom I-VO Rn. 88; Fischer, Verkehrsschutz, 1990, 52; Ferrari/Kieninger/Mankowski/Ferrari Art. 10 Rom I-VO Rn. 32. Unklar erscheint der Berücksichtigungsmodus dagegen im Rahmen des Art. 13 Rom I-VO, vgl. Ferrari/Kieninger/Mankowski/Schulze Art. 10 Rom I-VO Rn. 17, der die MoGDOLWlWHQGHVÄ%HUXIHQV³QLFKWWKHPDWLVLHUW 214 Für Art. 5 Rom II-VO MüKoBGB/Junker Art. 5 Rom II-VO Rn. 4, 45. 215 Ferrari/Kieninger/Mankowski/Ferrari Art. 10 Rom I-VO Rn. 16. 216 Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 99. Auf den genauen Modus der Differenzierung wird erst im letzten Teil eingegangen, s.u. § 10 B. I 211
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berücksichtigen. 217 Der Opferschutz wird hier also unabhängig vom Verweisungsergebnis auf der Ebene des anwendbaren Rechts sichergestellt. 218 Im Rahmen der Art. 5 Abs. 1 S. 2 Rom II-VO, Art. 10 und 13 Rom I-VO mag die Interessenlage eine andere sein; die Rechtsfolgen für die Auslegung sind aber nahezu identisch. Im Rahmen der Rom I-VO liefe ein allzu großzügiges Aufenthaltsverständnis dem erklärten Ziel der Verordnung zuwider, in den Grenzen des Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO ein einheitliches Vertragsstatut zu gewährleisten. Es besteht also ein Interesse an Äerhöhten Anfordungen³ oder einer engen Auslegung, um eine dépeçage im Internationalen Vertragsrecht219 zu vermeiden. Im Rahmen des Art. 5 Abs. 1 S. 2 Rom II-VO würde ein allzu großzügiges Aufenthaltsverständnis den durch die Vorschrift bezweckten Opferschutz konterkarieren. 220 bb) Interessenlage bei kumulativen Ausnahmeanknüpfungen Wieder anders gestaltet sich die Interessenlage bei kumulativen Ausnahmeanknüpfungen, die auf den gewöhnlichen Aufenthalt zurückgreifen. Die Häufung von Anknüpfungsmomenten erklärt sich dabei durch den Umstand, dass der gewöhnliche Aufenthalt einer Partei des kollisionsrechtlichen Rechtsverhältnisses eine Anknüpfung für sich genommen nicht rechtfertigen kann. Besonders deutlich wird dies im Recht der Personenbeförderungsverträge. Hier kann der gewöhnliche Aufenthalt des Beförderten nur dann das anwendbare Recht bestimmen, wenn er den Gegenstand einer Rechtswahlvereinbarung
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Der ursprüngliche Versuch einer Kodifikation der Regel ist gescheitert, vgl. Rentsch, GPR 2015, 191 (194) m.Verw. auf Cheshire/North/Fawcett, Private International Law, 2008, 805; vgl. auch Staudinger, Internationale Verkehrsunfälle und die geplante Rom IIVerordnung, SVR 2005, 441. Mit der Rechtsnatur des Erwägungsgrundes 33 befasst sich MuȋKoBGB/von Hein Einl. IPR Rn. 271. Zur konzeptionellen Einordnung vermöge der Datumtheorie Weller, IPRax 2014, 225 (228 f.). 218 Ausführlicher Rentsch, GPR 2015, 191 (194). 219 Zur hier einschlägigen Fallgruppe der (konkludenten) subjektiven dépeçage Aubart, Die Behandlung der dépeçage im europäischen Internationalen Privatrecht, 2013, 82 ff. Der Begriff der dépeçage wird hier verwendet, obwohl die Art. 10, 13 Rom I-VO das durch die Regelanknüpfung berufene Recht nicht verdrängen, sondern ergänzen. Zu einer Häufung von Rechtsordnungen kommt es trotzdem, freilich ohne die für die dépeçage typischen Koordinationsprobleme zwischen unterschiedlichen Rechtsfragen. Vorschlag einer allgemeinen, vertragsrechtlichen dépeçage dagegen bei Lüderitz, Internationales Privatrecht im Übergang ± theoretische und praktische Aspekte der deutschen Reform, FS Kegel, 1987, 343 (345 ff.). 220 Die Vorschrift ist für die Zwecke der vorliegenden Arbeit weniger relevant, da es sich beim Erzeuger regelmäßig um eine juristische oder beruflich handelnde Privatperson handelt, mithin nicht der gewöhnliche Aufenthalt, sondern die Hauptniederlassung und Hauptverwaltung über das anwendbare Recht bestimmen.
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nach Art. 5 Abs. 2 UA 2 lit. a) Rom I-VO bildet.221 Die gesteigerten Anforderungen erklären sich dadurch, dass die Anknüpfung an das Umweltrecht des Beförderten als Abkehr vom Prinzip der vertragscharakteristischen Leistung (Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO) zugunsten der Rechtsanwendungsinteressen des Reisenden verstanden wird.222 Ähnlich verfährt die Regelung über Güterbeförderungsverträge, Art. 5 Abs. 1 Rom I-VO. Hier wird die Maßgeblichkeit des Aufenthaltsrechts des Beförderers an die Bedingung geknüpft, dass sich im Aufenthaltsstaat auch der Übernahme- oder Ablieferungsort der Fracht befindet.223 In beiden Fällen wird also eine über den gewöhnlichen Aufenthalt des Beförderers hinausgehende Verbindung zwischen Beförderer und Befördertem verlangt, um ein Abweichen von der Regelanknüpfung zu rechtfertigen. Art. 4 Abs. 3 HUP erklärt sich durch vergleichbare Überlegungen. Hier bestimmt der gewöhnliche Aufenthalt des Unterhaltsverpflichteten nur dann das anwendbare Recht, wenn der Unterhaltsberechtigte durch die Anrufung der örtlichen Gerichte seine Absicht zum Ausdruck gebracht hat, auf das Privileg der Klageerhebung an seinem eigenen Aufenthaltsort (Art. 3 lit. b) EuUntVO) zu verzichten. 224 b) Differenzierung nach ausschließlicher und kumulativer Anknüpfung Die vorstehenden Überlegungen legen eine Differenzierung im Aufenthaltsverständnis nach ausschließlicher und kumulativer Anknüpfung nahe. Man kann nämlich annehmen, dass der gewöhnliche Aufenthalt weniger intensiv ausfallen muss, wenn er neben andere Indikatoren tritt. Wo der Gesetzgeber dem gewöhnlichen Aufenthalt ergänzende Kriterien zur Seite stellt, dürfte er dagegen davon ausgegangen sein, dass die durch den gewöhnlichen Aufenthalt ausgewiesene Verbindung für sich genommen nicht ausreichend stark ist. 221
Diese Vereinbarung kann der Beförderte in der Theorie frei verhandeln, wird sie in der Praxis aber kaum gegen den AGB verwendenden, regelmäßig beruflich handelnden Beförderer durchsetzen können. Rechtspolitische Kritik an der Regel daher bei Mankowski, IHR 2008. 140; Pfeiffer, EuZW 2008, 626; Staudinger/Magnus Art. 5 Rom I-VO Rn. 3, 49, verbunden mit der Befürchtung, Beförderer würden über AGB stets ihr Sitzrecht zur Anwendung bringen. In der Praxis machen aber insbesondere Flugunternehmen als statistiVFKH Ä+DXSWSURILWHXUH³ GHU 5HFKWVZDKOP|JOLFKNHLW NDXP *HEUDXFK YRQ LKUHU IDNWLVFKHQ Vertragsbestimmungsmacht oder nutzen diese zum Vorteil des Reisenden, vgl. nur die $*% GHU 'HXWVFKH /XIWKDQVD $* Ä$%% )OXJSDVVDJH³ YRP 1RYHPEHU NHLQH Rechtswahl) oder die DELTA Airlines International General Rules, vom 6. Mai 2015, Rule 55 sub B. 1. lit e) (gewöhnlicher Aufenthalt des Passagiers). Insgesamt dazu Weller/Rentsch/Thomale, NJW 2015, 1909. 222 Ausführlich Wagner, Neue kollisionsrechtliche Vorschriften für Beförderungsverträge in der Rom I-Verordnung, TranspR 2008, 223. 223 Dazu MüKoBGB/Martiny Art. 5 Rom I-VO Rn. 20, 21. 224 Dazu Geimer/Schütze/Reuß Art. 3 EuUntVO, 51. EL 2016, Art. 3 EuUntVO Rn. 27; Gebauer/Wiedmann/Bittmann, § 36 Rn. 31.
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Für eine einheitliche Auslegung des gewöhnlichen Aufenthalts spricht dagegen, dass der Gesetzgeber die Funktionsgrenzen des Begriffs erkannt und sie durch entsprechende Kodifikationsmaßnahmen behoben hat. Eine kombinierte Anknüpfung erzeugt mit anderen Worten kein Bedürfnis nach einer differenzierten Rechtsanwendung, sondern beseitigt es. Hat der Gesetzgeber bereits gehandelt, entfällt aber auch die Notwendigkeit einer Korrektur durch die Rechtsdogmatik und den Rechtsanwender. 225 Die Überlegung, dass der gewöhnliche Aufenthalt weniger intensiv verstanden werden muss als in anderen Bereichen, schreibt die gesetzgeberische Intention hinter der kumulativen Anknüpfung aus dieser Perspektive also gerade nicht schlüssig fort, sondern konterkariert sie. Die Prüfung des gewöhnlichen Aufenthalts muss im Rahmen einer kumulativen Anknüpfung ebenso sorgfältig erfolgen wie im Rahmen einer isoliert-objektiven Regelanknüpfung. c) Unterschiede zwischen Regelanknüpfung und Ausnahmeanknüpfung Offen ist nach wie vor, ob sich zwischen Regel- und Ausnahmeanknüpfungen ein ausreichend deutlicher Unterschied in der Funktion des gewöhnlichen Aufenthalts erkennen lässt, dass eine Differenzierung im Begriffsverständnis angezeigt wäre. Dies ist unter zwei alternativen Bedingungen denkbar: Erstens können die Unterschiede in der Beweislastverteilung zwischen Regel und Ausnahme derart deutlich ausgeprägt sein, dass sie eine Begriffsdifferenzierung nahelegen (aa)). Zweitens können die kollisionsrechtlichen Interessen bei Regel- und Ausnahmeanknüpfung so stark voneinander abweichen, dass sie eine abweichende Begriffskonkretisierung rechtfertigen (bb)). Die folgenden Ausführungen werden sich exemplarisch auf die oben skizzierte Fallgruppe der Äeinfachen³ Ausnahmeanknüpfungen beschränken. aa) Abschichtung nach Beweislastverteilung (1) Beweiskollisionsnormen Die Beweislastverteilung stellt eine kollisionsrechtliche Teilfrage dar. Entsprechend kann sie den Gegenstand einer Sonderanknüpfung bilden. 226 Art. 18 Abs. 1 Rom I-VO ordnet sowohl die Beweislast 227 als auch die Beweisführungs- und Darlegungslast 228 über das anwendbare Recht dem Vertragsstatut zu. 229 Art. 22 Rom II-VO sieht eine identische Regelung für die 225
Vgl. dazu die Überlegungen zum Vertragsstatut, § 7 A. I. 1. c). Allgemein von Bar/Mankowski, IPR I, § 7 Rn. 7. 227 MüKoBGB/Spellenberg Art. 18 Rom I-VO Rn. 16. 228 MüKoBGB/Spellenberg Art. 18 Rom I-VO Rn. 21. 229 Verweisungsfähig ist damit sowohl die Frage nach den Entscheidungsmöglichkeiten des Zivilrichters für den Fall, dass eine entscheidungserhebliche Tatsache weder bejaht noch verneint werden kann, als auch die, ob die Beweiserhebung von Amts wegen oder auf 226
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deliktische Beweislast 230 vor.231 Beide Vorschriften haben zwei unmittelbare Konsequenzen. Erstens stellen sie klar, dass es sich bei der Beweislast nicht um eine prozessrechtliche, sondern um eine materiellrechtliche Frage handelt.232 Zweitens stellt die Vorschrift sicher, dass das anwendbare Sachrecht und nicht die lex fori den Beibringungsmodus und die Darlegungslast für tatbestandsrelevante Anknüpfungstatsachen bestimmt. 233 Beide Vorschriften stellen also einen Gleichklang zwischen Beweisrecht und kollisionsrechtlicher Verweisung her. Allerdings regeln sie jeweils nur Beweislastfragen innerhalb des anwendbaren Rechts. Die Beweislastverteilung im Rahmen der eigentlichen kollisionsrechtlichen Prüfung ist vom Anwendungsbereich des Art. 18 Abs. 1 Rom I-VO nicht erfasst. 234 Für kollisionsrechtliche Anknüpfungstatsachen wie den gewöhnlichen Aufenthalt gilt die lex causae mit anderen Worten gerade nicht. 235 Im Gegenteil soll die Beweislastverteilung für die Kollisionsnormen des Unionsrechts ungeschriebenen, vorzugsweise autonom-unionsrechtlichen Regeln folgen. 236 (2) Ungeschriebene Beweislastregeln Damit ist grundsätzlich offen, wie es um die Beweislast für Kollisionsnormen bestellt ist.237 Hier bietet sich ein Rückgriff auf allgemeine Prinzipien an, die im kollisionsrechtlichen Schrifttum diskutiert werden. 238 Auf Einzelfragen der Beweislastdiskussion kann hier nicht eingegangen werden. 239 Vielmehr interessiert nur der Grundsatz, dass ein non liquet nicht zur Klageabweisung führen kann. 240 Auf das Kollisionsrecht übertragen legt diese allgemeine LeitInitiative der Parteien hin erfolgt, vgl. MüKoBGB/Spellenberg Art. 18 Rom I-VO Rn. 16, 21. 230 MüKoBGB/Spellenberg Art. 18 Rom I-VO Rn. 16. 231 Beide Vorschriften übernehmen bzw. übertragen Art. 14 EVÜ a.F. wortlautgetreu MüKoBGB/Junker Art. 22 Rom II-VO Rn. 1. 232 Für die Rom I-VO MüKoBGB/Spellenberg Art. 18 Rom I-VO Rn. 3; Fongaro, La loi applicable à la preuve en droit international privé, 2004, Rn. 113 ff., 65 ff. Für die Rom II-VO MüKoBGB/Junker Art. 22 Rom II-VO Rn. 1. 233 Ibid. 234 Fongaro, La preuve, 2004, 63, Rn. 110 ff.; MüKoBGB/Spellenberg Art. 18 Rom IVO Rn. 16; Staudinger/Magnus Art. 18 Rom I-VO Rn. 12. 235 Ausdrücklich für Art. 18 Rom I-VO vgl. MüKoBGB/Spellenberg Art. 18 Rom IVO Rn. 8. 236 De lege ferenda Staudinger/Magnus Art. 18 Rom I-VO Rn. 12. 237 Fongaro, La preuve, 2004, 142 ff.; MüKoBGB/Spellenberg Art. 18 Rom I-VO Rn. 16. Versuch bei Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, 149 ff. 238 Insbesondere Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, 149 ff. 239 Dazu Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, 107±122. 240 Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, 102 m.w.N. und unter Hinweis auf die Grundlage dieser Regel im sowohl national als auch unionsrechtlich und staatsvertraglich bewährten Rechtsverweigerungsverbot.
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linie den Schluss nahe, dass Unklarheiten über das Vorliegen und die Lokalisierung eines Anknüpfungsmoments unter keinen Umständen zu einer Klageabweisung führen dürfen. 241 Dafür spricht auch der Sinn und Zweck einer Kollisionsnorm: Anstatt einen sachrechtlichen Rechtsanwendungsbefehl tatbestandlich auszufüllen, entscheidet sie darüber, welche Rechtsordnung über die Voraussetzungen eines Rechtsanwendungsbefehls bestimmen darf. Im Gegensatz zum nationalen Sachrecht steht damit bereits im Vorfeld der kollisionsrechtlichen Prüfung fest, dass eine der möglichen Rechtsordnungen auf den Sachverhalt Anwendung findet. 242 Dass eine Rechtsfrage durch keine Rechtsordnung geregelt wird, ist hingegen ausgeschlossen.243 Im Gegensatz zum nationalen Sachrecht geht es also darum, ein non liquet zu überwinden, anstatt seine negativen Konsequenzen im Wege der Beweislastverteilung zwischen den Parteien zu verteilen. 244 Der Gesetzgeber regelt Beweislastprobleme im Rahmen einer Regelanknüpfung daher über Ersatzanknüpfungen, die im Falle eines tatbestandlichen non liquet an die Stelle einer Regelanknüpfung treten. 245 Sie greifen ein, wenn eine Sachentscheidung über das anwendbare Recht unmöglich ist. Darüber hinaus verdient der Vorschlag Gehör, Beweisprobleme über eine allgemeine, kollisionsnormübergreifende Ersatzanknüpfung zu lösen. 246 Man könnte nun überlegen, ob Regelanknüpfungen intensiver von der Notwendigkeit einer Entscheidungsfindung betroffen sind als Ausnahmeanknüpfungen. Hier, so ließe sich argumentieren, muss eine Entscheidung über das anwendbare Recht zwingend erfolgen; dort hat sie bereits stattgefunden, wird vom Gesetz selbst aber für verbesserungswürdig erachtet. Die Ausnahmeanknüpfung erlaubt mithin ein Abweichen von einer anderweitig gefundenen Regel. Sie verbessert im Interesse des Grundsatzes der engsten Verbindung und der Interessengerechtigkeit ein Verweisungsergebnis 247 und garantiert eine treffsichere und einzelfallgerechte Entscheidung über das anwendbare Recht. Die bloße Nichtbeachtung einer Ausnahmeanknüpfung überschreitet aber für sich genommen noch nicht die Grenze der Rechtsschutzverweigerung.
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Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, 126 f. Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, 127. 243 Ibid. 244 Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, 130. 245 Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, 127 (mit dem Hinweis, dass ein non liquet auf der Ebene des Kollisionsrecht aus den oben beschriebenen Gründen nicht über die Unanwendbarkeit einer Vorschrift gelöst werden kann), 151, 153 f. 246 Seibl, Die Beweislast bei Kollisionsnormen, 2009, 153 ff., der eine solche allgemeine Ersatzanknüpung mit Ausnahme kumulativer Anknüpfungen (156 f.) für das deutsche Recht vorschlagen möchte. 247 Dazu Hirse, Die Ausweichklausel im Internationalen Privatrecht, 2006, 62, 65 ff. 242
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Diese Überlegung wird bereits dadurch konterkariert, dass sich Regel- und Ausnahmeanknüpfungen selbst unterschiedlich zur Frage der Beweislast verhalten. Die Art. 10 und 13 Rom I-VO legen fest, dass sich die betroffene Partei auf das Recht ihres gewöhnlichen Aufenthalts Äberufen³ können soll. Sofern der Beweis im Rahmen des Art. 10 Rom I-VO nicht gelingt, bleibt es bei der Anwendung des kraft Regelanknüpfung berufenen Rechts. 248 Im Rahmen des Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO und der darauf verweisenden Vorschriften fehlt eine vergleichbare autonome Regelung der Beweislast. Hier sprechen sowohl die Normstruktur als auch die kollisionsrechtlichen Interessen dafür, die Anknüpfung an den gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt der Parteien identischen Grundsätzen zu unterwerfen, wie sie für die Grundanknüpfung an den Erfolgsort (Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO) gelten: Im Fall des Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO geht es unabhängig von der Regel- oder Ausnahmenatur der Anknüpfung darum, das anwendbare Recht in Ansehung seiner engsten räumlichen Verbindung zu ermitteln. 249 Auch verschafft Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO zwar dem Parteiinteresse an der Anwendung des gemeinsamen Umweltrechts Vorrang vor der Zweifelsregelung zugunsten der Anwendung des Erfolgsortrechts; 250 die Interessenlage ist in Grund- und Ausnahmeanknüpfung aber identisch. Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO führt zur Anwendung des opfernächsten Rechts; 251 Abs. 2 sieht ± ebenfalls im Parteiinteresse ± eine Ausnahme zugunsten des gemeinsamen Aufenthaltsrechts vor. Das so berufene Recht stimmt außerdem mit der lex fori überein, soweit der Rechtstreit vor dem allgemeinen Gerichtsstand des Beklagten angestrengt wird (Art. 4 Abs. 1 EuGVVO). Dieser Gleichlauf erleichtert die Schadensabwicklung. 252 Dass die Sonderanknüpfung nach Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO in der Prüfungsreihenfolge den Vorrang vor dem Erfolgsortprinzip genießt, liefert einen weiteren Beleg dafür, dass sich die Beweislast in beiden Vorschriften identisch gestaltet. 253 Unterschiede in der Beweislast rechtfertigen es für sich genommen also nicht, im Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts nach Regel und Ausnahme zu differenzieren, da die Unterschiede zwischen einzelnen Ausnahmetatbeständen zu groß sind. 248
MüKoBGB/Spellenberg Art. 10 Rom I-VO Rn. 88; Fischer, Verkehrsschutz im internationalen Vertragsrecht, 1990, 52; Ferrari/Kieninger/Mankowski/Ferrari Art. 10 Rom I-VO Rn. 32. 249 Dazu MüKoBGB/Junker Art. 4 Rom II-VO Rn. 1. 250 =XUGDKLQWHUVWHKHQGHQVRJHQDQQWHQÄ.lVHJORFNHQWKHRULH³0.R%*%Junker Art. 4 Rom II-VO Rn. 5. 251 Das Verkehrsinteresse an der Anwendung der Sicherheits- und Verhaltensregeln am Tatort wird nur durch Art. 17 Rom II-VO gewahrt, s. MüKoBGB/Junker Art. 4 Rom II-VO Rn. 4. 252 MüKoBGB/Junker Art. 4 Rom II-VO Rn. 5. 253 Junker, Die Rom II-Verordnung: Neues internationales Deliktsrecht auf europäischer Grundlage, NJW 2007, 3675 (3678); MüKoBGB/ders. Art. 4 Rom II-VO Rn. 7.
394
§ 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht
bb) Abschichtung nach Anknüpfungsinteressen Die soeben getroffene Entscheidung wird durch einen Blick auf die Anknüpfungsinteressen der einzelnen Ausnahmeanknüpfungen bestätigt. Sowohl die Erfolgsortanknüpfung nach Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO als auch die Anknüpfung an das gemeinsame Aufenthaltsrecht der Parteien stellen das Ordnungsinteresse an der Anwendung der Vorschriften des deliktischen Handlungsortes254 nachrangig hinter das ein- oder beidseitige Parteiinteresse an der Anwendung des opfernächsten Rechts (Abs. 1) oder des Rechts, mit dem beide Parteien enger verbunden sind als mit dem des Erfolgsortes (Abs. 2). 255 Regel- und Ausnahmeanknüpfung stehen also gerade nicht für gegenläufige, sondern für parallele Interessen. Anders verhält es sich im Hinblick auf die oben unter der Kategorie ÄErgebniskorrektur³ zusammengefassten Tatbestände. Die Art. 10 und 13 Rom I-VO sind weniger der Suche nach der engsten Verbindung als der (materiellen) Einzelfallgerechtigkeit verpflichtet.256 Die Art. 10, 13 Rom I-VO sind um die teilweise Ergänzung der Ergebnisse einer anderweitig bestimmten Regelanknüpfung bemüht. Sie ermöglichen eine durch Billigkeitserwägungen gerechtfertigte Korrektur im Interesse einer der Parteien. Das Aufenthaltsrecht des Begünstigten verdrängt das vermöge einer Regelanknüpfung berufene Recht ferner nicht, sondern ergänzt es nur punktuell. 257 Anstatt das räumlich und sachlich nächstgelegene Recht zu bestimmen, würdigen beide Vorschriften das schutzwürdige Vertrauen einer Partei in die Geltung des Umweltrechts mit einer fakultativen Teilverweisung. 258 Art. 5 Abs. 1 S. 2 Rom II-VO dürfte eine ähnliche Legitimationsgrundlage besitzen, obwohl er mit einer anderen Rechtsfolge versehen wird. Art. 26 Abs. 3 EuGüVO weicht zwar im Hinblick auf die Rechtsfolge von Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO ab, verleiht aber ebenfalls dem vorrangigen Parteiinteresse an der Anwendung des Rechts am gemeinsamen Lebensmittelpunkt Ausdruck. In den genannten Fällen lässt sich auch ein Interesse daran erkennen, den Ausnahmetatbestand nicht uferlos auszudehnen. Im Rahmen der Art. 10, 13 Rom I-VO könnte dieses Interesse deutlich ausgeprägter sein als in Ansehung der Art. 4 Abs. 2, 5 Abs. 1 lit. a) Rom II-VO: Hier geht es darum, die Interessen einer Partei mit den Erwartungen einer anderen Partei in Einklang zu bringen; dort stellt bereits das Erfordernis des gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts sicher, dass die Parteiinteressen einander nicht überschneiden. Die Beweislastregelung wie auch die Ergänzun254
MüKoBGB/Junker Art. 4 Rom II-VO Rn. 4. MüKoBGB/Junker Art. 4 Rom II-VO Rn. 5. 256 Ferrari/Kieninger/Mankowski/Ferrari Art. 10 Rom I-VO Rn. 16. 257 Ferrari/Kieninger/Mankowski/Ferrari Art. 10 Rom I-VO Rn. 16 spricht von einer ÄHLQ]HOIDOOZHLVH>Q@ 6RQGHUDQNQSIXQJ LP :HJH GHU 0LWEHUFNVLFKWLJXQJ DXV %LOOLJNHLWsJUQGHQ³. 258 Ferrari/Kieninger/Mankowski/Ferrari Art. 10 Rom I-VO Rn. 16. 255
C. Differenzierung nach äußerer Regelungssystematik
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gen, die sowohl Art. 10 als auch Art. 13 Rom I-VO anordnnen, fangen dieses gesteigerte Interesse aber bereits ausreichend ein. Ein erkennbarer Bedarf nach einer begrifflichen Abschichtung im Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts besteht daher nicht. cc) Konsequenz Anstatt einheitlicher Grundsätze legt ein Blick auf die unterschiedlichen Konstellationen und Funktionen kollisionsrechtlicher Ausnahmeanknüpfungen eine derart große Diversität an Partei- und Ordnungs- bzw. Individualund Regulierungsinteressen offen, dass es schwierig erscheint, der Beweislastverteilung für sich genommen eine allgemeine Maßgabe für das Aufenthaltsverständnis zu entnehmen. Das gilt zuallererst für die Kategorie ÄAusnahmeanknüpfung³: Hier unterscheiden sich die Art. 4 Abs. 2, 5 Abs. 1 S. 2 Rom II-VO sowohl im Berücksichtigungsmodus als auch in der Rechtsfolge deutlich von den Art. 10, 13 Rom I-VO, 26 Abs. 3 EuGüVO, wobei die zuletzt genannte Vorschrift wieder von den Art. 10, 13 Rom I-VO abgegrenzt werden muss. Der Standpunkt, dass der gewöhnliche Aufenthalt als Gegenstand einer fakultativen Ausnahmeanknüpfung eine andere Funktion erfüllt als im Rahmen einer Regelverweisung oder einer zwingenden Ausnahmeanknüpfung, erhält vor diesem Hintergrund seine Berechtigung. Auch er liefert für sich genommen aber noch keinen Grund, eine abstrakte Differenzierung im Begriffsverständnis vorzunehmen, da fakultative Ausnahmeanknüpfungen ihre strukturellen Besonderheiten durch selbstständige Rchtsfolgenanordnungen absichern. Während Art. 10, 13 Rom I-VO mit einer fakultativergänzenden Anknüpfung an das Aufenthaltsrecht arbeiten, sieht Art. 26 Abs. 3 EuGüVO zwar ein Äechtes³ Abweichen von der objektiven Grundanknüpfung nach Art. 26 Abs. 1 EuGüVO vor, stellt dieses aber in das Ermessen des erkennenden Gerichts. III. Retrospektive und synchrone Aufenthaltsbestimmung Ein weiterer Differenzierungsfaktor könnte sich daraus ergeben, dass die Aufenthaltsbestimmung teilweise retrospektiv, teils mit Blick auf das aktuelle Lebensumfeld des Anknüpfungssubjekts erfolgt. 259 Beispielsweise beruft Art. 26 Abs. 1 lit. a) EuGüVO das Recht am ersten gewöhnlichen Aufenthaltsort der Eheleute. Ein grenzüberschreitender Umzug zieht also keinen 259
Hilbig-Lugani*35 'HUIROJHQGH$EVFKQLWWVSULFKWYRQÄJHJHQZDUWsEH]RJHQHU³ $XIHQWKDOWVEHVWLPPXQJ QLFKW QXU LP )DOO HLQHU ZDQGHOEDUHQ $QNQSIXQJ VR nur Art. 3 HUP, Art. 16 KSÜ), sondern auch dann, wenn der Anknüpfungszeitpunkt durch die Klageerhebung fixiert wird, wie es beispielsweise in Art. 8 EuEheVO und Art. 8 lit. a) Rom III-VO der Fall ist. Auch dann werden spätere Ereignisse für die Tatbestandskonkretisierung irrelevant; das Gericht urteilt also aus einer fiktiven Stichtagsperspektive.
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§ 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht
Wechsel des anwendbaren Güterrechts nach sich. Durch die starre Anknüpfung wird schwierig aufzulösenden Konflikten zwischen Statuten vorgebeugt, die durch eine Verschiebung im Anknüpfungszeitpunkt entstehen. 260 In Härtefällen erlaubt Art. 26 Abs. 3 EuGüVO unter den zuvor beschriebenen Voraussetzungen eine Korrektur des Verweisungsergebnisses. Art. 8 lit. a) Rom III-VO beruft demgegenüber primär das gemeinsame Aufenthaltsrecht im Zeitpunkt der Stellung des Scheidungsantrags zur Anwendung. 261 Bis zum Zeitpunkt der Klageerhebung ist das Scheidungsstatut also wandelbar. 262 Art. 3 HUP stellt schließlich nicht nur auf das Aufenthaltsrecht im Zeitpunkt der Erhebung der Unterhaltsklage ab (Abs. 1), sondern sorgt auch dafür, dass eine Veränderung des Lebensumfeldes nach Klageerhebung ex nunc einen Statutenwechsel nach sich zieht (Abs. 2).263 Die Verweisung erfolgt also nicht retrospektiv, sondern gleichzeitig.264 Die Aufenthaltsanknüpfungen in Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 5 Abs. 1 UA 1, Art. 5 Abs. 2 UA 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 7 Abs. 3 Rom I-VO sowie die in Art. 4 Abs. 2, Art. 5 Abs. 1 a) Rom IIVO,265 die Anknüpfung in Art. 21 Abs. 1 EuErbVO und schließlich auch die Anknüpfung an den letzten gemeinsamen Aufenthaltsort der Eheleute in Art. 8 lit. b) Rom III-VO beziehen sich demgegenüber auf einen Zeitpunkt, der der Klageerhebung oder Antragstellung weit vorgelagert sein kann. Dies schließt die Frage an, ob der gewöhnliche Aufenthalt über praktische Unterschiede bei der retrospektiven Aufenthaltsfeststellung hinaus abstrakt anders verstanden werden muss als im Rahmen einer synchronen Verweisung.266 Insoweit kann auf die im zweiten Teil der Arbeit besprochene Rechtsprechung des EuGH und der funktionalen Unionsgerichte verwiesen werden. Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache A 267 hat verdeutlicht, dass die gegenwartsbezogene Aufenthaltsbestimmung mit einer Trägheitsvermutung als Zweifelsregelung arbeiten kann. Das bedeutet, dass ein sicher vorhandener gewöhnlicher Aufenthalt vermutungshalber so lange bestehen bleibt, bis sich ausreichend Anknüpfungstatsachen für einen Statutenwechsel angehäuft haben. Dasselbe Vorgehen lässt auch das KG Berlin bei der Bestimmung des zuständigen Nachlassgerichts erkennen. 268 Die Verweisung folgt im Fall des Art. 4 EuErbVO dem letzten gewöhnlichen Aufenthalt des 260
Allgemein zur starren Anknüpfung von Bar/Mankowski, IPR I, § 7 Rn. 6±9. Rösler, RabelsZ 78 (2014), 155 (160). 262 Zu den diesbezüglichen Koordinationsproblemen mit dem Ehewirkungsstatut s. MüKoBGB/Winkler von Mohrenfels Art. 8 Rom III-VO Rn. 12. 263 MüKoBGB/Siehr Art. 3 HUP Rn. 2, 15. 264 Hilbig-Lugani, GPR 2014, 8 (12). 265 Zur Korrekturfunktion des Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO bei nachträglichen Aufenthaltswechseln siehe Rentsch, GPR 2015, 191 (193 f.). 266 Dafür Hilbig-Lugani, GPR 2014, 8 (12). 267 So in der Sache auch Hilbig-Lugani, GPR 2014, 8 (12). 268 KG ± 1 AR 8/16 ± ZErb 2016, 199. 261
D. Differenzierung nach innerer Regelungssystematik
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Erblassers, wird also retrospektiv bestimmt. Der Vergleich verdeutlicht bereits, dass bei der gegenwartsbezogenen Aufenthaltsbestimmung in gleichem Maße biographische Rückbezüge auf vergangene Aufenthaltsorte des Anknüpfungssubjekts nötig werden können wie es bei einer retrospektiven Aufenthaltsbestimmung der Fall ist. Ein Unterschied besteht nur darin, dass bei der zurückbezogenen Aufenthaltsfeststellung frühere und spätere Ortswechsel einer Person in die Aufenthaltsbestimmung einbezogen werden können. Im Rahmen einer gegenwartsbezogenen Aufenthaltsermittlung darf die Umzugsperspektive des Anknüpfungssubjekts dagegen nur Bedeutung erlangen, wenn sie sich im Zeitpunkt der Untersuchung bereits in einem konkreten Ortswechsel manifestiert hat. Das gilt sowohl für die wandelbaren Aufenthaltsanknüpfungen (Art. 3 Abs. 1 HUP und Art. 16 KSÜ) als auch dann, wenn der Anknüpfungszeitpunkt durch die Klageerhebung fixiert wird wie beispielsweise in Art. 8 lit. a) Rom III-VO. Eine rückwärtsgewandte Aufenthaltsbestimmung verspricht mithin trennschärfere und anknüpfungsgerechtere Ergebnisse als die gegenwartsbezogene Bestimmung des anwendbaren Rechts. Die Abgrenzung zwischen gegenwärtigem und vergangenem Aufenthalt lässt jenseits der festgestellten Unterschiede aber keine Trennlinien erkennen, die eine abstrakte Differenzierung im Aufenthaltsverständnis rechtfertigen würden. 269
D. Differenzierung nach innerer Regelungssystematik D. Differenzierung nach innerer Regelungssystematik
Der letzte Abschnitt hat gezeigt, dass die äußere Regelungssystematik nur oberflächlich Anlass für eine Differenzierung im unionsrechtlichen Aufenthaltsbegriff bietet. Für sich genommen macht aber keines der oben diskutierten Differenzierungskriterien eine abstrakte Abstufung im Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts erforderlich. Im Gegenteil sprechen die Summe und die Interdependenzen zwischen einzelnen regelungssystematischen Unterschieden gegen eine abstrakte Differenzierung nach dem äußeren Regelungsumfeld. Der folgende Abschnitt wird sich daher auf die Frage konzentrieren, ob die kollisionsnorminterne Regelungssystematik eine abstrakte Abschichtung im Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts erlaubt. I. Punktuelle und Dauerrechtsverhältnisse Zunächst ist der an früherer Stelle vorgestellte Vorschlag Schwinds und van Rooijs zu würdigen, im Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts nach punktuellen und Dauerrechtsverhältnissen zu unterscheiden. 270 Während der 269
Im Ergebnis anders Hilbig-Lugani, GPR 2014, 8 (12). S.o. § 8 B. II. 1. c) sowie Schwind, FS Ferid, 1988, 423 (425); van Rooij, NILR 22 (1975) 165 (176 ff.). 270
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§ 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht
gewöhnliche Aufenthalt bei punktuellen Rechtsverhältnissen großzügig oder als Minimalintegration verstanden wird, soll im Rahmen von Dauerrechtsverhältnissen ein strengerer Maßstab gelten. 271 Hinter diesem Vorschlag dürfte das Anliegen stehen, den gewöhnlichen Aufenthalt in Dauerrechtsverhältnissen für eine Stabilisierung wandelbarer Anknüpfungen dienbar zu machen. Sofern zeitlich gestreckte Rechtsverhältnisse einer wandelbaren Anknüpfung unterliegen, wie in Art. 14 Abs. 1 Nr. 2 EGBGB, kann eine gesteigerte Intensität im Aufenthaltsnachweis Statutenwechseln entgegenwirken. 272 Allerdings wird eine Differenzierung obsolet, wenn der intertemporale Bezugsrahmen einer Kollisionsnorm durch eine starre Anknüpfung fixiert wird.273 Ein streiflichtartiger Blick auf die Anknüpfungssystematik der sekundärrechtlichen Kollisionsnormen des Unionsrechts zeigt, dass für eine Differenzierung nach diesem Muster weder Raum noch Anlass besteht. Erstens ist der Anknüpfungszeitpunkt mit Ausnahme von Art. 3 HUP und Art. 16 KSÜ in allen Kollisionsnormen, die den gewöhnlichen Aufenthalt verwenden, zeitlich fixiert. Auch in den genannten Fällen ist eine begriffliche Trennung zwischen punktuellen und Dauerrechtsverhältnissen für den Anknüpfungszweck, zweitens, nicht nur nicht förderlich, sondern diesem sogar abträglich. Im Rahmen des Art. 3 HUP soll die wandelbare Anknüpfung nämlich gerade sicherstellen, dass sich die Bemessungsgrundlage des Unterhalts an die aktuelle Lebensumwelt des Anknüpfungssubjekts anpasst. Entsprechend soll Art. 16 KSÜ das rasche und lebensnahe Handeln örtlicher Behörden garantieren. Eine ÄStabilisierung³ des gewöhnlichen Aufenthalts würde in beiden Zusammenhängen den Anknüpfungszweck konterkarieren, da sie ein Auseinanderfallen von schlichtem Aufenthaltsort, Zuständigkeit (KSÜ) und anwendbarem Recht (HUP) begünstigen würde. Die Differenzierung zwischen punktuellen und Dauerrechtsverhältnissen hat in der Regelungssystematik des Unions-IPR also keinen Bestand. II. Elastische und starre Verweisung Unterschiede lässt auch die innere Regelungssystematik der Kollisionsnormen erkennen, in denen der gewöhnliche Aufenthalt zum Einsatz kommt. Die verweisungsrechtlichen Vorschriften des Europäischen Kollisionsrechts wählen insoweit unterschiedliche Modi bei der Bestimmung des maßgeblichen Anknüpfungssubjekts. Je nachdem, ob das Anknüpfungssubjekt gesetzlich bestimmt ist oder sich aus dem Kontext des Rechtsverhältnisses ergibt, tritt der gewöhnliche Aufenthalt bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts teils neben andere, konkretisierungsbedürftige Anknüpfungsmomente, teils 271
Schwind, FS Ferid, 1988, 423 (425). Für das Scheidungsrecht Rösler, RabelsZ 78 (2014), 155 (167). 273 Zur Analogie zwischen intertemporalem Recht und Anknüpfungszeitpunkt siehe von Bar/Mankowski, IPR I, § 7 Rn. 9. 272
D. Differenzierung nach innerer Regelungssystematik
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dient er lediglich der Lokalisierung einer bereits vorentschiedenen Verbindung. 274 1. Starre Verweisung: Familien- und erbrechtliche Rechtsverhältnisse, beschränkte Rechtswahl, Verbraucherschutz, Insolvenzrecht Die erstgenannte Funktion erfüllt der gewöhnliche Aufenthalt in den Verweisungsnormen des Internationalen Familien- und Erbrechts. Sowohl im Rahmen einer objektiven Anknüpfung als auch im Kontext einer beschränkten Rechtswahl ist das Anknüpfungssubjekt dort gesetzlich vorbestimmt und nicht der parteiautonomen Abrede überlassen. Nach Art. 3 Abs. 1, 2 HUP entscheidet der gewöhnliche Aufenthalt des Unterhaltsgläubigers, nach Art. 21 Abs. 1 EuErbVO der des Erblassers und nach Art. 5 Abs. 1 lit. a) und b) und Art. 8 lit. a), b) der gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt der Ehegatten über das anwendbare Recht. Auch im Rahmen des internationalen Insolvenzrechts (Art. 3 Abs. 1 UA 3 S. 1 EuInsVO) wird das maßgebliche Anknüpfungssubjekt gesetzlich bestimmt, nicht etwa vertragsakzessorisch konkretisiert. Vorbestimmt ist das Anknüpfungssubjekt schließlich in allen Fällen, in denen der gewöhnliche Aufenthalt eine beschränkte Rechtswahlmöglichkeit konkretisiert, also in Art. 5 Abs. 2 UA 2 lit. a) und b) Rom I-VO, Art. 7 Abs. 2 lit. b) und e) Alt. 2) Rom I-VO, in Art. 5 Abs. 1 lit. a) und b) Rom III-VO und in Art. 8 Abs. 1 lit. b) HUP. Auch im Internationalen Vertragsrecht lässt sich dieser Unterschied erkennen. Im Statut der Verbraucherverträge (Art. 6 Abs. 2 Rom I-VO) ist das Anknüpfungssubjekt gesetzlich festgelegt. Ob ein Vertrag als Verbrauchervertrag einzuordnen ist oder nicht, hängt von der personalen Zusammensetzung eines Vertragsschlusses und damit vom Zweck ab, dem die Parteien die vertraglich vereinbarte Leistung zuordnen. 275 Welche Vertragspartei vermöge ihres gewöhnlichen Aufenthalts das anwendbare Recht bestimmt, ergibt sich damit nicht aus dem Vertragsinhalt, sondern aus dem sozialen und wirtschaftlichen Gefüge des Vertragsschlusses. 276 Der Schwerpunkt eines Rechtsverhältnisses folgt mit anderen Worten nicht aus dem konkreten Vertragsinhalt, sondern ist bereits durch die Vertragsqualifikation gesetzlich vorentschieden. Anstatt des vertraglichen Pflichtenprogramms entscheidet mit der Verbrauchereigenschaft einer Vertragspartei ein situativer Faktor über das anwendb are Recht. 274
Die Anwendungsfälle dieser Kategorie können mit der unter § 9 C. II. 2. c) diskutierten Fallgruppe zusammenfallen. Auch dann, wenn dem gewöhnlichen Aufenthalt eines Vertragspartners kein ausreichender Aussagegehalt beigemessen wird, um für sich genommen das anwendbare Recht zu bestimmen, stellt er in Fällen einer flexiblen Anknüpfung nicht selbstständig die Verbindung zwischen Sachverhalt und Rechtsordnung her. 275 S.o. § 7 A. I. 3. b). 276 Schnitzer, Handbuch I, 505, 512 f.; ders., RabelsZ 38 (1974) 317 (325 f.).
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§ 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht
2. Flexible Verweisung: Vertragscharakteristische Leistung Fälle einer elastischen Anknüpfung beschränken sich auf diejenigen Bereiche der Rom I-VO, in denen die vertragscharakteristische Leistung das Anknüpfungssubjekt bestimmt (Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO). 277 Auch Kauf- (Art. 4 Abs. 1 lit. a)), Dienstleistungs- (Art. 4 Abs. 1 lit. b)), Franchise- (Art. 4 Abs. 1 lit. e)) und Vertriebsverträge (Art. 4 Abs. 1 lit. f) fallen in diese Kategorie.278 a) Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO Wann immer die Identifikation des anknüpfungserheblichen Rechtssubjekts über die charakteristische Leistung erfolgt (Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO), wird die Frage nach dem maßgeblichen Anknüpfungssubjekt durch das zugrundeliegende Vertragsverhältnis entschieden. Welche Partei die vertragscharakteristische Leistung erbringt, ergibt sich aus der vertraglichen Leistungsabrede und deren sozioökonomischem Umfeld,279 insbesondere aus dem zwischen den Parteien vereinbarten Pflichtengefüge. Gerade dadurch kann eine individuelle Schwerpunktbestimmung in einer Vertragsbeziehung erfolgen. 280 Die gesetzliche Typisierung der vertraglichen Anknüpfung wird im Interesse flexibler und einzelfallgerechter Anknüpfungsergebnisse also auf ein Minimum reduziert. Das anknüpfungserhebliche Rechtssubjekt wird vielmehr für den Einzelfall festgelegt. Der Rechtsanwender, den diese Aufgabe trifft, ist im Rahmen einer flexiblen Verweisung dabei mit einer Doppelbelastung konfrontiert. Einerseits muss er entscheiden, welche Vertragspartei vermöge ihres Lebensumfeldes über das anwendbare Recht bestimmen soll; andererseits muss er festlegen, wo der Schwerpunkt der Lebensverhältnisse dieser Person liegen soll. b) Typisierungen des Art. 4 Abs. 1 Rom I-VO Die Übergänge von der starren zur flexiblen Anknüpfung sind allerdings fließend. Insbesondere die Kollisionsnormen der Rom I-VO bestimmen zwar, welche Partei durch ihren gewöhnlichen Aufenthalt über das anwendbare Recht entscheidet; diese Typisierung soll aber keine Einschränkung der Parteiautonomie nach sich ziehen, sondern lediglich die Vorhersehbarkeit der Normanwendung steigern. Soweit man die Art. 4 Abs. 1 lit. a), b), e) und f) Rom I-VO als typisierte Konkretisierungen des Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO liest, antizipieren sie damit lediglich diejenigen Ergebnisse, die bereits die
277
S. sogleich a). S. sogleich b). 279 Giuliano/Lagarde ABl. 1980 C 282/19 f. 280 Schnitzer, RabelsZ 33 (1968), 17 (22); Giuliano/Lagarde ABl. 1980 C 282/20. 278
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vertragsautonome Schwerpunktbestimmung generieren soll. 281 Welche Vertragspartei vermöge ihres gewöhnlichen Aufenthalts über das anwendbare Recht entscheidet, bestimmt sich also auch im Rahmen der Kauf-, Dienstleistungs-, Franchise- und Vertriebsverträge über das vertragliche Pflichtenprogramm und die Zuordnung der vertragscharakteristischen Leistung. 282 3. Konsequenzen a) Argumente für eine Differenzierung Aus den beschriebenen Unterschieden lassen sich zwei Argumente für ein differenziertes Begriffsverständnis entwickeln. Erstens ist das praktische Gewicht der Aufenthaltsbestimmung weitaus größer, wenn der Gesetzgeber die Entscheidung über das maßgebliche Anknüpfungssubjekt vorweggenommen hat. Die vorstehenden Beispiele zeigen, zweitens, dass eine gesetzliche Bestimmung des Anknüpfungssubjekts regelmäßig dem strukturellen Schutzbedürfnis einer Person Rechnung trägt. Indem der Gesetzgeber den gewöhnlichen Aufenthalt des Verbrauchers als bestimmendes Kriterium für das anwendbare Recht festsetzt, möchte er sicherstellen, dass eine privat handelnde natürliche Person auf vertragliche Sekundärrechte aus dem Recht ihrer Lebensumwelt zurückgreifen kann. b) Gegenargumente Gegen die vorgetragenen Überlegungen sprechen zunächst dieselben Erwägungen, die gegen die begriffliche Ausgrenzung kollisionsrechtlicher (s.o. § 9 C. II. 2. b)) und sachrechtlicher (s.o. § 9 C. II. 2. a), c)) Ausnahmeanknüpfungen vorgetragen wurden. Erstens lässt sich kein eindeutiger Zusammenhang zwischen einer sorgfältigen Nachprüfung der aufenthaltsrelevanten Anknüpfungstatsachen und einer abstrakt-dogmatischen Abschichtung im Begriffsverständnis erkennen. Vorhandene Unterschiede erklären sich, zweitens, durch Unterschiede in der Beweislast. Dabei handelt es sich im Grundsatz aber um eine eigenständige kollisionsrechtliche Fragestellung, die getrennt 281
Dazu unten § 7 A I. 3. b). Die besonderen Vorschriften des Abs. 1 dienen also nicht der Einschränkung einer individuellen Parteiabrede, sondern sind dazu gedacht, einen ansonsten frei gebildeten Parteiwillen im Interesse der Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit zu kanalisieren. Der Konsens über die subsidiäre Geltung der allgemeinen Vertragsanknüpfung in allen in Abs. 1 genannten Fällen bestätigt diesen Befund. Sofern ein vertragliches Pflichtenprogramm nicht eindeutig einer der besonderen Vertragsanknüpfungen zugeordnet werden kann, bleibt es bei Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO, der wiederum auf den individuell vereinbarten Vertragsinhalt abstellt. Drittens wird der abschließende Zuweisungsgehalt des Art. 4 Abs. 1 Rom I-VO durch die Ausweichklausel des Art. 4 Abs. 3 Rom I-VO gewollt zugunsten einer einzelfallgerechten Normallokation relativiert. Zum Ganzen Staudinger/Magnus Art. 4 Rom I-VO Rn. 28. 282
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§ 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht
von der nach der Notwendigkeit einer differenzierenden Aufenthaltsdogmatik zu beurteilen ist. Ob sich Unterschiede im Schutzbedürfnis des Anknüpfungssubjekts auf die Aufenthaltsbestimmung auswirken, kann dagegen nicht isoliert beantwortet werden. Dieser Frage ist der folgende Abschnitt gewidmet.
E. Differenzierung nach Anknüpfungssubjekt E. Differenzierung nach Anknüpfungssubjekt
Aus der Analyse der EuGH-Rechtsprechung sowie den darauf aufbauenden selbstständigen Überlegungen ist deutlich geworden, dass der gewöhnliche Aufenthalt als Anknüpfungsmoment unterschiedliche Personenprofile bedient. I. Personenprofile des Europäischen Kollisionsrechts 1. Verbraucher und Unternehmer Erstens wurde festgestellt, dass die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt insbesondere im Verbrauchervertragsrecht strukturelle Schwächen in einem Rechtsverhältnis ausgleichen soll. Dass darin ein wichtiges gesetzgeberisches Anliegen liegt, zeigt nicht zuletzt die doppelte, nämlich verweisungsrechtliche und zivilprozessuale Umsetzung des Anknüpfungsschutzes. Art. 18 Abs. 1 EuGVVO räumt in Abweichung vom Grundsatz actor sequitur forum rei dem Verbraucher das Recht zur Klage vor den Gerichten des Staates ein, in dem er seinen Wohnsitz hat. 283 Die internationale Zuständigkeit und das anwendbare Recht laufen in diesen Bereichen also kraft gesetzlicher Regulierung parallel. 2. Kinder und Erwachsene Eine weitere Differenzierungsmöglichkeit ergibt sich daraus, dass die Aufenthaltsanknüpfung sich teils auf Kinder und teils auf Erwachsene bezieht. Die Anwendungsfelder einer Aufenthaltsanknüpfung Minderjähriger beschränken sich inhaltlich im Wesentlichen auf Sorgerechtsstreitigkeiten (Art. 8 Abs. 1 EuEheVO) und das Internationale Unterhaltsrecht (Art. 3 EuUntVO, Art. 3 HUP).284 283 Allerdings unter der Bedingung, dass der Unternehmer seine Tätigkeit auf den Wohnsitzstaat ausrichtet. Dazu EuGH, 6.9.2012 ± C-190/11 ± Mühlleitner ./. Yusufi ± NJW 2012, 3225. 284 Indirekt, nämlich im Rahmen einer Stellvertretung, kann der gewöhnliche Aufenthalt Minderjähriger auch im Internationalen Vertragsrecht relevant werden. Da das Recht der Stellvertretung gemäß Art. 1 Abs. 2 lit. g) Rom I-VO vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgenommen ist, soll dieser Bereich im Folgenden keine Berücksichtigung erfahren.
E. Differenzierung nach Anknüpfungssubjekt
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II. Mögliche Differenzierungsgründe 1. Verbraucher und Unternehmer Fraglich ist zunächst, ob die Zielsetzung des Verbraucherkollisionsrechts sich in einem besonderen Verständnis der Aufenthaltsanknüpfung niederschlagen sollte. Das Schutzziel des Art. 6 Abs. 2 Rom I-VO schreibt insofern vor, dass ein Verbrauchervertrag nach derjenigen Rechtsordnung beurteilt werden muss, mit deren Rechtsbehelfen und Schutzmechanismen das Anknüpfungssubjekt am besten vertraut ist. 285 Einerseits darf dann ein vorübergehender Aufenthaltswechsel keine Auswirkungen auf das anwendbare Recht haben; andererseits ließe sich daran denken, dem Verbraucher durch eine Karenzfrist Zeit zu geben, sich in einer neuen Rechtsordnung einzuleben. Die Abschichtung nach Verbraucher- und Unternehmergeschäften muss ebenso wie andere Differenzierungsvorschläge dem Vorwurf der Beliebigkeit begegnen. Er scheint insbesondere berechtigt, weil der kollisionsrechtliche Verbraucherschutz im Rahmen einer objektiven Anknüpfung mit Mitteln sichergestellt wird, die auch in anderen Sachzusammenhängen Einsatz finden. Namentlich wird das Anknüpfungssubjekt anders als im Rahmen der Zweifelsanknüpfung nach Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO nicht durch den Vertragsinhalt, sondern vermöge seiner sozialen Rolle im Vertrag bestimmt. Wie die Ausführungen oben in Abschnitt D. gezeigt haben, finden sich aber zahlreiche andere, nicht-verbraucherrechtliche Fälle, in denen das Anknüpfungssubjekt nicht durch den Vertrag, sondern vom Gesetzgeber bestimmt wird. Parallel ist der Verordnungsgeber um die Herstellung des Gleichlaufs zwischen forum und ius bemüht (s.o. B. II. 3. b)). Eine Kombination von gesetzlichem Personenprofil und Gleichlaufgrundsatz findet auch dann statt, wenn die Aufenthaltsanknüpfung einen umgekehrten Zweck bedient, wie das internationale Insolvenzrecht zeigt. 286 Der gewöhnliche Aufenthalt stellt dort sicher, dass im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine zahlenmäßig und persönlich schwer definierbare Masse von Gläubigern vor einer manipulativen Ortsverlegung des Schuldners geschützt wird. 287 Sicher liefern die gerade vorgetragenen Aspekte keine zwingenden Gründe gegen eine begriffliche Differenzierung. Sofern man die hier vertretene Grundhypothese teilen möchte, dass der gewöhnliche Aufenthalt im Zweifel als einheitlicher Begriff verstanden werden sollte, entfällt durch die vorstehenden Überlegungen aber der unmittelbare Bedarf nach einer Differenzierung.
285
Nemeth, Kollisionsrechtlicher Verbraucherschutz, ZfRV 2012, 122; Rühl, Der 6FKXW]GHVÄ6FKZlFKHUHQ³LPHXURSlLVFKHQ.ROOLVLRQVUHFKW)6YRQ+RIIPDQQ 286 S.o. § 6 A. II. 4. a). 287 Ibid.
404
§ 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht
2. Kinder und Erwachsene a) Indizien für ein differenziertes Begriffsverständnis Eine begriffliche Trennung im Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts zwischen Kindern und Erwachsenen leuchtet dagegen ein. 288 Die Aufenthaltsbestimmung muss sich insbesondere bei Kleinkindern und Säuglingen vorrangig an normativen Kriterien wie der Sachnähe des Gerichts und der Schutzbedürftigkeit orientieren, da es an einem anknüpfungsfähigen sozialtatsächlichen Tatbestand fehlt. 289 Das gilt umso mehr, wenn man den gewöhnlichen Aufenthalt konzeptionell vom Wohnsitzprinzip lösen und die Aufenthaltsbestimmung bei Kindern selbstständig, also nicht in Anlehnung an das soziale Umfeld der tatsächlichen Betreuungsperson, vornehmen möchte.290 Für die Relevanz der Unterscheidung im Unionsrecht sprechen zwei Argumente: Erstens deuten die Teildefinitionen des gewöhnlichen Aufenthalts in Art. 19 Rom I-VO, 23 Rom II-VO an, dass der Verordnungsgeber im Grundsatz gegenüber strukturellen Unterschieden zwischen den Anknüpfungssubjekten sensibel ist. 291 Dass der gewöhnliche Aufenthalt von Kindern und Erwachsenen in der Teildefinition keine Berücksichtigung gefunden hat, dürfte den begrenzten Handlungsmöglichkeiten beschränkt Geschäftsfähiger im Rechtsverkehr geschuldet sein. Da sie von vornherein nur über ihre gesetzlichen Vertreter vertragliche Verbindungen eingehen können, bedürfen sie insbesondere des situativen Übereilungsschutzes nicht, den der kollisionsrechtliche Verbraucherschutz gewährleistet. Im Gegenteil werden voll geschäftsfähige Vertragspartner kraft Art. 13 Rom I-VO vor falschen Angaben Minderjähriger geschützt. 292 Ein zweites Indiz liefert die EuGH-Entscheidung A.293 Dort stellt der Gerichtshof fest, dass die in anderen Bereichen des Unionsrechts entwickelten 288
Für die Unterscheidung daher auch Rösler, RabelsZ 78 (2014), 155 (167). So auch Rauscher, FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (642). 290 So verfährt der Gerichtshof freilich in EuGH ± C-497/10 PPU ± Mercredi ./. Chaffe; unterstützend Helms, FamRZ 2011, 1765 (1770); Rösler, RabelsZ 78 (2014), 155 (166). 291 Die Auslagerung der Aufenthaltsanknüpfung juristischer Personen rechtfertigt sich freilich durch die offensichtlichen Unterschiede, die eine Personenmehrheit von einer Einzelperson unterscheidet. Etwas Anderes gilt für die Sonderanknüpfung beruflich handel nder Privatpersonen. Hier nimmt der Gesetzgeber abstrakt Rücksicht darauf, dass im beruflichen Kontext sowohl ein größeres Bedürfnis nach Rechtssicherheit besteht als auch, dass regelmäßig andere Anknüpfungstatsachen relevant werden als im Rahmen der Aufenthaltsbestimmung von Privatpersonen. 292 Fischer, Rechtsscheinhaftung im Internationalen Privatrecht, IPRax 1989, 215; Lipp, RabelsZ 63 (1999), 107; ders., Geschäftsfähigkeit im europäischen IPR: Status oder Willensmangel, FS Kühne, 2009, 765. 293 EuGH ± C-523/07, Rn. 36 ± A ./. Perusturvalautakunta ± Slg. 2009 I 2831 ± NJW 2009, 1868; Pirrung, IPRax 2011, 50 (53). 289
E. Differenzierung nach Anknüpfungssubjekt
405
Prinzipien zur Aufenthaltsbestimmung nicht direkt auf Art. 8 Abs. 1 EuEheVO übertragen werden können. 294 Diese Aussage scheint zunächst dem Vorschlag der Literatur zu entsprechen, dass die zu Erwachsenen entwickelten Kriterien der Aufenthaltsbestimmung für Kinder nicht gelten sollen. 295 Allerdings bezieht sich das Judikat nur auf die sozialrechtlichen Präzedenzfälle vor dem EuGH. 296 Ob der Gerichtshof auch Wechselbezüglichkeiten aus anderen Bereichen des Europäischen Kollisionsrechts ausschließen möchte, ist also unklar. Dagegen spricht, dass im Zeitpunkt der Entscheidung A überhaupt nur sozialrechtliche Entscheidungen zur Verfügung standen, um dem gewöhnlichen Aufenthalt Konturen zu verleihen. Umso wahrscheinlicher ist es, dass der Gerichtshof gar keine Aussage zum Verhältnis der Aufenthalt sanknüpfungen im Europäischen IPR untereinander treffen wollte. Selbst wenn man der hier vorgestellten Überlegung nicht folgen möchte, wird die Verbindlichkeit des Aussagegehalts des Judikats durch seinen rechtspolitischen Hintergrund relativiert. Wie erwähnt wurde, muss das Urteil im Lichte des Anspruchs, die Auslegungshoheit über autonom-unionsrechtliche Begriffe zu wahren, kritisch gelesen werden.297 Um diese Autorität zu sichern, ist es notwendig, die Aufenthaltsanknüpfung sowohl von früheren Entscheidungen des Gerichtshofs als auch von staatsvertraglichen Vorbildern zu entkoppeln. Ob der gewöhnliche Aufenthalt von Kindern und Erwachsenen unterschiedlich verstanden werden muss, wurde also nicht, wie teils angenommen wird, 298 verbindlich durch die Rechtsprechung entschieden. Die Abwägung des Für und Wider einer differenzierten Anknüpfung gehört infolgedessen nach wie vor zum Aufgabenbereich der Rechtsdogmatik. b) Gegenargumente Gegen eine abstrakte Trennung im Aufenthaltsverständnis bei Kindern und Erwachsenen sprechen sowohl rechtspraktische (aa)) als auch methodische (bb)) Argumente. aa) Beliebige Konsequenzen Erstens werden die Konsequenzen einer Differenzierung im Aufenthaltsverständnis unterschiedlich beurteilt. Die Literatur führt an, Kinder fügten sich allgemein rascher in ein neues Lebensumfeld ein als Erwachsene, die soziale EuGH ± C-523/07, Rn. 36. Diese Deutung wählt Pirrung, IPRax 2011, 50 (53). 296 EuGH ± C-523/07, Rn. 36 sowie § 6 B. II. 1. b) aa). 297 S.o. § 6 B. II. 1. d). 298 Statt vieler Rauscher, FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (642); Rösler, RabelsZ 78 (2014), 155 (165). 294 295
406
§ 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht
Kontakte im Wegzugsstaat im Zweifel länger aufrechterhielten. Entsprechend könne der Nachweis sozialer Integration bei Kindern schwächer ausfallen als bei Erwachsenen, insbesondere im Hinblick auf zeitliche Indizien. 299 Die Rechtsprechung in der Bundesrepublik zur Brüssel II-VO, der Vorgängerin der Brüssel IIa-VO, sieht es in der Tendenz umgekehrt. Sie nimmt an, dass ein selbstbestimmter grenzüberschreitender Ortswechsel bei Erwachsenen auf der Stelle zu einem Statutenwechsel führen kann, wenn er von der Absicht getragen ist, dort nicht nur vorübergehend zu verweilen. 300 Die praktischen Konsequenzen eines differenzierten Aufenthaltsverständnisses erscheinen damit allenfalls beliebig, teils aber auch willkürlich gewählt. 301 Das gilt insbesondere für die in der Literatur vorgeschlagene Kontiunuitätsvermutung bei Erwachsenen.302 Ob diese tatsächlich die Lebenswirklichkeit eines grenzüberschreitend umziehenden Erwachsenen einfängt, wird sich auch durch statistische Erhebungen nur unzureichend ermitteln lassen. Die Frage nach der Gewichtung zwischen alten und neuen sozialen Kontakten kann im Gegenteil, wenn überhaupt, nur das Anknüpfungssubjekt selbst entscheiden. 303 Dogmatisch lässt sich die daraus gewonnene Zweifelsregelung zugunsten der Kontinuität des letzten gewöhnlichen Aufenthalts als Versuch auffassen, das an früherer Stelle erwähnte Äjuristische Trägheitsprinzip³ (Kegel)304 in die soziale Wirklichkeit zu überführen. Unabhängig von der sachlichen Richtigkeit der Vermutungsregel bestehen aber gewichtige Zweifel an ihrer Praktikabilität. Weder ist klar, unter welchen Voraussetzungen die Vermutung der Kontinuitätsvermutung widerlegt werden kann, 305 noch, welches Gewicht einzelne Motive der Anknüpfungssubjekte bei der Tatsachenauswertung beanspruchen. 306 Außerdem bedarf es der Begründung, warum ein allgemeingültiger Satz wie das juristische Trägheitsprinzip für Kinder nicht gelten soll, für Erwachsene dagegen schon. Bei Lichte besehen sind die dargestellten Überlegungen also nicht zielführend. Im Gegenteil ist eine Trägheitsvermutung nur gerechtfertigt, wenn sie sich sowohl auf Kinder als auch auf Er299
Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt, 1994, 99. Zu Art. 2 Abs. 1 Brüssel II-VO OLG Stuttgart, 23.2.2004 ± 17 WF 31/04 ± NJOZ 2005, 1588 ± FamRZ 2004, 1382, Rn. 5 (wohl der Angabe der Antragstellerin folgend, wonach sie zeitgleich mit dem Umzug in die Bundesrepublik ihren gewöhnlichen Aufenthalt verändert hat); a maiore ad minus s. OLG Stuttgart, 6.7.2004 ± 17 UF 69/04 (Begründung eines domicile of choice bei auf Dauer angelegtem Umzug von Sri Lanka nach Deutschland). 301 So auch Rauscher, FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (642 f.). 302 S.o. § 8 B. II. 1. b). 303 Rauscher, FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (642 f.). 304 Kegel, FS Rehbinder, 2002, 699 (705). 305 Indirekt Rauscher, FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (642 f.). 306 Ebenso, allerdings mit der Schlussfolgerung, dass der gewöhnliche Aufenthalt zeitakzessorisch-objektiv bestimmt werden muss, Rauscher, FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (643). 300
E. Differenzierung nach Anknüpfungssubjekt
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wachsene bezieht. Dann besteht aber kein Bedarf, im Aufenthaltsverständnis von Kindern und Erwachsenen zu differenzieren. Vielmehr sollten beide Personengruppen nach den gleichen Grundsätzen beurteilt werden. bb) Sorgerechtsakzessorische Aufenthaltsbestimmung Unabhängig von den Problemen in der praktischen Umsetzung besteht auch kein methodischer Bedarf für eine abstrakte Differenzierung. Das Lebensumfeld eines zur Willensbildung noch nicht fähigen Kindes ist nämlich ohnehin unmittelbar von dem der faktischen Betreuungsperson abhängig. 307 Bevor ein Kind eine ausreichende geistige und soziale Reife erlangt hat, muss bei der Aufenthaltsbestimmung also ratione materiae das Lebensumfeld eines Erwachsenen in die Betrachtung einbezogen werden. 308 Erst wenn Zweifel an der Legitimität dieser faktisch akzessorischen Aufenthaltsbestimmung bestehen, müssen normative Hilfskriterien wie das Kindeswohl relevant werden. 309 Ihre Entsprechung findet diese Überlegung in den im zweiten Teil der Arbeit angestellten Überlegungen zum Verhältnis zwischen Kindeswohl und gewöhnlichen Aufenthalt sowie in den im Anschluss daran besprochenen Entscheidungen Mercredi und A. 310 Solange die entscheidenden Unterschiede zwischen Wohnsitzanknüpfung und gewöhnlichem Aufenthalt bestehen bleiben, kann und muss der gewöhnliche Aufenthalt eines nicht selbstbestimmt handelnden Kindes in Ansehung des Lebensumfelds seines faktisch sorgenden Elternteils bestimmt werden. 311 Diese Unterschiede bleiben aber auch gewahrt, wenn man nicht zwischen Kindes- und Erwachsenenaufenthalt differenziert: Erstens bleibt es bei der zwingend akzessorischen Anknüpfung gegenüber einer fakultativen Berücksichtigung des Lebensumfelds der Eltern im Fall des gewöhnlichen Aufenthalts. Zweitens wird in unklaren Fällen auch im Rahmen der Aufenthaltsbestimmung von Anleihen beim Lebensumfeld der Eltern abgesehen. An ihre Stelle tritt eine eigenständige gerichtliche oder behördliche Analyse der Kindesinteressen. Gerade diesen Freiraum für eine gerichtliche Einflussnahme bietet die Wohnsitzanknüpfung nicht. Sie arbeitet stattdessen mit gesetzlichen Vermutungen.
307
So auch Thomale, Mietmutterschaft, 2015, 25 f., m.w.N. Thomale, Mietmutterschaft, 2015, 25 f. 309 S.o. § 5 B. II. 3. Beispiele aus der Rechtsprechung s.o. § 6 B. III. 1. 310 EuGH ± C-523/07, Rn. 40 ± A ./. Perusturvalautakunta Ä>'@LH $EVLFKW GHU (OWHUQ sich mit dem Kind dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen, die sich in bestimmten äußeren Umständen, wie in dem Erwerb oder der Anmietung einer Wohnung im Zuzugsstaat, manifestiert, [kann] ein Indiz für die Verlagerung des gewöhnlichen AufHQWKDOWVVHLQ³6 auch EuGH ± C-523/07 ± A ./. Perusturvalautakunta, Schlussanträge der Generalanwältin Kokott, Rn. 44; zitiert in EuGH ± C-497/10 PPU, Rn. 50 ± Mercredi ./.Chaffe. 311 § 5 B. II. 3. 308
408
§ 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht
cc) Zwei Aufenthaltsbegriffe innerhalb einer Kollisionsnorm? Auch historische Überlegungen sprechen gegen eine Differenzierung im Aufenthaltsverständnis von Kindern und Erwachsenen. 312 Die Entwicklungsgeschichte des Haager Unterhaltsrechts liefert einen entscheidenden Beleg dafür, dass die einheitliche Anknüpfung von Kindern und Erwachsenen als Entwicklungsfortschritt verstanden wurde. 313 Sofern die besondere Interessenlage des Kindesunterhalts die Rechtfertigungsgrundlage für eine rechtsdogmatische Umkehr dieser Errungenschaft bieten soll, müssen sich zwingende sachliche Gründe für die Unterscheidung finden. 314 Die zuvor angestellten Überlegungen, aber auch die Ausführungen zum Begriffsinhalt des gewöhnlichen Aufenthalts im zweiten Teil der Arbeit verdeutlichen, dass es dafür einen zwingenden Grund nicht gibt. Im Gegenteil sind die Übergänge zwischen Kindes- und Erwachsenenaufenthalt ebenso fließend wie auch die zwischen einem reduzierten Prüfungsmaßstab und der vollständigen Nachprüfung sozialer Integration: Im Ergebnis kommt es in allen Fällen auf die geistige und persönliche Reife einer Person an. Eine abstrakte Abschichtung des gewöhnlichen Aufenthalts von Kindern von dem Erwachsener ist also nicht geboten.315
F. Differenzierung nach Auswirkungen auf den Rechtsverkehr F. Differenzierung nach Auswirkungen
Zuletzt ist zu diskutieren, ob Unterschiede in der praktischen Auswirkung einer Aufenthaltsanknüpfung eine abstrakte Differenzierung im Begriffsverständnis rechtfertigen können. I. Ausgangsbefund: Konzentrations- und Streuwirkung des gewöhnlichen Aufenthalts 1. Systematik Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass der gewöhnliche Aufenthalt unterschiedliche Anknüpfungsfunktionen bedient. Im Rahmen des Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO wie auch in den unmittelbaren Konkretisierungen dieser Vorschrift hilft er bei der Identifikation derjenigen Rechtsordnung, mit der der Vertrag räumlich, sozial und wirtschaftlich am engsten verbunden ist. Im Rahmen des Verbraucher- und Personenbeförderungsvertragsrechts dient der gewöhnliche Aufenthalt dagegen ohne Rücksicht auf den konkret vereinbarten Vertragsinhalt dem Schutz derjenigen Partei, die infolge eines struktu312
S.o. § 4 B. III. 4. b) dd) (4). Ibid. 314 Ibid. 315 So auch Rauscher, FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (642). 313
F. Differenzierung nach Auswirkungen
409
rellen Verhandlungsgefälles die Vertragsgestaltung nicht ausreichend beeinflussen kann. Je nachdem, welches Anknüpfungssubjekt über das anwendbare Recht entscheidet, hat die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt damit unterschiedliche Fernwirkungen auf den grenzüberschreitenden Rechtsverkehr. Diese Vermutung erhärtet sich insbesondere in Ansehung der Rom IVO. Sofern der Erbringer der charakteristischen Leistung über seinen gewöhnlichen Aufenthalt das anwendbare Recht bestimmt, hat dies in parallelen Vertragsverhältnissen eine Konzentration am Herkunftsort der Sachleistung zur Folge. Im Rahmen des Verbraucherschutzes wird das auf diese Weise in den Rang einer Basisanknüpfung erhobene Herkunftslandprinzip dagegen durch eine Marktortanknüpfung durchbrochen. 316 Schließt der Erbringer der vertragscharakteristischen Leistung mehrere Verträge mit einer parallelen Pflichtenstruktur ab, zieht dies aus seiner Sicht keine kollisionsrechtliche Konzentration, sondern eine Streuung paralleler Vertragsverhältnisse nach sich. Aus Sicht des Leistungsempfängers stellt sich die Situation umgekehrt dar. Insbesondere ein Leistungsempfänger, der gleichzeitig Verbraucher ist, kann sich sicher wähnen, dass unabhängig vom Vertragspartner, mit dem er als Konsument kontrahiert, stets sein eigenes Aufenthaltsrecht zur Anwendung kommt. Bei Verbraucherverträgen erfolgt also eine strukturelle Konzentration paralleler Vertragsverhältnisse. Im Unterschied zur allgemeinen Vertragsanknüpfung findet diese aber nicht am Ort der Erbringung der Sachleistung, sondern dort statt, wo sie bestimmungsgemäß entgegengenommen wird. 2. Nachweis in den Kollisionsnormen der Rom I-VO Ein Beispiel für eine Vertragskonzentration im erstgenannten Sinne liefert die objektive Anknüpfung von Versicherungsverträgen. Bei Großrisiken 317 (Art. 7 Abs. 2 Rom I-VO) wird das anwendbare Recht nicht über die Risikobelegenheit318, sondern über den gewöhnlichen Aufenthalt und damit über das Betriebsstatut des Versicherers bestimmt. 319 Art. 7 Abs. 2 Rom I-VO hat also vergleichbar mit der Anknüpfung an die vertragscharakteristische Leistung eine Konzentration paralleler Versicherungsverträge zur Folge. Im Rahmen des Art. 6 Rom I-VO wird die Vertragskonzentration am Aufenthaltsort des charakteristisch Leistenden dagegen ohne Rücksicht auf den konkreten Vertragsinhalt zugunsten des gewöhnlichen Aufenthalts des Verbrauchers durch-
316
MüKoBGB/Martiny Art. 6 Rom I-VO Rn. 3. Zum Begriff MüKoVVG/Looschelders Internationales Versicherungsvertragsrecht Rn. 61. 318 Dazu Staudinger/Ambrüster Art. 7 Rom I-VO Rn. 13. 319 Begriff bei Ferrari/Kieninger/Mankowski/Ferrari Art. 7 Rom I-VO Rn. 28 mit Verweis auf Gruber, Internationales Versicherungsvertragsrecht, 1999, 252. 317
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§ 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht
brochen.320 Hinzu kommt, dass der Verbraucher, sofern er mehrere Verträge abschließt, in denen er Empfänger der charakteristischen Leistung ist, mit einer Konzentration dieser unterschiedlichen Verträge an seinem Aufenthaltsort rechnen kann. Auch im Rahmen des Art. 5 Abs. 2 UA 1 Rom I-VO wäre ein Abstellen auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Beförderers ratsam. In konsequenter Umsetzung der in Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO festgeschriebenen Leitidee sollte diejenige Person über das anwendbare Recht entscheiden, die in einer zahlenmäßig unbestimmten Vielzahl von Fällen regelmäßig identische Beförderungsleistungen erbringt und deren Sitz daher mit dem Erbringungsort der Sachleistung zusammenfällt. Dass stattdessen das Lebensumfeld des Beförderten über das anwendbare Recht entscheidet, wird durch dessen geringere Markterfahrung, Verhandlungsmacht und Fähigkeiten im Umgang mit Auslandstransaktionen gerechtfertigt. Schließt der Beförderte mehrere gleichartige Beförderungsverträge, kann umgekehrt eine kollisionsrechtliche Konzentration dieser Verträge an seinem Aufenthaltsort erfolgen. Diese Wirkung tritt aber unabhängig davon ein, wo der Sitz des jeweiligen Beförderers liegt. Die wirkungsakzessorische Betrachtung erlaubt es, das gesetzgeberische Anliegen hinter den einzelnen Kollisionsnormen der Rom I-VO zu verifizieren.321 In allen Fällen, in denen das durch Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO kollisionsrechtlich gespiegelte Herkunftslandprinzip zugunsten einer Marktortanknüpfung durchbrochen wird, 322 lässt sich annehmen, dass der Gesetzgeber den Schutz eines höheren Gutes beabsichtigt. II. Keine wohlfahrtsökonomischen Implikationen der Streuung von Parallelverträgen Die Überlegung liegt nahe, dass die Wirkungsunterschiede in der Aufenthaltsanknüpfung auch in der Rechtsökonomik Beachtung finden. 323 Dass ökonomische Erwägungen im Rahmen einer Strukturanalyse kodifizierter
320 Das gilt umso mehr, als Art. 4 Abs. 1 lit. c), d) Rom I-VO, die, wie oben beschrieben, nicht dem Prinzip der vertragscharakteristischen Leistung folgen, gegenüber Art. 6 Abs. 2 Rom I-VO speziell sind. 321 Das gilt insbesondere für Franchise- und Vertriebsverträge: Hier kommt anstatt des 5HFKWV GHV ÄSURGXNWFKDUDNWHULVLHUHQGHQ³ )UDQFKLVHJHEHUV GLHMHQLJH 5HFKWVRUGQXQJ ]XU Anwendung, von der aus die Vertragsdurchführung durch den marktunterlegenen Akteur erfolgt. 322 Einen Überblick zur kollisionsrechtlichen Dimension des Herkunftslandprinzips liefert Michaels, 2 Journal of Private International Law (2006) 195. 323 Grundlegend zur ökonomischen Dimension des Internationalen Privatrechts in Europa Rühl, Statut und Effizienz, 2011, 29 ff.; dies., Party Autonomy in the Private International Law of Contracts: Transatlantic Convergence and Economic Efficiency, in: Gottschalk/Michaels/dies./von Hein (Hrsg.), Conflict of Laws in a Globalized World, 2007, 153.
F. Differenzierung nach Auswirkungen
411
Rechtsnormen berücksichtigt werden können, 324 soll im Folgenden als Arbeitshypothese vorausgesetzt werden. 325 Ebenso wenig soll diskutiert werden, ob und inwieweit ein Fall mit Auslandsbezug mit der Unsicherheit über das anwendbare Recht ± International Transaction Dilemma 326 ± anderen, womöglich höheren ökonomischen Herausforderungen begegnet als innerstaatliche Rechtsgeschäfte. Stattdessen wird der folgende Abschnitt sich knapp damit auseinandersetzen, ob die beschriebene Konzentration gleichartiger P arallelverträge gegenüber einer Streuung von Parallelverträgen erkennbare wohlfahrtsökonomische Vorteile nach sich zieht. 1. Übertragbarkeit des rechtsökonomischen Diskurses innerhalb der vertraglichen Hauptanknüpfung Ob eine Streuung von Parallelverträgen im Verbraucherzusammenhang gegenüber deren Konzentration im Gleichordnungsverhältnis im Nachteil ist, wird im internationalprivatrechtlichen und rechtsökonomischen Schrifttum nicht diskutiert. Relevant ist aber die parallele Kontroverse um die ökonomischen Vor- oder Nachteile in Fällen, in denen der Empfänger oder an seiner Statt der Erbringer der vertragscharakteristischen Leistung vermöge seines gewöhnlichen Aufenthalts über das anwendbare Recht bestimmt. Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO hat die zweite Lösung gesetzlich verstetigt. Die rechtsvergleichende lex lata zeichnet aber ein differenziertes Bild. Im schweizer und japanischen IPR erfolgt die Auswahl des Anknüpfungssubjekts analog zur Rom I-VO. 327 Das US-amerikanische Restatement 2 nd erklärt dagegen nicht den Erbringer, sondern den Empfänger der vertragscharakteristischen Leistung für anknüpfungserheblich. 328 Eine Konzentration von Parallelverträgen findet also statt, aber im Vergleich zum Unionsrecht mit einem genau umgekehrten Ergebnis. In seinen praktischen Auswirkungen entspricht dieser Unterschied grob den Effekten, die oben zur Streuwirkung im Verhältnis zwischen allgemeiner Vertragsanknüpfung und Schwächerenschutz festgestellt wurden. Die Grundanknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt des Erbrin-
324 Freilich dürfen rechtsökonomische Überlegungen nicht alternativ neben oder vorrangig über etablierte Leitbilder eines Kollisionsrechts gestellt, sondern müssen mit ihnen verbunden werden. Dass Dogmatik, Rechtsethik und Rechtsökonomie insoweit ineinandergreifen erhellt für das (nationale) Vertragsrecht Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht, 2001, 232 m.Verw. auf Trebilcock, The Limits of Freedom of Contract, 1993, 248. 325 Fleischer, Informationsasymmetrie im Vertragsrecht, 2001, 232. 326 Statt vieler Schmidtchen, RabelsZ 59 (1995), 56 (64 ff.); Rühl, Statut und Effizienz, 2011, 25 f. sowie die weiteren Nachweise in Fn. 294. 327 Rühl, Statut und Effizienz, 2011, 534 m.w.N. für diese Lösung in Fn. 109. 328 Ibid.
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§ 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht
gers der vertragscharakteristischen Leistung führt zu einer Konzentration am Leistungsort der Sachleistung. 329 2. Mögliche wohlfahrtsökonomische Implikationen einer Vertragsstreuung Für diejenige Vertragspartei, die gegenüber mehreren Vertragspartnern eine Vielzahl gleichartiger, jeweils charakteristischer Vertragsleistungen erbringt, stellt die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt die Anwendung derjenigen Rechtsordnung sicher, mit der die Partei am besten vertraut ist. Auch andere Überlegungen sprechen für die Anknüpfung an die charakteristische Leistung; unter anderem ist diese im Verhältnis zur Gegenleistung regelmäßig stärker reguliert. Die Informationskosten des Erbringers der charakteristischen Leistung sind daher höher als die derjenigen Vertragspartei, die lediglich einen Geldbetrag entrichten muss. 330 Die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt des Empfängers der charakteristischen Leistung, wie sie in Art. 6 Abs. 1 Rom I-VO die Regel ist, fördert umgekehrt eine Streuung von Parallelverträgen. Der Leistungserbringer wird hier gezwungen, seine Marktaktivität unterschiedlichen Preisbildungsmechanismen unterzuordnen.331 Auf diese Weise wird erstens die Festsetzung global einheitlicher Preise verhindert; zweitens erfolgen Quersubventionierungen, auf deren Grundlage Durchschnittspreise gebildet werden. 332 3. Mögliche Konsequenzen für das Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts Legt man die gerade angestellte Überlegung zugrunde, würden die zuvor beschriebenen systematischen und teleologischen Funktionsunterschiede der Aufenthaltsanknüpfung nicht nur rechtspraktisch, sondern auch wirtschaftlich gespiegelt. Auf dieser Grundlage könnte man im Aufenthaltsverständnis danach differenzieren, ob das Konzept eine Streuung oder eine Konzentration von Parallelverträgen bewirkt. Im Rahmen des Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO liefern die Vorteile einer Konzentration von Parallelverträgen ein Argument dafür, hohe Anforderungen an die Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts anzulegen. So würde sichergestellt, dass möglichst viele in einem bestimmten 329
Rühl, Statut und Effizienz, 2011, 534. So Garcimartín Alférez, La racionalidad económica del derecho internacional privado, in: Universidad del País Vasco (Hrsg.), Cursos de derecho internacional y relaciones internacionales de Vitoria Gasteiz 2001 (2002) 87 (150). Der vorliegende Nachweis ist der Paraphrase in deutscher Sprache bei Rühl, Statut und Effizienz, 2011, 536, entnommen. Widerlegt wird diese Ansicht ibid., 537; dazu sogleich. 331 Nachweis bei Rühl, Statut und Effizienz, 2011, 538. 332 Garcimartín Alférez, La racionalidad, in: Cursos de derecho de Vitoria Gasteiz 2001 (2002) 87 (151); Schäfer/Lantermann, Choice of Law from an Economic Perspective, in: Basedow/Kono (Hrsg.), An Economic Analysis of Private International Law (2006) 87 (98 f.); zu allem Rühl, Statut und Effizienz, 2011, 538. 330
F. Differenzierung nach Auswirkungen
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Zeitabschnitt geschlossene Verträge demselben Rechtssystem zugeordnet werden. Umgekehrt ließe sich aus den negativen ökonomischen Folgen einer Vertragsstreuung bei Verbraucherverträgen für einen unternehmerschützenden Vorhersehbarkeitsvorbehalt bei der Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts argumentieren, der sich entweder über das Aufenthaltsverständnis selbst oder über das Erfordernis des ÄAusrichtens³ in Art. 6 Abs. 2 Rom IVO umsetzen ließe. Über ein korrigierendes Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts im einen oder anderen Fall könnte man also versuchen, eventuelle negative ökonomische Folgen einer Änaiven³ Aufenthaltsanknüpfung abzufedern. 4. Keine eindeutigen ökonomischen Konsequenzen der Auswahl des Anknüpfungssubjekts Die gerade aufgestellte Hypothese hält einer Überprüfung nicht stand. Welche Vertragspartei mittels ihres gewöhnlichen Aufenthalts über das anwendbare Recht entscheidet, zieht nämlich jedenfalls im Rahmen des Art. 4 Rom I-VO keine klar erkennbaren ökonomischen Konsequenzen nach sich. Erstens weisen die von Art. 4 ff. Rom I-VO geregelten Austauschverträge allesamt eine synallagmatische Struktur auf. Da die Leistung und die Gegenleistung wechselseitig aufeinander bezogen sind, sind die Vertragsparteien gleichermaßen an der Kenntnis der rechtlichen Regulierung in beide Richtungen interessiert, um die Folgen einer Nicht- oder Schlechtleistung abschätzen zu können. 333 Entsprechend macht es entgegen der oben skizzierten Ansicht keinen Unterschied, ob an den gewöhnlichen Aufenthalt des Erbringers oder an den des Empfängers der vertragscharakteristischen Leistung angeknüpft wird. Auch die zweite Überlegung über die schädliche Wirkung unterschiedlicher Preisbildungsmechanismen erweist sich nur als zielführend, wenn der Erbringer der charakteristischen Leistung mehrere Vertragspartner in unterschiedlichen Mitgliedstaaten bedient. Soweit er seine Tätigkeit auf einen einzigen ausländischen Markt beschränkt, tritt das angesprochene Problem dagegen von vornherein nicht auf. 334 Die Hypothese, dass die Anknüpfung an den Erbringer der charakteristischen Leistung ökonomisch sinnvoll ist, während die Orientierung an anderen Anknüpfungssubjekten die Vertragsabwicklung ohne Not erschwert, kann im Kontext des Art. 4 Rom I-VO 333
Rühl, Statut und Effizienz, 2011, 537. Rühl, Statut und Effizienz, 2011, 539. Umgekehrt lassen sich die US-amerikanische Lösung und die durch sie favorisierte Anknüpfung an das Domizil des Leistungsempfä ngers jedenfalls dann nicht wohlfahrtsökonomisch begründen, wenn zwischen den Parteien eines Vertrags kein Informationsgefälle herrscht, also in B2B- und C2C-Konstellationen, ibid. Anders O¶Hara/Ribstein, University of Chicago Law Review 67 (2000) 1151 (1200 ff.); dies., Conflict of Laws and Choice of Law, in: Encyclopedia of Law and Economics, 2000, 9600, Rn. 631. 334
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§ 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht
also nicht substantiiert werden. Da es sich nicht eindeutig begründen lässt, welche Vertragspartei im Rahmen der Anknüpfung an die vertragscharakteristische Leistung das anwendbare Recht bestimmen sollte, 335 kann man umgekehrt auch der beschriebenen Streuwirkung bei Verbraucherverträgen im Verhältnis zur Konzentrationswirkung bei der Anknüpfung an die vertragscharakteristische Leistung keinen eindeutigen marktfördernden oder markthemmenden Effekt zuschreiben, den man durch ein differenziertes Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts ausgleichen müsste. 5. Zwischenergebnis Ein differenziertes Aufenthaltsverständnis erscheint vor diesem Hintergrund unnötig. Sowohl ein rechtsvergleichender Überblick über die allgemeine Vertragsanknüpfung als auch deren wohlfahrtsökonomische Auswertung zeigen, dass die Wahl des Vertragspartners keine unmittelbaren Auswirkungen auf die ökonomischen Wirkungen einer Kollisionsnorm hat. Dies legt auch nahe, dass kein Bedürfnis für ein unterschiedliches Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts nach ÄSchutzanknüpfung³ und ÄMarktanknüpfung³ besteht. Da die Wirkungen der Anknüpfung nicht offensichtlich auseinanderfallen, besteht kein Bedarf, bei der Konkretisierung des Anknüpfungsmoments dogmatisch-korrigierend einzuwirken. Im Gegenteil lässt sich aus dem vorangegangenen Abschnitt folgern, dass die gesetzgeberische Entscheidung für den einen oder anderen Einsatz der Aufenthaltsanknüpfung die ökonomischen Folgen als rechtspraktische Konsequenzen bereits in einem ausreichenden Umfang bedacht hat, sodass sie nicht selbstständig in Form einer begrifflichen Differenzierung gewürdigt werden müssen.
G. Thesen G. Thesen
1. Der gewöhnliche Aufenthalt trifft im unionssekundärrechtlichen IPR auf unterschiedliche Personenprofile und Leitmotive (§ 9 E., F.). Letztere bilden häufig die erkennbare Wertungs- und Legitimationsgrundlage der Vorschriften des Europäischen IPR und IZVR. Daher ist anzunehmen, dass auch der Inhalt der Vorschriften im Lichte der Anknüpfungszwecke gelesen werden muss. Für die praktische Handhabung der Aufenthaltsanknüpfung ruft dieser Befund zur Sensibilität gegenüber dem systematischen Regelungsumfeld, dem Anknüpfungssubjekt und dem gesetzlichen Regelungsziel auf.
335
Rühl, Statut und Effizienz, 2011, 542 f.
G. Thesen
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2. Entgegen bestehenden Tendenzen in der Literatur rechtfertigen strukturelle Unterschiede zwischen den aufenthaltsgeprägten Kollisionsnormen größtenteils keine abstrakte begriffliche Differenzierung. a) Eine Differenzierung nach Rechtsakt erscheint einerseits unterkomplex, da sie Unterschiede in der inneren Regelungssystematik nicht ausreichend berücksichtigt. Andererseits vernachlässigt sie das erkennbare Streben des Verordnungsgebers danach, Interdependenzen zwischen einzelnen Rechtsa kten herzustellen. Das gilt insbesondere für die Rom I- und II-Verordnungen, aber auch für die familienrechtlichen Verordnungen (EuEheVO, Rom III-VO, EuUntVO, HUP). Dass die Konvergenz im letzten Fall weniger ausgeprägt ist als im Rahmen der Zivil- und Handelssachen, liefert keinen Grund, gesetzgeberische Bestrebungen dogmatisch durch ein differenziertes Aufenthaltsverständnis zu torpedieren. b) Eine Differenzierung nach Rechtsgebiet ist zulässig, wenn sie auf erkennbaren Funktionsunterschieden in der Aufenthaltsanknüpfung aufbaut. Das ist für das Internationale Sozialrecht zu bejahen, für die Trennung zwischen internationaler Zuständigkeit und anwendbarem Recht dagegen abzulehnen. Die Funktionsunterschiede zwischen forum und ius werden durch die lex lata des Europäischen Kollisionsrechts also ausreichend nivelliert. c) Eine Differenzierung zwischen beschränkter Rechtswahl und objektiver Anknüpfung ist gerechtfertigt. Eine Äsubjektive³ Aufenthaltsanknüpfung erfüllt nicht die Aufgabe einer internationalprivatrechtlichen Verweisung sondern soll die Handlungsoptionen der rechtswahlberechtigten Partei erweitern. d) Eine Differenzierung im Aufenthaltsverständnis nach Regel und Ausnahme ist nicht angezeigt, da sich vorhandene Funktionsunterschiede durch die kollisionsrechtliche Beweislastverteilung erklären. e) Auch eine Abschichtung nach Ästarrer³ (gesetzlich definiertes Anknüpfungssubjekt) und Äelastischer³ (durch das kollisionsrechtliche Rechtsverhältnis definiertes Anknüpfungssubjekt) Verweisung ist nicht zwingend geboten. Weder der Vorgang der Normkonkretisierung noch die ökonomischen Fernwirkungen weichen in beiden Fällen so deutlich voneinander ab, dass abstrakt eine Differenzierung geboten wäre. f) Auch eine Differenzierung nach dem Anknüpfungssubjekt ist nicht notwendig. Erstens ist der kollisionsrechtliche Verbraucherschutz bereits durch die kollisionsnormimmanente Bestimmung des Anknüpfungssubjekts sichergestellt; zweitens erfolgt die Aufenthaltsbestimmung bei Kindern faktisch in Ansehung der persönlichen Lebensverhältnisse der Eltern. 3. Auch Unterschiede in den Leitbildern und Wertungen der aufenthaltsgeprägten Kollisionsnormen rechtfertigen per se keine abstrakte Differenzierung im Aufenthaltsverständnis. a) In einer Gruppe von Fällen wirken sich bestehende Wertungsunterschiede bereits im systematischen Regelungsumfeld der Aufenthaltsanknüp-
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§ 9 Differenzierungsmöglichkeiten im Unionsrecht
fung ausreichend deutlich aus. Dann ist die Annahme berechtigt, dass die gesetzgeberischen Wertungen durch ein verändertes systematisches Umfeld bereits ausreichend eingefangen werden und eine gesonderte Fassung der Aufenthaltsanknüpfung entbehrlich wird. b) In anderen Fallgruppen lassen sich Unterschiede in der praktischen Handhabung der Aufenthaltsanknüpfung erwarten; diese werden aber durch das Kollisionsrecht der Beweislastverteilung ausreichend eingefangen. 4. Nur dann, wenn der gewöhnliche Aufenthalt eine begrenzte Rechtswahlmöglichkeit lokalisiert, erscheint eine Abgrenzung von anderen Einsatzfeldern notwendig. In diesen Fällen kann und sollte die bisherige, aber auch die künftige sozialrechtliche Rechtsprechung des EuGH bei der Begriffskonkretisierung berücksichtigt werden. Im Rahmen einer objektiven Anknüpfung kann sie dagegen allenfalls in Grundzügen bei der Ermittlung des anwendbaren Rechts helfen.
§ 10 Grundzüge einer rechtswahlakzessorischen Aufenthaltssystematik § 10 Rechtswahlakzessorische Aufenthaltssystematik
A. Legitimität A. Legitimität
I. Berechtigung der Suche nach einem Differenzierungskriterium Die Grundlegung zur vorliegenden Arbeit ist zu dem Schluss gelangt, dass die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt im IPR und IZVR der Europäischen Union ebenso allgegenwärtig wie inhaltlich unerschlossen ist. Sie hat angedeutet, dass die Unschärfe des Begriffs nicht zuletzt auf den unterschiedlichen Regelungszusammenhängen und Anknüpfungszwecken beruht, in denen der Begriff Anwendung findet. Sein Erstarken zur rechtsaktübergreifenden Universalanknüpfung macht den gewöhnlichen Aufenthalt anders formuliert zu einem zentralen Strukturbaustein des Europäischen IPR, erhöht aber auch die Rechtfertigungslast, die mit dem Einsatz der Aufenthaltsanknüpfung in neuen Anwendungsgebieten des IPR verbunden ist. Zwischen den Erschließungsmängeln des gewöhnlichen Aufenthalts und seinem nahezu universellen Einsatz im sekundärrechtlichen EuIPR und EuIZVR lässt sich also ein Zusammenhang erkennen. 1 Einerseits erscheint er gerade seiner offenen Begriffsstruktur wegen anpassungsfähig genug, um stets den ihm zugewiesenen Zweck zu erfüllen; andererseits wirft gerade die Erweiterung des thematischen Bezugsrahmens die Frage auf, ob der Begriff die Unterschiede in der Regelungssystematik und die verschiedenen Anknüpfungszwecke stets angemessen einfängt.2 Der letzte Arbeitsabschnitt hat diesen Eindruck bestätigt. Er hat einen Überblick über die unterschiedlichen systematischen Zusammenhänge, Rollenbilder und Anforderungsprofile gegeben, die der gewöhnliche Aufenthalt im sekundärrechtlichen IPR der Union bedienen muss (§ 7). Vor diesem Hintergrund hat die vorliegende Abhandlung die Frage gestellt, welche Kriterien sich für eine Differenzierung im Aufenthaltsverständnis anbieten. Sie hat zunächst unter Rückgriff auf die Debatte im nationalen Recht mögliche Antworten skizziert (§ 8), sie dann auf den Kontext des unionssekundärrechtlichen IPR übertragen und schließlich 1 Zu den Einsatzfeldern s.o. § 7 A; Zur Differenzierung s.o. § 9 B. Zur hier geäußerten Vermutung s.o. § 4 C. 2 S.o. § 4 C., insbesondere § 4 C. II. 2.
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§ 10 Rechtswahlakzessorische Aufenthaltssystematik
durch eigene Überlegungen ergänzt (§ 9). Die Frage, welches Kriterium und welcher Modus in der Abschichtung der Aufenthaltsanknüpfung anzulegen ist (§ 8 B. II. 2.), musste dabei offenbleiben. Ihr soll nun nachgegangen werden 1. Untauglichkeit selbstständiger Differenzierungsvorschläge Es wurde an früherer Stelle begründet, warum trotz der erkennbaren praktischen und teleologischen Unterschiede in der Aufenthaltsanknüpfung isoliert betrachtet keine Differenzierung im Begriffsverständnis angebracht ist. 3 Erstens verbietet sich eine Unterscheidung, wenn sie über die Abgrenzung unterschiedlicher Aufenthaltsfunktionen und die Prognose rechtspraktischer Anwendungsunterschiede hinaus Veränderungen in der Zusammensetzung der Tatbestandsmerkmale erfordert, aus denen sich der Begriffsinhalt des gewöhnlichen Aufenthalts zusammensetzt. Genau das wäre der Fall, wenn man abstrakt zwischen dem gewöhnlichen Aufenthalt von Kindern und dem von Erwachsenen (§ 9 E. I. 2., II. 2.) einerseits und dem von Verbrauchern und Unternehmern andererseits unterscheiden wollte (§ 9 E. I. 1., II. 1.). Außerdem wurde im zweiten Teil der Arbeit auf die fließenden Übergänge in der Aufenthaltsbestimmung bei Kindern und Erwachsenen hingewiesen. Das Ineinandergreifen zwischen punktuellen Anleihen bei der Betreuungsperson, die Bezugnahme auf den Willen und die Integrationsbereitschaft des Minderjährigen und schließlich die Substitution beider Elemente durch selbstständ ige normative Überlegungen des erkennenden Spruchkörpers (§ 5 B. II. 3. c)) macht eine abstrakt-dogmatische Differenzierung im Begriffsverständnis zwischen Kindern und Erwachsenen nicht nur entbehrlich, sondern erweist sich im Hinblick auf die gebotene individuelle Feststellung der geistigen Reife eines Minderjährigen auch nicht als sachdienlich. Auch eine Abschichtung nach Regel und Ausnahme (§ 9 C. II.), Retrospektive und Gegenwart (§ 9 C. III.), punktuellen und Dauerrechtsverhältnissen (§ 9 D. I.), nach der Flexibilität des Anknüpfungsgegenstandes (§ 9 D. II.) und den Auswirkungen der Anknüpfung auf parallele Rechtsverhältnisse (§ 9 F.) wurde im Ergebnis abgelehnt. Was Zuständigkeit und anwendbares Recht betrifft, hat sich die Arbeit im Ergebnis einer Entscheidung enthalten (§ 9 B. II. 3. c)), sich aber in der Tendenz gegen eine Übertragung der Argumente ausgesprochen, die im Recht der Bundesrepublik für diese Unterscheidung vorgeschlagen werden. Zu dieser Frage wird sie sich auch an dieser Stelle nicht verhalten. Vielmehr werden sich die folgenden Überlegungen auf Fälle beschränken, in denen der gewöhnliche Aufenthalt als Anknüpfungspunkt des Internationalen Privatrechts der Europäischen Union zur Anwendung kommt. Für die internationale Zuständigkeit können die folgenden Ausführungen freilich insoweit gelten, 3
S.o. § 9 G.
A. Legitimität
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als man der oben formulierten Vermutung folgen möchte. Dann gelten die vorliegenden Überlegungen, sofern ein Bedarf für die Aufenthaltsfeststellung nach identischen Parametern besteht. Das ist immer dann der Fall, wenn forum und ius zwar nicht verknüpft sind, aber Älose³ gleichlaufen. 2. Notwendigkeit einer Differenzierung Es wurde bereits festgestellt, dass die Ablehnung einer jeden Differenzierung im Aufenthaltsverständnis das praktische und rechtspolitische Bedürfnis nach einer begrifflichen Differenzierung im Aufenthaltsverständnis nicht befriedigen kann. Die systematische Stellung wie auch die unterschiedlichen Parteiund Verkehrsinteressen legen zunächst die Schlussfolgerung nahe, dass der gewöhnliche Aufenthalt nicht in allen Anwendungsgebieten einheitlich gehandhabt werden kann. 4 Die Literatur verfolgt also ein berechtigtes Interesse, wenn sie die rechtspraktische Handhabung der Aufenthaltsanknüpfung im Interesse von Privatpersonen durch einen Katalog möglicher Differenzierungskriterien einer inneren Systematik zuführen möchte. Angesichts des derzeitigen Harmonisierungsstandes des Unionssekundärrechts erscheint es außerdem angemessen, Differenzierungskriterien abstrakt und im Rahmen einer rechtsdogmatischen Untersuchung zu skizzieren, anstatt sie als randseitiges Phänomen der Rechtspraxis zu überantworten. 5 Ein differenziertes Begriffsverständnis rechtfertigt sich schließlich durch die Normtexte und die Rechtsprechung des EuGH. Einerseits sprechen sich die Erwägungsgründe 23, 24 EuErbVO für eine Abgrenzung aus, 6 andererseits hat der EuGH seine Ausführungen zu Art. 8 Abs. 1 EuEheVO von anderen Anwendungsfällen isoliert.7 Die vorliegende Arbeit hat beide Fälle kritisiert: Erstens erweisen sich die in Erwägungsgrund 24 EuErbVO formulierten Zweifelsregelungen durchaus als analogiefähig. 8 Zweitens besteht kein Anlass, die Linie des EuGH gutzuheißen und in konsequenter Fortführung seiner Argumentation sowohl der sozialrechtlichen Rechtsprechung als auch dem völkerrechtlichen acquis zum gewöhnlichen Aufenthalt vollständig die Geltung für das Unionsrecht abzusprechen. Trotzdem ist der Versuch einer induktiven, vom Fall oder Anwendungsgebiet her gedachten Erschließung des gewöhnlichen Aufenthalts zu befürworten. Durch ihn befriedigt der Verordnungsgeber das Bedürfnis, in der Handhabung einzelner Anwendungsfelder der Aufenthaltsanknüpfung die Vorhersehbarkeit der Rechtsanwendungsergebnisse zu stei4
Weller, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0-Verordnung?, 293 (3 Ä%HL /LFKWH EHVHKHQ ZLUG VLFK LQGHV HLQ PRQROLWKLVFKHU $XIHQWKDOWVEHJULII IU GDV (XURSlLVFKH.ROOLVLRQVUHFKWQLFKWGXUFKKDOWHQODVVHQ³ 5 Ausdrücklich Rauscher, FS Coester-Waltjen, 2015, 637 (642). 6 S.o. § 6 A. II. 2. 7 S.o. § 6 B. II. 1. b) aa)±bb). 8 S.o. § 6 A. II. 2. c).
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gern und eine einheitliche Rechtspraxis sicherzustellen. Eine isolierte Konkretisierung einzelner Ausprägungen des gewöhnlichen Aufenthalts, die die Bezüge zu anderen Anwendungsfeldern offenlässt, ist allerdings abzulehnen. Sie setzt einen Prozess der dogmatischen Inselbildung in Gang, der auf Dauer den gewöhnlichen Aufenthalt als Regelungsmodell in Verruf bringt. 9 Die Arbeit wird versuchen, den Differenzierungsbedarf und die mit einer Differenzierung verbundenen Gefahren miteinander ins Verhältnis zu setzen. Sie wählt die im letzten Kapitel identifizierten, berechtigten Differenzierungsgründe als Ausgangspunkt, um die unterschiedlichen Ausprägungen des gewöhnlichen Aufenthalts unter einem rechtsaktübergreifenden Systematisierungsvorschlag zusammenzuführen. II. Zulässige Differenzierungsgründe Vorstehend wurden zwei Fälle identifiziert, in denen eine Differenzierung im Aufenthaltsverständnis aus sich heraus angebracht erscheint. Erstens ist eine begriffliche Abgrenzung zwischen dem gewöhnlichen Aufenthalt im Rahmen einer Rechtswahlbestimmung und dem Aufenthaltsbegriff im Rahmen einer objektiven Anknüpfung geboten (1.). Zweitens kann sich eine Abschichtung nach Rechtsgebieten als sinnvoll erweisen (2.). Der nachfolgende Abschnitt wird dieses Ergebnis aufgreifen und sich auf die Suche nach einem Differenzierungskriterium begeben, das beide Überlegungen einschließt (B.). 1. Subjektive und objektive Aufenthaltsanknüpfungen Zunächst wurde zwischen objektiven und subjektiven Aufenthaltsanknüpfungen (§ 9 C. I. 2. c) cc)) unterschieden. Im Rahmen der subjektiven Aufenthaltsanknüpfung sind Anleihen aus dem Europäischen Sozialrecht vertretbar; in Ansehung der objektiven Aufenthaltsanknüpfungen fehlt es an den Voraussetzungen einer Analogiebildung. 10 Objektive Aufenthaltsanknüpfungen bilden den Regelfall der Aufenthaltsanknüpfung. Eine objektive Verweisung erzeugt der gewöhnliche Aufenthalt in Art. 4 Abs. 1 lit. a) (Kaufverträge über bewegliche Sachen), lit. b) (Dienstleistungsverträge), lit. d) (Kurzzeitmiet- und Pachtverträge), lit. e) (Franchiseverträge) und lit. f) (Vertriebsverträge) Rom I-VO, ferner in Art. 4 Abs. 2, Art. 5 Abs. 1 UA 1 und Art. 5 Abs. 2 UA 1 Rom I-VO, in Art. 6 Abs. 1 Rom I-VO, in Art. 7 Abs. 2 UA 2 Rom I-VO, im Rahmen des Wirkungsstatuts der Abtretung (Art. 14 Abs. 1 Rom I-VO), weiter in Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO, in Art. 5 Abs. 1 lit. a) Rom II-VO, in Art. 8 lit. a) und lit. b) Rom III-VO, in Art. 3 Abs. 1 HUP, in Art. 26 Abs. 1 lit. a) und b) EuGüVO und schließlich in Art. 21 Abs. 1 EuErbVO. 9
S.o. § 1 B. III. 3. S.o. § 9 C. I. 2. c) cc).
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A. Legitimität
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Eine subjektive Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt findet sich in Art. 5 Abs. 2 UA 2 lit. a) und b) (Personenbeförderungsverträge) 11 Rom IVO, in Art. 7 Abs. 2 lit. b) und e) Alt. 2) Rom I-VO (Versicherungsverträge), in Art. 5 Abs. 1 lit. a) und lit. b) Rom III-VO, in Art. 8 Abs. 1 lit. b) HUP und in Art. 22 Abs. 1 lit. a) EuGüVO. In diese Kategorie fallen Vorschriften, die die Wirksamkeit einer Rechtswahlvereinbarung an Formvoraussetzungen knüpfen. Der genaue Inhalt der Formvorschriften ergibt sich dann aus dem Sachrecht eines Mitgliedstaates, in dessen Recht durch eine eigene Kollisionsnorm verwiesen wird (Art. 7 Rom III-VO, Art. 23 Abs. 2 EuGüVO). In diesen Bestimmungen sind die Zweckrichtung, aber auch der Legitimationsaufwand für ein solches oder anderes Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts identisch mit der Aufenthaltsermittlung Rahmen einer beschränkten Rechtswahlmöglichkeit. Die Konsequenzen der begrifflichen Abschichtung zwischen subjektiver und objektiver Anknüpfung lassen sich abstrakt nicht abschließend absehen. Allgemein ist zu erwarten, dass die Berücksichtigung zukünftiger sozialrechtlicher Judikate des EuGH und der funktionalen Unionsgerichte es künftig erlauben werden, den rechtswahlkonkretisierenden gewöhnlichen Aufenthalt inhaltlich von der objektiven Anknüpfung zu unterscheiden. 2. Abschichtung innerhalb der objektiven Aufenthaltsanknüpfungen Offen ist damit weiterhin, nach welchem Maßstab und Modus eine Differenzierung innerhalb der objektiven Aufenthaltsanknüpfungen zu erfolgen hat. Die vorliegende Arbeit hat bereits darauf hingewiesen, dass ein pauschal differenziertes Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts die wechselseitigen Bezugnahmen zwischen den Rom-Verordnungen zu ignorieren droht und daher abzulehnen ist. Ob jenseits einer kategorischen Trennung zwischen unterschiedlichen Verordnungen eine Abschichtung nach Rechtsgebiet sachdienlich und geboten ist, hat sie offengelassen. Die Frage, ob die Anknüpfungszwecke einzelner Rechtsgebiete des Unionsrechts eine Abschichtung rechtfertigen, wurde nicht abschließend beantwortet (§ 9 A. I. 2.). Sie soll mit der Suche nach dem richtigen Differenzierungsmodus verbunden werden. Zu Beginn der vorliegenden Arbeit wurde der Vorschlag formuliert, dass die Anküpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt in Ansehung der Rechtswahlbestimmungen differenziert werden sollte, die ihr gegenüberstehen. In einem ersten Schritt soll skizziert werden, welcher Systematik die Rechtswahl im Europäischen IPR folgt (B. I.). In einem zweiten Schritt wird die Arbeit der Frage nachgehen, wie die rechtswahlbezogene Abschichtung im Aufenthaltsverständnis zu erfolgen hat (B. II.). 11
Kraft Art. 19 Rom I-VO ist auch die in Art. 5 Abs. 2 UA 2 lit. c) Rom I-VO vorhandene Anknüpfung an die Hauptverwaltung als Aufenthaltsanknüpfung zu lesen.
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B. Differenzierungsmodus und praktische Handhabung B. Modus
I. Abschichtungsmodus In einem ersten Schritt muss Klarheit darüber geschaffen werden, nach welchem Modus im Umgang mit der Aufenthaltsanknüpfung zu differenzieren ist.12 1. Differenzierung zwischen Regel und Ausnahme Im Wesentlichen kann dabei auf Überlegungen verwiesen werden, die bereits im zweiten Teil zur Rechtsnatur des gewöhnlichen Aufenthalts entwickelt wurden. 13 Einerseits wurde dort festgestellt, dass die Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts sich grundsätzlich in einer bloßen Auswertung tatbestandsbegründender Sachverhaltselemente erschöpfen kann. Andererseits hat die Arbeit Anwendungsgebiete und Fallgruppen identifiziert, die eine umfassende Auswertung aller relevanten Lebensumstände der Anknüpfungsperson erfordern können. Zwei Problemfelder heben sich besonders deutlich von dem Gesamtphänomen Ägewöhnlicher Aufenthalt³ ab: Im Rahmen des Art. 21 Abs. 1 EuErbVO kann eine Äbiographische Gesamtbetrachtung³ der Lebensumstände des Erblassers zu tatbestandlichen Kollisionen führen. Diese Fallgruppe verdeutlicht die zeitliche Dimension der Auswertungspflicht.14 Je größer der relevante Bezugszeitraum ausfällt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Ermittlung des tatsächlichen sozialen Lebensmittelpunktes einer Person eine Abwägung widersprechender Sachverhaltselemente voraussetzt.15 Der Einfluss der Kindeswohlprüfung auf die Aufenthaltsanknüpfung im Rahmen der Art. 8 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 1 EuEheVO sowie in Art. 16 Abs. 1 KSÜ zeigt dagegen, dass die Abwesenheit aussagekräftiger Anknüpfungstatsachen ebenso wie deren Perplexität einen Rückgriff auf ergänzende Wertungen erfordert und legitimiert. Die Kindeswohlbindung im Internationalen Sorgerecht rechtfertigt es weiterhin, dass der erkennende Spruchkörper von einer faktisch akzessorischen Aufenthaltsbestimmung Abstand nimmt und den daraus resultierenden Mangel aussagekräftiger Sachverhaltselemente durch selbstständige normative Schutzerwägungen beheben muss.16 Die Entscheidung C ./. M zeigt, dass diese Schutzerwägungen auch
12 Die Arbeit hat bereits darauf hingewiesen, dass diese Frage sich nicht von der nach dem richtigen Differenzierungskriterium trennen lässt, s.o. § 8 B. II. 2. 13 S.o. § 5 A. III., insbesondere § 5 A. III. 4. 14 Mankowski, IPRax 2015, 39 (43); Schulze, IPRax 2012, 526 (527). 15 Ibid. 16 Ibid.
B. Modus
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durch eine zeitliche Beschränkung der berücksichtigungsfähigen Integrationstatsachen umgesetzt werden können.17 Damit sind zwei neuralgische Punkte der Aufenthaltsanknüpfung angesprochen. Im Regelfall wird man dagegen davon ausgehen können, dass der Rechtsanwender sich bereits deshalb auf eine Auswertung der von den Parteien vorgetragenen Sachverhaltselemente beschränken kann, weil diese nicht miteinander im Konflikt stehen. In der weit überwiegenden Vielzahl der Fälle kann der gewöhnliche Aufenthalt also tatsächlich das Ergebnis einer Äsummarischen³ Auswertung relevanter Sachverhaltselemente bilden; 18 auch die Bezeichnung als Tatsachenbegriff erhält eine Berechtigung. Eine allgemeinverbindliche Antwort auf die Frage nach dem Differenzierungsmodus lassen diese Streiflichter aber umgekehrt nicht zu. Vielmehr scheint es, als würden die Systematisierungsmechanismen der Zivilrechtsdogmatik durch die Frage nach dem ÄWie³ einer Differenzierung im Aufenthaltsverständnis erschöpft, so man sie allgemein und nicht im Hinblick auf konkrete pathologische Konstellationen stellen möchte. Daher soll der Betrachtungsrahmen punktuell auf die prozessuale Dimension des Problemkreises erweitert werden, der in der materiellrechtlichen Zivilrechtsdogmatik unter dem Oberbegriff der begrifflichen Abschichtung diskutiert wird. 2. Abgestufter Prüfungsmaßstab im Zivilprozess Aus der Sicht des Rechtsanwenders lässt sich der Bedarf nach einer begrifflichen Differenzierung im Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts als Problem des Prüfungsmaßstabes beschreiben. 19 Dort, wo eine Subsumtion unter Indizien keine eindeutigen Ergebnisse liefert, wie im Erbrecht, oder wo die vorhandenen Anknüpfungstatsachen sich nicht mit ausreichender Bestimmtheit zugunsten der einen oder anderen Lösung deuten lassen, wie im Kindschaftsrecht, wird eine vollumfängliche gerichtliche Nachprüfung der anknüpfungsrelevanten Umstände des Sachverhalts nötig. Wo der Bezugszeitraum kürzer ist und die dem Gericht offenkundigen Lebensumstände eindeutig in eine bestimmte Rechtsordnung deuten, kann sich das erkennende Gericht hingegen auf eine kursorische Sachverhaltsauswertung beschränken. Diese punktuelle Bezugnahme auf den Rechtserkenntnisvorgang lässt sich in ein Prüfungsschema für die materiellrechtlich fundierte Abschichtung übersetzen, die die Arbeit gerade leisten will: Dort, wo der Gesetzgeber eine vollumfängliche gerichtliche Nachprüfung der anknüpfungsrelevanten Tatsachen für entbehrlich hält, wird er den Parteien nämlich in aller Regel eine korrespondierende Befugnis einräumen, die Frage des anwendbaren Rechts konsensual zu regeln. Die Konsultation eines entscheidungsbefugten Dritten 17
S.o. § 6 B. II. 3. c). Ibid. 19 Dieser Hinweis stammt von Prof. Dr. Christoph Kern, LL.M. (Harvard), Heidelberg. 18
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wird dementsprechend entbehrlich oder kann sich auf eine Schlüssigkeitsprüfung beschränken. Sofern der Gesetzgeber die Frage des anwendbaren Rechts in Gänze von einem zuständigen Spruchkörper beantwortet wissen möchte, wird er dies signalisieren, indem er den Handlungsspielraum der Parteien zugunsten des erkenntnisbefugten Dritten reduziert. In beiden Fällen ± dies wird der folgende Abschnitt zeigen ± erweist sich die Rechtswahl als zutreffender Gradmesser. II. Rechtswahlsystematik als Bezugspunkt der Abschichtung 1. Beschränkte und unbeschränkte Rechtswahl Die Gestaltung der genannten Rechtswahlvorschriften lässt erkennen, dass der Gesetzgeber die parteiautonome Vereinbarung durch die Parteien unterschiedlich stark reguliert. Ein erster, grundlegender Unterschied lässt sich zwischen beschränkter und unbeschränkter Rechtswahl erkennen. Im Vertrags- und Deliktsrecht wird die Rechtswahl schrankenlos gewährleistet. Erwägungsgrund 11 zur Rom I-VO beschreibt Art. 3 Rom I-VO deshalb zutreffend als Ausdruck eines ÄEckstein[s] des Systems der Kollisionsnormen im Bereich der vertraglichen Schuldverhältnisse³. 20 Mag die Bedeutung der Rechtswahl für das Internationale Schuldrecht am größten und ihr praktischer Einfluss am höchsten sein, liegt der eigentliche Verdienst der Europäischen Kollisionsrechtsharmonisierung allerdings darin, dass sie die Idee der Parteiautonomie mit dem Scheidungs- und Erbrecht aus Sicht der Bundesrepublik auf bislang unerschlossene Bereiche ausdehnt. 21 Auch im Internationalen Ehegüterrecht erweitert Art. 22 Abs. 1 EuGüVO den Handlungsspielraum der Parteien gegenüber Art. 14 Abs. 2, 3 EGBGB erheblich.22 Bislang unerprobt ist die Rechtswahl im Erbrecht (Art. 22 EuErbVO).23 Im Familien- und Erbrecht ist der Kreis rechtswahlfähiger Rechtsordnungen im Gegensatz zum Vertrags- und Deliktsrecht auf einen gesetzlich festgelegten Katalog beschränkt. 24 Den Parteien steht hier im Grundsatz die Wahl räumlich verbundener Rechte offen. 25 Dazu zählen das Recht am aktuellen oder früheren ge20
Dazu Kroll-Ludwigs, Parteiautonomie 2013, 48; Basedow, RabelsZ 75 (2011), 31 (33); Lando/Nielsen, CMLR 45 (2008), 1687 (1698), Kuipers, EU Law and Private International Law, 2012, 48 ff. 21 Kroll-Ludwigs, Parteiautonomie, 2013, 146 f. 22 Zur Reichweite der Rechtswahl im Rahmen des Art. 14 EGBGB MüKoBGB/Siehr Art. 14 EGBGB Rn. 53 ff. Rechtsvergleichender Überblick bei Kroll-Ludwigs, Parteiautonomie. 2013, 121 f. 23 Dazu bereits Bonomi, Choice-of-law Aspects of the Future EC Regulation in Matters of Successions and Wills, FS Siehr, 2010, 157. 24 Kroll-Ludwigs, Parteiautonomie, 2013, 99 ff. 25 Begriff entlehnt von Rühl, FS Kropholler, 2008, 187 (192); Wandt, Rechtswahlregelungen, 2014, 46.
B. Modus
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wöhnlichen Aufenthaltsort, das Heimatrecht, die lex fori und ein anderweitig bestimmtes, sachnahes Recht wie das Güter- oder Scheidungsstatut. 26 2. Unbeschränkte Rechtswahl: Sachrechtliche Wirkungsschranken Auch die unbeschränkten Rechtswahlmöglichkeiten der Rom I- und IIVerordnungen sind unterschiedlich breit ausgestaltet. Ein erster Unterschied lässt sich im Hinblick auf den Kreis der wählbaren Rechtsordnungen erkennen. Im Internationalen Vertrags- und Deliktsrecht etablieren die Art. 3 Rom I-VO, Art. 14 Abs. 1 Rom II-VO eine gegenständlich unbeschränkte subjektive Anknüpfung. 27 Lediglich eine innere und situative Wirkungsgrenze wird durch die Art. 3 Abs. 4 Rom I-VO und Art. 14 Abs. 2 Rom II-VO gesetzt.28 Eine weitere funktionale Schranke der Rechtswahlfreiheit stellt der Übervorteilungsschutz dar. 29 Die Rechtswahlregelungen im Verbrauchervertrags- (Art. 6 Abs. 1 S. 2 Rom I-VO) und Individualarbeitsvertragsrecht (Art. 8 Abs. 1 S. 2 Rom I-VO) hegen die Rechtswahlfreiheit durch sachrechtliche Wirkungsschranken ein. 30 3. Beschränkte Rechtswahl: Wählbare Rechtsordnungen Auch innerhalb der beschränkten Rechtswahl ist eine Abschichtung möglich. Eine Wahl der lex fori wird lediglich durch Art. 5 Abs. 1 lit. a) Rom III-VO31 und Art. 7 Abs. 1 HUP gestattet.32 Der gewöhnliche Aufenthalt einer Partei wird nur in Art. 22 Abs. 1 lit. b) EuGüVO und Art. 8 Abs. 1 lit. b) HUP für ausreichend erachtet, um die Sachnähe zwischen Sachverhalt, forum und ius sicherzustellen.33 In Art. 5 Abs. 1 lit. b) Rom III-VO muss die Wahl des aktuellen Aufenthaltsrechts eines Ehegatten zusätzlich der Voraussetzung genügen, dass dort früher ein gemeinsamer gewöhnlicher Aufenthalt bestand. 34 In allen anderen Fällen setzt das Vorhandensein einer Wahlmöglichkeit eine gemeinsame Verbindung der Parteien zu einer Rechtsordnung voraus. Auch die Art. 5 und 7 Rom I-VO belegen, dass der gewöhnliche Aufenthalt 26
Wandt, Rechtswahlregelungen, 2014, 44 ff. Rühl, FS Kropholler, 2008, 187 (203 f.). 28 Wandt, Rechtswahlregelungen, 2014, 187 ff. 29 S.o. § 9 E. I. 1. 30 Rühl, FS Kropholler, 2008, 187 (193). 31 Wandt, Rechtswahlregelungen, 2014, 37; Gruber, Scheidung auf Europäisch ± die Rom III-Verordnung, IPRax 2012, 381 (386); Basedow, European Divorce Law ± Comments on the Rome III-Regulation, FS Pintens, 2012, 135 (141). 32 Wandt, Rechtswahlregelungen, 2014, 60 f., allerdings noch zum EuGüVO, die den Ausschluss der Wahlmöglichkeit zugunsten der lex fori in der EuGüVO und in der EuErbVO auch rechtspolitisch für angemessen hält. 33 Wandt, Rechtswahlregelungen, 2014, 46, 48. 34 Wandt, Rechtswahlregelungen, 2014, 47f. 27
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§ 10 Rechtswahlakzessorische Aufenthaltssystematik
der schutzwürdigen Partei nicht für die Anwendung einer Rechtsordnung ausreicht, sondern stets durch ein weiteres räumliches Sachverhaltselement ergänzt werden muss. In der EuErbVO ist eine Wahl des Aufenthaltsrechts von vornherein ausgeschlossen. Diese Entscheidung kann man kritisieren. Einerseits wird nicht nur ein praktisches Bedürfnis, sondern auch ein legitimes Interesse des Erblassers erkannt, das Erbstatut im Zeitpunkt der Testamentserrichtung zu fixieren, ohne dabei zwingend auf die Anwendung des aktuellen Aufenthaltsrechts zu verzichten. 35 Andererseits würde eine Ergänzung des Art. 22 Abs. 1 EuErbVO um eine Rechtswahlmöglichkeit zugunsten des gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers auch das aktuelle Anliegen der Bestimmung schlüssig fortschreiben.36 Wo einem Erblasser die Möglichkeit gewährt wird, sich durch eine Rechtswahl vor nachträglichen Veränderungen seines Erbstatuts zu schützen, ist unklar, warum sich diese nicht auch auf das aktuelle Aufenthaltsrecht beziehen sollte. 37 Eine umfassende Rechtswahlmöglichkeit besteht also nur im Hinblick auf das Heimatrecht. Die Unterschiede, die im Hinblick auf die einseitige oder beidseitige Verbundenheit der Parteien beschrieben wurden, setzen sich hier fort. Mit Ausnahme der eindeutigen Bestimmung des Art. 22 Abs. 1 EuErbVO ist außerdem unklar, ob Doppel- und Mehrstaatlern die Wahl eines nicht-effektiven Heimatrechts zusteht oder ob sie auf die gemeinsame effektive Staatsangehörigkeit verwiesen sind. 38 Schließlich herrscht Unsicherheit darüber, ob die Wahl eines künftigen Heimatrechts zulässig ist, wenn eine Einbürgerung zu erwarten ist oder unmittelbar bevorsteht.39
35 Coester-Waltjen/Coester, FS Schurig, 2012, 33 (41); Buschbaum/Kohler, Vereinheitlichung des Erbkollisionsrechts in Europa, GPR 2010, 106 (112); Beispiel bei Dutta, Die Rechtswahlfreiheit im künftigen Internationalen Erbrecht der Europäischen Union, in: Reichelt/Rechberger (Hrsg.), Europäisches Erbrecht, 2011, 57 (72). Zu den Hintergründen Bonomi, Testamentary Freedom or Forced Heirship? ± Balancing Party Autonomy and the Protection of Family Members, NIPR 2010, 605. 36 Dutta, in: Reichelt/Rechberger (Hrsg.), Europäisches Erbrecht, 2011, 57 (72). 37 S. Nachweise in Fn. 35. Rechtfertigen lässt sich die aktuelle Rechtslage allenfalls vor dem Hintergrund, dass der Gleichlauf zwischen internationaler Zuständigkeit und anwendbarem Recht in der EuErbVO wesentlich deutlicher ausgeprägt ist als im Internationalen Familienrecht. Art. 4 erklärt ebenso wie Art. 21 Abs. 1 EuErbVO das Recht am letzten gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers für maßgeblich; Art. 5 EuErbVO räumt den Nachkommen das Recht zur Angleichung von Zuständigkeit und anwendbarem Recht ein, wenn der Erblasser von seiner Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, das anwendbare Recht zu wählen und forum und ius infolgedessen auseinanderfallen. Allerdings leuchtet es nicht ein, warum sich die Angleichungsmöglichkeit nach Art. 5 EuErbVO nicht auf Fälle erweitern lässt, in denen der Erblasser sein Aufenthaltsrecht gewählt hat. 38 Überblick bei Wandt, Rechtswahlregelungen, 2014, 52±57. 39 Wandt, Rechtswahlregelungen, 2014, 49.
B. Modus
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4. Zeitpunkt der Rechtswahl Unterschiede bestehen ferner im Hinblick auf den Zeitraum, in dem eine Wahlmöglichkeit gewährt wird. 40 Nach Art. 3 Rom I-VO, Art. 22 Abs. 1, 3 EuGüVO und Art. 22 Abs. 1 EuErbVO kann eine Rechtswahlvereinbarung im Grundsatz jederzeit eingegangen und abgeändert werden. 41 Art. 14 Abs. 1 lit. a) Rom II-VO erlaubt eine Wahl demgegenüber lediglich im Nachgang an eine unerlaubte Handlung, sofern die Parteien keiner kommerziellen Tätigkeit nachgehen.42 Auch im Rahmen des Internationalen Scheidungsrechts ist die Möglichkeit einer willentlichen Bestimmung des anwendbaren Rechts grundsätzlich nur möglich, bevor ein Gericht angerufen wurde (Art. 5 Abs. 3 Rom III-VO). 43 Die Mitgliedstaaten haben aber gemäß Art. 5 Abs. 3 S. 1 Rom III-VO die Möglichkeit, abweichende Bestimmungen zu erlassen. 44 5. Form Schließlich gestalten sich die formalen Anforderungen an eine Rechtswahlvereinbarung unterschiedlich. 45 Während sich die Rechtswahl im Rahmen der Art. 3 Abs. 1 Rom I-VO, 14 Abs. 1 Rom II-VO lediglich ausreichend deutlich aus dem Vertragsinhalt ergeben muss, 46 setzen die familien- und erbrechtlichen Verordnungen der Parteiautonomie mehr oder weniger enge formale Grenzen.47 Zuletzt ist eine Rechtswahl in allen genannten Fällen nur im Rahmen der allgemeinen kollisionsrechtlichen Wirkungsschranken des ordre public und der Eingriffsnormen 48 möglich. Sie steht also einerseits unter dem Vorbehalt einer gerichtlichen Inhaltskontrolle und ist andererseits an die international zwingenden Bestimmungen des Forumstaates gebunden. III. Zusammenhang mit der Aufenthaltsanknüpfung Die vorstehende Auflistung verdeutlicht zunächst, dass der Unionsgesetzgeber die Rechtswahl je nach Sachzusammenhang und Verordnungskontext unterschiedlich ausgestaltet hat. Ebenso wie man in Ansehung des gewöhn40
Wandt, Rechtswahlregelungen, 2014, 67 ff.; Rühl, FS Kropholler, 2008, 187 (199 f.). Zur alten Rechtslage entsprechend Rühl, FS Kropholler, 2008, 187 (199). 42 Rühl, FS Kropholler, 2008, 187 (199 f.). Ausführlicher zur Systematik des Art. 14 Rom II-VO s. Vogeler, Die freie Rechtswahl im Kollisionsrecht der außervertraglichen Schuldverhältnisse, 2013, 77 ff. 43 Zur Unklarheit dieses Begriffs Wandt, Rechtswahlregelungen, 2014, 97; Gruber, IPRax 2012, 381 (386). 44 Deutschland hat diese Möglichkeit genutzt, BGBl. 2013 I, 101, knüpft diese Möglichkeit aber gemäß Art. 46 d) EGBGB an besondere Formerfordernisse. 45 Wandt, Rechtswahlregelungen, 2014, 121 ff. 46 Rühl, FS Kropholler, 2008, 187 (197). 47 Wandt, Rechtswahlregelungen, 2014, 141 ff. 48 Rühl, FS Kropholler, 2008, 187 (205 f.). 41
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lichen Aufenthalts nach Funktion, äußerem und innerem Regelungszusammenhang und Anknüpfungsprofil unterscheiden kann, lassen sich die Rechtswahlbestimmungen des sekundärrechtlichen Europäischen IPR also nach bestimmten Kategorien und Strukturbausteinen abgrenzen. Ein Vergleich der gerade erstellten Skizze mit den Differenzierungsvorschlägen, die im Rahmen des letzten Abschnitts (§ 9 A.±H.) diskutiert wurden, lässt außerdem eine gewisse Regelmäßigkeit erkennen. Konkret wird ein Zusammenhang zwischen den einzelnen Differenzierungsvorschlägen im Rahmen der Aufenthaltsanknüpfung und der Gestaltung der damit korrespondierenden Rechtswahlvorschriften erkennbar. Erstens liefert die grundsätzliche Unterscheidung zwischen beschränkten und unbeschränkten Rechtswahlbestimmungen, wie sie soeben skizziert wurde, ein zusätzliches Argument für den bereits entwickelten Vorschlag, im Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts zwischen Internationalem Schuldrecht und Internationalem Familienrecht zu differenzieren. 49 Diese konstruktiven Unterschiede zwischen der Rechtswahlmöglichkeit im Erbrecht und in den familienrechtlichen Verordnungen stützen und rechtfertigen eine verordnungsautonome Konkretisierung des gewöhnlichen Aufenthalts, wie sie die Erwägungsgründe zur EuErbVO bereits anordnen. 50 Die grundsätzliche Unterscheidung auf der Ebene der Rechtswahl wird auch der folgende Arbeitsschritt zum Anlass nehmen, um in Ansehung des gewöhnlichen Aufenthalts zwischen Internationalem Schuldrecht (1.), Internationalem Familienrecht (2.) und Internationalem Erbrecht (3.) abzuschichten. 1. Internationales Schuldrecht Im Hinblick auf das Internationale Schuldrecht (Rom I-VO und Rom II-VO) hat die Arbeit unterschiedliche Argumente dafür diskutiert, geringe Anforderungen an den Wechsel eines gewöhnlichen Aufenthalts zu stellen. Während die Literatur die punktuelle Natur vertraglicher und deliktischer Rechtsverhältnisse betont, die sie von den Dauerrechtsverhältnissen des Internationalen Familienrechts unterscheiden soll, 51 hat die vorliegende Arbeit die vertragscharakteristische Leistung (Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO) und mit ihr einen flexiblen Anknüpfungsgegenstand als Differenzierungsgrund in Stellung gebracht.52 Obwohl sie im Ergebnis beide Kriterien verworfen hat,53 hat sie sich einer Entscheidung darüber enthalten, ob die dahinterstehenden Funktionsunterschiede der Aufenthaltsanknüpfung auf einer anderen Grundlage eine Unterscheidung nahelegen. Die Abwesenheit äußerer Rechtswahlschranken, 49
S.o. § 9 A. I. 1., II. 3. S.o. § 6 A. II. 2. b). 51 S.o. § 8 B. II. 1. c); § 9 D. I. 52 S.o. § 9 D. II. 2.; § 9 D. II. 3. a). 53 S.o. § 9 D. I.; § 9 D. II. 3. b). 50
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wie sie soeben für Art. 3 Abs. 1 Rom I-VO festgestellt wurde, liefert nun ein systematisches Argument dafür, den in § 9 diskutierten Differenzierungsvorschlag auf einer anderen Grundlage beizubehalten. Wo der Gesetzgeber eine unbeschränkte Rechtswahlbestimmung einführt, überantwortet er den Parteien die Letztentscheidung darüber, welches Recht auf ein Rechtsverhältnis Anwendung finden soll. Diese legislative Weichenstellung muss auch im Rahmen einer objektiven Anknüpfung Beachtung finden, die eine unbeschränkte Rechtswahlmöglichkeit als default rule nachvollzieht. Es würde nämlich einen regelungssystematischen Bruch mit der subjektiven Anknüpfung erzeugen, wenn man der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts im Rahmen von Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO zwingend eine umfassende Gesamtbewertung der Lebensumstände des Erbringers der charakteristischen Leistung zugrunde legte. Im Rahmen der subjektiven Anknüpfung besitzen die Parteien eine zunächst unbeschränkte Wahlmöglichkeit darüber, welches Recht sie auf einen Vertrag angewendet wissen möchten, während im zweiten Fall über die erkennbaren Lebensumstände des vertragscharakteristisch Leistenden hinaus eine biographische Rekonstruktion erforderlich wäre. Auch in der Sache erscheint solch ein Aufenthaltsverständnis nicht angebracht, da die Lebensumstände eines Vertragspartners in früheren Jahren regelmäßig keinen direkten Bezug zu einem punktuellen Leistungsaustausch aufweisen. Die äußerlich unbeschränkte Natur der Rechtswahl liefert mithin ein regelungssystematisches Argument dafür, den Prüfungsmaßstab bei der Aufenthaltsbestimmung gegenüber anderen Anwendungsgebieten zu reduzieren. Auf das Recht der außervertraglichen Schuldverhältnisse lässt sich diese Überlegung nicht unbedingt übertragen. Dort kommt der gewöhnliche Aufenthalt erstens als Ausnahme von der Grundanknüpfung an den Erfolgsort zum Tragen; zweitens werden Schädiger und Geschädigter nur als Einheit berücksichtigt. Einerseits könnte man einen reduzierten Prüfungsmaßstab am Beispiel der Rom I-VO mit dem oben skizzierten Argument befürworten, die Ausnahmeanknüpfung in Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO fördere den Gleichlauf zwischen forum und ius und sei deswegen im Interesse der Parteien weit auszulegen. Andererseits wohnt dieser Überlegung nicht nur ein spekulatives Element inne, sondern ist der systematische Zusammenhang zwischen Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO und der Möglichkeit einer nachträglichen Rechtswahl, Art. 14 Abs. 1 lit. a) Rom II-VO, auch wesentlich weniger deutlich zu erkennen, als es im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 Rom I-VO und Art. 4 Abs. 2 Rom IVO der Fall ist. Die Orientierung an Rechtswahlbestimmungen liefert für die Rom II-VO also kein tragfähiges Ergebnis. 2. Internationales Familienrecht Auch im Internationalen Familienrecht erklärt, legitimiert und strukturiert eine Überprüfung am Maßstab der Reichweite sekundärrechtlicher Rechts-
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wahlbestimmungen vormals diskutierte, freistehende Differenzierungsvorschläge. Eine erste Gruppe bilden Fälle, in denen der Gesetzgeber keine Rechtswahlmöglichkeit eröffnet. Das ist nur in Art. 16 Abs. 1 KSÜ und Art. 3 Abs. 1 HUP der Fall. 54 Hier entspricht der Vorschlag eines strengen Prüfungsmaßstabs in der Aufenthaltskonkretisierung aber nicht nur der Pflicht zur umfassenden Gesamtbetrachtung, wie sie der EuGH in den Entscheidungen A und Mercredi aufgestellt hat, 55 sondern bestätigt auch die vorhandenen Überlegungen zu den Besonderheiten der Aufenthaltsbestimmung bei Kindern. Namentlich die eingriffsberechtigende Funktion des Kindeswohls 56 erfährt durch die Abwesenheit einer Rechtswahlmöglichkeit eine selbstständige Legitimation. Innerhalb der Verordnungen, in denen eine Rechtswahlmöglichkeit besteht, bietet sich eine Differenzierung im Prüfungsmaßstab der objektiven Aufenthaltsanknüpfung nach einseitigen und beidseitigen Rechtswahlbestimmungen an. Im Fall des Art. 26 Abs. 1 lit. a) EuGüVO und des Art. 3 Abs. 1 HUP rechtfertigt die korrespondierende Rechtswahlmöglichkeit zugunsten des gewöhnlichen Aufenthalts einer Partei einen reduzierten Prüfungsmaßstab bei der Aufenthaltsbestimmung. Im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 HUP wird die Tragweite dieser Unterscheidung dadurch beschränkt, dass eine Rechtswahlmöglichkeit nur für Unterhaltsvereinbarungen zwischen Volljährigen eröffnet ist, Art. 8 Abs. 3 HUP.57 Die vorliegende Arbeit hat eine Differenzierung im Aufenthaltsverständnis zwischen Erwachsenen und Kindern im Grundsatz mit dem Argument abgelehnt, dass eine gespaltete Auslegung sekundärrechtlicher Bestimmungen die Rechtssicherheit im internationalen Rechtsverkehr gefährdet. 58 Sie hat aber auch betont, dass die Aufenthaltsbestimmung bei Kindern rechtspraktisch anderen Regeln folgt als bei Erwachsenen. 59 Die vorstehenden Überlegungen führen auf diese Frage zurück; dass eine abstrakte Trennung zwischen Kinder und Erwachsenen nicht angebracht ist, folgt aus ihnen aber nicht. Bereits das Vorhandensein dieser Rechtswahlbestimmung rechtfertigt es nämlich, gemeinsam mit den im zweiten Teil der Arbeit beschriebenen unionsverfassungsrechtlichen und staatsvertraglichen Wertungsankern der Aufenthaltsermittlung bei Kindern, dass der gewöhnliche Aufenthalt soweit möglich nach einheitlichen, am Erwachsenenmaßstab ausgerichteten Grundsätzen bestimmt wird. Dafür spricht auch, dass die Anknüpfung im Rahmen des Art. 3 HUP wandelbar gestaltet ist. Die Aufenthaltsbestimmung erfolgt mithin von vornherein im Wissen um die 54
Die Rechtswahlmöglichkeit in Art. 8 Abs. 1 HUP ist auf Fälle beschränkt, in denen der Unterhaltsberechtigte mindestens 18 Jahre alt ist, s. Art. 8 Abs. 3 HUP. 55 S.o. § 6 B. II. 1., 2. 56 S.o. § 5 B. II. 3. 57 NKBGB/Bach Art. 8 HUP Rn. 3. 58 S.o. § 9 E. II. 2. b) cc). 59 S.o. § 5 B. II. 3.
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Möglichkeit, dass sich die Lebensumstände einer Person zu einem späteren Zeitpunkt ändern können. Eine zeitliche Abschichtung reduziert die Wahrscheinlichkeit von Konflikten zwischen unterschiedlichen Sachverhaltselementen, die eine Wertungsentscheidung erforderlich machen können. Diese Überlegung gilt freilich nur in Ansehung des Art. 3 Abs. 2 HUP unmittelbar. Art. 26 Abs. 3 EuGüVO gestattet dagegen nur in Ausnahmefällen ein Abweichen von der durch Abs. 1 bestimmten Regelanknüpfung. Die Differenzierung muss bei einer wechselseitigen Bezugnahme vom einen auf das andere Rechtsgebiet von den rechtsanwendenden Organen beachtet werden. Eine weitere Unterscheidung lässt sich in Ansehung des Anknüpfungszeitpunktes (s.o. II. 4.) und der Rechtswahlform (s.o. II. 5.) vornehmen. Im Internationalen Familienrecht bilden die Aufenthaltsanknüpfungen in Art. 8 Abs. 1 HUP, Art. 5 Abs. 1 lit. a), b) Rom III-VO und Art. 26 Abs. 1 lit. a) EuGüVO eine Einheit. Dass eine Rechtswahl hier gesteigerten Formerfordernissen genügen muss, spricht für eine Ausweitung des Prüfungsmaßstabs; dass im Rahmen des Art. 22 Abs. 1 EuGüVO eine nachträgliche Rechtswahl möglich ist, streitet dagegen für seine Einschränkung. 60 3. Internationales Erbrecht Im Internationalen Erbrecht bestätigt die Beschränkung der Rechtswahl auf die Staatsangehörigkeit des Erblassers (Art. 22 Abs. 1 EuErbVO) die in Erwägungsgrund 23 formulierte Pflicht des entscheidungsbefugten Spruchkörpers, den letzten gewöhnlichen Aufenthalt im Wege einer umfassenden Gesamtbetrachtung zu ermitteln. Auch zeigt sie, dass die Anknüpfung an den letzten gewöhnlichen Aufenthalt anders als in familienrechtlichen Sachzusammenhängen nicht eine vorrangige Rechtswahlmöglichkeit nachvollzieht, sondern umgekehrt die Rechtswahl geschaffen wurde, um eine Regelanknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt abzuändern. Eine praktische Konsequenz dieses umgekehrten Verhältnisses von Aufenthaltsanknüpfung und Parteiautonomie liegt darin, dass der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts im Erbrecht ein wesentlich umfangreicherer Anknüpfungszeitraum zugrunde zu legen ist als in anderen Rechtsgebieten. Dies hat zwei Konsequenzen.Erstens liefert der breite zeitliche Bezugsrahmen eine Erklärung dafür, warum bei der Bestimmung des Erbstatuts nicht nur eine Auswertung, sondern eine umfassende Gesamtbewertung der Lebensumstände des Erblassers nötig ist. Eben diese Gesamtbewertung macht regelmäßig eine Abwägung zwischen unterschiedlichen Sachverhaltselementen erforderlich. Dass der Verordnungsgeber in Erwägungsgrund 24 zur EuErbVO konkrete Vorgaben für die rechtspraktische Abwägung formuliert, 60
Eine Entscheidung kann nicht fallen, da diese Verordnungen nicht am acquis communautaire teilhaben.
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erklärt sich, zweitens, durch die Überlegung, dass der praktische Bedarf nach solchen Leitbildern im Rahmen der EuErbVO deutlich größer ist als in anderen Rechtsgebieten. Die Überlegung bestätigt aber auch die im zweiten Teil der Arbeit formulierte These, dass die in Erwägungsgrund 24 formulierten Leitlinien analog auch dann berücksichtigt werden müssen, wenn einer der dort geregelten Konflikte in einem anderen Rechtsgebiet auftritt. 61 IV. Konsequenzen für die rechtspraktische Handhabung Der letzte Abschnitt hat sich an einer groben Skizze darin versucht, ob und wie die vorhandenen Kriterien im Rahmen der Rechtswahl als Differenzierungskriterien bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts Verwendung finden können. Innerhalb der objektiven Anknüpfungen an den gewöhnlichen Aufenthalt ist anhand des Prüfungsmaßstabs zu differenzieren. Je breiter der räumliche und zeitliche Bezugsrahmen einer Rechtswahl- oder Prorogationsmöglichkeit ausgestaltet ist, desto reduzierter ist der Prüfungsmaßstab, der bei der Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts im Rahmen einer objektiven Anknüpfung anzulegen ist. Bei der Aufenthaltsbestimmung im Rahmen von Art. 4 Abs. 1 Rom I-VO ist der Prüfungsmaßstab besonders reduziert; im Rahmen von Art. 21 Abs. 1 EuErbVO folgt die Aufenthaltsbestimmung dagegen, entsprechend den Erwägungsgründen der Verordnung, aus einer biographischen Gesamtbetrachtung durch das erkennende Nachlassgericht. Weiterhin kann sich der Prüfungsmaßstab am Zeitraum orientieren, in dem eine Rechtswahlmöglichkeit besteht, das Erfordernis einseitiger oder beidseitiger Verbundenheit der Parteien und die Zahl der zur Verfügung stehenden Alternativen der Rechtswahl berücksichtigen und sollte schließlich den Umfang und die Intensität der Formanforderungen an die Rechtswahlvereinbarung beachten. Die Aufzählung hat auch gezeigt, dass weder die hier vorgeschlagene Differenzierung sämtliche Anknüpfungszusammenhänge der Aufenthaltsanknüpfung erfasst, noch sich alle Möglichkeiten der Differenzierung im Rahmen der Rechtswahl in Vorgaben an die Aufenthaltsbestimmung umsetzen lassen. Trotzdem liefert das hier skizzierte Modell nicht nur einen alternativen Legitimationsansatz für vorhandene, in ihrer Begründung aber streitbare Differenzierungsvorschläge, sondern bestätigt auch die Praxis der funktionalen Unionsgerichte. Namentlich eine wechselseitige Bezugnahme zwischen dem unterhaltsrechtlichen und sorgerechtlichen Aufenthaltsbegriff erweist sich bei Kindern als berechtigt. Diesen Bezug stellt der österreichische OGH im Rahmen der internationalen Zuständigkeit her; 62 der zugrundeliegende Ge61 62
S.o. § 6 A. II. 2. b) bb). OGH ± 1Ob 91/13h, s.o. § 6 B. II. 1. b) cc) (1).
C. Berechtigung
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danke hat nach dem Vorgesagten aber auch auf der Ebene des anwendbaren Rechts seine Berechtigung. Die oben skizzierten systematischen Zusammenhänge erweisen sich damit nicht nur als praktikabel, sondern bestätigen auch eine bereits vorhandene Tendenz in der Rechtspraxis. Offen ist damit noch, ob sich eine Abschichtung im Aufenthaltsverständnis am Maßstab der Rechtswahl nicht nur systematisch, sondern auch inhaltlich rechtfertigen lässt. Der folgende Schritt wird zeigen, dass sowohl teleologische (C. I. 2.) als auch rechtspraktische (C. II.) Erwägungen für die Differenzierung sprechen.
C. Berechtigung eines rechtswahlakzessorischen Aufenthaltsverständnisses C. Berechtigung
I. Aufenthaltsanknüpfung als Rechtswahlkorrelat 1. Kein nachweisbarer Wertungszusammenhang Im Schrifttum wird die Ansicht vertreten, dass der gewöhnliche Aufenthalt und die Rechtswahl im sekundärrechtlichen IPR der Union auf einer identischen unionsprimärrechtlichen Wertungsgrundlage beruhen. 63 Als Äkleiner Bruder der Rechtswahl³, mithin als Ergänzung zur Parteiautonomie, soll die Aufenthaltsanknüpfung eine allgemeine Aufwertung des Willens und der Selbstbestimmung der Einzelperson durch die EU-Grundrechte und die Unionsbürgerschaft zum Ausdruck bringen. 64 Gegenüber dem autonomen IPR der Bundesrepublik, wo die Aufenthaltsanknüpfung funktional dem Staatsangehörigkeitsprinzip verpflichtet war, soll damit eine Bedeutungsverschiebung verbunden sein. 65 Das gemeinsame Fundament von Aufenthaltsanknüpfung und Rechtswahl will man nicht zuletzt in den Mobilitätsgarantien erkennen, die dem Einzelnen durch das Unionsprimärrecht zugesprochen werden.66 Dieser Überlegung muss man ihre Berechtigung nicht absprechen, um zu erkennen, dass sie sich für die Zwecke der vorliegenden Arbeit als ungeeignet er63
So Weller, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0-Verordnung?, 2013, 293 (320), und ders., FS Coester-Waltjen, 2015, 897 (907); ähnlich Muir Watt, Reshaping Private International Law in D &KDQJLQJ :RUOG *XHVW (GLWRULDO ÄParty mobility WKURXJK FKRLFH RI ODZ³ DEUXIEDU XQWHU . 64 Weller, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0-Verordnung?, 2013, 293 (320). 65 Weller, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0-Verordnung?, 2013, 293 (320). 66 Weller, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom 0-Verordnung?, 2013, Ä'HPJHJHQEHURULHQWLHUt sich das Europäische Kollisionsrecht an den Leitbildern der EU-Verträge: Mobilität XQGJUHQ]EHUVFKUHLWHQGH)UHLKHLW³
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weist. Erstens enthält sie sich einer Entscheidung darüber, welche Garantien des Unionsprimärrechts sie als Fundament grenzüberschreitender Mobilität in Stellung bringen möchte. Das wäre aber gerade erforderlich, damit sich eine Verbindungslinie zwischen Unionsbürgerschaft und EU-Kollisionsrecht nicht nur behaupten, sondern verbindlich nachweisen lässt. 67 An früherer Stelle wurde außerdem darauf hingewiesen, dass sich die Wertungen, die im Unionsrecht zur Übernahme des gewöhnlichen Aufenthalts geführt haben, keineswegs zweifelsfrei nachweisen lassen. 68 Drittens schließlich muss sich der Versuch einer Rückanbindung an die Mobilitätsgrundrechte des EU-Primärrechts dazu verhalten, warum die Rom-Verordnungen und mit ihnen die Aufenthaltsanknüpfung und Parteiautonomie auch auf die Angehörigen von Drittstaaten Anwendung finden. Diese Personen kommen zwar nicht in den Genuss der Privilegien, die mit der Unionsbürgerschaft verbunden sind; wohl aber werden sie durch die Verbürgungen der EU-Grundrechtecharta geschützt. 69 Je nachdem, welches Freiheitsrecht man der gesetzgeberischen Entscheidung für die Kombination von Aufenthaltsanknüpfung und Rechtswahl zugrunde legen möchte, können der persönliche Anwendungsbereich der primärrechtlichen Verbürgung und der räumlich-persönliche Anwendungsbereich der Verordnung also auseinanderfallen und einen Begründungsbedarf auslösen. 2. Technische und kompetenzielle Parallelen Diesen Unwägbarkeiten zum Trotz finden sich ausreichend Indizien, um die gesetzgeberische Entscheidung für Aufenthaltsanknüpfung und Rechtswahl auf eine identische oder zumindest ähnlich gelagerte Motivation zurückzuführen. Im Rahmen der rechtspolitischen Diskussion um den gewöhnlichen Aufenthalt (§ 3 B. II.) hat die Arbeit festgestellt, dass der Verordnungsgeber sich nur vorsichtig zu den Gründen für die Wahl der Aufenthaltsanknüpfung verhält. Einerseits wird der Anknüpfungspunkt mit der wachsenden Mobilität der Unionsbürger (Erwägungsgrund 23 EuErbVO) in Verbindung gebracht. Andererseits soll er durch seine ÄModernität³ überzeugen, die die Arbeit aber mehr in technischen Besonderheiten des gewöhnlichen Aufenthalts als in seiner ideologischen Basis erkennen will. 70 Die Arbeit hat daraus die Ansicht entwickelt, dass der zunehmende Einsatz des gewöhnlichen Aufenthalts mit der Entwicklung des Unionsprimärrechts und dessen praktischer Handhabung in einem nicht näher bestimmbaren, aber als solchem erkennbaren Zusammenhang steht. Insbesondere hat sie argumentiert, dass der beschränkende 67
Dazu oben § 3 B. II. 2. S.o. § 3 B. II. 1., § 3 B. II. 4. 69 NKEuGrCh/Borowsky Art. 51 EuGrCh Rn. 16 m.Verw. auf von Bogdandy/Bast/Kühling, Europäisches Verfassungsrecht, 2. Auflage 2009, 686 in Fn. 192. 70 Dazu oben § 3 B. II. 2. 68
C. Berechtigung
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Einfluss des Unionsrechts auf die nationalstaatliche Regelungsautonomie im Bereich des Staatsangehörigkeitsprinzips infolge der namensrechtlichen Judikate des EuGH mittlerweile ein solches Ausmaß angenommen hat, dass die Staatsangehörigkeit konzeptionell unattraktiv geworden ist. 71 Entsprechend scheint der Standpunkt berechtigt, dass der Schaffung von Rechtswahlmöglichkeiten eine ähnliche gesetzgeberische Motivation zugrunde liegt. 72 Mit der Parteiautonomie greift die Kollisionsrechtsharmonisierung einerseits auf ein Anknüpfungsprinzip des Schuldvertragsrechts zurück, das insbesondere in den industrialisierten Teilen der Welt weithin anerkannt ist. 73 Anders als im nationalen und staatsvertraglichen Kontext muss der Verordnungsgeber andererseits aber ex ante eine unüberschaubare Fülle von Kontakten zwischen unterschiedlichen Rechtsordnungen nicht nur einer räumlich und sachlich gerechten Regelung unterwerfen, sondern auch mögliche, ihrerseits aber kaum wägbare Einflüsse des Unionsprimärrechts beachten. Zudem ist er gehalten, das in Art. 81 Abs. 2, 3 AEUV festgeschriebene Regelungsziel umzusetzen und eine rechtssichere und vorhersehbare Kollisionsrechtslandschaft zu schaffen. Sofern der Gesetzgeber ausschließlich mit objektiven Anknüpfungen arbeiten würde, müsste er entsprechend die Möglichkeit vorhersehen, dass seine Lösung in der praktischen Anwendung Konfrontationen mit dem Unionsprimärrecht erzeugt. 74 Durch die Schaffung von Rechtswahlmöglichkeiten räumt er Anknüpfungssubjekten dagegen das Recht ein, die gesetzgeberisch antizipierte Interessenallokation selbstständig zu korrigieren. Ein Bedarf für solche Korrekturen kann namentlich dann entstehen, wenn das Ergebnis einer objektiven Anknüpfung im Einzelfall schwer vorhersehbar erscheint oder Ergebnisse erzeugt, die die Parteien für unangebracht halten. Einzelpersonen erhalten vermöge der Rechtswahl also nicht nur eine Option, das Ergebnis
71
S.o. § 3 B. II. 5. b). Zum Streit um die aprioristische oder abgeleitete Grundlage der Rechtswahl Basedow, RabelsZ 75 (2011), 31 (34) m.Verw. auf Frankenstein, Internationales Privatrecht, Band II, 1929, 159; zum Zusammenhang zwischen Vertragstheorien und Rechtswahl ibid., 48. Kroll-Ludwigs, Parteiautonomie, 2013, 148, 252 ff., möchte die freie Rechtswahl als Ausprägung der allgemeinen Handlungsfreiheit lesen, in der sie wiederum einen allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts erkennt. Zusammenfassend auch Kuipers, EU Law and Private International Law, 2012, 44 f. 73 Zu den Ausnahmen s. aber Basedow, RabelsZ 75 (2011), 32 (33 ff.). 74 Dieser Gedanke überschneidet sich mit der häufig wiedergegebenen Überlegung Kegels, wonach es sich bei der Rechtswahl XP HLQH Ä9HUOHJHQKHLWVO|VXQJ³ KDQGHOt, ders., Internationales Privatrecht, 1. Auflage, 1960, 208; Nachweise statt vieler bei Coester-Waltjen/Coester, Rechtswahlmöglichkeiten im Europäischen Kollisionsrecht, FS Schurig, 2012, 33, Fn. 16. Im Unionsrecht sind es weniger Verlegenheit als vielmehr die Unwägbarkeit der Rechtsentwicklung und die Unvorhersehbarkeit der praktischen Handhabung harmonisierten Kollisionsrechts, die die Attraktivität der Rechtswahl begründet. 72
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einer objektiven Anknüpfung vorhersehbar zu gestalten, 75 sondern können diese außerdem zu ihren eigenen Gunsten korrigieren. Ebenso wie der gewöhnliche Aufenthalt kann man die Rechtswahl also als einen Mechanismus verstehen, mit dem die Gesetzgebungsorgane der Union ihre Gesetzgebungsaktivität gegenüber Äunvorhersehbaren³ primärrechtlichen Implikationen immunisieren. II. Praktische Gründe Rechtspraktisch empfiehlt sich eine Differenzierung im Umgang mit der Aufenthaltsanknüpfung am Maßstab der Rechtswahl aus zwei Gründen. Erstens verdeutlicht das zuvor skizzierte Modell, dass dem Gesetzgeber im Rahmen einer Rechtswahlregelung eine größere Bandbreite an Abstufungsmöglichkeiten zur Verfügung steht als im Rahmen der objektiven Aufenthaltsanknüpfung. Bei der Schaffung einer subjektiven Anknüpfung kann er über den Anknüpfungszeitraum, die Form und die Anforderungen an die inhaltliche Eindeutigkeit der Rechtswahl steuern, wie viel Freiheit er den Parteien von staatlicher Antizipation des ex ante abstrakt gerechtesten Rechts einräumen möchte. Im Rahmen einer objektiven Anknüpfung sind die Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers reduzierter. Freilich kann er vermöge einer wandelbaren oder unwandelbaren Anknüpfung bestimmen, ob sich Veränderungen in den Lebensumständen einer Person auf das anwendbare Recht auswirken. Auch kann er über den Anknüpfungszeitpunkt frei verfügen. Durch eine ausschließliche oder kombinierte Anknüpfung kann der Gesetzgeber schließlich festlegen, welche Anknüpfungssubjekte bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts eine Rolle spielen sollten. 76 Eine mit der Rechtswahl vergleichbare Präzision in der Bestimmung des Anknüpfungszeitraums lässt sich mit der Regelung der objektiven Anknüpfung aber ebenso schwer erreichen wie eine Absicherung staatlicher Kontrolle und ausreichender Parteiinformation über formale Anforderungen an das anwendbare Recht. Zweitens lässt sich am Maßstab der Rechtswahl eben jene rechtsaktübergreifende Systematik erkennen, die dem gewöhnlichen Aufenthalt gerade fehlt. Eine Konkretisierung der Aufenthaltsanknüpfung über die Rechtswahl verspricht also gerade den Kohärenzgewinn, den die Grundlegung zur vorliegenden Arbeit als nötige Voraussetzung dafür identifiziert hat, die technische Funktionsfähigkeit des gewöhnlichen Aufenthalts zu erhalten. Schließlich deutet die Geschichte des gewöhnlichen Aufenthalts an, dass der Begriff ei-
75
Dazu Pfütze, Die Inhaltskontrolle von Rechtswahlvereinbarungen im Rahmen der Verordnungen Rom I bis III, ZEuS 2011, 35 (39, 45); Coester-Waltjen/Coester, FS Schurig, 2012, 33. 76 von Bar/Mankowski, IPR I, § 7 Rn. 7 ff.
D. Thesen
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ner ähnlichen Entwicklung zum Ausdruck verhilft wie die Rechtswahl. 77 Einerseits fällt der Beginn des eigentlichen Erfolgswegs der Aufenthaltsanknüpfung im Haager Staatsvertragsrecht zeitlich mit einer erkennbaren Entflechtung von internationalen Beziehungen und Internationalem Privatrecht zusammen. Das ist beachtlich, obwohl der Begriff, wie gezeigt wurde, selbst keinen Beitrag zu dieser Entwicklung leistet. 78 Andererseits lässt die Entwicklung des Aufenthaltsbegriffs in nationalen Rechtsordnungen die Tendenz erkennen, seine Bestimmung so weit als möglich vom privatrechtlichen Statusverhältnis und der hoheitlichen Einflussnahme auf die persönlichen Rechtsverhältnisse einer Einzelperson zu entkoppeln. Freilich ist es schwer, eine genetische Verbindung zwischen Aufenthaltsanknüpfung und Rechtswahl verbindlich nachzuweisen; dennoch erscheint die Vermutung erlaubt, dass sich der Erfolgsweg beider Anknüpfungsmodelle in einen ganz allgemeinen Strukturwandel einfügt, den man mitunter im internationalen Recht erkennen möchte.79 In dieser Entwicklung rückt unter anderem der Status der Einzelperson vom Gegenstand zum Träger von Rechtsnormen auf. 80 Die Hoffnung ist daher berechtigt, dass beide Anknüpfungsmomente im regionalen Rahmen des Unionsrechts einen Beitrag dazu leisten, dass diese bereits begonnene Entwicklung nicht zum Stillstand kommt.
D. Thesen D. Thesen
1. Dass die unter § 9 diskutierten Differenzierungskriterien isoliert betrachtet abzulehnen sind, widerlegt nicht den Bedarf nach einer abstrakten Differenzierung im Verständnis des gewöhnlichen Aufenthalts. 2. Sofern der gewöhnliche Aufenthalt eine beschränkte Rechtswahlbestimmung konkretisiert, ist er begrifflich von objektiven Aufenthaltsanknüpfungen zu unterscheiden.
77
Dazu Basedow, RabelsZ 75 (2011), 32 (45 ff.). S.o. § 4 B. I. 79 Statt vieler realistisch Simma, From Bilateralism to Community Interest in International Law, 250 RdC (1994), 217 (320 ff.); zukunftsgerichtet dagegen FassbenderÄ:H WKH 3HRSOHV RI WKH 8QLWHG 1DWLRQV³ &RQVWLWXHQW 3RZHU DQG &RQVWLWXWLRQDO )RUP LQ ,QWHU national Law, in: Loughlin et al. (Hrsg.), The Paradox of Constitutionalism: Constituent Power and Constitutional Form, 2007, 269; Cançado Trindade, International Law for Humankind: Towards a New Jus Gentium, RdC 316 (2005) 203. Verbindungslinien zum IPR unter anderem bei Kohler, Symposium Spellenberg, 2006, 9 (12 ff.). 80 Cançado Trindade RdC 316 (2005) 203 ff. 78
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3. Die unterschiedlichen objektiven Anknüpfungen an den gewöhnlichen Aufenthalt sind am Maßstab der Reichweite der Rechtswahlbestimmungen abzuschichten, die ihnen jeweils zur Seite gestellt werden. 4. Rechtspraktisch erfolgt die Differenzierung im Aufenthaltsverständnis durch einen abgestuften Prüfungsmaßstab. Sofern die Parteien das anwendbare Recht gewählt haben, entfällt insoweit die Notwendigkeit, die im Rahmen der objektiven Anknüpfung durch Anknüpfungspunkte ausgewiesene räumliche Nähebeziehung zwischen den Parteien eines Rechtsverhältnisses und dem berufenen Sachrecht gerichtlich festzustellen oder im Rahmen einer an formelle Hürden gebundenen Rechtswahl gerichtlich zu überprüfen. Da die Rechtswahlmöglichkeiten im Unionskollisionsrecht ihrerseits unterschiedlich breit gestaltet sind, gestaltet sich der Prüfungsmaßstab graduell unterschiedlich, folgt aber einer rechtsaktübergreifend systematisierbaren Skala. Es gilt: Je umfangreicher die Möglichkeit einer Rechtswahl ist, desto reduzierter ist der Prüfungsmaßstab bei der Konkretisierung des Tatbestandes einer korrespondierenden objektiven Anknüpfung. 5. Die Rechtswahlbestimmungen des Europäischen IPR lassen sich grundsätzlich in beschränkte und unbeschränkte Tatbestände einteilen. Eine weitere Unterscheidung ist in Ansehung des Zeitpunktes der Rechtswahl, der Anzahl der wählbaren Rechtsordnungen und der Formerfordernisse möglich. 6. Die Systematik der Rechtswahl liefert eine selbstständige Legitimationsgrundlage für eine rechtspraktische Differenzierung im Umgang mit der Aufenthaltsanknüpfung. Sie bietet sich insbesondere in Fällen an, in denen zwar ein Differenzierungsbedarf erkannt wurde, mögliche Differenzierungskriterien sich aber als untauglich erwiesen haben. Schließlich bestätigt eine rechtswahlbezogene Abschichtung im Aufenthaltsverständnis vorhandene Tendenzen in der Rechtsprechung der funktionalen Unionsgerichte. 7. Zwar ist es nicht mit ausreichender Sicherheit möglich, Aufenthaltsanknüpfung und Rechtswahl verlässlich auf eine identische unionsprimärrechtliche Wertungsgrundlage zurückzuführen. Festzuhalten ist aber, dass der Verordnungsgeber durch beide Anknüpfungsmomente seine Gesetzgebungstätigkeit gegenüber künftigen Unwägbarkeiten in der Rechtsentwicklung absichert. 8. Die vorhandene Systematik der Rechtswahl leistet so einen entscheidenden Beitrag zu dem Vorhaben, die Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt unter einem kohärenten Erklärungsrahmen zusammenzufassen und für vorhersehbare Anknüpfungsergebnisse zu sorgen.
Literaturverzeichnis Literaturverzeichnis
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