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German Pages 581 Year 2002
HEIKO HOLSTE
Der deutsche Bundesstaat im Wandel (1867-1933)
Schriften zur Verfassungs geschichte Band 65
Der deutsche Bundesstaat im Wandel (1867-1933)
Von
Heiko Holste
Duncker & Humblot . Berlin
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und mit Hilfe von Forschungsmitteln des Landes Niedersachsen.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Holste, Heiko: Der deutsche Bundesstaat im Wandel (1867-1933) / von Heiko Holste. - Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Schriften zur Verfassungs geschichte ; Bd. 65) Zug!.: Göttingen, Univ., Diss., 2001 ISBN 3-428-10660-1
Alle Rechte vorbehalten
© 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübemahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0553 ISBN 978-3-428-10660-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97069
Vorwort Diese Arbeit lag der Juristischen Fakultät der Georg-August Universität zu Göttingen im Sommersemester 2001 als Dissertation vor. Ich danke Herrn Professor Dr. Hans H. Klein, Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D., für die Anregung und Begutachtung der Arbeit. Herr Professor Dr. Wemer Heun hat freundlicherweise das Zweitgutachten erstellt. Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat das Entstehen dieser Arbeit durch ein Graduiertenstipendium gefördert. Die Veröffentlichung erfolgt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie mit Hilfe eines Druckkostenzuschusses der Juristischen Fakultät der Georg-August-Universität zu Göttingen. Mein besonderer Dank gilt Brigitte Kiel, Ulrike Lange, Kirsten Riedel und - nicht zuletzt - Dr. Frauke Wilken, die mir bei der Arbeit sehr geholfen haben. Berlin, im Januar 2002
Heiko Holste
Inhaltsübersicht A. Einführung.......................................................... 25 I. "Der" deutsche Bundesstaat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 25 11. Theoretische Annäherung an "den" Bundesstaat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 25 III. Gegenstand und Methode dieser Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 28 B. Föderale Elemente im deutschen Staatsleben bis 1866. . . . . . . . . . . . . . . . . ... 31 I. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. 31 11. Der Rheinbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 48 111. Der Deutsche Bund. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 59 IV. Die Paulskirchenverfassung . . ... . . ... .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 78 C. Das Bismarck-Reich als Bundesstaat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. I. Der Norddeutsche Bund und die Reichsgründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 11. Der deutsche Bundesstaat nach der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 und seine Entwicklung ......................... III. Die juristische Konstruktion und Legitimation des Reiches als Bundesstaat. ........................................................... D. Die Weimarer Republik als Bundesstaat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Entstehung des Weimarer Bundesstaates. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Der deutsche Bundesstaat nach der Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 und seine Entwicklung .................................. III. Der Bundesstaat als Gegenstand der Weimarer Staats(rechts)lehre .....
95 95 128 243 265 265 293 513
E. Zusammenfassung ................................................... 539 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577
Inhaltsverzeichnis A. Einf"lihrung......................................................... 25 I. "Der" deutsche Bundesstaat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 25 11. Theoretische Annäherung an "den" Bundesstaat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 25 ill. Gegenstand und Methode dieser Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 28 B. Föderale Elemente im deutschen Staatsleben bis 1866 . . . . . . . . . . . . . . . .. I. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation.. . . . . . . ... . . . . . . .. . .. 1. Die Verfassung des Reiches nach dem Westfalischen Frieden ...... a) Struktur des Reiches. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Kaiser und Reich. ... . . .. . . . .... . . . . ... . . ... . .. .. . . . . .... .. c) Reichsstände und Landeshoheit... . .. ... . . . .. . .. . . . . . . .... .. 2. Die zeitgenössische Diskussion um die Staatsform des Reiches und die Entstehung der Bundesstaatsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Traditionelle Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Hugo, Leibniz und die "Geburts stunde des Bundesstaates" . .. .. c) Pufendorf: Das Reich als ,,Monstrum" . . . ... . ... .. ... . . . . .. .. d) Der "zusammengesetzte Staat" und die Staatlichkeit des Reiches ..................................................... e) Legitimation, "Lobredner" und Realität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Die Staatsform des Alten Reiches. . . . . . .. . . . . . . ... .. .. . . . . . . . .. 4. Das Alte Reich - Grundlage des Föderalismus in Deutschland . . . .. 11. Der Rheinbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Entstehung und Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Die Verfassung des Rheinbundes ......................... . . . . .. 3. Zur Rechtsnatur des Rheinbundes. . . . . . . . ... . . ... . .. .. . . . . ... . .. a) Die formelle Lage nach der Bundesakte. .. . ... . .. . . . . . . ... . .. b) Die materielle Lage nach der Staatswirklichkeit. . . . . . . . . . . . . .. 4. Der Rheinbund und die Bundesstaatsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . .. 5. Der Rheinbund - Briickenschlag vom Reich zum Bund. . .. . . .. . .. ill. Der Deutsche Bund. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Die Entstehung des Deutschen Bundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Die politischen Rahmenbedingungen nach den Befreiungskriegen ...................................................... b) Der Plan einer preußisch-österreichischen Doppel-Hegemonie.. c) Das Scheitern der Hegemoniepläne und die Gründung des Deutschen Bundes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Die Verfassung des Deutschen Bundes .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Die Quellen der Bundesverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
31 31 32 32 32 37 39 39 40 41 42 43 44 45 48 48 51
52 52 53 55 57 59 59 59 61 63 63 63
Inhaltsverzeichnis
10 b) c) d) e)
Die Rechtsnatur des Bundes nach seiner formellen Verfassung.. Die Mitglieder und die Struktur des Bundes. .. . . . . . . . . . . . . . .. Der Bundeszweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. Die Bundeskompetenzen . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . .. . . . . ... . .. f) Die Organisation des Bundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. g) Der Einfluss des Bundes auf die Gliedstaaten. . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Verfassungswirklichkeit und -entwicklung des Deutschen Bundes. .. 4. Die Rechtsnatur des Bundes nach seiner materiellen Verfassung. . .. 5. Die Entwicklung der Bundesstaatstheorie . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. 6. Der Deutsche Bund - Föderalismus zwischen Restauration und Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. IV. Die Paulskirchenverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Entstehen und Scheitern der Paulskirchenverfassung . . . . . . . . . . . . .. 2. Die Entscheidung für den deutschen Bundesstaat. . . . . . . . . . . . . . . .. a) Die Entscheidung über die verfassungs gebende Gewalt - Vorentscheidung für den Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Die Beratungen der Nationalversammlung.... . .. . .. . . . . . .. . .. 3. Der Bundesstaat der Paulskirchenverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Das Bundesstaatsprinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Die Teilung von Kompetenzen und Mitteln. . .. . . . .. . . . . . .. . .. c) Der Einfluss der Gliedstaaten auf die Gesamtwillensbildung . . .. d) Der Einfluss des Reiches auf die Einzelstaaten. . . . . . . . . . . . . . .. e) Die Koordination von Reich und Einzelstaaten. . . . . . . . . . . . . . .. 4. Die Paulskirchenverfassung - Modell des demokratischen Bundesstaates.......................................................
64 64 65 65 66 67 69 71 72
C. Das Bismarck-Reich als Bundesstaat. . . . . . . .. ... .. . . ... . . .. . . .. ...... I. Der Norddeutsche Bund und die Reichsgründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Das Ende des Deutschen Bundes und der Weg zum Norddeutschen Bund ........................................................ 2. Die Gründung des Norddeutschen Bundes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Parallelität von Staatsgründung und Verfassungsgebung . . . . . . .. b) Die politischen Faktoren der Staatsgründung und ihr Gewicht .. 3. Die Entscheidung für die föderale Organisation des Norddeutschen Bundes ...................................................... a) Bismarcks Verfassungsprogramm und der Föderalismus ........ aa) Verschleierung der preußischen Hegemonie ............... bb) Vollendung der nationalen Einheit ....................... cc) Verhinderung der Parlamentarisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Die verbündeten Regierungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. c) Der Norddeutsche Reichstag ................................ 4. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. April 1867 .... 5. Die bismarcksche Bundesverfassung als Erbe von Wien und Frankfurt .........................................................
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Inhaltsverzeichnis a) Das Bundesstaatsprinzip - Verhältnis von Gesamtheit und Gliedem ..................................................... b) Die Teilung der Kompetenzen und Mittel .................... c) Die Organisation des Bundes und der Anteil der Gliedstaaten an der Willensbildung des Gesamtstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. d) Der Einfluss des Gesamtstaates auf die Gliedstaaten. . . . . . . . . .. e) Die Koordination von Gesamtstaat und Gliedstaaten. . . . . . . . . .. f) Resümee................................................. 6. Die Bundesstaatslehre und die Rechtsnatur des Norddeutschen Bundes ...................................................... a) Die Bundesstaatslehre um 1866 ............................. b) Zeitgenössische Urteile über die Rechtsnatur des Norddeutschen Bundes ................................................... c) Folgen für die Entwicklung der Bundesstaatslehre ............. 7. Der Norddeutsche Bund als Weichenstellung für die deutsche Bundesstaatsentwicklung .......................................... 8. Der Weg zur Reichsgründung 1870171 .......................... a) Die Novemberverträge und die Frage von Gründung oder Beitritt ...................................................... b) Reformbemühungen um die Bundesstaatlichkeit im Zuge der Reichsgründung ........................................... 11. Der deutsche Bundesstaat nach der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 und seine Entwicklung ......................... 1. Reich und Bundesstaaten ...................................... a) Die doppelte Staatlichkeit .................................. b) Die Gliedstaaten des Reiches ............................... aa) Natürliche Heterogenität der Gliedstaaten ................. bb) Die eigene Legitimation der Gliedstaaten ................. cc) Staatsvolk und Staatsangehörigkeit der Gliedstaaten . . . . . . . dd) Die Rechte der Gliedstaaten im Reich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Bestandsgarantie der einzelnen Gliedstaaten? ............. (1) Verfassungstext .................................... (2) Die Meinungen in der Staatsrechtslehre ............... (3) Resümee .......................................... c) Gliedstaatliche Verfassungsautonomie und Homogenitätsgebote des Reiches. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. aa) Keine Homogenitätsgebote der Reichsverfassung . . . . . . . . .. bb) Ausprägungen der Verfassungsautonomie ................. cc) Grenzen gliedstaatlicher Verfassungsautonornie in der Staatspraxis ........................................... (1) Mittelbare Eingriffe des Reiches. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Direkte Eingriffe des Reiches ....................... (3) Politisch geforderte, aber unterbliebene Eingriffe des Reiches ........................................... dd) Resümee .............................................
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Inhaltsverzeichnis (1) Ungeschriebene Homogenitätsgebote ................. (2) Der bewusste Verzicht auf eine Po si ti vierung der Homogenitätsgebote .................................. (3) Die Grenzen gliedstaatlicher Verfassungsautonomie und ihre Bestimmung als Frage politischer Opportunität. . .. d) Grundsätze der föderalen Beziehungen zwischen Reich und Gliedstaaten .............................................. aa) Das Verhältnis zwischen Reich und Gliedstaaten .......... bb) Das Verhältnis der Gliedstaaten untereinander. ............ (1) Grundsatz der Rechtsgleichheit? ..................... (2) Verfassungsrechtlich bestimmte Ungleichheit. ......... (a) Präsidialrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. (ß) Vorzugs- oder Sonderrechte ..................... (1) Ausnahrne- oder Reservatrechte ................. (3) Hegemonie, Privilegien und ihr Bedeutungswandel. .... cc) Bundestreue .......................................... (1) Die herrschende Staatsrechtslehre .................... (2) Bismarcks Treue-Verständnis ........................ (3) Smends Lehre von der Bundestreue .................. e) Bestandsgarantie der bundesstaatlichen Ordnung? ............. aa) Der Verfassungswortlaut. . . .. . . .. . . . .. . . . .. .. .. . . . .. . . . . bb) Die Meinungen in der Staatsrechtslehre .................. cc) Resümee ............................................. 2. Die Verteilung von Kompetenzen und Mitteln zwischen Reich und Gliedstaaten .................................................. a) Grundsätze und Kompetenz-Kompetenz ...................... aa) Positiv bestimmte und begrenzte Reichskompetenzen ...... bb) Aufteilung nach Funktionen und Sachgebieten ............ cc) Verfassungsänderungen und Kompetenz-Kompetenz . . . . . . . dd) Probleme der Kompetenzabgrenzung aufgrund der Verfassungsentwicklung ...................................... b) Gesetzgebung............................................. aa) Quellen der Gesetzgebungskompetenzen des Reiches ...... (1) Geschriebene Gesetzgebungskompetenzen ............ (2) Ungeschriebene Gesetzgebungskompetenzen .......... bb) Arten der Gesetzgebungskompetenzen im Reich ........... (1) Ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Reiches. (2) Fakultative oder konkurrierende Gesetzgebungskompetenz .............................................. (3) Ausschließliche Landesgesetzgebung ................. cc) Inhalte der Gesetzgebungskompetenzen von Reich und Ländem ................................................. dd) Die Verfassungsentwicklung auf dem Gebiet der Gesetzgebungskompetenzen .....................................
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Inhaltsverzeichnis (1) Ausschöpfung der verfassungsmäßigen Kompetenzen
c)
d)
e)
f)
durch das Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. (2) Veränderungen der verfassungsmäßigen Kompetenzverteilung ............................................ (a) Verfassungsänderungen ......................... (ß) Verfassungsdurchbrechungen .................... (y) Notgesetze während des Kriegsregimes ........... (3) Resümee .......................................... Verwaltung............................................... aa) Grundsätze der Kompetenzverteilung ... . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kompetenzverteilung nach dem Verfassungs text . . . . . . . . . .. (I) Reichseigene Verwaltung ........................... (2) Gliedstaatlicher Vollzug der Reichsgesetze . . . . . . . . . . .. (3) Sonderformen der Kompetenzverteilung, insbesondere das Heerwesen .................................... cc) Verfassungswirklichkeit und Verfassungsentwicklung ....... (1) Ausbau der reichseigenen Verwaltung ................ (2) Vermischung von Reichsaufsicht und Reichsverwaltung. (3) Preußische Verwaltungshegemonie gegenüber anderen Gliedstaaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Verwaltungsverflechtungen zwischen dem Reich und Preußen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Unitarisierung durch Kompetenzübertragungen und horizontale Koordination. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Die Verwaltung im Krieg ........................... (7) Resümee......................................... . Auswärtige Gewalt ........................................ aa) Verfassungsrechtslage .................................. (1) Kompetenzkonkurrenz von Reich und Gliedstaaten .... (2) Konvergenz von inneren und äußeren Kompetenzen.... (3) Prärogative des Reiches und Treuepflicht der Glieder .. bb) Verfassungswirklichkeit und Verfassungsentwicklung. . . . . . . Rechtspflege .............................................. aa) Verfassungstext und Verfassungsrecht im Jahr 1871 ........ bb) Verfassungswirklichkeit und Verfassungsentwicklung ....... (1) Der Ausbau der Reichsgerichtsbarkeit ................ (2) Die Konsequenzen rur die Justizhoheit der Gliedstaaten Finanzverfassung des Reiches. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Verfassungsrechtslage im Jahr 1871 .................. bb) Die Entwicklung der Finanzverfassung ................... cc) Die Finanzverfassung zwischen Steuer- und Verfassungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. (1) Streitpunkt direkte Steuern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. (2) Der Kampf um das Einnahmebewilligungsrecht des Reichstages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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Inhaltsverzeichnis (3) Finanzföderalismus und horizontaler Finanzausgleich .. (4) Resümee......................................... . 3. Die Organe des Reiches und der Einfluss der Bundesstaaten auf die Willensbildung des Reiches .................................... a) Bundesrat ................................................ aa) Verfassungsrechtliche Stellung .......................... bb) Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Vorsitz und Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Kompetenzen des Bundesrates .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Legislative ........................................ (a) Einfache Reichsgesetzgebung ................... (ß) Verfassungsändernde Gesetze und KompetenzKompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Exekutive ......................................... (3) Rechtsprechung................................... . ee) Der Bundesrat in Verfassungswirklichkeit und -entwicklung (1) Kompetentielle Entwicklung des Bundesrates in Recht und Wirklichkeit. .................................. (2) Die Entwicklung hinsichtlich der Zusammensetzung und Arbeitsweise des Bundesrates .................. . (3) Die gliedstaatliche Mitwirkung an der Arbeit des Bundesrates. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Die Abstimmungsergebnisse im Bundesrat ............ (5) Der Bundesrat zwischen Reichsregierung und Reichstag b) Kaiser und Reichskanzler .................................. aa) Der Kaiser. ........................................... (1) Entstehung als "föderalistisch-partikularistisches" Kaisertum ............................................ (2) Wandlung zum national-unitarischen Kaisertum ....... bb) Reichskanzler ......................................... (1) Verfassungsrechtliche Stellung des Reichskanzlers ..... (2) Verfassungspolitische Dimensionen des Kanzleramtes im Zusammenhang mit der föderalen Struktur des Reiches .............................................. (3) Die Verfassungsentwicklung hin zu einer Reichsregierung .............................................. (a) Die ressortmäßige Ausbildung der Reichsämter. ... (ß) Die Einführung der Stellvertretung des Reichskanzlers ........................................... (y) Quantitative und qualitative Gewinne der Reichsregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (0) Der Wandel im Selbstverständnis der Reichsregierung und seine Auswirkung auf die föderale Ordnung ......................................... c) Reichstag .................................................
199 200 201 201 201 202 203 204 204 204 205 205 206 206 206 207 209 210 212 213 214 214 216 218 218 218 219 219 220 220 221 224
Inhaltsverzeichnis
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aa) Verfassungsrechtliche Stellung im Bundesstaat ............ bb) Föderale Aspekte des national-unitarischen Reichsorgans . . . (1) Reservatrechteklausel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Bundesstaat und Wahlrecht ......................... (3) Bundesstaat und Parteiensystem ..................... (4) Föderale Aspekte der Zusammensetzung und Arbeit des Reichstages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Der Aufstieg des Reichstages im Zuge der allgemeinen Unitarisierung bis zu den Oktoberrefonnen 1918 .......... 4. Der Einfluss des Reiches auf die Gliedstaaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Überblick................................................ b) Reichsaufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Abhängige Reichsaufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Selbständige Reichsaufsicht.. ........................... cc) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Reichsexekution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Koordination von Reich und Gliedstaaten .................... a) Die Kollision von Reichs- und Landesrecht sowie Art. 2 RV . . b) Verfassungskonflikte und ihre Lösung ........................ aa) Verfassungsrechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Gründe für den Verzicht auf eine Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Lösung föderaler Verfassungskonflikte in der Praxis .. . dd) Resümee ............................................. ill. Die juristische Konstruktion und Legitimation des Reiches als Bundesstaat. ........................................................... 1. Die Lehre von der geteilten Souveränität ........................ 2. Die These der begrifflichen Unmöglichkeit des Bundesstaates - das Reich als Staatenbund ......................................... 3. Die "vertragsmäßigen Elemente" der Reichsverfassung ............ 4. Das Reich als souveräner Staat ................................. 5. Die Staatsqualität der Glieder des Reiches ....................... 6. Die Überordnung des Reiches über die Gliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . 7. Das Reich - nur ein Fürstenbund? - Zur Rechtsbasis des Reiches .. 8. Der Träger der Souveränität und die Staatsfonn des Reiches. . . . . . . 9. Gierke, Preuß und die Genossenschaftstheorie .................... 10. Die Legitimation der bundesstaatlichen Ordnung des Reiches. . . . . . 11. Die Verfassungsentwicklung und die Bundesstaatslehre ............
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D. Die Weimarer Republik als Bundesstaat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Entstehung des Weimarer Bundesstaates. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Von der Revolution zur Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Vorentscheidungen für den Bundesstaat. ..................... a) Die unitarische Tendenz der Revolution ...................... b) Die Weichenstellungen zu Gunsten des föderalen Status quo ....
265 265 265 266 266 267
228 229 230 230 231 231 232 234 236 237 238 239 239 239 240 243 243 243
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Inhaltsverzeichnis c) Die Gründe für die Kontinuität der föderalen Ordnung. . . . . . . . . 3. Die Beratungen der Nationalversammlung über den Bundesstaat ... a) Der Regierungsentwurf..................................... b) Grundfrage: Bundesstaat oder Einheitsstaat? .................. c) Kernproblem: Neugliederung ............................... d) Kompetenzverteilung ...................................... e) Reichsrat oder Staatenhaus? ................................ 4. Das föderale Verfassungserbgut der Weimarer Verfassung .......... a) Reich und Länder ......................................... b) Verteilung der Kompetenzen und Mittel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Beteiligung der Gliedstaaten an der Willensbildung des Reiches d) Einfluss des Reiches auf die Gliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Konfliktlösung zwischen Reich und Ländern .............. f) Resümee................................................. 5. Der Bundesstaat der Weimarer Nationalversammlung - ungewollt, unitarisch und unfertig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Der deutsche Bundesstaat nach der Weimarer Verfassung vorn 11. August 1919 und seine Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Reich und Länder ............. " .............................. a) Die Länder des Deutschen Reiches. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anzahl, Struktur und Legitimation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Staatsvolk und Staatsangehörigkeit in den Ländern . . . . . . . . (1) Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsrecht . . . . . . . . . . . . (2) Die primäre Landesangehörigkeit und der unitarische Bundesstaat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Die materielle Entleerung des Staatsangehörigkeitsrechts in den Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die verfassungsrechtliche Labilität der Länder . . . . . . . . . . . . (1) Die Neugliederungsoption des Art. 18 WRV .......... (2) Veränderungen der Ländergliederung bis 1933 ......... (3) Von der rechtlichen Labilität zur faktischen Stabilität der Ländergliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Verfassungsautonomie der Länder und ihre Grenzen . . . . . . . aa) Die Homogenitätsgebote der Weimarer Verfassung ....... . bb) Die Ausprägungen der Verfassungsautonornie . . . . . . . . . . . . . cc) Resümee ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Grundsätze der föderalen Beziehungen im Weimarer Bundesstaat ..................................................... aa) Reich und Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das Verhältnis der Länder untereinander . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Grundsatz der Rechtsgleichheit ...................... (2) Faktische und rechtliche Durchbrechungen des Gleichheitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Der Gedanke der Bundestreue im Weimarer Bundesstaat ...
270 274 274 275 276 278 280 281 281 283 286 287 288 288 290 293 293 293 293 294 294 295 296 297 297 298 300 302 302 304 306 309 309 310 310 311 314
Inhaltsverzeichnis (1) Der Wandel der Rahmenbedingungen für ungeschriebe-
nes Verfassungsrecht und bündische Treuegedanken .... (2) Die Bundestreue in der Staatsrechtslehre .............. (3) Die Bundestreue in der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bestandsgarantie der föderalen Ordnung? .................... aa) Der Verfassungswortlaut. ............................... bb) Die Meinungen in der Staatsrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Resümee ............................................. e) Die Frage einer Reichsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die unitarische Frühphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Reföderalisierungsbestrebungen und Verfassungskämpfe . . . . cc) Reichsreform unter dem Spardiktat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Motive der Reformdebatte .......................... (2) Der Vorschlag der "differenzierten Gesamtlösung" . . . . . (3) Kritik und Scheitern der Reichsreforrn-Pläne .......... 2. Die Verteilung von Kompetenzen und Mitteln zwischen Reich und Ländern ............ '" ...................................... a) Grundsätze der Kompetenzverteilung und Möglichkeiten der Kompetenzveränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Prinzipien der Kompetenzverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfassungsänderungen und Kompetenz-Kompetenz ....... cc) Verfassungsdurchbrechungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Verfassungstext. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfassungswirklichkeit und -entwicklung der Gesetzgebungskompetenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Wirkungslosigkeit der verfassungsmäßigen Schranken der Reichskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Bedarfsgesetzgebung ........................... (ß) Grundsatzgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die tatsächliche Nutzung der Reichskompetenzen ...... (a) Die differenzierte Ausschöpfung der Reichskompetenzen ........................................ (ß) Die Gründe der differenzierten Kompetenznutzung . (3) Die Veränderungen der verfassungsmäßigen Kompetenzverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Entwicklung der Ländergesetzgebung ................ (a) Gesetzgebungsmöglichkeiten der Länder und ihre Nutzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ß) Föderale Koordination der Ländergesetzgebung .... (y) Resümee ...................................... (5) Verschiebungen der Kompetenzen durch die präsidialen Notverordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Holste
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Inhaltsverzeichnis
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(a) Die Diktaturgewalt des Reichspräsidenten und die
föderale Kompetenzverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
(ß) Kompetenzverschiebungen durch die Notverord-
nungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bedeutung der Kompetenzverschiebungen durch die Diktaturgewalt für die bundesstaatliche Ordnung des Reiches. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwaltung ........................................... Die Kompetenzverteilung nach dem Verfassungstext . . . . . . . Die Entwicklung der Verwaltungskompetenzen ............ (1) Ausbau der reichseigenen Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Vertikale Verflechtungen zwischen Reich und Ländern . (a) Die "unmittelbare Reichsaufsicht" als "eine Art der Reichsverwaltung" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ß) Die Reichsauftragsverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (y) Die "Fondsverwaltung" durch das Reich .......... (Ö) Die "Verreichung" von Landesverwaltungen ....... (E) Vollzugskoordination zwischen Reich und Ländern. (3) Horizontale Verflechtungen durch Koordination und Kooperation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Verwaltungszentralisierung durch die Notverordnungspraxis ............................................ Verfassungsrechtliche und -politische Aspekte der Entwicklung der Verwaltungskompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Föderale Verflechtungen als Ergebnis kompetentieller Labilität und politischer Ambivalenz. . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Grenzen föderaler Kooperation im Weimarer Bundesstaat? ............................................ Resümee ............................................. auswärtige Gewalt ..................................... Verfassungsrechtslage .................................. Verfassungspraxis und -entwicklung ..................... (1) Das Ende des auswärtigen Gesandtschaftsrechts ....... (2) Die Praxis des Vertragsschlussrechts ................. (3) Das innerdeutsche "Gesandtschaftsrecht" ............. (4) Resümee .......................................... Rechtsprechung ....................................... Die verfassungsrechtlichen Vorgaben ..................... Die Entwicklung der Kompetenzverteilung im Bereich der Gerichtsbarkeit ........................................ (1) Die "Verreichung" der Finanzgerichtsbarkeit .......... (2) Der Versuch der "Verreichung" des Republikschutzes und der Konflikt mit Bayern um den Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik ........................... (3) Die allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit. ........... (y) Die
c) Die aa) bb)
cc)
dd) d) Die aa) bb)
e) Die aa) bb)
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Inhaltsverzeichnis (4) Die Arbeitsgerichtsbarkeit .......................... (5) Politische Amnestien im föderalen Kompetenzstreit .... (6) Refonnpläne zur "Verreichung" der Justiz ............ f) Die Finanzverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die verfassungsrechtlichen Bestimmungen über die föderale Finanzordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die einfachgesetzliche Ausgestaltung der Finanzverfassung 1919/20 .............................................. (1) Die Verreichung der Steuerhoheit .................... (2) Der Finanzausgleich ................................ (3) Resümee .......................................... cc) Die Entwicklung der föderalen Finanzverfassung .......... (1) Reföderalisierungstendenzen ....................... . (2) Erhalt des Status quo ............................... (3) Finanzpolitik als Mittel zur Verfassungspolitik in der Spätphase der Republik ............................. 3. Die Organe des Reiches und der Einfluss der Länder auf die Reichswillensbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Reichstag ........ '" ..................... '" .......... aa) Die verfassungsrechtliche Stellung des Reichstages ........ bb) Wahlrecht und Bundesstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Parteiensystem und Bundesstaat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Parteiendemokratie und Bundesstaat ..................... (1) Föderalismus als Gegengewicht gegen die Parteiendemokratie? ....................................... (2) Bundesstaat als Verstärker der Gewaltenteilung in der Parteiendemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Das Weimarer Parteiensystem und die gewaltenteilige Wirkung des Bundesstaates ..................... , ... (4) Die antipluralistische These vom "Parteienbundesstaat" ee) Die politischen Parteien und ihre Haltung zum Bundesstaat b) Der Reichspräsident und die Reichsregierung. . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Reichspräsident ................................... (1) Verfassungsrechtliche Stellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Kreation, Absetzung und Stellvertretung .............. (3) Föderale Prägung durch die Parteiendemokratie ....... bb) Die Reichsregierung ................................... (1) Verfassungsrechtliche Stellung ....................... (2) Ländereinfluss und Regierungshandeln ............... (3) Der Exekutiv-Dualismus von Reich und Preußen ...... (a) Trotz Reibereien - gemeinsam für Reichseinheit und Republik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ß) Der Dualismus der mittleren Jahre und die Reichsrefonn ........................................ (y) Krisenjahre, Unionspläne und "Preußenschlag" .... 2"
19 388 389 391 393 393 394 394 396 398 400 400 401 402 405 405 405 406 407 410 411 411 413 413 415 418 418 418 419 420 421 421 422 422 422 424 426
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Inhaltsverzeichnis (0) Resümee ...................................... c) Der Reichsrat ................................... . ......... aa) Verfassungsrechtliche Stellung und Funktion ........... . .. bb) Der Reichsrat nach dem Verfassungstext ................. (1) Zusammensetzung ................................. (Cl) Gliederung nach Ländern ....................... (ß) Stimmengewicht der Länder. .................... (y) Repräsentanz durch "Bevollmächtigte" ........... (0) Sonderrege1ung für Preußen ..................... (2) Organisation des Reichsrates ........................ (3) Kompetenzen kraft Verfassung ....... . .............. (Cl) Gesetzgebung ................................. (ß) Verfassungsändernde Gesetzgebung und Kompetenz-Kompetenz ............................... (y) Verwaltung .................................... (0) Sonstige Kompetenzen nach dem Verfassungswortlaut .......................................... (4) Resümee .......................................... cc) Der Reichsrat in Verfassungswirklichkeit und -entwicklung. (1) Die Zusammensetzung: Beamteter Sachverständigenrat statt politische Tribüne ............................. (2) Die Machtverhältnisse: Preußische Dominanz statt föderaler Gleichheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Die Nutzung der verfassungsmäßigen Kompetenzen .... (Cl) Gesetzgebung ................................. (ß) Verfassungsändernde Gesetze .................... (y) Haushalt ...................................... (4) Die Entwicklung der Kompetenzen des Reichsrats ..... (Cl) "Vereinfachte Gesetzgebung" .................... (ß) Der Erlass von Rechtsverordnungen . . . . . . . . . . . . . . (y) Verwaltungs(streit)kompetenzen des Reichsrates ... (0) Der Reichsrat als Stätte horizontaler Koordination. (E) Aufwertung, Reformpläne und Entmachtung des Reichsrates durch die Notverordnungspraxis. . . . . . . (5) Parteipolitik im Reichsrat? .......................... (Cl) Beispielsfälle .................................. (ß) Gelegentliches Instrument, aber nicht Stätte der (Partei-)politik ................................. (y) Zeitgenössische Kritik an der Politisierung ........ (0) Mangelnde Politisierung des Reichsrats? ......... (6) Der Reichsrat - mehr Sein als Schein ................ d) Der Reichswirtschaftsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verfassungsrechtliche Stellung und Funktion. . . . . . . . . . . . . . bb) Föderale Aspekte bei Zusammensetzung und Arbeitsweise. . cc) Reformpläne und Reichsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
428 429 429 430 430 430 431 432 434 434 435 436 438 438 440 441 442 442 444 447 447 450 451 452 452 453 454 454 455 457 458 460 462 463 465 466 466 467 468
Inhaltsverzeichnis e) Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich. . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verfassungsrechtliche Stellung und Funktion. . . . . . . . . . . . . . bb) Föderale Aspekte der Zusammensetzung ................ . 4. Der Einfluss des Reiches auf die Länder ........................ a) Spezielle Ingerenzrechte des Reiches ........................ b) Die Reichsaufsicht. ........................................ aa) Die "Arten" der Reichsaufsicht. ......................... bb) Der Maßstab der Aufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ce) Die Mittel und Organe der Aufsicht ..................... dd) Die Reichsaufsicht in der Staatspraxis .................... (1) Die Nutzung der aufsichtsrechtlichen Instrumente ...... (2) Die Konflikte zwischen Reich und Bayern und die Handhabung der Reichsaufsicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Weitere Einzelfälle aus der Staatspraxis............... (4) Resümee .......................................... c) Die Reichsexekution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zweck, Voraussetzungen, Zuständigkeit und Mittel ........ bb) Die Reichsexekution in der Staatspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Putschjahr 1920 ................................... (Cl) Thüringische Länder und Sachsen-Gotha.......... (ß) Verfassungsrechtliche und -politische Aspekte ..... (2) Krisenjahr 1923 ................................... (Cl) Sachsen und Thüringen ......................... (ß) Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (y) Verfassungsrechtliche und -politische Aspekte ..... (3) Der "Preußenschlag" 1932 .......................... (Cl) Die politische Lage im Sommer 1932 ............ (ß) Die Reichsexekution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (y) Verfassungsrechtliche und -politische Bewertung ... 5. Die Koordination von Reich und Ländern ....................... a) Die Kollision von Reichs- und Landesrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) "Reichsrecht bricht Landrecht" .......................... bb) Bedeutungswandel der Norm im Weimarer Bundesstaat .... b) Die Verfassungsgerichtsbarkeit. ............................. aa) Organisation und Verfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der Umfang des verfassungsgerichtlichen Prüfungsrechts ... (1) Normenkontrolle.................................. . (Cl) Der Streit um eine richterliche Normenkontrolle für das Reich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ß) Meinungswandel und Reformvorschläge .......... (y) StGH: Keine "abstrakte Normenkontrolle" auf Antrag der Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Prüfungsrecht bei der Reichsexekution .. . . . . . . . . . . . . . (3) Prüfungsrecht bei den Diktaturmaßnahmen ............
21 469 469 469 471 471 473 473 473 475 477 477 478 480 481 481 481 484 485 485 486 487 488 489 490 491 491 492 492 494 494 494 495 496 496 499 499 499 501 502 503 504
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Inhaltsverzeichnis cc) Die Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit im Weimarer Bundesstaat ........................................... (1) Zahl und Gegenstand der Verfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Rechtsprechung zum Bundesstaat ................ (a) Theorie des Bundesstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ß) Unitarisierende Normenkontrolle ................. ('1) Präsidiale Diktaturgewalt und Notverordnungen ... (ö) ,,Preußenschlag"-Urteil ......................... dd) Resümee ............................................. III. Der Bundesstaat als Gegenstand der Weimarer Staats(rechts)lehre ..... 1. Zum Bedeutungswandel des Themas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beiträge der Weimarer Staatstheorie zur Bundesstaatslehre ......... a) Die Gleichordnung von Gliedstaaten und Bundesstaat bei Nawiasky .................................................... b) Der dreigliedrige Bundesstaat als Form der Dezentralisation bei Kelsen .... ; .............................................. c) Hellers Beitrag zu Bundesstaatslehre ......................... d) Die Bundeslehre Schmitts .................................. e) Smends Integrationslehre und der Bundesstaat ................ 3. Bundesstaat oder dezentralisierter Einheitsstaat? - Die Rechtsform des Reiches und die Staatsqualität der Länder .................... a) Der Bundesstaatsbegriff der herrschenden Lehre . . . . . . . . . . . . . . b) Die Frage der Bundesstaatlichkeit nach dem positiven Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Terminologie der Weimarer Verfassung. . . . . . . . . . . . . . . bb) Die formale Beurteilung nach der Drei-Elemente-Lehre .... (1) Staatsgebiet ....................................... (2) Staatsvolk ......................................... (3) Staatsgewalt - Ursprünglichkeit der Hoheitsgewalt der Länder? .......................................... cc) Die materielle Beurteilung nach dem Umfang der Hoheitsgewalt der Länder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die politische Beurteilung der Eigenstaatlichkeit der Länder und der Bundesstaatlichkeit des Reiches .................... . 4. Die Weimarer Republik - ein unitarischer Bundesstaat. . . . . . . . . . . . 5. Die Legitimation der bundes staatlichen Ordnung der Weimarer Republik .......................................................
506 506 507 507 508 509 509 511 513 513 514 514 516 518 519 521 523 523 524 524 525 525 525 526 528 529 533 535
E. Zusammenfassung.................................................. 539 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 Personen- und Sachverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . .. . 577
Abkürzungsverzeichnis In den Anmerkungen des Textes sind folgende Werke aus dem Literaturverzeichnis abgekürzt zitiert: AdR BK-GG
Akten der Reichskanzlei Bonner Kommentar zum Grundgesetz, herausgegeben von Doher/ Vogel Corpus Iuris Confoederationis Germanicae, herausgegeben von P. CICG A. G. Meyer Deutsche Verwaltungsgeschichte, herausgegeben von Jeserich/Pohl/ Dt. VerwG v. Unruh Gesammelte Werke von Otto v. Bismarck GW Handbuch des Deutschen Staatsrechts, herausgegeben von AnHdbDStR schütz!Thoma Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, herausHdbStR gegeben von Isensee/Kirchhof Handbuch des Verfassungsrechts, herausgegeben von BendaiMaiHdbVerfR hoferlVogel NV, Steno Ber Stenographiseher Bericht der Nationalversammlung (1848/49), herausgegeben von F. Wigard
A. Einführung I. "Der" deutsche Bundesstaat? Der Bundesstaat ist ein Traditionsgut deutscher Verfassungsgeschichte. Wie das Deutschland der Gegenwart durch das Grundgesetz als Bundesstaat konstituiert wird, so sahen sowohl Bismarcks Verfassung für das Kaiserreich als auch die Weimarer Verfassung eine bundesstaatliche Ordnung vor. Trotz dieser Kontinuität eines Strukturprinzips hat sich der deutsche Staat grundlegend verändert: erst Konstitutionalismus mit monarchischem Prinzip und Zügen einer Klassenherrschaft, dann republikanische Demokratie, die unter dem Ansturm autoritärer Gegner zusammenbrach und in die Katastrophe des Nationalsozialismus führte, heute schließlich eine seit über fünfzig Jahren stabile, auf sozialen Ausgleich bedachte freiheitliche Demokratie. Neben der internationalen Vielfalt bundesstaatlicher Ordnungen begründen nicht zuletzt diese wechselvollen deutschen Erfahrungen die Erkenntnis, dass es "den" Bundesstaat nicht gibt. Jede bundesstaatliche Ordnung ist eine Erscheinung eigener Art. Die spezifischen gesellschaftlichen, ökonomischen und räumlichen Bedingungen der Entstehung und die konkreten historischen Erfahrungen eines Landes verleihen jedem Bundesstaat eine eigene institutionelle und geistige Prägung.
11. Theoretische Annäherung an "den" Bundesstaat Die Allgemeine Staatslehre hat dennoch versucht, einige generelle Aussagen über Bundesstaaten zu treffen. Nach einer verbreiteten Definition ist ein Bundesstaat eine Staatenverbindung, bei der sowohl die Glieder als auch der Gesamtverband Staatsqualität besitzen. 1 Zu den weiteren Strukturmerkmalen eines Bundesstaates lässt sich Folgendes zählen: Die Aufteilung der staatlichen Kompetenzen und Mittel auf beide Staatlichkeiten durch die Gesamtstaatsverfassung, die Teilhabe der Gliedstaaten an der Willensbildung des Gesamtstaates, ein gewisser Einfluss des Gesamtstaates auf die Gliedstaaten sowie die Existenz an- und ausgleichender Instrumente der 1 Vgl. Zippelius, Allg. StaatsL, S. 64 f., 394; Stern, StaatsR I, S. 644; lsensee, in: HdbStR IV, § 98, Rn. 4; Haller/Kölz, Allg. StaatsR, S. 145; Nawiasky, Allg. StaatsL III, S. 146; G. lellinek, Allg. StaatsL, S. 769.
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A. Einführung
Koordination zur Sicherung des möglichst reibungslosen Zusammenwirkens beider Staatlichkeiten. 2 In der Theorie wird der Bundesstaat auch negativ durch die Abgrenzung von Staatenbund und Einheitsstaat definiert. 3 Danach ist der Staatenbund eine völkerrechtliche Staatenverbindung. Ihm mangelt es an Staatsqualität, weil ihm keine originäre, sondern nur von den Gliedern abgeleitete Hoheitsgewalt zukommt. Adressaten dieser Hoheitsgewalt sind nicht unmittelbar die Einwohner selbst, sondern nur die Glieder des Staatenbundes, von denen auch die Legitimation stammt. Die Souveränität, d.h. die höchste innere Regelungsmacht und die Unabhängigkeit von außerstaatlichen Gewalten, bleibt im Staatenbund bei den Gliedern. Der Bundesstaat ist dagegen eine staatsrechtliche Staatenverbindung, deren Gesamtheit selbst Staat ist und gegenüber den Einwohnern Hoheitsgewalt ausübt, die unmittelbar von ihnen legitimiert ist. Im Bundesstaat ist der Gesamtstaat souverän. Dies zeigt sich vorrangig daran, dass über die Verteilung der Kompetenzen zwischen den Staatlichkeiten auf der Ebene des Gesamtstaates entschieden wird, also dem Bundesstaat die Kompetenz-Kompetenz zusteht. Vom Einheitsstaat unterscheidet sich der Bundesstaat dadurch, dass seine Glieder nicht nur Autonomie besitzen, sondern eigene, unabgeleitete Herrschaftsmacht - Staatsgewalt - ausüben. Deshalb besitzen die Glieder eines Bundesstaates die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren. Sie haben Verfassungsautonomie. Die Rechtfertigung bundesstaatlicher Ordnungen wurzelt in der Idee des Föderalismus, der erstrebten Synthese aus Einheit und Vielfalt, dessen staatsrechtliche Erscheinungsform der Bundesstaat ist. 4 Stets wird dabei an das Charakteristikum des Bundesstaates, die sich mit der Doppelung der Staatlichkeit ergebende Pluralität der politischen Leitungsgewalt, angeknüpft. Ein formaler Ansatz rechtfertigt den Bundesstaat durch die Leistungs- und Funktionsfalligkeit des politisch-administrativen Systems. Erkenntnisse der Verwaltungswissenschaft, der Systemtheorie der Soziologie oder der ökonomischen Theorie des Föderalismus fließen hier zusammen. 2 Vgl. HallerlKötz, Allg. StaatsR, S. 145; Stern, StaatsR I, S. 645 f.; Hesse, in: EvStLex I, Sp. 317; Koja, Allg. StaatsL, S. 357; Weber, Kriterien des Bundesstaates, S. 29 f.; 87 ff.; Bothe, Kompetenzstruktur des Bundesstaates, S. 10; Pernthaler, Alig. StaatsL u. VerfL, S. 293 f.; Loewenstein, VerfL, S. 297 ff. 3 Vgl. Zippelius, Allg. StaatsL, S. 377 ff.; Haller/Kölz, Allg. StaatsR, S. 145 ff.; Doehring, Alig. StaatsL, Rn. 155 ff., 161 ff.; Huber, Dt. VerfG I, S. 663 ff.; G. lellinek, Alig. StaatsL, S. 762 ff. 4 Vgl. zum Ganzen Isensee, in: HdbStR IV, § 98, Rn. 299 ff.; Kimminich, in: HdbStR I, § 26, Rn. 22 ff.; Weber, Kriterien des Bundesstaates, S. 32 ff.; FleinerGerster, Allg. StaatsL, § 17, Tz. 6 ff.; Hesse, in: EvStLex I, Sp. 318 f.; Stern, StaatsR I, S. 657 ff.; Kisker, Ideologische und theoretische Grundlagen, S. 23 ff.; Wünenberger, Zur Legitimation des Föderalismus, S. 355 ff.
11. Theoretische Annäherung an "den" Bundesstaat
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In materieller Hinsicht wird vor allem auf den Freiheitsschutz abgestellt. Der Subsidiaritätsgedanke, Aspekte des Minderheitenschutzes, die Förderung der Demokratie und die gewaltenteilige Wirkung werden zur Legitimation des Bundesstaates angeführt. Selbst diese wenigen Aussagen zum Bundesstaat sind umstritten und anfechtbar. Wer bei den Strukturmerkmalen des Bundesstaates allzu sehr auf die Mitwirkung der Gliedstaaten an der gesamtstaatlichen Willensbildung abstellt, sieht sich unterschwellig dem Vorwurf ausgesetzt, vor allem Merkmale deutscher Bundesstaaten heranzuziehen. 5 Allerdings stellt auch die außerdeutsche Staatslehre auf das Mitwirkungskriterium ab, bisweilen sogar entscheidend. 6 Den Fragen nach Staatlichkeit und Souveränität, die lange die Debatten um den Bundesstaat beherrscht haben 7 , wird nun bescheinigt, machtstaatlich antiquiert zu sein und das Legitimationsbedürfnis von Herrschaft außer Acht zu lassen. 8 Diese Kriterien seien zu undifferenziert, um die Vielschichtigkeit von Staatenverbindungen zu erfassen. 9 Außerdem erschwere die Fixierung auf das unitarische Souveränitätskriterium den Blick auf eine föderal gegliederte Einheit aus Staaten. 1O Statt dieser überholten Begrifflichkeiten seien heute vielmehr Kompetenzfragen für die bundesstaatlichen Verhältnisse entscheidend. 11 Tatsächlich kann es bei der Frage der Ursprünglichkeit der Staatsgewalt nur um das Fehlen einer Ableitung von einem anderen Träger öffentlicher Gewalt gehen, im Übrigen bedarf jede Herrschaftsgewalt einer Ableitung, d.h. einer Legitimation. So steht auch das Souveränitätskriterium nicht im Gegensatz zum Legitimationsgedanken, sondern ist mit ihm aufgefüllt, was in der Demokratie zur Volkssouveränität führt. Im stabilen, in seiner Existenz unangefochtenen Bundesstaat mag die Frage der Souveränität hinter den Details der konkreten Kompetenzverteilung zurücktreten. Im Konfliktsfall zeigt sich aber, wo mit der Souveränität auch die höhere Legitimation zu verorten ist. Dass sie im Bundesstaat beim Gesamtstaat ruht, wird vielfach auch von Kritikern traditioneller Bundesstaatslehren nicht bestritten. 12 Dass das Kriterium der Souveränität von Bedeutung bleibt, zeigt sich nicht zuletzt beim europäischen Integrationsprozess. Der Blick auf Organisation, Kompetenzen und LegitiV gl. Fleiner-Gerster, Allg. StaatsL, § 17, Tz. 16 ff. Vgl. Pemthaler, Allg. StaatsL u. VerfL, S. 293, 298 f.; Koja, Allg. StaatsL, S. 357; Loewenstein, VerfL, 300 f.; FleinerlGiacometti, Schweizerisches BundesstaatsR, S. 47. 7 Überblicke dazu bei Barschel, Staatsqualität, S. 10 ff.; HallerlKölz, Allg. StaatsR, S. 140 ff.; Pemthaler, Allg. StaatsL u. VerfL, S. 294 ff. S Vgl. Scheuner, DÖV 1962, 641 f., 644; Fleiner-Gerster, Allg. StaatsL, § 17, Tz. 19 ff.: "Legitimation, nicht Souveränität". 9 Vgl. Herzog, Allg. StaatsL, S. 402 f. IO Vgl. Haverkate, VerfL, S. 349 f. 11 Vgl. Kimminich, in: HdbStR I, § 26, Rn. 21 am Ende. 5
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A. Einführung
mation der Europäischen Union macht aber zugleich deutlich, dass sich die Staatswirklichkeit nicht an theoretischen Idealtypen von Staatenverbindungen orientiert. Auch der Rechtfertigungsbedarf bundesstaatlicher Ordnungen kann verschieden sein. Der helvetischen Gewissheit: "Die Schweiz wird föderalistisch sein, oder wird gar nicht sein"J3, steht in Deutschland die klassische Aufforderung Rudolf Smends gegenüber, "darzutun, wieso der Bundesstaat ein sinnvolles politisches System sein kann".14 Selbst ein Begriff wie der Föderalismus wird je nach Bundesstaat unterschiedlich akzentuiert. 15 In den USA bestimmt seit der Umwandlung des Staatenbundes in einen Bundesstaat 1787 der zentripetale, einheits schaffende Aspekt des Föderalismus die Bedeutung des Begriffs. Dagegen wird in Deutschland seine zentrifugale Stoßrichtung, die auf eine Stärkung der Glieder gerichtet ist, betont. 16 Hier hat man ihm begrifflich den Unitarismus gegenübergestellt, eine auf die Stärkung der Einheit zu Lasten der Glieder - mitunter bis zu deren völliger Auflösung - zielende Bewegung. 17 Es zeigt sich, dass mit abstrakten Begrifflichkeiten und scharfsinnigen Theorien die föderale Staats wirklichkeit nur schwer zu erfassen ist. Noch immer gelten deshalb die Worte Ulrich Scheuners, wonach eine Beschäftigung mit dem Bundesstaat "viel eher von einer historisch-pragmatischen Betrachtung als von einer abstrakten Theorie her aufgebaut werden [muss]". 18
III. Gegenstand und Methode dieser Arbeit Die vorliegende Arbeit will einen Beitrag zur Geschichte der bundesstaatlichen Ordnungen in Deutschland leisten. Der Gegenstand der Arbeit, der historische Ausschnitt, wird durch die aktuelle Forschungslage bestimmt. Bemd Grzeszcik hat jüngst dargelegt, wie sich mit der modemen Staatlichkeit auch die Bundesstaatsidee entwickelt hat, und welche frühen 12 Vgl. Scheuner, DÖV 1962, 644; ders, DÖV 1966, 514; Kimminich, in: HdbStR I, § 26, Rn. 21; Bleckmann, Allg. Staats- u. VölkerrechtsL, S.478; a.A. aber Fleiner-Gerster, Allg. StaatsL, § 17, Tz. 27. 13 Kägi, Vom Sinn des Föderalismus, S. 44. 14 Smend, Verfassung und VerfassungsR, S. 225. 15 Vgl. Herzog, in: EvStLex I, Sp. 914; Ermacora, Allg. StaatsL Ir, S. 625; Haller/Kölz, Allg. StaatsR, S. 150. 16 Beispielhaft etwa Kimminch, in: HdbStR I, § 26, Rn. 1 ff.; Stern, StaatsR I, S. 661. 17 Klassisch Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reich, 1907; heute: Stern, StaatsR I, S. 657, 661; Isensee, in: HdbStR IV, § 98, Rn. 4. 18 Scheuner, DÖV 1962,641.
III. Gegenstand und Methode dieser Arbeit
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Ausprägungen sie vor Errichtung des deutschen Nationalstaates hatte. 19 Auf seine Ergebnisse wird insbesondere im ersten Teil dieser Arbeit zurückzukommen sein. Stefan Oeter hat mit seiner Heidelberger Habilitationsschrift eine Geschichte der bundes staatlichen Ordnung des Grundgesetzes geschrieben und dabei nicht zuletzt die historischen Prägungen des deutschen Bundesstaates der Gegenwart aufgezeigt.2o Zwischen beiden Arbeiten liegen die Gründung des deutschen Nationalstaates, die erste deutsche Demokratie und zwei Bundesstaaten: das Bismarcksche Kaiserreich und die Weimarer Republik - über sechzig Jahre Recht und Praxis bundes staatlicher Ordnung in Deutschland. Sie sind Gegenstand dieser Arbeit. Eingedenk der Worte Scheuners soll eine Untersuchung dieser beiden Bundesstaaten historischpragmatisch erfolgen. Wie und warum sind sie entstanden? Welche waren die bestimmenden politischen Faktoren? Wie war die konkrete verfassungsrechtliche Formung dieser Bundesstaaten? Welche historischen Elemente wurden dabei aufgenommen, wo wurde Neues geschaffen? Welcher Zusammenhang bestand zwischen der bundesstaatlichen Ordnung und den anderen Strukturprinzipien des Staates? Wie funktionierte das föderale Zusammenspiel von deutschem Gesamtstaat und Gliedstaaten in der Praxis? Wie wirkte sich die innere Dynamik föderaler Ordnungen hier aus? Wie hat sich die föderale Ordnung in Deutschland entwickelt? Die Arbeit will auf diese Fragen Antworten geben. Zu Beginn werden die Anfänge föderalen Staatslebens in Deutschland dargestellt. Dies rechtfertigt sich mit ihrer potentiellen Prägekraft für die nachfolgende Entwicklung. Das Kaiserreich und die Weimarer Republik sind dann in einem Dreischritt zu untersuchen: erst die Entstehung des Bundesstaates und seiner Verfassung, dann seine konkrete Erscheinung in Staatsrecht und Staatspraxis, schließlich seine theoretische Erfassung durch die Staatsrechtslehre. Die Gründungsphase ist interessant, weil bereits die Art und Weise der Konstituierung eines Bundesstaates Aufschluss über die vorhandenen zentrifugalen und zentripetalen Kräfte und deren Stärke gibt. Bei einem Blick auf das Werden der Bundesverfassung ist außerdem der Frage nach den historischen Einflüssen, dem föderalen Verfassungserbgut, nachzugehen. Das föderale Zusammenspiel von Gesamtstaat und Gliedern wird vom Verfassungsrecht organisiert, das seinerseits umfassend vom bundesstaatlichen Aufbau geprägt wird. Das Verfassungsrecht steht daher quantitativ wie qualitativ im Mittelpunkt der Untersuchung. Allerdings soll keine bloße Aufbereitung des statischen, geschriebenen Verfassungstextes erfolgen, sondern vielmehr auch die gelebte Wirklichkeit des Rechts, die föderale Staatspraxis, betrachtet werden. Außerdem ist aufzuzeigen, welche Entwicklungen es in Recht und Praxis des Bundesstaates gegeben hat. 19 20
Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, 1996. Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998.
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A. Einführung
Dabei erfolgt die Untersuchung des Bundesstaatsrechts und seiner praktischen Anwendung anhand eines Rasters, das sich an den eingangs genannten Strukturrnerkmalen eines Bundesstaates orientiert. Hinweise auf den Bundesstaat des Grundgesetzes bleiben auf die Anmerkungen beschränkt und sollen nur gelegentlich kontrastiv zur Verdeutlichung der Eigenart des einstigen Verfassungsrechts erfolgen. Schließlich darf ein Blick auf die theoretische Behandlung des jeweiligen Bundesstaates, seine juristische Konstruktion und Legitimation, nicht fehlen, weil die Wissenschaft nicht nur ein Produkt, sondern auch ein Faktor ist, der die Wirklichkeit eines jeden Bundesstaates mitprägt. Im Ergebnis soll die Arbeit einen Abriss der Entwicklung deutscher Bundesstaatlichkeit von den Anfangen bis zu ihrem vorläufigen Ende 1933 bieten.
B. Föderale Elemente im deutschen Staatsleben bis 1866 I. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation Das Aufkommen des Bundesstaates geht zeitlich einher mit der Herausbildung moderner Staatlichkeit. 1 Den Beginn der Epoche der Staatenbildung kann man in Deutschland auf die Zeit nach Abschluss des Westfälischen Friedens 1648 datieren. Dieser Friedensvertrag, der den Dreißigjährigen Krieg beendete, hatte eine dreifache Bedeutung: Er stellte die Rechtsgleichheit der beiden christlichen Konfessionen her, er brachte die Abkehr von der Idee der Einheit der Christenheit und die Errichtung eines Systems souveräner Staaten, schließlich bestätigte er eine Verfassungsentwicklung im Reich, die von einer Schwächung von Kaiser und Reich und der Stärkung der Territorialherrschaft und Staatswerdung der (größeren) Reichsstände geprägt war. 2 Der Westfälische Friedensvertrag war zugleich eines der Grundgesetze des Reiches. 3 Zusammen mit der Goldenen Bulle, dem Ewigen Landfrieden und einigen anderen Gesetzen bildete er die materielle Verfassung des Reiches. 4 Allerdings war diese Verfassung bruchstückhaft, viele wichtige verfassungsrechtliche Fragen blieben unbeantwortet und wurden trotz ihrer Überweisung an den Reichstag bis zum Ende des Reiches nie mehr geklärt. 5
1 Vgl. zu frühen Vorfonnen des Bundesstaates bis zum Beginn der Neuzeit Brie, Der Bundesstaat, S. 8 ff. 2 Dickmann, Der Westfälische Friede, S. 5 ff.; zur Bedeutung des Westfälischen Friedens für die weitere Verfassungsentwicklung auch Link, JZ 1998, 1 ff. 3 Vgl. Art. XVII § 2 des in Osnabrück geschlossenen Abkommens zwischen Kaiser, Reichsständen und Schweden (Instrumentum Pacis Osnabrucense IPO); Text bei Zeumer, Quellensammlung 11, Nr. 197; dt. bei Kremer, Westfälischer Friede, Anhang, S. 305; zu Begriff und Funktion als Reichsgrundgesetz ebd., S. 42 ff. 4 Vgl. zu diesen Grundgesetzen v. Aretin, Heiliges Römisches Reich I, S. 7; Stern, StaatsR V, S. 61 ff. 5 Vgl. Willoweit, Dt. VerfG, S. 146, 171 f.
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B. Föderale Elemente im deutschen Staatsleben bis 1866
1. Die Verfassung des Reiches nach dem Westfälischen Frieden a) Struktur des Reiches
An der Spitze des Römischen Reiches stand der Kaiser. 6 Im hierarchischen Reichsaufbau folgten die acht7 Kurfürsten, die weltlichen und geistlichen Fürsten sowie die Reichsstädte. Insgesamt besaßen etwa 300 Fürsten und Territorien die Reichsstandschaft, d.h. hatten auf dem Reichstag Sitz und Stimme, wobei der niedere Reichsadel nur Anteil an kollektiv geführten Kuriatstimmen hatte. Hinzu traten noch etwa 1500 reichsunmittelbare Gebiete, dies waren vornehmlich die Reichsritter sowie einige Reichsdörfer. 8 Diese extreme Zersplitterung der Herrschaftsgebiete ließ die Landkarte Deutschlands sprichwörtlich "buntscheckig" erscheinen. b) Kaiser und Reich
Das Reich war ein Wahlkaisertum, in dem die Kurfürsten einen neuen Kaiser auswählten. Obwohl das Haus Habsburg-Lothringen seit 1438 alle Kaiser stellte9 , achteten die Kurfürsten darauf, dass sich kein Erbreich bildete. In Wahlkapitulationen, jenen vor der Kaiserwahl ausgehandelten Wahlversprechen, die der Gewählte zu beschwören hatte, musste der neue Kaiser geloben, "sich keiner Sukzession oder Erbschaft [des Reiches] anzumaßen" 10. Überdies dienten diese Wahlkapitulationen der Beschränkung und zunehmenden Aushöhlung der kaiserlichen Kompetenzen. In ihnen wurden nicht nur bestehende Rechte erneuert, sondern durch sie gelang es den Kurfürsten auch, dem Kaiser immer neue Begünstigungen abzutrotzen. 11 So trug das Prinzip der Kaiserwahl entscheidend dazu bei, dass sich im Reich kein Absolutismus entwickelte. 12 6 Zur verfassungsrechtlichen Stellung des Kaisers insgesamt siehe v. Aretin, Das alte Reich I, S. 64 ff.; Kremer, Westfälischer Friede, S. 80 ff. 7 Seit 1648 betrug die Zahl der Kurfürsten acht, seit 1692 mit Hannover neun, seit 1777 durch die Vereinigung der Pfalz mit Bayern wieder acht; nach der - keine Bedeutung mehr erlangenden - Änderung von 1803 betrug die Zahl der Kurfürsten zehn. S Dazu v. Aretin, Heiliges Römisches Reich I, S. 69 m. w. N.; Kimminich, Dt. VerfG, S. 220, 230 ff.; vgl. die Reichsmatrikel von 1792 bei Zeumer, Quellensammlung 11, Nr. 220 sowie Köhler, Rist. Lexikon der dt. Länder, S. XXI ff. 9 Mit Ausnahme des Wittelsbachers Karl VII. (1742-1745). 10 Vgl. Art. 11 des ,,Entwurfs einer beständigen Wahlkapitulation" (1711), bei Zeumer, Quellensammlung 11, Nr. 205. 11 Vgl. Kimminich, Dt. VerfG, S. 229; Hartung, Dt. VerfG, S. 45; insgesamt dazu Kleinheyer, Die kaiserlichen Wahlkapitulationen, 1968. 12 Boldt, Dt. VerfG I, S. 262.
I. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation
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Fonnal war der Kaiser höchster Lehnsherr, der bis ins 18. Jahrhundert alle Fürstentümer des Reiches verlieh und dem der Lehnseid zu leisten war. Seine reale Macht aber war gering. Ohne Mitwirkung der Reichsstände konnte der Kaiser lediglich einige Ehrenrechte ausüben, Nobilitierungen vornehmen oder Notariate verleihen. \3 Im Übrigen war er weitgehend an die Mitwirkung der Reichsstände gebunden. Zu einer genauen Bestimmung der kaiserlichen Reservatrechte ist es aber nie gekommen. Eine wichtige Weichenstellung für das weitere Verhältnis von Kaiser und Reichsständen erfolgte mit der Teilnahme der Reichsstände am westfalischen Friedenswerk als Vertragspartner. 14 Ihre Beteiligung, die Repräsentanz des Reiches durch Kaiser und Reichsstände, war ein deutliches Signal gegen eine monarchische Staatsfonn. 15 Die Bindung des Kaisers in allen wesentlichen Fragen an die Zustimmung der Reichsstände wurde ein Kern der verfassungsrechtlichen Bestimmungen des Westfälischen Friedens: Die Reichsstände "sollen [... ] das Stimmrecht in allen Beratungen über Reichsgeschäfte haben".16 Beispielhaft wurden die Gesetzgebung, die Entscheidung über Krieg und Frieden, der Schluss von Bündnissen und die Einführung von Steuern und Abgaben genannt. Dieses dualistische Miteinander von monarchischem Schein und realem Einfluss der Reichsstände fand seinen Ausdruck in der Fonnel von "Kaiser und Reich".17 Die Reichsgesetzgebung erfolgte gemeinschaftlich durch den Kaiser und die Vertretung der Reichsstände, d.h. ihren seit 1663 als "Immerwährenden Reichstag" in Regensburg versarnrnelten Gesandtenkongress. 18 Das Ergebnis dieser Gesetzgebung bis zum Ende des Reiches wird allgemein als dürftig angesehen, es gelangen nur wenige große Gesetzgebungswerke. Gründe dafür waren der beschwerliche Beratungsgang innerhalb des Reichstages, seine konfessionelle Spaltung in ein Corpus Evangelicorum und ein Corpus Catholicorum sowie der sich verschärfende Dualismus zwischen den Großmächten Österreich-Habsburg und Preußen. 19 Schließlich stand auch die den Reichsständen im Westfalischen Frieden eingeräumte Landeshoheit einer Reichsgesetzgebung im Wege. 20 Die großen Reichsstände, die sich zu Vgl. H. Thieme, JuS 1981, 551. Böckenförde, Staat 8 (1969), 450 f.; vgl. auch Dickmann, Der Westfälische Frieden, S. 163 ff. 15 Willoweit, Dt. VerfG, S. 143. 16 Art. VIII § 2 IPO; Text bei Zeumer, Quellensammlung 11, Nr. 197; dt. bei Kremer, Westfälischer Friede, Anhang, S. 305. 17 Vgl. Boldt, Dt. VerfG I, S. 267 f. 18 Vgl. zum Reichstag den Überblick bei Wolter, JuS 1984, 837 ff. sowie Kremer, Westfälischer Friede, S. 152 ff.; Kimminich, Dt. VerfG, S. 230 ff.; v. Aretin, Heiliges Römisches Reich I, S. 51 ff.; ders., Das alte Reich I, S. 130 ff. 19 Vgl. Boldt, Dt. VerfG I, S. 266 f. 20 v. Aretin, Das alte Reich I, S. 131. 13
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B. Föderale Elemente im deutschen Staatsleben bis 1866
Staaten entwickelten, hatten andere Interessen als die nur im Reichsverband existenzfahigen mindermächtigen Reichsstände. Gesetzgeberische Entwicklungen vollzogen sich deshalb immer mehr in den (großen) Territorien als im Reich. Das Interesse an einer allgemeingültigen Gesetzgebung und die Gesetzgebungstätigkeit selbst nahmen ab. So wandelte sich die Tätigkeit des Reichstages vom Entscheiden hin zum Verhandeln. Er entwickelte sich zu einem "foyer politique", das den Status quo hütete, aber nur wenig Neues schuf?! Zum geringen Ertrag der Reichsgesetzgebung kam ein Vollzugsproblem. Die Reichsgesetze entfalteten keine unmittelbare Wirkung für die Untertanen, sondern mussten von den Reichsständen noch zur Geltung gebracht werden?2 Ob und wie sie dies taten, war dem kaiserlichen Einfluss weitgehend entzogen. Als Exekutivinstrument standen dem Kaiser lediglich die Reichskreise zur Verfügung. 23 Dies waren von den Reichsständen eines bestimmten Territoriums selbst gebildete Bündnisse. Sie waren neben der Wahrung des Landfriedens und der Verteidigung auch zuständig für die Vollstreckung von reichs gerichtlichen Urteilen und die Verkündung der Reichsgesetze. Überdies waren sie für die Infrastruktur zuständig, z. B. für den Wegebau. Die Reichskreise erfüllten ihre Aufgaben oft in recht unterschiedlicher Weise und betrieben mittels Kreisassoziationen nicht selten auch eine von Partikularinteressen bestimmte Reichspolitik neben dem Kaiser. 24 Die Durchsetzungschance reichsrechtlicher Bestimmungen wurde überdies dadurch geschmälert, dass dem Kaiser im Westfälischen Frieden ein stehendes Reichsheer als Machtinstrument versagt wurde und er auf ein von den Ständen gebildetes Kontingentheer angewiesen blieb. So blieb die einheitliche Reichsgesetzgebung oftmals nur ein Programm: "Man müsste, um einen modemen Vergleich zu ziehen, den Satz des Bonner Grundgesetzes ,Bundesrecht bricht Landesrecht' streichen und es den Ländern überlassen, ob und wie sie das Bundesrecht verwirklichen wollen, um ähnliches zu erfahren. ,,25 Im Bereich der Rechtsprechung war die Autorität des Reiches am stärksten ausgeprägt. Hier wird der Dualismus von Kaiser und Reich bereits institutionell deutlich: der kaiserliche Reichshofrat konkurrierte mit dem 21 Laufs, Rechtsentwicklungen, S. 159 f; ebenso v. Aretin, Heiliges Römisches Reich I, S. 55. 22 Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte, S. 181; Hartung, Dt. VerfG, S. 48. 23 Vgl. zur Einteilung der Reichskreise Köbler, Hist. Lexikon der dt. Länder, S. XXIII ff; zu den übrigen ,,Zentralbehörden" des Reiches v. Unruh, in: Dt. VerwG I, S. 271 ff. 24 Vgl. Dotzauer, Die dt. Reichskreise, S. 33 ff; v. Aretin, Das alte Reich I, S. 148 ff.; Willoweit, Dt. VerfG, S. 174 f 25 H. Thieme, JuS 1981, 552.
I. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation
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Reichskammergericht, auf deren Zusammensetzung die Reichsstände maßgeblichen Einfluss hatten. 26 Dennoch zeigte sich bei der Gerichtsbarkeit die Grenze der Landeshoheit und die fortdauernde Überordnung des Reiches. 27 Das Reichskammergericht wirkte als Rechtsmittelinstanz gegenüber den Landesgerichten und entfaltete eine Aufsichtsfunktion gegenüber deren Jurisdiktion. 28 In erstinstanzlichen Verfahren wie den sog. Untertanenprozessen suchten mittelbare Reichsangehörige vor Reichsgerichten Rechtsschutz gegenüber ihren Landesherren. Hier kam es zu einer sonst selten erreichbaren persönlichen Begegnung von Untertanen und Kaiser9 und zu bisweilen tiefen Eingriffen in die Landeshoheit. 1728 wurde etwa der Herzog von Mecklenburg-Schwerin nach einem Verfahren beim Reichshofrat, das die mecklenburgischen Stände angeregt hatten, im Wege der Reichsexekution abgesetzt. Diese Verfahren werden zu den stärksten Elementen kaiserlichen Ansehens im Reich gezählt. "Im Bewusstsein der Untertanen im Reich waren der Kaiser und die Reichsgerichte die Bürgen vor der Willkürherrschaft der Fürsten. ,,30 Schließlich hatte die Reichsgerichtsbarkeit auch für Streitigkeiten zwischen den Reichsständen Bedeutung - wenn auch nur subsidiär gegenüber vereinbarten Austrägen. Noch 1787 sicherte ein Spruch des Reichshofrates den Bestand der kleinen Grafschaft Schaumburg-Lippe, die der hessische Landgraf zu annektieren versucht hatte. 31 Dies ist ein Beispiel für die Bedeutung der Reichsgerichtsbarkeit für die Friedenswahrung und die Sicherung der territorialen Ordnung im Reich - selbst in seiner Spätphase. Allerdings ist auch die vielen Reichsständen gewährte Exemtion von der reichsgerichtlichen Rechtsprechung (privilegium de non appellando) zu erwähnen, die zu einer Aushöhlung der Zuständigkeit der Reichsgerichte als Berufungsinstanz führte. 32 Das Reichskammergericht war überdies ein sehr schwerfälliges Gericht, dessen Verfahren sich oft jahrzehntelang hinziehen konnten 33 , was freilich nicht zuletzt an den Reichsständen lag, die die personelle und materielle Ausstattung des Gerichts vernachlässigten. 34 Schließlich ließ auch die Rechtsdurchsetzung gegenüber mächtigen 26 Überblicke bei Schmelzeisen. JuS 1975, 427 ff. und Schroeder. JuS 1978, 368 ff.; sowie Kremer. Westfälischer Friede, S. 190 ff.• 216 ff.; v. Aretin. Das alte Reich I. S. 85 ff.• 142 ff. 27 Vgl. dazu insgesamt Scheuner. in: FG f. BVerfG I, S. 13 ff. 28 Vgl. Schroeder. JuS 1978,371. 29 So v. Aretin, Das alte Reich I, S. 72. 30 v. Aretin, Das alte Reich I, S. 73; ähnlich positiv Willoweit, Dt. VerfG, S. 177 f. 31 Vgl. dazu Fischer. Die Rheinbundpolitik Schaumburg-Lippes, S. 5 m. w.N. 32 Kimminich. Dt. VerfG, S. 238. 33 Vgl. die Darstellung des einstigen Rechtspraktikanten beim Reichskammergericht Goethe. Dichtung und Wahrheit, III. Teil, 12. Buch, S. 472-477. 34 Vgl. v. Aretin, Das alte Reich, S. 73.
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B. Föderale Elemente im deutschen Staatsleben bis 1866
Landesherren aufgrund der fehlenden zentralen Vollstreckungsinstrumente zu wünschen übrig?5 Dies sind Umstände, die vielfach zu wenig günstigen Urteilen über die Reichsgerichtsbarkeit führen. 36 Eine besondere Schwäche des Reiches bestand im Bereich der Finanzen. 37 Das Bewilligungsrecht für Reichssteuern lag bei den Ständen, aber regelmäßige Steuern für den Kaiser oder das Reich gab es nicht. 38 Ein als Kopfsteuer ausgeschriebener "Gemeiner Pfennig" wurde nicht ordentlich erhoben und brachte kaum Erträge. Lediglich der "Kammerzieler" zum Unterhalt des Reichskammergerichts wurde von den Ständen aufgebracht. 39 Außerdem wurde zeitweilig der "Römermonat", eine außerordentliche Kriegssteuer, bewilligt. Insgesamt konnte sich das Reich als finanzielles Zuschussunternehmen nur der Inhaber einer stattlichen Hausmacht leisten. Nicht zuletzt deshalb hatte Jahrhunderte lang das reiche und mächtige Haus Habsburg die Kaiserkrone inne. 40 Obwohl Macht und Gewicht des Kaisers demnach eher gering scheinen, täuscht eine nüchterne Beschreibung seiner Kompetenzen über seine wahre Bedeutung in der Verfassungswirklichkeit hinweg. 41 Im Westfälischen Frieden war eine enumerative Bestimmung der Befugnisse des Kaisers vermieden worden42 ; dies erlaubte ihm, aus dem Reichsherkommen, dem Reichsgedanken selbst, Kompetenzen abzuleiten. 43 Auch die Würde und der Glanz des Amtes 44 waren ein Quell von Macht und Einfluss. Überdies belebten die Türkenkriege den Kaisermythos, der ihn als einen Verteidiger des Abendlandes gegenüber den Ungläubigen pries. 45 All dies waren Faktoren, die zusammen mit der Persönlichkeit des jeweiligen Kaisers Spielraum 35 Auch v. Aretin, Das alte Reich I, S. 86, räumt einen deutlichen "Widerspruch zwischen einer allgemeinen Reichsgewalt und der Territorialhoheit der Stände" im Hinblick auf den Reichshofrat ein. 36 Vgl. Kimminich, Dt. VerfG, S. 239 m. w.N. Zumindest auf die mit der Rechtsprechung einhergehende vereinheitlichende Wirkung für das Zivil- und Prozessrechts verweist bei aller Kritik Hartung, Dt. VerfG, S. 51. 37 Vgl. H. Thieme, JuS 1981,555 f.; v. Unruh, in: Dt. VerwG I, S. 277 f. 38 Hartung, Dt. VerfG, S. 51; vgl. auch Kimminich, Dt. VerfG, S. 237. 39 Vgl. Willoweit, Dt. VerfG, S. 105 f. 40 Laufs, Rechtsentwicklungen, S. 156. 41 Willoweit, Dt. VerfG, S. 176; v. Aretin, Das alte Reich I, S. 75. 42 Vgl. dazu Dickmann, Der Westfalisehe Friede, S. 326 ff. 43 Willoweit, Dt. VerfG, S. 146, 176; vgl. zur Bedeutung des Reichsherkommens für die Reichsverfassung Roeck, Reichssystem und Reichsherkommen, 1984. Gegen eine Überbewertung von Tradition und Zeremoniell hingegen Kremer, Westfälischer Frieden, S. 85. 44 V gl. etwa die Schilderung der prunkvollen Krönung J oseph H. 1792 in Frankfurt/Mo durch Goethe, Dichtung und Wahrheit, I. Teil, 5. Buch, S. 163-187. 45 Vgl. V. Aretin, Das alte Reich I, S. 69 ff.
I. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation
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boten für die Wahrnehmung der Kaiserwürde und die Erlangung politischen Gewichts. 46 Trotz der strukturellen Schwäche des Kaisers und der sich kontinuierlich abzeichnenden Schwächung des Reichsgedankens durch die Staatswerdung größerer Reichsstände stellte sich die Bedeutung des Kaisers demnach bis zum Ende des Reiches keineswegs einheitlich dar, sondern war vielmehr von einem "Auf und Ab" geprägt. 47 c) Reichsstände und Landeshoheit
Das Verhältnis der Reichsstände zum Kaiser war vom Grundsatz der "Libertät" geprägt. Darunter verstand man das Verbot einer kaiserlichen Monarchie und die Mitwirkung der Stände an den Reichsangelegenheiten, die Wahrung der reichsständischen Rechte und nicht zuletzt den Schutz der kleineren Herrschaftsträger vor den machtpolitischen Ambitionen größerer Territorien. 48 Der Westfalische Friede verbriefte nicht nur den Einfluss der Reichsstände auf die Reichspolitik durch das allgemeine Mitbestimmungsrecht des Reichstages, sondern bestätigte auch die Landeshoheit der Reichsstände. 49 Zwar existierte niemals eine genaue Aufteilung der Kompetenzen in Reichsangelegenheiten und solche der Territorien, aber zur Landeshoheit, dem ius territoriale, wurden die Steuerhoheit, das Gesetzgebungsrecht und das Recht auf Bewaffnung gezählt. 50 Auch wenn damit der WestfaIische Friede nur Bestehendes deklaratorisch festschrieb, so wurde doch damit allen Tendenzen einer Umwandlung des Reiches in System des monarchischen Absolutismus eine Absage erteilt. Im ausgehenden 18. Jahrhundert setzte sich dann ein Verständnis von Landeshoheit durch, das diese nicht mehr als eine Summe bestimmter Kompetenzen betrachtet. Landeshoheit wurde nun als "Inbegriff von Hoheitsrechten" (Johann Stephan Pütter) und somit als ein prinzipiell unbegrenztes fürstliches Herrschaftsrecht verstanden. Sl Zugleich sollten die Reichsstände ihre Landeshoheit "nicht in des Röm. Kaysers [... ] Namen, oder [... ] Namens des Reichs, ausüben, sondern aus eigener Gewalt, in eigenem Namen".52 Demnach handelte es sich nicht um von Kaiser und Reich abgeleitete Herrschaftsgewalt, sondern um ursprüngliche Staatsgewalt. 53 Vgl. Laufs, Rechtsentwicklungen, S. 155. v. Aretin, Das alte Reich I, S. 76. 48 Vgl. Willoweit, Dt. VerfG, S. 170 f. 49 Art. VIII § 1 IPO, Text bei Zeumer, Quellensammlung 11, Nr. 197; dt. bei Kremer, Westfälischer Friede, Anhang, S. 304; zur Landeshoheit ebd., S. 223 ff. 50 v. Aretin, Das alte Reich I, S. 19. 51 Vgl. Hömig, Reichsdeputationshauptschluß, S. 10 m. w.N.; Willoweit, Dt. VerfG, S.153. 52 J. J. Moser, Von der Landeshoheit derer teutschen Reichsstände überhaupt, S. 13; ebs. später Klüber, StaatsR des Rheinbundes, S. 29. 46
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Wie weit diese Landeshoheit noch Kaiser und Reich untergeordnet oder ob sie bereits souveräne Staatlichkeit war54 , wird insbesondere anband des ständischen Bündnisrechts diskutiert. Schon durch ihre Teilnahme am westfälischen Friedenswerk kamen die Reichsstände dem Rang völkerrechtlicher Subjekte nahe. Dort wurde dann ausdrücklich festgeschrieben: "Vor allem aber soll das Recht, unter sich und mit dem Ausland Bündnisse für ihre Erhaltung und Sicherheit abzuschließen, den einzelnen Ständen immerdar freistehen, jedoch unter der Voraussetzung, dass dergleichen Bündnisse nicht gegen Kaiser und Reich und dessen Landfrieden oder besonders gegen diesen Vertrag gerichtet, sondern so beschaffen seien, dass der Eid, durch den ein jeder Kaiser und Reich verpflichtet ist, in allen Stücken unverletzt bleibt" (Art. VIII § 2, 2. Absatz IPO).55 Zum Teil wird hierin mehr die Restauration alter Rechte und eine Anknüpfung an das altständische Einungswesen gesehen. 56 Andere wollen dagegen im Bündnisrecht das ius ad bellum und mithin die Anerkennung der vollen und uneingeschränkten staatlichen Souveränität der Landesherren erblicken. 57 Allerdings steht dieser Ansicht schon die ausdrückliche Beschränkung der Vertragsschlussfreiheit entgegen. 58 Deshalb ist die Erlangung der Souveränität der Reichsstände wohl nicht im Bündnisrecht zu sehen. Landeshoheit bedeutete daher bis zum Ende des Reiches zumindest formal auch eine Unterordnung unter Kaiser und Reich. 59 Die politisch-praktische Bedeutung des Bündnisrechts war so unterschiedlich wie die Reichsstände selbst. Die vielen kleinen Territorien waren nicht im Geringsten in der Lage, eine eigene Außenpolitik zu betreiben und eine mögliche Völkerrechtssubjektivität zu nutzen. Hinzu kamen die geistlichen Fürstentümer, deren hierarchischer Rang im Reich in keiner Weise mit militärischer Macht korrespondierte und die nur innerhalb des Reichsverbandes ihre Funktion besaßen. In diesen Gebieten hatte die Reichsgewalt neben der Landeshoheit durchaus ihren Platz. 6O Hier entfaltete sich ein Reichspatriotismus, und das Bündnisrecht gewann eher in Form des EiV gl. Hömig, Der Reichsdeputationshauptschluß, S. 10 m. w. N. V gl. zur Idee des souveränen Staates und ihrer Durchsetzung Stolleis, Staat, Beiheft 11, S. 63 ff. 55 Text bei Zeumer, Quellensammlung 11, Nr. 197; dt. bei Kremer, Westfälischer Friede, Anhang, S. 304. 56 Vgl. Willoweit, Dt. VerfG, S. 146. 57 Etwa Kimminich, Dt. VerfG, S. 215 ff., 220. 58 Dessen Umgehungsmöglichkeit durch die Defensivform betont freilich Böckenförde, Staat 8 (1969), 477. 59 v. Aretin, Das alte Reich I, S. 19; vgl. auch G. Schmidt, Geschichte des Alten Reichs, S. 181; Schroeder, JuS 1995, 960; siehe auch die zeitgenössische Staatsrechtslehre sogleich unten. 60 v. Aretin, Das alte Reich I, S. 57 ff., 60. 53
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nungswesens an Bedeutung.61 Mit den wiederbelebten Reichskreisen und den Kreisassoziationen hatte das Bündnisrecht für jenes "dritte Deutschland" der Klein- und Mittelstände eine integrative Funktion, wirkte der territorialen Zersplitterung entgegen und milderte so den krassen Partikularismus. 62 Anders stellte sich die Situation für die größeren Reichsstände dar. Für sie bedeutete das Bündnisrecht, Völkerrechtssubjekt zu werden. Dieses Bündnisrecht korrespondierte als politische Handlungsmacht nach außen mit der Landeshoheit als umfassender Herrschaftsgewalt nach innen: ,,Landeshoheit und Bündnisrecht zusammen, und erst sie zusammen, schaffen für das Territorium die Grundlage der Staatlichkeit, geben ihm den Weg zum Staat frei.,,63 Ein arrondiertes Territorium und die dazu nötige militärische Macht sowie der ausgebaute Verwaltungsapparat machten die größeren Stände nicht nur weitgehend immun gegen kaiserliche Autoritätsansprüche, sondern zu politischen Einheiten, Staaten, die sich im Kreis der europäischen Mächte außerhalb des Reiches behaupten konnten. 2. Die zeitgenössische Diskussion um die Staatsform des Reiches und die Entstehung der Bundesstaatsidee Die Frage der Staatsform des Reiches hat die Wissenschaft seinerzeit heftig bewegt und unterschiedliche Meinungen hervorgebracht. 64 Dabei war das Verhältnis von Reichsständen und Kaiser maßgeblich. Weil dies zugleich eine Frage nach dem Ort der Souveränität war65 , lassen sich hier die Anfänge bundesstaatlicher Theorien ausmachen. a) Traditionelle Ansätze
Dietrich (Theodor) Reinkingk blieb der traditionellen christlichen Reichsidee verhaftet, die das Reich als letztes der in der Bibel geweissagten vier Weltreiche ansah. 66 Er schrieb dem Kaiser die summa et legibus soluta potestas zu und nannte das Reich eine absolute Monarchie. Die Territorialhoheit sollte lediglich von der kaiserlichen Machtfülle abgeleitet sein. 67 Vgl. Hartung, Dt. VerfG, S. 159 ff. Willoweit, Dt. VerfG, S. 147; vgl. Neuhaus, Das föderalistische Prinzip, S. 43 ff.; v. Aretin, Heiliges Römisches Reich I, S. 75 f. 63 BöckenJörde, Staat 8 (1969),456. 64 Vgl. dazu und zum Folgenden RandelzhoJer, Völkerrechtliche Aspekte, S. 67 ff.; Kimminich, Dt. VerfG, S. 221 ff., 225; Kremer, Westfälischer Frieden, S. 70 ff.; Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatesidee, S. 56 ff., 72 ff., jeweils mit weiteren Nachweisen. 65 Vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts I, S. 182 f. 66 Vgl. Neues Testament, Daniel 2, 37 ff. 61
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Hippolithus a Lapide dagegen begriff das Reich als eine Aristokratie der Reichsstände und degradierte den Kaiser zum bloßen Minister des Reiches. 68 Beide Betrachtungen wurden der Verfassungs wirklichkeit nicht gerecht; während jene vom antiquierten, metaphysischen Reichsgedanken getragen war, haftete dieser der Verdacht einer bezahlten antihabsburgischen Kampfschrift an. 69
b) Hugo, Leibniz und die "Geburtsstunde des Bundesstaates" Eine andere Einschätzung von der Staatsform des Reiches vertrat dagegen 1661 Ludolph Hugo in seiner Helmstedter Dissertation7o, deren Erscheinen auch als "wissenschaftliche Geburtsstunde"71 des Bundesstaates bezeichnet worden ist. Er zeichnete vom Reich das Bild eines aus Staaten zusammengesetzten Staates: ,,Es liegt vor Augen, dass unser Reich durch eine zweifache Regierung gelenkt wird; denn das Reich als Gesamtheit bildet ein gemeinsames Staatswesen, und die einzelnen Gebiete, aus denen es zusammengesetzt ist, haben Fürsten oder Magistrate, Gerichte und Ratsversammlungen und überhaupt ein besonderes, jenem Höherem untergeordnetes Staatswesen."n Dabei sah er bereits das Problem, wieweit ein solcher zusammengesetzter Staat mit dem klassischen Staatsmodell und der von Jean Bodin geprägten - und auch in Deutschland rezipierten - Vorstellung von der Souveränität als der unteilbaren höchsten Gewalt vereinbar sein konnte. 73 Hugo wollte jedoch das Erfordernis höchster Gewalt, das dem Staat eigen sei, nicht auch auf das Verhältnis von Staaten untereinander übertragen. Er stellte vielmehr auf eine Teilung der Majestätsrechte, d. h. der staatlichen Kompetenzen, zwischen Oberstaat und den Unterstaaten ab. Außerdem sollte die Landeshoheit der Reichsstände nur ein Analogon zur souveränen Reichsgewalt sein, so dass diese letztlich eine Art Staaten ("modo Republicani") sein sollten. Einen Schritt weiter ging dagegen der 67 Reinkingk, Tractatus de regimine seculare et eccIesiastico, 1659; vgl. dazu RandelzhoJer, Völkerrechtliche Aspekte, S. 70 ff.; Link, Reinkingk, S. 78 ff. 68 Hippolithus ci Lapide (= Bogislav Philipp v. Chemnitz), Dissertatio de Ratione Status in Imperio nostro Romano-gerrnanico, 1640; vgl. dazu RandelzhoJer, Völkerrechtliche Aspekte, S. 73; Hoke, Hippolithus a Lapide, S. 118 ff. 69 Vgl. RandelzhoJer, Völkerrechtliche Aspekte, S. 73 ff. 70 "De Statu Regionem Gerrnaniae", vgl. dazu Brie, Der Bundesstaat, S. 17 ff.; Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 56 ff.; RandelzhoJer, Völkerrechtliche Aspekte, S. 78 ff. 71 Stern, StaatsR I, S. 656; vgl. auch RandelzhoJer, Völkerrechtliche Aspekte, S. 78 Fn. 52; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts I, S. 238; kritisch dazu Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 58 f. 72 Hugo, zitiert nach Brie, Der Bundesstaat, S. 17. 73 Vgl. RandelzhoJer, Völkerrechtliche Aspekte, S. 79.
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Hannoveraner Gottfried Wilhe1m Leibniz in einer unter dem Pseudonym Caesarius Fürstenerius 1677 veröffentlichten Schrift. 74 Er löste sich vom Souveränitätsdogma bei der Beurteilung der Staatsform des Reiches. Für ihn waren sowohl das Reich wie die Territorien Staaten, da ihnen jeweils eigene Hoheitsgewalt zukomme. In ihrem Umfang sei die Hoheitsgewalt abgestuft vom Kaiser ("majestas") über die großen und außenpolitisch aktionsfähigen Fürsten ("suprematus") bis zu den geringeren Territorialherren ("superioritas"). Dieser reichischen "unio", d.h. Staatenverbindung mit eigener Rechtspersönlichkeit und abgestufter Kompetenzordnung, stellte Leibniz die bloße "confoederatio" gegenüber, bei der keine Hoheitsgewalt über den verbundenen Staaten bestehe. Mit seinen Ideen näherte sich Leibniz dem modemen Bundesstaat bereits deutlich an. 75 Bezogen auf das Reich kann mari sagen, "dass Leibniz auf Grund seiner juristischen Untersuchungen das Reich als Bundesstaat bezeichnet hätte, hätte es den Begriff zu seiner Zeit schon gegeben."76 c) Pufendoif: Das Reich als "Monstrum"
Besondere Bedeutung in der Staatsformdebatte hatte - weit über die Zeit des Reiches hinaus - die Schrift Samuel Pufendorfs über die Verfassung des Deutschen Reiches. 77 Er orientierte sich an der aristotelischen Staatsformenlehre und verwarf sowohl eine Klassifizierung des Reiches als Aristokratie wie auch als Monarchie. Für eine Aristokratie fehle es an einer aristokratischen Regierung, d.h. einem ständigen und immerwährenden Senat, sowie im Hinblick auf die Freiheit der Stände auch an der nötigen Unterordnung unter einen solchen Senat. Zur Monarchie mangele es angesichts des reichsständischen Bündnisrechts der Unterordnung der Stände unter den Kaiser sowie der monarchischen, finanziellen und militärischen Macht des Kaisers. So fallte Pufendorf sein berühmtes Urteil, das Reich gleiche "einem irregulären und einem Monstrum ähnlichen Körper".78 Weiter wollte er den Charakter des Reiches "als einen solchen bezeichnen, der einem Bund mehrerer Staaten sehr nahe kommt, in dem ein Fürst als 74 ,,oe jure suprematus ac legationum principum Germaniae"; vgl. dazu H.P. Schneider, Leibniz, S. 205 ff.; Randelzho/er, Völkerrechtliche Aspekte, S. 80 f.; Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 63 ff. 15 Vgl. Randelzho/er. Völkerrechtliche Aspekte, S. 80; H.-P. Schneider. Leibniz, S. 205, 209. 16 Randelzho/er. Völkerrechtliche Aspekte, S. 80 f. 17 Severinus de Monzambano (= Samuel Pu/endorf>, De Statu Imperii Germanici, 1667; dt. Die Verfassung des Deutschen Reiches; vgl. dazu Randelzho/er. Völkerrechtliche Aspekte, S. 81 ff.; Grzeszick. Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 60 ff. 18 Pu/endorf, Die Verfassung des Dt. Reiches, Kap. VI, § 9, S. 106.
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Führer des Bundes die herausragende Stellung hat und mit dem Anschein königlicher Gewalt umgeben ist".79 Für Pufendorf schwankte das Reich also zwischen einer Monarchie und einem Staatenbund. Etwas dazwischen konnte es für ihn aber nicht geben. Dies lag daran, dass er der Bodin'schen Souveränitätslehre folgte. Indem dieser die Souveränität als höchste Gewalt und Negation jedweder anderen selbständigen Macht neben, im oder über dem Staat bezeichnet und ihr mit seinen sieben Souveränitätsrechten noch einen positiven Inhalt gegeben hatte, bereitete er einer Identität von Souveränität und Staatsgewalt den Weg. 80 Pufendorf verwarf deshalb sowohl die Vorstellung einer doppelten Souveränität als auch der Möglichkeit einer Aufteilung ihrer Bestandteile 81 und bekämpfte Ludolph Hugos Modell als eine contradictio in adjecto. 82 d) Der "zusammengesetzte Staat" und die Staatlichkeit des Reiches Erst im 18. Jahrhundert griff der Göttinger Staatsrechtler Johann Stephan Pütter die Vorstellungen Hugos und Leibniz' wieder auf. Er ging über die aristotelische Staatsformenlehre hinaus und fügte die Kategorie des "zusammengesetzten Staates" hinzu, der sich im Reich als beschränkte Monarchie zeige. 83 Dieser zusammengesetzte Staat sollte aber mehr sein als ein bloßer Staatenverein, wie Pütter ihn in der Schweiz oder den Vereinigten Niederlanden sah. 84 "Deutschland ist ein Reich, das in lauter besondere Staaten eingetheilt ist, die jedoch alle noch unter einer gemeinsamen höchsten Gewalt in der Gestalt eines zusammengesetzten Staates vereinigt sind.,,85 Noch stärker betonte Johann Jacob Moser die Staatlichkeit des Reiches. Den Reichsständen käme zwar die Landeshoheit aus eigener Gewalt zu, sie seien aber dennoch nicht souverän: "Wann auch ein Teutscher Regent sich den Titul eines Souverains beylegen lässet, ist der Kayserliche Hof wohl befugt, dergleichen Reichsconstitutionswidrige Schreibart niderzulegen.,,86 Moser bekräftigte daher die Unterordnung der Glieder unter die Gesamtheit "Es bleibt also, so lang die dermalige teutsche Reichsverfassung währet, dabey: Aller und jeder Reichsstände Landeshoheit ist dem Pufendoif, Die Verfassung des Dt. Reiches, Kap. VI, § 9, S. 107. Vgl. RandelvlOfer, in: HdbStR I, § 15 Rn. 19. 81 V gl. Pufendoif, Die Verfassung des Dt. Reiches, Kap. VI, § 8. 82 Vgl. die Nachweise bei Brie, Der Bundesstaat, S. 21 ff. sowie Denzer, Nachwort bei Pufendorf, Die Verfassung des Dt. Reiches, S. 192. 83 Pütter, Bey träge zum Teutschen Staats- und Fürstenrechte 11, S. 20 ff. 84 Pütter, Bey träge zum Teutschen Staats- und Fürstenrechte 11, S. 30 f. 85 Pütter, Bey träge zum Teutschen Staats- und Fürstenrechte 11, S. 38. 86 J. J. Moser, Von der Landeshoheit der teutschen Reichsstände überhaupt, S. 17. 79
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Kayser und Reich subordiniert. ,,87 Die Reichsstände seien deshalb statt bundesmäßiger Pflichten Kaiser und Reich Gehorsam schuldig. 88 e) Legitimation, "Lobredner" und Realität Die Reichspublizistik ist im späten 18. Jahrhundert also vom Festhalten an der Staatlichkeit des Reiches gekennzeichnet. 89 Der historische Positivismus der Zeit brachte allenthalben "Lobredner" hervor, die den Status quo der Reichsverfassung priesen und etwaige Mängel ihrer Nichtbefolgung zuschrieben. earl Friedrich Häberlin etwa pries die Reichsverfassung mit ihrem Zusammenspiel von Kaiser und Reichsständen als Instrument zur gegenseitigen Begrenzung der Macht und zum Schutz vor kaiserlicher oder landesherrlicher Willkür. Im Vergleich mit dem französischen Absolutismus machte er in der Libertät der Reichsstände eine doppelte Funktion aus: Sie dient "nicht blos der Fürstenfreyheit, wie kürzlich behauptet werden wollen, sondern der teutschen Freyheit überhaupt. Denn wären unsere Fürsten erst unterdrückt, hätten erst sie das Schicksal der ehemaligen französischen Herzöge und Grafen gehabt, so würde auch der teutsche Bürger wie weyland der französische behandelt werden können".90 Die Organisation der staatlichen Gewalt stellte Häberlin so bereits in den Dienst einer Garantie der Freiheit der Untertanen. 91 Moser sah die Vorzüge der Reichsverfassung darin, "daß der Kaiser die Stände bei dem ihrigen lassen, kein Stärkerer den Schwächeren und kein Landesherr seine Untertanen unterdrücken, sondern der Kaiser sie dagegen schützen soll. Diese Freiheit ist ein gemeinsames Gut, das Band der Einigkeit zwischen den an Kräften so ungleichen Gliedern unserer so besonderen Reichsverfassung, mithin eine den Kaiser und alle un- und mittelbaren Glieder des Reiches gemeinschaftlich interessierende Sache".92 Diese positiven Urteile über die Reichsverfassung entsprachen aber kaum mehr den Tatsachen. In einer Zeit, in der Friedrich 11. von Preußen proklamierte: "Das erste Augenmerk eines Fürsten muss sein, sich zu halten, das zweite, sich zu vergrößern,,93, und Georg Friedrich Wilhelm Hegel schrieb: 87 J. J. Maser, Von der Landeshoheit der teutschen Reichsstände überhaupt, S. 259; ebs. später Klüber, StaatsR des Rheinbundes, S. 28. 88 J. J. Maser, Von der Landeshoheit der teutschen Reichsstände überhaupt, S.26. 89 Vgl. Kremer, Westfälischer Friede, S. 79; v. Aretin, Heiliges Römisches Reich I, S. 94 ff. 90 Häberlin, Handbuch des teutschen Staatsrechts I, S. 135 f. 91 Vgl. auch Häberlin, Handbuch des teutschen Staatsrechts 11, S. 83 ff. 92 Zitiert nach v. Aretin, Das alte Reich I, S. 43. 93 Zitiert nach v. Aretin, Heiliges Römisches Reich I, S. 24.
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"Die Gesundheit eines Staates offenbart sich im allgemeinen nicht sowohl in der Ruhe des Friedens als in der Bewegung des Krieges,,94, hatten diese Werte des Reiches - zumindest für die größeren Reichsstände - ihre Attraktivität verloren. So bestand eine deutliche Diskrepanz zwischen Reichspublizistik und Verfassungswirklichkeit. Die Betonung des Staatscharakters des Reiches und der dahinterstehenden ständischen Ordnung entsprach nicht mehr der tatsächlichen Ordnung. 95 Einerseits bestand keine effektive Reichsgewalt, andererseits konnten die zahllosen kleinen Reichsstände kaum Staaten genannt werden. 96 Dies führte schließlich 1802 zu Hegels Verdikt "Deutschland ist kein Staat mehr".97 Dem Reich fehle es an der für einen Staat nötigen Staatsgewalt: "Das deutsche Staats gebäude ist nichts anderes als die Summe der Rechte, welche die einzelnen Teile dem Ganzen entzogen haben und diese Gerechtigkeit, die sorgsam darüber wacht, dass dem Staat keine Gewalt übrigbleibt, ist das Wesen der Verfassung. ,,98 Für Hegel blieben deshalb nur noch die einzelnen unabhängigen Staaten aber keine staatliche Gesamtheit mehr.
3. Die Staatsform des Alten Reiches Auch nach dem Untergang des Reiches 1806 hat die Frage seiner Staatsform und seines Wertes zu vielerlei Erörterungen Anlass gegeben. Alle Staatstypen, die nach dem Ableben des Reiches aufkamen, hat man auf das Reich anzuwenden versucht. 99 Wer die Landeshoheit der Reichsstände als Staatsgewalt begreift und die bestehenden kaiserlichen Rechte als bloße Relikte der früheren einheitsstaatlichen Ordnung abtut oder doch auf vertraglicher Einwilligung beruhend ansieht, der mag den Reichsständen Souveränität zuschreiben. Das Reich ist dann kein Staat mehr, sondern vielmehr "ein atypischer, besonders stark zusammengeschlossener Staatenbund".loo Andere sehen im Reich dagegen eine "komplementäre Staatlichkeit", bei der die Staatsgewalt auf verschiedenen Ebenen - Reich, Territorien, auch Reichskreise, auf sachlich verschiedenen Gebieten tätig wurde. 101 Diese Einschätzung deutet das Reich eher als Bundesstaat. Aber solche BetrachHegel. Die Verfassung des Deutschen Reiches, S. 2. Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 86. % v. Aretin, Heiliges Römisches Reich I, S. 25 f. 97 Hegel. Die Verfassung des Deutschen Reiches, S. 1. 98 Hegel. Die Verfassung des Deutschen Reiches, S. 9. 99 Vgl. Kimminich, Dt. VerfG, S. 225 m.w.N; RandelzhoJer, Völkerrechtliche Aspekte, S. 92 ff. 100 RandelzhoJer, Völkerrechtliche Aspekte, S. 300; vgl. Berber. FS f. Maunz, S. 19 ff.; Kimminich, Dt. VerfG, S. 223; ders .• in: HdbStR I, § 26, Rn. 28; Stern. StaatsR V, S. 48. 101 Vgl. G. Schmidt. Geschichte des Alten Reichs, S. 40 ff., 44. 94
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tungsweise setzt sich der Kritik aus, Vergangenes mit gegenwärtigen Kategorien begreifbar machen zu wollen: Die historische Einmaligkeit des in fast tausendjähriger Geschichte gewachsenen und nicht zuletzt von religiösem Mythos getragenen Reichsverbandes lässt sich mit Mitteln juristischer Logik schwerlich fassen. 102 Gegen eine staatenbündische Deutung des Reiches spricht: Die tatsächliche Gestalt der meisten Reichsstände glich eher Großgrundbesitz als Staaten. 103 Die Beschränkung des reichsständischen Bündnisrechts verbietet, das Bündnisrecht als Anerkenntnis der Souveränität zu deuten. Schließlich hat die Reichsordnung den machtpolitischen Ambitionen und damit der Unabhängigkeit selbst der großen Reichsstände bis zuletzt teils beträchtliche Beschränkungen auferlegt; erst der Untergang des Reiches schuf dem Expansionsdrang der großen Reichsstände, Mediatisierungen und Rittersturm, freie Bahn. 104 Einem Verständnis des Reiches als Bundesstaat ist entgegenzuhalten, dass zumindest die großen Reichsstände sämtliche Staatsfunktionen, einschließlich Außenpolitik und militärischer Verteidigung, selbständig wahrnahmen. Hier konnte von einer ,,komplementären Staatlichkeit" keine Rede sein. Dass der Kaiser mit seinem überkommenen Herrschaftsanspruch auf eine souveräne Oberhoheit an Grenzen stieß, zeigte sich etwa bei den Schlesischen Kriegen sowie dem Siebenjährigen Krieg, in denen Preußen, obgleich auch Reichsstand, gegenüber Österreich - und somit gegenüber dem Kaiser - militärisch erfolgreich sein konnte. Es zeigt sich, dass nicht zuletzt an der Vielfalt, dem ganz unterschiedlichen Gepräge der einzelnen Reichsstände, eine Typisierung des Reiches scheitert. Weil modeme Staatenverbindungen allenthalben von einer gewissen Homogenität ihrer Glieder ausgehen, lässt sich eine so komplexe Erscheinung wie das Alte Reich mit heutigen Kategorien nicht erfassen. So lässt sich nur sagen, dass das Reich eine Staatlichkeit besessen hat, die sich moderner Klassifikation entzieht und für die Staatenbund und Bundesstaat keine tauglichen Begriffe sind. 105 4. Das Alte Reich - Grundlage des Föderalismus in Deutschland Seit dem Westfälischen Frieden haben föderative Gedanken die Verfassungsentwicklung des Reiches entscheidend geprägt und in unterschiedlicher Erscheinung sowohl zur Stabilisierung wie zum Untergang des Rei102 Vgl. Willoweit, Dt. VerfG, S. 170; H. Thieme, JuS 1981,549; J. Hofmann, JuS 1982, 168 f.; Laufs, ZRG (GA) 85 (1968), 402. 103 So v. Aretin, Heiliges Römisches Reich I, S. 26. 104 Kremer, Westfalischer Frieden, S. 79 f. lOS H. Thieme, JuS 1981, 550; Willoweit, Dt. VerfG, S. 170; früher bereits zweifelnd an der Anwendbarkeit solcher Begriffe auf das Reich Feine, ZRG (GA) 52 (1932), 121.
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ches beigetragen. In Gestalt des altständischen Föderalismus, der an das mittelalterliche Einungswesen anknüpfte 106, entfaltete sich eine stabilisierende Wirkung, die den kleineren Reichsständen Gelegenheit gab, mit Bündnissen jene übergeordneten Funktionen zu übernehmen, die das Reich nicht zu leisten vermochte. 107 Die funktionierenden Reichskreise und die Kriegsverfassung sind Beispiele hierfür. Hier stärkten föderative Gedanken das Reich und wurden zum "Träger des Reiches" .108 In der Spätphase des Reiches veränderte sich hingegen die Funktion des Föderalismus. Seine Träger waren nicht mehr die kleinen Reichsstände, sondern die größeren Mächte. Hier entwickelte sich ein Spannungsverhältnis zwischen föderativen Tendenzen und der alten hierarchischen Ordnung. 109 Der Fürstenbund von 1785 als lockeres Bündnis gleichberechtigter, souveräner Fürsten wurde das Modell neuer föderaler Verbindungen. llo Mit dem Reichsgedanken und der Kaiseridee war ein solcher moderner Föderalismus nicht mehr vereinbarYl "Von der alten hierarchisch abgestuften, auf einer Privilegienordnung beruhenden Reichsverfassung zu einem Bund gleichberechtigter, an Macht und Ansehen mit dem Kaiser konkurrierender Staaten führte kein Weg. ,,112 So konnten sich erst nach dem Ende des Reiches und dem Sieg des Gedankens souveräner Staatlichkeit neue föderative Formen endgültig durchsetzen. Die Bewertung des Reiches fiel in dem von nationalem Machtstaatsdenken geprägten 19. Jahrhundert wenig schmeichelhaft aus. ll3 Heinrich v. Treitschke etwa sah in der Reichsverfassung nur "ein wohldurchdachtes System, ersonnen, um die gewaltigen Kräfte des waffenfrohesten der Völker künstlich niederzudrücken".114 Heute ist klar, dass "Wesen und Wert des Reiches nicht auf Macht, weder im Heer, noch in der Geltung nach außen, der Wirtschaft oder den Finanzen [beruhten]".115 Statt dessen werden die großen kulturellen Leistungen der Zeit nach 1648 und die relativ lange Friedensepoche positiv verbucht. 116 Letzteres gelang, weil das Reich mit seiner fast tausendjährigen Tradition im Stande war, trotz der religiösen Spaltung durch die Ausbildung von "Koexistenzstrukturen,,1l7 für Zu diesen föderativen Vorläufern Feine, ZRG (GA) 52 (1932), 121 ff. Hartung, Dt. VerfG, S. 160. 108 Hartung, Dt. VerfG, S. 160; vgl. auch Feine ZRG (GA) 52 (1932), 124; H. H Hofmann, Staat 9 (1970), 243; Neuhaus, Das föderalistische Prinzip, S. 43 ff. 109 v. Aretin, Das alte Reich I, S. 34, 161 f. 110 Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 304. 111 Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 85. 112 v. Aretin, Heiliges Römisches Reich I, S. 503. 113 Vgl. H. Thieme, JuS 1981,550 m.w.N. 114 v. Treitschke, Dt. Geschichte I, S. 21. 115 So bereits Feine, ZRG (GA) 52 (1932), 66. 116 Berber, in: FS f. Maunz, S. 23. 106
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zwei weltanschaulich getrennte Systeme Deutschland einen - wenn auch gebrechlichen - verfassungsrechtlichen Rahmen zu geben. 118 So erfüllte das Reich zuallererst die Funktion eines "defensiven Friedensverbandes", es war ein Friedensverband nach Innen, der allen Ständen eine Rechtsordnung zur Wahrung des Status quo schuf. 119 Wer das Reich von völkerrechtlicher Warte aus deutet, der mag in ihm angesichts der Institutionalisierung der Beziehungen seiner Glieder und ihrer friedenswahrenden Funktion eine "fast modern erscheinende Staatengemeinschaft" sehen. 120 Mit Blick auf den supranationalen, europäischen Charakter erscheint es manchem gar als Modellfall für einen neuen europäischen Föderalismus. 121 Im geordneten Nebeneinander der Hoheitsträger werden auch "freiheitliche Elemente des Partikularismus" ausgemacht. 122 Der Dualismus von Kaiser und Reich hat unbestritten zu einer Abschwächung des andernorts ausgebildeten Absolutismus geführt. Aber eine im modernen Sinne gewaltenteilige Wirkung, die manch zeitgenössischer Lobredner der Libertät der Stände zuschreiben wollte,123 brachte dies doch nicht. Ebenso wie die Verrechtlichung der Verhältnisse zwischen Kaiser und Ständen blieb dies alles auf die Bewahrung der überkommenen altständischen Privilegienordnung gerichtet und erwies sich im Zeitalter staatsbürgerlicher Freiheit und Gleichheit als überholt. 124 Die bis heute fortdauernde föderale Prägung deutscher Staatlichkeit hat im Alten Reich ihre Wurzeln. Schon die Institutionen des Reiches waren dezentralisiert. Nicht in einer Hauptstadt, sondern in Wien, Regensburg und Wetzlar verkörperten Kaiser, Reichstag und Reichskammergericht das Reich. 125 Die Reichsstände waren teils Ausdruck natürlicher Vielfalt, teils Kunstprodukte dynastischer Entwicklungen. Auf alle Fälle begründete die Pluralität dieser Machtzentren die kulturelle und wissenschaftliche Vielfalt dieser Epoche. Strukturen föderaler Ordnungen werden im Reich sichtbar: eine Aufteilung von Hoheitsrechten, wechselseitige Einflussnahmen, der Zwang zu Kompromiss und Verständigung - etwa auf den Reichstagen, und Formen der Kooperation - zum Beispiel in den Reichskreisen. Aber zunächst ist das Reich mit seinem Zerfall auch ein Beispiel für die spezifiHeckei, JuS 1967,494. Laufs, Rechtsentwicklungen, S. 155. 119 v. Aretin, Das alte Reich I, S. 33. 120 Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte, S. 301 f. 121 H. Thieme, JuS 1981,556. 122 So Willoweit, Dt. VerfG, S. 171; ähnlich auch Laufs, Rechtsentwicklungen, S.162. 123 Siehe oben B.1.2.e). 124 FrotscherlPieroth, VerfG, Rn. 177; Heckel, JuS 1988,339. 125 Vgl. Schmelzeisen, JuS 1975,430. 117 118
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schen Schwächen und Gefährdungen, denen föderative Staatswesen ausgesetzt sind. 126 Indem sich der Staatsbildungsprozess in den größeren Reichsständen vollzieht, geraten die frühen, altständischen Föderationsformen ins Hintertreffen. Aber mit der Staatswerdung der deutschen Territorien wird zugleich der Grundstein dafür gelegt, dass der spätere Nationalstaat eine bundesstaatlichen Ordnung haben wird. Doch zuerst entwickelten sich aus dem Reich jene Staatenverbindungen, an Hand derer die Wissenschaft die modemen Begriffe von Staatenbund und Bundesstaat herausbildet.
11. Der Rheinbund 1. Entstehung und Entwicklung
Trotz der aufgezeigten Schwäche des Kaisers und dem Streben der Reichsstände nach souveräner Staatlichkeit blieb das Reich über 150 Jahre in seiner vom Westfälischen Frieden geschaffenen Form bestehen. Seinen endgültigen Zerfall leitete erst das Hinzutreten eines äußeren politischen Faktors ein: das revolutionäre, dann napoleonische Frankreich. Die Kriege des Reiches mit Frankreich führten zur territorialen Neugestaltung Deutschlands und 1806 mit der Gründung des Rheinbundes schließlich zur Auflösung des Alten Reiches. Die militärische Konfrontation mit Frankreich hatte zunächst die Form einer antirevolutionären Intervention. 127 Die europäischen Mächte versuchten - insbesondere nach der Hinrichtung Ludwigs XVI. im Januar 1793 das Legitimitätsprinzip der monarchischen Herrschaft zu bewahren, während die Revolution um ihr politisches Überleben kämpfte. Auf französischer Seite änderten sich nach ersten Erfolgen aber die Kriegsziele, Expansionsbestrebungen kamen auf. Aufgrund einer Theorie natürlicher Grenzen wollte Frankreich seine Herrschaft bis zum Rhein ausdehnen. Überdies versuchte es, die Ideale der Revolution auch in seine Nachbarländer zu tragen. Diesen Angriffen auf seine territoriale Integrität im Südwesten hatte das Reich nur wenig entgegenzusetzen. Am Ersten Koalitionskrieg 1793 beteiligte sich zwar das Reich als Ganzes, doch bei Ausbleiben der militärischen Erfolge verließen die deutschen Großmächte das sinkende Schiff. Preußen, das sich mehr für Gebietserweiterungen im Osten - nämlich in Polen - interessierte, schloss 1795 mit Frankreich den Sonderfrieden von Basel. 128 Dieser separate Friedensschluss eines Reichsstandes trotz Fortbestehen des Reichskrieges war nichts anderes als ein "Abfall vom Reich".129 Auch 126 127
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Vgl. H. Thieme, JuS 1981, 555 f. Vgl. dazu und zum Folgenden Huber, Dt. VerfG I, S. 26 ff. Vgl. Kimminich, Dt. VerfG, S. 277 f.
11. Der Rheinbund
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Österreich suchte 1797 die Verständigung mit Frankreich. Beide deutschen Großmächte verpflichteten sich nicht nur zur Abtretung der linksrheinischen Gebiete, sondern vereinbarten auch eine Entschädigung der nunmehr landlosen weltlichen Fürsten auf der rechten Rheinseite. Zur Wahrung ihrer eigenen Interessen waren sie bereit, die territoriale Integrität des Reiches preiszugeben. 130 Erst nach einer erneuten Niederlage des Reiches im Zweiten Koalitionskrieg - Preußen stand bereits abseits und hielt sich neutral wurde die territoriale Neuordnung 1801 im Friedensvertrag von Luneville zwischen dem Reich und Frankreich vereinbart und mit dem Reichsdeputationshauptschluss 1803 umgesetzt. l3l Unter dem Diktat Frankreichs und auch Rußlands, im Bund mit den auf Gebietserweiterungen erpichten Mittelstaaten, unter Hinnahme des sich auf die Wahrung der Hausinteressen Österreichs zurückziehenden Kaisers und der Ohnmacht der betroffenen Reichsstände setzte ein Feilschen um die Neuaufteilung des Reiches ein. Sämtliche geistlichen Fürstentümer wurden säkularisiert, d.h. einem weltlichen Herrscher übertragen. Bis auf sechs wurden alle Reichstädte mediatisiert, also einem größeren Reichsstand untergeordnet. Schließlich setzte ein "Rittersturm" ein, in dem sich die größeren Stände die zersplitterten ritterschaftlichen Herrschaftsgebiete gewaltsam einverleibten. Diese territoriale Umgestaltung enthielt "den Keim zum völligen Umsturz der Reichsverfassung" 132, weil sie gerade jene Reichsstände aufhoben, die zu den Stützen des Reichsgedankens zählten. Mit dieser Machtpolitik setzten sich die großen Reichsstände nicht nur selbst über die Reichsverfassung hinweg, sondern förderten auch, dass andere angesichts ihrer Existenzbedrohung zu staatlicher Souveränität strebten. 133 Am Ende dieser territorialen Revolution waren 112 Reichsstände und zahllose andere reichsunmittelbare Gebiete in den großen Territorien aufgegangen, in denen sich die einstige Landeshoheit nunmehr zur Souveränität wandelte. 134. So wurde die Basis der überkommenen hierarchischen Reichsordnung zunehmend beseitigt und zugleich die Grundlage geschaffen für modeme föderale Staatenverbindungen aus gleichberechtigten, selbständigen Gliedern. 135 Zwar blieb das Reich mit seinen verfassungsmäßigen Institutionen auch weiter formal bestehen, aber es wurde immer deutlicher, dass es letztlich Huber, Dt. VerfG I, S. 30. v. Aretin, Heiliges Römisches Reich I, S. 362. l3l Text bei Huber, Dokumente I, Nr. 1; vgl. dazu auch ders., Dt. VerfG I, S. 42 ff.; Hömig, Der Reichsdeputationshauptschluss, 1969; Überblick bei Schroeder, JuS 1989,351 ff. 132 Huber, Dt. VerfG I, S. 30, 33. 133 V gl. v. Aretin, Heiliges Römisches Reich I, S. 366 f. 134 Vgl. Stern, StaatsR V, S. 58 f. 135 Vgl. Hömig, Der Reichsdeputationshauptschluß, S. 126; Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 137. 129
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4 Holste
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nur mehr ein "Wort ohne Schall" mit dem "Schein einer erloschenen Verfassung" war. 136 Napoleon hatte sich 1804 zum Kaiser der Franzosen gekrönt, kurze Zeit später zog Kaiser Franz II. mit der Annahme einer erblichen österreichischen Kaiserwürde nach. Mit dem Reichsgedanken und der supranationalen Kaiseridee war dies völlig unvereinbar und musste zu einer weiteren Entwertung des alten Kaisertums führen. Den Zerfall des Reiches versinnbildlicht die Lage im Dritten Koalitionskrieg 1805. Während sich Preußen zunächst neutral verhielt, kämpften Bayern, Württemberg und Baden an der Seite Napoleons gegen Österreich und somit gegen den Kaiser. "In der Sprache des verblassenden Reichsrechts ausgedrückt, handelte es sich um eine Kurfürstenrevolte.,,137 Der Sieg Frankreichs leitete das Ende des Reiches ein. Im Frieden von Preßburg, der bereits vom Reich nur noch als "Confederation Germanique" sprach, wurden Bayern und Württemberg zu Königreichen erhoben und deren volle und uneingeschränkte Souveränität vom Kaiser anerkannt. 1806 schlossen sich schließlich sechzehn (süd-)deutsche Fürsten unter Napoleons Protektorat zum Rheinbund zusammen und erklärten ihren Austritt aus dem Reich. Einem Ultimatum Frankreichs folgend legte Franz 11. daraufhin am 6. August 1806 die Kaiserkrone nieder. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation bestand nicht mehr. Preußens Pläne, unter eigener Führung einen Norddeutschen Reichsbund als Nachfolger des Reiches und Gegengewicht zum Rheinbund zu gründen, wurden nach der militärischen Niederlage gegen Frankreich im Herbst 1806 hinfallig. 138 Statt dessen setzte Napoleon seine territoriale Neuordnung Deutschlands mit weiteren Mediatisierungen und der Schaffung der sogenannten Napoleoniden - jenen unter der Herrschaft von Angehörigen seiner Familie stehenden, nach französischem Muster organisierten Kunststaaten fort. Bis 1808 traten dem Rheinbund insgesamt 39 Staaten bei. Dies war mit Ausnahme Preußens und Österreichs sowie Holsteins und Vorpommerns, die unter skandinavischer Herrschaft standen, fast das gesamte Alte Reich - die übrigen kleineren Staaten Süddeutschlands hatten die Gründer des Rheinbundes mit Hilfe französischer Protektion inzwischen mediatisiert. Mit dem militärischen Niedergang Napoleons fand auch der Rheinbund sein Ende. Nach dem Scheitern des Russlandfeldzuges und der Niederlage in der Völkerschlacht bei Leipzig sagte sich bis Ende 1813 der Großteil der Staaten vom Rheinbund los und schloss sich der Allianz der europäischen Großmächte gegen Napoleon an. 139 136 So in der Austrittserklärung vom 1.8.1806 die RheinbundfÜTsten; Text bei Huber, Dokumente I, Nr. 3. 137 Willoweit, Dt. VerfG, S. 204. 138 Vgl. dazu Conrad, in: GS f. Peters, S. 63 f.; Verfassungsentwurf bei v. Puttkammer, Föderative Elemente, Nr. 10.
II. Der Rheinbund
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2. Die Verfassung des Rheinbundes Rechtliche Grundlage des Rheinbundes war die am 12. Juli 1806 zwischen Napoleon und sechzehn deutschen Fürsten abgeschlossene Rheinbund-Akte. 14o Dieser völkerrechtliche Vertrag hatte eine dreifache Bedeutung: Er begründete zahlreiche einzelne Verpflichtungen der Vertragsparteien, er konstituierte den Rheinbund als Rechtssubjekt, und er bestimmte die Grundzüge seiner inneren Ordnung. 141 Ein vorgesehenes "FundamentalStatut" , das nähere Bestimmungen über die Arbeit der Bundesorgane treffen sollte, kam nicht zustande, so dass sich die Verfassung des Bundes nur aus der Rheinbund-Akte selbst ergab. In Art. 1 RBA war bestimmt, dass die Gebiete der deutschen Fürsten "für immer vom deutschen Reichsgebiet abgesondert [werden]". Die deut-
schen Fürsten verpflichteten .sich deshalb, dem Reichstag ihre Trennung vom Reich anzuzeigen und alle Titel, die einen Bezug zum Reich hatten wie etwa Kurfürst oder Landgraf - abzulegen. Statt dessen sollten ihre Staaten gern. Art. 1 RBA "durch eine besondere Konföderation unter dem Namen rheinische Bundesstaaten vereinigt [sein]". Die Aufnahme weiterer Staaten war ausdrücklich vorgesehen, soweit dies den gemeinschaftlichen Interessen entsprach (Art. 39 RBA). Allerdings machte die Rheinbundakte selbst 72 anderen, bisher noch verbliebenen Reichsständen sowie allen Reichsritterschaften den Garaus, indem sie sie dem einen oder anderen Gründungsstaat zuschlug (Art. 17-25 RBA). Mit dem Austritt aus dem Reich und dessen Ende wandelte sich die Landeshoheit auch formal zu staatlicher Souveränität. Diese Souveränität ihrer Mitgliedstaaten hob die Rheinbundakte vielfach hervor. 142 Sie sprach in Art. 4 RBA von der vollen Souveränität, die jeder Konföderierte genießen solle und in Art. 26 RBA waren als Rechte der Souveränität die Gesetzgebung, die obere Gerichtsbarkeit, Ober-Polizei, militärische Aushebung und die Besteuerung explizit aufgezählt. Aufgaben und Befugnisse des Bundes selbst beschrieb der Vertrag weniger deutlich. Zweck des Rheinbundes war - wie sich aus seiner Präambel ergab - die Sicherung des inneren und äußeren Friedens, den die alte Reichsverfassung nicht mehr gewährleisten könne. 143 Nur für die militärischen Angelegenheiten enthielt die Akte dazu nähere Regelungen. Gemäß Art. 35 RBA war ein Bündnis vorgesehen, das Frankreich sowohl mit dem Vgl. dazu Huber, Dt. VerfG I, S. 493 ff. Text bei Huber, Dokumente I, Nr. 2; dt. bei Dürig/Rudolj. Texte, Nr. 1. 141 Vgl. Huber, Dt. VerfG I, S. 79; sowie Stern, StaatsR V, S. 178 ff. 142 Vgl. Art. 4, 8, 17-27,29-31 RBA. 143 Vgl. auch die Austrittserklärung der Rheinbundfürsten gegenüber dem Reichstag, Text bei Huber, Dokumente I, Nr. 3. 139
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4'
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Rheinbund als auch mit allen Einzelstaaten schloss. Danach sollte ein Landkrieg einer der beteiligten Staaten den Bündnisfall auslösen, wodurch der Krieg "für alle anderen [Theile] unmittelbar zur gemeinsamen Sache wird".I44 Außerdem waren Bestimmungen über die von den einzelnen Staaten zu stellenden Truppenkontingente (Art. 38 RBA) sowie die Entscheidung über die Mobilmachung (Art. 36 RBA) getroffen. Als Organe des Rheinbundes waren der Bundestag und der Fürst Primas vorgesehen. Der Bundestag sollte der Verhandlung der gemeinsamen Interessen und der Entscheidung von Streitigkeiten dienen (Art. 6, 9 RBA). Es war vorgesehen, dass er in Frankfurt unter dem Vorsitz des Fürst Primas in zwei Kollegien, dem der Könige und dem der Fürsten, tagte. Details über Beratungsgegenstände, Beschlussfassung und Vollzug sollten gemäß Art. 11 RBA in einem vom Fürst Primas auszuarbeitenden und von allen Staaten zu genehmigenden Fundamental-Statut geregelt werden. Zum Fürst Primas wurde der bisherige Reichserzkanzler Karl Theodor v. Dalberg bestimmt (Art. 4 RBA). Als Vorsitzendem des Bundestages kamen ihm lediglich geschäftsführende Befugnisse zu. Protektor des Bundes war Napoleon, dem die Ernennung des Fürst Primas oblag (Art. 12 RBA) und der über die militärische Mobilmachung zu entscheiden hatte (Art. 36 RBA).
3. Zur Rechtsnatur des Rheinbundes a) Die fonnelle Lage nach der Bundesakte Seiner formalen Struktur nach sollte der Bund mehr sein als ein reines (militärisches) Bündnis, denn er bezweckte ausweislich seiner Präambel auch die Wahrung des inneren Friedens Deutschlands. Deshalb war die Bildung dauerhafter Bundesorgane vorgesehen. Die Bundeswillensbildung wurde indes von den Mitgliedstaaten bestimmt, denn der Bundestag war als Staatenversammlung konstruiert. Auch die Entscheidung über Grundsatzangelegenheiten wie der Erlass des Fundamental-Statuts oder die Aufnahme neuer Mitglieder war unmittelbar Sache der Mitgliedstaaten. Eine eigenständige Hoheitsgewalt über die Mitglieder besaß der Rheinbund daher nicht. Ob dessen Mitglieder indes souveräne Staaten waren, wird bezweifelt. Ihnen soll es an äußerer Souveränität gefehlt haben, weil durch die Rheinbundakte die Zuständigkeit für die Militär- und Außenpolitik entzogen und stillschweigend auf den Protektor übertragen worden sei. 145 Diese Annahme wird auf die Aufzählung von Souveränitätsrechten in Art. 26 RBA gestützt, 144
Art. 35 RBA.
Huber, Dt. VerfG I, S. 81; ihm folgend Kimminich, Dt. VerfG, S. 314; Willoweit, Dt. VerfG, S. 205. 145
11. Der Rheinbund
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bei der diese Materien unerwähnt blieben. Eine weitere Ansicht sieht in der Militärallianz des Art. 35 RBA eine Souveränitätsübertragung, weil die Rheinbundstaaten tatsächlich gar keines militärischen Schutzes bedurft hätten. 146 Beide Ansichten überzeugen nicht. Die Aufzählung der Souveränitätsrechte muss im Zusammenhang mit den Art. 25 und 27 RBA gelesen werden. Art. 26 RBA grenzte die Rechte der Mitgliedstaaten nicht gegenüber der Bundesgewalt ab, sondern gegenüber den Herrschafts- und Feudalrechten, die den mediatisierten Grafen und Fürsten innerhalb der Mitgliedstaaten noch verbleiben sollten. 147 Das Argument mangelnder militärischer Bedrohung ist verfehlt, weil verbleibende mindermächtige Reichsstände tatsächlich von der Mediatisierung bedroht waren und sich vor einer Einverleibung geradezu in den Rheinbund flüchteten. 148 Überdies können die politischen Gegebenheiten mit der - unbestrittenen - militärischen Überlegenheit Frankreichs die rechtlichen Bundesstrukturen nicht derogieren. 149 Somit ist zumindest formal von einer unbeschränkten Souveränität auch im Sinne außenpolitischer Handlungsfreiheit auszugehen. 150 Der Rheinbund war seiner Form nach also ein Staatenbund. 151 Als Besonderheit trat das Protektorat Napoleons hinzu, das aber verfassungsrechtlich nur beschränkte Bedeutung hatte.
b) Die materielle Lage nach der Staatswirklichkeit In der Praxis zeigte sich bald, dass der Bund ein Phantom blieb: Der Bundestag trat bis auf eine Vorkonferenz niemals zusammen. Das Fundamental-Statut wurde trotz einiger Entwürfe nicht erlassen. Dass sich ein Eigenleben des Bundes nicht entfaltete, lag an den widerstreitenden Interessen Frankreichs und der deutschen Fürsten. 152 Napoleon war zwar an der militärischen Gefolgschaft der deutschen Fürsten interessiert, aber keineswegs an der Integration des Dritten Deutschlands durch einen funktionstüchtigen Flemming, Entwicklung und Zukunft des Föderalismus, S. 17 Fn. 2. Vgl. Conrad, in: GS f. Peters, S. 59; deutlich auch in der Darstellung bei Klüber, StaatsR des Rheinbundes, S. 128 ff. 148 Vgl. Fischer, Die Rheinbundpolitik Schaumburg-Lippes, S. 25 f. 149 Ähnlich im Ergebnis Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 153. 150 Ebenso die zeitgenössische Staatsrechtslehre, etwa Behr, Systematische Darstellung des Rheinischen Bundes, S. 189. 151 Vgl. Huber, Dt. VerfG I, S. 79; Kimminich, in: HdbStR I, § 26, Rn. 29; Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 155; ebenso die zeitgenössische Staatsrechtslehre mit Behr, Systematische Darstellung des Rheinischen Bundes, S. 61 ff.; weitere Nachweise bei Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 163 ff. 152 Dazu Hö/zle, Das napoleonische Staatensystem, S. 264 ff.; Conrad, in: GS f. Peters, S. 58, 61. 146
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Bund, der sich zu einem eigenen politischen Machtfaktor hätte entwickeln können. Er wollte sich deshalb bei der Ausgestaltung des Bundes weitreichende Befugnisse vorbehalten. Dies rief den entschiedenen Widerstand der Mittelstaaten hervor, die sorgsam darauf bedacht waren, ihre frisch errungene Souveränität mindestens formal unangetastet zu lassen. So scheiterten letztlich die Versuche, den Rheinbund über die militärische Gefolgschaft hinaus zu beleben. Wie wenig der Rheinbund zur Wirklichkeit wurde, zeigte sich auch bei der Aufnahrnepraxis. Obwohl sich bis 1808 noch 23 weitere deutsche Staaten ins französische Lager begaben und zum Rheinbund gezählt werden, blieben die Gründungsstaaten entgegen Art. 39 RBA hierbei unbeteiligt. Diese "Beitritte" vollzogen sich ausschließlich durch Akzessionsverträge mit Frankreich. 153 Im Bereich der militärischen Angelegenheiten allerdings waren die Verpflichtungen der Mitgliedsstaaten bereits in der Rheinbundakte detailliert geregelt. Hier besaß Napoleon auch formal als Bundesprotektor entscheidenden Einfluss. Angesichts der deutlichen militärischen Überlegenheit war es auch allein Frankreich, das durch seine Politik den Bündnisfall auslösen konnte. Die Rheinbundstaaten waren also faktisch der unbedingten militärischen Gefolgschaft verpflichtet und diese Komponente der Bundesakte realisierte sich durchaus: Die Rheinbundstaaten trugen einen erheblichen Teil der Lasten der napoleonischen Kriegsführung. Auch wenn es mangels einer Belebung des Rheinbundes nicht zu einer Institutionalisierung des französischen Einflusses kam, schlug sich die dominierende Stellung Napoleons auch in den inneren Angelegenheiten der Mitgliedsstaaten nieder. 154 Zwar versicherte er, sich keine Oberherrschaft anmaßen zu wollen i55 , dennoch war es auch mit der Souveränität der Einzelstaaten tatsächlich nicht weit her. 156 Nicht nur, dass einige Fürstentümer völlige Neuschöpfungen napoleonischer Politik waren und die Rheinbundfürsten den vergrößerten Zuschnitt ihres Territoriums und ihre Kronen Napoleons Gunst verdankten; mit dem Königreich Westfalen und dem Großherzogtum Berg standen zwei große Rheinbundstaaten über seine dort inthronisierten Verwandten auch unmittelbar unter Napoleons Einfluss. Aber auch in den anderen Staaten hat Napoleon sich wiederholt in die inneren Angelegenheiten eingemischt. In Rechts- und Verfassungsfragen propagierte 153 Vgl. beispielhaft die "Aufnahme" des Fürstentums Schaumburg-Lippe im Rahmen des Warschauer Vertrages, dazu Fischer, Die Rheinbundpolitik, S. 30 ff. sowie Huber, Dt. VerfG I, S. 75 f. 154 Vgl. dazu Höhle, Das napoleonische Staatensystem, S. 267 ff. 155 Vgl. das Schreiben Napoleons an Dalberg vom 11.9.1806; Text bei Huber, Dokumente I, Nr. 6. 156 Anders aber Stern, StaatsR V, S. 180, der sich Treitschkes Formel von der "unbedingte[n] Unterwerfung [... ] in Sachen der europäischen Politik und ebenso unbeschränkte Souveränität im Innem" zu Eigen macht.
11. Der Rheinbund
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er die Einführung seines Code Napoleon sowie den Erlass von Verfassungen - freilich nicht immer mit Erfolg. 157 In Polizei- und Zensurangelegenheiten unterwarf er die Rheinbundstaaten ganz unverhohlen seinen politischen Weisungen. 158 Wie sehr die Rheinbundstaaten bloße Objekte napoleonischer Politik waren zeigte sich schließlich 1810, als Napoleon weite Teile Norddeutschlands dem französischen Staat einverleibte, um die Kontinentalsperre gegen England zu optimieren. 159 Realität erlangte der Rheinbund also nur als "militärische Präfektur" Frankreichs, im Übrigen blieb er eine Fiktion. Napoleon übte seinen Einfluss aber informell aus und prägte so maßgeblich die inneren Verhältnisse der Staaten. Die Staatswirklichkeit zeigt also, dass der Rheinbund lediglich ein "Protektoratsgebiet mit nur scheinbar staatenbündischer Struktur" war. l60 4. Der Rheinbund und die Bundesstaatsentwicklung Mit dem Ende des Reiches, der Staatswerdung der einstigen Reichsstände und der Gründung des Rheinbundes wechselten die Objekte der Staatsrechtslehre. Die Auflösung des Reiches mit dem komplexen altständischen Föderalismus hatte den Weg für einen staatsrechtlichen Föderalismus bereitet. Hatte man dem Reich bis zuletzt vielfach Staatlichkeit zugesprochen und das Bild des zusammengesetzten Staates geprägt, so war dies Modell offensichtlich untauglich, um den Rheinbund zu erfassen. Zwar wurde gelegentlich auch der Rheinbund als "Föderativstaat" bezeichnet. Dies war aber wohl einerseits ein Zeichen noch fortbestehender Begriffsunklarheit, anderseits politischen Zielen geschuldet, nämlich dem Versuch, aus dem Rheinbund einen Nachfolger des Reiches ohne dessen Schwächen zu machen. 161 Bedeutsamer war indes, dass im Zuge der Analyse des Rheinbundes neue Begrifflichkeiten und Kriterien herausgebildet wurden. 162 1S7 Vgl. Grimm, Dt. VerfG, S. 59 ff. sowie Hattenhauer, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen, S. 63 ff. ISS Vgl. beispielhaft für die napoleonischen Interventionen in die inneren Angelegenheiten eines Kleinstaats: Fischer, Die Rheinbundpolitik Schaumburg-Lippes, S. 46 ff. 1S9 Auf den damit einhergehenden Verstoß gegen Bundesrecht (Art. 8 RBA) verweist Huber, Dt. VerfG I, S. 78. 160 Huber, Dt. VerfG I, S. 80; ebenso Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 155. 161 Vgl. Dreyer, Föderalismus, S. 67 f.; Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 158 ff.; zur Rheinbundliteratur und ihren politischen Tendenzen auch Stol/eis, Geschichte 11, S. 62 ff. 162 Vgl. zum Folgenden Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 163 ff.; Dreyer, Föderalismus, S. 69 ff.
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So betonte Johann Ludwig Klüber bei seiner Analyse des Rheinbundes dessen lediglich völkerrechtlichen Charakter. Es werde nur eine Kollegialgewalt geschaffen, aber keine den einzelnen Mitgliedern übergeordnete Obergewalt. Dieser "Verein teutscher Souverainstaaten" sei demnach ein bloßer Staatenbund. 163 Da Klüber allerdings die machtpolitischen Verhältnisse in seine Analyse einbezog, sprach er mit Blick auf das napoleonische Protektorat von einem besonderen "Staatensystem".l64 Karl Salomo Zachariä stellte auf die Verortung einer effektiven und höchsten Gewalt innerhalb einer Staatenverbindung ab, um sie zu charakterisieren. Da sie fehlte, sprach er sowohl dem Alten Reich als auch dem Rheinbund die Staatlichkeit ab. Letzter sei nur eine "societas", die durch einen Dissens ihrer Mitglieder aufgelöst werden könne, und keine "civitas". In seiner kurzen lateinischen Darstellung übersetzte er diese bei den Begriffe mit Staatenbund und Bundesstaat und wurde so der Begründer dieses klassischen Begriffspaares. 165 Auch Wilhelm Joseph Behr bemühte sich um eine Definition von Staatenbund und Bundesstaat, die bei ihm indes zumeist Völkerbund und Völkerstaat genannt wurden, weil er die Souveränität beim Volk verortete. 166 Während erster lediglich eine Vereinigung souveräner Staaten sei zur gemeinsamen Verfolgung bestimmter Zwecke im Innern und nach außen, sei zweiter ein Verein von Staaten, die einer höchsten Gewalt unterworfen seien. Entscheidendes Kriterium sollte dabei die Wirkrichtung der föderalen Gewalt sein: Im Völkerstaat erfasse sie unmittelbar die Menschen, im Völkerbund dagegen nur dessen Mitglieder. Die Folgen für die Mitgliedsstaaten eines solchen Völkerstaates sah er durchaus. "Eine vollkommene, höchste Staatsgewalt ist in einem Völker-Staate außer und unter der höchsten Völker-Staatsgewalt durchaus nicht gedenkbar, mit dem Wesen der letzteren unvereinbarlich; denn das Recht der Gesetzgebung, Rechtsprechung und Voll ziehung der Häupter der einzelnen im Völkerstaate begriffenen Völker ist schlechterdings bedingt durch die höhere Gesetzgebung, Rechtsprechung und Vollziehung der Völker-Staatsgewalt.,,167 Auch den unitarischen und hierarchischen Charakter dieser Konzeption erkannte Behr deutlich, indem er hervorhob, dass der Völker-Staat die einzelnen Völker letztlich in ein Untertanenverhältnis setzte, während der VölkerBund einen freien Verband der Staaten schaffe. Die Grundzüge der späteKlüber, StaatsR des Rheinbundes, S. 4 f. Klüber, StaatsR des Rheinbundes, S. 4, 95; ebenso Poelitz, Der Rheinbund, S.397. 165 Zachariä, Jus publicum civitatum, S. 71; vgl. zur Begriffsgeschichte auch Koselleck, Bund, S. 651 ff. 166 Vgl. Behr, Systematische Darstellung des Rheinischen Bundes, S. 56 ff.; vgl. auch Dreyer, Föderalismus, S. 72 ff. m. w.N. 167 Zitiert nach Dreyer, Föderalismus, S. 73; vgl. auch Behr, Systematische Darstellung des Rheinischen Bundes, S. 58. 163
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ren, modemen Bundesstaatsvorstellungen, die von einem souveränen Bundesstaat mit nicht-souveränen Gliedstaaten ausgehen, treten hier bereits hervor. 168 5. Der Rheinbund - Brückenschlag vom Reich zum Bund
Der Stellenwert des Rheinbundes in der deutschen Verfassungsgeschichte und insbesondere im Hinblick auf die bundesstaatliche Ordnung in Deutschland wird unterschiedlich eingeschätzt. Zum Teil wird der Rheinbund nur als Zerstörer des Alten Reiches angesehen. Nicht föderative Ansätze werden im Rheinbund erkannt, sondern ein bloßes Vasallitätsverhältnis gegenüber Napoleon. 169 Als französisches Kunstprodukt wird ihm jeder Wert für die folgende Verfassungsentwicklung in Deutschland abgesprochen. 170 Andere hingegen schreiben dem Rheinbund die Funktion eines Bindegliedes zwischen dem Alten Reich und den folgenden föderalen Verbindungen in Deutschland zu und betonen seinen Einfluss auf die weitere Verfassungsentwicklung. 171 Tatsächlich darf die Bewertung des Rheinbundes nicht isoliert erfolgen und kann nicht allein auf die Diskrepanz zwischen Rheinbund-Akte und Verfassungswirklichkeit gegründet werden. Der Rheinbund muss im Zusammenhang mit der verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Entwicklung am Ende des Alten Reiches betrachtet werden. Die territoriale Revolution, die noch im Alten Reich mit dem Reichsdeputationshauptschluss begonnen hatte, wurde im Zuge der Gründung des Rheinbundes vollendet. l72 Infolge weiterer Mediatisierungen zeigte die deutsche Landkarte schließlich eine überschau bare Zahl arrondierter Staaten mittlerer Größe. Diese Neuordnung hatte - mit Ausnahme der Napoleoniden - auch über das Ende des Rheinbundes hinaus Bestand. Damit wurde die territoriale Grundlage neuer föderaler Einigungsformen geschaffen. Für die verbliebenen Territorien beschleunigte sich nicht zuletzt durch die Bewältigung der beträchtlichen Gebietsveränderungen die Entwicklung hin zu moderner Staatlichkeit. An Stelle der überkommenen Privilegienordnung trat die Monopolisierung aller hoheitlichen Gewalt beim Staat. In der Staatsorganisation, im Militär-, Rechts-, Wirtschafts- und Agrarbereich voll168 Zur Nicht-Rezeption der Behr'schen Überlegungen vgl. Dreyer, Föderalismus, S. 74 f. 169 Vgl. v. Puttkammer, Föderative Elemente, S. 6; Flemming, Entwicklung und Zukunft des Föderalismus, S. 17. 170 Vgl. Kimminich, Dt. VerfG, S. 315. 171 Etwa Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 187 f.; Huber, Dt. VerfG I, S. 86; Hartung, Dt. VerfG, S. 168; Conrad, in: GS f. Peters, S. 50; Fernwirkungen bejaht ebenfalls v. Puttkammer, S. 6. 172 V gl. Art. 13-24 RBA.
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B. Föderale Elemente im deutschen Staatsleben bis 1866
zogen sich Refonnen, die auf eine Überwindung der altständisch-feudalen Ordnung abzielten. 173 Vieles davon hatte seine Anfange bereits im aufgeklärten Absolutismus und vollzog sich, wie etwa in Preußen, auch unabhängig vom französischen Einfluss. Aber erst mit dem Wegfall der reichsrechtlichen Garantien der alten Ordnung und der Erlangung der staatlichen Souveränität war die Realisierung dieser Refonnen ungehemmt möglich. 174 Der französische Einfluss forcierte die Entwicklung hin zu einer bürgerlichen Gesellschaft. Diese Veränderungen vollzogen sich in den einzelnen Ländern mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und führten zunächst zu einem beträchtlichen inneren Machtzuwachs der Einzelstaaten. Indem diese Entwicklung aber langfristig auch die Verhältnisse in Wirtschaft, Gesellschaft und Staatsorganisation der einzelnen Länder einander anglich, leistete sie auch einen Beitrag zur künftigen nationalen Einigung. 175 Der Rheinbund war Modell für eine neue, zeitgemäße Organisationsfonn Deutschlands: den Bund souveräner Staaten. Er knüpfte an eine Entwicklung an, die sich mit dem Fürstenbund von 1785 bereits im Alten Reich abzeichnet hatte, und er blieb auch kein Einzelphänomen seiner Zeit - wie der geplante Norddeutsche Reichsbund zeigte. Er überwand den Widerspruch von Fonn und Inhalt, der das Alte Reich mit dem machtlosen Kaiser und den staaten gleichen Reichsständen geprägt hatte. Dass er ein Werkzeug des napoleonischen Hegemonialsystems war und einen neuen Widerspruch zwischen Recht und Wirklichkeit begründete, tat seiner Bedeutung keinen Abbruch. Unter seinem Eindruck entwickelte die Wissenschaft die Anfange einer modemen Bundesstaatslehre. Dabei brach der Rheinbund keineswegs mit allen Traditionen. Dalberg, der erst Reichserzkanzler und dann Fürst Primas war, verkörperte die personelle Kontinuität. Die Konstruktion des Bundestages offenbarte diese Kontinuität im Bereich der Institutionen. Wie der Reichstag war auch der Bundestag als Gesandtenkongress organisiert und auch hier gab es protokollarische Vorränge. Ähnlich wie im Reichstag sollte in Kollegien beraten werden, und wie im Reichsfürstenrat sollte auch im Fürstenrat des Bundestages der Herzog von Nassau den Vorsitz führen. Schließlich wurde mit Frankfurt am Main jene Stadt zum Sitz von Bundestag und Fürst Primas bestimmt, die bisher als Wahl- und Krönungsort der Kaiser gedient hatte. Der Rheinbund führte zur Auflösung des Alten Reiches. Aber dieses Ereignis war eine weniger tiefe Zäsur, als es vordergründig scheinen mag. Es war Schlusspunkt einer Entwicklung, deren Wurzeln bis 1648 zurückreichen. Reichsende und Rheinbund brachten modeme souveräne Staaten mit 173
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Vgl. dazu Siemann, Vom Staatenbund zum Nationalstaat, S. 24 ff. Hölzle, Das napoleonische Staatssystem, S. 269. Siemann, Vom Staatenbund zum Nationalstaat, S. 304.
III. Der Deutsche Bund
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weitgehend arrondiertem Territorium samt formaler Gleichberechtigung hervor und lieferten so die Grundlage für neue föderale Einigungsformen. 176 Damit nahm der Rheinbund eine wichtige Brückenfunktion ein zwischen dem Alten Reich und den kommenden sechzig Jahren des Staatenbundes. Schließlich bildete sich gerade im Befreiungskampf gegen die napoleonische Herrschaft mehr und mehr jenes nationale Bewusstsein, das die Diskussion um die föderale Form Deutschlands künftig maßgeblich beeinflussen sollte.
ill. Der Deutsche Bund 1. Die Entstehung des Deutschen Bundes
a) Die politischen Rahmenbedingungen nach den Befreiungskriegen
Mit der militärischen Niederlage Napoleons war auch dessen Hegemonialsystem in Europa zusammengebrochen. Die Allianz der Sieger strebte auf dem Wiener Kongress 1814/15 eine Neuordnung der politischen Verhältnisse in Europa an. Durch ein System des Kräftegleichgewichts sollte dem schrankenlosen Machtstreben ein Ende gesetzt und die Vorherrschaft eines einzelnen Staates unmöglich gemacht werden. l77 Besondere Bedeutung hatte dabei die politische Gestaltung Deutschlands, denn nach dem Ende des Reiches und dem Zerfall des Rheinbundes war Deutschland nur noch ein geographischer Begriff, kein rechtliches Band vereinte die souveränen Einzelstaaten. Eine Restauration des Alten Reiches wurde indes nicht ernsthaft erwogen. 178 Österreich war die Kaiserwürde in der Spätzeit des Reiches immer mehr zur Last geworden. Der religiös inspirierte Reichsgedanke stand außerdem im Gegensatz zum Zeitgeist der Säkularisation. Schließlich widersprach die europäische Vorrangstellung, die mit der alten Kaiserkrone mindestens theoretisch verbunden war, dem Ziel eines europäischen Kräftegleichgewichts. Andere Kaiserpläne - wie etwa die Überlegungen des Freiherrn v. Stein l79 - knüpften zwar an die mittelalterliche Kaiseridee an, liefen aber im Gegensatz zum untergegangenen Reich auf 176
S.86.
Vgl. Th. Nipperdey, Der deutsche Föderalismus, S. 2; Huber, Dt. VerfG I,
177 Vgl. zur Politik des europäischen Gleichgewichts Kissinger, Das Gleichgewicht der Großmächte, 1986. 178 Vgl. dazu die Erklärung des englisch-hannoverschen Gesandten Graf von Münster, dessen Hof zeitweilig eine Reichserneuerung propagierte; Text bei Klüber, Acten I, Heft 1, Nr. XVII, S. 85; siehe auch Walter, Der Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reiches, S. 92 ff. 179 Vgl. zu Steins Plänen Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 197 ff.; Huber, Dt. VerfG I, S. 510 ff.
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B. Föderale Elemente im deutschen Staatsleben bis 1866
die Errichtung einer machtvollen Monarchie hinaus. Um den Widerstand der Mittelstaaten dagegen zu überwinden, schlug Stein sogar eine Revision der Mediatisierungen der jüngeren Zeit vor. Im Hinblick auf den preußischösterreichischen Dualismus und den Einfluss der fürstlichen Dynastien hatten diese Pläne aber keine Realisierungschance. Dennoch war die Hoffnung auf die staatliche Einheit Deutschlands weit verbreitet. Im Befreiungskampf gegen Napoleon hatte insbesondere der preußische König Friedrich Wilhelm III. an den Freiheitswillen und den Patriotismus der Bevölkerung appelliert. 180 Das Volk erlebte sich erstmals als politischen Akteur, und das Nationalbewusstsein wuchs dadurch beträchtlich. 181 In der entstehenden politischen Öffentlichkeit dominierte daher nach dem militärischen Sieg die Forderung und Erwartung nach der staatlichen Einheit und der Verfassungsgebung für die deutsche Nation. Nur eine Minderheit hatte dabei allerdings einen unitarischen Nationalstaat nach dem Vorbild der französischen "republique une et indivisible" im Sinn. Solche Konzepte waren nicht nur als "undeutsch" und jakobinisch verbrämt, zu groß war auch die Prägekraft der bisherigen partikularstaatlichen Entwicklung, um einen Einheitsstaat denkbar zu machen. 182 Die Einheitsbewegung strebte daher eher bundesstaatliche Formen an. 183 In Preußen kam es zu Überlegungen, eine engere Verbindung zwischen den deutschen Staaten herzustellen. Während Wilhelm v. Humboldt noch staaten bündischen Modellen zuneigte, entwickelte Karl August v. Hardenberg ein Verfassungsprogramm, das trotz seiner föderalen Form eine auf die Hegemonie Preußens und Österreichs gestützte starke Zentralgewalt vorsah. 184 Als Vorstufe einer bündischen Ordnung sollten die bisherigen französischen Verbündeten einer übergeordneten Autorität unterworfen werden. Außerdem hoffte Preußen, im Rahmen einer territorialen Neuordnung seine Vormachtstellung in Nord- und Mitteldeutschland weiter ausbauen zu können. Zwar blieben die Mediatisierungen aus der Reichs- und Rheinbundära im Wesentlichen unangetastet - es wurden vorrangig die Napoleoniden aufgelöst und die vormaligen Staaten restituiert, aber es gelang Preußen, umfangreiche linksrheinische Gebiete zu gewinnen. Dieser Brückenschlag nach Westen in die Mitte Deutschlands sollte eine wichtige geopolitische Weichenstellung für die Zukunft sein.
180 Vgl. insbesondere den Aufruf "An Mein Volk" vom 17.3.1813; Text bei Kleßmann, Oie Befreiungskriege, S. 38 ff. 181 Grimm, Ot. VerfG, S. 62 f. 182 Huber, Ot. VerfG I, S. 483. 183 So auch Kimminich, Ot. VerfG, S. 297. 184 Vgl. zu den Bundesplänen Humboldts und Hardenbergs Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 201 ff., 205 ff.; Huber, Ot. VerfG I, S. 519 ff., 526 ff.
III. Der Deutsche Bund
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Österreich bekämpfte entschieden jede national staatlich orientierte Konzeption für Deutschland. Es hatte seine Herrschaft weiter auf nicht-deutsche Territorien im Südosten ausgedehnt und befand sich damit geographisch auf einem "begrenzten Rückzug aus Deutschland"185. Das Prinzip des Nationalstaates war der unmittelbare Gegensatz zur Idee des habsburgischen Vielvölkerstaates. Jede Popularisierung nationalstaatlicher Ideen war deshalb eine unmittelbare Bedrohung für den Bestand der multinationalen Donaumonarchie. Österreich durchkreuzte die preußischen Neuordnungspläne daher, indem es 1813 erst Bayern und später auch anderen übertretenden Rheinbundstaaten eine - teils eingeschränkte - Bestands- und Souveränitätsgarantie gab 186 und mit der Protektion der partikularen Staatswesen alle nationaldeutschen Bundesstaatspläne erschwerte. Auch die europäischen Mächte hatten kein Interesse an einem deutschen Nationalstaat, der gleich einem Einheitsstaat die Macht der bisherigen Partikularstaaten sämtlich in sich konzentrieren und das napoleonische Beispiel einer europaweiten Hegemonie hätte wiederholen können. In allen Verträgen der antinapoleonischen Allianz war daher eine Neuordnung Deutschlands in Gestalt einer lockeren Föderation in Aussicht gestellt worden. 187 b) Der Plan einer preußisch-österreichischen Doppel-Hegemonie
Trotzdem zeichnete sich zunächst ein Kompromiss zwischen Preußen und Österreich ab, der die Etablierung einer stärkeren Zentralgewalt vorsah. 188 Nach den vereinbarten "Zwölf Artikeln", die auf den Plänen Hardenbergs basierten, sollte ein unauflöslicher Bund gegründet werden, der sowohl die äußere Unabhängigkeit Deutschlands als auch die ,,innere Schonung der verfassungsmäßigen Rechte jeder Classe der Nation" garantieren sollte. Zur Erreichung dieses Zweckes sollte dem Bund die Regelung der "inneren Wohlfahrt" überlassen, d. h. ein weiter Kompetenzspielraum eingeräumt werden. Weil überdies alle Einzelstaaten mit Ausnahme der Großmächte Österreich und Preußen das Kriegs- und Bündnisrecht an den Bund verlieren sollten, sprach der Plan lediglich von "Regierungsrechten" der Einzelstaaten, von ihrer Souveränität war keine Rede mehr. Vorgesehen war die Einteilung Deutschlands in sieben Kreise, wobei Preußen und Österreich in je zwei, die Königreiche Bayern, Württemberg und Hannover in je einem Kreis die Funktion des Kreisobersten ausüben sollten. Diese Mächte Siemann, Vom Staatenbund zum Nationalstaat, S. 314. Vgl. Art. 4 des Vertrags von Ried; Text bei Klüber, Acten I, Heft 2, Nr. XXIII, S. 89 ff. 187 Vgl. die Auflistung bei Huber, Dt. VerfG I, S. 478 ff. 188 Vgl. die sog. ,,zwölf Artikel"; Text bei Klüber, Acten I, Heft 1, Nr. IV, S. 57 ff. 185
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sollten als Kollegium die Bundesexekutive bilden. In ihren Kreisen war ihnen die Überwachung der Ausführung der Bundesbeschlüsse, das Kriegswesen und die oberste Gerichtsbarkeit zugewiesen. Als Rat der Kreisobersten sollten diese fünf Mächte gemeinsam mit einem Rat der übrigen Fürsten und Städte die Bundesgesetzgebung ausüben. Das Bundesdirektorium war für Österreich vorgesehen, aber auf die Führung der Geschäfte und den Vorsitz in den Räten beschränkt. Allen Staaten - mit Ausnahme der beiden Großmächte - war der Erlass landständischer Verfassungen und die Gewährung von bestimmten Rechten aller Deutschen vorgeschrieben. Schließlich war die Einrichtung eines Bundesgerichtes vorgesehen, das nicht nur Streitigkeiten zwischen den Einzelstaaten entscheiden, sondern auch über die Einhaltung des Bundesvertrages durch die Einzelstaaten wachen sollte. Dieser Plan war ein Kompromiss, der versuchte, sowohl den preußischen Interessen an einer politischen Unitarisierung als auch dem Machtstreben Österreichs Rechnung zu tragen. 189 Dabei knüpfte der Vorschlag mit der Kreisorganisation, der Gerichtsbarkeit über die Einzelstaaten oder den vorgesehenen Viril- und Kuriatstimmen im Fürstenrat der Form nach deutlich an das Alte Reich an. Faktisch hätte er aber die Vorherrschaft und auch das Machtgleichgewicht zwischen Preußen und Österreich institutionalisiert. Der Bund hätte aufgrund der weitgefassten Kompetenzzuweisung der "inneren Wohlfahrt" quasi die Kompetenz-Kompetenz innegehabt. 19o Die Bundes gerichtsbarkeit hätte weitere Eingriffe in die Staatlichkeit der Glieder erlaubt und mit ihrem doppelten Stimmgewicht hätten die beiden Großmächte selbst den Rat der Kreisoberen dominieren können. So wäre die Kreiseinteilung nichts anderes als ein "subtiles System der Mediatisierung,,191 gewesen. Ein so konstruierter Bund hätte zwar die Option auf die Bildung einer starken Zentralgewalt geboten. l92 Das Mittel dazu wäre aber eine Hegemonie gewesen und seine Voraussetzung die Einigung der beiden Großmächte Preußen und Österreich. Es war letzten Endes der Versuch der beiden Großmächte, eine "Doppelhegemonie mit Unterwerfung des Dritten Deutschlands" zu etablieren. 193
Vgl. Grzeszick. Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 216. So für vorangehende, identische Konzepte Hardenbergs Huber. Dt. VerfG I, S.528. 191 v. Aretin, Vom Deutschen Reich zum Deutschen Bund, S. 160. 192 Vgl. Huber. Dt. VerfG I, S. 546. 193 Siemann. Vom Staatenbund zum Nationalstaat, S. 319. 189
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III. Der Deutsche Bund
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c) Das Scheitern der Hegemoniepläne und die Gründung
des Deutschen Bundes
Die Mittelstaaten lehnten den Plan erwartungsgemäß ab und pochten auf ihre Souveränität. Auch die Kleinstaaten, die durchaus zu Kompetenzeinbußen bereit waren, wollten sich einer solchen Hegemonie nicht beugen und forderten den Grundsatz der Gleichberechtigung ein. Zum Scheitern brachte den Plan aber letztlich der Konflikt zwischen Österreich und Preußen über die territoriale Neuordnung Sachsens und Polens. 194 Diese Konfrontation offenbarte, womit alle Überlegungen für die Einheit Deutschlands künftig belastet sein würden: mit dem Dualismus der beiden Großmächte und ihrer Konkurrenz um die Vorherrschaft in Deutschland. Nach diesem Streit nahmen Preußen und Österreich von ihrem gemeinsamen Plan Abstand. Die festgefahrenen Beratungen über die deutsche Frage wurden aber durch die Rückkehr Napoleons nach Frankreich beschleunigt. Unter dem Druck einer schnellen Einigung setzten die Mittelstaaten weitreichende Zugeständnisse durch, die allesamt auf den Erhalt einzelstaatIicher Rechte und einer schwachen Ausgestaltung gemeinsamer Strukturen zielten. 195 Am 10. Juli 1815 wurde schließlich die Akte zur Errichtung eines Deutschen Bundes unterzeichnet. 196 Sie wurde ein Bestandteil der Schlussakte des Wiener Kongresses. Damit übernahmen die europäischen Mächte auch eine Garantie für die neue Ordnung Deutschlands und es leuchtete noch einmal der Gedanke einer staatenübergreifenden europäischen Friedensordnung auf. 197 Der Deutsche Bund sollte ein halbes Jahrhundert lang die verfassungsrechtIiche Organisationsform Deutschlands sein, lediglich unterbrochen von den Geschehnissen der Revolutionsjahre 1848/49. Das Ende des Bundes brachte erst 1866 der Krieg zwischen den beiden Hegemonialmächten Preußen und Österreich. Nach dem preußischen Sieg musste Österreich die Auflösung des Bundes anerkennen und aus Deutschland ausscheiden. 198 2. Die Verfassung des Deutschen Bundes
a) Die Quellen der Bundesverfassung Die innere Ordnung des Deutschen Bundes ergab sich zum einen aus der Bundesakte (DBA) selbst. Diese formulierte aber nur ein Grundgerüst des Vgl. Huber, Dt. VerfG I, S. 564 ff. Vgl. Huber, Dt. VerfG I, S. 558 ff. 196 Text bei Dürig/Rudolj. Texte, Nr. 2. 197 Grzeszick, Vom Reich zum Bundesstaat, S. 228. 198 Vgl. Art. 11 des Friedens von Nikolsburg, Art. IV des Friedens von Prag; Texte bei Huber, Dokumente 11, Nr. 184, 185. 194 195
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Bundes. Die weitere Ausgestaltung seiner Binnenstruktur erfolgte durch die Wiener Schlussakte (WSA) vom 15. Mai 1820. 199 Sie hielt die Ergebnisse einer Regierungskonferenz fest und wurde später von den Organen des Bundes zu einem "der Bundesacte an Kraft und Gültigkeit gleichen Grundgesetze des Bundes ..2OO erklärt. 201
b) Die Rechtsnatur des Bundes nach seiner fonnellen Verfassung Art. 1 DBA definierte den Bund als Bündnis der einzelstaatlichen Fürsten und freien Städte Deutschlands. Die Wiener Schlussakte präzisierte dieses Selbstverständnis des Bundes noch, indem sie in Art. 1 und 2 WSA ausführte: "Der deutsche Bund ist ein völkerrechtlicher Verein der deutschen souverainen Fürsten und freien Städte. [... ] Dieser Verein besteht in seinem Innern als eine Gemeinschaft selbständiger, unter sich unabhängiger Staaten, mit wechselseitigen gleichen Vertragsrechten und Vertragsobliegenheiten, in seinen äußeren Verhältnissen aber, als eine in politischer Einheit verbundene Gesammt-Macht." Diese Definition dokumentiert die völkerrechtliche Natur und das staatenbündische Selbstverständnis des Bundes. Gleichwohl legte Art. 5 WSA auch die Unauflöslichkeit des Bundes fest und schloss die Zulässigkeit eines einseitigen Austritts aus dem Bund aus. c) Die Mitglieder und die Struktur des Bundes
Zum Bund gehörten anfänglich 41 Staaten, aufgrund von Erbfolgen und Übernahmen reduzierte sich die Mitgliedszahl bis 1866 auf 34?02 Die Mitglieder waren an Fläche, Einwohnern und politischem Einfluss gänzlich verschieden, die Spannweite reichte vom gut 9 Millionen Einwohner starken Kaiserreich Österreich bis zum 5500 Köpfe zählenden Fürstentum Liechtenstein. Formal jedoch galt zwischen allen Bundesgliedern der Grundsatz rechtlicher Gleichheit (Art. 3 DBA). Da sich der Deutsche Bund in seinem Gebietsbestand am Alten Reich orientierte, gehörten Österreich und Preußen jeweils nur mit einem Teil ihres Staatsgebiets dem Bund an. Dadurch blieben Territorien deutscher Nationalität wie Ost- und Westpreußen, aber auch Schleswig außen vor, während andererseits einige ausländische Herrscher dem Bund über Personalunionen als deutsche Fürsten angehörten, etwa der König von England, der bis 1837 auch König von HannoText bei Dürig/Rudolf, Texte, Nr. 4. Beschluss der Bundesversammlung vom 8.6.1820; Text bei CJCG 11, Nr. 35, S. 101. 201 Vgl. zur Verfassung des Bundes jetzt Stern, StaatsR V, S. 193 ff. 202 Zum Mitgliederbestand des Deutschen Bundes und der hier befolgten Zählweise vgl. Huber, Dt. VerfG I, S. 583 ff. 199
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ver war. Das nationale Prinzip hatte sich in der gebietlichen Zuordnung also noch nicht durchgesetzt. d) Der Bundeszweck
Zweck des Bundes sollte nach Art. 2 DBA die "Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit Deutschlands und der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten sein". Während diese Zweckbestimmung zunächst auf die Konfliktvermeidung und -bewältigung zwischen den einzelnen deutschen Staaten abzielte sowie laut Präambel "die Ruhe und das Gleichgewicht Europa's" fördern sollte, sprach die Wiener Schlussakte auch von der "innern Ruhe und Ordnung in den Bundesstaaten" (Art. 25 WSA). Statt der Universalität staatlicher Zwecke waren also die Ziele dieses Bundes klar umrissen. Nicht die Förderung des Gemeinwohls von Bund und Einzelstaaten war seine Aufgabe, sondern die Abwehr von Gefahren. Der Bund hatte also eine rein defensive Funktion. 203 e) Die Bundeskompetenzen
Um die Bundeszwecke zu erreichen, sah die Bundesakte ein militärisches Beistandsbündnis aller Mitgliedsstaaten vor (Art. 11 DBA). Aufgrund der Erfahrungen am Ende des Alten Reiches war außerdem ein Verbot von Separatfriedensschlüssen während eines Bundeskrieges erlassen. Schließlich war das einzelstaatliche Bündnisrecht derart beschränkt, dass Bündnisse gegen die Sicherheit des Bundes oder von Einzelstaaten untersagt waren. Zur innerdeutschen Befriedung waren das gegenseitige Anerkenntnis des Besitzstandes, ein Gewaltverbot und ein Schlichtungsverfahren vereinbart. Aus diesen Bestimmungen leiteten sich die "auswärtige Gewalt" und das Recht des Bundes zur Kriegsführung ab, was in Art. 35 WSA auch explizit bestätigt wurde. Im Übrigen waren dem Bund aber keine ausdrücklichen Befugnisse zur Erfüllung des Bundeszwecks zugewiesen. Art. 3 WSA bestimmte vielmehr, dass die Befugnisse des Bundes durch seine Zwecke "bedingt und begrenzt" werden. Nicht ein verfassungsmäßiger Katalog gab dem Bund also seine Kompetenzen, sondern unmittelbar seine Zweckbestimmung selbst. Damit konnte der Bund alle Zuständigkeiten an sich ziehen, die er zur Zweckerfüllung benötigte. 204 In der zeitgenössischen Literatur wurde bisweilen ein eigenes Gesetzgebungsrecht zum Erlass unmittelbar geltender Normen mit Hinweis auf den staatenbündischen Charakter des Bundes verneint. 205 Dem steht jedoch ent203 204
5 Hol.te
Vgl. Grimm, D1. VerfG, S. 65 f.; Huber, D1. VerfG I, S. 594 f. Vgl. Huber, D1. VerfG I, S. 597.
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gegen, dass sowohl Bundesakte als auch Wiener Schlussakte von Mehrheitsbeschlüssen ausgingen206 und die Bundesversammlung daher keineswegs nur der Raum für völkerrechtliche Vereinbarungen zwischen den Bundesgliedern über den Gesetzeserlass in ihren Staaten war. Dem entspricht auch die Bundespraxis, wonach die Ergebnisse von Ministerkonferenzen der Staaten - etwa die berüchtigten Karlsbader Beschlüsse - stets noch durch einen Beschluss der Bundesversammlung in unmittelbar geltendes Bundesrecht umgesetzt wurden. 207 Deshalb ist von einer selbständigen gesetzgebenden Gewalt des Bundes auszugehen. 208 Insgesamt lässt sich daher sagen, dass dem Bund im Rahmen seiner Zwecksetzung die Kompetenz zu gesetzgebender, rechtsprechender und vollziehender Gewalt zukam?09 f) Die Organisation des Bundes
Der formalen Kompetenzfülle des Bundes stand ein beachtlicher Mangel an Organen gegenüber. Einziges Organ war die Bundesversammlung mit Sitz in Frankfurt am Main. 210 Das Gremium war als permanenter Gesandtenkongress konstruiert und bestand aus weisungsgebundenen Bevollmächtigten der Regierungen der Einzelstaaten. Den Vorsitz in der Bundesversammlung führte Österreich. Sein Arbeitsgremium war ein Engerer Rat, in dem die größeren Bundesstaaten je eine Vollstimme, kleinere Staaten gemeinsame Stimmen führten und in dem mit Stimmenmehrheit beschlossen wurde. Über besonders wichtige Angelegenheiten wurde im Plenum abgestimmt. Hier hatte jedes Bundesglied mindestens eine Vollstimme, größere Staaten bis zu vier Stimmen. Für die Abstimmungen war eine Zweidrittelmehrheit vorgeschrieben. Schließlich war für die Entscheidung über Grundsatzangelegenheiten des Bundes, wie Änderungen der Bundesakte, Neuaufnahmen von Mitgliedern oder die Schaffung von Bundeseinrichtungen sowie in Religionsangelegenheiten ein einstimmiger Beschluss nötig. Einstimmigkeit war ebenfalls für sogenannte gemeinnützige Anordnungen, d. h. für völlig außerhalb des Bundeszwecks liegende Materien, vorgesehen. 2Jl Allerdings handelte es sich dabei nicht um eigentliche Entscheidungen des Bundes, die Staaten traten sich als rechtlich ungebundene Völkerrechts subVgl. etwa Klüber. Öffentliches Recht des Teutschen Bundes, S. 284. Vgl. Art. 7 DBA; Art. 9-15 WSA. 207 Beispielhaft die Wiener Schlussakte (WSA), dazu siehe oben B.III.2.a). 208 Vgl. Huber. Dt. VerfG I, S. 598 ff.; Grzeszick. Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 233 f. 209 Grimm. Dt. VerfG, S. 66. 210 Vgl. Art. 4-10 DBA; Art. 7-15 WSA; zu ,,Ansätze[n] zu einer Verwaltung des Deutschen Bundes" siehe auch Schenk. in: Dt. VerwG 11, S. 155 ff. 211 Art. 15, 64 WSA. 205
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jekte gegenüber und bedienten sich nur des organisatorischen Rahmens der Bundesversammlung. Weil die Bundesversammlung das einzige Bundesorgan war, kam ihr eine Fülle von Aufgaben zu. So oblag ihr die gesetzgeberische Tätigkeit des Bundes, sie erfüllte Aufgaben im Bereich der auswärtigen Gewalt (Art. 50 WSA) und ihr waren Befugnisse rechtsprechender Art zugewiesen (Art. 9 DBA). Gerade die letzte Aufgabe nahm die Bundesversammlung jedoch nicht selbst wahr, vielmehr erfolgte dieses "Austrägalverfahren" in ihrem Namen und Auftrag durch ein einzelstaatliches Gericht (vgl. Art. 20 ff. WSA). Diese Indienstnahme von Einrichtungen einzelner Staaten durch den Bund zur Erledigung seiner Aufgaben wurde besonders im Bereich der Exekutive deutlich. Weil dem Bund jeder administrative und exekutive Unterbau fehlte, war er bei der Durchführung seiner Beschlüsse auf den Apparat der Mitgliedstaaten angewiesen (Art. 33 WSA). Dies zeigte sich auch im Rahmen der Militärgewalt des Bundes?12 Trotz weitreichender Kompetenzen in diesem Bereich bestand kein dauerhaftes Bundesheer. Lediglich die zwei - später vier - Bundesfestungen standen im Bundeseigenturn. Das Heer wurde erst im Kriegsfall aus den Kontingenten der Einzelstaaten gebildet. Da lediglich drei der zehn Armeekorps aus Truppen mehrerer Bundesstaaten zusammengesetzt waren, hatte dieses Bundesheer auch wenig integrative Gestalt, sondern erschien eher als Summe der einzel staatlichen Heere. Auch der Oberbefehl dieses Bundesheeres wurde nicht dauerhaft geregelt, sondern stets für den Einzelfall durch die Bundesversammlung bestimmt. Über eigene Finanzquellen verfügte der Bund nicht. Die Deckung seiner Ausgaben erfolgte gern. Art. 52 WSA durch Matrikularbeiträge, mittels einer Umlage, die die einzelnen Staaten zu zahlen hatten. 213 g) Der Einfluss des Bundes auf die Gliedstaaten
Weil der Bund nur wenige Materien selbst organisierte, machte die Bundesakte stattdessen bestimmte Vorgaben für die Mitgliedstaaten. So wurden ihnen die Einrichtung einer drei Instanzen umfassenden Gerichtsbarkeit (Art. 12 DBA) und die Gewährung einiger "Grundrechte" für alle Untertanen (Art. 18 DBA) aufgegeben. Besondere Bedeutung erlangte Artikel 13 DBA. Dieser bestimmte: "In allen Bundesstaaten wird eine landständische Verfassung statt finden" und berührte damit die Verfassungsautonomie der Mitgliedsstaaten. Während einige Mächte ursprünglich weitergehende Bestimmungen für die Verfas212 Siehe zur Kriegsverfassung des Deutschen Bundes von 1821/22 Huber, Dokumente I, Nr. 39 f. 213 Vgl. dazu Korioth, Der Finanzausgleich, S. 288 ff.
S'
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sungsgebung in den Staaten vorsehen wollten, gelang es den auf ihre Souveränität bedachten Mittelstaaten, dies abzuwehren. 214 Trotz der recht lapidaren Fonnulierung knüpften sich an diesen Artikel viele Erwartungen der liberalen Verfassungsbewegung, die - wenn schon nicht auf eine nationale Konstitution - nunmehr auf die Verfassungen der Einzelstaaten hoffte. Obwohl in der Folgezeit einige Staaten Verfassungen erließen, die zumindest eine begrenzte Teilhabe der Landstände bzw. Landtage an der Staatsgewalt ennöglichten, entwickelte sich wenig später ein Streit über die Bedeutung des Art. 13 DBA. 215 Die restaurative Politik um Metternich verstand unter einer "landständischen Verfassung" lediglich die Einrichtung einer Ständeversammlung früherer Art. Nach liberaler Lesart war damit jedoch eine Repräsentativverfassung mit einer Volksvertretung gemeint. Zwar gelang es der Restaurationspolitik nicht, eine Präzisierung des Art. 13 DBA in der konservativen Weise zu erreichen, aber mit dem Art. 57 WSA wurde doch das monarchische Prinzip als gemeindeutscher Kern aller Verfassungen festgeschrieben. Danach blieb allein der Monarch Inhaber der Staatsgewalt; bei der Ausübung band er sich aber freiwillig an verfassungsmäßige Bedingungen?16 Die Wiener Schlussakte bekannte sich zwar zur Verfassungs autonomie der Gliedstaaten (Art. 55 WSA) und sicherte die bereits erlassenen Repräsentativverfassungen gegen einseitige Rücknahmen 217 , aber die Grenzen des einzelstaatlichen Gestaltungsspielraums wurden doch enger gezogen. Die mit der Fonnulierung der Bundesakte gegebene Offenheit, die noch Hoffnung auf einen letztlich demokratischen Konstitutionalismus gemacht hatte, wurde durch die Wiener Schlussakte zugunsten der Festlegung auf das monarchische Prinzip beseitigt. Mit der Bundesintervention und der Bundesexekution führte die Wiener Schlussakte zwei weitere Instrumente ein, mit denen der Bund Einfluss auf die Einzelstaaten nehmen konnte. Mit der Bundesintervention konnte der Bund in den Einzelstaaten die vollziehende Gewalt ausüben. Grundsätzlich kam allein den einzelstaatlichen Regierungen die Aufgabe zu, für Ruhe und Ordnung zu sorgen (Art. 25 Satz 1 WSA). Aus Rücksicht auf die innere Sicherheit des gesamten Bundes sollte dem Bund aber "im Fall einer Widersetzlichkeit der Unterthanen gegen die Regierung" auf Anforderung der betreffenden Regierung ein Recht zum Eingreifen zustehen (Art. 25 Satz 2 und 26 Satz 1 WSA). Sollten Regierungen "durch die Umstände gehindert werden, die Hülfe des Bundes zu begehren", so war der Bund sogar verpflichtet, auch unaufgerufen zu intervenieren (Art. 26 Satz 2 WSA). Mit 214 Vgl. dazu und zum folgenden Grimm, Dt. VerfG, S. 68 ff.; siehe auch Stern, StaatsR V, S. 208 ff. 215 V gl. dazu Huber, Dt. VerfG I, S. 643 ff. 216 Grimm, Dt. VerfG, S. 114; vgl. auch Huber, Dt. VerfG I, S. 651 ff. 217 Dies betont besonders Mössle, Staat 33 (1994) 386.
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dem Instrument der Bundesexekution sollte hingegen sichergestellt werden, dass die Einzelstaaten ihre Bundespflichten erfüllten (Art. 31 f. WSA). Der Vollzug von Bundesgesetzen und von Streitentscheidungen des Bundes war mittels Bundesexekution durchsetzbar. Dabei sollte das Instrument nur als ultima ratio eingesetzt werden, wenn alle anderen bundesverfassungsmäßigen Mittel, den Bundesstaat zur Einhaltung der Bundesverfassung zu bewegen, scheiterten. Mittel und Verfahren der Bundesexekution regelte eine Exekutionsordnung.2'8 Nach ihr waren letztlich alle notwendigen und geeigneten Mittel zur Zweckerreichung einsetzbar. Weil dem Bund grundsätzlich keine Weisungsrechte gegenüber den Behörden der Einzelstaaten zukamen, richteten sich die Maßnahmen der Bundesexekution gegen die Regierung des betroffenen Staates (Art. 32 Satz 1 WSA). Weil der Bund keine eigenen Organe besaß, bediente er sich für die Zwangsmaßnahmen im Rahmen der Bundesintervention und -exekution der Organe oder Truppen eines anderen Mitgliedstaates. 3. Verfassungswirklichkeit und -entwicklung des Deutschen Bundes
Dem grundlegenden Bundesrecht, d.h. der Bundesakte, ist eine "prinzipielle Offenheit" attestiert worden.2'9 Tatsächlich bot es anfänglich ein ambivalentes Bild - sowohl in der Frage der nationalen Einheit als auch hinsichtlich der Verfassungs bewegung. Der Bund war einerseits stark föderal geprägt. Auf Druck der Klein- und Mittelstaaten kam es nur zu einer schwach ausgebildeten Bundesorganisation, deren negative Beschreibung eindrucksvoll ist: Der Bund hatte kein Oberhaupt, keine Regierung, keine Verwaltungsbehörden, keine Gerichte und keine Volksvertretung. Im einzigen Organ, der Bundesversammlung, besaßen die Klein- und Mittelstaaten überdies einen überproportionalen Einfluss, wenn man an die Stimmengewichtung denkt, die den Einfluss der Großmächte nicht annähernd widerspiegelte. Außerdem galt in wichtigen Angelegenheiten der Grundsatz der Einstimmigkeit. Dieser nur lockeren föderalen Gestaltung stand in der Bundesakte aber die Unauflöslichkeit des Bundes entgegen. Auch die Verpflichtung zum Erlass einer landständischen Verfassung griff in die inneren Angelegenheiten der Einzelstaaten ein. Die Kompetenzen des Bundes waren weit - weil nur durch den Bundeszweck bestimmt und begrenzt. Schließlich öffnete Art. 19 DBA einer gemeinsamen Bundesinnenpolitik das Tor, indem er ,,Handel und Verkehr zwischen den verschiedenen Bundesstaaten" auf die Tagesordnung der Bundesversammlung setzte. 218 Vgl. Bundes-Exekutionsordnung von 1820; Text bei Huber, Dokumente I, Nr.38. 219 Siemann, Vom Staatenbund zum Nationalstaat, S. 324.
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Die Offenheit des Bundes in der Verfassungsfrage dokumentierte sich im Art. 13 DBA, auf dessen Grundlage bis 1820 zahlreiche Verfassungen erlassen wurden, die zumindest in den süddeutschen Staaten auch den Charakter moderner Repräsentativverfassungen hatten?20 Zumindest mit dieser Offenheit war es nach der Wiener Schlussakte von 1820 vorbei. Die Präzisierung des Art. 13 DBA heendete die erste Welle der Verfassungsgebung und brachte damit auch eine weitere Beschränkung der einzel staatlichen Verfassungsautonomie. Eine Beschränkung der einzelstaatlichen Rechte bedeutete auch die Einführung von Bundesintervention und -exekution. Beides ist Ausdruck der restaurativen Politik unter Führung Mettemichs, die den Bund zur Bekämpfung der nationalen und liberalen Bewegungen einsetzte. Obwohl Exekution und Intervention dem Bund beachtliche Rechte gegenüber den Einzelstaaten einräumten, führte dies nicht zu einer Stärkung des Bundes selbst. Aufgrund seiner organisatorischen Schwäche blieb er zur Nutzung dieser Instrumente, wie auch sonst bei der Umsetzung seiner Beschlüsse, auf die Apparate der Einzelstaaten - und das hieß in der Praxis auf die beiden Großmächte Österreich und Preußen - angewiesen. Ohne die Beteiligung von zumindest einem der heiden war kaum ein Eingreifen des Bundes möglich - und gegen eine Großmacht konnte eine Exekution schon gar nicht erfolgen. Die unter österreichischer Führung geplante Bundesexekution gegen Preußen sprengte 1866 schließlich den Bund. Der Bund wurde immer dann aktiv, wenn es um die Unterdrückung der Verfassungsbewegung ging. 221 Gegen Einzelstaaten wurde mit Bundesintervention und -exekution vorgegangen. 222 Zum Kampf gegen die Presse- und Versammlungsfreiheit und die Universitäten wurde der Bund gesetzgeberisch tätig; dies dokumentieren die Karlsbader Beschlüsse, die Gesetze der Zeit von 1830-34 und - abgeschwächt - die der Reaktionsära ab 1851. 223 Den Vorrang dieser Gesetze gegenüber widersprechendem Länderrecht setzte der Bund konsequent durch, wie sich im Konflikt um das badische Pressegesetz 1832 zeigte?24 Mit der Central-Untersuchungskommission schuf er sogar eine Bundesbehörde zum Verfassungsschutz und mit dem Bundesreaktionsbeschluss von 1851 griff er wiederum in die Verfassungsautonomie der Einzelstaaten ein. Wo es um die Abwehr revolutionärer, nationaler und liberaler Tendenzen ging, entfaltete der Bund also durchaus erfolgreiche politische Aktivität. Andererseits wurden die Chancen positiver 220 Vgl. dazu Grimm, Dt. VerfG, S. 71 ff.; sowie die Übersicht der Verfassungen bei Huber, Dt. VerfG I, S. 656 f. 221 Zum Folgenden im Überblick Wadle, Staat, Beiheft 12, S. 155 ff. 222 Vgl. die Auflistung bei Huber, Dt. VerfG I, S. 633 f., 639. 223 Vgl. zur sog. "Demagogenverfolgung" den Überblick bei Sowade, JuS 1996, 384 ff. 224 Dazu Huber, Dt. VerfG 11, S. 43.
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Bundespolitik nicht genutzt. Die Kompetenz zur gemeinsamen Außenpolitik lief leer. Die größeren Mächte, denen dies möglich war und interessant erschien, betrieben ihre eigene Außenpolitik. Das (aktive) Gesandtschaftsrecht des Bundes blieb ungenutzt. Trotz militärischer Konfrontationen in der Zeit kam es nur ein einziges Mal zu einem Bundeskrieg und auch dies nur als Folge eines einzelstaatlichen Konflikts. 225 In wichtigen Problemen der Zeit - etwa bei Handel und Verkehr - nutzte der Bund seine mindestens rudimentären Kompetenzen nicht. Er blieb in der Zollpolitik außen vor und konnte die Rechtsvereinheitlichung nur fördern, nicht aber durchsetzen. 226 Schließlich wurde der Bund durch die Umgehung seiner Organe entwertet. Wichtige Entscheidungen wie etwa die Karlsbader Beschlüsse oder die Wiener Schlussakte wurden in Ministerkonferenzen der führenden Mächte vorbereitet. Der Bundesversammlung blieb nur noch die formale Beschlussfassung übrig. Gegen den gemeinsamen Willen der beiden Großmächte nutzten auch formale Rechtsgleichheit und die kleinstaatenfreundliche Stimmverteilung nichts. 227 Mit Blick auf die Umsetzung der Karlsbader Beschlüsse ist deshalb schlichtweg von einem "Bundes-Staatsstreich" gesprochen worden. 228 Dieses zwiespältige Bild der Bundespraxis wirft die Frage nach der tatsächlichen Rechtsnatur des Bundes auf. 4. Die Rechtsnatur des Bundes nach seiner materiellen Verfassung Art. 1 und 2 WSA, die die Rechtsnatur des Bundes bestimmten, enthielten eine "fast lehrbuchhafte Definition" des Staatenbundes. 229 Der Deutsche Bund wird deshalb bis heute immer wieder als der ,,klassische Fall des Staatenbundes" angesehen. 23o Gleichwohl hat bereits die Untersuchung des Rheinbundes gezeigt, dass die Grundnormen von Föderationen die wahren Verhältnisse gelegentlich eher verschleiern als erhellen. Diese Annahme liegt auch hier nicht fern, wenn man bedenkt, dass dem Bekenntnis der Wiener Schlussakte zur Souveränität der Einzelstaaten mit den Bestimmungen über die Bundesintervention und -exekution oder der Festschreibung des monarchischen Prinzips gerade jene Artikel folgten, die der eben proklamierten einzelstaatlichen Souveränität erhebliche Einschränkungen auferlegten. Mit Blick auf diese Bestimmungen sowie die Unauflöslichkeit des Vgl. Huber, Dt. VerfG I, S. 664 f. Vgl. dazu Laufs, Rechtsentwicklung, S. 224. 227 Vgl. Hartung, Dt. VerfG, S. 175 f. 228 Huber, Dt. VerfG I, S. 735. 229 Huber, Dt. VerfG I, S. 664. 230 So zuletzt FrotscherlPieroth, VerfG, Rn. 236; Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 243. 225
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Bundes, die teils unmittelbare Geltung seiner Gesetze sowie die Weite seiner formalen Kompetenzen werden deshalb auch Zweifel an der einzelstaatlichen Souveränität und der Klassifizierung als Staatenbund laut. 231 Tatsächlich ist etwa das Verfassungsgebot des Art. 13 DBA ein Überbleibsel der auf dem Wiener Kongress anfänglich eher bundesstaatlich konzipierten Vorschläge für Deutschland. 232 Auch wenn die weitere Entwicklung des Bundesrechts und die Bundespraxis bisweilen bundesstaatliche Züge hatten und die Souveränität der Klein- und Mittelstaaten fraglich erscheint, darf aber die Schwäche des Bundes selbst nicht übersehen werden. Er war immer nur so stark und besaß soviel effektive Macht, wie Preußen und Österreich ihm gemeinsam zu geben bereit waren. 233 Wenn diese Mächte selbst rechts brüchig, uneinig oder handlungsunwillig waren, wurde die Schwäche des Bundes offenbar. 234 Für diese beiden Hegemonialmächte war - nicht zuletzt aufgrund ihrer territorial beschränkten Bundesmitgliedschaft - der "point of no return" der Integration niemals erreicht, sie blieben souverän. Hier zeigt sich die Problematik einer Staatenverbindung von an Macht und Größe höchst ungleichen Gliedern. Weil die kleineren Staaten durchaus dem Zugriff einer höheren Bundesgewalt unterlagen, kann man vom Deutschen Bund als einem Staatenbund sprechen, der mit bundesstaatlichen Elementen versetzt war. 235
5. Die Entwicklung der Bundesstaatstheorie Bei Gründung des Deutschen Bundes waren die Begriffe Staatenbund und Bundesstaat im wissenschaftlichen Sprachgebrauch bereits relativ fest konturiert. 236 Anfänglich widmete sich die Wissenschaft vor allem der Erörterung des positiven Bundesrechts. 237 Dabei wurden die bundesstaatlichen Elemente in der Bundesverfassung bisweilen durchaus gesehen. 238 Wenn die zeitgenössische Staatsrechtslehre den Deutschen Bund dennoch weitgehend einhellig als Staatenbund klassifizierte 239 , dann schwangen dabei auch politische Interessen mit: Seit den Karlsbader Beschlüssen und der Wiener Schlussakte erfolgte die Betonung der Souveränität der Gliedstaaten und 231 Etwa Hartung, Dt. VerfG, S. 177; Willoweit, Dt. VerfG, S. 229 f.; Sinnann, Vom Reich zum Bundesstaat, S. 325 f. 232 Grimm, Dt. VerfG, S. 69. 233 Huber, Dt. VerfG I, S. 668. 234 Grimm, Dt. VerfG, S. 68. 235 Ähnlich urteilte 1816 bereits W. v. Humboldt, Werke IV, S. 375; vgl. auch Huber, Dt. VerfG I, S. 668; Stern, StaatsR V, S. 193 f. 236 Vgl. Dreyer, Föderalismus, S. 101. 237 Vgl. Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 253 ff. 238 Vgl. Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 258; Dreyer, Föderalismus, S. 105 f. mit Fn. 122.
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der Schranken der Bundesmacht von Seiten liberaler Autoren nicht zuletzt zum Schutze vor restaurativen Eingriffen des Bundes in den Ländern?40 Als Impulsgeber für die Beschäftigung mit dem Bundesstaat erwiesen sich die revolutionären Ereignisse des Jahres 1830. Ein Jahr darauf erschien der fiktive "Briefwechsel zweier Deutscher" von Paul A. Pftzer. 241 Darin wurden die Alternativen einer österreichisch dominierten lockeren deutschen Föderation und eines deutschen Bundesstaates gegenübergestellt und letztlich eine Vereinigung der deutschen Staaten unter Ausschluss Österreichs propagiert. Um des Ziels der nationalen Einheit willen war Pfizer bereit, eine preußische Hegemonie über das restliche Deutschland zu akzeptieren. Auf die erstrebte politische Freiheit wollte er vorerst verzichten, weil er diese als natürliche Folge der nationalen Einheit langfristig erwartete. Zwar leistete die Schrift keinen Beitrag zur Ausbildung einer juristischen Konstruktion des Bundesstaates, sie zeichnete aber bereits die künftige politische Linie der Nationalliberalen und die preußisch bestimmte Nationalstaatsgründung vor. 242 Karl Theodor Welcker sorgte mit seinem Beitrag in dem Staats-Lexikon, das er mit Karl v. Rotteck herausgab, für eine Präzisierung der Bundesstaatskonzeption und ihre Verbreitung im liberalen politischen Lager. 243 Den "Grundcharakter des Bundesstaates" sah er darin, "dass in ihm mehrere unvollkommene souveräne Staaten und Regierungen zu einer wahren und moralischen Persönlichkeit oder Universitas, und zwar zu einer staatsrechtlichen oder zu einer gemeinschaftlichen höhern Staatsverfassung vereinigt und ihr untergeordnet sind". Wiewohl hier die nicht-souveräne Staatlichkeit bereits angesprochen wird, wurden die damit einhergehenden theoretischen Schwierigkeiten nicht weiter erörtert. Im Gegensatz zum Staatenbund sei der Bundesstaat unauflöslich. Um der Stabilität des Bundesstaates willen forderte Welcker, "dass die einzelnen Vereinsstaaten in den wesentlichen Grundlagen ihrer Verfassungen übereinstimmen", d.h. die Verfassungshomogenität. Da der Bundesstaat ein "unmittelbarer Verein auch aller Bürger" sei, bestehe neben dem Landes- auch ein Bundesbürgerrecht. 239 Nach Welcker, in: StLex I, S. 78, war dies [1836] die herrschende Ansicht; vgl. etwa Klüber, Öffentliches Recht des Teutschen Bundes, S. 117, 282; weitere Nachweise bei Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 253 ff. 240 Vgl. Wadle, Staat, Beiheft 12, S. 165 ff. m. w.N.; Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 260. 241 Pfizer, Briefwechsel zweier Deutscher, 1831, insbes. 17./ 18. sowie 19.-22. Briefwechsel; vgl. dazu Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 280 ff.; Dreyer, Föderalismus, S. 110 ff. 242 Siehe dazu unten C.I.l. und 7. 243 Welcker, in: StLex I, S. 76-116, Zitate im Folgenden von dort; vgl. dazu auch Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 292 ff.; Dreyer, Föderalismus, S. 113 ff.
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Hieraus folge die unmittelbare Geltung und der Vorrang der Bundes- vor Landesgesetzen. Außerdem müsse neben einer Regierungsrepräsentation der einzelnen Staaten auch eine "Nationalrepräsentation der Bürger" bestehen. Aus der Natur der souveränen Staatlichkeit des Bundesstaates folgerte er, dass dieser gesetzgebende, richterliche und vollziehende Gewalt haben müsse. Die Hervorhebung der "konkurrierende[n] gesetzliche[n] Richtergewalt" und "völlig selbständigen souveränen Vollziehungs- und Zwangsgewalt" des Bundesstaates ist deutlich vom amerikanischen Vorbild des dual government geprägt. Dabei sollte die Bundesgewalt indes nur so weit reichen, "als dazu die isolierte Wirksamkeit der einzelnen Regierungen grundvertragsmäßig als unzureichend anerkannt wird." Im Übrigen bestehe eine rechtliche Vermutung für die Zuständigkeit der Gliedstaaten. Hier schimmert der Gedanke der Subsidiarität bei der Bestimmung der föderalen Kompetenzordnung durch. Konkret. bedürfe der Bundesstaat der auswärtigen Gewalt, d.h. Gesandtschafts- und Bündnisrecht sowie Militärgewalt, sowie einer Bundesbesteuerung. Die Aufgabe eines Bundesstaates sah Welcker darin, die "äußere Nationaleinheit, die allgemeine Nationalfreiheit und die Besonderheit aller einzelnen Bundesstaaten [... ] zu erhalten." Dass die erste Aufgabe deutlich im Vordergrund stand, zeigt sich daran, dass Welcker den Bundeszweck auch mit dem ,,Nationalzweck" identifizierte. Bundesstaaten seien "ihrer Natur nach Nationalvereine". Selbst offenkundig multinationale Bundesstaaten wie die Schweiz und die USA - so Welcker - "streben [... ] nach immer vollkommenerer gemeinschaftlicher nationeller Entwicklung". Daher sollten Verbindungen zwischen Gliedstaaten und fremden Nationen wie sie sich in Deutschland infolge dynastischer Entwicklungen ergeben hatten - in einem Bundesstaat unzulässig sein. Während die Nationalfreiheit vor allem im Bestehen einer nationalen Volksvertretung gesehen wurde, wurde der Zusammenhang zwischen Nationalfreiheit und dem Fortbestehen der Gliedstaaten nicht weiter erläutert. Trotz Welckers Orientierung am amerikanischen Bundesstaat tritt hier - wie schon bei Pfizer - die national-unitarische Tendenz der deutschen Bundesstaatslehre deutlich hervor. 244 Bemerkenswerte Überlegungen zur Theorie des Bundesstaates stellte auch Friedrich v. Gagem an. 245 Als Einziger widmete er sich der Frage, wie eine doppelte Staatlichkeit im Bundesstaat überhaupt möglich war, solange die Souveränität - verstanden als höchste und unteilbare Gewalt notwendige Eigenschaft des Staates war. 246 Er suchte die Lösung in einer pragmatischen Betrachtung der konkreten Ausübung der einzelnen HoheitsVgl. Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 296. "Vom Bundesstaat", ca. 1835; vgl. dazu Dreyer, Föderalismus, S. 116 ff.; Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 286 ff. 246 Vgl. Dreyer, Föderalismus, S. 118 f., 158. 244 245
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rechte. Außerdem untersuchte er die Voraussetzungen für die Bildung eines Bundesstaates. Dabei verlangte er u. a., dass sich die Staaten an Größe und Macht nicht zu sehr unterscheiden, weil dies letztlich die Rechtsgleichheit gefährde: eine Forderung, deren Berechtigung sich in den folgenden deutschen Bundesstaaten erweisen sollte. Weil v. Gagerns Arbeiten nicht veröffentlicht wurden, hatten sie allerdings für die Entwicklung der Bundesstaatslehre keine Bedeutung. Es blieb anderen vorbehalten, die erkannten Probleme zum Gegenstand einer breiten, wissenschaftlichen Erörterung zu machen. 247
6. Der Deutsche Bund - Föderalismus zwischen Restauration und Revolution So ambivalent wie das Urteil über die Rechtsnatur des Bundes ausfällt, so differenziert muss auch eine Bewertung des Bundes im Hinblick auf die föderale Entwicklung ausfallen. Er knüpfte in vielem an das Alte Reich an: Das Territorium des Bundes orientierte sich noch an den vorstaatlichen, übernationalen Grenzen des Reiches und mit der Garantie europäischer Großmächte für die Bundesakte blieb er eingebettet in eine gesamteuropäische Ordnung. Österreich-Habsburg behielt als Präsidialmacht eine herausgehobene Stellung, Frankfurt gewann als Sitz der Bundesversammlung, die bald in Anlehnung an den Reichstag Bundestag genannt wurde, wieder eine zentrale Bedeutung. Mit der Stimmgestaltung im Plenum und Engeren Rat wurde an das System der Viril- und Kuriatstimmen des Reichstages angeknüpft und das Verbot von Mehrheitsbeschlüssen in Religionssachen erinnerte an den alten Grundsatz "itio in partes". Die Bundesakte traf noch viele Abwicklungsbestimmungen248 und auch die Bundespraxis war oft von der Bewältigung der Folgeprobleme des Untergangs des Alten Reiches bestimmt. 249 Trotzdem war der Bund eine neue Fonn föderaler Ordnung. Statt der alten reichischen Hierarchie wurde ein Föderalismus geschaffen, der auf dem Prinzip der formalen Rechtsgleichheit basierte - alte Formen wurden auf protokollarische Rangfragen reduziert und letztlich mit neuen Inhalten aufgefüllt. Mit dem weitgehenden Festhalten an der territorialen Neuordnung Deutschlands aus der Zerfallszeit des Reiches wurde ein "Fortschritt an rationaler Gestaltung,,250 erreicht, dessen Ergebnisse über lange Zeit die Landkarte Deutschlands prägen sollten. 247 Zum Problem der Souveränität im Bundesstaat siehe unten C.1.6.a) (Waitz) und C.III.2. (v. Seydel), zur mangelnden Homogenität an Größe und Macht siehe unten C.1.7. (Frantz). 248 Vgl. Art. 14-17 DBA. 249 Vgl. Willoweit, Dt. VerfG, S. 231. 250 Huber, Dt. VerfG I, S. 585.
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Der Forderung der Zeit nach Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, nach dem Nationalstaat, entsprach die Bundesgriindung 1815 freilich nicht, ebenso wenig den wirtschaftlich-sozialen Erfordernissen der zur Jahrhundertmitte beginnenden industriellen Revolution. Immerhin gab der Bund Deutschland einen institutionellen Rahmen, der es nach außen hin festigte und im Innern stabilisierte. Eingebettet in das System des europäischen Gleichgewichts sicherte er nach mehr als zwei kriegerischen Jahrzehnten über lange Zeit den Frieden in Europa. Deutschland war stark genug, jede fremde Bedrohung abzuwehren, ohne dass sich aber eine andere Macht Europas bedroht fühlte. 251 Innerhalb Deutschlands sorgte der Bund nach einer Epoche der hemmungslosen Okkupation, in der nur das Recht des Stärkeren galt, für eine "friedensstiftende, föderativ schlichtende Wirkung auf die einzelnen Länder".252 So trug der Bund zu einem friedlichen Nebeneinander der Staaten in Europa bei "ohne nationale Abschließung [... ], ohne imperialistische Unterdrückungs- und Einvedeibungsbestrebungen".253 Aus der Perspektive des nationalen Machtstaates erschien v. Treitschke der Bund allerdings "noch kläglicher als das Gebäude des alten Reichs in den Jahrhunderten des Niedergangs".254 Für die Geschichtsschreibung des Kaiserreiches war der Föderalismus des Deutschen Bundes mit seiner formalen Rechtsgleichheit und dem teilweisen Einstimmigkeitserfordernis bloß ein Produkt des Partikularismus, des "durch den Genuss der Souveränität aufgestachelten Dünkel der kleinen Kronen", das die Einheit der Nation blockierte. 255 Diese Thesen lassen sich mit Blick auf die Verfassungspraxis des Bundes und die Wiener Schlussakte kaum halten. Die formellen Voraussetzungen für ein Mehr an gemeinsamer Politik waren durchaus gegeben. Wenn es der reaktionären Politik dienlich schien, wenn es um den Kampf gegen liberale und nationale Anschauungen, gegen die Pressefreiheit oder die Freiheit der Universitäten ging, arbeitete der Bund durchaus effektiv und machte sich seine Kompetenzen zunutze. Dies führte zur paradoxen Situation, dass der Bund zur Verhinderung nationalstaatlicher Bestrebungen sich gerade unitarischer Instrumente, die eher einem Bundesstaate entsprochen hätten, bediente?56 Untätig blieb der Bund zumeist, wenn er seine Kompetenzen für den Konstitutionalismus und gegen absolutistische Willkür hätte einsetzen müssen - etwa beim hannoverschen Staatsstreich von 1837. 257 Durch diese Politik wurde der Bund doppelt in Verruf gebracht: 251 Vgl. Rumpier, Deutscher Bund und deutsche Frage, S. 9; dazu auch Gruner, Der Deutsche Bund und die europäische Friedensordnung, S. 235 ff. 252 Siemann, Vom Staatenbund zum Nationalstaat, S. 327. 253 Menger, Dt. VerfG, S. 108. 254 v. Treitschke, Dt. Geschichte I, S. 690. 255 v. Treitschke, Dt. Geschichte I, S. 691. 256 Huber, Dt. VerfG I, S. 736.
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als Verhinderer der erwünschten nationalen Einheit und als Instrument der Reaktion gegen die liberale Verfassungsbewegung. Noch lange blieb der Föderalismus mit dem Ruch von Reaktion und Partikularismus ("Kleinstaaterei") behaftet. 258 Allerdings hatte sowohl die Restaurationspolitik als auch das Versagen des Bundes ihre Ursache in der Übereinstimmung oder Divergenz der Interessen der beiden Großmächte Österreich und Preußen. In den Bereichen, in denen sich die Führungsmächte Deutschlands uneinig waren - etwa der Wirtschaftspolitik -, war der Bund zum Schattendasein verurteilt und die notwendigen Einigungsprozesse erfolgten ohne ihn, zum Beispiel im Deutschen Zollverein. Statt des Föderalismus war es die preußisch-österreichische Doppelhegemonie, die zum Hemmschuh der Entwicklung in Deutschland wurde?59 Weil Preußen zu sehr an der nationalen Einheit und Österreich aufgrund seiner multinationalen Struktur zu wenig an Deutschland interessiert war, blieb es vorerst beim Status quo. Erst als zur Jahrhundertmitte die Bedürfnisse der Zeit nach einheitlicher Ordnung drängender wurden, als die Nationalisierung infolge der 1848er Ereignisse voranschritt und das System des europäischen Gleichgewichts zunehmend einer Realoder vielmehr Machtpolitik wich, spitzte sich der Dualismus zu. Zwar wurde der Bund noch einmal als Repressionsinstrument reaktiviert, um die Folgen der Revolutionszeit auszutilgen, aber der Reforrnbedarf war offenkundig und wurde immer mehr zum Gegenstand der öffentlichen Debatte. Doch während Preußen den nationalen Bundesstaat propagierte, verfochten Österreich und einige Mittelstaaten die Fortentwicklung des Bundes auf staatenbündischer Grundlage. 260 Österreich konnte aufgrund seiner multinationalen Struktur den Nationalstaat nicht wollen und Preußen forderte eine mindestens gleichberechtigte Führungsrolle in Deutschland ein. Die einvernehmliche Lösung scheiterte und erst der Sieg Preußens über Österreich brachte 1866 die Entscheidung, die zum Ausscheiden Österreichs aus Deutschland, der Auflösung des Bundes und letztlich des kleindeutschen Nationalstaates führte. Der Deutsche Bund bestand zwischen Ancien Regime und der bürgerlich-industriellen Epoche, zwischen der Multinationalität des Alten Reiches und dem aufkommenden Nationalstaat. Er setzte eine Föderation rechtlich Gleicher an die Stelle einer hierarchischen Ordnung, aber er schuf auch die 257 Vgl. dazu Stern, StaatsR V, S. 222 ff. m.w.N.; zu einer Ausnahme im Falle Braunschweigs 1827-30 vgl. Huber, Dt. VerfG 11, S. 47 ff. 258 Rumpier, Staat 16 (1977), 217. 259 Rumpier, Staat 16 (1977), 221. 260 Vgl. zur Bundesreform Huber, Dt. VerfG 11, S. 885 und Dt. VerfG III, S. 399; zur öffentlichen Reformdebatte und deren Einfluss auf die Bundesstaatsidee siehe auch Deuerlein, Föderalismus, S. 116.
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Doppelhegemonie. Er war der Klassiker des Staatenbundes und doch zugleich mit bundesstaatlichen Elementen durchsetzt. Er war Bollwerk gegen den aufkeimenden Nationalismus und unterdrückte zugleich das Streben nach Freiheit und Demokratie. Der Deutsche Bund war ein ambivalentes Geschöpf einer Epoche des Übergangs. Die Strömungen der Zeit konnte er letztlich nicht aufualten und an seinem Dualismus zerbrach er. Doch zuvor nahm die Nation 1848 ihr Schicksal selbst in die Hand und versuchte, Deutschland eine bundesstaatliche Ordnung zu geben.
IV. Die Paulskirchenverfassung Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849261 - nach dem Ort ihres Entstehens in Frankfurt kurz Paulskirchenverfassung (PV) genannt - war das staatsrechtliche Ergebnis der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49 und eine Synthese von liberaler Verfassungsbewegung und nationalem Einheitsstreben. Mit dieser Verfassung wurde erstmals ein Modell für einen demokratischen Bundesstaat in Deutschland entworfen. Zwar scheiterten Revolution und Verfassung, aber das Werk der Paulskirche hat die spätere Verfassungsentwicklung in Deutschland entscheidend geprägt. 262
1. Entstehen und Scheitern der Paulskirchenverfassung Im Jahr 1848 brach sich das Streben nach politischer Freiheit und nationaler Einheit in Deutschland durch eine Revolution die Bahn. 263 Bereits in den Vorjahren hatte sich in sozialen Unruhen und politischen Aktionen die Unzufriedenheit mit den bestehenden staatlichen Verhältnissen deutlich gezeigt. Das Freiheitsverlangen der Bevölkerung ließ sich immer schwerer durch den Repressionsapparat unterdrücken. In ganz Europa gärte es, in vielen Ländern setzten sich neue politische Ideen gegen die bisherige Ordnung durch. In Italien erhob man die Forderung nach einem italienischen Nationalstaat, in der Schweiz führte ein Bürgerkrieg zur Ablösung der bisherigen staatenbündischen durch eine bundesstaatliche Ordnung und in Frankreich wurde am 24. Februar 1848 König Louis Philippe gestürzt und die Republik ausgerufen. Es brach ein europäischer "Völkerfrühling" an, der überdies in Ungarn, Böhmen und Polen zu Volkserhebungen führte. In RGBI. 1849, S. 101; Text auch bei Dürig/Rudolf, Texte, Nr. 6. Vgl. zu ihrer Vorbild wirkung Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 102 ff. 263 Siehe zur Darstellung der Geschehnisse etwa Willoweit, Dt. VerfG, S. 233 ff.; Th. Nipperdey, Dt. Geschichte, S. 595 ff.; W. Mommsen, 1848, S. 104 ff.; Siemann, Die deutsche Revolution von 1848/49, 1993. 261
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IV. Die Paulskirchenverfassung
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Deutschland kam es an vielen Orten zu Volksversammlungen, in denen liberale Grundfreiheiten, die nationale Einheit und die Wahl von Volksvertretungen gefordert wurden. Diese Erhebungen errangen schnelle Erfolge. In Wien musste Metternich zurücktreten und fliehen, die bisherige politische Überwachung und Pressezensur wurde eingestellt, die Abhaltung von Wahlen in Aussicht gestellt, und liberale Politiker, die sogenannten "Märzminister", wurden in die Regierungen berufen. Während der Deutsche Bund, dessen Bundesversammlung nunmehr mit überwiegend liberalen Gesandten besetzt war, versuchte, am nationalpolitischen Geschehen Anteil zu behalten und seine Reform anbot, wurden liberale Abgeordnete der süddeutschen Landtage zum Mittelpunkt der revolutionären Entwicklung. Ein von ihnen einberufenes Vorparlament aus Mitgliedern der bisherigen Ständeversammlungen schrieb Wahlen zu einer "Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung" aus, die die Bundesversammlung nur noch im Nachhinein legalisieren konnte. Am 18. Mai 1848 trat die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche erstmals zusammen. Sie war nicht nur berufen, auf Grund der Souveränität der Nation Deutschland eine Verfassung zu geben, sondern beanspruchte auch die Errichtung einer Reichsexekutive. Dazu schuf sie mit einem Reichsverweser, dem österreichischen Erzherzog Johann, und einem Ministerium eine provisorische Zentralgewalt für Deutschland. Zwar übertrug die Bundesversammlung alle ihre Befugnisse auf den Reichsverweser264, doch litt die neue Zentralgewalt von Beginn an unter einem Mangel an realer Macht, da sich die Truppen und Behördenapparate der Einzelstaaten ihrem Einfluss entzogen. 265 Die Nationalversammlung begann zunächst mit der Ausarbeitung des Grundrechtsteils der Verfassung; dieser wurde am 27. Dezember vorab als Reichsgesetz verkündet. 266 Vom Oktober 1848 an berieten die Abgeordneten, wie Deutschland als Staat zu konstituieren sei. Zum besonderen Problem entwickelte sich die Frage der Mitgliedschaft Österreichs in einem deutschen Nationalstaat. Angesichts der zahlreichen nicht-deutschen Territorien musste ein Nationalstaat mit Deutsch-Österreich - die großdeutsche Lösung - zum Zerreißen des Habsburgerreiches führen, dessen ungeteilter Erhalt hätte aber das Ausscheiden Österreichs aus dem deutschen Nationalstaat bedeutet - die kleindeutsche Lösung. Weil der Nationalismus auch bei den nationalen Minderheiten innerhalb des Bundes und Preußens sowie den Nationen des Habsburgerreiches den Anspruch auf Selbstbestimmung weckte, erhielt die Frage der deutschen Einheit überdies 264 Siehe dazu die Erklärung des österreichischen Präsidialgesandten; Text bei Huber, Dokumente I, Nr. 86. 265 VgJ. Reichsgesetz über die Einführung einer provisorischen Zentralgewalt; Text bei Huber, Dokumente I, Nr. 85. 266 RGBl. 1848, S. 49.
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B. Föderale Elemente im deutschen Staatsleben bis 1866
eine europäische Dimension. Dies zeigte sich im Sommer 1848, als der Krieg mit Dänemark um Schleswig die Großmächte zu einer Intervention auf den Plan rief. Als die Nationalversammlung am 27. März 1849 die Reichsverfassung beschloss und am Tag darauf den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. zum Kaiser wählte, hatte in den deutschen Einzelstaaten die Gegenrevolution bereits wieder die Zügel der Macht ergriffen. Österreich lehnte den nationalen, demokratischen Bundesstaat unter preußischer Führung ab und berief seine Abgeordneten aus Frankfurt zurück. Der preußische König wies die ihm angebotene Krone ab. Für den Monarchen, der seine Herrschaft bislang als "von Gottes Gnaden" legitimiert wähnte, war die ihm von den Volksvertretern angebotene deutsche Kaiserkrone nur ein "Reif aus Dreck und Letten gebacken", der mit dem "Ludergeruch der Revolution von 1848" behaftet war. 267 Die folgende Reichsverfassungskampagne, mit der die Nationalversammlung versuchte, ihr Werk auch gegen den Widerstand der ablehnenden Monarchen durchzusetzen, scheiterte. Volksaufstände wurden von preußischem Militär niedergeschlagen, die Reste des Parlaments mit Gewalt aufgelöst. Im August übertrug schließlich der Reichsverweser seine Befugnisse auf Preußen und Österreich. Preußen versuchte noch, das Verfassungswerk für seine Pläne eines Bundesstaates monarchischer Prägung (,,Erfurter Union") zu nutzen 268 , musste diese aber bald unter österreichischem Druck aufgeben. 269 Am 2. September 1850 berief Österreich die alte Bundesversammlung wieder ein, in die bald auch Preußen wieder einrückte, und gemeinsam knüpfte man an die Repressionspolitik vorangegangener Jahre an. 2. Die Entscheidung für den deutschen Bundesstaat Im Laufe der Ereignisse des Jahres 1848 bestanden unterschiedliche Auffassungen darüber, auf welchem Weg ein Mehr an staatlicher Einheit erreicht werden und wie die Ordnung dieses einigen Deutschlands aussehen sollte. Dabei hingen die Fragen der Verfassungsgebung und der Ausgestaltung der Verfassung eng zusammen.
267 Schreiben König Friedrich Wilhelms IV. an seinen Botschafter in London vom 13.12.1848; Text bei Grab, Die Revolution, Nr. 57. 268 Vgl. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 85 ff.; Synopse von PV und des Entwurfs der Unionsverfassung bei v. Puttkammer, Föderative Elemente, Nr. 24, 25. 269 Vgl. dazu Huber, Dt. VerfG II, S. 885 ff.
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a) Die Entscheidung über die veifassungsgebende Gewalt Vorentscheidung für den Bundesstaat Die Regierungen der Einzelstaaten wollten bis 1848 den bisherigen Deutschen Bund zur Grundlage einer etwaigen Neuordnung Deutschlands machen und eine Verfassungsgebung vor allem auf eine neue Übereinkunft der Einzelstaaten stützen. Auch nach dem Hinzutreten einer nationalen Volksvertretung beharrten sie auf ihrer Teilhabe an der Verfassungsgebung. Die Bundesversammlung sah daher noch im März 1848 die Aufgabe der zu wählenden Nationalversammlung darin, "zwischen den Regierungen und dem Volke das deutsche Verfassungswerk zu Stande zu bringen".27o Preußen betonte gegen Ende der Verfassungs beratungen 1849 das "Recht der Zustimmung,, 271 der Einzelstaaten und die österreichische Regierung erörterte einen ,,Beitritt" zu Reich und Verfassung. Diese Beurteilung der Verfassungsgebung entsprach nicht nur dem konstitutionellen Verfassungsverständnis, das von einem Vertrag zwischen Fürst und Volksvertretung ausging, sondern betonte die Legalität der Arbeit der Nationalversammlung als Unternehmen zur Fortbildung der Verfassung des Deutschen Bundes. Damit wurde aber auch ein extrem föderativer Ansatz der Verfassungsgebung verfochten, der - dem bisherigem Staatenbund gemäß - Entstehung und Änderung der Verfassung nur in Gestalt eines Verfassungsvertrages zwischen den Einzelstaaten vorsah. Der Nationalversammlung lag hingegen eine national-unitarische Konzeption für die Verfassungsgebung zu Grunde. Bereits das Vorparlament hatte verkündet, dass "die Beschlußnahme über die künftige Verfassung Deutschlands einzig und allein dieser vom Volke zu erwählenden constituirenden Nationalversammlung zu überlassen sei,,?72 Bei der Eröffnung der "deutschen constituirenden Nationalversammlung" betonte deren Präsident Heinrich v. Gagern denn auch die verfassungsgebende Gewalt der Versammlung: "Wir sollen schaffen eine Verfassung für Deutschland, für das gesamte Reich. Der Beruf und die Vollmacht zu dieser Schaffung, sie liegen in der Souveränität der Nation.,,273 Das von der Verfassung später vorgesehene Regierungssystem mag man zwischen Volks- und Monarchen270 Beschluss der Bundesversammlung vom 30.3.1848; Text bei Huber, Dokumente I, Nr. 82. 271 Vgl. die preußische Erklärung vom 23.1.1849; Text bei Huber, Dokumente I, Nr. 101. Die preußische Haltung dazu dokumentiert auch der Erlass des preußischen Staatsministerium vom 14.5.1849; Text bei Huber, Dokumente I, Nr. 125. 272 Beschlüsse des Vorparlaments vom 31.3.-4.4.1848; Text bei Huber, Dokumente I, Nr. 81. Dieser Beschluss wandte sich freilich auch gegen die Beanspruchung einer revolutionären verfassungs gebenden Gewalt durch das Vorparlament selbst. 273 NY, Steno Ber. I, S. 17.
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souveränität verorten274 , der Verfassungsgebung selbst lag aber der Gedanke der Volkssouveränität zu Grunde. Mangels eines nationalen Monarchen konnte die Formel von der "Souveränität der Nation" bei der Verfassungsgebung nur im Sinne der Volkssouveränität und einer Absage an das Vereinbarungsprinzip verstanden werden. 275 Die Inanspruchnahme der verfassungsgebenden Gewalt durch ein national-unitarisches Organ musste bereits eine Vorentscheidung für die künftige Gestalt Deutschlands sein?76 indem sich mit der Nationalversammlung ein einziges nationales Organ über die Macht der Einzelstaaten erhob, wurde ein Staatenbund undenkbar. An die Stelle des zwischenstaatlichen Verfassungsvertrages, ruhend auf der Souveränität der Einzelstaaten, trat die auf die Souveränität der Nation gegründete und von der Nationalversammlung erlassene Verfassung. Dem nationaldemokratischen Ideal hätte daher auch eine unitarische Staatsorganisation im Sinne einer "n!publique une et indivisible", das heißt der nationale Einheitsstaat, entsprochen. Die Forderungen nach staatlicher Einheit und nationaler Verfassungsgebung gingen allerdings ganz überwiegend nicht einher mit der Forderung nach einem Einheitsstaat. Die liberalen Kräfte forderten zwar eine deutsche Nationalvertretung und -regierung und strebten eine Vereinheitlichung an bei Handel und Wirtschaft sowie im Bereich der Außen- und Militärpolitik. Bei alledem sollte aber auch "Rücksicht auf die eigentümlichen Verhältnisse der einzelnen Staaten,,277 genommen werden und "die Besonderheit und angemessene Selbstverwaltung der einzelnen Länder bestehen [bleiben]'.27s. Die radikalen Demokraten, die dem Prinzip der Volkssouveränität mit der Errichtung einer Republik vollständig entsprechen wollten, forderten zwar eine territoriale Neugliederung Deutschlands aber keineswegs den Einheitsstaat. Sie erstrebten vielmehr die Errichtung von gleich großen Reichskreisen, die "alle vereint in der föderativen Bundesverfassung nach dem Muster der . nordamerikanischen Freistaaten" sein sollten?79 Allein die sich um Marx und Engels formierende Kommunistische Partei machte sich für den Einheitsstaat stark und propagierte: "Ganz Deutschland wird zu einer einigen, unteilbaren Republik erklärt. ,,280 274 Vgl. Kühne, NJW 1998, 1515; ders., Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 577 f. 275 Vgl. Laufs, JuS 1998, 389. 276 Huber, Dt. VerfG 11, S. 592. 277 Vgl. Heppenheimer Programm der südwestdeutschen Liberalen vom 10.10. 1847; Text bei Huber, Dokumente I, Nr. 69. 278 Erklärung der Heidelberger Versammlung vom 5.3.1848; Text bei Huber, Dokumente I, Nr. 70. 279 So der Antrag Gustav v. Struves im Vorparlament am 31.3.1848; Text bei Huber, Dokumente I, Nr. 77.
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Sowohl der Verfassungsentwurf des beim Bundestag gebildeten Siebzehner-Gremiums 281 als auch die im Juni 1848 folgende Errichtung einer provisorischen Zentralgewalt durch die Nationalversammlung machten schnell deutlich, dass eine bundesstaatliche Ordnung Deutschlands das Gebot der Zeit war. Der neugeschaffenen Zentralgewalt wies die Nationalversammlung neben dem militärischen Oberbefehl und der außen- und handelspolitischen Vertretung Deutschlands auch die "vollziehende Gewalt [... ] in allen Angelegenheiten, welche die allgemeine Sicherheit und Wohlfahrt des deutschen Bundesstaates betreffen" ZU. 282 Für den Gesetzesvollzug waren aber die bestehenden Einzelstaaten unverzichtbar, so dass zugleich die Zusammenarbeit der Zentralgewalt mit den Einzelstaaten im Bereich der Vollziehungsmaßregeln festgeschrieben wurde.
b) Die Beratungen der Nationalversammlung Die Verfassungsberatungen der Nationalversammlung und ihres Verfassungsausschusses waren insgesamt von einem breiten Konsens für eine bundesstaatliche Ordnung getragen: ,,Eine neue Bundesform, die zwischen der Einheitsregierung und der bisherigen Form des Staatenbundes in der Mitte steht, die Form des Bundesstaates kann nach allgemeiner Ansicht allein den Forderungen genügen, nur sie kann zunächst den bestehenden Verhältnissen und Interessen Deutschland's entsprechen.,,283 Dennoch wurden in Einzelfragen bisweilen ganz verschiedene Vorstellungen damit begründet, dass allein sie dem wahren "Wesen des Bundesstaates" entsprächen. 284 Zu Recht stellte daher die demokratische Minderheit im Verfassungsausschuss klar: "Es ist nämlich der Begriff des Bundesstaates ein nicht ganz fest bestimmter und begrenzter, er bewegt sich vielmehr in einem Mehr und Minder zwischen zwei äußersten Grenzen, dem Staatenbunde auf der einen, dem einheitlichen, centralisirten Reiche auf der anderen Seite, so daß sich der Bundesstaat bald dem einen, bald dem andern mehr nähern kann, je nach280 Forderungen der kommunistischen Partei vom 5.4.1848; Text bei Grab. Die Revolution, Nr. 17. 281 Vgl. Vorwort und Art. I § 2 des "Entwurfs für ein Deutsches Reichsgrundgesetz" vom 26.4.1848; Text bei Huber. Dokumente I, Nr. 91. 282 Reichsgesetz über die Einführung einer provisorischen Zentralgewalt für Deutschland vom 28.6.1848, RGBI. 1848, S. 2; Text auch bei Huber. Dokumente I, Nr.82. 283 Entwurf des Verfassungsausschusses, Motive, NY, Steno Ber. IV, S. 2722. Grundsätzlich für den Bundesstaat auch die Begründung des Minderheits-Gutachten, NY, Steno Ber. IV, S. 2742 ff.; vgl. auch die Programme der wichtigsten Parlamentsfraktionen dazu, Texte bei Grab. Die Revolution, Nr. 32. Zur Diskussion in Frankfurt siehe auch Deuerlein. Föderalismus, S. 79 ff. 284 Vgl. Dreyer, Föderalismus, S. 553 ff. m. W. N.
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dem das ihn umschlingende Band ein mehr oder weniger lockeres, die Centralgewalt eine schwächere oder eine stärkere ist. ,,285 Die unterschiedlichen Vorstellungen rührten nicht zuletzt daher, dass man sich bei den Beratungen einerseits an bestehenden Bundesstaaten wie den USA und den jüngsten Entwicklungen in der Schweiz orientierte, andererseits gerade aus den Mängeln der bisherigen staatenbündischen Ordnung in Deutschland Schlussfolgerungen für die künftige Verfassung zu ziehen versuchte. 286 Ein Streitpunkt war insbesondere die künftige Gliederung Deutschlands. Zwar wurden allenthalben die Kleinstaaterei und die Disproportionalitäten der Einzelstaaten beklagt, aber weder wurde eine umfassende Neugliederung in 21 gleich große Reichskreise unter Verzicht auf die bisherigen Grenzen noch ein Plan zur Mediatisierung zumindest der kleinsten Staaten verabschiedet. 287 Die Mehrheit der Nationalversammlung setzte vielmehr auf freiwillige Vereinigungen. Die Entscheidung für einen Bundesstaat, und zwar gegliedert in die bisherigen Einzelstaaten, rührte von der Prägekraft der bisherigen partikularen Entwicklung her. Sie war zu stark, als dass man über die bestehenden Einzelstaaten hätte hinweggehen können. Die bisherige Staatlichkeit in Deutschland hatte sich innerhalb der einzelnen Territorien gebildet. Die bestehenden Verwaltungen, Heere, Gerichte usw. waren solche der Einzelstaaten. Sogar die Durchführung der Wahl der Nationalversammlung lag organisatorisch in den Händen der Länderverwaltungen. Zur Bildung einer von den Einzelstaaten unabhängigen, wirkungsvollen Exekutivmacht kam es trotz der Errichtung der "provisorischen Zentralgewalt" nicht, so dass man auf die einzelstaatlichen Administrationen angewiesen blieb. Um sich bei einer weiteren territorialen Flurbereinigung auch über Widerstände hinwegsetzen zu können, fehlte es also dem Parlament an Machtmitteln. Überdies waren aber auch die politischen Akteure der Revolution von der bisherigen partikularen Entwicklung geprägt, denn viele waren zuvor in den Kammern der einzelstaatlichen Parlamente tätig. Weil auch diese Kammern im Zuge der Revolution neu gebildet waren und revolutionäres Selbstbewusstsein entwickelten, kam es sogar zu einer Art "Parlamentspartikularismus".288 Trotz des Strebens nach nationaler Einheit war man dort wie in der breiten Masse des Volkes einzelstaatlich orientiert. 289 Begründung des Minderheits-Gutachten, NV, Steno Ber. IV, S. 2742. Vgl. EntwuIf des VeIfassungsausschusses, Motive, NY, Steno Ber. IV, S. 2732. Zum Einfluss des amerikanischen Bundesstaatsmodells vgl. Kühne, Die BundesveIfassung der Vereinigten Staaten in der Frankfurter VeIfassungsdiskussion 1848/49, S. 178 ff.; Boldt, Der Föderalismus in den ReichsveIfassungen, S. 297 ff.; Dippel, Staat 38 (1999), 221 ff. 287 Vgl. NY, Steno Ber. IV, S. 2747; V, S. 3840. 288 So Th. Nipperdey, Dt. Geschichte, S. 653. 289 Vgl. etwa die Massenpetition gegen eine Mediatisierung aus dem Fürstentum Schaumburg-Lippe an die Nationalversammlung, NY, Steno Ber. IV, S. 2943. 285
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Schließlich zählten auch die Kleinstaaten und ihre Regierungen zu den engagiertesten Befürwortern des Einigungswerkes. 290 Dort war man zwar nicht zum Verzicht auf die Staatlichkeit, aber um der Einheit willen durchaus zur Preisgabe von einzelnen Hoheitsrechten bereit. 291 In der Frage der politisch-rechtlichen Gewichtsverteilung zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten forderte die parlamentarische Linke um Robert Blum einen eher unitarischen Bundesstaat mit einer starken Zentralgewalt. 292 Zum einen erfordere die geopolitische Lage Deutschlands - anders als bei den USA - eine stärkere Geschlossenheit nach außen. Hier dachte man wohl vornehmlich an den benachbarten französischen Einheitsstaat. Zum anderen sei eine starke demokratische Zentralgewalt nötig, weil die Einzelstaaten ganz überwiegend Monarchien seien: "Das Vorherrschende ihrer Verbindung wird immer die im gegenseitigen Interesse der Dynastien liegende polizeiliche Unterstützung gegen die Freiheitsbestrebungen ihrer ,Unterthanen' sein.,,293 Eine Einschätzung, die auf den Erfahrungen mit dem Deutschen Bund beruhte und die die Skepsis gegenüber den fortbestehenden monarchischen Einzelstaaten deutlich macht. Schließlich erforderten die ungleichen Größenverhältnisse der deutschen Gliedstaaten und die damit einhergehende Gefahr einer Hegemonie eine "den Einzelregierungen gegenüber stark und kräftig gemachte Centralgewalt [... ] bleiben aber die deutschen Einzelstaaten Mächte, so ist nur eine auf Suprematie, auf die Herrschaft der Einen und die Dienstbarkeit der Anderen gegründete Einheit denkbar. ,,294 Umstritten war auch, ob neben einem Staatenhaus noch ein - lediglich beratendes - Vertretungsorgan der einzelstaatlichen Regierungen, ein Reichsrat, eingerichtet werden sollte. Nur eine Minderheit hielt dies zur Vertretung der besonderen Interessen und Wünsche der einzelnen Regierungen für erforderlich. 295 Allzu sehr erinnerte ein solches Gremium an die alte Bundesversammlung, und man fürchtete, dass durch einen solchen Reichsrat dynastische Partikularinteressen gegenüber den Reichsinteressen die Oberhand erlangen würden. 296 290 Die Reichsverfassung anerkannten Anfang 1849 etwa 31 Einzelstaaten; vgl. Huber, Dt. VerfG 11, S. 812 f. 291 So der Tenor der o. a. Massenpetition aus Schaumburg-Lippe, NV, Steno Ber. IV, S. 2943. 292 Vgl. Entwurf des Verfassungsausschusses, Begründung des Minderheits-Gutachten, NV, Steno Ber. IV, S. 2742 ff. 293 Vgl. Entwurf des Verfassungsausschusses, Begründung des Minderheits-Gutachten, NV, Steno Ber. IV, S. 2743. 294 Begründung der Minderheits-Gutachten, NV, St. Ber. IV, S. 2744. 295 Vgl. Bericht des Verfassungsausschusses, Motive, NV, Steno Ber. VI, S. 4680.
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Schließlich war das Reichsoberhaupt, das die Regierungsgewalt im Reich innehaben sollte, Gegenstand langer Auseinandersetzungen. Hier wurde eine Vielzahl von teils republikanischen, teils monarchischen, teils kollegialen Modellen erörtert. 297 Mehrheitlich wurde die erbliche Übertragung einer deutschen Kaiserkrone an einen regierenden deutschen Fürsten - den preußischen König - erwogen. Kritiker wiesen auf den mit der Dopplung von einzel staatlicher Fürsten- und reichischer Kaiserkrone einhergehenden Widerspruch zum Grundsatz der Gleichberechtigung der Gliedstaaten im Bundesstaat hin und fühlten sich an die mittelalterliche Vasallität des Alten Reiches erinnert298 , andere fürchteten eine Hegemonie des dennaßen bevorrechtigten Einzelstaates. 299 Tatsächlich war insbesondere bei den Höfen der Mittelstaaten die Sorge vor einer preußischen Hegemonie in Deutschland groß. 300 Es bildete sich daher eine "süddeutsch-niedersächsisch-österreichische Kampffront gegen Berlin und Frankfurt", die ein preußisches Erbkaisertum zu verhindern suchte. 30l Wenn sich die Nationalversammlung dennoch für einen Erbkaiser als Oberhaupt des Bundesstaates entschied, so deshalb, weil man es für "notwendig hielt, daß die erst zu gründende definitive Reichsgewalt mit einer schon fest geordneten, Achtung gebietenden Macht verbunden werde, und darin ihre Stütze finde,,?02 Dieses Motiv gab denn auch den Ausschlag, den mächtigsten deutschen Fürsten zum Kaiser zu wählen. Die Verfassungsväter hofften auf ein Aufgehen Preußens im Reich und wollten sich dessen Macht für das neue Reich zunutze machen: ,,Nur unter Preußens Vortritt [... ] kann der deutsche Bundesstaat die innere Kraft und die äußere Stellung erlangen, derer er nothwendig bedarf.,,303 Die Entscheidung für eine solche kleindeutsche Lösung wurde überdies dadurch erleichtert, dass die mittlerweile antirevolutionäre Regierung in Wien der Bildung eines nationalen Bundesstaates energisch entgegentrat und für das gesamte Habsburgerreich eine zentralistische Verfassung erlassen hatte. 304 Am 296 Im Verfassungsausschuss noch die Minderheitenposition, vgl. Bericht des Verfassungsausschusses, Motive zu dem Minoritäts-Gutachten, NY, Steno Ber. VI, S.4686. 297 Vgl. die Darstellung bei Huber, Dt. VerfG 11, S. 807 ff. 298 Bericht des Verfassungsausschusses, Motive zu dem Minoritäts-Gutachten, NY, Sten. Ber. VI, S. 4683. 299 Bericht des Verfassungsausschusses, Motive zu dem Minoritäts-Gutachten, NV, Steno Ber. VI, S. 4682. 300 Vgl. die Darstellung der höfischen Politik bei Valentin, Geschichte der deutschen Revolution H, S. 351 ff. 301 Valentin, Geschichte der deutschen Revolution H, S. 363. 302 Bericht des Verfassungsausschusses, Motive, NY, Steno Ber. VI, S. 4679. 303 Bericht des Verfassungsausschusses, Motive zu dem Minoritäts-Gutachten, NY, Steno Ber. VI, S. 4684. 304 Vgl. Depesche des Fürsten Schwarzenberg an den österreichischen Bevollmächtigten bei der Reichszentralgewalt; Text bei Huber, Dokumente I, Nr. 97.
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Ende all dieser parlamentarischen Kontroversen stand die Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849, die erstmals einen deutschen Bundesstaat konstituieren sollte.
3. Der Bundesstaat der Paulskirchenverfassung a) Das Bundesstaatsprinzip Die Paulskirchenverfassung enthielt keine deklaratorische Festlegung auf das Bundesstaatsprinzip.305 Entsprechende Anträge waren in den Verfassungsberatungen als überflüssig erkannt worden, weil sich der Bundesstaat aus seiner konkreten Gestaltung ergebe. 306 Die Grundentscheidung für den Bundesstaat dokumentiert daher § 5 PV: "Die einzelnen deutschen Staaten behalten ihre Selbständigkeit, soweit dieselbe nicht durch die R~ichsverfas sung beschränkt ist; sie haben alle staatlichen Hoheiten und Rechte, soweit diese nicht der Reichsgewalt ausdrücklich übertragen sind." Damit wurde die Überordnung der neugeschaffenen Staatlichkeit des Reiches über die bisherigen Staaten dokumentiert, aber zugleich der Erhalt ihrer Staatsqualität ausgedrückt. Daneben wurde damit auch die Form der Aufteilung der Staatstätigkeit zwischen Reich und Einzelstaaten geklärt: Das Reich bedurfte einer ausdrücklichen Kompetenzzuweisung durch die Reichsverfassung, im Übrigen waren die Einzelstaaten für die Erfüllung der staatlichen Aufgaben zuständig. Schließlich beantwortete § 5 PV auch die Mediatisierungsfrage, indem er es bei der bisherigen territorialen Ordnung beließ und damit die Kontinuität zum Deutschen Bund dokumentierte (vgl. § 1 PV). Gleichwohl traf § 90 PV Regelungen für die Stimmenzahl im Staatenhaus für den Fall, dass "mehrere deutsche Staaten zu einem Ganzen verbunden werden". Damit wird deutlich: der Bestand der einzelnen Gliedstaaten stand zwar nicht zur Disposition des Reiches, wurde aber auch nicht vom Reich als unabänderlich garantiert. Das Reich sollte demnach einstweilen - einschließlich Deutsch-Österreichs und Schleswig-Holsteins - aus 39 Einzelstaaten höchst unterschiedlicher Größe bestehen (vgl. § 87 PV).
b) Die Teilung von Kompetenzen und Mitteln Entsprechend der Grundsatzentscheidung in § 5 PV regelte die Verfassung allein die Kompetenzen des Reiches. Alles nicht explizit dem Reich Zugewiesene fiel in die Zuständigkeit der Einzelstaaten. Dieses Prinzip 305 Siehe aber die Formulierung in § 87 Abs. 2 PV: "So lange die deutsch-österreichischen Lande an dem Bundesstaat nicht Theil nehmen ... ". 306 Vgl. zur Debatte um das Bundesstaatsprinzip Siemann, Die Frankfurter Nationalversammlung, S. 188 ff.
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führte zu mehr Rechtsklarheit als im bisherigen Deutschen Bund, wo die Bundeskompetenzen aus einer allgemeinen Zweckbestimmung des Bundes folgten. Insbesondere der II. Abschnitt der Verfassung, "die Reichsgewalt" , mit den §§ 6--67 PV enthielt diese Kompetenzzuweisungen, sie fanden sich aber auch noch an anderen Stellen über die gesamte Verfassung verteilt. Dabei erfolgten die Kompetenzzuweisungen statt nach Staatsfunktionen nach Sachbereichen geordnet. Die Verfassung sah vor, dass die auswärtige Gewalt und das Militärwesen ausschließlich in der Hand des Reiches liegen sollten (§§ 6, 10 PV). Ein eigener diplomatischer Verkehr mit dem Ausland wurde den Einzelstaaten ausdrücklich untersagt, deren Vertragsschlusskompetenz inhaltlich beschränkt und Verträge der Bestätigung durch das Reich unterworfen (§§ 79 PV). Das Ende des "ius ad bellum" und des seit dem Westfälischen Frieden bestehenden Bündnisrechts dokumentierte deutlich den mit der Reichsgründung einhergehenden Verlust der einzelstaatlichen Souveränität. Die (größeren) Einzelstaaten hätten damit den Status europäischer Mächte zugunsten des Deutschen Reiches eingebüßt. Der Reichsgewalt wurde des Weiteren die Zuständigkeit im Bereich der Verkehrswege, des Post- und Telegraphenwesens sowie der Zölle und Steuern übertragen. Schließlich sollte das Reich zur Rechtsvereinheitlichung im Bereich des Zivil-, Handelsund Strafrechts sowie des entsprechenden Verfahrensrechts tätig werden (§ 64 PV). Den sachlichen Kompetenzzuweisungen entsprach jeweils die Gesetzgebungskompetenz. 307 Reichsgesetze sollten künftig unmittelbare Geltung im Land haben (§ 65 PV). Damit wurde die zur Zeit des Deutschen Bundes umstrittene Frage geklärt, ob es zur Geltung von Bundesgesetzen noch einer einzelstaatlichen Publikation bedürfe. Zum Teil ergab sich die Gesetzgebungskompetenz aus einer ausdrücklichen Zuweisung in der Verfassung, im Übrigen war in Fonn einer Generalklausei bestimmt, dass die Reichsgewalt zur Gesetzgebung befugt sei, "soweit es zur Ausführung der ihr verfassungsmäßig übertragenen Befugnisse und zum Schutz der ihr überlassenen Anstalten erforderlich ist" (§ 62 PV). Dabei schuf die Verfassung unterschiedliche Arten von Gesetzgebungskompetenzen: Einige Befugnisse waren "ausschließlich" der Reichsgewalt übertragen (vgl. §§ 6, 10, 13 PV), bei anderen Materien besaß das Reich lediglich eine fakultative Zuständigkeit, neben der die Kompetenz der Einzelstaaten fortbestand. In diesen Fällen fakultativer Zuständigkeit war die Reichskompetenz teils an Bedingungen geknüpft (vgl. § 31 PV: " ... soweit es der Schutz des Reiches oder das Interesse des allgemeinen Verkehrs erheischt"), teils unbedingt (vgl. § 43 PV: " ... hat die Befugnis, insofern es ihr nötig scheint"). 307
VerfG
V gl. zur Gesetzgebungskompetenz des Reiches die Auflistung bei Huber, Dt. n, S. 823 f.
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Die umfangreichen Gesetzgebungsbefugnisse gingen mit einem weitgehenden Verzicht auf einen gesetzesvollziehenden Behördenapparat einher. Lediglich der diplomatische Dienst und die Marine wurden als Reichsverwaltung geführt. Das Reichsheer blieb ein Kontingentsheer in der administrativen Verantwortung der Einzelstaaten - wenn auch Vorgaben und Kontrollen des Reiches unterworfen. Bei der Eisenbahn und der Steuerverwaltung enthielt die Verfassung eine entsprechende Option. Im Übrigen ging die Verfassung jedoch vom Vollzug der Reichsgesetze durch die Behörden der Einzelstaaten aus. Hier beschränkte sich die Verwaltungskompetenz des Reiches auf die Ausübung einer "Oberaufsicht". Damit normierte die Verfassung anders als etwa der beispielgebende nordamerikanische Bundesstaat statt einer strengen Dopplung der Staatlichkeit von Reich und Einzelstaaten das Modell einer föderalen Verzahnung, bei der der Gesetzeserlass im Wesentlichen dem Gesamtstaat, der Vollzug hingegen den Gliedstaaten obliegt. Grund für dieses Modell mag im Wesentlichen die Hoffnung auf eine höhere Akzeptanz der Verfassung bei den Einzelstaaten und deren Administrationen sowie einer Nutzbarmachung ihrer Erfahrungen für den gesamtstaatlichen Gesetzesvollzug gewesen sein. 308 Die Rechtsprechung beließ die Reichsverfassung nahezu gänzlich in der Hand der Einzelstaaten. Das vorgesehene Reichsgericht übte vorerst lediglich in den Fällen des Hoch- und Landesverrats gegen das Reich ordentliche Gerichtsbarkeit aus (§ 126 I PV), im Übrigen fungierte es als Reichsverfassungsgericht (dazu sogleich unten). Die Verfassung wies dem Reich die Kostentragung für alle "von Reichswegen ausgeführten" Normen und Einrichtungen zu (§ 48 PV). Zur Bestreitung seiner Ausgaben sollte es einen durch Reichsgesetz bestimmten Teil der Zölle und der Verbrauchs- und Produktionssteuern bekommen (§ 35, Satz 2 PV). Die finanzielle Abhängigkeit des Gesamtstaats von seinen Gliedern, wie sie etwa in der notorischen Finanzschwäche des Alten Reiches ihren Ausdruck fand, suchte man durch eigene direkte Einnahmequellen des Reiches zu überwinden. 309 Die in staatenbündischen Ordnungen übliche Finanzierung durch eine Art "Mitgliedsbeiträge" blieb aber subsidiär erhalten: Das Reich konnte - soweit sonstige Einkünfte nicht ausreichten - Matrikularbeiträge der Einzelstaaten erheben (§ 49 PV). Inwieweit die Länder neben den reichsgesetzlich geregelten Steuern noch eigene Abgaben erheben durften, sollte durch Reichsgesetz geregelt werden (§ 36 PV).
308 Vgl. Kühne, Die Bundesverfassung der Vereinigten Staaten in der Frankfurter Verfassungsdiskussion 1848/49, S. 179. 309 Vgl. Entwurf des Verfassungsausschusses, Motive, NV, Steno Ber. IV, S.2736.
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c) Der Einfluss der Gliedstaaten auf die Gesamtwillensbildung Der Einfluss der Gliedstaaten auf die Willensbildung des Reiches erfolgte durch das föderative Organ des Reiches, das Staatenhaus, in das die Einzelstaaten - ihrer Größe nach gewichtet - von einem bis zu vierzig Vertreter entsandten (vgl. §§ 86-92 PV). Diese wurden je zur Hälfte von den Regierungen und von den Volksvertretungen der Staaten gewählt, unterlagen jedoch keinerlei Weisungen bei Abstimmungen (§ 96 PV). Das Staatenhaus bildete zusammen mit dem aus unmittelbaren Wahlen bestimmten Volkshaus den Reichstag und nahm gleichberechtigt mit diesem an der Gesetzgebung und der Regierungskontrolle, mit geringeren Befugnissen auch am Budgetrecht teil. An Verfassungsänderungen und damit an der im Reich-Länder-Verhältnis wichtigen Ausübung der Kompetenz-Kompetenz wirkte das Staatenhaus analog der einfachen Reichsgesetzgebung mit, wobei jedoch in beiden Häusern eine Zweidrittelmehrheit vorgeschrieben war (§ 196 PV). Das Staatenhaus hatte also die Stellung einer echten zweiten Kammer neben dem Volkshaus. Die zumindest hälftige Besetzung des Hauses durch die Regierungen steht noch in der Tradition des bisherigen staatenbündischen Organs des Deutschen Bundes. Mehr noch als diese Halbierung bedeutete aber die völlige Weisungsfreiheit auch der nicht parlamentarisch bestimmten Staatenhausmitglieder eine deutliche Abkehr vom Modell des "ständigen Gesandtenkongresses" für die Organisation des föderativen Gremiums. Die Berufung des Kaisers aus dem Kreis der Landesfürsten und die somit geplante Personalunion hätte einem der Einzelstaaten, nämlich Preußen, unweigerlich einen besonderen Einfluss auf die Reichsgewalt gebracht. Dennoch ging die Verfassung vom Grundsatz der Rechtsgleichheit der Einzelstaaten aus. Sonder-, Reservatrecht oder Präsidialrechte für den in Personalunion mit der Reichsgewalt verbundenen Einzelstaat bestanden nicht. Vielmehr machte die Verfassung mit der Residenzpflicht des Kaisers am Sitz der Reichsregierung (§ 71 PV)310 den Versuch, das Reichsoberhaupt von seinem Einzelstaat abzukoppeln, um die Eigenständigkeit der Reichsgewalt zu stärken und einer Unterordnung unter dynastische Hausinteressen vorzubeugen: ein Vorhaben, das von den Erfahrungen aus der Zeit des Alten Reiches herrühren dürfte.
310 Als Hauptstadt war anfanglich Frankfurt/M., später Erfurt geplant, vgl. einerseits Laufs, JuS 1998, 385 andererseits Kühne, NJW 1998, 1513 f. jeweils m. w.N.
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d) Der Einfluss des Reiches auf die Einzelstaaten
Das Reich übte seinen Einfluss auf die Einzelstaaten vor allem durch seine "Oberaufsicht" über die Ausführung der Reichsgesetze durch die Länderbehörden aus. Daneben besaß das Reich bedeutenden Einfluss, wenn es um den Erhalt des "Reichsfriedens" ging (§§ 54 f. PV). Ähnlich wie der Deutsche Bund sollte das Reich neben der äußeren auch die innere Sicherheit und Ordnung wahren und besaß dafür das Recht zur Intervention. Soweit eine Störung des Reichsfriedens durch einen zwischenstaatlichen Konflikt bestand oder ein gewaltsamer oder einseitiger Verfassungsumsturz erfolgte, konnte das Reich gegen die betreffenden Einzelstaaten vorgehen. Einfluss auf die Einzelstaaten nahm die Reichsverfassung auch mit verschiedenen Normativbestimmungen. So sollten die Grundrechte der Reichsverfassung "den Verfassungen der deutschen Einzelstaaten zur Norm dienen" (§ 130 PV). Daneben wurden der Erlass einzelstaatlicher Verfassungen, die Einrichtung von Volksvertretungen und deren Rechte bei Gesetzgebung, Steuererhebung, Budget und Regierungskontrolle vorbestimmt (§§ 186 f. PV). Schließlich konnte eine Änderung der Regierungsform in den Einzelstaaten nur mit Zustimmung des Reiches erfolgen (§ 195 PV). § 186 PV stand in der Tradition des Verfassungsgebots des Art. 13 DBA und wie dieser zielte er - ebenso wie § 130 PV - eher auf eine horizontale Homogenität. Aus ihrer Stellung im Bereich des Grundrechtskatalogs wird diesen Normen indes vor allem ein freiheitsschützender Charakter zugesprochen. 311 Dagegen war § 195 PV mit der Beschränkung der Verfassungsautonomie der Länder vorrangig ein bundesstaatliches Element zur Sicherung der vertikalen Homogenität der Regierungsformen in Reich und Einzelstaaten. e) Die Koordination von Reich und Einzelstaaten
Der Koordination der gesamtstaatlichen und einzelstaatlichen Rechtsordnungen im neuen Bundesstaat diente der § 66 PV, der den Vorrang der Reichsgesetze vor einzelstaatlichen Gesetzen statuierte. Dieser Grundsatz wurde für die Geltung der Reichsverfassung gegenüber Verfassungen der Einzelstaaten noch einmal ausdrücklich in § 195 PV festgeschrieben. Im bewussten Gegensatz zum Deutschen Bund schuf die Reichsverfassung eine umfassende Verfassungsgerichtsbarkeit für das Reich-Länder-Verhältnis 312 : Gern. § 126 a PV sollte das Reichsgericht über Streitigkeiten zwischen Vgl. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 446 f. Vgl. zum Negativ-Vorbild des Deutscher Bundes den Entwurf des Verfassungsausschusses, Motive, NY, Steno Ber. IV, S. 2737. Das Traditionsgut, das Boldt, Der Föderalismus in den Reichsverfassungen, S. 309, hinsichtlich der Verfas3lJ
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Reich und Einzelstaaten wegen der Verletzung der Reichsverfassung entscheiden. Dabei war ausdrücklich auch eine Normenkontrolle bezüglich der Reichsgesetze vorgesehen. Überdies war ein Organstreitverfahren möglich, mit dem etwa das Staatenhaus seine verfassungsmäßigen Rechte gerichtlich verteidigen konnte (§ 126 b PV)
4. Die Paulskirchenverfassung Modell des demokratischen Bundesstaates Das Werk der Paulskirche war "die erste freiheitliche bundesstaatliche Verfassung Deutschlands mit namhafter demokratischer Legitimation".313 Oft ist das Bemühen erkennbar, die Mängel der bisherigen staatenbündischen Ordnung zu überwinden, etwa bei der konsequenten "Verreichlichung" der auswärtigen Gewalt, beim Oberbefehl über das Reichsheer, der Reichsgesetzgebung, der Finanzverfassung oder der Etablierung einer Verfassungsgerichtsbarkeit. Letztere kann sich indes auch auf Vorläufer im Alten Reich berufen, das sich am wirkungskräftigsten in seiner Gerichtsbarkeit gezeigt hatte. Allen Veränderungsbemühungen waren jedoch Grenzen gezogen. Der Bestand der Einzelstaaten blieb unüberwindlich. Die historische Legitimität hatte sich gegenüber allen Mediatisierungsplänen durchgesetzt. Überhaupt musste den Interessen und Vorbehalten der Einzelstaaten und ihren Regimen bei der Konstruktion der bundes staatlichen Ordnung Rechnung getragen werden 314 : Einerseits wurden dem Reich umfangreiche Gesetzgebungskompetenzen und der militärische Oberbefehl zugestanden, andererseits blieb der Gesetzesvollzug weitgehend bei den Einzelstaaten und das Reichsheer war eine bloße Kontingentarmee. Trotz des Anspruchs des Reiches wurden so den einzelstaatlichen Monarchien mit Bürokratie und Militär die klassischen Attribute ihrer Staatlichkeit belassen. Hierin findet eine "spezifische, unitarisch-partikularistische Ambivalenz,,315 des Bundesstaates der Paulskirche ihren Ausdruck. Damit unterschied sich die Verfassung deutlich vom amerikanischen Modell des "dual federalism" mit eigener Bundesverwaltung und auch Rechtsprechung?16 Einen eigenen Weg, der sowohl dem theoretischen Ideal völliger Parität der Gliedstaaten als auch dem konkreten amerikanischen Bundesstaat widersprach, ging die Paulskirche auch hinsichtlich der Zusammensetzung des Staatenhauses. 317 sungsgerichtsbarkeit zu erkennen meint, bezieht sich wohl eher auf andere Verfahrensarten, etwa § 126 h PV(1ustizverweigerung). 3\3 Kühne, NJW 1998, 1515. 314 Vgl. W. Mommsen, 1848, S. 265 f. 315 Boldt, Der Föderalismus in den Reichsverfassungen, S. 307. 316 Vgl. Kühne, Die Bundesverfassung, S. 179; Boldt, Der Föderalismus in den Reichsverfassungen, S. 307 f.
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Sie trug damit den deutschen Besonderheiten hinsichtlich der gravierenden Größenunterschiede der Einzelstaaten und - in abgeschwächter Weise auch der Tradition der gouvernementalen Mitwirkung der Einzelstaaten an den Gesamtstaatsgeschäften Rechnung. Schließlich ist auch die Personalunion zwischen Kaiser und Landesfürst Ausdruck eines "unitarisch-föderativen Kompromisses" zwischen politischen Idealvorstellungen und realen Machtverhältnissen. 318 Trotz dieser Ambivalenzen ist aber auch ein unitarischer Grundzug der Reichsverfassung unübersehbar. 319 Dies lag weniger an der Kompetenzverteilung - auch wenn sie im Vergleich zum amerikanischen Bundesstaat sehr viel unitarischer war320, sondern an der Organisation der Reichsgewalt: Mit der Reichsintervention nach § 54 PV, die nicht an die Zustimmung des föderativen Reichsorgans gebunden war, hätte das Reich ein machtvolles Instrument des exekutiven Verfassungsschutzes gegenüber den Einzelstaaten bekommen. 321 Durch die Zusammensetzung des Staatenhauses und die Weisungsfreiheit aller Mitglieder waren die einzelstaatlichen Regierungen in deutlicher Abkehr von der bisherigen Zusammensetzung staatenbündischer Organe von der Teilhabe an der Reichsgewalt im Ergebnis weitgehend ausgeschlossen. 322 Die unitarisch-demokratische Komponente fand so nicht nur ihren Ausdruck im Volkshaus, sondern eben auch im Staatenhaus. Dabei nahm diese "geflissentliche Beiseiteschiebung der einzelstaatlichen Regierungen,,323 den Einzelstaaten insbesondere den Schutz vor nachteiligen Veränderungen der Kompetenzverteilung zwischen Reich und Ländern. Mit Blick auf den unitarischen Grundzug hat man der Verfassung bescheinigt, sie wirke "wie ein nach Einheit strebender Staat, der sich gezwungen sieht, der Existenz intermediärer Institutionen Rechnung zu tragen und sie einzubinden sucht, ohne sie jedoch als unverrückbare Grundlage seines eigenen Bestehens zu begreifen.,,324 Zwar darf man die partikulare Prägekraft auch auf die Verfassungsväter nicht unterschätzen325 , aber der Bundesstaat der Paulskirche entstand eben auf national-unitarischer und Vgl. Kühne, Die Bundesverfassung, S. 181. Huber, Dt. VerfG 11, S. 821. 319 Vgl. Valentin, Geschichte der deutschen Revolution 11, S. 374; Siemann, Die deutsche Revolution von 1848/49, S. 198; Deuerlein, Föderalismus, S. 86. 320 Vgl. Boldt, Der Föderalismus in den Reichsverfassungen, S. 306; Kühne, Die Bundesverfassung, S. 180. 321 Vgl. Huber, Dt. VerfG 11, S. 838 f. 317
318
322 Hierin insbesondere sieht den unitarischen Charakter der Verfassung begriindet Barth, Unitarismus und Föderalismus in der Organisation der Reichsverfassung,
S.3.
323 324
325
Hartung, Dt. VerfG, S. 185. Dippel, Staat 38 (1999), 227. Vgl. Th. Nipperdey, Der deutsche Föderalismus, S. 10.
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nicht bündischer Grundlage durch das Zusammenwirken der Einzelstaaten. Tatsächlich gab es hier keine materielle Legitimation der bundesstaatlichen Ordnung, kam es anders als etwa beim amerikanischen Bundesstaat nicht zur Verknüpfung von Föderalismus mit Freiheit und Demokratie. 326 Bei der Errichtung des amerikanischen Bundesstaates - wo zuvor bereits demokratische Einzelstaaten bestanden - ging es darum, die neu entstandene Gesamtstaatsgewalt nicht zur Gefahr für die Freiheit werden zu lassen. 327 Aus der Perspektive der Paulskirche wurden die monarchischen Einzelstaaten dagegen - nicht zu Unrecht - als Orte der Reaktion skeptisch beäugt. Hier erschien vielmehr der demokratisch legitimierte Gesamtstaat als Garant der Freiheit - auch innerhalb der Einzelstaaten. Der unitarische Grundzug lässt sich schließlich auch auf die Sorge vor einer Hegemonie zurückführen. 328 Es bedurfte einer starken Zentralgewalt, um trotz der Verbindung von Kaiserwürde und Landesherrschaft die Gefahr einer preußischen Vorherrschaft einzudämmen, Preußen vielmehr das "Aufgehen" im Reich zu erleichtern. Der Bundesstaat, den die Paulskirchenverfassung konstituieren sollte, entsprach weder einem fixen theoretischen Ideal, noch war er eine bloße Kopie bundes staatlicher Vorbilder - etwa der USA. 329 Er war der pragmatische Versuch, die staatliche Einheit der Nation zu verwirklichen und dabei den Umständen, die sich aus der historisch überkommenen partikularen Prägung Deutschlands ergaben, Rechnung zu tragen. Dieser auf die Souveränität des Volkes gestützte Versuch scheiterte. Der Bundesstaat, der mit der Verfassung gegründet werden sollte, bestand niemals. Die Schaffung des deutsche Nationalstaates blieb zwei Jahrzehnte später der bismarckschen Politik vorbehalten. Welchen Einfluss die Paulskirchenverfassung und ihr Modell des demokratischen Bundesstaates auf die weitere Verfassungsentwicklung und die Gestaltung der bundesstaatlichen Ordnung in Deutschland hatte, wird noch zu zeigen sein.
Vgl. Dippel, Staat 38 (1999), 228. Vgl. Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 577. 328 Vgl. Th. Nipperdey, Der deutsche Föderalismus, S. 12. 329 Vgl. Dreyer, Föderalismus, S. 561; Kühne, NJW 1998, 1515 f.; ders., Die Bundesverfassung, S. 165 ff.; i. E. wohl ähnlich Dippel, Staat, 38 (1999), 239; überzeichnend daher Boldt, Der Föderalismus in den Reichsverfassungen, S. 299, der dem "Vorbild der Vereinigten Staaten eine kaum zu überschätzende Rolle" zuschreibt. 326 327
c. Das Bismarck-Reich als Bundesstaat I. Der Norddeutsche Bund und die Reichsgründung 1. Das Ende des Deutschen Bundes und der Weg
zum Norddeutschen Bund
Nach dem Scheitern der Versuche, einen kleindeutschen Bundesstaat zu schaffen, nahm im Mai 1851 die Bundesversammlung des Deutschen Bundes wieder ihre Tätigkeit auf. Es begann eine neue Epoche der Reaktion, in der Österreich und Preußen unter Zurückstellung ihrer unterschiedlichen Auffassungen in der Frage der Einheit Deutschlands gemeinsam wichtige demokratische Fortschritte der vorangegangenen Jahre rückgängig machten. Bereits Ende der 50er Jahre verschärfte sich jedoch im Zeichen einer neuen Machtpolitik wieder der Gegensatz zwischen Österreich und Preußen, und es setzte im Zuge der Liberalisierung der politischen Verhältnisse in beiden Staaten erneut eine auch öffentlich geführte Diskussion über die deutsche Frage ein. l Diese Diskussion wurde beflügelt vom wieder entfachten Nationalbewusstsein, das durch das Vorbild der italienischen Einigung und den Streit mit Dänemark um Schleswig und Holstein gestärkt wurde. Im Mittelpunkt der Debatte standen zwei altbekannte Grundkonzeptionen. Erstens: die Schaffung eines kleindeutschen Nationalstaates bundesstaatlicher Prägung unter preußischer Führung. Dieser Plan der früheren kleindeutsch-erb kaiserlichen Partei entsprach besonders den preußischen Interessen und fand in der politischen Öffentlichkeit Unterstützung durch den 1859 gegründeten Deutschen Nationalverein. Zweitens: eine Reform des Deutschen Bundes bei grundsätzlichem Festhalten an seiner großdeutschen Gestalt und seinem staatenbündischen Charakter. Hierbei reichten die Vorschläge von einer losen Föderation unter Einschluss der nicht-deutschen Teile Österreichs - die Idee eines "Siebzig-Millionen-Reiches" des österreichischen Ministerpräsidenten Schwarzenberg - bis zu Überlegungen der Mittelstaaten, die einen Ausbau der Kompetenzen und Institutionen bei größerer eigener Beteiligung an den Führungsfunktionen des Bundes vorsahen. Diese Pläne unterstützte der Deutsche Reformverein, in dem sich seit 1862 großdeutsch gesinnte politische Kräfte sammelten. 1 Vgl. zur Refonndebatte Deuerlein, Föderalismus, S. 116 ff.; Huber, Dt. VerfG III, S. 378 ff.; Siemann, Vom Staatenbund zum Nationalstaat, S. 401 ff.
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Preußen, in dem seit 1862 Otto v. Bismarck als Ministerpräsident amtierte, versuchte in dieser Zeit, zum einen seine territoriale Machtbasis zu erweitern und die hegemoniale Stellung in Norddeutschland auszubauen, zum anderen auf dieser Grundlage die Strukturen des Bundes den realen Machtverhältnissen anzupassen, d.h. die volle Parität im Verhältnis zur bisherigen Präsidialmacht Österreich einzufordern. 2 Trotz dieses Festhaltens am Bund setzte Preußen auch auf die kleindeutsche Lösung und suchte in dem Maße, in dem sich der Konflikt mit Österreich zuspitzte, in der Öffentlichkeit für sich "moralische Eroberungen" zu machen, wie etwa mit der Forderung nach einer Nationalrepräsentation beim Bundestag und der Anwendung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts. Vorschläge, die aufgrund ihrer unitarischen Ausrichtung für Österreich unannehmbar waren, die die nationale und liberale Öffentlichkeit aber zu Gunsten Preußens einnehmen sollten. Preußens Stellung in Deutschland gewann überdies durch seine Wirtschaftspolitik an Gewicht. Seine Freihandelspolitik hatte 1834 zur Gründung des Deutschen Zollvereins geführt, dem sich nach und nach fast alle deutschen Staaten angeschlossen hatten. Österreich aber, das dem Schutzzollprinzip anhing, blieb abseits und später verhinderte Preußen beharrlich seinen Beitritt. Auch wenn diese ökonomische Integration keinen Automatismus hin zur politischen Einigung bedeutete - wie der folgende Krieg 1866 zeigte -, ist unbestritten, dass die wirtschaftlichen Verflechtungen den kleindeutschen Integrationsprozess förderten und Abhängigkeiten begründeten, die auch die politischen Handlungsspielräume einengten. 3 Anfang 1866 spitzte sich der Streit der deutschen Großmächte bei der Frage des Umgangs mit den 1864 gegen Dänemark gemeinsam erkämpften Herzogtümern Schleswig und Holstein zu. Während die militärischen Spannungen zunahmen, verfocht Preußen zugleich weiter seine Reformüberlegungen und legte im Juni 1866 einen neuen Plan vor: Dieser sah unter Ausscheiden Österreichs sowie Luxemburgs und Limburgs einen kleindeutschen Bundesstaat vor. Eine Volksvertretung sollte berufen, dem Bund Gesetzgebungskompetenzen für Handel und Verkehr gegeben sowie die Militärhoheit und die auswärtige Gewalt auf ihn übertragen werden. Schließlich sollten Preußen und Bayern zu Bundesoberfeldherren über eine Nordund Südarmee bestellt werden. 4 Als Reaktion auf diesen Vorschlag beantragte Österreich die Mobilmachung gegen Preußen. Es kam zum Krieg. So wie bisher der Konflikt um die Macht in Gestalt einer Auseinandersetzung um die rechte Bundesreform geführt wurde, so wurde auch der Krieg 2 Dazu Kaembach. Bismarcks Bemühungen um eine Reform des Deutschen Bundes, S. 199 ff. 3 So Zorn, HZ 216 (1973), 332 f., der die ökonomische Integration aufzeigt. 4 Vgl. Art. I der preußischen Grundzüge einer neuen Bundesverfassung vom 10.6.1866; Text bei Huber. Dokumente 11, Nr. 173.
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fonnal in den Kategorien des untergehenden Bundesrechts geführt. Nach Preußens Einmarsch in das österreichisch verwaltete Rolstein stellte die Bundesversammlung eine Verletzung der Wiener Schlussakte fest und leitete die Bundesexekution ein. Preußen betrachtete dies Vorgehen seinerseits als rechtswidrig und erklärte den Bund daraufhin für erloschen. 5 Im Zuge des Konflikts gelang es Preußen, den Bund zu spalten. 17 norddeutsche Staaten entsprachen seiner Aufforderung, sich mit ihm zu verbünden und vorn Bund loszusagen. Der Sieg der preußischen Truppen über das unter österreichischer Führung stehende Bundesheer führte zum Ende des Deutschen Bundes. Im Frieden von Prag musste Österreich nicht nur die Auflösung des Bundes anerkennen, sondern auch seine Zustimmung geben zu einer neuen Gestaltung Deutschlands ohne eigene Beteiligung und unter preußischer Führung. 6 Dies bedeutete den Verzicht auf die großdeutsche Lösung und das Ausscheiden Österreichs aus Deutschland. 2. Die Gründung des Norddeutschen Bundes a) Parallelität von Staatsgründung und Verfassungsgebung
Im Friedensvertrag mit Österreich war die Errichtung eines engeren Bundes nördlich der Mainlinie bestimmt. Außerdem war ein Verein der verbliebenen vier süddeutschen Staaten sowie dessen ,,nationale Verbindung" zum Nordbund vorgesehen. 7 Während ein solcher Südbund niemals entstand, schloss Preußen im August 1866 mit seinen 17 norddeutschen Verbündeten einen Vertrag, der neben einern Militärbündnis mit der Errichtung eines einheitlichen preußischen Oberbefehls die Schaffung einer Bundesverfassung auf Grundlage des letzten preußischen Bundesrefonnvorschlags vorsah. 8 Angesichts der sachlichen Beschränkung dieses Vertrages auf das Militärbündnis, seiner zeitlichen Begrenzung auf maximal ein Jahr und der Ungewissheit über das Zustandekommen des erstrebten neuen "Bundesverhältnisses" markiert dies Bündnis noch nicht die Gründung des Norddeutschen Bundes.9 Es bildete lediglich den "Auftakt zur Gründung"lO, wobei mit Blick auf die Zugrundelegung des preußischen Programms vorn 5 Zur Frage der Rechtmäßigkeit der Exekution und des Austritts siehe Huber, Dt. VerfG m, S. 543 ff. 6 Vgl. Art. IV des Friedens von Prag vom 23.8.1866; Text bei Huber, Dokumente 11, Nr. 185. 7 Art. IV des Friedens von Prag; Text bei Huber, Dokumente 11, Nr. 185. 8 Art. 2 des Bündnisvertrages; Text bei Huber, Dokumente 11, Nr. 196. 9 So aber wohl FrotscherlPieroth, VerfG, Rn. 365; Willoweit, Dt. VerfG, S. 252; Stern, StaatsR V, S. 291 f. JO Ogris, JuS 1966, 306.
7 Holste
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10. Juni 1866 mit Recht von einem "Vorvertrag für die Errichtung eines Bundesstaates"!! gesprochen werden kann. Während in den folgenden Monaten aus dem Kreis der bisherigen Kriegsgegner Reuß ältere Linie, Sachsen-Meiningen, Sachsen und Hessen-Darmstadt - letztes nur für sein Territorium nördlich des Mains - in das Bündnis aufgenommen und somit der ,,Erhaltung der Unabhängigkeit und Integrität"12 versichert wurden, annektierte Preußen die Staaten Hannover, Nassau, Kurhessen und Frankfurt. Außerdem verleibte es· sich die beiden Elbherzogtümer ein. Im Herbst 1866 arbeitete Bismarck einen Verfassungsentwurf aus, den er ohne nennenswerte Abstriche gegenüber den verbündeten Einzelstaaten durchsetzte und als gemeinsamen Entwurf dem im Februar 1867 gewählten Norddeutschen Reichstag vorlegte. Das Parlament setzte - wie noch zu zeigen sein wird verschiedene Änderungen durch und nahm die Verfassung am 16. April 1867 mit großer Mehrheit an. Am gleichen Tage erteilten die einzelstaatlichen Regierungen ihre Zustimmung zu der Verfassung und dies taten in der Folgezeit ebenso die Landtage und Stände aller EinzelstaatenY Nach den Ende Juni 1867 in allen Staaten veröffentlichten Patenten trat die Verfassung am 1. Juli 1867 in Kraft. 14
b) Die politischen Faktoren der Staatsgründung und ihr Gewicht Bei der Gründung des Norddeutschen Bundes und der Verfassungsgebung gab es also drei politische Faktoren: Preußen, die übrigen Einzelstaaten und den Reichstag. Aus ihrem Zusammenwirken haben sich verschiedene Kontroversen über die Rechtsbasis und die juristische Konstruktion des neuen Bundesstaates ergeben.!5 Über die Gewichtsverteilung zwischen diesen Faktoren kann aber kein Zweifel bestehen: Preußen unter der Führung Bismarcks dominierte das Geschehen. Das Parlament verdankte seine Bildung und Beteiligung allein Bismarcks Sorge vor "dynastischen Sonderbestrebungen,,!6. Nur durch den unterstützenden Druck eines dem nationalen Einheitswillen Ausdruck verleihenden Parlaments glaubte er, die staatliche Einheit mit den Fürsten erreichen zu können: "Auf Einigung der Regierungen darüber ohne die Mitwirkung einer Vertretung der Nation ist aber nicht zu hoffen."I? Als die Einzelstaaten 11
Huber, Dt. VerfG
m, S. 645.
!2 Art. 1 des Bündnisvertrages; Text bei Huber, Dokumente 11, Nr. 196.
\3 Braunschweig sah bereits eine antezipierte Zustimmung im Beschluss über das Wahlgesetz für den Norddeutschen Reichstag. 14 Norddt. BGBL 1867, S. 2. 15 Siehe dazu unten c.m. 16 So Bismarck in seinen Erinnerungen, Gesammelte Werke (GW) 15, S. 448.
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nach dem siegreichen Krieg und den Annexionen unter dem Eindruck der preußischen Macht, aber auch in der Sorge vor den national-unitarischen Tendenzen des Parlaments sich Bismarcks Wünschen hinsichtlich des Verfassungsprogramms weitgehend beugten, hatte der Reichstag aus Bismarcks Sicht seinen Hauptdienst bereits getan. 1g Wie gering er nunmehr den parlamentarischen Anteil an der Verfassungsgebung achtete, dokumentiert sein Geheimabkommen mit einigen Regierungen, wonach die Verfassung im Falle eines Widerstandes im Parlament oktroyiert werden sollte. l9 Seine wie zu zeigen sein wird - dann recht konziliante Haltung und die relative Vielzahl der Änderungen an seinem Entwurf widerlegen diese Einschätzung nicht, denn bei den Wahlen hatte sich eine Bismarck genehme Mehrheit der rechten Mitte durchgesetzt, deren Änderungswünsche oftmals eine unitarische Tendenz hatten. Auch nach eigenem Selbstverständnis war das Parlament keine Konstituante: "Das Ablehnen wäre das Einzige. Wenn wir annehmen oder wenn wir amendiren, sind wir eben Rathgeber. Wir haben keine Macht über die Regierungen ... ", so formulierte der fortschrittliche Abgeordnete Benedikt Waldeck die Rolle der Volksvertretung. 2o Eine Änderung der Präambel, die die Verfassung als Ergebnis einer Vereinbarung zwischen Fürsten und Parlament erscheinen lassen sollte, lehnte der Reichstag denn auch ausdrücklich ab?l Die Einzelstaaten blieben ebenso wie das Parlament nachrangige Faktoren. Sie verdankten ihre Fortdauer überwiegend preußischer Gunst. Selbst wenn sie - wie zu zeigen sein wird - bisweilen andere Konzeptionen besaßen, hatten sie doch nicht das Gewicht, die bismarckschen Pläne zu erschüttern. 22 Auch die Zustimmung der Regierungen und Landtage fiel nicht mehr groß ins Gewicht. Nicht nur, dass zum Teil bereits eine antezipierte Zustimmung im Beschluss über das Wahlgesetz zum Reichstag gesehen und somit auf eine neuerliche Entscheidung völlig verzichtet wurde, auch war nach den Beratungen des Reichstages die Entscheidungsfreiheit der Landtage zur Fiktion geworden. Dies stellte Bismarck selbst heraus: Er warnte vor der Annahme, den nationalen Einigungsprozess "mit einer Landtagsresolution ad acta schreiben zu können".23 17 Bismarck in einem Erlass an den Gesandten in Russland, Graf v. Redern, am 17.4.1866, GW 5, Nr. 304, S. 457. 18 Vgl. Beeker, Bismarcks Ringen, S. 370 mit Fn. 122. 19 Vgl. Beeker, Bismarcks Ringen, S. 384 ff.; das Abkommen ist abgedruckt bei Zeehlin, Staatsstreichpläne, S. 175 f. 20 Bei v. HoltzendorjJlBezold, Materialien I, S. 94. 21 Vgl. Beeker, Bismarcks Ringen, S. 458 f. 22 Vgl. exemplarisch für die Situation der kleinstaatlichen ,,Bündnispartner" Knake, Preußen und Schaumburg-Lippe, S. 11 ff., 24 ff. 23 Bei v. HoltzendorjJlBezold, Materialien I, S. 175.
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Einzelstaaten und Reichstag blieben als politische Faktoren von Preußen dominiert, das Parlament war nach Bismarcks Willen geschaffen worden und beide wurden von seiner Diplomatie gegeneinander in Stellung gebracht. Der Norddeutsche Bund war daher vor allem das Werk Preußens. 24 Aber weil Bismarck auf der Höhe der Zeit war, verband er preußisches Machtstreben mit der Erfüllung der nationalstaatlichen Idee. Er wollte den Nationalstaat, aber unter preußischer Führung und nicht auf dem Fundament der Volkssouveränität. Deshalb betonte er bei der Gründung die dynastische Legitimität und den bündischen Charakter des neuen Staates - etwa in der Präambel der Verfassung. Wenn er indes später die Anfechtbarkeit seiner Deutung des Reiches als Fürstenbund selbst eingestand25 , so zeigte sich darin, wie sehr der Bundesstaat - obwohl ohne nationaldemokratischen Ursprung - seine Legitimation in der Verwirklichung des Nationalstaatsgedankens gefunden hatte. 3. Die Entscheidung für die föderale Organisation des Norddeutschen Bundes
Weil der Norddeutsche Bund - wie gesehen - zu allererst das Werk des preußischen Staates und seines leitenden Staatsmannes war, sind die Intentionen Bismarcks bei der Konstruktion der Verfassung des Norddeutschen Bundes zu untersuchen. Daneben ist aber auch ein Blick auf die anderen beiden Faktoren der Staatsgründung zu werfen, nämlich die Einzelstaaten und den Norddeutschen Reichstag. a) Bismarcks Verjassungsprogramm und der Föderalismus
Bismarck hatte die Nachteile der staatlichen Zersplitterung Deutschlands schon lange erkannt. Bereits 1861 plädierte er mit Blick auf die Stärke der europäischen Nachbarn für eine Vereinheitlichung im militärischen Bereich und sprach sich dafür aus, dass eine künftige Verfassung auch die Nachteile beseitigen müsse, die dem deutschen Volk durch die staatliche Zerstückelung für seine materielle Wohlfahrt erwachsen seien. 26 Gleichwohl war Bismarcks Engagement in der nationalen Sache von den machtpolitischen Interessen des preußischen Staates und seiner Krone geleitet. Hatte Friedrich Wilhelm IV. 1848 noch von einem "Aufgehen Preußens in Deutschland" 24 Treffend schon O. Mejer, Einleitung, S. 292: ,,Er [der Norddeutsche Bund] war gegründet durch Preußens Macht, der die übrigen Mitglieder sich untergeordnet hatten ... ". 2S Vgl. GW 15, S. 637. 26 Bismarck in seiner sog. Baden-Badener Denkschrift vom Juli 1861; abgedruckt bei Oncken, HZ 145 (1932), S. 124.
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gesprochen, so hat man Bismarcks nationale Politik mit Recht unter die Parole "Preußen erobert Deutschland" gestellt. 27 Wenn er dennoch das strategische Bündnis mit der Nationalbewegung suchte, dann um den dynastischen Widerstand der Einzelstaaten zu überwinden und Interventionen der europäischen Mächte fernzuhalten. Von einer Abkehr vom monarchischen Prinzip hin zum parlamentarischen Regierungssystem war Bismarck hingegen weit entfernt. Unter diesen Prämissen stand seine Politik, bei deren verfassungsrechtlicher Umsetzung das föderative Prinzip eine besondere Bedeutung erlangen sollte. aa) Verschleierung der preußischen Hegemonie Bemerkenswert an Bismarcks Föderalismus ist zuallererst der Kreis der Teilnehmer wie der Nichtteilnehmer des neuen Bundes. Die Elbherzogtümer, die unter der Parole der Selbstbestimmung von Dänemark erfochten waren, wurden unter Beiseiteschieben der Dynastie Augustenburg in den preußischen Staat einverleibt. Die vier annektierten Staaten waren durchweg traditionsreiche deutsche Länder, die einstmals Reichsstände von besonderem Rang gewesen waren. Diese Politik offenbarte nicht nur, dass Bismarck von den legitimistischen Vorstellungen dynastisch denkender Konservativer völlig frei war?8 Es wurden auch gerade jene zu wirklicher Eigenstaatlichkeit fähigen Territorien Norddeutschlands annektiert. Wenn auch der Widerstand gegen die Annexionen - vielleicht abgesehen von den welfischen Kräften in Hannover - insgesamt gering blieb oder diese gar als Überwindung des Partikularismus und Wegbereiter der nationalen Einheit begrüßt wurden, galten für Bismarck solche Motive wenig. Über Bestand oder Annexion entschied ausschließlich die preußische Staatsräson. Sie forderte den Landschluss nach der Rheinprovinz und Westfalen. Die norddeutschen und thüringischen Duodezfürstentümer aber hätten wenig eingebracht. So wurden selbst kleinste vormalige Feindstaaten wie Reuß aufgenommen und das mediatisierungswillige Waldeck-Pyrmont abgewiesen. 29 Der "Souveränitätsschwindel der deutschen Fürsten,,3o, den Bismarck insgeheim selbst kritisierte, wurde fortgesetzt. Zwar war allenthalben von "verbündeten Regierungen" die Rede. Doch mit Blick auf die gravierenden Unterschiede an Macht und Einfluss konnte von politisch gleichberechtigten Bündnispartnern keine Rede sein. So G. Mann, Dt. Geschichte, S. 316. Drastisch belegt durch seinen Kommentar: "Ich bin meinem Fürsten treu bis in die Vendee, aber gegen alle anderen fühle ich in keinem Blutstropfen eine Spur von Verbindlichkeit, den Finger für sie aufzuheben"; GW 1411, Nr. 820, S. 571. 29 Zum Mediatisierungsbegehren Waldecks vgl. Becker, Bismarcks Ringen, S. 327 f. 30 Zitiert nach Oncken, HZ 145 (1932), S. 120. 27 28
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Für die Organisation des Norddeutschen Bundes hatte Bismarck bereits im Herbst 1866 in seinen sogenannten Putbusser Diktaten die Parole ausgegeben: "Man wird sich in der Form mehr an den Staatenbund halten müssen, diesem aber praktisch die Natur des Bundesstaates geben mit elastischen, unscheinbaren, aber weitgreifenden Ausdrücken. ,,31 Während dem preußischen König der militärische Oberbefehl, die auswärtige Gewalt sowie Befugnisse im Bereich der Bundesexekutive zustanden, sollte er nach Bismarcks Plänen formal lediglich Bundesoberfeldherr und Inhaber des Bundespräsidiums sein, also ein primus inter pares. Als "Zentralbehörde" sollte hingegen ein in Anlehnung an den Deutschen Bund gebildeter Bundestag fungieren. Unter Hinzuzählung der Stimmen der annektierten Staaten waren für Preußen dort 17 von 43 Stimmen vorgesehen. Weil somit für die Mehrheit nur die Stimmen von fünf kleinen Staaten notwendig waren, sah Bismarck damit die Vorherrschaft Preußens ungefährdet. "Die Gefahr, daß die preußische Regierung in erheblichen Fragen sowohl im Reichstag als im Bundestag in die Minorität geriete, ist bei der Überzahl preußischer Abgeordneter im Reichstage nicht wahrscheinlich." Auch eine preußische Sperrminorität für Verfassungsänderungen und ein Veto in Militärangelegenheiten bezog Bismarck in seine Pläne für einen Bundestag bereits mit ein. Als sich das Amt des Bundeskanzlers in den Verfassungsberatungen als eine Art Bundesminister entwickelte, nahm er dies sofort für Preußen und seine Person in Anspruch: "Ich müßte als Preußischer Minister der auswärtigen Angelegenheiten darauf bestehen, daß ich entweder selbst der Bundeskanzler bin, oder daß die Instruktion des Bundeskanzlers ausschließlich von mir abhängt.,,32 Unverhohlen äußerte Bismarck gegenüber seinen Mitarbeitern, dass die geplante Bundesverfassung zwar formell weder Bundesstaat noch monarchisches Kaiserreich sein solle, aber das geplante föderale Gefüge "Preußen dieselbe dominierende Stellung sichert". Eine gezielte Verschleierung der tatsächlichen Machtverhältnisse hinter einer betont föderalen Organisation war also die Intention des bismarckschen Verfassungswerkes. bb) Vollendung der nationalen Einheit Zu den Motiven seines Verfassungswerkes nahm Bismarck vor dem preußischen Abgeordnetenhaus Stellung. Dort wandte er sich ausdrücklich dagegen, die norddeutschen Fürsten zu Untertanen oder Vasallen eines Reichsmonarchen zu machen. Er mutmaßte, sie würden "viel mehr geneigt sein, 31 Zitate im Folgenden hieraus soweit nicht anders angegeben. GW 6, Nr. 615, 616; Ergänzungen bei Becker, Bismarcks Ringen, S. 241 f.; vgl. zur Quellenlage auch Dietrich, Föderalismus, S. 51 Fn. 3. 32 Bei v. Holtzendorff/Bezold. Materialien I, S. 751.
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einem Mitverbündeten, einem Beamten des Bundes Rechte einzuräumen als einem eigentlichen Kaiser und Lehnsherren".33 Aus Putbus schrieb er: "Diese Herstellung eines monarchischen Bundesstaates oder Deutschen Kaiserreiches wird formell mehr Schwierigkeiten haben als die Durchführung des zweiten Systems, welches sich den hergebrachten Bundesbegriffen anschließt und deshalb leichter bei den Beteiligten Eingang findet." Gleichwohl war es nicht irgendein Widerstand im Norden, den Bismarck fürchtete: Preußen habe gezeigt, dass es "seine Feinde von der Landkarte wegfegen kann", es sei nun ein Gebot politischer Klugheit, den wenn auch wenigen und schwachen Bundesgenossen Wort zu halten: "Gerade in Süddeutschland wird dieser Glaube an unsere politische Redlichkeit von großem Gewicht sein.,,34 Die Begrenzung des neues Bundes auf Norddeutschland entsprach zum einen außenpolitischen Rücksichtnahmen, vor allem auf Frankreich. Zum anderen war es aber auch ein Stück preußischer Selbstbeschränkung, die dem politischen Kalkül Bismarcks entsprang: Statt sich mit den süddeutschen Kriegsgegnem, bei denen in Volk und Führung anti preußische Animositäten verbreitet waren, zu belasten, suchte er zunächst die preußische Vormacht im Norden zu konsolidieren, denn ein starkes Preußen, eine starke Hausmacht des leitenden Staates, betrachtete er als Grundlage des neuen Bundes. 35 Die nationale Einheit wollte er dann statt durch militärische Repression im Wege eines freiwilligen Beitritts der Südstaaten erreichen. Einstweilen knüpfte Bismarck außerhalb des Bundes das nationale Band nach dem Süden: Geheime Schutz- und Trutzbündnisse zwischen Preußen und den süddeutschen Staaten sahen für den Kriegsfall militärischen Beistand und den gemeinsamen Oberbefehl des preußischen Königs vor. Außerdem sicherte die Fortführung des Zollvereins die deutsche Zollund Handelseinheit trotz der staatlichen Trennung. So sollten Militärgemeinschaft und Zollverein Katalysatoren eines Integrationsprozesses sein, der "einmal auf diese Bahn gebracht, aus sich selbst die Kraft zu immer wachsender Geschwindigkeit ziehen wÜTde".36 Bismarck hatte also bereits die nationale Einheit, d. h. eine künftige Vereinigung mit den süddeutschen Staaten, im Blick und bemühte sich, deren Sorgen vor einer preußischen Dominanz durch eine formal nur lockere Verbindung Norddeutschlands zu zerstreuen. Deshalb verwarf er bereits vorliegende Verfassungsentwürfe als Zitiert nach Becker, Bismarcks Ringen, S. 239. Bismarck vor der Kommission des Abgeordnetenhauses am 17.8.1866, GW 10, S. 275 f. 3S Vgl. seine Ausführungen ebd. 36 Bismarck an den Gesandten in Karlsruhe, Graf v. Flemming, v. 3.12.1867, GW 6a, Nr. 974, S. 155; vgl. auch weitere Erlasse an denselben, a. a. 0., Nr. 934, S. 112 ff., Nr. 955, S. 133 ff. 33
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"zu zentralistisch bundes staatlich für den dereinstigen Beitritt der Süddeutschen". Deshalb sollte der preußische König fonnal nur die Stellung eines primus inter pares einnehmen. cc) Verhinderung der Parlamentarisierung Bismarck hatte sich die Forderung nach einer Nationalvertretung und dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht zu eigen gemacht, um insbesondere einen Widerstand der mittelstaatlichen Dynastien gegen den Einigungsprozess zu brechen. An eine Einigung der Regierungen ohne den parlamentarischen Druck der Nationalbewegung glaubte er nicht. 37 Verfassungspolitisch war Bismarck allerdings an einer Fortentwicklung des deutschen Konstitutionalismus, an einem Übergang vom monarchischen Prinzip zum parlamentarischen System, keineswegs gelegen. Königliches Regiment statt Parlamentsherrschaft blieb sein Grundsatz. "Das preußische Königtum hat seine Mission noch nicht erfüllt, es ist noch nicht reif dazu, einen rein ornamentalen Schmuck Ihres Verfassungsgebäudes zu bilden, noch nicht reif, als ein toter Maschinenteil dem Mechanismus des parlamentarischen Regiments eingefügt zu werden", hatte er den preußischen Abgeordneten im Verfassungskonflikt entgegengerufen. 38 Bei der Konstruktion der Bundesverfassung setzte Bismarck an die Stelle eines Ministeriums den Bundesrat. Er sollte als eine ,,43 Plätze fassende Ministerbank seine Inhaber dem Reichstag gegenüberstellen". Fachkommissionen waren als ,,zentralstellen für Handel, Zölle, Eisenbahnen usw." gedacht, die "das Material für die gesetzgeberische Bearbeitung und die Abstimmungen des Bundestages und des Reichstages [redigieren]". Als Grund für die Ablehnung eines echten Ministeriums äußerte Bismarck in seinen Putbusser Diktaten, dass "bei dessen Ernennung Konkurrenz der uns verbündeten Regierungen nicht ausgeschlossen werden kann". Gewichtiger dürfte jedoch sein Bemühen gewesen sein, mit dieser Konstruktion jeden Versuch einer Parlamentarisierung der Regierung unmöglich zu machen. Dabei versprach er sich zum einen von mehreren monarchischen Regierungen einen größeren Widerstand gegen die Ansprüche des Reichstages. 39 Vor allem aber war bei einem "gemeinschaftlichem Ministerium,,4o, dessen Bestellung durch die föderative Struktur vorbestimmt war, jede Einflussnahme des Parlaments auf 37 Siehe dazu bereits oben C.I.2.b), sowie die erwähnte Baden-Badener Denkschrift, bei Oncken, HZ 145 (1932), S. 106 ff. 38 Bismarck in einer Rede vor dem preußischen Abgeordnetenhaus am 27.1.1863, GW 10, S. 157. 39 GW 8, S. 363. 40 So Bismarck in der Verfassungsdebatte des Reichstages, bei v. Holtzendorffl Bezold, Materialien I, S. 736; so auch zuvor schon, a. a. 0., S. 172.
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dessen Zusammensetzung abgewehrt. Ein unverantwortliches Kollegium müsse dem Parlament als etwas "Unfaßbares" gegenüberstehen, und es müsse geheim bleiben, wer in dem Kollegium etwas vereitle, damit man niemanden zur Rechenschaft ziehen könne, so lautete die bereits einige Jahre zuvor entworfene Strategie Bismarcks. 41 So konstruierte er für den Norddeutschen Bund eine Antinomie von Föderalismus und parlamentarischem Regierungssystem. Aus Bismarcks Äußerungen wird deutlich, dass er eine gezie1te Diskrepanz zwischen föderaler Form und tatsächlicher Gestalt des neuen Bundes anstrebte. Damit sollte zum einen die hegemoniale Stellung Preußens mit Blick auf eine spätere Vereinigung mit dem Süden verschleiert werden, zum anderen sollte durch eine Form der föderativen Regierung den Forderungen nach einer Parlamentarisierung der Regierung der Weg verstellt werden. Aber er sprach andererseits auch von "a fur et a mesure" zu bildenden Bundesministerien und erwog: "Eine weitere Ausbildung des Bundestages im Sinne eines Oberhauses kann sich vielleicht in Zukunft historisch entwickeln, damit müßte aber die schärfere Ausprägung des Kaisertums an Stelle der Präsidial- und Feldherrnattributationen Hand in Hand gehen." Eine Fortentwicklung seines föderalen Konzepts bezog Bismarck damit also bereits in seine Überlegungen mit ein. b) Die verbündeten Regierungen
Die Haltungen der Regierungen der norddeutschen Staaten zu der Neuordnung der staatlichen Verhältnisse in Deutschland lassen sich im wesentlichen in drei Kategorien einteilen: Die erste Gruppe bildeten jene ehemaligen Mittelstaaten, etwa Sachsen oder Hessen, die stets auf die Wahrung ihrer Souveränität bedacht gewesen waren und jetzt die preußische Dominanz fürchteten. 42 Zum Teil waren sie noch großdeutsch gesonnen. Sie hatten vom preußisch-österreichischen Dualismus bislang profitiert und sich in staatenbündischen Formationen den größten politischen Handlungsspielraum bewahren können. Jetzt wandten sie sich besonders gegen den weitgehenden Verlust ihrer Militärhoheit und die Preisgabe ihrer Souveränität. Ihnen standen als zweite Gruppe die norddeutschen und thüringischen Kleinstaaten gegenüber, die in dieser Hinsicht nichts mehr einzubüßen hatten. 43 Sie waren zum weitreichenden Kompetenzverzicht bereit, sorgten sich aber vor den in Aussicht stehenden finanziellen Belastungen. Dort erwogen die Monarchen teils sogar die Abdankung und die Mediatisierung 41 42 43
Bismarck, zitiert nach Becker, Bismarcks Ringen, S. 248. Vgl. Becker, Bismarcks Ringen, S. 292 ff. Vgl. Becker, Bismarcks Ringen, S. 300 ff.
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ihres Landes durch Preußen. Schließlich bestand eine Gruppe national-unitarisch gesonnener Monarchen um den Oldenburger Großherzog und den Herzog von Coburg, die das Ideal eines nationalen monarchischen Bundesstaates verfochten. 44 Sie wandten sich gegen die preußischen Annexionen und erstrebten statt einer preußischen Hegemonie die Indienstnahme der preußischen Monarchie für Deutschland. Sie propagierten eine Erneuerung des Reiches und der Kaiserwürde sowie eine gemäßigt liberale Verfassung mit verantwortlichem Ministerium sowie einem Reichstag mit Volksvertretung und fürstlich besetztem Oberhaus. Wie sehr alle diese Einwände Bismarcks Konzeptionen widersprachen, liegt nach dem oben Dargelegten auf der Hand. Weder wollte er Abstriche von dem preußischen Machtzuwachs in militärischer Hinsicht machen noch konnte er offenkundige Belege für die preußische Hegemonie durch weitere Mediatisierungen gebrauchen. In Separatverhandlungen gelang es ihm, teils durch einzelne Zugeständnisse, teils durch Drohungen mit den national-unitarischen Tendenzen des Reichstages, teils durch finanzielle Zusagen gegenüber Kleinstaaten, die Ablehnungsfront zu durchbrechen. Dass es Bismarck trotz der partikularistisch, finanziell und national-unitarisch motivierten Widerstände aus den Einzelstaaten gelang, seinen Verfassungsentwurf im Wesentlichen unverändert durchzusetzen, lässt sich nicht nur auf dessen "geniale Verhandlungskunst,,45 zurückführen, sondern beleuchtet auch deutlich, wie ohnmächtig die übrigen Staaten gegenüber dem Führungsanspruch Preußens waren. c) Der Norddeutsche Reichstag
Im Reichstag trat eine noch breitere Meinungsvielfalt zu Tage als im Kreis der Regierungen, die ja zum einen durch die Verträge und Vorschläge aus dem Vorjahr schon ihr generelles Einverständnis mit der Entwicklung erklärt hatten und zum anderen naturgemäß eine grundsätzlich föderative Staatsorganisation forderten. Die Fortschrittspartei plädierte mit Blick auf Preußens Macht und Größe nach den Annexionen grundsätzlich gegen ein föderatives Staatswesen. Ihr Führer Waldeck erklärte mit Hinweis auf die Einwohnerzahlen von Preußen und seinen "Bündnispartnern": "Besser freilich ist, wenn man 25 Millionen mit 5 Millionen gegenüberstellt, der Einheitsstaat.,,46 Demgegenüber wurde von partikularistischer Seite gerade in der vorgelegten Verfassung der Weg zum Einheitsstaat gesehen und mit Blick auf einen künftigen Beitritt der süddeutschen Staaten eine scharfe Begrenzung und Beschränkung der Be44 45
46
Vgl. Becker, Bismarcks Ringen, S. 304 ff. Becker, Bismarcks Ringen, S. 370. Bei v. HoltzendorfJlBezold, Materialien I, S. 93 f.
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fugnisse des Bundespräsidiums gefordert. 47 Das Fehlen einer parlamentarisch verantwortlichen Regierung wurde zwar vielfach kritisiert, doch Bismarck ließ sich von der föderativen Grundgestaltung seines Entwurfs nicht abbringen und hatte eine nationalliberale-freikonservative Mehrheit hinter sich, die sich die These von der Unvereinbarkeit von parlamentarischem Regierungssystem und Föderativ-Regierung durch den Bundesrat zu Eigen machte. 48 In mancher Einzelfrage zeigte sich Bismarck jedoch offen für Änderungen, so war er der Volksvertretung gegenüber weitaus kompromissbereiter als gegenüber den Regierungen49 - dies hinderte ihn freilich nicht, zugleich die Oktroyierung der Verfassung am Reichstag vorbei ins Auge zu fassen. Für das Verhältnis des Bundes zu den Einzelstaaten ergab die Beratung des Reichstages im Wesentlichen folgende Änderungen: die Ausweitung der Gesetzgebungskompetenzen des Bundes, die Option auf Einführung direkter Bundessteuern sowie die ausdrückliche Feststellung, dass der Bund das Recht der Verfassungsänderung habe. Außerdem setzte der Reichstag die Verantwortlichkeit des Bundeskanzlers für alle Anordnungen und Verfügungen des Bundespräsidiums durch. Nach der bereits von den Regierungen betriebenen Gegenzeichnungspflicht des Kanzlers war dies ein weiterer Schritt vom bloßen Präsidialgesandten hin zum Minister des Bundes. Das Parlament erreichte schließlich die Reduzierung der Budgetperiode von drei auf ein Jahr. Allerdings musste es sich bei der Heeresorganisation und dem Militärhaushalt vorerst mit einem vierjährigen Interim begnügen. 50 Insgesamt zeigt sich, dass Bismarck sich mit seiner Konzeption einer föderativen Gestalt des Norddeutschen Bundes weitgehend durchsetzen konnte. Es gelang ihm nicht nur, seine Lesart von der föderalistisch-parlamentarischen Antinomie bei den Liberalen im Reichstag durchzusetzen, sondern auch weitergehende Wünsche der national-unitarischen Kräfte mit Blick auf die noch ausstehende Vollendung der Einheit zurückzustellen. Der geopolitische Anspruch des Norddeutschen Bundes, Vorstufe der nationalen Einheit zu sein, wurde im Reichstag besonders von den nationalliberalen Kräften deutlich ausgesprochen: "Die Mainlinie ist die Haltlinie für uns, wo wir Wasser und Kohlen nehmen. ,,51 47 Vgl. etwa den hannoverschen Abg. Frhr. v. Münchhausen, bei v. Holtzendorffl Bezold, Materialien I, S. 188. 48 Vgl. Abg. Twesten, bei v. HoltzendorfflBezold, Materialien I, S. 82. 49 Vgl. zu den Verfassungsberatungen des Reichstages die Zusammenfassung bei Huber, Dt. VerfG III. S. 655 ff. 50 Eine genaue Übersicht über die Änderungen im Parlament gibt Hiersemenzel. Verfassungsrecht I, 1867; vgl. auch Bismarck, bei v. HoltzendorfflBezold, Materialien n, S. 661. 51 Abg. Miquel, bei v. HoltzendorfflBezold, Materialien I. S. 108.
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4. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. April 1867 Nach der Präambel seiner Verfassung war der Norddeutsche Bund ein "ewiger Bund zum Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechts, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes".52 Das Bundesgebiet umfasste 23 sogenannte Bundesstaaten, wobei Lauenburg mit Preußen in einer Personalunion verbunden war. Das Großherzogtum Hessen gehörte nur mit seinem Territorium nördlich des Mains zum Bund. Neben 20 monarchisch regierte Staaten traten die drei Stadtrepubliken Bremen, Hamburg und Lübeck. Im Bereich der Legislative waren dem Bund enumerativ bestimmte Sachgebiete zur Regelung durch unmittelbar geltende Bundesgesetze zugewiesen, vor allem aus den Bereichen Handel, Verkehr und Wirtschaft. Eine bundeseigene Verwaltung war hingegen nur für das Post- und Telegraphenwesen, den Auswärtigen Dienst und das Konsularwesen vorgesehen. Daneben waren dem Bund hinsichtlich der Eisenbahnen detaillierte und im Bereich der Zoll- und Steuerverwaltung einzelne Verwaltungszuständigkeiten eingeräumt. Aus dem Bereich der Justiz nahm der Bund nur die Zuständigkeit für Hoch- und Landesverratssachen an sich. Dafür bildete er jedoch kein eigenes Bundesgericht, sondern überwies diese an das Ober-Apellationsgericht der Hansestädte in Lübeck. Der Vollzug der Bundesgesetze und die Rechtsprechung blieben also weitgehend den Gliedstaaten überlassen. Der Bund besaß allerdings ein Aufsichtsrecht gegenüber den (gliedstaatlichen) Vollzugsbehörden in allen Bereichen seiner Gesetzgebungskompetenz. Der Bund hatte außerdem das Recht der Kriegsführung sowie das Gesandtschafts- und das Bündnisrecht. Dem entsprach es, dass eine einheitliche Bundes-Kriegsmarine gebildet wurde sowie alle Truppen im Reich ein einheitliches Landheer bilden sollten. Allerdings blieben einzelnen Staaten durch die Verfassung und die sie ergänzenden einzelnen Militärkonventionen verschiedene Rechte vorbehalten. Insbesondere Sachsen konnte so sein Heer als geschlossenes Kontingent innerhalb des Bundesheeres erhalten. Zur Finanzierung wurden dem Bund die Einnahmen aus allen Zöllen und Verbrauchsteuern abzüglich einer Verwaltungspauschale zugunsten der Einzelstaaten zugewiesen. Für den darüber hinausgehenden Finanzbedarf konnten - solange keine Bundessteuern eingeführt waren - an der Bevölkerungszahl orientierte Beiträge der Einzelstaaten erhoben werden. Die Organe, denen die Bundesgesetzgebung oblag, waren der Bundesrat und der Reichstag. Letzterer wurde in allgemeiner, gleicher und geheimer 52 Vgl. den Überblick bei Stern. StaatsR V, S. 301 ff.; zeitgenössisch: G. Meyer. Grundzüge, 1868; Thudichum. Verfassungsrecht, 1870; v. Martitz. Betrachtungen, 1868; eine genaue Darstellung erfolgt hier später anhand der weitgehend identischen Reichsverfassung von 1871, siehe unten C.ll.
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Wahl bestimmt. Der Bundesrat bestand dagegen aus weisungsgebundenen Vertretern der einzelstaatlichen Regierungen. Die Anzahl der nur einheitlich abzugebenden Stimmen der Staaten variierte zwischen einer und 17. Es waren sieben ständige Ausschüsse vorgesehen, die sachlich den wesentlichen Bundeszuständigkeiten entsprachen. Dem Bundesrat war auch die Beschlussfassung über Verwaltungsvorschriften, Einrichtungen und etwaige Mängel des Gesetzesvollzugs übertragen. Außerdem war er zur Entscheidung bzw. Schlichtung von zwischenstaatlichen Streitigkeiten sowie innerstaatlichen Verfassungsstreiten bestimmt. Dem Bundespräsidium, das der Krone Preußen zustand, waren die völkerrechtliche Vertretung sowie alle übrigen Zuständigkeiten des Bundes im Bereich der auswärtigen Gewalt übertragen. Es berief und schloss die Sitzungen von Reichstag und Bundesrat, überwachte die Ausführung der Bundesgesetze und ernannte und entließ die Bundesbeamten. Außerdem bestimmte das Bundespräsidium den Bundeskanzler, der im Bundesrat den Vorsitz und dessen Geschäfte führte. Dieser übernahm mit seiner Gegenzeichnung für alle Verfügungen des Präsidiums die Verantwortung. Alle Kompetenzen des Bundes hinsichtlich des Bundesheeres kamen dem preußischen König in seiner Eigenschaft als Bundesfeldherrn zu. Die Zuständigkeit für die Bundeskriegsmarine fiel ihm dagegen unmittelbar zu. Verfassungsänderungen konnten im Wege der Bundesgesetzgebung erfolgen, bedurften aber im Bundesrat einer Zwei-Drittel-Mehrheit. Der Bund besaß somit auch die Kompetenz-Kompetenz. 53 Mit Blick auf das preußische Stimmpotential entstand dabei faktisch ein Veto-Recht Preußens. Ausdrücklich vorgesehen war dies für das Bundespräsidium bezüglich der Gesetzgebung in Militärsachen.
5. Die bismareksehe Bundesverfassung als Erbe von Wien und Frankfurt Bei den Verfassungsberatungen des Reichstages erkannte der Abgeordnete Welcker mit Blick auf Bismarcks Entwurf "Reminiscenzen fast aus allen Teilen der deutschen Entwicklung".54 Sein Kollege Johannes v. Miquel bezeichnete die Verfassung dagegen als "völlig originell" und rief aus: "Große Völker kopieren nicht, große Völker in großen Umständen sind immer neu.,,55 Untersucht man Bismarcks Werk, so muss man zu einem differenzierteren Urteil gelangen. 53
Dies war anfänglich in der Wissenschaft umstritten; vgl. Dreyer, Föderalismus,
S.262. 54 55
Bei v. HoltzendorfJlBezold, Materialien I, S. 95. Bei v. HoltzendorfJlBezold, Materialien I, S. 106.
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a) Das Bundesstaatsprinzip - Verhältnis von Gesamtheit und Gliedern
Die Präambel der Bundesverfassung ähnelte mit ihrer Betonung der bündischen Grundlagen des neuen Gemeinwesens dem Art. 1 der Deutschen Bundesakte von 1815. Zugleich unterschied sie sich aber erheblich von der Bundesakte, indem sie anders als diese keinen eng umrissenen Bundeszweck bestimmte (Art. 2 DBA), sondern durch Verwendung des unscharfen Begriffs der "Wohlfahrtspflege" dem Bund keine Betätigungsgrenzen zog. Über die Rechtsnatur des Bundes traf die Verfassung anders als die Wiener Schlussakte und auch die Paulskirchenverfassung keine Aussage. 56 Dies entsprach Bismarcks Neigung, jede theoretische Fixierung seines Staatsmodells zu vermeiden. Der Norddeutsche Bund umfasste 23 Staaten, der Deutsche Bund hatte anfänglich 41 Mitglieder, die Paulskirchenverfassung sollte samt Österreich in 39 Staaten gelten. Die Einzelstaaten wurden jetzt vornehmlich als "Bundesstaaten" bezeichnet, womit an die Terminologie des Deutschen Bundes angeknüpft wurde. Über die Stellung dieser Bundesstaaten verlor die Verfassung kaum Worte. Es war weder eine Bestandsgarantie noch - wie in Frankfurt - eine Neugliederungsoption vorgesehen. Beides erklärt sich aus der starken vertragsmäßigen, bündischen Komponente des Entstehungsprozesses, der zufolge eine einseitige Disposition des Bundes über die Gliedstaaten kaum denkbar schien. Auch eine Festschreibung des Gleichheitsgrundsatzes, wie sie die Bundesakte enthalten hatte, fehlte, was mit Blick auf die preußische Vorzugsstellung und die einzelne Sonderrechte der Staaten verständlich ist. b) Die Teilung der Kompetenzen und Mittel
Die Kompetenzverteilung in der Verfassung erfolgte - wie in Wien und Frankfurt - durch die bloße Normierung der Bundeskompetenzen. Dabei erfolgte die Zuweisung der Zuständigkeiten hier vorrangig nach Art der Staatstätigkeit und nicht - wie in der Paulskirchenverfassung - nach Sachgegenständen. Das Recht zur Gesetzgebung besaß der Bund nur nach Maßgabe der Verfassung. Auch hier wurde an die bereits in Frankfurt vorgesehene Notwendigkeit einer expliziten Kompetenzzuweisung für den Bund angeknüpft, ohne dass dieser Grundsatz aber in einer generellen Norm wie in § 5 PV Ausdruck fand. Der Umfang der legislativen Bundeskompetenzen kam denen der Paulskirchenverfassung nahe. 57 Die Erfordernisse der RechtsVgl. Art. 1 und 2 WSA sowie §§ 5, 87 Abs. 2 PV. Dazu das folgende Konkordanzverzeichnis: Art. 4, Nr. 1 NBV vgl. §§ 58, 57, 39, 136 PV, Art. 4, Nr. 2 NBV vgl. §§ 34, 38, 51 PV, 56 57
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und Wirtschaftseinheit sowie des Infrastrukturausbaus bestimmten auch hier die Kompetenznonnen. Einige Zuständigkeiten, die 1867 im Vergleich mit Frankfurt noch fehlten, wurden später dem Reich beigelegt. Zwar unterschied die Verfassung anders als die Reichsverfassung nicht ausdrücklich in verschiedene Arten der Gesetzgebungskompetenz des Bundes58 , doch sollte sich in der Verfassungspraxis bald wieder eine Trennung von ausschließlichen und konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeiten durchsetzen. 59 Bei den Militärkompetenzen ähnelten sich zwar Bundes- und Reichsverfassung mit der völligen Vereinheitlichung der Marine und dem Erhalt bestimmter einzelstaatlicher Rechte hinsichtlich des Heeres. Allerdings blieb 1849 der Charakter eines Kontingentheeres noch stärker ausgeprägt als 1867. Bei den auswärtigen Angelegenheiten hingegen blieb die Bundesverfassung mit dem Erhalt des konkurrierenden Gesandtschaftsrechts der Einzelstaaten hinter Frankfurt zurück, wo dies explizit verboten war. Dagegen wurde mit der Überführung der Post- und Telegraphenverwaltung in die Bundeszuständigkeit Realität, was in Frankfurt als bloße Option vorgesehen war. Der Grundsatz des Ländervollzugs der Reichsgesetze fand sich wie 1849 auch in der Bundesverfassung, wenn auch ohne explizite Regelung. War ein entsprechendes Aufsichtsrecht des Bundes in der Paulskirchenverfassung jeweils einzeln angeordnet, so wurde dies nunmehr für alle Materien der Gesetzgebung generell festgelegt. Im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit übernahm die Bundesverfassung die Zuständigkeitsbestimmungen und Erweiterungsoptionen der Paulskirchenverfassung, allerdings wurde anders als dort kein eigenes Bundesgericht errichtet. In deutlichem Kontrast zu Frankfurt stand dagegen der Verzicht auf eine Verfassungsgerichtsbarkeit. Allein zwischenstaatliche Streitigkeiten waren geregelt und teils in Anlehnung an den Deutschen Bund dem Kollegium der Staatenvertreter, teils abweichend davon dem Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art.
4, Nr. 3 NBV vgl. §§ 46, 45, 47 PV, 4, Nr. 4 NBV vgl. § 47 PV, 4, Nr. 5 und 6 NBV vgl. § 40 PV, 4, Nr. 7 NBV vgl. §§ 38, 6 PV, 4, Nr. 8 NBV vgl. §§ 28, 32, 31 PV, 4, Nr. 9 NBV vgl. §§ 24, 25 PV, 4, Nr. 10 NBV vgl. §§ 41,44 PV, 4, Nr. 11 NBV vgl. § 183 PV, 4, Nr. 12 NBV vgl. § 60 PV, 4, Nr. 13 NBV vgl. § 64 PV, 4, Nr. 14 NBV vgl. § 13 PV, 4, Nr. 15 NBV vgl. § 61 PV. 58 Vgl. aber Art. 35 NBV (',Der Bund ausschließlich hat die Gesetzgebung ... ") und Art. 61 NBV (" ... ein umfassendes Bundes-Militairgesetz ... "). 59 Siehe unten C.II.2.b)bb).
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Weg der Bundesgesetzgebung zugewiesen. Bezüglich der Bundeszuständigkeit in Fällen der Justizverweigerung übernahm die Verfassung dagegen wortwörtlich die Bestimmungen der Wiener Schlussakte. 6o Bei der Finanzierung des Bundes erfolgte eine deutliche Anlehnung an die Finanzverfassung der Paulskirche. Der Bund blieb - wie 1849 vorgesehen - ein "Kostgänger der Länder". Immerhin waren direkte Bundessteuern, die 1849 auf außerordentliche Fälle beschränkt waren, nunmehr in das Belieben des Bundesgesetzgebers gestellt. Was das Recht zu Verfassungsänderungen anging, so stand dies wie bereits nach der Paulskirchenverfassung dem Bund zu. Gleichwohl fehlte hier im Gegensatz zu § 63 PV der ausdrückliche Hinweis auf die damit einhergehende Kompetenz-Kompetenz des Bundes, die jedoch in der Verfassungspraxis ohne Abstriche bestehen sollte. c) Die Organisation des Bundes und der Anteil der Gliedstaaten
an der Willensbildung des Gesamtstaates
Die Institution des Bundesrates stand unverkennbar in der Tradition des bisherigen Bundestages und des früheren Reichstages sowie in deutlichem Kontrast zum Staatenhaus der Paulskirchenverfassung. Wäre es nach Bismarck gegangen, wäre es sogar bei der alten Bezeichnung Bundestag geblieben. 61 Statt durch weisungsfreie Repräsentanten in einer zweiten Parlamentskammer hatten die Einzelstaaten ihren Anteil an der Gesamtwillensbildung - wie zuvor im Reich und im Deutschen Bund - durch einen ständigen Gesandtenkongress. 62 Bei der Stimmverteilung übernahm die Verfassung ausdrücklich die Zahlen des früheren Bundestages, allerdings mit dem gewichtigen Unterschied, dass früher die jetzt praktizierte Hinzurechnung der Stimmen der annektierten Staaten zu den preußischen im Deutschen Bund ausdrücklich ausgeschlossen war (vgl. Art. 6 WSA). Dadurch entstand gegenüber den anderen Staaten eine preußische Stimmendominanz, die so weder im Bundestag noch im Staatenhaus existiert hatte. Andererseits wurde im Vergleich zu Frankfurt eine noch größere Disproportionalität zwischen Stimmzahl und realer Größe der einzelnen Staaten geschaffen, was sich zu Gunsten der Kleinstaaten auswirkte. Die Aufgaben und Rechte des Bundesrates hatten teils parlamentarischen Charakter und ähnelten jenen des Staatenhauses, etwa hinsichtlich der Gesetzgebung und Vgl. Art. 77 NBV und Art. 29 WSA. Siehe oben C.I.3. Erst der preußische Kronprinz setzte eine Änderung jener "verfluchten alten Namen" durch; vgl. Becker, Bismarcks Ringen, S. 287 f. 62 Dessen diplomatischer Charakter wurde durch Art. 10 NBV betont, wonach seinen Mitgliedern der "übliche diplomatische Schutz" gewährt wurde. 60 61
I. Der Norddeutsche Bund und die Reichsgrundung
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des Budgetrechts. Sie umfassten darüber hinaus aber auch Rechte, die in Frankfurt dem Kaiser und seiner Regierung zugedacht waren, etwa bezüglich der Mitwirkung an der Gesetzgebung63 , der Bundesexekution64 , der Auflösung der Volksvertretung65 , des Rederechts seiner Mitglieder in der Volksvertretung66 und der Mitwirkung am Gesetzesvollzug67 . Der Einfluss der Einzelstaaten auf den Bund erstreckte sich mittels des Bundesrates also auf alle drei Teile der Staatsgewalt. Ausgeübt wurden diese Einflussrechte durch die Bevollmächtigten der einzelstaatlichen Regierungen. Eine Konstruktion, die unübersehbar Ähnlichkeiten mit der staatenbündischen Organisation des Deutschen Bundes und seines Bundestages besaß. Bei der Konstruktion des Bundespräsidiums und des Bundesfeldherrn blieb die Verfassung ohne rechtes Vorbild. Mit seinen Exekutiv-Befugnissen stand der preußische König als Inhaber dieser Ämter einerseits im Gegensatz zum Deutschen Bund, der auf eigene Vollzugsrechte und -organe weitgehend verzichtet hatte. Andererseits unterschied er sich auch vom Kaiser der Paulskirchenverfassung, der nicht nur sämtliche dem Bundespräsidium zustehenden Kompetenzen innehatte, sondern weitere monarchische Prärogativen besaß, etwa die nunmehr dem Bundesrat zufallende allgemeine Kompetenzvermutung (§ 84 Satz 2 PV). Zwar wurde auch in Frankfurt versucht, das Reichsoberhaupt mit der Hausmacht eines starken Gliedstaates auszustatten, weshalb man den preußischen König zum Kaiser gewählt hatte, im Unterschied zur dort erfolgten peniblen Trennung in Bundes- und Landesgewalt wurden nun aber die Zuständigkeiten zwischen dem Bundespräsidium sowie dem Feldhermamt und den Rechten des preußischen Königs als Monarch eines Gliedstaates vermengt. Etwa bei der BundesKriegsmarine, die unmittelbar dem preußischen Oberbefehl unterstellt wurde. Das Amt des Bundeskanzlers ähnelte hinsichtlich des Vorsitzes im Gesandtenkollegium dem des früheren Präsidialgesandten im Bundestag. Es ging aber deutlich darüber hinaus, weil der Bundeskanzler durch seine Gegenzeichnung für das Bundespräsidium insgesamt die Verantwortung übernahm. Dies entsprach zwar ebenso wie die Ernennung durch das Bundespräsidium der Stellung eines Reichsministers der Paulskirchenverfassung, gleichwohl unterlag der Bundeskanzler im Unterschied zu diesem keiner ausdrücklichen parlamentarischen Kontrolle und Verantwortung. Der Titel "Bundeskanzler" erinnerte zwar an das Dalberg'sche Amt im Alten Reich, Bismarck wird aber eher an das Amt des preußischen Staatskanzlers Har63 64 65
66 67
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
8 Holste
Art. Art. Art. Art. Art.
5 NBV und § 80 PV. 19b) NBV und §§ 54, 82 PV. 24 NBV und §§ 79, 106 PV. 9 NBV und § 121 PV. 37 2) NBV und § 80 PV.
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denberg gedacht haben, denn das Kanzlermodell war der Gegenentwurf zum ihm verhassten Kollegialsystem des preußischen Ministeriums. 68 Der Reichstag hatte, so der Abgeordnete Welcker in der Verfassungsdebatte, trotz der Namensgleichheit mit "der trübsten Institution der deutschen Geschichte - jenem Gesandtenkongreß des Alten Reiches - nicht die geringste Ähnlichkeit". 69 Für ihn galt das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Männerwahlrecht, das die Nationalversammlung einst beschlossen hatte. Auch für das dortige Parlament mit seinen beiden Kammern war der Name "Reichstag" vorgesehen. Teilweise wird die Bezeichnung Reichstag auch als Hinweis darauf angesehen, worauf die bismarcksche Deutschlandpolitik hinauswollte: ein neues Reich. 7o Eher darf man annehmen, dass damit der in der Volksvertretung liegenden unitarischen Komponente der Verfassung im Gegensatz zum föderativen Element des Bundesrates Ausdruck verliehen werden sollte; schließlich lehnte Bismarck bei der Reichsgründung eine Änderung des Namens "Bundesrat" in "Reichsrat" mit diesen Argumenten ausdrücklich ab. 7 ! Im Übrigen lehnten sich die Detailbestimmungen streckenweise eng an einzelne Artikel der preußischen Verfassungsurkunde an. 72 d) Der Einfluss des Gesamtstaates auf die Gliedstaaten Das Recht des Bundes zur Aufsicht über den Vollzug der Bundesgesetze hatte seine Vorläufer sowohl in der Wiener Schlussakte wie auch in der Paulskirchenverfassung. Ganz ähnlich verhält es sich mit den Bestimmungen zur Bundesexekution, die im Unterschied zu Frankfurt und in Parallele zu den staatenbündischen Formulierungen der Wiener Schlussakte weitgehend an die Zustimmung des föderalen Bundesorgans gebunden ist. Allerdings verzichtete die Verfassung im Gegensatz zu ihren Vorläufern auf die detaillierte Normierung der Voraussetzungen für ein Eingreifen der Bundesgewalt. Eingriffe der Bundesgewalt in die inneren Verhältnisse eines Landes bei Störungen der öffentlichen Sicherheit waren nun im Gegensatz zu Art. 25 f. WSA und § 54 Nr. 2 PV gegenüber dem einzelstaatlichen Handeln nicht mehr ausdrücklich subsidiär. Hier zeigt sich eine unitarische Akzentverschiebung. Dagegen wurde anders als in Wien und Frankfurt auf Vgl. Becker, Bismarcks Ringen, S. 275. Bei v. HoltzendorJflBezold, Materialien I, S. 95. 70 So G. Mann, Dt. Geschichte, S. 367. 71 Vgl. Bismarck, GW 6c, S. 1 f. 72 Vgl. Art. 27 NBV und Art. 78 Abs. 1 PrVU; Art. 21 NBV und Art. 78 Abs. 2, 3 PrVU; Art. 28 NBV und Art. 83 PrVU; Art. 30 NBV und Art. 84 Abs. 1 PrVU; Art. 31 NBV und Art. 84 Abs. 2-4 PrVU; Text der preußischen Verfassung von 1850 bei DüriglRudolj, Texte, Nr. 7. 68 69
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Homogenitätsgebote für die einzelstaatlichen Verfassungen völlig verzichtet. Ebenso wenig nahm der Bund durch die Festlegung und Garantie von Grundrechten auf die Verhältnisse in den Einzelstaaten Einfluss. e) Die Koordination von Gesamtstaat und Gliedstaaten
Die Koordination von Bund und Einzelstaaten löste die Verfassung in Anlehnung an § 66 PV mit der Normierung eines Vorrangs der Bundesgesetze vor denen der Einzelstaaten. Lediglich Streitigkeiten innerhalb oder zwischen einzelnen Bundesstaaten sollten vom Bund geregelt werden können, dagegen fehlte es an Regeln der Streitentscheidung für das BundLänder-Verhältnis hier völlig - ganz im Gegensatz zu der ausgefeilten Verfassungs gerichtsbarkeit der Paulskirchenverfassung. f) Resümee
Summiert man diese Einzelposten des Traditionsgutes in Bismarcks Werk, so ist zu konstatieren, dass sich in der Norddeutschen Bundesverfassung Einflüsse verschiedener föderativer Modelle der Vergangenheit finden. Die Bundesverfassung erscheint als eine Mixtur von Paulskirchenverfassung und Deutscher Bundesakte. Hinsichtlich der Kompetenzen des Bundes bestand eine fast völlige Übereinstimmung mit der Paulskirchenverfassung. Das Bedürfnis der Zeit nach Rechts- und wirtschaftlicher Einheit sowie dem Ausbau der Infrastruktur in Deutschland schlug sich hier voll nieder. Hier bestand auch quer durch alle politischen Gruppierungen die größte Übereinstimmung. 73 Die stärkere Vereinheitlichung im Bereich des Militärwesens dokumentiert den machtpolitischen Anspruch Preußens als Führungsrnacht, darüber kann auch der demgegenüber systemwidrig erscheinende Fortbestand des einzelstaatlichen Gesandtschaftsrechts nicht hinwegtäuschen. Auch das Frankfurter Modell hinsichtlich der weitgehenden Beschränkung des Bundes auf die Gesetzgebung und die Überlassung des Vollzugs an die Länder lebte fort. Zeitgenössische Beobachter haben wohl aufgrund Bismarcks ablehnender Haltung gegenüber den 48er Ereignissen und ihrem Verfassungswerk entweder jedweden Einfluss der Paulskirchenverfassung geleugnet74 oder allenfalls einen Einfluss gegen den eigentlichen Willen Bismarcks ausgemacht. 75 Beide Einschätzungen halten - wie gesehen - einer genauen Untersuchung nicht stand. Die Paulskirchenverfassung entfaltete eine beträchtliche Prägekraft 73 74
75 8*
Darauf weist hin Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, S. 105. So wohl Laband. StaatsR I, S. 10. So Bomhak, Genealogie, S. 103.
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auf die Verfassung des Norddeutschen Bundes, und weil diese weitgehend von Bismarck gestaltet wurde, zeigt sich darin auch ihr Einfluss auf Bismarck selbst. 76 Bei der Organisation der Bundesgewalt lag die Sache anders als bei der Kompetenzverteilung. Hier existierte zwar mit dem Reichstag ebenfalls die erstrebte Nationalrepräsentation des Volkes, im Übrigen stand die Bundesgewalt aber im strikten Gegensatz zur Paulskirche: kein Staatenhaus, keine verantwortliche Regierung, keine volle Budgethoheit des Parlaments, keine Grundrechte, kein Bundesgericht. Erst hier schlug sich Bismarcks Versuch nieder, sich an ,,hergebrachte Bundesbegriffe" zu halten. Aber auch wenn der Bundesrat bei isolierter Betrachtung dem Organ des Deutschen Bundes ähnelte, war doch das Modell einer Kompetenzteilung zwischen diesem föderal-kollegialen und einem unitarisch-preußischen Organ tatsächlich völlig originell und hat dem Bundesrat zu Recht die Beschreibung als "eine ganz eigentümlich kühne Schöpfung,,77 eingebracht. Der Einfluss der Einzelstaaten, d.h. seiner Regierungen, war hier gegenüber der Paulskirchenverfassung formal umfassender. Der Bundesrat wurde aber zugleich auch gegenüber der Volksvertretung in Stellung gebracht, indem er ministerielle Funktion haben sollte. Allerdings standen seinem Einfluss wiederum die Kompetenzen und die reale Machtstellung der preußischen Krone gegenüber. Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass die Norddeutsche Bundesverfassung hinsichtlich der Kompetenzteilung den Bedürfnissen der Zeit folgend auf das Bundesstaatsmodell der Paulskirche zurückgegriffen hat. Zugleich gab sie aber dem neuen Gemeinwesen unter Verwendung älterer staatenbündischer Traditionen eine betont föderativ-antiparlamentarische Ordnung, die sie mit preußisch-hegemonialen Zügen verknüpfte.
6. Die Bundesstaatslehre und die Rechtsnatur des Norddeutschen Bundes a) Die Bundesstaatslehre um 1866
"Die Tage, da alles in Deutschland, was sich mit der Gegenwart und Zukunft des Vaterlandes beschäftigt, das Wort Bundesstaat im Munde trug [... ] sind vorüber.,,78 Mit diesen Worten beschrieb Georg Waitz im Jahre 76 Kühne. Die Reichsverfassung der Pau1skirche, S. 116; Boldt. Der Föderalismus in den Reichsverfassungen, S. 331 f.; aus der zeitgenössischen Literatur bereits v. Martitz. Betrachtungen, S. 25; Haenel. StaatsR, S. 11. 77 So v. Mohl, RStaatsR, S. 228; auf die "Eigenart" des bismarckschen Bundesra-
tes verweist auch Becker. Bismarcks Ringen, S. 249. 78 Waitz. Das Wesen des Bundesstaates, S. 153.
1. Der Norddeutsche Bund und die Reichsgrundung
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1853 zutreffend die Situation der Bundesstaatsidee in Politik und Wissenschaft nach dem Scheitern des Einigungswerkes der Frankfurter Paulskirche. Diese Worte sind zugleich aber der Anfang jener Schrift, die spätestens seit ihrer Zweitveröffentlichung 1862 die Diskussion um den Bundesstaat wieder beleben und die in der Folgezeit herrschende Bundesstaatslehre begründen sollte. 79
Ausgangspunkt von Waitz' Lehre war sein Staatsverständnis: "Es ist für jeden Staat ein erstes Erfordernis, daß er selbständig sei, unabhängig von jeder ihm selbst fremden Gewalt.,,80 Diese Unabhängigkeit nannte er Souveränität. 81 Für einen Bundesstaat, der ein aus Staaten zusammengesetzter Gesamtstaat sein sollte, bedeutete dies: ,,Nur da ist ein Bundesstaat vorhanden, wo die Souveränität nicht dem einen und nicht dem anderen, sondern beiden, dem Gesamtstaat und dem Einzelstaat, jedem innerhalb seiner Sphäre, zusteht. ,,82 Aus dem Grundsatz der geteilten oder doppelten Souveränität zog Waitz weitere Folgerungen. Für die Begründung der Bundesgewalt und der Gewalt der Einzelstaaten bedeutete dies: "Diese darf ihre Gewalt nicht von jener empfangen, jene nicht auf Übertragung dieser beruhen.,,83 Für die Organisation von Zentral- und Gliedstaatsgewalt sah Waitz vor, dass die staatlichen Aufgaben zwischen beiden jeweils nach Sachmaterien aufgeteilt werden sollten. 84 Beide Staatlichkeiten sollten einen kompletten Apparat zur Wahrnehmung aller legislativen, administrativen und judikativen Aspekte dieser Aufgaben besitzen und jeweils über eigene Finanzquellen verfügen. Die Organe von Zentralgewalt und Einzelstaatsgewalt müssten sich unabhängig voneinander bilden, daher dürften die Gliedstaaten keinen Anteil an der Regierung des Gesamtstaates haben. Dagegen war für Waitz aber eine direkte Volksvertretung beim Gesamtstaat erforderlich, da die Bürger sowohl zu den Einzelstaatsgewalten wie auch zur Zentralgewalt in unmittelbarer Beziehung stehen würden. Waitz' Bundesstaatslehre ist also gekennzeichnet durch eine IdentifIkation von Staat und Souveränität, eine Teilung oder Doppelung der Souveränität sowie eine strikte Trennung von Gesamtstaat und Gliedstaaten hinsichtlich der Aufgabenwahrnehmung, der Mittel und der Willensbildung. Gerade dieser letzte Aspekt zeigt den starken Einfluss des amerikanischen Bundesstaatsmodells auf Waitz. Tatsächlich ist seine Arbeit durch die amerikanischen Verhältnisse, so wie Alexis de Tocqueville 85 sie in Europa dar79
80 81
82 83
84 85
Zur waitzschen Bundesstaatslehre vgl. Dreyer. Föderalismus, S. 204 ff. Waitz. Das Wesen des Bundesstaates, S. 165. Waitz. Grundzüge der Politik, S. 18. Waitz. Das Wesen des Bundesstaates, S. 166. Waitz. Grundzüge der Politik, S. 44. Vgl. Waitz. Das Wesen des Bundesstaates, S. 186 ff. ,,oe la democratie en Amerique", 1835/1840.
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stellte, stark geprägt. Der Erfolg der waitzschen Lehre beruhte auf ihrem föderalen Kompromisscharakter. Einerseits erlaubte sie, die von den Einzelstaaten, deren Monarchen und Regierungen streng gehütete Souveränität beizubehalten, andererseits machte sie den erstrebten nationalen Bundesstaat denkbar. Zum Zeitpunkt der Gründung des Norddeutschen Bundes dominierte daher Waitz' Theorie die Bundesstaatslehre. 86 b) Zeitgenössische Urteile über die Rechtsnatur des Norddeutschen Bundes
Die Frage der Rechtsnatur des Norddeutschen Bundes war unter seinen Zeitgenossen umstritten. 87 "Die Kategorien des Staatsrechts werden an diesem Bau zu Schanden", urteilte Heinrich v. Treitschke. 88 Die waitzsche Theorie des monarchischen Bundesstaates ließ sich mit der neu geschaffenen verfassungsrechtlichen Realität nur schwer vereinbaren. Bereits die Abgeordneten des Reichstages waren sichtlich irritiert. Der Abgeordnete v. Miquel äußerte daher, durch die Verfassung werde weder ein Einheitsstaat noch ein Bundesstaat oder Staatenbund geschaffen. 89 Der fortschrittlichen Seite fehlte zum Bundesstaat eine von den Einzelstaaten unabhängige Zentralgewalt mit einern verantwortlichen Ministerium. Die Verfassung schaffe lediglich einen um einen Reichstag ergänzten Bund. 90 Die nationalliberale Seite betonte dagegen die Unvollkommenheit der Bundeskompetenzen im Bereich des Militärs und der auswärtigen Gewalt und fühlte sich mit Matrikularbeiträgen und dem Bundesrat stark an den jüngst erloschenen Staatenbund erinnert.91 Außerdem fehlte es nach Waitz' Lehre dem neuen Bund zum Bundesstaat auch an einer umfassenden eigenen Verwaltung. Andere Politiker hingegen betonten die reale Macht Preußens, sprachen von einern Scheinbundesverhältnis und sahen aufgrund der Annexionen von Hannover und Hessen den Weg in den Einheitsstaat beschritten. 92 Auch in der Wissenschaft waren die Stellungnahmen höchst verschieden. E. Hiersemenzel deutete den Norddeutschen Bund als Staatenbund - allerdings ohne nähere Begründung. 93 Als "nationalen Staatenbund unter preußi86 Vgl. zur Rezeption der waitzschen Lehre Deuerlein. Föderalismus, S. 92 ff.; Dreyer, Föderalismus, S. 214 ff. 87 Vgl. dazu die Darstellung bei Dreyer, Föderalismus, S. 268 ff. 88 v. Treitschke, Pr. Jahrb. 19 (1867), 722. 89 Bei v. HoltzendorjJlBezold, Materialien I, S. 106. 90 Bei v. HoltzendorjJlBezold, Materialien 11, S. 673 ff. 91 Vgl. Abg. Miquel, bei v. HoltzendorjJlBezold, Materialien I, S. 107; v. Treitschke, Pr. Jahrb. 19 (1867), 724 ff. 92 Vgl. Abg. Mallinkrodt, bei v. HoltzendorjJlBezold, Materialien I, S. 228 ff. 93 Vgl. Hiersemenzel. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes I, S. 34.
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scher Hegemonie", der von außen wie ein Einheitsstaat erscheine 94, qualifizierte v. Treitschke den Bund. Es ist darauf hingewiesen worden, dass beide Urteile aus dem Jahre 1867 stammten, einer Zeit, in der das Urteil über die Rechtsnatur noch unbeeindruckt von der Staatspraxis war. 95 Tatsächlich mag bei Hiersemenzels Urteil von Belang sein, dass er seine Untersuchung über den Norddeutschen Bund auf die bündische, vertragsmäßige Komponente im Entstehungsprozess stützte. Bei v. Treitschke hingegen findet seine vom Verfassungswortlaut zum Teil enttäuschte großpreußisch-unitarische Anschauung ihren Niederschlag. Andere StaatsrechtIer bescheinigten dem Norddeutschen Bund einen Mischcharakter und zählten ihn zur Klasse der Bundesstaaten, obwohl - so Friedrich Thudichum - einiges daran an den Staatenbund, anderes an den Einheitsstaat erinnere. 96 Der ganz überwiegende Teil der zeitgenössischen Staatsrechtslehre sah den Norddeutschen Bund aber als Bundesstaat an 97 - eine Einschätzung, die auch gegenwärtig unbestritten ist. 98 Dies bedeutete aber nichts anderes als die Abkehr von der waitzschen Theorie. Das Kriterium der strikten Trennung zwischen der Zentralgewalt und der Staatsgewalt der Gliedstaaten wurde aufgegeben. 99 Die Mitwirkung der Gliedstaaten an der Bundesgewalt wurde ebenso für unerheblich erklärt wie der Umstand, dass sich diese weitgehend auf die Gesetzgebung beschränkte und den Vollzug den Gliedstaaten überließ. 100 Zum Kriterium der Bundesstaatlichkeit erhoben Georg Meyer und Ferdinand v. Martitz allein die Art der Wirksamkeit der Bundesgewalt. Wo sie eine unmittelbare Herrschaft über das Volk erlange, solle ein Bundesstaat vorliegen. I01 Ganz ähnlich machte Carl-Friedrich v. Gerber "eine wirkliche Staatsgewalt und ein in dieser politisch geeintes Volk" zum Kriterium der Bundesstaatlichkeit und sah dies mit Blick auf die für die Bevölkerung unmittelbar geltenden Bundesgesetze auch als gegeben an. I02 Allerdings blieb er der waitzschen Lehre noch insoweit verhaftet, als er auch auf eine selbständige Verwaltung, eigene Beamte, eigene Finanzquellen sowie die selbständige Organisation der Bundesgewalt abstellte. 103 Für v. Gerber war der Norddeutsche Bund daher eine "abweiv. Treitschke, Pr. Jahrb. 19 (1867), 723. Vgl. Dreyer, Föderalismus, S. 269. 96 Vgl. Thudichum, VertR des Norddeutschen Bundes, S. 53. 97 So G. Meyer, Grundzüge, S. 171; v. Martitz, Betrachtungen, S. 1 ff.; v. Gerber, Grundzüge, S. 245 ff. 98 Vgl. Forsthoff, Dt. VerfG, S. 148; Huber, Dt. VerfG II1, S. 655, 786; Kimminich, Dt. VerfG, S. 409; Willoweit, Dt. VerfG, S. 253; Boldt, Dt. VerfG I, S. 168; FrotscherlPieroth, VerfG, Rn. 365; Stern, StaatsR V, S. 309 f. 99 Schulze, Einleitung, S. 431; G. Meyer, Grundzüge, S. 173. 100 Vgl. G. Meyer, Grundzüge, S. 172; v. Martitz, Betrachtungen, S. 1. 101 Vgl. G. Meyer, Grundzüge, S. 171; v. Martitz, Betrachtungen, S. 1. 102 Vgl. v. Gerber, Grundzüge, S. 245. 94 95
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chende Art" des Bundesstaates - "geht man von der schweizerischen oder nordamerikanischen Verfassung als Normaltypen dieser Gattung aus". Die Teilhabe der einzel staatlichen Regierung an der Bundeswillensbildung rechtfertige sich eben durch das Problem, "eine Mehrzahl altbegriindeter monarchischer Staaten zu dieser Staatengemeinschaft zu verbinden".I04 Ganz ähnlich sprach auch Schulze von "einem Bundesstaat, zwar nicht in abstrakter Durchführung eines Schulbegriffes, sondern in origineller Erfassung der einmal gegebenen deutschen Staatsverhältnisse".105 c) Folgen für die Entwicklung der Bundesstaatslehre
Mochte auch die völlige Loslösung von der Lehre der geteilten Souveränität noch ausstehen, unter dem Eindruck der realen Existenz des Norddeutschen Bundes vollzog sich eine Abkehr von den waitzschen Gedanken, weg von einer strikten Trennung von Gesamtstaat und Einzelstaaten und hin zu einer Verbindung beider bei Aufgabenwahrnehmung und Willensbildung des Gesamtstaates. Die historischen Fakten prägten die Theorie und schon wenig später hat man der neuen Verfassung eine "bahnbrechende Fortbildung und Vertiefung des Bundesstaatsbegriffs" attestiert. 106 Allerdings erfolgte bisweilen eine vorschnelle Identifikation der Wesensmerkmale der neuen Ordnung mit dem Bundesstaat "an sich". So sollte es eine Eigenart des Bundesstaates sein, dass "dessen Obergewalt dem durch die Gesamtheit seiner Gliedstaatsgewalten formierten Collegium" zustünde. 107 Ganz ähnlich wurde zum Kriterium erhoben, dass sich "die Centralgewalt zum Zwecke der Erreichung der staatlichen Aufgaben der Gliedstaaten bedient".108 Im Bundesstaat sollte stets die Gesamtheit für die Gesetzgebung, die Gliedstaaten für die unmittelbare Ausführung zuständig sein. 109 Die konkret-positive Ordnung des Reiches wurde so zum abstrakt-theoretischen Modell des Bundesstaates erhoben. Mit Blick auf den schweizerischen oder amerikanischen Bundesstaat, der die waitzsche Lehre geprägt hatte, ließen sich solche Generalisierungen nicht aufrecht erhalten und stießen schon bei den Zeitgenossen auf Kritik. 110 Nicht das konkrete Bundesratsmodell oder Vgl. v. Gerber, Grundzüge, S. 246 f. v. Gerber, Grundzüge, S. 249 f. 105 Schulze, Einleitung, S. 432. 106 Anschütz, Bismarck und die Reichsverfassung, S. 18 f. 107 O. Mejer, Einleitung, S. 23. 108 Laband, StaatsR I, 1. Aufl., S. 78. 109 So Rümelin, ZgStW 39 (1883), 202; ders., ZgStW 40 (1883), 394 ff. 110 Ablehnend insbesondere v. Martitz, ZgStW 32 (1876), 569; G. Meyer, Dt. StaatsR, S. 45 Fn. 7, 46. Laband, StaatsR I, 5. Aufl., S. 59 ff., hat denn seine Auffassung später auch nicht mehr so dezidiert vertreten. 103
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die weitgehend funktionale Kompetenzteilung zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten wurden daher zu Kriterien des Bundesstaats erhoben, sondern es wurde nun - neben der souveränen Staatlichkeit des Gesamtstaates - im allgemeinen auf eine Mitwirkung der Gliedstaaten an der Willensbildung des Gesamtstaates 111 sowie eine Teilung der staatlichen Kompetenzen 112 abgestellt. l13 7. Der Norddeutsche Bund als Weichenstellung für die deutsche Bundesstaatsentwicklung Die Jahre 1866/67 brachten eine grundlegende Weichenstellung für den staatsrechtlichen Föderalismus in Deutschland. Das Ausscheiden Österreichs - sowie Luxemburgs, Liechtensteins und Limburgs - bedeutete den endgültigen Verzicht auf eine großdeutsche Lösung. Zugleich wurde damit einem Föderalismus als Mittel supranationaler Integration in Mitteleuropa, wie er noch immer mit der österreichischen Monarchie verbunden war, eine Absage erteilt. Obwohl der Norddeutsche Bund seine Legitimation in der Idee des Nationalstaates fand, war er anders als der Versuch von 1848 keine nationaldemokratische Gründung. Die Hauptakteure blieben trotz des Reichstages die Einzelstaaten. Das diplomatisch-bündische Geschehen dominierte die Entstehung des Bundes. Dies war einerseits Ausdruck der Schwäche der liberalen Bewegung nach ihrem Scheitern in Frankfurt, andererseits ein Zeichen des Selbstbehauptungswillens der partikularen Dynastien. Der noch unvollständige nationale Bundesstaat entstand aber nicht durch das Zusammenkommen gleichberechtigter und gleichstarker Partner, sondern durch die Zusammenfügung durch den stärksten seiner Teile. Die im Norddeutschen Bund vereinten Staaten mochten alle über eine historische Legitimation verfügen, angesichts der preußischen Annexionen war klar, dass sie ihren Fortbestand und ihre Teilhabe am Bundesstaat vor allem preußischer Gunst verdankten. Insoweit haftete dem Bundesstaat etwas Künstliches, preußisch Gewillkürtes an. Nicht nur hinsichtlich der politischen Macht, sondern auch bezüglich der realen Größe, Fläche und Einwohnerzahl bestanden so gravierende Unterschiede, dass man von einem stark ungleichgewichtigen Bundesstaat sprechen konnte. Zusammen mit der Ausgestaltung der Verfassung, III Vgl. Laband, StaatsR I, S. 56; Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 49; G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 295; AnschülZ, Bismarck und die Reichsverfassung, S. 24. ll2 Besonders klar G. Meyer, Dt. StaatsR, S. 45 f.: ,,Die Ausscheidung der beiderseitigen Kompetenzen kann auf sehr verschiedene Weise erfolgen, die Art, wie sie geschieht, ist für das Wesen des Bundesstaates nicht maßgebend." 113 Siehe zur Fortentwicklung der Bundesstaatstheorie auch unten C.I11.
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C. Das Bismarck-Reich als Bundesstaat
insbesondere der Verbindung der preußischen Königskrone mit dem Bundespräsidium, führte dies zu einem hegemonialen Bundesstaat. Die weitgehende Beschränkung des Bundes auf die Gesetzgebung ähnelte noch der Paulskirche. Die Ausübung der obersten Regierungsgewalt durch die Gliedstaaten selbst - nämlich in Gestalt des Bundesrates - war hingegen völlig neu. Beides zusammen machte die Eigenart dieses Bundesstaates aus: die Verbindung und das Zusammenwirken von Gesamtstaat und Einzelstaaten bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben und der staatlichen Willensbildung. 114 Damit wurde der Norddeutsche Bund zu einem neuen Modell des Bundesstaates, das die Bundesstaatslehre stark beeinflusste. Mit dem in allgemeiner und gleicher Wahl gebildeten Reichstag wurde auch ein Element des demokratischen Bundesstaates in den neuen Verfassungsbau integriert. Dem Einfluss des Parlaments wurden aber gerade durch die Eigenart dieses Bundesstaates Grenzen gesetzt. Die Teilhabe der Gliedstaaten an der Gesamtstaatsbildung durch den Bundesrat, seine Deutung als kollektive Gesamtregierung, machte jede Parlamentarisierung der Regierung unmöglich. So war dieser Bundesstaat von der Annahme einer föderativ-parlamentarischen Antinomie geprägt. Untersucht man den Norddeutschen Bund in kompetenzieller Hinsicht auf jene Bereiche, in denen sich die Länderhoheit entfalten und sich Vielfalt erhalten konnte, so ist der bismarcksche Bundesstaat vor allem Ausdruck eines Verwaltungs-, Finanz-, Kultur- und VerfassungsföderalismusYs Hinzu tritt - zumindest bei Blick auf die Ausgangslage im Jahr 1867 noch ein Justizföderalismus. Insgesamt zeigt sich, dass sich die Vielschichtigkeit, der Mischcharakter des bismarckschen Verfassungswerkes, der sich schon beim Blick auf sein Verfassungserbgut feststellen ließ, auch in der konkreten Gestalt des geschaffenen Bundesstaates wiederfindet. So vielstimmig die Urteile über den Verfassungsbau und die Rechtsnatur des Norddeutschen Bundes waren, politisch stieß er weitgehend auf Zustimmung. Es waren nur Einzelne, wie etwa der Göttinger Alt-Liberale Heinrich Ewald, die auf die inneren Widersprüche des bismarckschen Föderalismus hinwiesen. Die Gewaltsamkeit seiner Gründung, die ungleichen Rechte seiner Glieder sowie die preußische Vorherrschaft über die übrigen Staaten machten für Ewald einen echten "Bund" unmöglich. 116 Andere Kritik an der preußischen Hegemonie entsprang dagegen weniger dem Wunsche nach einem gleichgewichtigen Föderalismus als vielmehr der Wahrung dynastisch-partikularer Staatlichkeit. Aber föderative Kritik wurde auch schnell 114 Diese Eigenart des bismarckschen Bundesstaates arbeitete besonders heraus Anschütz, Bismarck und die Reichsverfassung, S. 12 ff. 115 Th. Nipperdey, Dt. Geschichte II, S. 85 f. 116 Bei v. HoltzendorfjlBezold, Materialien III, S. 216; 1274 ff.
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als Partikularismus verbrämt, denn wer - wie der Protagonist der großpreußisch-unitarischen Bewegung v. Treitschke - die Zeit der kleinen Monarchien vorüber wähnte und Deutschland "gleich allen großen Kulturvölkern des Weltteils" auf dem Weg zum Einheitsstaat sah, für den waren schon die betont föderativen Elemente des bismarckschen Werks nur ärgerliche Zugeständnisse an einen überkommenen Partikularismus. 117 Eine grundlegende Kritik von föderalistischer Seite her nahm vor allem Constantin Frantz vor. Er prangerte die "Schattenseiten des Norddeutschen Bundes,,118 an, der für ihn "trotz täuschender föderativer Formen ein Einheitsstaat" war. Statt eines Bundesverhältnisses sah Frantz bloß ein preußisch dominiertes Subjectionsverhältnis. Ausgehend von einem Gleichgewichtsföderalismus kritisierte er besonders die Disproportionalität der Einzelstaaten mit der Lebensunf'ähigkeit der Kleinstaaten und der Übermacht Preußens: "Der Löwe und die Maus können sich nicht konföderieren.,,1l9 Ein Bundesstaat schien Frantz deshalb nur durch eine Rückgängigmachung der Annexion Hessens und Hannovers, womit zwei lebensfähige Staaten zerstört worden seien, und weiteren "Umbildungen und Neubildungen" möglich. So deutlich Frantz hier Widersprüche innerhalb des neuen Staates ausmacht und weitsichtig Überlegungen anstellt, die in ganzer Breite erst in der Weimarer Republik diskutiert wurden, insgesamt gingen seine Vorstellungen doch in eine ganz andere Richtung als die eines Bundesstaates. Er strebte eine Überwindung des Nationalitätenprinzips durch einen mitteleuropäischen Bund an, d. h. eine Fortentwicklung der supranationalen Reichsidee auf föderativer Grundlage. Diese politischen wie publizistischen Bemühungen Frantz' scheiterten aber völlig, weil sein Projekt geradezu das Gegenteil bildete zum Verlangen der Zeit nach einem deutschen Nationalstaat. Dieser Nationalstaat war die unverkennbare politische Zielsetzung des Norddeutschen Bundes und damit rechtfertigte sich auch der bismarcksche Föderalismus. Nach den Annexionen und den bei der Verfassungsgebung zu Tage getretenen politischen Gewichtsverhältnissen hätte es mit dem Föderalismus in Norddeutschland eigentlich vorbei sein können. 12o Tatsächlich hätte sich für die mit Preußen verbündeten Staaten dieser "Aufwand" des Föderalismus kaum gelohnt. 121 Man hat in ihm daher bisweilen lediglich ein Instrument zur Verteidigung des monarchischen Prinzips gegen eine Parlarnentarisierung der Regierung gesehen. 122 Unbestreitbar war dies eine wesentliche Intention Bismarcks bei der Gestaltung des Bundesrates. Aber 117 118
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v. Treitschke. Pr. Jahrb. 19 (1867), 718. So der Titel seiner 1870 erschienenen "staatswissenschaftlichen Skizze". Frantz. Föderalismus, S. 232. So Th. Nipperdey. Dt. Geschichte, S. 794. Vgl. G. Mann. Dt. Geschichte, S. 367. Vgl. Rauh. Föderalismus und Parlamentarismus. S. 48 f. und passim.
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es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass mit dem Norddeutschen Bund die Nation noch nicht eins war. Mochte auch die Unfertigkeit des Bundes auf der Hand liegen und mit dem Zoll verein die Brücke nach dem Süden schon geschlagen sein, wirtschaftliche Integration führt nicht zwangsläufig zu politischer Einheit. Dies hatte sich schließlich auch 1866 bei Ausbruch des Krieges gezeigt. Außerdem bestanden vor allem in Bayern und Württemberg - dort aus partikularistischen, hier aus liberal-demokratischen Motiven - noch beträchtliche Vorbehalte gegen Preußen, wie sich bei den Wahlen zum Zollvereins-Parlament wieder zeigen sollte. Die betont föderative Gestaltung der Verfassung sollte daher besonders der Sorge vor einer drohenden Prussifizierung des Südens Rechnung tragen. Der bismarcksche Bundesstaat bezog seine Legitimation daher auch aus der Integrationsfunktion des Föderalismus. Um des lang gehegten Zieles der nationalen Einheit willen gingen die bisher politisch dominierenden Liberalen mehrheitlich auf das - in der sogenannten Indemnitätsvorlage dokumentierte 123 - Bündnisangebot Bismarcks ein und akzeptierten seine Form des Föderalismus. Trotz verschiedener Kritik gelang es ihnen nicht, eine grundlegende Alternative für eine Form der nationalen Einheit bei gleichzeitiger Verwirklichung der Freiheit und einer föderativen Selbstbestimmung der Einzelstaaten zu entwickeln. 124 Deshalb fügten sie sich in Realpolitik und hofften auf den Lauf der Zeit, mit dem sich im geeinten Deutschland auch die Freiheit mit Grundrechten, einer verantwortlichen Bundesregierung und voller parlamentarischer Budgethoheit die Bahn brechen würde. Durch die Einheit zur Freiheit, dies wurde das Motto dieser Nationalliberalen. Wie der deutschen Nationalstaat dann vollendet wurde und welche Konsequenzen dies für das bismarcksche Bundesstaatsmodell hatte, ist nun darzulegen. 8. Der Weg zur Reichsgründung 1870171
a) Die Novemberverträge und die Frage von Gründung oder Beitritt Zum Katalysator der deutschen Einigung wurde 1870 der Krieg mit Frankreich. Über die Thronkandidatur eines Hohenzollernprinzen in Spanien kam es zum Streit zwischen Preußen und Frankreich, welches am 19. Juli 1870 Preußen und damit dem Norddeutschen Bund den Krieg erklärte. Unter dem Druck der nun aufkommenden nationalen Begeisterung 123 Bismarck bat darin das Parlament um rückwirkende Genehmigung der seit 1862 - infolge des preußischen Verfassungskonflikts - ohne Haushaltsplan erfolgten Staatsausgaben; vgl. zum Konflikt insgesamt Grimm, Dt. VerfG, S. 231 ff.; Huber, Dt. VerfG m, S. 305 ff., 351 ff.; jüngst H. Dreier, Der Kampf um das Budgetrecht, S. 60 ff. 124 Vgl. Ullner, Föderalismus, S. 120.
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erfüllten auch die vier süddeutschen Staaten ihre in den Schutz- und Trutzbündnissen vereinbarten militärischen Beistandspflichten und zogen unter preußischem Oberbefehl mit in den Krieg. Mit dem schnellen Sieg über Frankreich war der äußere Garant der innerdeutschen Main-Grenze ausgeschaltet. Der nun auch in anti-preußischen Volkskreisen um sich greifenden nationalen Stimmung konnten sich die süddeutschen Dynastien nicht mehr entziehen. Die Frage der deutschen Einheit rückte an die Spitze der politischen Tagesordnung. 125 Unmittelbar nach dem Sieg über Frankreich wurden im September 1870 Verhandlungen zwischen dem Norddeutschen Bund und den Südstaaten aufgenommen, bereits im Oktober beantragten Baden und Hessen-Darrnstadt ihre Aufnahme in den Bund. Im November karnen diese beiden Staaten mit dem Norddeutschen Bund jedoch überein, zum 1. Januar 1871 einen Deutschen Bund zu gründen. Noch im Laufe des Monats schlossen Bayern und Württemberg ähnliche Verträge ab. Danach sollte die bisherige Verfassung lediglich mit einigen Änderungen zur Verfassung des Deutschen Bundes werden. Neben diesen sog. Novemberverträgen wurden in besonderen Militärkonventionen zwischen dem Norddeutschen Bund und den vier Staaten die Grundsätze der militärischen Vereinigung bestimmt. In Änderung der ursprünglichen Verträge wurde am 10. Dezember zwischen dem Norddeutschen Bund und den vier Staaten vereinbart, die Bezeichnung "Deutscher Bund" durch "Deutsches Reich" zu ersetzen und das Bundespräsidium mit dem Titel ,,Deutscher Kaiser" zu versehen. Nachdem der Reichstag und die Landtage der süddeutschen Staaten die Novemberverträge gebilligt hatten, wurden sie arn 31. Dezember 1870 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht und es entstand arn 1. Januar 1871 das Deutsche Reich. Die Kaiserproklarnation erfolgte arn 18. Januar, die Wahl des ersten Deutschen Reichstages fand am 3. März statt. Der Gesetzgeber fasste dann die in den Verträgen verteilten Verfassungsbestimmungen weitestgehend in einer Urkunde zusarnmen l26 , die als "Verfassung des Deutschen Reiches" arn 16. April 1871 ausgefertigt wurde. 127 Die Frage, ob es sich bei dem als "Reichsgründung" in die Geschichtsbücher eingegangenen Vorgang rechtlich tatsächlich um eine Neuschöpfung oder lediglich um einen Beitritt der süddeutschen Staaten handelte, hat die ganz herrschende Meinung der zeitgenössischen Staatsrechtslehre im letzteren Sinne beantwortet. Die Reichsgründung war danach lediglich eine "Reform des Norddeutschen Bundes, eine in der Verfassung des letzteren selbst vorgesehene Erweiterung und Umbildung desselben".128 Heute wird Vgl. dazu und zum Folgenden Th. Nipperdey, Dt. Geschichte n, S. 75 ff. Vgl. zum materiellen Verfassungsrecht außerhalb der Verfassungsurkunde Huber, Dt. VerfG IIT, S. 759. 127 RGBl. 1871, S. 63. 125 126
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dieser Einschätzung mit Blick auf den Wortlaut der Verträge vielfach widersprochen. 129 Trotz des hessischen-badischen Beitrittsersuchens erfolgte nämlich niemals eine Bezugnahme auf den Art. 79 NBV, der einen Eintritt süddeutscher Staaten ausdrücklich vorgesehen hatte. Stattdessen war von der "Gründung eines Deutschen Bundes" die Rede und es finden sich Formulierungen, wonach die Parteien "einen ewigen Bund [schließen]". Dagegen lässt sich jedoch vorbringen, dass nach den Vorstellungen der Vertragspartner keine Neugründung vorlag 130 - nämlich weil eine materielle Neuschöpfung einerseits nicht zugestanden wurde, andererseits nicht durchgesetzt werden konnte. Dass es trotz verschiedener Initiativen - die nicht nur aus dem Süden kamen - lediglich zu beitrittsbedingten Modifikationen des vorhandenen Verfassungswerkes kam, wird jetzt zu zeigen sein. b) Reformbemühungen um die Bundesstaatlichkeit im Zuge der Reichsgrnndung
Im Zuge der Herstellung der nationalen Einheit musste sich Bismarcks Bundesstaatsmodell noch einmal kurzzeitig gegenüber Reformüberlegungen behaupten. Diese gingen von den beiden süddeutschen Königreichen Bayern und Württemberg, aber auch von einer ganz heterogenen Schar von Opponenten der Verfassung des Norddeutschen Bundes aus. l3I Während Baden und Hessen-Darmstadt - ersteres aus ehrlicher Bereitschaft, letzteres sich der Unurnkehrbarkeit des bisherigen Integrationsprozesses beugend - den vorbehaltlosen Beitritt zum Norddeutschen Bund beantragt hatten, versuchte insbesondere Bayern, diesen Schritt vehement zu vermeiden. Dabei lassen sich die bayerischen Vorschläge im Wesentlichen auf zwei Konzepte zusammenfassen: Entweder die Gründung eines neuen Bundesverhältnisses mit einer weniger festen Ausgestaltung als der bisherige Norddeutsche Bund - diese Politik wurde auch von Sachsen verfochten, das sich von dem Hinzutreten der süddeutschen Staaten auch eine Besserstellung seiner eigenen Position als Mittelstaat erhoffte, oder die Herstellung eines Doppelbundes zwischen dem Norddeutschen Bund einerseits und Bayern sowie möglicherweise weiteren süddeutschen Staaten andererseits. Dieses Vorgehen hätte den bereits 1866 im Prager Frieden vorgesehenen Bestimmungen geähnelt. Bismarck und die nationalliberalen Kräfte waren weder bereit, das erreichte Maß an nationaler Einheit zu Gunsten eines lAband, StaatsR I, S. 44. Vgl. Huber, Dt. VerfG III, S. 760 ff.; Kimminich, Dt. VerfG, S. 426 ff.; Stern, StaatsR V, S. 34l. 130 Maurer, in: FS f. Stern, S. 47 f. 13l Vgl. dazu und zum Folgenden Bast, Der Eintritt der süddeutschen Staaten, S. 158; Becker, Bismarcks Ringen, S. 722 ff. 128
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dynastischen Partikularismus aufzulockern, noch mit weiteren Föderationen die Chance zur Vollendung der staatlichen Einheit zu vertun. Es waren die Uneinigkeit der süddeutschen Staaten bei ihren Verhandlungen,132 die Käuflichkeit des bayerischen Königs, Bismarcks Instrumentalisierung der bayerischen Sorge vor einer Isolation und seine Bereitschaft zur Gewährung von Sonder- und Reservatrechten, solange Bayern und Württemberg sich nur zum Abschluss eines Verfassungs vertrages auf Grundlage der Norddeutschen Bundesverfassung bereit fanden, die die Einigung in der vorbestimmten Form gelingen ließen. An Überlegungen aus dem Jahr 1866 knüpften Vorschläge an, ein Oberhaus einzurichten: Konservative Kreise wollten damit ein Gegengewicht zum Reichstag zu schaffen. Partikularisten versprachen sich davon einen Schutz vor unitarischen Tendenzen. Die national-unitarische Richtung um den Herzog von Sachsen-Coburg-Gotha wollte damit sowie durch ein verantwortliches Reichsministerium eine Stärkung der staatlichen Einheit erreichen. 133 Bismarck zeigte sich in dieser Frage aber unnachgiebig. Weil die Verfassungsgebung im Rahmen der Reichsgründung wiederum eine Sache der Staaten blieb, hatte das Parlament 1871 auch keine Möglichkeit, eigene Akzente zu setzten. 134 Die Nationalliberalen verzichteten sogar darauf, ihre Forderung nach einem verantwortlichen Ministerium ernsthaft einzubringen. Es blieb daher im Wesentlichen bei der Verfassung des Norddeutschen Bundes. Die Befugnisse des Bundesrates wurden zu Lasten des Präsidiums geringfügig erweitert, das Sperrquorum bei Verfassungsänderungen zu Gunsten der drei Königreiche abgesenkt. Baden, Württemberg und vor allem Bayern wurden einzelne Exemtionen oder Sonderrechte gewährt. 135 So blieben etwa die königlich-bayerische Post und Eisenbahn ebenso erhalten wie der Oberbefehl des bayerischen Königs über seine Truppen in Friedenszeiten. Überdies avancierte Bayern zu einer Art stellvertretenden Hegemonialmacht, indem es den stellvertretenden Vorsitz im Bundesrat führte. Betrachtet man den Umfang der Verfassungsänderungen, wird verständlich, warum die Reichsgründung als bloßer Beitritt der süddeutschen Staaten bewertet wurde. Eine echte Neuschöpfung verfassungsrechtlicher Bestimmungen fand nicht statt, genau dies suchte Bismarck vielmehr zu vermeiden. Aber die Art der hinzukommenden Verfassungsbestimmungen macht auch deutlich, warum dennoch von "Reichsgründung" und nicht vom süddeutschen Beitritt gesprochen wurde. Das Verfassungsrecht musste den - insbesondere bayerischen - Bedürfnissen nach mindestens protokollarischen Nachweisen der Eigenstaatlichkeit Rechnung tragen. Es entsprach Bismarcks BereitDazu insbesondere Binder, Reich und Einzelstaaten, S. 22. m Vgl. Becker, Bismarcks Ringen, S. 742 ff. 134 Anders wohl Stern, StaatsR V, S. 339, siehe dort aber auch S. 358 f. 135 Siehe dazu unten C.II.l.d)bb)(2)(ß) und (y). 132
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C. Das Bismarck-Reich als Bundesstaat
schaft zu undogmatischem Handeln und seinem Glauben an eine pragmatische Politik, dass er diese Sonderrechte zuließ, solange er nur die staatliche Einheit erreichte und die Strukturen seines Bundesstaates unverändert blieben. Damit gewann eine Eigenart des bismarckschen Bundesstaatsmodells an noch schärferer Ausprägung, als sie bereits durch die hegemoniale Rolle Preußens gegeben war: das Deutsche Reich wurde ein Bundesstaat, in dem keine Gleichheit der verfassungsmäßigen Rechte der Gliedstaaten bestand.
11. Der deutsche Bundesstaat nach der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 und seine Entwicklung Nach der Entstehungsgeschichte des Reiches soll nun die konkrete Ausgestaltung der Bundesstaatlichkeit des Bismarck-Reiches betrachtet werden. Dabei hat zum einen eine systematische Darstellung der bundesstaatlichen Ordnung anhand der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 zu erfolgen. Neben der Schilderung der Rechtslage entsprechend dem Verfassungswortlaut ist zum anderen auf die Verfassungswirklichkeit und auf die Verfassungsentwicklung bis zum November 1918 - sei es im geschriebenen Recht, sei es außerhalb davon - einzugehen. 136 1. Reich und Bundesstaaten
a) Die doppelte Staatlichkeit Die Reichsverfassung vom 16. April 1871 galt gemäß ihrer Präambel für einen "Bund", der den Namen "Deutsches Reich" führte. 137 In Art. 1 RV wurde das Bundesgebiet durch die Aufzählung von 25 Territorien, die hier als "Staaten" bezeichnet wurden, umschrieben. In der Verfassung finden sich verschiedene Bezeichnungen für diese Territorien: Teils wurde von "Staaten" gesprochen, teils von "Bundesstaaten"138. An einer Stelle war von "Mitgliedern des Bundes" 139, an anderen von "Bundesgliedern,,14o die Rede. Schließlich wurden Formulierungen gebraucht, die eine Bezeichnung als "Land" nahe legten. 141 In der Staatspraxis und in der Literatur nannte 136 V gl. zum Begriff der Verfassungsentwicklung Bryde. Verfassungsentwicklung, S. 22; siehe auch unten C.II.2.a)dd). 137 Im Verfassungstext findet sich für die Gesamtheit sowohl die Bezeichnung "Bund" (Art. 6, 11 RV) wie "Reich" (Art. 2, 3, 4 RV u.v.a.), außerdem ist auch von "Deutschland" die Rede (Art. 33, 41, 47 RV). 138 Vgl. Art. 3, 6a Abs. 3, 8 Abs. 2, 35 Abs. 2 RV u.v.a. 139 Vgl. Art. 6 RV. 140 Vgl. Art. 7 Abs. 19,41 Abs. 1 RV.
11. Verfassungsrecht und Verfassungsentwicklung
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man die Territorien jedoch einhellig so, wie sie in der Verfassung am häufigsten bezeichnet wurden, nämlich "Bundesstaaten". Diese Worte der Verfassung zeigten bereits eine zweifache Gliederung an: Gesamtheit und Glieder, Reich und Bundesstaaten machten den deutschen Nationalstaat aus. Obwohl die Verfassung also hinsichtlich der Bezeichnung ihrer Glieder an die staatenbündischen Formulierungen des Deutschen Bundes anknüpfte, setzten sich in der zeitgenössischen Staatsrechtslehre Ansichten über die Rechtsnatur des Reiches und seiner Glieder durch, wie sie bereits bezogen auf den Norddeutschen Bund dominierend waren. Nach der ganz herrschenden Meinung war das Reich ein souveräner (Bundes-)Staat, der aus nichtsouveränen Gliedstaaten bestand. 142 Allerdings herrschte über die juristische Konstruktion dieses Bundesstaates im Einzelnen viel Streit. 143 Unabhängig davon lässt sich aber mit einer zeitgenössischen Stimme bereits feststellen, dass es "unzweifelhaft [ist], daß in Deutschland eine zweifache Reihe politischer Organisationen - das Reich und die 25 Einzelstaaten den Anspruch erheben für Ziele und mit Mitteln tätig zu sein, die staatsartig sind". 144 Weil sich die Reichsverfassung auf die Regelung der Reichssachen beschränkte und auf die Glieder nur insoweit abstellte, wie dies für ihr Verhältnis zum und im Reich wichtig war 145 , sollen zuerst die Gliedstaaten näher betrachtet werden. b) Die Gliedstaaten des Reiches
aa) Natürliche Heterogenität der Gliedstaaten Das Reich bestand aus insgesamt 25 Gliedstaaten. Dies waren vier Königreiche (Preußen, Bayern, Sachsen und Württemberg), sechs Großherzogtümer (Baden, Hessen, Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz, 01denburg und Sachsen-Weimar), fünf Herzogtümer (Braunschweig, SachsenMeiningen, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Coburg-Gotha und Anhalt), sieben Fürstentümer (Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen, Waldeck, Reuß ältere Linie, Reuß jüngere Linie, Schaumburg-Lippe und Lippe) sowie die drei Freien Städte Lübeck, Bremen und Hamburg. 146 Eine Son141 Vgl. Art. 2 (,,Landesgesetz H), 48 Abs. 4 (..Landesregierungen H), 48 Abs. 5 ( ..Landespostverwaltung H), 56 Abs. 2 (,,LandeskonsulateH), 66 Abs. 2 (..LändergebieteH) RV. 142 Vgl. Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 226 f.; Laband, StaatsR I, S. to1. Siehe dazu unten C.III.4. und 5. 143 Siehe dazu unten C.III. 144 Haenel, Dt. StaatsR I, S. 209. 145 Zu diesem Grundsatz siehe unten C.lI.1.b)dd) und 2.a)aa). 146 Vgl. Art. 1 RV. 9 Ho1ste
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C. Das Bisrnarck-Reich als Bundesstaat
derstellung als "Reichsland" besaß das 1870 annektierte, vonnals französische Gebiet Elsaß-Lothringen. Nicht alle Gliedstaaten besaßen ein geschlossenes Territorium. Vielfach zerfiel ihr Gebiet in mehrere große Teile, etwa in Braunschweig, Hessen, Waldeck-Pynnont, Anhalt oder Sachsen-Coburg und Gotha. Außerdem bestanden zahllose Exklaven, die teilweise quer im Reich zerstreut waren. Zum nordwestdeutschen Oldenburg gehörte etwa das an der Ostsee gelegene Fürstentum Lübeck sowie ein Landstrich im HunsTÜck - das Fürstentum Birkenfeld. Der Zuschnitt der Staaten war noch immer von den bisweilen irrationalen Ergebnissen dynastischer Erbfolgen und Landgewinne geprägt. Auch die Größenverhältnisse zwischen den Gliedstaaten waren höchst verschieden. Preußen umfasste nahezu zwei Drittel der Fläche des Reiches und stellte zur Zeit der Reichsgrundung mit 24 Millionen Menschen ca. 60 Prozent aller Einwohner. 147 Nennenswerte Ausmaße und eine Bevölkerungszahl, die die Millionengrenze überschritt, hatten nur noch die süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg und Baden sowie Sachsen. Das Fürstentum Reuß ältere Linie brachte es auf einen Anteil von rund 0,05 Prozent des Reichsterritoriums, Schaumburg-Lippe zählte ganze 32.000 Einwohner. Preußen war 750 mal größer als dieser bevölkerungs schwächste Gliedstaat. Diese Unterschiede hatten auch Folgen für die Verteilung der politischen Macht - dies hat sich im Vorherigen schon deutlich gezeigt sowie für die wirtschaftliche Leistungsfahigkeit. Letzteres wurde etwa bei den an das Reich zu leistenden Matrikularbeiträgen deutlich: Während Preußen im Jahre 1873 mit 11 Millionen Thalern etwa 45 Prozent zu den Reichsausgaben zuschoss, brachten die übrigen Staaten deutlich geringere Beiträge auf. Lediglich bei den drei süddeutschen Staaten und Sachsen erreichten sie noch Millionenhöhe, Schaumburg-Lippe zahlte ganze 12.541 Thaler. 148 Es herrschten also gravierende Größenunterschiede in Fläche, Einwohnerzahl, politischer und auch ökonomischer Macht zwischen den Staaten - insbesondere bestand eine gewaltige Dominanz Preußens. bb) Die eigene Legitimation der Gliedstaaten Sämtliche Gliedstaaten des Reiches verfügten über eine historische Priorität gegenüber dem Reich. Alle gingen aus einstigen Reichsständen des Alten Reiches hervor und waren nach dessen Ende souveräne Staaten gewesen. Mit der historischen Legitimation war es bei einigen Staaten indes nicht weit her, da sie ihre Gestalt erst durch die territorialen "Flurbereini147 Vgl. für Fläche und Einwohner die Angaben in AnnDR 1873, 140 f. und 1872, 902 f. 148 Vgl. die Angaben für die Matrikularbeiträge des Jahres 1873 in AnnDR, 1872, 1621 ff.
11. Verfassungsrecht und Verfassungsentwicklung
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gungen" zu Beginn des 19. Jahrhunderts erhalten hatten, letzte Veränderungen ergaben sich sogar noch in der Spätzeit des Deutschen Bundes. 149 An der Spitze der Gliedstaaten standen - mit Ausnahme der Hansestädte Monarchen, die sich auf ihre dynastische Legitimität stützten. Die Ausübung der Hoheitsrechte erfolgte regelmäßig im Zusammenspiel mit einer vom Volke gewählten Vertretung, die Grundlage eines Stückes demokratischer Legitimation der gliedstaatlichen Tätigkeit war. 150 cc) Staatsvolk und Staatsangehörigkeit der Gliedstaaten In allen Staaten bestand neben der Reichsangehörigkeit eine besondere Staatsangehörigkeit. 151 Allerdings bestimmte das Reich gern. Art. 4 Abs. 1 RV die Gründe für den Erwerb und Verlust sowohl der Reichs- wie der Staatsangehörigkeit. Dabei bildeten nach dem ersten Reichsgesetz von 1871 Reichs- und Staatsangehörigkeit eine nicht zu trennende Einheit. Nur durch die Zugehörigkeit zu einem Gliedstaat bestand auch die Reichsangehörigkeit. Das primäre Staatsangehörigkeitsrecht war also jenes der Glieder, die Reichsangehörigkeit wurde dadurch erst vermittelt. Für die juristische Konstruktion des Reiches ließ sich diese Regelung verschieden deuten. Die extrem föderalistischen Anschauungen sahen im Staatsangehörigkeitsrecht eine Bestätigung ihrer These, wonach das Reich ein bloß (staatenbündisches) Werk der Gliedstaaten sei. Der Staatsrechtler Paul Laband fand dagegen hier einen Beleg für seine streng hierarchische Bundesstaatskonstruktion, bei der eine direkte Verbindung nur zwischen dem Reich und den ihm untergeordneten Gliedstaaten bestehe. Die Gliedstaaten vermittelten dem Reich erst das Staatsvolk. 152 Wer dagegen als Zeichen des souveränen Bundesstaates eine unmittelbare Beziehung zwischen Gesamtstaat und Volk forderte, bei dem stieß die Konstruktion einer Priorität der Staats- gegenüber der Reichsangehörigkeit auf Vorbehalte. 153 Die Bedeutung der gliedstaatlichen Staatsangehörigkeit wurde allerdings durch das sog. gemeinsame Indigenat in Art. 3 RV relativiert. Danach war jeder Deutsche in jedem Gliedstaat hinsichtlich wichtiger Rechte (Niederlassung, Gewerbefreiheit, Zugang zu öffentlichen Ämtern usw.) den Einheimischen gleich zu behandeln. Zwar war damit noch keine Gleichstellung bezüglich der einzelnen staatsbürgerlichen Grundfreiheiten erreichtI54.155, 149 Vgl. zur Geschichte der einzelnen Staaten Koebler, Hist. Lexikon der dt. Länder, 1999. 150 Zum gliedstaatlichen Verfassungsrecht siehe sogleich unten C.ll.l.c)bb). 151 Vgl. Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 242 ff. 152 Vgl. dazu die Darstellung bei Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit, S. 205 ff. Siehe zur Konstruktion des Bundesstaates insgesamt unten C.III.7. 153 Vgl. Zorn, Dt. StaatsR I, S. 344 f.
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c. Das Bismarck-Reich als Bundesstaat
aber die fortgesetzte Reichsgesetzgebung hinsichtlich dieser Materien sowie die Weite der Formulierungen des Art. 3 RV führte zu einer nahezu völligen, innerföderalen Gleichbehandlung. Die Staatsangehörigkeit blieb somit zwar noch für die Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte, etwa das Wahlrecht zum Landesparlament, von Bedeutung l56 , aber jeder Deutsche konnte die jeweilige Staatsangehörigkeit unproblematisch erwerben. Wanderungsbewegungen einerseits und das Festhalten am Abstammungsprinzip andererseits führten überdies zu einer großen Zahl von doppelten Staatsangehörigkeiten, die die Bedeutung der Zugehörigkeit zu einem Gliedstaat weiter relativierte. Für die wichtigsten Lebensbereiche des Einzelnen war daher die Staatsangehörigkeit weitgehend gleichgültig. 157 Als Ausdruck der zu einem Staatsvolk vereinten Bewohner eines Territoriums behielt sie für die rechtliche Qualität der Glieder wie des Reiches insgesamt aber Bedeutung, wie Laband formulierte: "Die einzelnen Staaten wären keine Staaten mehr, wenn sie keine Staatsbürger hätten. Das Reich wäre kein Bundesstaat, sondern ein Einheitsstaat, wenn das Staatsbürgerrecht in den Einzelstaaten in dem Reichsbürgerrecht untergegangen wäre.,,158 Dass ein Staatsvolk indes auch ohne eine formale Staatsangehörigkeit bestehen kann, wurde hier noch nicht erkannt. 159 Aber auch Laband sah, dass jenseits dieser theoretischen Bedeutung, die "Einheit der Reichsangehörigkeit [... ] über den Partikularismus der Staatsangehörigkeit mit der Zeit den Sieg davon tragen [wird]" .160 Im Jahre 1913 wurde ein neues Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz erlassen. Es sah neben der durch die Zugehörigkeit zu einem Gliedstaat vermittelten Reichsangehörigkeit auch die unmittelbare Reichsangehörigkeit vor. Diese Regelung wurde nötig, weil das Reich als solches und nicht nur vermittelt durch seine Gliedstaaten mit dem Erwerb von Elsaß-Lothringen, der Kolonien und Helgolands gewachsen war. Das strikte Vermiulungsprinzip allein und die Priorität der gliedstaatlichen Staatsangehörigkeit hatten sich dabei nicht bewährt. 161 Der Bedeutungszuwachs des Reiches gegenüber den Ländern, der sich hier als Territorialgewinn in Folge des Tätig154 Vgl. die Hinweise bezüglich der "Rechte der Preußen" gern. der Preußischen Verfassung bei Amdt, StaatsR, S. 52; ders., Verfassung, Art. 3, S. 53. 155 Vgl. zu den 1866 noch weitergehenden preußischen Verfassungsplänen den Hinweis bei Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 245 Fn. 8. 156 Vgl. Laband, StaatsR I, S. 185; Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 947 f.; a.A. Haenel, Dt. StaatsR I, S. 592 ff., der das Indigenat selbst auf die staatsbürgerlichen Rechte ausdehnen wollte. 157 Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 57. 158 Laband, StaatsR I, S. 158. 159 Siehe zur späteren Debatte in der Weimarer Republik dazu unten D.II.1.a)bb). 160 Laband, JöR 1 (1907), 13. 161 Thedieck, Deutsche Staatsangehörigkeit in Bund und Ländern, S. 41.
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keits- und Machtzuwachses des Reiches äußerte, schlug sich so im geänderten Reichs- und Staatsangehörigkeitsrecht nieder. dd) Die Rechte der Gliedstaaten im Reich Die gliedstaatlichen Rechte zerfielen in zwei Kategorien: zum einen die mitgliedschaftlichen Rechte im und am Reich, zum anderen die originären, eigenen Rechte. 162 Die mitgliedschaftlichen Rechte umfassten insbesondere den gliedstaatlichen Anteil an der Zusammensetzung und Willensbildung der Reichsorgane. Diesen Rechten korrespondierten Pflichten, etwa die Durchführung der Reichsgesetze oder die Zahlung der Matrikularbeiträge. Diese Rechte und Pflichten ergaben sich unmittelbar aus der Reichsverfassung. Keine Auskunft gab die Reichsverfassung hingegen über die eigenen Hoheitsrechte der Gliedstaaten. Diese Rechte standen ihnen nicht kraft Zuweisung durch das Reich, kraft der Verfassung oder eines Gesetzes zu, sondern als eigene, originäre Rechte. 163 Es handelte sich um Staatsgewalt. Als nicht-souveräne Staaten besaßen die Glieder des Reiches Spielraum bei der Bestimmung ihrer Organisation, der Festlegung ihrer Aufgaben und der Form von deren Erfüllung. Sie taten dies durch die Ausbildung eines eigenen Apparates, der exekutive, legislative und judizielle Tätigkeiten ausführte. Ausdruck ihrer Organisationshoheit und Grundlage ihrer Staatstätigkeit waren die Verfassungen, über die frei zu bestimmen das grundlegende, originäre Recht der Gliedstaaten war. l64 ee) Bestandsgarantie der einzelnen Gliedstaaten? (1) Verfassungstext
Die Reichsverfassung traf keine Bestimmungen über den Bestand der Gliedstaaten. Weder waren Verfahrensregelungen für etwaige Neu- oder Umgliederungen getroffen, noch war eine Existenzgarantie für die Gliedstaaten ausdrücklich erklärt. Im Wege der einfachen Reichsgesetzgebung konnten daher Eingriffe in die bestehende Gliederung des Reiches nicht erfolgen. 165 Es war ganz herrschende Meinung, dass die Gliedstaaten über ihre Existenz frei entscheiden konnten, d. h. dass sich Vereinigungen oder Anschlüsse allein nach ihrem eigenen Recht richteten. 166 Umstritten war Vgl. Haenel, Dt. StaatsR I, S. 798; siehe auch Huber, Dt. VerfG III, S. 802 ff. Haenel, Dt. StaatsR I, S. 799; Laband, StaatsR I, S. 105 f.; Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 226. Siehe dazu auch unten C.III.5. 164 Siehe auch unten C.1I.1.c). 165 Jacobi, Rechtsbestand der dt. Bundesstaaten, S. 62. 166 Laband, StaatsR I, S. 133 f.; Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 242. 162 163
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allerdings, ob das Reich über den Bestand einzelner Gliedstaaten im Wege der Verfassungsänderung verfügen konnte oder ob diese in ihrem Bestand garantiert waren. 167 (2) Die Meinungen in der Staatsrechtslehre
Die wohl herrschende Meinung der Staatsrechtslehre verneinte eine Bestands garantie der einzelnen Gliedstaaten. 168 Sie verwies auf das positive Recht und die in Art. 78 RV als Ausdruck der Souveränität des Reiches statuierte verfassungsändernde Gewalt. 169 Weil dort - mit Ausnahme des Absatzes 2 hinsichtlich der Sonderrechte einzelner Staaten - keine inhaltlichen Schranken für Verfassungsänderungen errichtet waren, sah man die Existenz einzelner Gliedstaaten in das Belieben des Reiches gestellt. Einschränkend wurde zum Teil geäußert, der Gleichheitssatz verbiete die Aufhebung nur eines einzelnen Gliedstaates, sondern erlaube lediglich die Abschaffung aller Staaten. 170 Eine politische, existenz sichernde Wirkung wurde lediglich in den Formvorschriften über Verfassungsänderungen erblickt, d.h. in der Mitwirkung des föderativen Reichsorgans und dem erhöhten Zustimmungsquorum im Bundesrat. l7l Dies bedeutete aber lediglich eine faktische Existenzgarantie Preußens, weil allein dieser Staat das Vetoquorum von 14 Stimmen im Bundesrat selbst aufbringen konnte. In Eine andere Gruppe der Staatsrechtler lehnte hingegen eine einseitige Disposition des Reiches über die Gliedstaaten völlig ab. Die Argumente für diesen Standpunkt waren vielfältig: Man stützte sich entweder auf die Deutung der Gliedstaaten als souveräne Staaten l73 oder stellte auf die "vertragsmäßigen Grundlagen" des Reiches ab. 174 Aus der Präambel-Formulierung vom "ewigen Bund" wurde auf den ewigen Bestand der vom Bund umfassten Staaten geschlossen.1 75 Außerdem wurden der Gesamtcharakter des Reiches und die bundesstaatliehe Verfassung als Garanten für die Existenz der bestehenden Gliedstaaten angesehen, denn sie würden bei einer 167 Vgl. zum zeitgenössischen Streitstand Jacobi. Rechtsbestand der dt. Bundesstaaaten. 1917. 168 Meyer/Anschütz. Dt. StaatsR. S. 693; Mejer. Einleitung. S. 342; G. Jellinek. Allgemeine Staatslehre, S. 783, 784 mit Fn. I; vgl. weitere Nachweise bei Jacobi, Rechtsbestand der dt. Bundesstaaten, S. 33 ff. 169 Zur Verfassungsänderung siehe unten C.IL2.a)cc). 170 Laband, StaatsR I, S. 128 ff.; zur Gleichheit der Gliedstaaten siehe unten C.IL1.d)bb ). 171 So Haenel. Dt. StaatsR I, S. 793; siehe dazu unten C.II.3.a)dd)(l)(ß). 172 Darauf weist hin Triepel. Unitarismus und Föderalismus, S. 105. 173 v. Seydel, Kommentar, S. 421 f. 174 G. Meyer, Dt. StaatsR, S. 590 ff. 175 v. Rönne, StaatsR I, S. 46 f.
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Aufhebung der Bundesstaaten weitgehend gegenstandslos werden. 176 Schließlich wurde der Art. 78 Abs. 2 RV angeführt: Wenn schon die Sonderrechte einzelner Staaten nicht gegen deren Willen aufgehoben werden könnten, so müsste dies für ihre staatliche Existenz erst recht gelten. 177 Hieraus wurde, entweder durch Anwendung eines Gleichheitsgrundsatzes zwischen den Staaten oder durch Zuschreibung mindestens eines Sonderrechtes an alle Staaten - nämlich ihre individuelle Stimmenzahl im Bundesrat l78 -, für alle Staaten eine Existenzgarantie abgeleitet. (3) Resümee
Die Ansicht, die eine Existenzgarantie der Gliedstaaten aus deren angeblicher Souveränität ableiten wollte, muss angesichts der zutreffenden h. M., die das Reich als souveränen Bundesstaat begriff, als verfehlt erscheinen. Ebenso wenig sind die "vertragsmäßigen Grundlagen" für eine Bestandssicherung heranzuziehen. Sie gehören zum historischen Entstehungsprozess des Reiches, hatten aber weder konstitutive Wirkung, noch Rechtswirkung über die Verfassung hinaus. 179 In die richtige Richtung zielten die Ansichten, die in der bundesstaatlichen Struktur des Reiches einen veränderungsfesten Kern der Verfassung ausmachten. Sie entsprachen neueren Vorstellungen von einer Scheidung zwischen einer bloßen Verfassungsänderung und einer Verfassungs vernichtung. Danach können die Grundprinzipien einer Verfassung nicht im Wege der legalen Verfassungsrevision aufgehoben werden. 180 Es ist allerdings zweifelhaft, ob die Grenze zur Verfassungsvernichtung schon bei der Aufhebung eines einzelnen Gliedstaates überschritten gewesen wäre. Nur dann hätte man mit dieser Theorie eine Existenzgarantie eines Gliedstaates begründen können. Voraussetzung dafür hätte sein müssen, dass gerade die bei seiner Gründung gegebene Gliederung des Reiches zum wesentlichen Grundzug der Verfassung gehört hat. Dies hätte allenfalls dann gelten können, wenn die Gliederung ein solch verfestigtes Ergebnis historischer Entwicklungen gewesen wäre, dass jede Änderung unweigerlich die Stabilität des Gesamtstaates berührt hätte. Dies traf aber keineswegs zu. Die meisten Staaten hatten erst im 19. Jahrhundert ihre Gestalt gefunden. Erbfolgen, Eroberungen und "Länderschacher" hatten für einen bisweilen recht willkürlichen Zuschnitt gesorgt. 181 Es war auch noch 176 Rosenberg, Die staatsrechtliche Stellung Elsaß-Lothringens, S. 49 f.; vgl. auch Zorn, Dt. StaatsR I, S. l36 f. 177 Rosenberg, AöR 14 (1899), 340 ff., so auch v. Seydel, Kommentar, S. 422. 178 So Jacobi, Rechtsbestand der dt. Bundesstaaten, S. 93. 179 Zu zeitgenössischen Stellungnahmen hierzu siehe unten c.m.3. 180 Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre. S. 102 ff. 181 Siehe oben C.1I.l.b )aa).
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in jüngster Zeit vor der Reichsgründung zu nennenswerten Veränderungen der Staatenlandschaft gekommen. In der Zeit von 1848 bis zur Gründung des Norddeutschen Bundes hatten - ohne Zuzählung der preußischen Annexionen - allein sechs Territorien ihre Eigenstaatlichkeit verloren. 182 Zwar deutete in der Staatspraxis manches auf eine mindestens seit 1867 bestehende Unabänderlichkeit der Gliederung hin - etwa weil es weder zum Anschluss Waldeck-Pyrmonts an Preußen kam, noch zur Vereinigung der beiden Schwarzburg, obwohl im ersten Fall der völlige verwaltungsmäßige Anschluss 'an Preußen erfolgt war und im zweiten Fall mindestens eine Personalunion hinsichtlich der Landesherren bestand l83 . Allerdings steht diesen beiden Fällen die Einverleibung Lauenburgs in den preußischen Staat im Jahre 1876 entgegen. 184 Eine einheitliche und widerspruchslose Staatspraxis bestand also nicht. Man wird die bestehende Gliederung des Reiches demnach nicht für eine veränderungsresistente Fundamentalentscheidung der Verfassung halten können, die für jeden einzelnen Staat eine Existenzgarantie begründete. Für ein Existenzrecht der Gliedstaaten könnten aber systematische Gründe sprechen, die an Bestimmungen des positiven Rechts anknüpfen. Eine Garantie der Sonderrechte einzelner Staaten, die Art. 78 Abs. 2 RV statuierte, wäre wirkungslos geblieben, wenn deren Grundlage, nämlich der Bestand der betreffenden Staaten selbst, disponibel gewesen wäre. Demnach wären die Staaten, die zumindest ein Sonderrecht besaßen, in ihrem Bestand garantiert gewesen. I8S Gleichwohl konnte das Existenzrecht eines Gliedstaates schwerlich ausschließlich vom Bestehen eines Sonderrechtes abgeleitet werden. Dagegen spricht zum einen die recht zufällige Begründung und ganz unterschiedliche Qualität der Sonderrechte. So wäre etwa gerade die Eigenstaatlichkeit des kleinsten Gliedstaates, Schaumburg-Lippe, garantiert gewesen - nämlich durch dessen Sonderrecht zur Erhebung von erhöhten Chaussee-Geldern. Dieses Recht war über Art. 40 RV aus dem Zollvereinsvertrag in die Reichsverfassung inkorporiert. 186 Gegen diese Lösung spricht zum anderen, dass sich der Einzelstaat mit seinem Einverständnis zur Aufhebung seines Sonderrechts zugleich seiner Existenzgarantie begeben hätte. Hamburg und Bremen werden bei ihrem Beitritt zum Zollgebiet des Reiches 1888 und dem damit einhergehenden Verzicht auf ihr Sonderrecht nach Art. 34 RV kaum den Verlust ihrer Existenzgarantie im Auge gehabt haben. In der zeitgenössischen Literatur wollte man die Vgl. Huber, Dt. VerfG m, S. 803 mit Fn. 48. Vgl. Huber, Dt. VerfG lV, S. 216 und V, S. 1058. 184 Allerdings war Lauenburg niemals ein eigener Bundesstaat gewesen; Art. 1 RV sprach denn auch von "Preußen mit Lauenburg". 185 Zu den Sonderrechten einzelner Gliedstaaten siehe unten C.II.1.d)bb )(2). 186 Vgl. Haenel, Dt. StaatsR I, S. 814. 182
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aufgezeigten Zweifel daher durch eine aus dem Gleichheitsgrundsatz folgende Erstreckung der Existenzgarantie auf alle Staaten überwinden: Solange nur ein Staat eine auf Art. 78 Abs. 2 RV und ein Sonderrecht gestützte Existenzgarantie besitze, solle der Bestand aller Gliedstaaten unantastbar sein. 187 Dies überzeugt schon deshalb nicht, weil durchaus fraglich ist, ob von einer Gleichberechtigung der Gliedstaaten überhaupt die Rede sein konnte. 188 Richtiger erscheint es, die Selbstbeschränkung der Verfassung bezüglich der einseitigen Verfügung des Reiches über einzelne Rechte der Gliedstaaten als Ausdruck des Respekts vor der Individualität und Eigenstaatlichkeit der Gliedstaaten anzusehen. Dieser Respekt musste sich erst recht auf die Existenz der Gliedstaaten erstrecken - ungeachtet des Bestehens eines einzelnen Sonderrechtes. Aus dem Geist der Verfassung, der sich in Art. 78 Abs. 2 RV dokumentierte, ergab sich daher eine Garantie der Existenz der einzelnen Gliedstaaten. 189 c) Gliedstaatliche Verfassungsautonomie und
Homogenitätsgebote des Reiches
aa) Keine Homogenitätsgebote der Reichsverfassung Die Reichsverfassung enthielt keine Normativbestimmungen für die Verfassungen der Gliedstaaten. Es gab keine Festlegung einer gewissen Homogenität der verfassungsrechtlichen Grundprinzipien in Reich und Gliedstaaten. Der Autonomie der Gliedstaaten bei der Bestimmung ihrer Verfassungen waren also keine expliziten Grenzen gesetzt. Die zeitgenössische Staatsrechtslehre schenkte der Frage der Grenzen der gliedstaatlichen Verfassungsautonomie wenig Aufmerksamkeit. Sie betrachtete die Fortbildung der einzelstaatlichen Verfassungen als eine "innere Angelegenheit" der Einzelstaaten. 190 "Die Einzelstaaten sind selbständig in bezug auf die Feststellung ihrer Verfassung", stellten Meyer/ Anschütz lapidar fest. 191 Später ist mit Blick auf das Fehlen ausdrücklicher Homogenitätsgebote eine "völlige Freiheit" der Gliedstaaten bei ihrer Verfassungsgestaltung behauptet worden l92 , und man hat im Kaiserreich ein bundesstaatliches Konzept ausRosenberg, AöR 14 (1899), 342 f. Siehe dazu unten c.n.l.d)bb). 189 So im Ergebnis auch Huber, Dt. VerfG III, S. 803, dessen Berufung auf eine derartige h.M. ist aber ebenso zweifelhaft wie der Verweis auf Laband hierzu. Beiläufig ebenso auch Stern, SlaatsR V, S. 406. - Diesem Ergebnis steht die Einverleibung Lauenburgs durch Preußen nicht entgegen, denn Lauenburg war niemals ein Gliedstaat, sondern von Beginn des Reiches an ein preußisches "Anhängsel" gewesen. 190 Haenel, Dt. StaatsR I, S. 351. 191 Meyer/Anschütz, Dt. SlaatsR, S. 227. 187 188
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gemacht, das hinsichtlich der gliedstaatlichen Verfassungsautonomie "von Toleranz statt von Homogenität" geprägt gewesen sei. 193 bb) Ausprägungen der Verfassungsautonomie Weil bereits alle Gliedstaaten zum Zeitpunkt der Reichsgründung eine eigene Landesverfassung besaßen l94 , fand die Verfassungsautonomie ihren Ausdruck vor allem in der andauernden Geltung und der Fortentwicklung dieser Verfassungen. Der einzige Fall einer Art Verfassungsgebung erfolgte - freilich unter besonderen Vorzeichen - in Elsaß-Lothringen. Dieses Territorium wurde 1871 nach dem deutsch-französischen Krieg vom Reich annektiert. Es herrschte lange Zeit Streit über eine Verfassung für dieses Gebiet. Schließlich wurde ihm 1911 ein quasi -bundesstaatlicher Status zugesprochen. 195 Es wurde eine konstitutionelle Verfassung erlassen. Dem Landtag, der entsprechend dem Reichstagswahlrecht bestellt wurde, stand der vom Kaiser ernannte Statthalter als Exekutivbehörde gegenüber. Da naturgemäß ohne historisch begründete monarchische Spitze, übernahm der Kaiser unmittelbar selbst für das Reich die Funktionen und die Rechte, die ansonsten den Landesherren der Gliedstaaten zukamen. 196 Von den 25 Bundesstaaten waren drei Republiken, nämlich die Freien Städte, die übrigen 22 waren Monarchien. In den Städten war das Volk Träger der Staatsgewalt, die von Senat und Bürgerschaft gemeinschaftlich ausgeübt wurde. Von den Monarchien waren zwei, nämlich die bei den Mecklenburg, altständische Monarchien. Dort waren alle verfassungspolitischen Entwicklungen des Jahrhunderts ohne bleibenden Einfluss gewesen. Es galten die Bestimmungen aus der Zeit des Alten Reiches, die den Monarchen eine Versammlung der privilegierten Stände, besonders der Ritterschaft, gegenüberstellten. 197 Eine gewählte Volksvertretung bestand nicht. In einem Teil Mecklenburg-Strelitz' wurde sogar noch absolutistisch regiert. 198 In den übrigen Monarchien hatte sich bis 1871 im Wesentlichen 192 So im Vergleich mit der Weimarer Verfassung Koellreutter, in: HdbDStR I, S.I44. 193 So heute MaunziZippelius, Dt. StaatsR, S. 120. 194 Vgl. Stoecklv. Rauchhaupt, Handbuch der dt. Verfassungen, 1913. 195 Vgl. den eingefügten Art. 6a, Abs. 2 RV: ,,Elsaß-Lothringen gilt [... ] als Bundesstaat". 196 Vgl. Laband, StaatsR 11, S. 211 ff., insbes. S. 231 ff., 242 ff.; siehe auch Huber, Dt. VerfG m, S. 471 ff. 197 V gl. die Darstellung bei Haenel, Dt. StaatsR I, S. 64. 198 Für das Fürstentum Ratzeburg bestand anfänglich überhaupt keine Verfassung, eine später erlassene gelangte nie zur Geltung, weil die Institutionen von den Bürgern über Jahrzehnte hinweg erfolgreich boykottiert wurden, vgl. lohn, Die Entwicklung der beiden mecklenburgischen Staaten, S. 195 ff.
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überall der Konstitutionalismus durchgesetzt. l99 Danach vereinigte der Landesherr die gesamte Staatsgewalt in seiner Person. In ihrer Ausübung war er jedoch hinsichtlich der Gesetzgebung an die Mitwirkung der Landtage gebunden, die weitgehende Unabhängigkeit der Gerichte beschränkte ihn hinsichtlich der Judikative. Ihm allein war lediglich die vollziehende Gewalt zugeordnet, die jedoch durch die Ministerverantwortlichkeit und den Vorrang der Gesetze konstitutionell eingebunden war. Obwohl es insoweit zu einer gewissen ,,Nivellierung" des gliedstaatlichen Verfassungsrechts kam2OO, bestanden doch viele Unterschiede im Detail. Bei den obersten Landesbehörden fanden sich kollegiale wie monokratische Systeme?OI Die gesetzgebenden Körperschaften traten mancherorts - insbesondere in den größeren Staaten - in zwei Kammern zusammen, andere Staaten beschränkten sich auf ein Gremium. 202 Vielfach fanden sich noch in den unterschiedlichsten Formen ständische Überbleibsel bei der Zusammensetzung der Kammern. 203 Besonders vielfaltig waren die gliedstaatlichen Bestimmungen hinsichtlich des Wahlrechts - ein Teil des materiellen Verfassungsrechts. 204 Weitgehende Übereinstimmung bestand zwischen Reich und den Gliedstaaten dahingehend, dass nach einem absoluten Mehrheitswahlrecht in EinerWahlkreisen gewählt wurde. Dagegen wurden die Grundsätze des Reichstagswahlrechts 205 in unterschiedlichen Kombinationen angewandt. Durchgesetzt hatte sich fast überall der - allerdings auf Männer beschränkte Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl, wobei jedoch die Altersgrenzen vom 21. bis zum 25. Lebensjahr differierten. Anders stand es hingegen mit dem Grundsatz der direkten Wahl. In den meisten Gliedstaaten wurden Wahlmänner zwischen Urwähler und Abgeordnete gesetzt. Die geheime Wahl wurde seit 1866 in vielen Staaten eingeführt, allerdings nicht in Preußen. Dort erfolgte die Wahl mündlich zu Protokoll - also öffentlich. Statt der Gleichheit der Wahl galt in zahlreichen Staaten eine Abstufung des Wahlrechts nach der Steuerleistung, wie etwa in Preußen mit seinem DreiKlassen-Wahlrecht. Oftmals bestanden auch Mehr- oder Plural stimmrechte, die Zusatzstimmen an unterschiedliche Kriterien banden. Die vollständige Anwendung der reichsrechtlich geltenden Wahlrechtsgrundsätze erfolgte 199 Vgl. zu den Grundzügen des Landesverfassungsrechts Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 267 ff. 200 Haenel. Dt. StaatsR I, S. 66. 201 Vgl. Frotscher, in: Dt. VerwG III, S. 410 ff. 202 V gl. etwa einerseits "Herrenhaus" und "Haus der Abgeordneten" in Preußen (Art. 62 ff. PrVU) , andererseits den ,,Landtag" in Schaumburg-Lippe (Art. 14 ff. Verf.). 203 Vgl. G. Meyer, Parlamentarisches Wahlrecht, S. 248 ff. 204 Vgl. zum Folgenden G. Meyer, Parlamentarisches Wahlrecht, S. 243 ff. 205 Vgl. Art. 20 RV.
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erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Baden, Württemberg und Oldenburg. Über Jahrzehnte hinweg bestand also in keinem Gliedstaat das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht, das für den Reichstag galt. Die Verfassungsautonomie der Gliedstaaten führte also sowohl bei horizontaler Betrachtung zwischen den Staaten, wie bei vertikaler, d.h. im Verhältnis zum Reich, zu beachtlichen Heterogenitäten. In der Staatsform, in der Art der Monarchie, bei der Organisation des Parlaments und seines Wahlrechts sowie der Organisation der Exekutive fanden sich zahlreiche Unterschiede. Dies scheint die These von der unbeschränkten Verfassungsautonomie der Gliedstaaten zu bestätigen. cc) Grenzen gliedstaatlicher Verfassungsautonomie in der Staatspraxis (1) Mittelbare Eingriffe des Reiches
Das Reich nahm gelegentlich mittelbar Einfluss auf das Verfassungsrecht der Gliedstaaten. So schloss es durch Reichsgesetz Militärangehörige nicht nur von den Reichstagswahlen sondern auch von den Wahlen zu den Landesparlamenten aus. Sein Diätenverbot für Parlamentarier erstreckte das Reich sowohl auf Mitglieder des Reichstages als auch auf Landtagsabgeordnete, sofern diese zugleich dem Reichstag angehörten. 206 (2) Direkte Eingriffe des Reiches
Zu einer direkten Intervention des Reiches in die Verfassungsangelegenheiten eines Landes kam es im Falle der braunschweigischen Thronfolge. 207 Im Jahre 1885 zwang das Reich das Herzogtum Braunschweig, dem landesrechtlich vorgesehenen Thronfolger den Regierungsantritt zu verweigern. Dieser war als Hannoveraner aufgrund der Annexion des Jahres 1866 noch mit Preußen verfeindet. Das Reich handelte in Form eines Beschlusses des Bundesrates und begründete seine Maßnahme damit, dass der Thronfolger zu Preußen in einem Verhältnis stehe, das dem "reichsverfassungsmäßig gewährleisteten Frieden unter Bundesgliedern" widerspreche. Ein solcher Gegensatz zwischen Bundesgliedern sei aber "mit den Grundprinzipien der Bündnisverträge und der Reichsverfassung nicht vereinbar".208 Dieser Eingriff in die Verfassungsautonomie Braunschweigs war letztlich eine Maßnahme der Reichsaufsicht, mit der die Pflicht des Gliedstaates, sich nicht 206 207 208
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Vgl. Laband, StaatsR I, S. 107 Fn. 1. Vgl. dazu Huber, Dt. VerfG IV, S. 428 ff. Beschluss des Bundesrates v. 2.7.1885; zitiert nach Schröcker, Staat 5 (1966)
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zum Reichsrecht - nämlich den in der Verfassung zum Ausdruck kommenden Grundprinzipien des Reiches - in Widerspruch zu setzen, durchgesetzt wurde. 209 (3) Politisch geforderte, aber unterbliebene Eingriffe des Reiches
Bemerkenswert sind darüber hinaus zwei Fälle, in denen Eingriffe des Reiches in die Verfassungsautonomie mit dem Ziel der Herstellung verfassungsrechtlicher Homogenität gerade nicht stattfanden. Sie betrafen die Verfassungslage in Mecklenburg und das Landtagswahlrecht in Preußen. Die Situation in Mecklenburg war ein verfassungspolitisches Dauerproblem des Bismarck-Reiches. 210 Trotz zahlreicher Vorstöße des Reichstages, das Reich möge eingreifen, um die überkommene alt-ständische PrivilegienOrdnung endlich abzulösen und die Wahl einer Volksvertretung sicherzustellen, verweigerte sich der Bundesrat diesen Initiativen. Er lehnte dies stets mit dem Hinweis auf fehlende Kompetenzen des Reiches ab, aber er verweigerte sich auch jedem Vorschlag, durch eine Änderung der Reichsverfassung eine Homogenitätsklausel einzuführen und die notwendigen Kompetenzen des Reiches explizit zu begründen. 2l1 Sogar als die Mecklenburg-Strelitz'sche Regierung selbst um eine Reichsintervention bat, lehnte der Bundesrat dies einhellig mit Verweis auf die föderative Konstruktion des Reiches ab. 212 In Preußen führte das vom Reichstagswahlrecht stark abweichende DreiKlassen-Wahlrecht dazu, dass sich die politischen Mehrheitsverhältnisse in Landes- und Reichsparlament völlig voneinander unterschieden. 213 Vorstöße zur rechtlichen Harmonisierung im Sinne des allgemeinen, gleichen Wahlrechts erfolgten im Reichstag mit Anträgen auf einen Zusatz zur Reichsverfassung, wonach die reichsrechtlichen Wahlgrundsätze auch für die Parla209 Vgl. Smend, DJZ 1913, 1348; ders., Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 48; Triepel, Reichsaufsicht, S. 458 Fn. 2. 210 Vgl. Huber, Dt. VerfG IV, S. 422 ff.; lohn, Die Entwicklung der beiden mecklenburgischen Staaten, S. 131 ff. 211 Der Antrag der mecklenburgischen Reichstagsabgeordneten der Jahre 1871, 1873 und 1907, der eine Ergänzung von Art. 3 RV vorsah (RT-Verh., Bd. 240, Nr. 141), hatte folgenden Wortlaut: "In jedem Bundesstaat muß eine aus Wahlen der Bevölkerung hervorgehende Vertretung bestehen, deren Zustimmung bei jedem Landesgesetz und bei der Feststellung des Staatshaushalts erforderlich ist." 212 Vgl. lohn, Die Entwicklung der beiden mecklenburgischen Staaten, S. 223 ff.; siehe auch Huber, Dt. VerfG IV, S. 426. 213 So stellte 1912 die Sozialdemokratie im (letzten) Reichstag mit 110 von 397 Sitzen die stärkste Fraktion. Im (letzten) preußischen Abgeordnetenhaus war sie hingegen nur mit 10 von 443 Mandaten vertreten; vgl. Th. Kühne, Handbuch der Wahlen, S. 55.
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mente der Gliedstaaten gelten sollten. 214 Diese Initiativen stießen bei der preußischen Regierung wie auch bei der Mehrheit des Reichstages nicht zuletzt aufgrund föderativer Motive auf Ablehnung?15 Von einer völligen Freiheit der Gliedstaaten hinsichtlich ihres Verfassungsrechts kann also mit Blick auf die Staatspraxis keine Rede sein. Es zeigt sich indes ein widersprüchliches Bild: Intervention im Falle der braunschweigischen Thronfolge einerseits, Untätigkeit aufgrund vorgeblich fehlender Kompetenzen im Falle Mecklenburgs andererseits. dd) Resümee (1) Ungeschriebene Homogenitätsgebote
Jede Gemeinschaft bedarf eines gewissen Grundkonsenses ihrer Glieder über die Rechtskultur und die wesentlichen Verfahrens- und Entscheidungsgrundsätze, ohne den ein spannungsfreies Miteinander auf Dauer überhaupt nicht möglich ist und es zu existenziellen Konflikten kommen muss?16 Der positive Ausdruck dieses Konsenses ist im Staat die Verfassung selbst. Um den Konsens im föderalen Verhältnis zu sichern, werden regelmäßig Homogenitätsgebote verankert. Konsens und ein Mindestmaß an Homogenität muss indes auch unabhängig von der Positivierung bestehen. Der Beschluss des Bundesrates zur braunschweigischen Thronfolge zeigte, dass auch für das Bismarck-Reich nichts anderes galt. Wenn dort vom ,,reichsverfassungsmäßig gewährleisteten Frieden" die Rede war, so wird damit deutlich, dass innerhalb des Reiches für existenzielle Spannungen verfassungspolitischer Art kein Raum sein sollte. Mit der Bezugnahme auf die "Grundprinzipien der Bündnisverträge und der Reichsverfassung" wurde zugleich der Maßstab für den verfassungspolitischen Frieden im Reich definiert: es waren die Verfassung und die darin enthaltenen grundlegenden Prinzipien der Staatlichkeit selbst. Der verfassungspolitische Friede musste dort bedroht sein, wo ein Gliedstaat von diesen Grundprinzipien abwich. Mit diesem Beschluss des Bundesrates haben die Gliedstaaten daher der Pflicht zu einer gewissen verfassungsrechtlichen Homogenität im 214 Der Antrag der Sozialdemokratie aus dem Jahre 1905, der eine Ergänzung von Art. 3 RV vorsah (RT-Verh., Bd. 221, Nr.94), hatte folgenden Wortlaut: "In jedem Bundesstaat und in Elsaß-Lothringen muß eine auf Grund des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts gewählte Vertretung bestehen. Das Recht, zu wählen und gewählt zu werden haben alle über 20 Jahre alten Reichsangehörigen ohne Unterschied des Geschlechts (l) in dem Bundesstaate, in dem sie ihren Wohnsitz haben." 215 Vgl. Huber. Dt. VerfG IV, S. 374 ff. 216 Vgl. MaunzJZippelius. Dt. StaatsR, S. 120.
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Reich und der Begrenzung ihrer Verfassungsautonomie selbst Ausdruck verliehen. (2) Der bewusste Verzicht auf eine Positivierung der Homogenitätsgebote
Bei der Gründung von Norddeutschen Bund und Reich legte Bismarck bekanntlich großen Wert auf eine starke föderativ-bündische Komponente. Daher vermied er jeden unnötigen Eingriff in die Rechte der Gliedstaaten. 217 Er nahm alle ihm aus geopolitischen Gründen geeignet erscheinenden Staaten in der Verfassung auf, in der sie sich als Ergebnis ihres individuellen verfassungspolitischen Entwicklungsprozesses befanden. Nur aus diesen historischen Gründen lassen sich die Verhältnisse in Mecklenburg oder die Existenz der drei Republiken inmitten monarchischer Staaten erklären. Überhaupt wäre .es mit der stark föderativen Komponente der Reichsgründung, die das Reich als "Werk der Gliedstaaten" erscheinen lassen sollte, schwer vereinbar gewesen, die Gliedstaaten durch Normativbestimmungen am Gesamtstaat auszurichten. Vielmehr konnte das Reich nach den Vorstellungen der Gliedstaaten gestaltet werden. 218 Auf Homogenitätsgebote in der Reichsverfassung konnte Bismarck auch leichten Herzens verzichten, weil dafür kein praktisches Bedürfnis bestand. Faktisch bestand nämlich eine weitgehende Homogenität. 219 Die Unterschiede der Staatsformen waren nicht Ausdruck eines "Systemwettbewerbs", der destabilisierend auf das Reich hätte wirken müssen, sondern waren ausschließlich historisch bedingt. Die Stadtrepubliken waren keineswegs eine Vorhut der Demokratie. Ihre Wahlverfahren bevorzugten die wirtschaftliche Elite, die Kaufmannschaft. Die Wahlbeschränkungen wurden sogar wiederholt zu Gunsten einer größeren Ungleichheit des Wahlrechts verschärft. 22o Die Städte hatten insgesamt das Gepräge aristokratischer Republiken. In einigen verfassungspolitisch besonders rückständigen monarchischen Kleinstaaten - etwa Reuß ältere Linie oder SchaumburgLippe - waren im Zuge des Beitritts zum Norddeutschen Bund erstmals Verfassungen erlassen worden. 221 So bestand trotz vordergründiger Unterschiede und vieler Eigenarten im Detail eine weitreichende verfassungs217 Als Rücksicht auf die Empfindungen der Monarchen deuten wohl den Verzicht Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 58; Triepel, Die Hegemonie, S. 565 f. 218 So wohl auch Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 58. 219 Vgl. Stern, StaatsR V, S. 354. 220 Vgl. den Nachweis bei v. Below, Parlamentarisches Wahlrecht, S. 104 f. 221 Vgl. Stoecklv. Rauchhaupt, Handbuch der dt. Verfassungen, jeweils vor Nr. 12 und 19.
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rechtliche Homogenität bezüglich des Konstitutionalismus. Überdies hätten sich die Grundzüge der Reichsverfassung mit ihrer fein konstruierten Antinomie von Föderalismus und Parlamentarismus überhaupt nicht auf die weitgehend einheits staatlichen Charakter besitzenden Gliedstaaten übertragen lassen. Eine Übertragung der reichsverfassungsrechtlichen Wahlgrundsätze auf die Gliedstaaten konnte aus Sicht Bismarcks und der anderen einzel staatlichen Regierungen auch keineswegs wünschenswert sein. Dies hätte zu einem Einflussverlust der überkommenen feudalen Eliten und einer weiteren Stärkung des Liberalismus, später der Sozialdemokratie, geführt. 222 Damit wäre aber die Basis der faktischen Homogenität, nämlich die politische Konformität der herrschenden Gruppen in den Einzelstaaten, gefährdet gewesen. Zu deren Sicherung musste eine Homogenisierung i. S. der reichsrechtlichen Wahlgrundsätze aber gerade vermieden werden. Im Reich sollten die Auswirkungen des gleichen Wahlrechts durch die föderale Ordnung paralysiert werden. 223 Eine Parlamentarisierung der Regierung sollte mit Blick auf die föderale Ordnung unmöglich sein. In den Einzelstaaten war eine solche Argumentation nicht möglich, dort hätte das gleiche Wahlrecht eine ungleich größere verfassungspolitische Dynamik entfalten können. 224 So wurde die politische Homogenität nicht zuletzt gerade durch den Verzicht auf eine Angleichung der Wahl grundsätze von Reich und Gliedstaaten gewahrt. Diese Erwägungen machen deutlich, dass der Verzicht auf eine Positivierung von Homogenitätsgeboten nicht eine schrankenlose Verfassungsautonomie der Gliedstaaten bezweckte. Vielmehr tritt hier wieder Bismarcks Bemühen hervor, rechtliche Bindungen der Politik zu vermeiden, denn nun konnte die Konkretisierung der Homogenitätsgebote und die Begrenzung der Verfassungsautonomie politisch flexibel gehandhabt werden. (3) Die Grenzen gliedstaatlicher Veifassungsautonomie und ihre Bestimmung als Frage politischer Opportunität
Zu den Grundprinzipien der Reichsverfassung wurde vor allem die monarchische Staatsform gezählt. 225 Für Preußen ergab sich die Verpflichtung 222 An dieser Einschätzung vermag im Übrigen auch Bismarcks gelegentlich geäußerte Kritik am preußischen Drei-Klassen-Wahlrecht nichts zu ändern. 223 Zu Bismarcks Motiven für das gleiche Wahlrecht siehe oben C.1.2.b). 224 Auf den Zusammenhang zwischen der "sozialistischen Gefahr" für die Monarchie und dem gleichen Wahlrecht verweist der Konservative v. Below, Parlamentarisches Wahlrecht, S. 89 ff., lO2: ,,Das Bewußtsein, daß das Fürstentum ja fest gegründet sei, darf uns also gegen die Form des Wahlrechts nicht gleichgültig machen."
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zur Monarchie eigentlich schon direkt aus der Reichsverfassung, weil es mit seinem König dem Reich den Kaiser zu stellen hatte. 226 Wie wenig auch jenseits der historisch bedingten Ausnahmen für einen republikanischen Gliedstaat im Reich Platz war, zeigte sich im Falle Elsaß-Lothringen, in dem man trotz des Fehlens einer historisch-legitimierten Dynastie an monarchischen Fonnen festhielt. Mehr noch als die Monarchie - die das Reich selbst aufgrund seiner föderalen Konstruktion nach Meinung der herrschenden Staatsrechtslehre eigentlich gar nicht war227 - ließe sich das Bestehen einer gewählten Volksvertretung zu einem Grundprinzip der Verfassung zählen. Daran fehlte es indes in Mecklenburg. Da die Konkretisierung der Verfassungsprinzipien und somit die Begrenzung der gliedstaatlichen Autonomie aber weder explizit durch die Verfassung noch durch eine neutrale Gewalt erfolgte - etwa im Wege eines Streitentscheids durch einen Verfassungsgerichtshof -, fiel diese Aufgabe dem politischen Zentralorgan des Reiches zu. Im Bundesrat entschieden die monarchischen Exekutiven darüber also selbst. Die widersprüchliche Staatspraxis zeigt aber, dass es in der Frage der gliedstaatlichen Verfassungsautonomie weder um Rechtsfragen noch um die Wahrung föderaler Prinzipien ging, sondern vorrangig nach politischer Opportunität gehandelt wurde. 228 Während die monarchischen Regierungen die Herrschaftsansprüche eines Bundesfürsten gegen die Präsidialmacht fürchten mussten, ließ die Entrechtung der Bevölkerung in Mecklenburg und die Inkongruenz der politischen Volksrechte zwischen Reich und Gliedstaaten ihre Stellung ungefahrdet. Dabei wurde die Rechtslage wohl durchaus zutreffend erkannt, denn der Bundesrat erinnerte Mecklenburg zumindest an seine Pflichten hinsichtlich der Landesverfassung. 229 Weil die Mecklenburger Sache aber die Stabilität des Reiches insgesamt unberührt ließ, kam es nicht zu einem ernsthaften Eingreifen des Reiches. Daran konnte überdies auch kein Interesse bestehen, weil man einen Präzedenzfall geschaffen hätte, der für die preußische Wahlrechtsfrage hätte relevant werden können. Lange Zeit sicherte die Ungleichheit des Wahlrechts von Reich und Einzelstaaten die Homogenität ihrer politischen Führung. In der Spätzeit des 225 Sofern überhaupt Homogenitätsgebote angenommen werden, stellt man allein auf die monarchische Staatsform ab, vgl. Haenel, Dt. StaatsR I, S. 351; Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S.47; Nieding, Das Prinzip der Homogenität, S. 56; Finger, StaatsR, S. 21 f.; später Grass, DVBl. 1950,5. 226 So auch später W. lellinek, JöR 9 (1920), 81. 227 Siehe dazu unten C.rn.8. 228 So mit Recht später Preuß, Reich und Länder, S. 142. 229 Vgl. Huber, Dt. VerfG IV, S. 423. Unzutreffend ist insoweit die Behauptung Triepels, Die Hegemonie, S. 566, es sei Preußen "nicht beigekommen, etwa den Großherzogtümem Mecklenburg die Beseitigung ihrer überlebten ständischen Einrichtungen auch nur anzuempfehlen".
JO Holste
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Reiches schwand indes die behauptete Antinomie von Föderalismus und Parlamentarismus auf Reichsebene: Die Politik der Reichsregierung orientierte sich zunehmend an den politischen Mehrheitsverhältnissen im Reichstag. Da diese gänzlich anders waren als im preußischen Abgeordnetenhaus des Drei-Klassen-Wahlrechts, ergaben sich für die Reichsregierung - verschärft durch die preußisch-reichischen Verflechtungen an der Regierungsspitze - schwere Spannungen mit dem preußischen Parlament. 23o Das Fehlen expliziter Homogenitätsgebote und die widersprüchliche Praxis im Umgang mit den ungeschriebenen Regeln führten hier letztlich doch zu konfliktträchtigen verfassungsrechtlichen Heterogenitäten.
d) Grundsätze der föderalen Beziehungen zwischen Reich und Gliedstaaten aa) Das Verhältnis zwischen Reich und Gliedstaaten Die herrschende Meinung in der Staatsrechtslehre ging von einer strikten Überordnung des Reiches gegenüber den Gliedstaaten aus. Sie stützte diese Ansicht auf die Souveränität des Reiches, die sich in der Befugnis zu Verfassungsänderungen und dem Besitz der Kompetenz-Kompetenz dokumentierte. 231 Aber auch jenseits der bloßen Option des Art. 78 RV auf Verfassungsänderungen lässt sich aus dem Verfassungstext in seiner ursprünglichen Gestalt eine Überordnung des Reiches über die Gliedstaaten belegen. 232 So standen dem Reich mit dem Bündnisrecht sowie dem Recht auf Krieg und Frieden (Art. 11 RV) und dem militärischen Oberbefehl (Art. 63, 64 RV) die wichtigsten Attribute der äußeren Staatensouveränität zu. Im Innem gingen die Gesetze des Reiches denen der Gliedstaaten unmittelbar vor (Art. 2 RV). Dem Reich stand ein umfassendes Aufsichtsrecht über die Gliedstaaten zu, das hinsichtlich des Vollzugs der Reichsgesetze auch positiv normiert war (Art. 4 RV). Schließlich besaß das Reich das Recht zur Bundesexekution gegen die Einzelstaaten (Art. 19 RV) sowie das Notstandsrecht für die Fälle der Bedrohung der öffentlichen Sicherheit (Art. 68 RV). Schließlich karnen dem Reich zwei Arten von justiziellen Befugnissen gegenüber den Gliedstaaten zu, die allein innerstaatlicher Natur waren: So war das Reich für Verfassungsstreitigkeiten (Art. 76 Abs. 2 RV) und für Fälle der sogenannten Justizverweigerung in den Gliedstaaten 230 V gl. eroon, Die Anfange der Parlamentarisierung im Reich und die Auswirkungen auf Preußen, S. 105 ff.; Wenzel, in: HdbDStR I, S. 604; Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, S. 227; siehe dazu auch unten C.II.3.b)bb)(3)(Ö). und c)cc). 231 Statt vieler Laband, StaatsR I, S. 102 ff.; siehe dazu unten C.III.6. 232 Vgl. auch Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 931 ff.; Huber, Dt. VerfG III, S. 794 ff.
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(Art. 77 RV) zuständig. Dabei ist bemerkenswert, dass dem Reich die
Funktion als Landesverfassungsgericht nicht etwa in Folge gliedstaatlicher Kompetenzübertragung zufiel, sondern sich das Reich diese Aufgabe durch seine Verfassung selbst zulegte und durch die Organe seiner Gesetzgebung ausübte. Die Überordnung des Reiches tritt vor allem deshalb so deutlich zu Tage, weil die Instrumente zur Einwirkung auf die Gliedstaaten unmittelbar in die Hand der Zentralorgane des Reiches gelegt wurden und nicht unter Beteiligung eines von diesen geschiedenen Organs - wie einem Verfassungs gericht - ausgeübt wurden. Eine Überordnung des Reiches über die Gliedstaaten lässt sich aus einer Betrachtung der Kompetenzen des Reiches folgern. Indes ist auch zu beachten, welche Organe des Reiches diese Kompetenzen innehatten und wie diese Organe gebildet wurden. Mit Ausnahme der Reichsgesetzgebung, an der der Reichstag nahezu gleichberechtigt beteiligt war, fielen sämtliche der oben genannten Befugnisse dem Kaiser und dem Bundesrat zu - teils einzeln, teils gemeinschaftlich. Der Bundesrat war indes das föderative Reichsorgan, zusammengesetzt aus den Vertretern der Einzelstaaten. Der Kaiser war stets der preußische König. Schon bei flüchtiger Betrachtung der Organkompetenzen wird also die starke Bedeutung der föderativ-hegemonialen Organe und die eher schwache Stellung der national-unitarischen Institutionen des Reiches deutlich. Hier zeigt sich die enge Verflechtung zwischen Reich und Gliedstaaten, insbesondere zwischen Reich und Preußen. Das Verhältnis von Reich und Gliedstaaten war also nicht nur von der Überordnung des Reiches gekennzeichnet. Der Blick auf die Organkompetenzen zeigt die große Bedeutung der Einzelstaaten, insbesondere Preußens, bei der Ausübung der Reichsgewalt. In der politischen Praxis konnte die formale Überordnung des Reiches dadurch beträchtlich relativiert werden. bb) Das Verhältnis der Gliedstaaten untereinander (1) Grundsatz der Rechtsgleichheit?
Für das Verhältnis der Gliedstaaten untereinander findet sich in
Art. 58 RVein Hinweis. Danach waren die Kosten und Lasten des Kriegs-
wesens ..von allen Bundesstaaten und ihren Angehörigen gleichmäßig zu tragen, so daß weder Bevorzugungen, noch Prärogativen einzelner Staaten oder Klassen grundsätzlich zulässig sind". Aus dieser Detailbestimmung schlossen einige Vertreter der zeitgenössischen Staatsrechtslehre, dass zwischen den Gliedstaaten grundsätzlich das Prinzip der Gleichheit gelte. 233 233 VgL Laband, StaatsR I, S. 116 f.; Zorn, Dt. StaatsR I, S. 115; v. Seydel, Kommentar, S. 422.
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Als Begründung hierfür wurde überdies die Bundesnatur des Reiches und dessen historische Entstehung mit der stark föderativen, vertragsmäßigen Komponente gesehen: "Auf der Anerkennung dieser Gleichberechtigung, der Koexistenz einander ebenbürtiger staatlicher Personen, beruht das Bundesverhältnis, der bundesstaatliche Charakter des Reiches ...234 Allerdings konnte bereits bei der Mitwirkung der Gliedstaaten bei der Willensbildung des Reiches von einer absoluten Gleichberechtigung keine Rede sein. Im Bundesrat hatten nicht alle Staaten die gleiche Stimmenzahl, diese war vielmehr - im Wesentlichen nach der Größe - abgestuft (Art. 6 RV).235 Hier bestand also keine quantitative Gleichheit. Außerdem existierten zahlreiche weitere verfassungsrechtliche Abweichungen von einem Gleichheitsgrundsatz. Bereits in der zeitgenössischen Staatsrechtslehre wurde daher die Geltung eines Prinzips der Gleichberechtigung bestritten. 236 (2) Verfassungsrechtlich bestimmte Ungleichheit Die Geltung des Gleichheitsgrundsatzes im Bundesstaat des Kaiserreiches wurde insbesondere durch die Existenz zahlreicher Sonderrechte i. w. S. in Frage gestellt. Hierzu zählten die Präsidialrechte Preußens, die Vorzugsoder Sonderrechte i. e. S. sowie Ausnahme- oder Reservatrechte einzelner Staaten. 237 Diese waren nur zum Teil in der Verfassung explizit begründet, zum Teil waren sie in den Zollvereinsverträgen oder Verträgen im Zuge der Reichsgründung verankert und wurden über Art. 40 RV sowie die Schlussbestimmungen zum XI. und XII. Abschnitt der Reichsverfassung inkorporiert. Schließlich bestimmten §§ 2 und 3 des Reichsgesetzes vom 16. April 1871, das die Verfassungs-Urkunde enthielt, die Fortgeltung weiterer Regelungen aus den Novemberverträgen. 238 ( a) Präsidialrechte
Die Präsidialrechte waren besondere Rechte im Bereich der Staatsorganisation des Reiches, die dem größten Gliedstaat des Reiches, Preußen, zukamen. Das Präsidium des Bundes stand dem König von Preußen unter dem 234 Laband, StaatsR I, S. 116; dies ist bemerkenswert, da er ansonsten den historischen Vorgängen keine Rechtsbedeutung beimaß. 235 Siehe dazu unten C.I1.3.a)bb). 236 Vgl. G. Meyer, Dt. StaatsR, S. 591 Fn. 10; Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 703 Fn. 11; Haenel, Dt. StaatsR I, S. 808. 237 Siehe die Übersicht bei Morsey, in: Dt. VerwG III, S. 135 ff., die aber nicht ganz vollständig ist; vgl. daher auch Haenel, Dt. StaatsR I, S. 807 ff. 238 Vgl. zum materiellen Verfassungsrecht außerhalb der Verfassungsurkunde Huber, Dt. VerfG III, S. 759.
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Titel "Deutscher Kaiser" zu (Art. 11 RV). Alle Rechte, die die Reichsverfassung Kaiser und Präsidium zulegte, fielen also mittelbar an den preußischen König. Dazu zählten insbesondere der militärische Oberbefehl (Art. 53, 63 RV), die Vertretung nach außen (Art. 11 RV), die Ernennung des Reichskanzlers und dessen Vorsitz im Bundesrat (Art. 15 RV). Weitere Ausprägungen waren der Stichentscheid bei Stimmengleichheit im Bundesrat (Art. 7 Abs. 3 RV) sowie ein Vetorecht bei bestimmten Sachfragen (Art. 5 Abs. 2, 37 RV). Zu den Präsidialrechten i. w. S. ist auch die Vorbildfunktion der preußischen Gesetzgebung für andere Gliedstaaten zu zählen, die in Art. 61, 63 Abs. 3 und 5 RV explizit angeordnet war. Infolge des preußischen Präsidiums kam es darüber hinaus auch jenseits der verfassungsrechtlichen Bestimmungen in zahlreichen Fällen zu preußisch-reichisehen Doppelstellungen der Behörden oder zu Personalunionen der Amtsinhaber sowie zur Vorprägung der Gesetzgebung im Reich und in Gliedstaaten durch preußische Gesetze. 239 Schließlich besaß Preußen aufgrund seines Stimmgewichts im Bundesrat als einziger Staat die Möglichkeit, Verfassungsänderungen allein zu verhindern (Art. 6, 78 Abs. 1 RV). Auch wenn dies kein formales Präsidialrecht war, unterstreicht diese Sperrminorität doch die verfassungsrechtliche Sonderrolle Preußens. (ß) Vorzugs- oder Sonderrechte
Zu den Sonderrechten zählten die Bestimmungen, die einzelne Staaten im Hinblick auf die Reichsorganisation bevorzugten. Die derart privilegierten Staaten waren die größten Gliedstaaten: Bayern, Württemberg und Sachsen. Laut Verfassung hatte Bayern einen ständigen Sitz im BundesratsAusschuss für das Landheer sowie den Vorsitz im Auswärtigen Ausschuss, in dem auch Württemberg und Sachsen ständige Mitglieder sein sollten (Art. 8 Abs. 2 und 3 RV). Aus den im Zuge der Reichsgründung geschlossenen Verträgen ergab sich außerdem u. a. für Bayern das Recht zur allgemeinen Stellvertretung Preußens im Bundesrat, sowie für Württemberg und Sachsen ein ständiger Sitz im Ausschuss für das Landheer. Schließlich bestand das Recht der bayerischen Gesandten, im Verhinderungsfalle die Reichsgesandten zu vertreten. (r) Ausnahme- oder Reservatrechte
Die Reservatrechte oder Exemtionen waren Ausnahmebestimmungen hinsichtlich der Reichskompetenzen. Einzelne Staaten bewahrten sich damit entweder in einzelnen Sachgebieten ihre Kompetenz, obwohl für die Mate239
Siehe unten c.n.2.b)dd)(3) sowie c)cc)(3) und (4).
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rie generell das Reich zuständig war, oder sie sicherten sich die Anwendung von gegenüber den allgemeinen Reichsgesetzen abweichenden Bestimmungen. In der Verfassung selbst waren Bayern240, Württemberg241 , Baden242 , Hamburg und Bremen243 solche Reservatrechte zugestanden. Darüber hinaus bestanden solche für Bayern und Württemberg aus den Novemberverträgen, für Oldenburg und Schaumburg-Lippe aus dem Zollvereinsvertrag. Hinzu traten noch solche Ausnahmen, die in einzelnen Gesetzen - meist zeitlich befristet - für einzelne Länder angeordnet wurden. 244 (3) Hegemonie, Privilegien und ihr Bedeutungswandel Die Präsidialrechte waren Ausdruck der politischen Dominanz Preußens bei der Entstehung des Reiches und deren verfassungsrechtliche Festschrei bung. Ihr Gewicht lässt es nicht zu, sie als bloße Abweichungen von einem im Übrigen bestehenden Gleichheitsgrundsatz der Einzelstaaten zu werten. Die verfassungsrechtlich verankerte Hegemonie Preußens war kein bloßes Privileg, sondern ein eigenes Bauprinzip dieses Bundesstaates. 245 Die Ausgestaltung der Hegemonie in Form einer partiellen Doppelstellung Preußens bedeutete im Ergebnis eine Aufhebung der von der Verfassung vorgesehenen Scheidung zwischen Reichs- und Gliedstaatsebene. Dies konnte zweierlei Wirkung haben. Zum einen konnte überall dort, wo die Verfassung von einem Über-/Unterordnungsverhältnis zwischen Reich und Gliedstaaten ausging, dies durch solche Doppelstellungen überspielt werden. Die Konsequenz daraus war, dass die verfassungsmäßigen Mittel der Überordnung des Reiches trotz formaler Rechtsgleichheit gegen Preußen faktisch nicht anwendbar waren: Der Deutsche Kaiser konnte keine Reichsexekution gegen den König von Preußen ausführen. Zum anderen konnte der von der Verfassung vorgesehene Freiraum der Gliedstaaten gegenüber dem Reich aufgehoben werden. Durch die Personalunionen zwischen Reich und Preußen konnte eine unmittelbare Einflussnahme des Gesamtstaates auf den größten Gliedstaat erfolgen. Anfänglich zeigte die Präsidialrolle im ersteren Sinne Wirkung. Personal, Politik und Institutionen des Reiches waren preußisch bestimmt. In dem Maße, in dem das Reich an eigener Gestalt gewann, entwuchs es seinen preußischen Gründern und es ergab sich eine umgekehrte Vgl. Art. 4 Nr. 1, 8, 11; 35 Abs. 2; 38; 46 Abs. 2; 52 RV. Vgl. Art. 35 Abs. 2; 38; 52 RV. 242 Vgl. Art. 35 Abs. 2; 38 RV. 243 Vgl. Art. 34 RV. 244 Vgl. Zorn, Dt. StaatsR I, S. 121 Fn. 26. 245 Vgl. Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S.703 Fn. 11; Haenel, Dt. StaatsR I, S. 808; später auch Behnke, Die Gleichheit der Länder, S. 65; siehe auch Huber, Dt. VerfG m, S. 798 ff. 240 241
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Einflussnahme. Die Reichsämter waren immer weniger der verlängerte Arm Preußens und ihre Besetzung erfolgte zunehmend nach gesamtstaatlichen Aspekten. Als im Zusammenhang mit der vorsichtigen Parlamentarisierung des Reiches gar ein bayerischer Politiker Reichskanzler und somit auch preußischer Ministerpräsident wurde, erhob sich die Klage über die vermeintliche "Verreichung Preußens".246 Die Bedeutung der Vorzugs- und Ausnahmerechte der übrigen Staaten war völlig verschieden. Während Bayern sich die Post- und Eisenbahnhoheit sowie den Oberbefehl des Königs über die bayerische Armee in Friedenszeiten sicherte, ging es für Baden lediglich um die landes gesetzliche Besteuerung von Bier und Branntwein; Hamburg und Bremen wurden vom Zollgebiet des Reiches ausgenommen, für Oldenburg und SchaumburgLippe waren hingegen lediglich Sonderbestimmungen über die Erhebung von Chaussee-Geldern festgeschrieben. Im Verlauf des Bestehens des Reiches nahmen diese Sonderrechte eine unterschiedliche Entwicklung. Im Zuge der Rechtsvereinheitlichung wurden einige Reservatrechte aufgehoben. So traten Hamburg und Bremen 1888 in den Zollverbund des Reiches ein und die Steuerkompetenz des Reiches hinsichtlich des Branntweins wurde 1887 auch auf Süddeutschland ausgedehnt. Auch der bayerische Gesetzgebungsvorbehalt hinsichtlich des Niederlassungswesens wurde 1913 aufgehoben. Einfachgesetzlich gewährte Ausnahmen von Reichsgesetzen kamen mit zunehmender Zeit kaum noch vor. Dagegen scheiterten Bemühungen um eine Vereinheitlichung des Eisenbahnwesens, so dass besonders die bayerische Eisenbahn- und Posthoheit sowie Württembergs eigene Post von Bedeutung blieben. An einzelnen Punkten kam es auch zur Etablierung neuer Sonderrechte. Allerdings war es nur noch Bayern, dem es gelang, bei der Ausweitung der Reichszuständigkeit einzelne Sonderbestimmungen zu seinen Gunsten durchzusetzen. 247 Die Sonderrechte waren also weitgehend protokollarischer Natur, die Reservatrechte wurden vielfach aufgehoben. Sie hatten ihren Ursprung in den Vorgängen der Reichsgründung, und dies erklärte sowohl Inhalt wie Form. 248 Nachdem mit der verfassungsrechtlichen Institutionalisierung der preußischen Hegemonie einmal mit dem Prinzip der Rechtsgleichheit gebrochen war, weckte dies Begehrlichkeiten anderer Staaten. Bayern konnte daher formal nahezu in die Rolle eines "Vize-Hegemons" aufsteigen. Indes waren diese Privilegien schwerlich ein eigenes Grundprinzip der Verfassung. Sie waren tatsächlich lediglich Abweichungen vom Grundsatz der Gleichberechtigung der (übrigen) Gliedstaaten. Mit Recht hat man sie für 246 Vgl. Croon, Die Anfänge der Parlamentarisierung im Reich und die Auswirkungen auf Preußen, S. 124 f.; siehe dazu unten C.1I.3.b)bb)(3)(B) und c)cc). 247 Etwa im Justizwesen, siehe dazu unten C.II.2.e)bb)(1). 248 Siehe dazu oben C.1.8.b).
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"entweder unproblematisch oder bedeutungslos" erklärt. 249 So wie die Bedeutung der preußischen Präsidialrechte im Laufe der Zeit einen Wandel erfuhr, so schwand auch die Bedeutung der einzelstaatlichen Privilegien. Die einstigen Zeugnisse einer bündischen Staatsgründung wurden von der unitarischen Entwicklung und ihrem Streben nach Rechtsgleichheit weitgehend verdrängt. cc) Bundestreue Unter "Bundestreue" wird heute ein ungeschriebener Verfassungsgrundsatz verstanden, der Bund und Länder zu gegenseitiger Rücksichtnahme und Unterstützung verpflichtet. Beide haben bei der Ausübung ihrer Kompetenzen und in ihrem ganzen Verhalten auf die jeweilig anderen Interessen Rücksicht zu nehrnen. 250 Im Bismarck-Reich haben föderale Treue-Erwägungen in Staatsrecht, -praxis und -theorie unterschiedliche Bedeutung gehabt. (1) Die herrschende Staatsrechtslehre
Die herrschende Meinung der zeitgenössischen Staatsrechtslehre, die das Reich als souveränen Bundesstaat verstand, folgerte aus der Unterordnung der Gliedstaaten unter das Reich deren Pflicht zu Gehorsam und Treue. Für eine Treuepflicht sollte allerdings nur subsidiär, jenseits gesetzlicher Bestimmungen, Raum bleiben. Als Beispiele für mögliche Verletzungen dieser Treuepflicht wurden etwa die Störung der Beziehungen des Reiches zu auswärtigen Staaten oder des friedlichen Verhältnisses unter den Bundesgliedern sowie "das Entgegenwirken gegen die Tendenz der Reichspolitik" angeführt?51 Unter Bundestreue verstand man hier eine einseitige, von den Gliedstaaten zu haltende Untertanentreue. Im Übrigen sollte jeder Staat seines eigenen Glückes Schmied sein. Bezüglich des Abstimmungsverhaltens im Bundesrat wurde hervorgehoben, dass es "rechtlich [... ] jedem Staate unverwehrt [ist], sein egoistisches, partikuläres Interesse dabei allein im Auge zu behalten".252 Trotz stark divergierender Finanzkraft und Notlagen kleiner Staaten war ein Finanzausgleich, wie er eine modeme Ausprägung der Bundestreue und der bündischen Solidarität ist, weder vorhanden, noch wurde er erwogen. 253 Der Treuegedanke, wie er in der herrschenden 249 250
1992. 251 252
253
So Morsey, in: Dt. VerwG III, S. 137. Vgl. Isensee, in: HdbStR IV, § 98, Rn. 151 ff.; Bauer, Die Bundestreue, Laband, StaatsR I, S. 109. Laband, StaatsR I, S. 246. Vgl. Bornhak, AöR 26 (1910), 396; siehe dazu auch unten C.II.2.f)cc)(3).
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Staatsrechtslehre bisweilen erwähnt wurde, hatte hier also eine einseitige, rein unitarische Ausrichtung hin auf die Festigung und Stärkung des Nationalstaates. (2) Bismarcks Treue-Verständnis
Der Rhetorik und Staatspraxis Bismarcks lag hingegen ein anderes Verständnis der Bundestreue zugrunde. Schon bei den Beratungen der Norddeutschen Bundesverfassung hatte er hinsichtlich der Grundlage der Vollendung der nationalen Einheit festgestellt: "Die Basis soll die Vertragstreue Preußens sein, und dieses Vertrauen darf nicht erschüttert werden, so lange man uns die Vertragstreue hält. ,,254 Auch später kehrte dieser Gedanke wieder, etwa wenn er feststellte: "Das Deutsche Reich hat seine feste Basis in der Bundestreue der Fürsten.,,255 Bundestreue wurde hier als Vertragstreue verstanden, d. h. sie war eine wechselseitige Treue im horizontalen Verhältnis zwischen den Gliedern des Reiches. Träger und Empfänger dieser Bundestreue waren für Bismarck weniger die Staaten als vielmehr die Fürsten. Bundestreue im monarchischen Bundesstaat war also vor allem Fürstensolidarität - dies entsprach seiner Deutung des Reiches als Fürstenbund256, sowie dem Teil der Staatsrechtslehre, der das Reich als monarchischen Staatenbund ansah. 257 Wenn Bismarck ausführte, dass die Sicherheit des Reiches und der monarchischen (!) Institutionen gerade in der Einigkeit der Fürsten liege 258 , so wird darin eine gedankliche Gegenüberstellung der in der Bundestreue zum Ausdruck kommenden Fürstensolidarität und der national-unitarischen demokratischen Komponente des Reiches deutlich. Dieser Gegensatz fand auch in der Verfassung seinen Niederschlag mit der Konstruktion des Bundesrates und der föderalistisch-parlamentarischen Antinomie. In der Staatspraxis schlug sich dieses Treueverständnis vor allem als ein Handlungsstil nieder, der bewusst das monarchische und einzelstaatliche Prestigebedürfnis und dadurch die "Reichsfreudigkeit" der Einzelstaaten pflegte. 259 254 255
370.
Rede im norddeutschen Reichstag am 11.3.1867, GW 10, S. 322. Rede vor dem Bundesrat am 1.4.1885, zitiert nach O. Mayer, AöR 18 (1903),
256 Vgl. zu Bismarcks Verständnis der Bundestreue auch Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 21 ff. 257 So formulierte etwa v. Seydel, ZgStW 28 (1872), 240: "Die Regierung eines souveränen Staates schuldet Niemandem Gehorsam als ihrem Souverän. Der Souverän aber schuldet den Verbündeten Treue." Für O. Mayer, AöR 18 (1903), 370, war die Bundestreue der Fürsten, die dem monarchischen Bundesstaat eigentümliche Gesinnung. 258 Vgl. ein Schreiben an Prinz Wilhelm v. Preußen am 6.1.1888, GW 6c, S.382.
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(3) Smends Lehre von der Bundestreue Die Diskrepanz zwischen der positivistischen Staatsrechtslehre, die Souveränität und Überordnung des Reiches über die Gliedstaaten betonte, und der Staatspraxis, die allenthalben die föderative Grundlage des Reiches mit den "verbündeten Regierungen" hervorhob, suchte Rudolf Smend zu überwinden?60 Er bezeichnete 1916 die Bundestreue als ,,rechtssatzmäßig geltendes Verfassungsprinzip,,261, das im ungeschriebenen Verfassungsrecht wurzele?62 Grundlage sollte das Fortwirken der vertragsmäßigen Begründung der Reichsverfassung sein, die dem Staatsrecht noch "einen über die ausdrücklichen Bestimmungen der Reichsverfassungsurkunde hinausgreifenden Inhalt [gibt]".263 Neben ein striktes Subordinationsverhältnis von Reich und Einzelstaaten, das sich aus der Reichsverfassung ergebe, sollte daher ein Verhältnis treten, welches sich wie das eines Bundes zu den Verbündeten ausnehme. Danach schulde das Reich wie jeder Einzelstaat "den anderen und dem Ganzen die Bundes-, die ,Vertrags'-Treue und hat in diesem Sinne seine reichsverfassungsrechtlichen Pflichten zu erfüllen und seine entsprechenden Rechte wahrzunehmen".264 Die Bundestreue war danach weder eine bloß im horizontalen Verhältnis geltende Vertragstreue, was zur Deutung des Reiches als Fürsten- oder Staatenbund hätte führen müssen und von Smend ausdrücklich abgelehnt wurde 265 , noch galt der Treuegedanke einseitig in einem vertikalen Subordinationsverhältnis. Vielmehr sollte durch eine eigentümliche Verbindung der vertraglichen Grundlagen mit dem Verfassungsgesetz letzterem "nicht nur eine gewisse politische Farbe und Wirkungskraft, sondern [... ] eine Bereicherung um wichtige ungeschriebene [Verfassungsnormen]" gegeben werden?66 Politisch gesehen musste diese Gleichstellung des Vertragsgedankens mit dem Verfassungsgesetz eine Stärkung des monarchisch-föderativen Elements gegenüber der demokratisch-parlamentarischen Komponente des Reiches bedeuten. 267 Indem 259
41 f.
Vgl. die Beispiele bei Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 50, 43 f.,
260 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 52, 43, sprach von einem fehlenden Einklang "im Verhältnis von reichstaatsrechtlicher Theorie und Praxis", von einer "Spannung zwischen Form und Inhalt". 261 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 57. 262 Vgl. zu Smends Lehre auch Bauer, Bundestreue, S. 56 ff. 263 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 51. 264 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 51. 265 Vgl. Smend, Ungeschriebes Verfassungsrecht, S. 49. 266 Vgl. zu diesem Nebeneinander von Verfassungsgesetz und Verträgen Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 33 ff. 267 Zur konservativ-monarchischen Verortung von Smends Lehre Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 81 ff.
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Smend aber erstmals ein zweiseitiges verfassungsrechtlich maßgebliches Gebot für die Form der Wahrnehmung und die Grenzen bestehender Rechte und Pflichten im Bundesstaat entwickelte, wurde er zum Schöpfer der Bundestreue im modemen Sinne. 268 Den Grund dafür, dass vielfach explizite Verfassungsbestimmungen für das föderale Verhältnis fehlten - zum Beispiel bei der Frage der Begrenzung gliedstaatlicher Verfassungsautonomie 269 -, sah Smend im monarchischen Charakter des Bundesstaates. Dieser verbiete es, in der Reichsverfassung die föderalen Kompetenzabgrenzungen den Staaten "mit ihren monarchischen Häuptern in kalter Rücksichtslosigkeit in das Gesicht zu sagen".270 Zum Lückenschluss sollte daher die Rechtsfigur der Bundestreue dienen: "Der allgemeine Grundsatz der , Bundestreue , [ist] elastisch genug, um überall den Geist und die Einzelheiten der Lösung derartiger Fragen richtig zu bestimmen.,,271 Daraus ergab sich allerdings eine gewisse Gefahr, die Verfassungswirklichkeit zur Quelle des Verfassungsrechts zu machen und somit lediglich eine Legitimation der Staatspraxis zu liefern. 272 Diese Gefahr musste umso größer sein, als zu der inhaltlichen Offenheit und Unbestimmtheit des Begriffs der Bundestreue eine Verfassungsrechtslage trat, in der eine scharfe Bestimmung und Abgrenzung der Rechte und Pflichten der Glieder im Bundesstaat fehlte. Angesichts dieser auch von Smend erkannten "gewisse[n] Rechtsunsicherheit auf dem Boden der Reichsverfassung,,273 erwuchs nicht nur ein besonderes Bedürfnis für die Bundestreue als Mittel zum Lückenschluss, sondern auch eine besondere Gefahr der Instrumentalisierung dieses Mittels je nach politischer Opportunität. Dies zeigte etwa die widersprüchliche Staatspraxis hinsichtlich der gliedstaatlichen Verfassungsautonomie274 - ein Thema das auch unter dem Aspekt der Bundestreue diskutiert wurde. 275 Es verwundert daher nicht, dass gerade Bismarck, der die Verfassung mit ihren "elastischen, unscheinbaren, aber weitreichenden Ausdrücken,,276 geschaffen hatte, den "elastischen" Treuegedanken so heftig betonte. Bauer, Bundestreue, S. 63 f. Siehe oben C.II.1.c). 270 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 56. 271 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 55 f. 272 Insoweit kritisch Korioth, Integration und Bundesstaat, S. 76; Bauer, Bundestreue, S. 58, 62. 273 Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 53. 274 Siehe oben C.II.l.c)cc). 275 Während Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 48, 58, im Fall Braunschweig die Bundestreue für betroffen sah, lehnte er es dagegen ab, Homogenitätsgebote aus dem Gedanken der Bundestreue abzuleiten. Diese seien lediglich Ausprägungen eines republikanischen Bundesstaates. 268
269
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Smends Bundesstaatslehre war der Versuch, die Verfassungswirklichkeit mit dem Verfassungsrecht in Einklang zu bringen, indem durch Bezug auf historisch-politische Momente der monarchisch-föderative Geist des Reiches und seiner Verfassung herausgestellt werden sollte. Damit stand Smend indes im Widerspruch zu einer unitarisch ausgerichteten herrschenden Staatsrechtslehre, die angesichts ihrer streng juristischen Methode alle politischen Aspekte als rechtlich irrelevant ausblendete. 277 Smends Bundestreue stieß daher bei der zeitgenössischen Staatsrechtslehre auf deutliche Ablehnung. 278
e) Bestandsgarantie der bundesstaatlichen Ordnung? Zu fragen bleibt nach der verfassungsrechtlichen Stabilität der bundesstaatlichen Ordnung des Bismarck-Reiches. Garantierte die Verfassung den Aufbau des Reiches als Bundesstaat oder waren hier Veränderungen rechtlich zulässig? aa) Der Verfassungswortlaut In der Verfassung fanden sich Anhaltspunkte für unterschiedliche Interpretationen. Einerseits sprach die Präambel von einem "ewigen Bund", der zwischen dem Norddeutschen Bund und den süddeutschen Staaten geschlossen wurde. Dies deutete auf eine beabsichtigte Dauerhaftigkeit der föderalen Struktur des Reiches hin. Andererseits zog die Verfassung für etwaige Änderungen keine inhaltlichen Grenzen. Gemäß Art. 78 RV sollten Verfassungsänderungen im Wege der Gesetzgebung erfolgen - lediglich modifiziert durch ein höheres Zustimmungsquorum im Bundesrat. 279 Nur für die Änderung von Sonderrechten einzelner Staaten war deren Zustimmung erforderlich. Im Übrigen waren Verfassungsänderungen nicht beschränkt.
276 So Bismarcks Worte in den sog. Putbusser Diktaten, GW 6, Nr. 615. Siehe dazu oben c.1.3.a)aa). 277 V gl. die Formulierungen bei Laband, StaatsR I, S. IX: "Alle historischen, politischen und philosophischen Betrachtungen - so wertvoll sie an und für sich sein mögen - sind für die Dogmatik eines konkreten Rechtsstoffs ohne Belang ... ". 278 Etwa bei Meyer/Anschütz. Dt. StaatsR, S. 697 f.: "Das alles ist aber Ethik und Politik, kein Staatsrecht". Positivere Aufnahme hingegen bei E. Kaufmann, Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung, S. 3l. 279 Siehe dazu unten C.II.2.a)cc) und 3.a)dd)(1)(ß).
11. Verfassungsrecht und Verfassungsentwicklung
157
bb) Die Meinungen in der Staatsrechtslehre In der Staatsrechtslehre der Zeit war die Auffassung geteilt: Eine stark vertretene Ansicht sah keine Bestandsgarantie für die bundesstaatliehe Ordnung des Reiches. Für den staatsrechtlichen Positivismus der Zeit war die Verfassung lediglich ein schwerer abänderbares Gesetz, eine erhöhte Autorität sollte ihr nicht zukommen. 28o Als Ausfluss der Souveränität stünde dem Reich das Recht zur Verfassungsänderung zu. Dieses sei von der Verfassung gegenständlich völlig unbeschränkt. Sei das Reich somit Inhaber der Kompetenz-Kompetenz, könne es die Zuständigkeitsverteilung zwischen Reich und Gliedstaaten beliebig variieren. Dies könne letztlich zu einer völligen Kompetenzentleerung der Gliedstaaten führen. Auch könne das Reich die Staatlichkeit der Glieder unmittelbar aufheben und sie in bloße Selbstverwaltungskörper verwandeln. Einer Umgestaltung des Reiches von einem Bundesstaat zu einem Einheitsstaat stünden daher keine rechtlichen Hürden entgegen. 281 Eine andere Ansicht hingegen wollte der verfassungsändernden Gewalt des Reiches eine inhaltliche Grenze ziehen. Danach sollte eine Veränderung des Reiches hin zu einem Einheitsstaat rechtlich unzulässig sein. 282 Nach Zorn bestand für das Reich zwar "die verfassungsmäßige Möglichkeit, die eigene Staatstätigkeit der Einzelstaaten zum ,nudum ius' zu entleeren".283 Die Existenz der Staaten sollte aber unantastbar sein. Georg Meyer bestimmte die Grenze der verfassungsändernden Gewalt bezüglich der Bundesstaatlichkeit dagegen materiell. Sie sei überschritten, "wenn den Einzelstaaten keine Angelegenheiten mehr zur selbständigen Ordnung verblieben, wenn die Ausübung der Reichsgewalt einem oder einzelnen der verbündeten Staaten übertragen oder wenn den Einzelstaaten die Selbständigkeit ihrer Organisation genommen würde".284 Quelle dieser Bestandsgarantie war für G. Meyer die vertragsmäßige Grundlage des Reiches, wozu auch die Existenz der Gliedstaaten und das diese umfassende Bundesverhältnis zählen sollten. 285 Für v. Mohl enthielt dagegen die Präambel mit ihren Worten vom "ewigen" Bund eine Garantie für den Bundesstaat. 286 Zorn wiederum meinte, dass die Bestandsgarantie nirgends explizit ausgesprolAband, StaatsR 11, S. 39. So Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 691 ff., 693; Laband, StaatsR I, S. 129 f.; G. Jellinek, Alig. StaatsL, S. 783; Haenel, Dt. StaatsR I, S. 774 ff., 779, 793. 282 Vgl. Zorn, Dt. StaatsR I, S. 136 f.; G. Meyer, Dt. StaatsR, S. 588 ff.; Rehm, Allg. StaatsL, S. 179 Fn. 4; v. Mohl, Dt. RStaatsR, S. 46; Jacobi, Rechtsbestand der dt. Bundesstaaten, S. 104. 283 Zorn, Dt. StaatsR I, S. 136 f. 284 G. Meyer, Dt. StaatsR, S. 593. 285 G. Meyer, Dt. StaatsR, S. 588, 590, 593. 286 v. Mohl, Dt. RStaatsR, S. 45 f. 280
281
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C. Das Bismarek-Reieh als Bundesstaat
ehen, sondern vielmehr ein ungeschriebener Verfassungs grundsatz sei. Die ganze Verfassung beruhe darauf, dass das Reich ein Bundesstaat sei, diese Grundlage sei daher unabänderlich. 287 cc) Resümee Für die Frage nach der Bestandsgarantie der bundesstaatlichen Ordnung gilt Ähnliches wie das zum Existenzrecht der Gliedstaaten Gesagte. 288 Eine Verfassungsänderung konnte nur unter der Vorraussetzung erfolgen, "daß Identität und Kontinuität der Verfassung als eines Ganzen gewahrt bleibt,,289. Die föderale Form war unzweifelhaft entscheidendes Identitätsmerkmal der Reichsverfassung. Dies ließ sich - wie dargelegt290 - freilich nicht aus den Novemberverträgen im Vorfeld der Reichsgründung ableiten. Auch ließ sich diese Ansicht kaum allein auf die Formulierung der Präambel stützen - wenn man diese entgegen der zeitgenössischen h. L. überhaupt als Teil der Verfassung ansah. Richtiger war der Ansatz von Zorn, der aus dem Gesamtcharakter der Verfassung selbst ihre bundesstaatliche Identität gewann. Alles war darin auf eine zweifache staatliche Gliederung, die Aufteilung der staatlichen Kompetenzen, deren selbständige Wahrnehmung samt wechselseitiger Rechte und Pflichten angelegt. Darin schlugen sich die historischen Besonderheiten der deutschen Nationalstaatsbildung nieder. Allerdings war die Schlussfolgerung von Zorn verfehlt, wenn er die Schranke der verfassungsändernden Gewalt lediglich im bloßen Existenzrecht der Gliedstaaten erblickte. Eine solche Deutung ging am Ziel der Bewahrung der bundesstaatlichen Ordnung vorbei, weil sie die Sache rein formal betrachtete. Ein kompetenzentleerter Gliedstaat, dem die Ausübung von Staatsgewalt völlig genommen wäre, wäre gar kein Staat mehr, ein Gesamtstaat mit solchen Gliedern allenfalls ein Scheinbundesstaat. Daher wies G. Meyer vom Ergebnis her in die richtige Richtung, wenn er zum veränderungsfesten Kern der Reichsverfassung eine bundesstaatliche Ordnung zählte, bei der die Gliedstaaten zur selbständigen Wahrnehmung von Kompetenzen in eigener Organisation fähig waren. Nach richtiger Auffassung war die bundesstaatliche Ordnung des Bismarck-Reiches daher in ihrem Kemgehalt verfassungsrechtlich stabil und veränderungsfest, d.h. der Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen?91 Gleichwohl schloss dies Veränderungen im Detail und Verschiebungen der föderativen und unitarischen Gewichte im Bundesstaat keineswegs aus. Diese Schei287 288 289
290 291
Zorn, Dt. StaatsR I, S. 137.
Siehe oben C.II.l.b)ee)(3). C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 103. Siehe oben C.ILl.b)ee)(3). So aueh Huber, Dt. VerfG III, S. 804.
11. Verfassungsrecht und Verfassungsentwicklung
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dung zwischen rechtlich möglichen Verfassungsänderungen nach Art. 78 RV und einer unzulässigen Beseitigung der verfassungsmäßigen bundesstaatlichen Ordnung brachte - freilich ohne die hier dargelegte dogmatische Begründung - Robert v. Mohl schon 1873 auf den Punkt: "Im Großen und Ganzen also soll er [d.h. der Bundesstaat] weder in einen Staatenbund abgeschwächt und gelockert werden, noch in einen Einheitsstaat verdichtet werden. ,,292 2. Die Verteilung von Kompetenzen und Mitteln zwischen Reich und Gliedstaaten
a) Grundsätze und Kompetenz-Kompetenz aa) Positiv bestimmte und begrenzte Reichskompetenzen Ein Grundzug der föderalen Kompetenzverteilung bestand darin, dass allein die Befugnisse des Reiches verfassungsmäßig bestimmt und dementsprechend beschränkt waren. Den Gliedstaaten blieben im Gegenzug alle Befugnisse, die nicht dem Reich zugewiesen waren?93 Dieses Prinzip fand seinen positiven Ausdruck in Art. 2 Satz 1 RV, nach dem das Reich das Recht zur Gesetzgebung "nach Maßgabe des Inhalts dieser Verfassung" hatte. Gleichwohl blieben die Kompetenzen des Reiches nicht völlig auf die Materien beschränkt, die ihnen ausdrücklich vom Verfassungstext zugewiesen waren. Eine dahingehende Formulierung wurde bei den Verfassungsberatungen verworfen, so dass auch eine Reihe ungeschriebener Kompetenzen für das Reich in Anspruch genommen wurden. 294 Grundsätzlich ergaben sich aber die Kompetenzen des Reiches "positiv" aus der Verfassung, die Zuständigkeiten der Gliedstaaten folgten daraus "negativ" im Umkehrschluss. bb) Aufteilung nach Funktionen und Sachgebieten Die Verteilung der Kompetenzen zwischen Reich und Gliedstaaten erfolgte nach einem gemischten Verfahren. Teils wurde eine Zuordnung zum Reich nach Staatsfunktionen vorgenommen, etwa im 11. Abschnitt mit Art. 4 ff. RV, der von der Reichsgesetzgebung handelte. Teils erfolgte die Aufteilung nach Sachthemen, etwa in den Abschnitten VI bis XII mit den v. Mohl, Ot. RStaatsR, S. 46. Vgl. Meyer/Anschütz, Ot. StaatsR I, S.260; Zorn, Ot. StaatsR I, S. 111; Haenel. Ot. StaatsR I, S. 219. 294 Vgl. dazu Triepel. in: FS f. Laband, S. 249 ff., 282 ff.; auch Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 39 ff.; siehe dazu sogleich unten C.II.2.b)aa)(2). 292 293
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C. Das Bismarck-Reich als Bundesstaat
Materien Zoll und Handel, Eisenbahnen, Post etc. Trotz dieser unterschiedlichen Methoden wurde aber kaum eine Sachmaterie vollständig, d. h. hinsichtlich aller drei Betätigungsformen der Staatsgewalt, einer staatlichen Einheit zugewiesen. Dies ergab sich besonders deutlich aus der einschränkenden Formulierung des Art. 4 Satz 1 RV, wonach die dort genannten Materien (nur) der "Beaufsichtigung Seitens des Reiches und der Gesetzgebung desselben" unterlagen. Auch wo die Verfassung nach Sachthemen vorging, wies sie dem Reich jeweils nur bestimmte Funktionen zu. 295 Deshalb sind im Folgenden die Kompetenzen auch im Wesentlichen anband der verschiedenen Staatsfunktionen - Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung darzustellen. cc) Verfassungsänderungen und Kompetenz-Kompetenz Art. 78 Abs. 1 RV bestimmte: "Veränderungen der Verfassung erfolgen im Wege der Gesetzgebung." Damit war klargestellt, dass das Reich die verfassungsändernde Gewalt besaß. Es konnte daher über die Verteilung der Kompetenzen zwischen Reich und Gliedstaaten entscheiden, es besaß die Kompetenz-Kompetenz.z96 Sie wurde durch Abs. 2 geringfügig eingeschränkt. Danach konnten Bestimmungen, die für einzelne Staaten Sonderrechte i. w. S. enthielten, nur mit deren Zustimmung geändert werden. So hätte etwa eine Änderung des Art. 52 RV zur Ausdehnung der Post-Kompetenz des Reiches auf Bayern und Württemberg nur mit Zustimmung der beiden Länder erfolgen können. Abgesehen von diesen Beschränkungen hinsichtlich der Sonderrechte waren Verfassungsänderungen des Reiches und somit auch die Kompetenz-Kompetenz inhaltlich nicht explizit begrenzt. 297 dd) Probleme der Kompetenzabgrenzung aufgrund der Verfassungsentwicklung Die genaue Darlegung der Kompetenzteilung zwischen Reich und Gliedstaaten sowie der Verfassungsentwicklung insgesamt ist wegen der damaligen Staatspraxis mit Schwierigkeiten verbunden. Für eine materielle Änderung des Verfassungsrechts war nach einhelliger h.M. - trotz ebenso einhelliger Kritik an diesem Zustand - keine förmliche Änderung des VerDarauf stellt eigentlich ab Haenel, Dt. StaatsR I, S. 234 f. Vgl. Laband, StaatsR I, S. 105; Meyer-Anschütz, Dt. StaatsR, S. 226, 690 f. 297 Zu den ungeschriebenen Beschränkungen hinsichtlich der Existenz der Gliedstaaten und der bundesstaatlichen Ordnung siehe oben C.II.l.b)ee) und e); zu den formellen Vorschriften und der Sperr-Minorität im Bundesrat siehe unten C.II.3.a)dd)( 1)(ß). 295
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11. Verfassungsrecht und Verfassungsentwicklung
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fassungstextes nötig?98 Solange nur die Verfahrensvorschriften beachtet wurden, konnten verfassungsändernde Reichsgesetze vom Verfassungstext abweichen. Von solchen (formellen) Verfassungsdurchbrechungen299 wurde in der Praxis reger Gebrauch gemacht. Zu förmlichen Änderungen des Verfassungstextes kam es dagegen nur selten. 3OO Schließlich sind zur Verfassungsentwicklung noch Fälle des Verfassungswandels zu zählen, bei denen es ohne jeden Normerlass, lediglich durch neue Interpretation zur Bedeutungsänderung von Verfassungsbestimmungen kommt. Im Bismarck-Reich fanden sich alle diese Formen, so dass G. Jellinek diesbezüglich eine "unglaubliche Systemlosigkeit" beklagt hat. 301 Auf die Probleme, die dies mit sich brachte, hat Haenel schon früh hingewiesen: "Es [widerspricht] der dem Wesen des Bundesstaates entspringenden Notwendigkeit einer vollen Klarstellung der verfassungsmäßigen Ermächtigungen des Reiches einerseits und der Rechtstellung der Gliedstaaten andererseits, wenn eine Änderung der Verfassung sich nicht in der Änderung des Textes oder in einem Zusatze zu der Verfassungsurkunde ausspricht [... ] .,,302 Diese Klarstellung wurde überdies dadurch erschwert, dass auch die verfassungsdurchbrechenden Gesetze selbst keinerlei Hinweise auf ihre materiell verfassungsändernde Wirkung oder eine Beschlussfassung unter Beachtung des Art. 78 RV enthielten. Die Darstellung der Verfassungsentwicklung kann daher im Folgenden nicht auf die bloßen Änderungen des Verfassungstextes beschränkt bleiben. b) Gesetzgebung
Für die Gesetzgebung war der aufgezeigte Grundsatz der verfassungsmäßig bestimmten und beschränkten Kompetenz des Reiches in Art. 2 Satz I RV ausdrücklich verankert: "Innerhalb des Bundesgebietes übt das Reich das Recht der Gesetzgebung nach Maßgabe des Inhalts dieser Verfassung [... ] aus [... ]." Hieraus folgte, dass alle Materien, die nicht dem Reich zustanden - und die dieses auch nicht kraft seiner Kompetenz-Kompetenz durch ein verfassungsdurchbrechendes Gesetz für sich in Anspruch nahm den Gliedstaaten zur alleinigen Gesetzgebung verblieben. 303 298 Zorn, Dt. StaatsR I, S. 432 f.; Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 689 f., Laband, StaatsR 11, S. 38 ff. 299 V gl. zur Scheidung zwischen formeller und materieller Verfassungsdurchbrechung Dreier, in: ders., GG 11, Art. 79 I, Rn. 16 ff.; siehe auch Hu/eld, Die Verfassungsdurchbrechung, S. 25. 300 Es kam bis zu den grundlegenden Verfassungsänderungen vom 30. Oktober 1918 nur zu insgesamt 10 Textänderungen, vgl. die Nachweise bei Huber, Dokumente 11, Nr. 261. 301 G. lellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, S. 6. 302 Haenel, Vertragsmäßige Elemente, S. 258.
11 Holste
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c.
Das Bismarck-Reich als Bundesstaat
aa) Quellen der Gesetzgebungskompetenzen des Reiches (1) Geschriebene Gesetzgebungskompetenzen
Kern der geschriebenen Gesetzgebungskompetenzen des Reiches war der Art. 4 RV, der einen Katalog von 16 Sachgebieten umfasste. Daneben bestanden weitere Kompetenzzuweisungen, die über den Verfassungstext verteilt wareil. 304 Zu den geschriebenen Gesetzgebungskompetenzen müssen überdies auch jene zählen, die infolge der Kompetenz-Kompetenz des Reiches erst durch ein verfassungsdurchbrechendes Gesetz begründet wurden. Auch wenn hier die kompetenzbegründende Verfassungsnorm und die dadurch legitimierte einfachgesetzliche Norm formell in einem Gesetz zusammenfielen, basiert doch letztere - bei gedanklicher Scheidung der beiden Funktionen - auf positivem Recht. (2) Ungeschriebene Gesetzgebungskompetenzen
Neben den expliziten Zuweisungen wurden noch einige ungeschriebene Zuständigkeitskategorien anerkannt. 305 Einzelne Materien fielen etwa in den (ausschließlichen) Kompetenzbereich des Reiches, weil sie "ihrer Natur nach nicht der Machtsphäre eines einzelnen Staates [unterliegen], sondern [... ] die Verbindung der Einzelstaaten zu einer höheren Einheit, dem Reich, voraus[setzen]".306 Grundsätzlich sollten die ausdrücklichen Kompetenzzuweisungen auch weit ausgelegt werden 307 , so dass sich in Anknüpfung an bestehende Kompetenzen weitere ergaben. Dies galt zum einen für Fälle, in denen eine weitere Kompetenz notwendig war, um eine bestehende Kompetenz überhaupt sinnvoll auszuüben. 308 Zum anderen sollten bestehende Kompetenzen auch "nach allen ihren Seiten" ausgefüllt werden dürfen, so dass eine Ausdehnung auf angrenzende Gebiete, die allein betrachtet nicht der Reichsgesetzgebung unterlagen, für zulässig erachtet wurde 309 : ,,Es ist möglich, auf dem Wege berichtigender, d.h. hier ausdehnender Auslegung einer Verfassungsklausel eine Kompetenzbestimmung ans Licht zu ziehen, die vom Gesetze nicht ausgesprochen worden Vgl. lAband, StaatsR 11, S. 122; Haenel, Dt. StaatsR I, S. 239. Vgl. Art. 11, 18,20, 35, 54 Abs. 2,56, 61, 76, 78 RV. 305 Vgl. dazu Triepel, in: FS f. Laband, S. 249 ff., 280 ff. 306 lAband, StaatsR 11, S. 121, gleichwohl stellt er im Wesentlichen auf die Art der Reichsgesetzgebungskompetenz (nämlich ausschließliche) ab. 307 Vgl. Haenel, Dt. StaatsR I, S. 222; Triepel, in: FS f. Laband, S. 282 ff. 308 V gl. Triepel, in: FS f. Laband, S. 286, 292; Haenel, Dt. StaatsR I, S. 222 f., 724 ff.; ablehnend gegenüber solcher Kompetenzausdehnung v. Seydel, Kommentar, S. 101 f. 309 Triepel, in: FS f. Laband, S. 285, 294 ff. 303
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11. Verfassungsrecht und Verfassungsentwicklung
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ist.,,310 Damit umfasste die damalige Rechtspraxis bereits jenen Kreis an Zuständigkeitskategorien, die heute als Annexkompetenz und/oder als Kompetenz kraft Sachzusammenhang bezeichnet werden. 311 bb) Arten der Gesetzgebungskompetenzen im Reich Die Gesetzgebungskompetenzen im Reich ließen sich in drei Arten unterteilen 312 : (1) Ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Reiches
Einige Materien, die dem Reich zur Gesetzgebung zugewiesen waren, wurden als ausschließliche Reichsgesetzgebung angesehen, d. h. hier konnte nur das Reich gesetzgeberisch tätig werden. 313 Bezüglich der geschriebenen Kompetenzen war dies zum Teil mehr oder minder ausdrücklich angeordnet, etwa in Art. 35 RV ("Das Reich ausschließlich hat die Gesetzgebung über [... ] ") oder in den Art. 18 Abs. 2, 60 (" [... ] im Wege der Reichsgesetzgebung [... ] "), 61 (,,Reichs-Militärgesetz"), 62 RV (" [... ] durch ein Reichsgesetz [... ] ,,).314 Zum Teil ergab sich die Ausschließlichkeit der Reichsgesetzgebung aus der Art der zu regelnden Materie selbst. Das Gesetz über die Wahl des Reichstages konnte nach der Reichsgründung sinnvollerweise nur durch die Reichsgesetzgebung selbst ergehen. Dies galt schließlich auch für die ungeschriebenen Reichskompetenzen kraft Natur der Sache. Hier beinhaltete schon die Begründung der Kompetenz die Zuordnung zum Kreis der ausschließlichen Reichsgesetzgebung. (2) Fakultative oder konkurrierende Gesetzgebungskompetenz
Die Gesetzgebungskompetenzen des Reiches waren in ihrer überwiegenden Anzahl allerdings keine ausschließlichen Reichsangelegenheiten. Sie wurden "fakultative Gesetzgebungskompetenz des Reiches,,315 genannt, oder es wurde von einer "konkurrierenden Befugnis von Reichs- und LanTriepel, in: FS f. Laband, S. 286. Vgl. Stettner, in: Dreier, GG 11, Art. 70, Rn. 60 ff., 64 ff. 312 Grundlegend in dieser Frage hinsichtlich seiner allgemeinen Ergebnisse Heinze, Das Verhältnis des Reichsstrafrechts zu dem Landesstrafrecht, 1871. Vgl. auch Laband, StaatsR 11, S. 120 ff.; Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 715 ff. 313 Vgl. dazu Haenel, Dt. StaatsR I, S. 259 ff.; Laband, StaatsR 11, S. 121 f. 314 Unzutreffend insoweit die Feststellung Hubers, Dt. VerfG III, S. 910, die Verfassung sage "an keiner Stelle", dass das Reich für bestimmte Gesetzgebungsmaterien die ausschließliche Zuständigkeit besitze. 315 Laband, StaatsR 11, S. 122. 310
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C. Das Bismarck-Reich als Bundesstaat
desgesetzgebung,,316 gesprochen. Hier sollten die Gliedstaaten solange zur Gesetzgebung befugt sein, wie das Reich nicht selbst tätig wurde. Trotz Reichsregelung konnten sie hier ergänzend tätig bleiben, wenn der Reichgesetzgeber einen Kompetenztitel absichtlich unvollständig geregelt haue. 317 Diese Teilung der Reichsgesetzgebungskompetenz ergab sich aus drei Gründen: Zum einen bestanden nur bei bestimmten Artikeln Hinweise auf eine ausschließliche Reichsgesetzgebung, daher musste im Umkehrschluss im Übrigen auf eine mögliche Ländergesetzgebung geschlossen werden. Zum anderen sah Art. 2 RV vor, dass "Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen". Diese Bestimmung setzte also eine Gesetzeskonkurrenz gerade voraus. Schließlich war im Rahmen der Novemberverträge des Jahres 1870 zwischen Bayern und dem Norddeutschen Bund die Interpretation der Verfassung i. S. einer fortbestehenden Gesetzgebungskompetenz der Gliedstaaten bis zum Tätigwerden des Reiches ausdrücklich anerkannt worden. 318 Die Nutzung der Gesetzgebungskompetenz des Reiches unterlag keinen besonderen Voraussetzungen. Es war vielmehr eine Frage des "einseitigen gesetzgeberischen Ermessens,,?19 Gleiches galt auch für den Umfang der Reichsgesetzgebung. So konnte das Reich nicht nur eine Materie bewusst unvollständig regeln und somit implizit der Landesgesetzgebung ein Tätigkeitsfeld lassen, sondern ihr auch ausdrücklich das Recht zum Erlass von Ausführungsgesetzen übertragen. 320 Schließlich konnte sich das Reich wohl auch auf die Aufstellung von Rahmenvorschriften beschränken und die nähere Ausfüllung der Ländergesetzgebung überlassen: Einen positiven Hinweis für eine derartige Beschränkung auf eine - in späteren Bundesstaatsverfassungen deutlicher zu findende 321 - Rahmen- oder Grundsatzgesetzgebung enthielt Art. 4 Nr. 4 RV, nach dem das Reich lediglich die "allgemeinen Bestimmungen über das Bankwesen" erlassen durfte.
Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 715. Haenel, Dt. StaatsR I, S. 254 ff.; Laband, StaatsR n, S. 118 f.; vgl. auch Dambitsch, Verfassung, Art. 2, S. 43 mit beispielhaftem Verweis auf Art. 55 ff. EGBGB. 318 Vgl. Art. VI des Schlussprotokolls zum Bundesvertrag mit Bayern; abgedruckt bei Huber, Dokumente 11, Nr. 221. 319 Haenel, Dt. StaatsR I, S. 262. 320 V gl. zum Ganzen Posener, Dt. Reichsrecht 1m Verhältnisse zum Landesrechte, S. 49 ff., 64 ff., 71 ff. 321 Vgl. Art. 10 WRV, siehe dazu unten D.II.2.b)bb)(I)(ß) sowie heute Art. 75 GG. 316
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11. Verfassungsrecht und Verfassungsentwicklung
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(3) Ausschließliche Landesgesetzgebung
Schließlich bestand der Bereich der Gliedstaats-Gesetzgebung, der sich allerdings nicht positiv aus der Verfassung, sondern lediglich durch Subtraktion der Reichskompetenzen ergab. In der verfassungsrechtlichen Normallage - ausgehend VOn der bestehenden Reichsverfassung - lag dieser Bereich in der ausschließlichen Zuständigkeit der Gliedstaaten. Damit unterschied er sich von der fakultativen Gesetzgebungskompetenz des Reiches, bei der zwar die Kompetenz der Gliedstaaten fortbestand, gleichwohl aber jederzeit ein Tätigwerden des Reiches mittels einfachem Gesetz zulässig war. cc} Inhalte der Gesetzgebungskompetenzen von Reich und Ländern Die Gesetzgebungskompetenzen des Reiches lassen sich ihrem Inhalt nach im Wesentlichen in zwei Bereiche einteilen: Zum einen in Befugnisse zur Festigung der Staatlichkeit des Reiches, zum anderen in Verkehrsrechte im weiten Sinne?22 Zum ersten Kreis zählten neben dem Organisationsrecht des Reiches, also Verfassungs-, Wahl-, Beamtenrecht usw., besonders die militärischen Befugnisse und die auswärtigen Angelegenheiten, wobei allerdings die letzteren im positiven Recht nicht ganz eindeutig bestimmt waren. Zum Kreis der Verkehrsangelegenheiten zählten vor allem die für die wirtschaftliche Fortentwicklung Deutschlands relevanten Materien. Dies waren neben der Infrastruktur (Eisenbahnen, Post, Land- Und Wasserstraßen) auch Rechtsgebiete, die einen überregionalen Bezug hatten und in denen eine Vereinheitlichung für nötig erachtet wurde, etwa das Obligationen-, Handels-, Zoll- oder Gewerberecht, sowie das Maß-, Gewichts- oder Geldwesen. Hinzu traten schließlich noch politisch relevante Materien, wie das Presse- und Vereinsrecht. Während der erste Bereich weitgehend in die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Reiches fiee 23 , gehörten viele Materien aus dem Katalog der Verkehrsrechte sowie der übrigen Reichskompetenzen zum Kreis der konkurrierenden Gesetzgebung. In die Zuständigkeit der Länder fielen neben ihrem eigenen Verfassungsrecht i. w. S. weite Bereiche des Verwaltungsrechts (etwa Gemeinde-, Polizei-, Bau- und Wohlfahrtsrecht, das gesamte Kulturrecht (etwa Kirchen-, Schul-, Hochschulrecht) sowie das Agrarrecht und schließlich das Steuerrecht.
322 Vgl. W. lellinek, Wandlungen in den Aufgaben von Reich und Ländern, S. 142; Damhitsch, Verfassung, Art. 4, S. 98, teilt unter Bezugnahme auf die GIÜndungsvorgänge ähnlich in "militärische Macht" und "wirtschaftliche Einheit" ein. 323 Vgl. dazu die Auflistung bei Huber, Dt. VerfG III, S. 910.
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C. Das Bismarck-Reich als Bundesstaat
dd) Die Verfassungsentwicklung auf dem Gebiet der Gesetzgebungskompetenzen
(1) Ausschöpfung der verfassungsmäßigen Kompetenzen durch das Reich Schon im Norddeutschen Bund hatte eine umfassende (Bundes-)Gesetzgebung eingesetzt, mit dem Ziel, der fortschreitenden staatlichen Einigung der Nation durch die Rechtseinheit den Weg zu bahnen. In den gut vier Jahren bis 1871 wurden insgesamt 84 Gesetzen erlassen, eine damals beachtliche Anzahl. 324 Darunter waren so wichtige wie das Freizügigkeitsgesetz, die Gewerbeordnung oder das Strafgesetzbuch. 325 Nach der Reichsgründung setzte sich diese Gesetzgebungstätigkeit konsequent fort. 326 Es sind die Währungsgesetze, die Bestimmungen über den gewerblichen Rechtsschutz und die Reichsjustizgesetze des Jahres 1877327 , die mit GVG, ZPO und StPO Verfahren und Organisation der Rechtspflege vereinheitlichten, zu nennen. Später traten noch die großen Kodifikationen des materiellen Rechts in Form des HGB und des BGB hinzu, wobei letzteres jedoch erst durch eine Verfassungsänderung im ganzen Umfang möglich wurde. Vom Geist des Liberalismus geprägt, bestimmte die Reichsgesetzgebung also ganz maßgeblich die wirtschaftliche, soziale und rechtsstaatliche Entwicklung Deutschlands. Betrachtet man den verfassungsmäßigen Katalog der konkurrierenden Gesetzgebung, so schöpfte das Reich nahezu alle Kompetenzen zum Normerlass umfassend aus. 328 Lediglich die Kompetenzen aus Art. 4 Nr. 8 RV zum Erlass eines Eisenbahngesetzes329 sowie zur Regelung der Herstellung von Land- und Wasserstraßen 330 blieben ungenutzt. Ob sich einzelne Gesetze dem Kompetenztitel hinsichtlich der Fremdenpolizei (Art. 4 Nr. 1 RV) zuordnen ließen, war umstritten. 331 Jedes Reichsge324 Von 1866 bis 1871 ergingen insgesamt 84 Bundesgesetze. Im gleichen Zeitraum vor der Gründung des Norddeutschen Bundes 1866 ergingen in Sachsen lediglich 52, in Lippe lediglich 12 Gesetze. 325 Vgl. zur Gesetzgebungstätigkeit den Bericht von Lasker, AnnDR 1870, 563 ff. 326 Vgl. für die Jahre bis 1877 den Bericht von Wehrenpjennig, AnnDR 1877, 257 ff. 327 Siehe dazu unten C.l1.2.e)bb)(1). 328 Den Stand bis 1897 zeigt auf v. Seydel, Kommentar, S. 70 ff. Für die Folgezeit (bis 1913) siehe die einzelnen Nachweise in den Anmerkungen zu Art. 4 RV in den Kommentaren von Arndt und Dambitsch. 329 Vgl. dazu Laband, StaatsR llI, S. 109 ff.; Seidenfus, in: Dt. VerwG III, S. 358 ff. 330 Dabei ist vom Einzelfallgesetz hinsichtlich des Nord-Ostsee- (Kaiser-Wilhelm-) Kanals abzusehen. 331 Vgl. Dambitsch, Verfassung, Art. 4, S. 119 ff.
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setz im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung berührte mittelbar die föderale Kompetenzverteilung, weil es den Gliedstaaten ein Tätigwerden verschloss. Mit der Inanspruchnahme der geschriebenen Kompetenzen gingen aber regelmäßig noch weitere Eingriffe in die Länderautonomie einher, weil sich die Reichsgesetze oftmals auch auf Nebenbereiche erstreckten, die an sich ausschließlicher Landesgesetzgebung vorbehalten waren. 332 (2) Veränderungen der verfassungsmäßigen Kompetenzverteilung ( a.) Verfassungsänderungen
Von den wenigen Änderungen des Verfassungstextes bezogen sich lediglich zwei auf eine Erweiterung der Gesetzgebungskompetenz des Reiches. So wurde 1873 der Art. 4 Nr. 9 RV um die Kompetenz hinsichtlich der Seeschifffahrtszeichen ergänzt und in Art. 4 Nr. 13 RV die Zuständigkeit auf das "gesamte bürgerliche Recht" erstreckt. Die letzte Kompetenzerweiterung war als Grundlage für die Einführung des BGB von weitreichender Bedeutung, weil damit auch das Vereins-, Boden- und Familienrecht der reichsrechtlichen Regelung zugänglich gemacht wurde. 333 (ß) Verfassungsdurchbrechungen
Öfter als durch Verfassungstextänderungen erfolgten Kompetenzzuwächse des Reiches durch verfassungsdurchbrechende Gesetze. 334 Das bedeutendste Beispiel für diese Methode der Kompetenzerweiterung stellte die Sozialgesetzgebung dar, mit der in den 80er Jahren die Sozialversicherung für Arbeiter eingeführt wurde, die 1911 in der Reichsversicherungsordnung zusammengefasst und schließlich auf Angestellte ausgedehnt wurde. 335 Auch die im Zuge des technischen Fortschritts erforderlich werdenden Regelungen wurden vielfach durch das Reich erlassen, ohne dass die Frage der Gesetzgebungskompetenz überhaupt ernsthaft gestellt wurde - so etwa beim Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen 336 oder beim Entwurf für ein Luftverkehrsgesetz. 337 Die amtliche Begründung des Luftverkehrsgesetzes stellte etwa fest, dass die Materie in weiten Teilen grundsätzlich der RegeDarauf weist hin Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 54 ff. V gl. dazu, auch hinsichtlich der zeitgenössischen politischen Kontroverse um diese Ausweitung der Reichskompetenz Laufs, JuS 1973, 740 ff. 334 Dazu siehe oben C.II.2.a)dd). 335 Vgl. Laband, JöR 1 (1907), 33; vgl. auch v. Seydel, Kommentar, S. 67; Zorn, Dt. StaatsR 11, S. 179 f. 336 RGBl. 1909, S. 437. 332 333
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lung der einzelnen Bundesstaaten obliege, allerdings noch kein umfassender Gebrauch von der Zuständigkeit gemacht worden sei. Nach dem Hinweis auf verschiedentlich erhobene Forderungen nach einer einheitlichen reichsrechtlichen Regelung wurde ausgeführt, dass "die Ausdehnung der Gesetzgebung des Reiches auf die Neuregelung des Luftverkehrs [... ] nicht zuletzt im Interesse der Landessicherheit dringend erforderlich scheine". Abschließend stellte man lapidar fest: "Der Weg für eine solche Regelung ist gegeben. ,,338 Zur kompetentiellen Grundlage einer Reichsgesetzgebung findet sich ebenso wenig ein klares Wort wie zu der Frage, ob bei der zuvor erfolgten Abstimmung im Bundesrat die für Verfassungsänderungen nötigen Verfahrensvorschriften des Art. 78 RV (Nicht-Vorliegen der SperrMinorität) eingehalten wurden. Auch bei den Verhandlungen im Reichstag wurde die Kompetenzgrundlage kaum erörtert, allenfalls am Rande wurde ein ,,zugriffsrecht des Reiches" behauptet. 339 Zum Kreis der verfassungsdurchbrechenden Gesetze waren schließlich noch zahlreiche Normen zu zählen, die weniger materielles Recht schufen, sondern vielmehr der Errichtung von Reichsbehörden für Verwaltung und Rechtspflege dienten 340, etwa das Reichsbankgesetz 341 oder das Gerichtsverfassungsgesetz hinsichtlich der Schaffung des Reichsgerichts. 342 (y) Notgesetze während des Kriegsregimes
Eine Epoche umfangreicher Reichsgesetzgebung besonderer Art begann kurz nach Ausbruch des Krieges, im August 1914. Es wurde ein Reichsgesetz343 erlassen, das· Folgendes bestimmte: "Der Bundesrat wird ermächtigt, während der Zeit des Krieges diejenigen gesetzlichen Maßnahmen anzuordnen, welche sich zur Abhilfe wirtschaftlicher Schädigungen als notwendig erweisen. Diese Maßnahmen sind dem Reichstag bei seiner nächsten Zusammenkunft zur Kenntnis zu bringen und auf sein Verlangen aufzuheben.,,344 Durch dieses Ermächtigungsgesetz, das selbst verfassungsdurchbrechenden Charakter hatte, konnten bei Beachtung der Sperr-Minorität des 337 Vgl. dazu die sachlich zutreffenden Hinweise von Pestalozza, in: v. Mangoldt/ Klein/Pestalozza, GG VII, Art. 73 Nr. 6, Rn. 329; Art. 74 Abs. 1 Nr. 22, Rn. 1564 mit Fn. 2867. 338 Entwurf eines Gesetzes über den Luftverkehr v. 31.1.1914; RT-Verh., Bd. 303, Nr. 1338, S. 12 ff. 339 Vgl. Abg. Dr. Quarck, RT-Verh., Bd. 294, S. 8053 (B). 340 Vgl. Huber, Dt. VerfG III, S. 961. 341 Der Status der Reichsbank war allerdings umstritten, vgl. Huber, Dt. VerfG IV, S. 1056. 342 Siehe dazu im Einzelnen unten C.II.2.c)cc)(I) und e)bb)(1). 343 Siehe dazu auch unten C.lI.3.a)ee)(1). 344 Gesetz v. 4.8.1914, RGBl. 1914, S. 327.
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Art. 78 RV Verordnungen erlassen werden, die aufgrund ihres Gesetzesranges ihrerseits von der Verfassung und insbesondere der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung abwichen. Trotz der offenkundigen sachlichen Begrenzung dieses Ermächtigungsgesetzes wurde es auch zur Grundlage von Regelungen, die über den Bereich der Wirtschaft i. e. S. hinausgriffen. 345 Unter dem Druck der Umstände wurde dies - wenn auch nicht ohne Skepsis - weitgehend gebilligt. 346 Mit Regelungen im Agrar_ 347 oder Wohlfahrtswesen 348 wurde in Bereiche eingegriffen, die an sich außerhalb der Reichskompetenzen im Zuständigkeitsbereich der Gliedstaaten lagen. Insgesamt sorgte diese Ausweitung der Reichsgesetzgebung für den Aufbau eines als "Kriegssozialismus" charakterisierten, zentralen staatlichen Interventionssystems. 349 (3) Resümee
Die Entwicklung der Gesetzgebung im Reich war geprägt von einer zunehmenden Reichsgesetzgebung und dem dauernden Bedeutungsverlust der Landesgesetzgebung. Anfänglich waren den Gliedstaaten nur wenige Angelegenheiten gänzlich entzogen. Der Katalog der fakultativen Reichsgesetzgebung war lediglich eine "Summe von Verheißungen für die Zukunft und ließ vorläufig die Bewegungsfreiheit der Einzelstaaten [... ] unberührt".35o Bis zum Ende der Monarchie hatte das Reich von seinen Rechten aber umfassenden - Triepel sprach von einem "fast überreichen" - Gebrauch gemacht. Die Gewichtsverschiebungen von Reichs- und Landesgesetzgebung beruhten daher ganz wesentlich auf der Inanspruchnahme der fakultativen Gesetzgebungskompetenzen durch das Reich. 351 Diese Entwicklung befand sich - im Gegensatz zu manch' anderen Veränderungen des föderalen Verhältnisses - aber durchaus im Einklang mit dem Verfassungstext. 352 Neben der Ausfüllung bestehender Kompetenzen kam es auch zu einer Ausweitung der ursprünglichen Reichszuständigkeiten. Dies war zum Teil verursacht durch die politischen Kurswechsel der Reichsleitung - etwa Bismarcks Schwenk in der Wirtschafts- und Sozialpolitik der 80er Jahre. Teils Vgl. Huber, Dt. VerfG IV, S. 69 ff. Vgl. etwa Schiffer, DJZ 1915, 1160 f., 1163. 347 Vgl. dazu Fenske, in: Dt. VerwG III, S. 882 ff., 886 ff. 348 Vgl. dazu Fenske, in: Dt. VerwG III, S. 893 ff. 349 Vgl. Huber, Dt. VerfG V, S. 76 mit Hinweis auf eine Formulierung Theodor Heuss'. 350 Bomhak, AöR 26 (1910), 392. 351 Übereinstimmend Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 53; Bomhak, AöR 26 (1910), 378 f., 392; vgl. auch Laband, JöR 1 (1907), 7 f., 27. 352 Dies betont mit Recht Laband, JöR 1 (1907), 8. 345
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war es Folge des durch den technischen Fortschritt bedingten erhöhten Regelungsbedarfs. Schließlich trug auch die Ausweitung der Reichsadministration in Form von Organisationsgesetzen zur Zunahme der Gesetzgebung des Reiches bei. Trotz des Bedeutungsgewinns der Reichsgesetzgebung verblieben der Ländergesetzgebung aber wichtige Materien zur Regelung, die auch von politischem Gewicht waren. So wurde der Kulturkampf ganz entscheidend mit Mitteln der Landesgesetzgebung geführt, was zu gewissen Unterschieden in den einzelnen Ländern führte. Aber gesamtdeutsche politische Entwicklungen führten trotz gliedstaatlicher Kompetenzhoheit letztlich doch zu einer gewissen Homogenisierung des Rechts. 353 Oft genug erfolgte aufgrund von Absprachen zwischen den Gliedstaaten eine gleichartige Landesgesetzgebung, wobei die politische Initiative durchaus auch vom Reich ausging. 354 Zum Originalitätsverlust der Landesgesetzgebung - besonders in den Kleinstaaten - kam es auch infolge der unverhohlenen Orientierung an der preußischen Gesetzgebung. 355 Es war nicht nur das Bedürfnis nach Vereinheitlichung der Rechts, sondern auch die mangelnde Fähigkeit der Kleinstaaten, Kompetenzen mit eigener Kreativität auszufüllen, die zu einer materiellen Unitarisierung der Ländergesetze führten. Diese Entwicklung hatte auch Konsequenzen für das politische Gewicht der Landesparlamente. Der Umstand, dass "alle grossen, wichtigen und tiefgreifenden Interessen der Nation" der Landesgesetzgebung und ihren Landtagen schließlich entzogen und die verbliebenen Materien des Verwaltungsrechts überdies vielfach von Sachzwängen vorbestimmt waren, bewirkte letztlich einen bereits für Zeitgenossen augenscheinlichen Bedeutungsverlust der Landtage. 356 c) Verwaltung
aa) Grundsätze der Kompetenzverteilung Eine umfassende, positive Bestimmung der Reichsbefugnisse auf dem Gebiet der Verwaltung fehlte. Eine Entsprechung zum 11. Abschnitt der Reichsverfassung, der der Reichsgesetzgebung gewidmet war und in Art. 4 RV den großen Kompetenzkatalog enthielt, bestand nicht. Der Umfang der verfassungsmäßigen Verwaltungskompetenz des Reiches war daher umstritten. Zum Teil wurde angenommen, das Reich solle auf allen Gebieten, auf denen es verfassungsmäßig zur Gesetzgebung berufen war, 353 Huber, Dt. VerfG IV, S. 643 f., macht insgesamt eine "weitgehende Homogenität der ,Kulturverfassung'" im Bismarck-Reich aus. 354 Vgl. Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 72. 355 Vgl. auch Triepel, Die Hegemonie, S. 563. 356 Laband, JöR 1 (1907), S. 27; vgl. auch Mußgnug, in: Dt. VerwG rn, S. 122.
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auch die Vollziehung dieser Nonnen übernehmen dürfen. 357 Nach der ganz herrschenden Meinung stand dem Reich im Rahmen seiner Gesetzgebung entsprechend dem Wortlaut des Art. 4 RV aber lediglich eine Beaufsichtigung des Gesetzesvollzugs zu. Die bloße Aufsicht wurde als Gegensatz zur eigenen und unmittelbaren Verwaltung verstanden. 358 Aufsicht sollte nur eine Überwachung der Verwaltungstätigkeit sein, nicht hingegen ein auf Menschen oder Sachen unmittelbar bezogenes Tätigwerden selbst. 359 Hieraus wurde als Prinzip und Grundsatz der föderalen Kompetenzverteilung gefolgert, dass die Ausführung auch der Reichsgesetze grundsätzlich den Gliedstaaten zukomme. 360 Eine reichseigene Verwaltung zum Vollzug der Reichsgesetze bedurfte daher einer speziellen verfassungsrechtlichen Ermächtigung oder eines verfassungsabweichenden Gesetzes. 361 bb) Kompetenzverteilung nach dem Verfassungstext ( 1) Reichseigene Verwaltung
Nach dem Wortlaut der Verfassung standen dem Reich explizit lediglich drei Sachgebiete zur umfassenden eigenen und unmittelbaren Verwaltung zu. Dies war zum einen das Post- und Telegraphenwesen (Art. 48 RV). Obwohl diese "für das gesamte Gebiet des Deutschen Reiches als einheitliche Staatsverkehrs-Anstalten eingerichtet und verwaltet" werden sollten, stand gem. Art. 50 Abs. 5 RV die Anstellung des eigentlichen Betriebspersonal den "Landesregierungen" zu. Außerdem behielten Bayern und Württemberg ihre eigenen Landesposten. Das Reich war weiterhin für das Konsulatswesen zuständig (Art. 56 RV). Die Reichszuständigkeit konkurrierte hier allerdings noch für eine Übergangszeit mit gleichgerichteten Gliedstaatsbefugnissen. 362 Die Marineverwaltung fiel dagegen gänzlich und ausschließlich in die Kompetenz des Reiches (Art. 53 RV). Schließlich enthielt Art. 41 Abs. 1 RV eine Option auf die Anlegung und Einrichtung von Reichsbahnen. Über diese geschriebenen Kompetenzen hinaus bestand noch 357 Vgl. G. Meyer, Dt. StaatsR, S. 235, 601; Zorn, Dt. StaatsR I, S. 109, die allerdings beide eine positive Begründung ihrer Ansicht schuldig bleiben. Auch Laband, StaatsR 11, S. 204, sprach von einer "Kongruenz der Gesetzgebungskompetenz und der Verwaltungskompetenz" , sah letzte aber auf eine "beaufsichtigende Verwaltung" beschränkt. 358 Vgl. Haenel, Dt. StaatsR I, S. 327; v. Seydel, Kommentar, S. 59 f.; so hingegen auch Zorn, Dt. StaatsR I, S. 109. 359 Vgl. v. Seydel, Kommentar, S. 59 f.; so ähnlich auch wieder Laband, StaatsR 11, S. 203 ff., der die Aufsicht von der "unmittelbaren Geschäftsführung" schied. 360 Vgl. Haenel, Dt. StaatsR I, S. 234 f.; v. Seydel, Kommentar, S. 59. 361 Vgl. Haenel, Dt. StaatsR I, S. 235; Triepet, Reichsaufsicht, S. 261 ff. 362 Siehe dazu unten C.l1.2.d)aa)(l).
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die Reichszuständigkeit für die Pflege der auswärtigen Beziehungen. Zwar war dies nicht ausdriicklich geregelt, doch sie ergab sich aus der Zuweisung des Kriegs-, Bündnis- und Gesandtschaftsrechts an das Reich in Art. 11 RV?63 Allerdings bestand hier eine Zuständigkeits-Konkurrenz mit den Gliedstaaten. (2) Gliedstaatlicher Vollzug der Reichsgesetze Angesichts der Diskrepanz zwischen dem Umfang der Gesetzgebungsund der Verwaltungsbefugnisse des Reiches musste nach der Grundregel der föderalen Kompetenzverteilung der Vollzug des größten Teils der Reichsgesetze den Gliedstaaten zustehen. Weil die Verfassung selbst hierüber keine Bestimmungen traf, übten die Gliedstaaten diese Aufgabe ,,kraft eigenen Rechts und im eigenen Namen" aus. 364 Die Organisations-, Personal- und Verfahrenshoheit beim Vollzug der Reichsgesetze stand grundsätzlich den Gliedstaaten zu. Weisungsrechte hatte das Reich - außerhalb der Reichsaufsiche 65 - insoweit nicht. Allerdings war es dem Reich unbenommen, durch seine Gesetzgebung sowie ggf. durch Rechtsverordnungen, zu deren Erlass Reichsorgane gesetzlich ermächtigt werden konnten, den Gesetzesvollzug detailliert zu regeln. Gern. Art. 7 Nr. 2 RV hatte der Bundesrat überdies "die zur Ausführung der Reichsgesetze erforderlichen allgemeinen Verwaltungsvorschriften" zu erlassen. Mit diesen Befugnissen konnte das Reich den Spielraum der Gliedstaaten für den Gesetzesvollzug erheblich verengen. 366 Während es sich dabei jedoch nur um allgemeine Regeln für den Gesetzesvollzug handelte, sahen einige Gesetze sogar einen Einfluss des Reiches auf Einzelfallentscheidungen der gliedstaatlichen Verwaltung vor, etwa in Form von Zustirnmungs- oder Genehmigungsvorbehalten zu Gunsten von Reichsorganen. 367 (3) Sonder/ormen der Kompetenzverteilung, insbesondere das Heerwesen Bezüglich des Militärwesens sprach die Verfassung zwar einerseits von einem "einheitlichen Heer" (Art. 63 RV) und gab dem Kaiser als Oberbefehlshaber umfangreiche Befugnisse zur Organisation des "Reichsheeres", andererseits war aber auch von der "Preußischen Armee" und den "übrigen Siehe dazu unten C.l1.2.d)aa)(1). Laband, StaatsR IlI, S. 208; vgl. auch Huber, Dt. VerfG III, S. 805 f., 964 f.; Mußgnug, in: Dt. VerwG III, S. 189. 365 Siehe dazu unten C.l1.4.b). 366 Vgl. dazu insgesamt Mußgnug, in: Dt. VerwG III, S. 190 ff. 367 Siehe dazu unten C.II.2.c)cc)(2). 363
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Kontingenten" (Art. 63 Abs. 5, 64, 66 RV) die Rede, deren "Chefs" die Bundesfürsten sowie die Senate sein sollten (Art. 66 RV). Angesichts dieser Fonnulierungen, ihrer (verfassungs-)historischen Bedeutung sowie der im Gegensatz hierzu ganz eindeutigen Marinebestimmungen (Art. 53 RV) war klar, dass die Verfassung grundsätzlich von einem Kontingentsheer ausging. Das Militärwesen fiel daher von Verfassungs wegen grundsätzlich in die (Verwaltungs-) Zuständigkeit der Gliedstaaten. 368 Allerdings wurde hier die gewöhnliche föderale Kompetenzverteilung von der Verfassung selbst erheblich modifiziert. Jenseits der Kontingente sorgten nämlich der Oberbefehl des Kaisers (Art. 63 RV) und seine Organisationsrechte, seine Mitwirkung an den Personalentscheidungen, die durch eine einheitliche Militärgesetzgebung begründete gleichmäßige Organisation und Ausrüstung sowie die Finanzierung durch das Reich dafür, dass faktisch ein weitgehend einheitliches Reichsheer existierte. Betrachtet man die. Einwirkungsrechte des Reiches auf die Gliedstaaten, so liegt hier eine mit der modemen Auftragsverwaltung vergleichbare Situation vor. 369 Die zeitgenössische Staatsrechtslehre kannte diese Figur indes noch nicht. 370 Auch für andere Verwaltungszweige traf die Reichsverfassung besondere Bestimmungen. Bei der Erhebung von Steuern und Zöllen hatte das Reich das Recht, den unmittelbar zuständigen Landesbehörden eigene Beamte beizuordnen, die dabei die Einhaltung des gesetzlichen Verfahrens überwachten (Art. 36 Abs. 2 RV). Im Bereich des Eisenbahnwesens wurden den gliedstaatlichen Eisenbahnverwaltungen unmittelbar bestimmte Verpflichtungen auferlegt (Art. 44 RV), und sie wurden den Weisungen des Reiches direkt unterworfen (Art. 47, Satz I RV). Angesichts dieses direkten Zugriffs auf untergeordnete Landesbehörden, die Abführung der Einnahmen an das Reich und die Intensität und Effektivität der ausgeübten Kontrolle im Bereich der Finanzverwaltung rückten auch diese Bereiche bereits in die Nähe heutiger Auftragsverwaltung. 371
368 Dieser Umstand war in der zeitgenössischen Staatsrechtslehre umstritten. Wie hier etwa Laband, StaatsR IV, S. 5 ff., 58 ff.; v. Seydel, Kommentar, S. 348 ff.; a.A. Haenel, Dt. StaatsR I, S. 528 ff., 531; Zorn, Dt. StaatsR I, S. 189 f. Vgl. zum Streitstand auch Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 839 ff., sowie Huber, Dt. VerfG III, S. 992 ff. 369 Mußgnug, in: Dt. VerwG III, S. 198. 370 Vgl. Huber, Dt. VerfG VI, S. 483. 371 Mußgnug, in: Dt. VerwG III, S. 194 ff.; Huber, Dt. VerfG III, S. 949, 964, hält die Zollverwaltung gänzlich für "Reichsauftragsverwaltung". Indes fehlte es gerade an der typischen Weisungsbefugnis und der Mitwirkung an der Personallioheit durch das Reich, vgl. Art. 85 GO.
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cc) Verfassungswirklichkeit und Verfassungsentwicklung Die Reichsverfassung gab dem tatsächlichen Zustand der Verteilung der Verwaltungskompetenzen nur unzureichend Ausdruck - dies galt sowohl für den Zeitpunkt der Reichsgründung als auch bezüglich später eingetretener Veränderungen. Tatsächlich ist es niemals zu einer Änderung des Verfassungstextes hinsichtlich der Verwaltungskompetenzen gekommen. Die Entwicklungen der föderalen Kompetenzordnung schlugen sich hier nicht in der Verfassung nieder. (1) Ausbau der reichseigenen Verwaltung
Das Reich baute in unterschiedlicher Weise seine Verwaltung aus. Eine umfassende, eigene und unmittelbare Verwaltung erwuchs dem Reich schon 1871 mit dem Erwerb Elsaß-Lothringens?72 Spätestens mit der Verfassung von 1911 erhielt die Verwaltung dort jedoch den Charakter einer Landesverwaltung. Einen ähnlichen Zuwachs an Vollzugskompetenzen infolge von Territorialgewinnen erfuhr das Reich mit seinen Kolonien, den sogenannten Schutzgebieten. 373 Allerdings erfolgte hier - im Vergleich zum Reichsland - eine umgekehrte Entwicklung: Nachdem anfänglich Kolonialgesellschaften als Beliehene die Verwaltungsbefugnisse ausübten, übernahm erst nach der lahrhundertwende das Reich dort die eigene unmittelbare Verwaltung. 374 Im Zusammenhang mit dem Erwerb von Elsaß-Lothringen nahm das Reich auch die Verwaltung der dortigen - sowie der von Luxemburg gepachteten - Eisenbahnen in eigene Regie und schuf ein Reichsamt für die Verwaltung der Reichseisenbahnen. Zu einer umfassenden Reichseisenbahnverwaltung kam es indes nicht. Entsprechende Pläne Bismarcks scheiterten. Obwohl der Bereich des Verkehrswesens eine einheitliche Organisation geboten hätte, stieß das Reich hier an föderale Grenzen. Die Gliedstaaten waren nicht bereit, ihre Betriebshoheit, die finanziell einträglich war, auf das Reich zu übertragen. 375 Das Reich übte aber auf verschiedenen Sachgebieten, bedeutenden wie marginalen, eigene und unmittelbare Verwaltungsbefugnisse aus. 376 Schon zu Zeiten des Norddeutschen Bundes wurde z. B. eine Oberbehörde für das Eichwesen errichtet. Nach der Reichsgründung kam die Invaliden- und Hinterbliebenenversorgung hinzu. Mit der Reichsbank und ihren Filialen wurde ein Zentralbankwesen organisiert. Mit Vgl. Morsey, in: Dt. VerwG III, S. 166 ff. Vgl. Morsey, in: Dt. VerwG III, S. 160 ff. 374 Huber, Dt. VerfG IV, S. 630 ff. 375 Vgl. dazu Seidenfus, in: Dt. VerwG III, S. 362 f. 376 Vgl. zum Folgenden Morsey, in: Dt. VerwG III, S. 138 ff.; Laband, StaatsR I, S. 386 ff. 372 373
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dem Patentamt nahm das Reich das Erfinderwesen in die eigene Verwaltung. Der Nord-Ostsee-Kanal wurde nicht nur vom Reich gebaut, sondern auch von einem besonderen Kanalamt verwaltet. Die Aufsicht über das private Versicherungswesen wurde von einer Reichsbehörde wahrgenommen. Schon mit den Anfangen der Sozialversicherung wurde ein Reichsversicherungsamt errichtet, später fiel mit der RVO und der Reichsversicherungsanstalt die Absicherung der Angestellten gänzlich in die Hand der Reichsverwaltung. 377 Die einzelnen Zweige dieser Reichsverwaltung unterschieden sich nicht nur in ihrer Ausgestaltung - teils mit eigenem Unterbau, meistens auf die Zentralbehörde beschränkt - sondern auch durch den Weg ihrer Errichtung. Wurde eine neue Verwaltungskompetenz durch das Reich in Anspruch genommen, dann erging ein (verfassungsänderndes) Reichsgesetz. Bestand die Verwaltungskompetenz bereits, wurden die Behörden durch kaiserlichen Organisationserlass errichtet. 378 Neben dem Ausbau der Vollzugsverwaltung des Reiches trug auch die beachtliche Entwicklung der Gubernative des Reiches zu einem Bedeutungsgewinn seiner Verwaltung bei. Während die Verfassung hier lediglich den Reichskanzler als leitenden Beamten und Minister des Reiches vorsah, entwickelten sich mit den Reichsämtern ressortmäßig ausdifferenzierte oberste Reichsbehörden. 379 Schließlich wuchs die Reichsadministration noch durch einige nachgeordnete Zentralbehörden, wie etwa das Reichsgesundheitsamt oder das Statistische Amt des Reiches. (2) Vermischung von Reichsaufsicht und Reichsverwaltung
Obwohl dem Reich grundSätzlich nur eine Aufsicht darüber zustand, wie die Gliedstaaten in eigener Verwaltung die Reichsgesetze vollzogen 380, entwickelten sich hieraus zum Teil eigene Verwaltungsbefugnisse des Reiches. 381 Durch Gesetz wurden dem Reich nicht nur direkte Kontrollbefugnisse gegenüber untergeordneten Landesbehörden eingeräumt, sondern vielfach auch Weisungsrechte oder Genehrnigungsvorbehalte. 382 Die obersten Reichsorgane oder auch besondere Einrichtungen wurden zu "Rekursbehörden", die gliedstaatliche Entscheidungen zu überprüfen und im Einzel377 Henning. in: Dt. VerwG 1lI, S. 301, spricht insoweit von einem "straffen Zentralismus". 378 Vgl. Dittmann. Bundesverwaltung, S. 28 f. 379 Im Überblick Morsey. in: Dt. VerwG III, S. 147 ff.; siehe dazu unten C.1I.3.b)bb)(3). 380 Siehe dazu oben C.II.2.c)aa) und bb)(2), sowie unten C.II.4.b). 381 Vgl. zum Ganzen Triepel. Reichsaufsicht, S. 298 ff.; Dittmann. Bundesverwaltung, S. 26 ff. 382 Vgl. Triepel. Reichsaufsicht, S. 307 ff.
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fall zu entscheiden hatten. 383 So wurden diese Institutionen - "den ursprünglichen Absichten der Verfassung durchaus zuwider - zu vorgesetzten Behörden der Landesstellen, zu ,Instanzen' über ihnen, zu förmlichen Zentralbehörden".384 Dabei richtete sich die Tätigkeit nicht nur an die gliedstaatliche Verwaltung, sondern bisweilen auch unmittelbar an den Bürger. 385 So wurde die Reichsaufsicht zum Wegbereiter unmittelbarer Reichsverwaltung. 386 Die Rechte des Reiches waren dabei je nach Materie ganz unterschiedlichen Umfangs; Triepel hat insoweit ein "überaus buntes Bild, ohne Einheitlichkeit der Linienführung" ausgemacht. 387 Diese Verwischung von Aufsichtsrechten und Verwaltungskompetenzen des Reiches, die Unterordnung von Landesbehörden unter die Reichsverwaltung und das Zusammenwirken beider durch Genehmigungsrechte oder -vorbehalte führte zu Verflechtungen von Reich und Gliedern, die dem heutigen Begriff der unzulässigen Mischverwaltung388 entsprechen. 389 (3) Preußische Verwaltungshegemonie gegenüber anderen Gliedstaaten
Bezüglich des Militärwesens und seiner Verwaltung bestand schon 1871 ein evidenter Widerspruch zwischen Verfassungstext und -wirklichkeie90 : Seit den Zeiten des Norddeutschen Bundes hatte Preußen mit allen Bündnisstaaten Militärkonventionen abgeschlossen 391 , wonach es die Truppen sämtlicher Gliedstaaten - mit Ausnahme der drei Königreiche - in seine Armee vollständig eingegliedert hatte und einheitlich verwaltete. Die Militärhoheit dieser Staaten war also tatsächlich völlig aufgehoben. An Stelle von 25 Kontingenten, wie die Verfassung suggerierte, bestanden neben dem preußischen lediglich das bayerische, württembergische und sächsische Kontingent. Nur für diese Staaten bestand tatsächlich eine Verwaltungskompetenz hinsichtlich des Militärwesens. Man hat diesen Umstand etwas schönfärberisch ,,Einheit in der Sache unter Verzicht auf die Einheit in der Vgl. Triepel, Reichsaufsicht, S. 309. Triepel, Reichsaufsicht, S. 309; zahlreiche Beispiele S. 296 ff. 385 V gl. Triepel, Reichsaufsicht, S. 320 ff. 386 Dittmann, Bundesverwaltung, S. 18. 387 Triepel, Reichsaufsicht, S. 348. 388 Zum Begriff der unzulässigen Mischverwaltung vgl. BVerfGE 11, 105, 124; siehe auch Ronellenfitsch, Mischverwaltung im Bundesstaat, S. 24 ff.; Isensee, in: HdbStR IV, § 98, Rn. 179 ff.; zUIÜckhaltender mit Blick auf die neuere Rechtsprechung jetzt Herrnes, in: Dreier, GG 11, Art. 83, Rn. 47 ff. 389 Ronellenfitsch, Die Mischverwaltung im Bundesstaat, S. 119. 390 Dies arbeitet deutlich heraus Laband, JöR 1 (1907), 6 ff., 36 ff.; ders., StaatsR IV, S. 5 ff., 8 ff. 391 Vgl. Huber, Dt. VerfG m, S. 996 ff. 383
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Form" genannt. 392 Aber Träger dieser Einheit war hier nur teilweise das Reich selbst. Im Wesentlichen wurde die Einheit erst durch einen Gliedstaat, nämlich Preußen, vermittelt. Huber hat mit Blick auf die vertragsmäßige Begrundung dieser Einheit daher von einer "kalten Unitarisierung" gesprochen. 393 Bedenkt man zusätzlich die Personalunion von Kaiser und preußischem König, so stand dem verfassungsmäßigen föderalen Grundprinzip der gliedstaatlichen Militärhoheit und des Kontingentheeres in der Verfassungswirklichkeit also eine unitarische preußische Militärhegemonie gegenüber. Nach diesem Vorbild kam es auch in anderen Bereichen zu sogenannten Verwaltungs- oder Vollziehungsgemeinschaften. 394 Entweder übertrugen einzelne Bundesstaaten ihre Verwaltungskompetenzen einfach per Vertrag auf die Behörden eines Nachbarstaates, oder sie begründeten gemeinschaftliche Einrichtungen. 395 Die Kleinheit der Verhältnisse, die Finanznot der Kleinstaaten sowie der Zuschnitt des Staatsgebietes mit den bisweilen grotesken Zersplitterungen führten dazu, dass vor allem Preußen in Norddeutschland Verwaltungskompetenzen weit über sein eigenes Territorium hinaus ausübte. Markantester Fall war die vollständige vertragliche Übernahme der Staatsgewalt bezüglich der inneren Verwaltung des Fürstentums Waldeck. In einem stabilen und auf den Erhalt mehrerer politischer Entscheidungszentren ausgerichteten Bundesstaat, wie ihn heute das Grundgesetz konstituiert, wäre eine solche Selbstpreisgabe der Staatsgewalt nicht zulässig. 396
(4) Verwaltungsveiflechtungen zwischen dem Reich und Preußen Anhand des Heerwesens ist bereits eine weitere Eigenart der tatsächlichen Gestalt der Verwaltung im Bismarck-Reich deutlich geworden: die Verflechtung der Verwaltungen von Reich und Preußen, die durch die hegemoniale Stellung des größten Gliedstaates bedingt war. Im Bereich des Heeres blieb der preußische Kriegsminister bis 1918 - so Bismarck - "der faktische Inhaber der Reichsmilitärverwaltung".397 Er war es, der bei den Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 841. Huber, Dt. VerfG Ill, S. 998. 394 Vgl. dazu Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 74 ff.; ders., Reichsaufsicht, S. 291 ff.; ders., Die Hegemonie, S. 563; Neuber, Vollziehungsgemeinschaften deutscher Länder, 1932. 395 Etwa der Anschluss der norddeutschen Staaten an die preußische Staatslotterie, die Übertragung des schaumburg-lippischen Strafvollzugs an Preußen oder die Gründung der preußisch-hessischen Eisenbahngemeinschaft; vgl. Bomhak, VerwArch 14 (1906), 340 ff. 396 Vgl. Rudolf, in: HdbStR IV, § 105, Rn. 80. 397 Zitiert nach Morsey, Die Reichsverwaltung, S. 233. 392 393
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Haushaltsberatungen des Reichstages den Militär-Posten des Reichsetats vertrat und sein preußischer Generalstab arbeitete die militärischen Strategien des Reiches aus. 398 Auch in anderen Bereichen und ohne jegliche Verfassungsbestimmung kam es zu preußisch-reichischen Verflechtungen399 , die als Mischverwaltung i. w. S.400 zu bezeichnen sind. So wurden 1868 der preußischen Staatsschuldenverwaltung die entsprechenden Aufgaben für den Norddeutschen Bund übertragen. Die preußische Oberrechnungskammer übte unter der Bezeichnung "Rechnungshof des Deutschen Reiches" die Finanzkontrolle sowohl des preußischen Staates als auch des Reiches aus. 401 In einem Falle nahm auch das Reich preußische Aufgaben wahr, nämlich indem das Auswärtige Amt gegen Zahlung von 90.000 Mark jährlich die preußischen Belange im Ausland mitbesorgte. 402 Dies sind allesamt Erscheinungen, die dem modemen Institut der Organleihe403 entsprechen. Auch durch Personalunionen kam es zu vereinheitlichenden Verflechtungen: Chef des Reichsamtes für die Verwaltung der Reichseisenbahnen war stets der preußische Minister für öffentliche Arbeiten, so dass eine einheitliche Verwaltung der Eisenbahnen von Preußen und Reich erfolgte. In der Gründungsphase des Reiches war vornehmlich die kommissarische Wahrnehmung der Reichsaufgaben durch den preußischen Ministerialapparat für diese Verflechtungen verantwortlich. Mit der Ausweitung einer eigenen Reichsverwaltung trat ein Wandel ein. Reichsämter übernahmen nun Funktionen der preußischen Verwaltung, beispielsweise die 1900 geschaffene Reichsbehörde zur Schuldenverwaltung. Wenn es in anderen Fällen beim Status quo blieb, so war dies auch Folge davon, dass reichsrechtliche Regelungen aus föderativen Erwägungen scheiterten, etwa bei der Eisenbahnverwaltung404 , oder im Hinblick auf süddeutsche Sonderrechte gar nicht in Erwägung gezogen wurden, so etwa bezüglich des Heeres. Der Erhalt und die Verteidigung gliedstaatlicher (Sonder-)Rechte konservierten so bisweilen die preußisch-hegemonialen Verflechtungen mit der Reichsverwaltung. Die besondere Gestalt der bundesstaatlichen Ordnung des Bismarck-Reiches mit der preußischen Hegemonie und der verfassungsmäßigen Verknüpfung der politischen Führung in Reich und Preußen erlaubt sicher nicht, nach heutigen Maßstäben über die Mischverwaltung zu urteilen. 405 Aber die Konflikte und Reibungsverluste, die im Zuge der zaghaften 398 399
400 401 402 403 404
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Vgl. Hettlage, in: Dt. VerwG III. S. 323 f. Vgl. Rosenau. Hegemonie und Dualismus, S. 86. Ronellenfitsch. Mischverwaltung im Bundesstaat, S. 58. Vgl. Morsey, in: Dt. VerwG III. S. 173. Vgl. Goldschmidt, Reich und Preußen, S. 13. Vgl. zum Begriff der Organleihe Vogel, in: HdbVerfR, § 22, Rn. 104. Vgl. Seidenfus. in: Dt. VerwG III, S. 362 f. Ronellenfitsch, Die Mischverwaltung im Bundesstaat, S. 118.
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Parlamentarisierung zwischen Reich und Preußen auftraten406 , bestätigen doch modeme Vorbehalte gegen die Mischverwaltung: Niemand kann zwei Herren zugleich dienen, und die politische Verantwortlichkeit gebietet eine eindeutige Zuordnung der Kompetenzen und ihrer Wahrnehmung. (5) Unitarisierung durch Kompetenzübertragungen und horizontale Koordination
Auch jenseits der Kompetenzverschiebungen, die durch die besondere Stellung Preußens zum Reich und inmitten der Gliedstaaten bedingt waren, ergaben sich auf verschiedenen Wegen Auszehrungen der verfassungsmäßigen gliedstaatlichen Verwaltungskompetenzen. So wurden entgegen Art. 50 Abs. 5 RV die unteren Postbediensteten in der Praxis regelmäßig nicht von den Gliedstaaten, sondern vom Reich angestellt. Die Gliedstaaten hatten insoweit ihre verfassungsmäßige Kompetenz auf das Reich übertragen. 407 Die Errichtung gemeinschaftlicher Einrichtungen aller Staaten konnte soweit gehen, dass sich "auf föderativer Basis ein den obersten Reichsverwaltungsbehörden analoges Institut" bildete. 408 Durch die gliedstaatliche Kooperation und die gemeinschaftliche Wahrnehmung der Kompetenzen konnte also neben Reich und Gliedstaaten eine "Dritte Ebene" entstehen. Statt des förmlichen Verzichts auf eigene Kompetenzen erfolgte auch gelegentlich eine bloße Koordination des Vollzugs. Ein noch heute relevantes Beispiel der Selbstkoordination bot der Kultusbereich: Die erste deutsche Kultusministerkonferenz zur Abstimmung der Bedingungen über die gegenseitige Zeugnisanerkennung trat 1868 zusammen und erfuhr durch die Bildung einer Bundesschulkommission bereits eine institutionelle Verfestigung. 409 Koordination erfolgte auch durch zwischenstaatliche Verwaltungsabkommen410 oder das eigentümliche Institut der sog. "übereinstimmenden Bundesratsbeschlüsse".411 Das Reichsorgan Bundesrat wurde hier als Verhandlungs- und Beschlussforum der Gliedstaaten genutzt. So ergingen bisweilen Verwaltungsvorschriften des Bundesrates für eine gleichmäßige Verwaltung selbst in Bereichen, die an sich gar keiner Vereinheitlichung durch das Reich zugänglich waren. 412 Obwohl dies Ausdruck einer horizontalen KoorSiehe dazu oben C.II.l.d)bb)(3) sowie unten C.II.3.b)bb)(3)(o) und c)cc). Vgl. Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 75. 408 So Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 75, bezüglich der - freilich nie geschaffenen - Eisenbahnverwaltungsgemeinschaft. 409 Vgl. Hirschmüller, Die Konferenzen der Ministerpräsidenten und Ressortminister, S. 44. 410 Vgl. Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 72 f. 411 Vgl. Triepel, Reichsaufsicht, S. 380 ff. 412 Vgl. W. Jellinek, Wandlungen in den Aufgaben von Reich und Ländern, S. 132. 406
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dination zu sein schien, war doch angesichts der tatsächlichen Zusammensetzung des Bundesrates413 auch hier der Einfluss des Reiches nicht unbeträchtlich. 414 Trotz dieser koordinationsbedingten "Verluste" im Bereich der gliedstaatlichen Verwaltungskompetenzen darf nicht übersehen werden, dass der mit der Zunahme der Reichsgesetzgebung einhergehende Vollzugszuwachs ungeachtet des Ausbaus der reichseigenen Verwaltung ganz entscheidend in die Zuständigkeit der Gliedstaaten fie1. 415 Auch aufgrund eigener Gesetze sowie allgemein zunehmender öffentlicher Aufgaben, etwa im Bereich der Daseinsvorsorge, kam es daher zu einem beträchtlichen quantitativen Zuwachs der Verwaltung, der gliedstaatlichen und nicht zuletzt der kommunalen. 416 (6) Die Verwaltung im Krieg
Mit Beginn des Krieges im Jahre 1914 wurde die verfassungsrechtliche Normallage der Kompetenzverteilung beträchtlich verändert. 417 Die vollziehende Gewalt ging im gesamten Reich von den Zivilbehörden auf Militärbefehlshaber über. 418 Diese waren befugt, alle Verwaltungsstellen ihres Bezirkes ihren individuellen Verfügungen zu unterwerfen. Weil diese Befehlshaber unmittelbar dem Kaiser unterstanden und sich ihre Bezirke auch keineswegs immer mit den Staatsgrenzen deckten, bedeutete dies eine teilweise Aufhebung der verfassungsmäßigen föderalen Kompetenzverteilung im Reich. Zwar führte mangelnde Koordination ihrer Tätigkeit anfanglich zu einem gewissen "militärischen Partikularismus" der insgesamt 62 Befehlshaber419 , doch erfolgte auch hier eine immer weitere Unitarisierung der Kriegsverwaltung. 42o Hinzu kam, dass es bedingt durch die Besonderheit der Kriegslage zu einem fortschreitenden Ausbau der Reichsverwaltung kam. 421 So wurden etwa für die Rohstoffversorgung und die Rüstung, das Emährungswesen oder den Arbeitseinsatz Zentralstellen geschaffen. 422 Nur zum Teil erfolgte dabei auch die Schaffung eines eigenen VerwaltungsSiehe dazu unten C.II.3.a)ee)(2). Vgl. Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 73. 415 Vgl. Mußgnug, in: Dt. VerwG III, S. 188. 416 Vgl. dazu Stunn, Die Entwicklung des öffentlichen Dienstes, S. 29 ff. 417 Überblick bei Dittmann, Bundesverwaltung, S. 31 ff. 418 Vgl. Fenske, in: Dt. VerwG III, S. 872 ff. 419 Huber, Dt. VerfG V, S. 50. 420 Eine gewisse "Reföderalisierung" erfolgte im Oktober 1918 als die Militärbefehlshaber bei ihren Maßnahmen an das Einvernehmen der jeweiligen Landesbehörden gebunden wurden; vgl. Kaiserlicher Erlass v. 15.10.1918, bei Huber, Dokumente m, Nr. 195. 421 Vgl. dazu Lassar, JöR 14 (1926), 10 ff. 422 Vgl. Fenske, in: Dt. VerwG m, §§ 3 und 4; Huber, Dt. VerfG V, §§ 6 und 7. 413
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II. Verfassungsrecht und Verfassungsentwicklung
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unterbaus, oft bediente man sich bestehender Behörden der Gliedstaaten. Es entwickelte sich eine verstärkte Kooperation von Reich und Gliedstaaten, die rechtlich oft nur schwer fassbar war und keinen einheitlichen Organisationsprinzipien folgte. 423 Indem die Auswirkungen und Probleme der Kriegführung ganz Deutschland erfassten, führten sie auch zu einer Vereinheitlichung der Verwaltungsbedürfnisse. 424 Dies trug maßgeblich dazu bei, dass sich während der Kriegszeit insgesamt eine Zentralisierung der Leitung und politischen Steuerung wichtiger Sachbereiche ergab, was sich in der Ausbildung von entsprechenden Reichsämtern und anderen oberen Reichsbehörden zeigte. 425 (7) Resümee
Der Aufteilung der Verwaltungskompetenzen zwischen Reich und Gliedstaaten lag im Wesentlichen der - ungeschriebene - Grundsatz des Ländervollzugs der Reichsgesetze zugrunde. Die reichseigene Verwaltung war auf knapp bemessene Sonderfälle beschränkt. Sie war aber ganz unterschiedlich ausgestaltet und ließ dabei keine geschlossene innere Systematik erkennen. 426 Allerdings stimmte die Verfassung schon bei der Reichsgründung nicht und im Laufe der Zeit immer weniger mit der Wirklichkeit überein. Das Reich nahm mittels verfassungsdurchbrechender Gesetze einzelne Bereiche in eigene, unmittelbare Verwaltung. Ausgehend von bloßen Aufsichtfunktionen nahm es auch mehr und mehr Leitungsfunktionen gegenüber Zweigen gliedstaatlicher Verwaltung in Anspruch. Diese Entwicklung verschärfte sich noch in der Kriegszeit. Daneben kam es in vielfältiger Weise zu Umbildungen der verfassungsmäßigen föderalen Kompetenzordnung, etwa durch vertragliche Kompetenzübertragungen, Verwaltungs gemeinschaften, Mischverwaltungen und preußisch-reichische Verflechtungen. Jenseits der geschriebenen Verfassung, in der Staatspraxis, dokumentierte sich damit die Ungleichgewichtigkeit des Bundesstaates: preußische Hegemonie einerseits, Unfähigkeit der Kleinstaaten zur selbständigen Kompetenzwahrnehmung andererseits. Es mag Ausdruck dafür sein, wie transitorisch die verfassungsmäßige Kompetenzverteilung, wie anachronistisch die Eigenstaatlichkeit manch norddeutschen Fürstentums empfunden wurde, dass solche Entwicklungen letztlich als legitime Unitarisierung hingenommen wurden. 427 Nur wenige Zeitgenossen sahen dies mit Skepsis und fragten nach der Vereinbarkeit mit dem bundesstaatlichen Charakter der ReichsverVgl. Dittmann, Bundesverwaltung, S. 34. Lassar, JöR 14 (1926) 15. 425 So entstanden etwa das Kriegs- I Reichsernährungsamt (1916118), Reichswirtschaftsamt (1917), Reichsarbeitsamt (1918). 426 Dittmann, Bundesverwaltung, S. 23. 423
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fassung. 428 Die fehlende Systematik der Verfassung und der Verfassungsentwicklung im Bereich der Aufteilung der Verwaltungskompetenzen ist schließlich auch Ausdruck wie Fernwirkung der bismareksehen Abneigung gegenüber starren Rechtskonstruktionen und der Bevorzugung der pragmatisch-politischen Handhabung des Einzelfalls. 429 Trotz vieler Kompetenzverschiebungen blieb der unmittelbare Verwaltungsvollzug letztlich ganz überwiegend in den Händen der Gliedstaaten und erfuhr dort mit dem allgemeinen Aufgabenzuwachs der öffentlichen Verwaltung auch einen beachtlichen Bedeutungsgewinn. Aber die Entwicklung der verfassungsmäßig kaum vorgesehenen Reichsverwaltung zu einem Apparat mit fast 200.000 Beamten (1914)430 sowie eine dementsprechende, im Vergleich zu den Gliedstaaten beachtliche Steigerung des Budgets431 konnten das föderale Verhältnis nicht unberührt lassen, sondern mussten das politische Gewicht des Reiches enorm verstärken. d) Auswärtige Gewalt
Die "auswärtige Gewalt" als Summe der Kompetenzen von Reich und Gliedstaaten sowie ihrer Organe hinsichtlich der Beziehungen zum Ausland soll im Folgenden - beschränkt auf die Seite der Verbandskompetenzen - gesondert dargestellt werden. 432 Dies geschieht nicht nur, weil in Deutschland die Formulierung von der "auswärtigen Gewalt" mit Albert Haenel auf einen Zeitgenossen der dargestellten Epoche zurückgeht. 433 Gerade für eine Staatenverbindung wie den Bundesstaat ist die Verteilung der Zuständigkeiten in diesem Bereich politisch brisant. Dies muss umso mehr gelten, wenn 427 Vgl. Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 77; Bomhak AöR 26 (1910), 396; ders., VerwArch 14 (1906), 349. 428 So etwa v. Mohl, Dt. RStaatsR, S. 10, zum Falle Waldecks. 429 Vgl. Dittmann, Bundesverwaltung, S. 29, mit dem treffenden Hinweis auf Bismarcks Worte zum Aufbau der Reichsverwaltung: "Solche Dinge werden eben nicht von Hause aus nach theoretischen Berechnungen geschaffen, sondern sie werden und wachsen". 430 Vgl. Sturm, Entwicklung des öffentlichen Dienstes, S. 28. 431 Das preußische Budget wuchs von 1873 bis 1914 von 650 MiIl. auf 4,8 Mrd. Im Reich stieg der Haushalt von 350 MiII. auf etwa 3,4 Mrd., vgl. W. Jellinek, Wandlungen in den Aufgaben von Reich und Ländern, S. 129. Neben dem unterschiedlichen Zuwachs (+ 738 % in Preußen gegenüber + 971 % im Reich) ist besonders die Annäherung des Volumens des Reichshaushalts an den größten Einzelhaushalt (von 54 % auf 71 %) beachtlich. 432 Vgl. zum Begriff der "auswärtigen Gewalt" Grewe, in: HdbStR III, § 77, Rn. 1 ff. 433 Vgl. Haenel, Dt. StaatsR I, S. 531; die systematische Begründung der "auswärtigen Gewalt" erfolgte indes bereits durch John Locke, der von der "federative power" sprach, vgl. Grewe, in: HdbStR III, § 77, Rn. 9.
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- wie hier - ein Bundesstaat mit historischer Priorität der Gliedstaaten und auf bündischer Grundlage entstanden, also im Wesentlichen das politische Ergebnis der Diplomatie der einst souveränen Staaten ist. aa) Verfassungsrechtslage Eine ausdrückliche und umfassende einseitige Zuweisung der auswärtigen Angelegenheiten an Reich oder Gliedstaaten enthielt die Verfassung nicht, vielmehr betrafen eine ganze Reihe von Normen diesen Aufgabenkreis. ( 1) Kompetenzkonkurrenz von Reich und Gliedstaaten
Art. 3 Abs. 6 RV bestimmte, dass jeder Deutsche gegenüber dem Ausland "Anspruch auf den Schutz des Reichs" hatte. Art. 4 Nr. 7 RV wies dem Reich die Gesetzgebungskompetenz für den Schutz des deutschen Handels im Ausland und der Schifffahrt sowie für die konsularische Vertretung zu. Weiter war das Reich gern. Art. 52 Abs. 3 RV für die Regelung des auswärtigen Post- und Telegraphenverkehrs zuständig. Art. 11 RV regelte, dass der Kaiser das Reich völkerrechtlich vertrat. Exemplarisch wurden das Recht zur Kriegserklärung, zum Vertragsschluss sowie zur Absendung und zum Empfang von Gesandten aufgezählt. Dieser Artikel bestimmte mit der Organ- zugleich auch die Verbandskompetenz des Reiches434 und stellte die zentrale Norm hinsichtlich der Regelung der auswärtigen Gewalt dar. Art. 56 RV wies das Konsulatswesen dem Reich zu und sah - nach einer Übergangszeit - ein völliges Verbot von Landeskonsulaten vor. Die diplomatischen und konsularischen Beziehungen wurden somit in eigener und unmittelbarer Reichsverwaltung geführt. 435 Mit dem Recht zu Krieg und Frieden, dem Bündnisrecht sowie der Pflege des diplomatischen und konsularischen Verkehrs fielen die maßgeblichen Bestandteile der auswärtigen Angelegenheiten also in den Kompetenzbereich des Reiches. Die "große Politik" war daher Sache des Reiches. 436 Die Verfassung traf keine Bestimmungen hinsichtlich etwaiger den Gliedstaaten verbleibender Befugnisse im Bereich der auswärtigen Gewalt. Sie ergaben sich wiederum aus einer Subtraktion der verfassungsmäßigen Reichskompetenzen vom "normalen" Bestand staatlicher Zuständigkeiten. Der Bereich der "großen Politik", der Kernbereich der auswärtigen BezieHaenel, Dt. StaatsR I, S. 532. Laband, StaatsR III, S. 2, 10 f. 436 Haenel, Dt. StaatsR I, S. 553; Laband, StaatsR III, S. 4 f.; vgl. auch v. Seydel, Kommentar, S. 160 f. 434 435
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hungen, war den Gliedstaaten schon deshalb völlig entzogen, weil ihnen angesichts des Art. 11 RV sowie der einheitlichen Militärorganisation und dem Oberbefehl des Kaiser (Art. 63 RV) jede Machtbasis für eine eigenständige Außenpolitik fehlte. 437 Bei den konsularischen Beziehungen war angesichts des ausdrücklichen Verbots bezüglich des Auslandes allenfalls noch für den Empfang ausländischer Konsuln438 oder innerdeutsche Konsulate Platz. Obwohl das Gesandtschaftsrecht dem Reich zugewiesen war und nach der Grundregel der föderalen Kompetenzverteilung daher ein Recht der Gliedstaaten eher fern lag, ging die ganz h.M. von einem "konkurrierenden Gesandtschaftsrecht" aus 439 : weder sei dem Reich das Gesandtschaftsrecht als "ausschließliches" zugewiesen, noch bestünde ein explizites Verbot für die Gliedstaaten wie beim Konsulatswesen, überdies sei im Schlussprotokoll mit Bayern das Gesandtschaftsrecht auch ausdrücklich anerkannt worden. 44o Dabei wurden zu diesem Gesandtschaftsrecht auch die innerföderalen Beziehungen, d. h. die Kontakte zwischen den Gliedstaaten und zum Reich, gezählt. 441 Ganz ähnlich verhielt es sich mit dem Vertragsschlussrecht. Weil die Verfassung es den Gliedstaaten nicht ausdrücklich entzog sowie in einigen Artikeln als bestehend voraussetzte442, ging die h.M. trotz der Reichskompetenz aus Art. 11 RV von einem ,,konkurrierenden Vertragsschlussrecht" aus. 443 (2) Konvergenz von inneren und äußeren Kompetenzen
Die Abgrenzung der konkurrierenden Befugnisse von Reich und Gliedstaaten beim Gesandtschafts- und Vertragsschlussrecht wurde nach dem Konvergenzprinzip vorgenommen, d.h. die innerstaatliche Kompetenzverteilung zwischen Reich und Gliedern bestimmte auch den Umfang ihrer Rechte im auswärtigen Verkehr. Für das Gesandtschaftsrecht bedeutete dies, Huber, Dt. VerfG In, S. 931 f Vgl. v. Seydel, Kommentar, S. 308 f 439 Haenel, Dt. StaatsR I, S. 556 f; Laband, StaatsR III, S. 3; v. Seydel, Kommentar, S. 159; a.A. v. Rönne, VertR, S. 57, der wohl von einem (faktischen) Verzicht der Gliedstaaten auf ihr Gesandtschaftsrecht ausging; wieder anders Zorn, AnnDR 1882, 88, 90 f: zum Gesandtschaftsrecht, das Ausfluss der Souveränität eines Staates sei, bedürften die Gliedstaaten als nicht-souveräne Staaten einer expliziten verfassungsrechtlichen Ermächtigung. 440 Vgl. Laband, StaatsR In, S. 2 f. 441 Ablehnend allein v. Mahl, Dt. RStaatsR, S. 306 f., mit Blick auf das mangelnde Gleichordnungsverhältnis von Reich und Gliedstaaten sowie das fehlende praktische Bedürfnis angesichts des Bundesrates. 442 Vgl. Art. 50 Abs. 6; 52 Abs. 3; 66 Abs. 1 RV. 443 Haenel, Dt. StaatsR I, S. 557 f.; Laband, StaatsR 11, S. 167; a.A. Zorn, Dt. StaatsR I, S. 500 ff., mit Argumenten wie oben (Fn. 439). 437
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dass die Gliedstaaten für den Bereich ihrer eigenen Angelegenheiten die Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten durch eine eigene Diplomatie selbst organisieren konnten. Neben den Interessen ihres Landesfürsten konnten sie daher die Angelegenheiten ihrer Staatsbürger sowie alle Materien, für die sie nach der internen verfassungsmäßigen Kompetenzverteilung zuständig waren, selbst vertreten. 444 Gesandtschaften des Reiches neben solchen der Gliedstaaten blieben dann auf jene Sachgebiete beschränkt, die der Reichskompetenz unterlagen. Allerdings sollten die Vertreter des Reiches subsidiär neben den ausschließlichen Reichsangelegenheiten auch die Sonderbelange von Gliedstaaten wahrnehmen, soweit diese nicht gesondert vertreten waren. 445 Hier wurde das Konvergenzprinzip also nicht strikt eingehalten. Der Umfang des Vertragsschlussrechts wurde mit Blick auf den Vertragsgegenstand bestimmt: "Die Kompetenz zum Abschluß von Staatsverträgen zwischen Reich und Einzelstaaten [ist] in vollkommen gleicher Weise verteilt wie die Kompetenzen zu Gesetzgebung und Verwaltung ...446 Ihre Begründung fand diese Ansicht insbesondere in der Lesart von Art. 11 Abs. 3 RV, wonach sich aus dem Zustimmungsbedürfnis des Reichstages für Verträge, die sich auf die Reichsgesetzgebung bezogen, zugleich eine Beschränkung der Verbandskompetenz des Reiches auf Materien des eigenen Zuständigkeitsbereiches ergebe. 447 Nur eine Mindermeinung, die auf eine einheitliche Vertretung des Reiches nach außen drang, trat dagegen für eine weitgehend unbegrenzte Vertragsschlusskompetenz des Reiches ein. 448 Nach der ganz h.M. bedeutete dieses Prinzip, dass Reich und Gliedstaaten jeweils dort das Vertragsrecht besaßen, wo sie selbst für Gesetzgebung und Verwaltung zuständig waren. Im Bereich der konkurrierenden Zuständigkeit bestand die Gliedstaatskompetenz jedoch nur bis zu einem Tätigwerden des Reiches. 449 Nahm das Reich seine Rechte hier wahr, wurden entgegenstehende Gliedstaatsverträge automatisch unwirksam. Soweit die Gliedstaaten nur für den Vollzug von Reichsgesetzen zuständig waren, sollten sie nach wohl h. M. auf den Vertragsschluss mit Gliedstaaten und dem Reich beschränkt sein. 45o Angesichts dieser strikten Geltung des Konvergenzprinzips hinsichtlich des Vertragsschlussrechts bot sich bei der Regelung von MateVgl. Laband, StaatsR m, S. 4; Haenel, Dt. StaatsR I, S. 556. Laband, StaatsR m, S. 4 f. 446 Laband, StaatsR 11, S. 168; vgl. auch Haenel, Dt. StaatsR I, S. 540; Meyer/ AnschülZ, Dt. StaatsR, S. 263, 810; v. Seydel, Kommentar, S. 16l. 447 Laband, StaatsR II, S. 137 ff.; Haenel, Dt. StaatsR I, S. 539 f.; Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 819. 448 So v. Mohl, Dt. RStaatsR, S. 303 ff., der lediglich in den Staatszwecken des Reiches aus der Präambel eine (welche?) Grenze der Reichskompetenz ausmachte. 449 Laband, StaatsR II, S. 168 ff. 444 44S
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rien gemischter Kompetenzen, die die innerstaatliche Zuständigkeit sowohl der Gliedstaaten wie des Reiches berührten, als Ausweg die Aufspaltung in mehrere Verträge an. 451 (3) Prärogative des Reiches und Treuepflicht der Glieder
Ebenso wenig wie die Verfassung die Kompetenzen der Gliedstaaten erwähnte, traf sie Bestimmungen über die Ausübung der Befugnisse von Reich und Gliedern. Dennoch standen die Kompetenzen nur scheinbar völlig unverbunden nebeneinander. Die Rechte der Gliedstaaten wurden nämlich nach ganz h.M. dadurch relativiert, dass ihre auswärtigen Hoheitsrechte rechtlich gebunden waren. Angesichts der verfassungsmäßigen Kompetenzverteilung verfügte nur das Reich über die Machtmittel der "großen Politik", es allein war "europäische Großmacht,,452. Aus dieser Tatsache sowie aus der bundes staatlichen Natur des Reiches und dem Gedanken bündischer Treue453 wurde geschlossen, dass schon von Verfassungs wegen die Gliedstaaten bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen an die Politik des Reiches gebunden waren. Thre verbliebenen Hoheitsrechte enthielten insoweit "immanente Schranken,,454, wonach ihre Tätigkeit niemals in Widerspruch zum Reich stehen durfte, sondern sie vielmehr zur "Unterordnung unter die Politik des Reiches" verpflichtet waren. 455 Diese Gebundenheit an die Politik des Reiches sollte sich für die Gliedstaaten etwa bei der Aufnahme oder dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen oder dem Inhalt von Bündnissen und Verträgen auswirken. 456 bb) Verfassungswirklichkeit und Verfassungsentwicklung Die Kompetenzverteilung bei den auswärtigen Angelegenheiten, insbesondere die Konkurrenz von Reich und Gliedstaaten beim Gesandtschaftsund Vertragsschlussrecht, war schon bei der Verfassungsgebung und in 450 Vgl. Laband, StaatsR H, S. 171; a.A. Haenel, Dt. StaatsR I, S. 540, der für diesen Fall dem Reich die Vertragsschlusskompetenz absprach; ausdrücklich gegen Labands Einschränkung S. 558 Fn. 22. 451 So v. Seydel, Kommentar, S. 162. 452 So die Worte Bismarcks, zitiert nach Riess, Auswärtige Hoheitsrechte, S. 17 Fn. 1. 453 Auf den Treueaspekt stellt ab Laband, StaatsR 11, S. 168. 454 Riess, Auswärtige Hoheitsrechte, S. 13, 16 f. 455 Haenel, Dt. StaatsR I, S. 551 ff.; Riess, Auswärtige Hoheitsrechte, S. 16 f.; Triepel, Reichsaufsicht, S. 367. 456 Vgl. Laband, StaatsR III, S. 3 Fn. 2; ders., StaatsR 11, S. 168. Daher lehnten die Formulierung vom "konkurrierenden Gesandtschaftsrecht" ab etwa Thudichum, VerfR des Norddeutschen Bundes, S. 248; v. Rönne, VerfR, S. 58 f.
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ersten Stellungnahmen deutlicher Kritik ausgesetzt. 457 Tatsächlich unterschied sich das Reich mit dem Verzicht auf eine einzige, einheitliche Außenvertretung von den damals bekannten Bundesstaaten458 , und man hat ihm daher "sehr eigenthümlich, ungeordnete Verhältnisse"459 attestiert. Die Kritik war bestimmt von der Furcht vor einer Fortdauer partikularer Außenpolitik.460 Für Robert v. Mohl stand die Kompetenzkonkurrenz im "Widerspruch mit der politischen Einheit des Bundesstaates" und er befürchtete, dass sich "widerwilliger Partikularismus und fremdes Interesse die Hand reichen".461 Es erhob sich daher die Forderung, "daß zwischen dem Gesandtschaftsrecht des Reiches und dem der Einzelstaaten eine organische Verbindung hergestellt werde". 462 Diese Bedenken erwiesen sich tatsächlich als weitgehend unbegründet. Dies lag zum einen daran, dass die belassenen Kompetenzen in mancher Hinsicht schnell hinfällig wurden. So war etwa die übergangsweise Zulässigkeit einzelstaatlicher Konsulate zum Zeitpunkte der Reichsgründung schon längst erledigt, weil bereits 1869 der Bundesrat die ausreichende Einrichtung von Bundeskonsulaten festgestellt hatte. 463 Noch verbliebene innerdeutsche Konsulate der Gliedstaaten waren angesichts der fortschreitenden Rechtsvereinheitlichung "ohne alle rechtliche und politische Bedeutung,,464, und man hat sie nicht zu Unrecht als bloße "Überbleibsel deutscher Titelsucht" bezeichnet.465 Fortbestehende Kompetenzen, wie das Gesandtschaftsrecht, wurden dagegen immer weniger in Anspruch genommen: Besaßen 1869 zusammen mit den drei süddeutschen Staaten noch insgesamt sieben Staaten Gesandtschaften im nichtdeutschen Ausland466, so unterhielten 1905 nur mehr zwei der 25 Gliedstaaten eigene Auslandsvertretungen: Bayern war in sechs europäischen Staaten präsent, Sachsen lediglich in Österreich. 467 Es bewahrheitete sich die Prognose des Nationalliberalen Johannes v. Miquel aus dem Jahre 1867, der die gliedstaatlichen Gesandtschaften angesichts der realen Kom457 Vgl. den Antrag Ausfeld/Schulze, bei v. Holtzendorjf/Bezold, Materialien I, S.671 sowie den Abg. v. Carlowitz, a.a.O., S. 706 ff.; v. Treitschke, Pr. Jahrb. 19 (1867), 724 ff.; v. Mohl, Dt. RStaatsR, S. 302 ff., 321 ff. 458 Vgl. den rechtsvergleichenden Überblick bei Bemhardt, Der Abschluß völkerrechtlicher Verträge im Bundesstaat, S. 52 ff.; Haenel, Dt. StaatsR I, S. 547 f. 459 Zorn, AnnDR 1882,90. 460 So deutlich bei Thudichum, VerfR des Norddeutschen Bundes, S. 247 ff. 461 v. Mohl, Dt. RStaatsR, S. 322. 462 Zorn, AnnDR 1882, 91. 463 Vgl. Laband, StaatsR m, S. 11. 464 Laband, StaatsR III, S. 11 Fn. 1. 465 Zorn, Dt. StaatsR 11, S. 445; ders., AnnDR 1882,418. 466 Vgl. Thudichum, VerfR des Norddeutschen Bundes, S. 250. 467 Vgl. die Auflistung bei Riess, Auswärtige Hoheitsrechte, S. 16 Fn. 3.
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petenzverteilung für unbedenklich gehalten und ihren künftigen Fortfall auch ohne explizites Verbot vorhergesagt hatte: "Wir zweifeln daran, ob irgend eine einzelne Volksvertretung geneigt sein wird, Geld hinwegzuwerfen aus der Tasche des Volkes für unnütze Berichterstatter von Hofneuigkeiten.,,468 Allein Bayern konnte und wollte sich dieses äußerliche Attribut der Staatlichkeit leisten. Es hatte ja diesbezüglich auch noch das Sonderrecht, wonach sein Gesandter den Reichsgesandten im Verhinderungsfall vertreten durfte. 469 Für Preußen waren gesonderte Beziehungen überflüssig, da die Bundes- und spätere Reichsdiplomatie aus seinem Ministerium und seinen Gesandtschaften hervorgegangen war. 470 Hinsichtlich des passiven Gesandtschaftsrechts hatten mit Ausnahme von Lippe und SchaumburgLippe zwar alle Gliedstaaten den einen oder anderen Gesandten bei sich empfangen. Die Sorge, dies könnte zu einem Einfallstor einheitsgefährdender ausländischer Intrigen werden471 , war aber unbegründet. Es handelte sich bei den auswärtigen Gesandten zumeist lediglich um Doppelakkreditierungen der jeweiligen Vertreter beim Reich. 472 Selbst das innerdeutsche Gesandtschaftsrecht nutzten nicht alle Staaten aus. Zwar war Preußen überall mit Gesandtschaften präsent, bei ihm selbst waren aber lediglich elf Staaten gesondert vertreten. Beim Vertragsschlussrecht ist in der Praxis - zumindest vor dem Krieg am Grundsatz der strengen Konvergenz der Kompetenzen nach innen und außen festgehalten worden. Dass es dabei nicht zu größeren Konflikten kam, ist auf die für den damaligen völkerrechtlichen Verkehr ausreichenden Kompetenzen des Reiches zurückzuführen. 473 Die Kompetenzverteilung verschob sich aber auch hier zu Gunsten des Reiches. Die Ausweitung seiner Tätigkeit im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung führte stets zu einem Verlust an völkerrechtlichen Handlungsmöglichkeiten der Gliedstaaten. Dennoch kam es aber auch zu Verträgen, die das Reich außerhalb seiner eigenen Kompetenzen schloss, für die es sich aber zuvor der Zustimmung der betroffenen Gliedstaaten versicherte. 474 Erst in der Kriegszeit ist Abg. Miquel, bei v. HoltzendorfjlBezold, Materialien I, S. 107. Siehe dazu oben C.ll.l.d)bb)(2)(ß). 470 Siehe dazu auch oben C.ll.2.c)cc)(4). 471 So die Bedenken des Abg. v. Carlowitz im konstituierenden Reichstag 1867, vgl. bei v. HoltzendorfjlBezold. Materialien I, S. 707 f. 472 Vgl. für den Vorkriegsstand der Jahre 1913/14 Korselt, Die völkerrechtliche Handlungsfähigkeit, S. 112 f. 473 So Bernhardt, Der Abschluß völkerrechtlicher Verträge im Bundesstaat, S.108. 474 So beginnt etwa der Vertrag mit den Niederlanden und der Schweiz über die Lachsfischerei im Stromgebiet des Rheins vom 30.6.1885 mit der Formulierung "Seine Majestät der Deutsche Kaiser, König von Preußen, mit Zustimmung Seiner Majestät des König von Bayern [... ]", vgl. RGBI. 1886, S. 192. 468
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es dann wohl zu Durchbrechungen des Konvergenzprinzips gekommen, wie sich etwa bei Aktivitäten im Bereich der auswärtigen Kulturpolitik zeigte. 475 Insgesamt war daher auch im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten ein fortschreitender Bedeutungsverlust der Gliedstaaten festzustellen. 476 Zwar schlugen sich diese Veränderungen nicht in der Verfassung nieder, die gliedstaatlichen Rechte bestanden fort - sofern sie überhaupt dort festgeschrieben waren, aber sie sind "mehr und mehr eingedorrt".477 Soweit noch Außenministerien der Gliedstaaten existierten, beschränkten sie sich ganz überwiegend auf die Pflege der Beziehungen zu anderen Gliedstaaten und die Teilhabe am Bundesrat. 478 Aber dies waren keine wirklich "auswärtigen Angelegenheiten" mehr, weil sie sich innerhalb eines Staates, nämlich des Reiches, abspielten. 479 Das vertikale föderale Verhältnis entzog sich schon mangels Gleichordnung der Partner einem völkerrechtlichen Verständnis. 48o Im horizontalen Verhältnis der Gliedstaaten untereinander war diese Koordination zwar grundsätzlich gegeben481 , aber auch hier war es vielfach das Staatsrecht des Reiches, das die wechselseitigen Beziehungen bestimmte.482 Wenn sich dennoch der Umgang der Gliedstaaten untereinander sowie mit dem Reich in den Formen des völkerrechtlichen Verkehrs vollzog, war dies vor allem eine in der Entstehungsgeschichte des Reiches angelegte Rücksichtnahme auf das Prestigebedürfnis der einstigen Souveräne und ihrer Höfe. 483 e) Rechtspflege
aa) Verfassungstext und Verfassungsrecht im Jahr 1871 Der XIll. Abschnitt der Verfassung betraf die "Schlichtung von Streitigkeiten und Strafbestimmungen". Danach besaß das Reich die erst- und letztVgl. den Hinweis bei Fleischmann, in: HdbDStR I, S. 210 Fn. 6. Vgl. Korseit, Die völkerrechtliche Handlungsfähigkeit, S. 114 ff.; vgl. auch das Verzeichnis der völkerrechtlichen Verträge und diplomatischen Akte bei Sonn, Die auswärtige Gewalt der Gliedstaaten, Anhang 11. 477 Fleischmann, in: HdbDStR I, S. 210. 478 V gl. Frotscher, in: Dt. VerwG III, S. 426 f. 479 Vgl. Zorn, AnnDR 1882,91. 480 So Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 187 ff. und schon v. Mohl, Dt. RStaatsR, S. 307. 481 Vgl. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, S. 198 ff., 204; Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 809 f. 482 Vgl. Haenel, Dt. StaatsR I, S. 564 ff. 483 Vgl. auch Zorn, AnnDR 1882, 91; Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, 475
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instanzliehe Zuständigkeit für Fälle des Hoch- und Landesverrats gegen das Reich. Allerdings sollte dafür kein gesondertes Gericht gebildet, sondern die Spruchtätigkeit dem Hanseatischen Ober-Appellationsgericht in Lübeck überlassen werden (Art. 75 RV). Weiterhin war das Reich für zwischenstaatliche Streitigkeiten (Art. 76 Abs. 1 RV) sowie für Verfassungsstreitigkeiten innerhalb der Gliedstaaten - allerdings nur subsidiär - zuständig (Art. 76 Abs. 2 RV). Auch diese Befugnisse sollten nicht durch besondere Gerichte, sondern vom Bundesrat bzw. im Wege der Reichsgesetzgebung wahrgenommen werden. Die Kompetenz des Reiches, sich Fällen der Justizverweigerung in einem Bundesstaat anzunehmen (Art. 78 RV), war hingegen keine eigene Justizhoheit, sondern diente nur der Aufsicht über die Gerichtsbarkeit der Gliedstaaten. 484 Neben diesen geschriebenen Kompetenzen besaß das Reich nach h. M. kraft ungeschriebener Kompetenz das Recht, jene Gerichtsbarkeiten auszuüben, welche der Natur der Sache nach mit den vom Reich übernommenen Verwaltungszweigen in einem untrennbaren Zusammenhang standen.485 Dies waren die Konsulargerichtsbarkeit, die Marinegerichtsbarkeit und man wird auch die Disziplinargerichtsbarkeit hinsichtlich der Reichsbeamten hierzu zählen können. 486 Abgesehen von diesen sehr schmal bemessenen Ausnahmefällen war daher die verfassungsmäßige Grundregel, dass das Reich keine eigene Gerichtsbarkeit besaß, die Gerichtshoheit vielmehr ungeschmälert den Gliedstaaten zustand. 487 Das Reich hatte allerdings in Form der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz die Regelungszuständigkeit für das gerichtliche Verfahren. Die tatsächliche Verfassungsrechtslage entsprach allerdings schon bei der Reichsgründung nicht mehr dem Verfassungstext. 488 Bereits 1869 war für den Norddeutschen Bund ein Bundesoberhandelsgericht in Leipzig errichtet worden. 489 Während zwei Jahre entsprechende Forderungen des konstituierenden Reichstages noch am Widerstand einzelner Gliedstaaten gescheitert waren490, wurde jetzt für diejenigen Bereiche des Zivilrechts, die bereits für ganz Deutschland durch Bundesrecht kodifiziert waren491 , auch eine einv. Seydel, Kommentar, S. 410 f.; a.A. wohl Haenel, Dt. StaatsR I, S. 741. So Laband, StaatsR I, S. 361 Fn. 1; ebenso Haenel, Dt. StaatsR I, S. 713. 486 So schon Thudichum, VertR des Norddeutschen Bundes, S. 243; Laband, StaatsR I, S. 361 Fn. 1; Haenel, Dt. StaatsR I, S. 768. 487 Laband, Wandlungen der Reichsverfassung, S. 32; ders., StaatsR I, S. 363 f.; v. Seydel, Kommentar, S. 102; Haenel, Dt. StaatsR I, S. 720, machte insoweit eine "außerordentliche Verkümmerung der eigenen und selbständigen Rechtspflege" aus. A. A. G. Meyer, Dt. StaatsR, S. 235, 601, der dem Reich in allen Bereichen seiner Gesetzgebung die Befugnis der eigenen unmittelbaren Verwaltung und Rechtsprechung zugestehen wollte. 488 Vgl. Laband, Wandlungen der Reichsverfassung, S. 5, 34. 489 Gesetz, betr. die Errichtung eines obersten Gerichtshofes für Handelssachen v. 12.6.1869; BGBl. 1869, S. 201. 484 485
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heitliche höchste Gerichtsbarkeit geschaffen. Die Grundkonzeption der Verfassung, wonach dem Bund im Wesentlichen die Gesetzgebung, den Gliedstaaten hingegen der Gesetzesvollzug sowie die Gerichtsbarkeit zustanden, wurde damit durchbrochen. Die Schaffung dieses Bundesgerichts stellte daher auch eine (materielle) Änderung der Verfassung dar. 492 Für die Gliedstaaten bedeutete die Schaffung eines Bundesgerichts als höchste Instanz eine Unterordnung ihrer eigenen Gerichtsbarkeit und damit einen beträchtlichen Kompetenzverlust. 493 Die Einrichtung des Gerichts blieb daher auch nicht unumstritten. Mit der Bestimmung des Sitzes nach der sächsischen Stadt Leipzig sowie der Besetzung mit Richtern verschiedener Landeszugehörigkeit bemühte man sich daher um die "Beruhigung der partikularen Befürchtungen".494 Im Zuge der Reichsgründung wurde die Zuständigkeit des Gerichts schließlich auf die neu hinzugetretenen Gebiete erstreckt und sein Name in Reichsoberhandelsgericht geändert. bb) Verfassungswirklichkeit und Verfassungsentwicklung
(1) Der Ausbau der Reichsgerichtsbarkeit Die bereits zur Zeit der Reichsgründung bestehende Diskrepanz zwischen Verfassungstext und Verfassungsrecht hinsichtlich der Reichsgerichtsbarkeit sollte noch zunehmen. So wurde die Zuständigkeit des Oberhandelsgerichts regelmäßig auf diejenigen Teile des bürgerlichen Rechts erstreckt, die durch Reichsgesetze geregelt wurden, beispielsweise das Urheberrecht, das Patentrecht oder das Haftpflichtrecht. 495 Es ergab sich eine Kongruenz von reichsrechtlicher Kodifikation und oberster Gerichtsbarkeit des Reiches. 496 War schon hiermit der Bereich des "Handels" überschritten, so weitete sich die Zuständigkeit des Gerichts noch dadurch aus, dass es zugleich für die Beurteilung der in den entsprechenden Gesetzen vorgesehenen Strafvor490 Vgl. Thudichum. VerfR des Norddeutschen Bundes, S. 298; vgl. die Nachweise bei Hirsemenzel, Kommentar I, S. 206 ff. 491 Etwa durch das HGB oder die Wechselordnung. 492 Thudichum. VerfR des Norddeutschen Bundes, S. 243; v. Seydel, Kommentar, S. 102. Laband, Wandlungen der Reichsverfassung, S. 34; Haenel, Dt. StaatsR I, S. 743 f. 493 Dies betraf insbesondere Preußen angesichts seiner Größe, die Hansestädte aufgrund des dortigen reichen Handels; vgl. Thudichum. VerfR des Norddeutschen Bundes, S. 298 Fn. 2; Laufs. JuS 1969,258 Fn. 34. 494 So die amtlichen Motive zum Sitz, vgl. Laufs. JuS 1969, 259 Fn. 37; dort auch zur personellen Zusammensetzung. 495 Vgl. Laband. StaatsR I, S.413 Fn. 2 mit Nachweisen; sowie Haenel, Dt. StaatsR I, S. 744. 496 Vgl. Bomhak. AöR 26 (1910), 393.
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schriften zuständig wurde. Schließlich wurden ihm vereinzelt auch Verwaltungsstreitigkeiten übertragen, etwa bei Klagen gegen Entscheidungen des Reichskanzlers nach dem Bankgesetz. Mit der umfassenden reichsrechtlichen Regelung der Gerichtsorganisation und des Prozessrechts durch die Reichsjustizgesetze des Jahres 1877 wurde schließlich an Stelle des Oberhandelsgerichts das Reichsgericht als oberste Instanz in Straf- und Zivilsachen geschaffen. Allerdings wurde denjenigen Gliedstaaten, die mehrere Oberlandesgerichte hatten, die Möglichkeit gegeben, für Revisionen hinsichtlich des bürgerlichen Rechts ein oberstes Landesgericht zu bilden, das an die Stelle des Reichsgerichts treten sollte. 497 Hiervon machte allein Bayern Gebrauch, so dass sich diese Option - wenn auch nicht explizit, so doch faktisch - lediglich als ein weiteres bayerisches Sonderrecht darstellte. 498 Das Reich füllte überdies seine verfassungsmäßigen Zuständigkeiten für eine eigene Gerichtsbarkeit immer weiter aus, etwa durch die Einrichtung von Marinestrafgerichten, Disziplinarkammern und des Pisziplinarhofs, den Erlass des Gesetzes über die Konsulargerichtsbarkeit oder die Schaffung einer Gerichtsbarkeit in den Schutzgebieten.499 Eine einheitliche Regelung der Militärgerichtsbarkeit mit der Errichtung eines Reichsmilitärgerichts erfolgte 1898 durch das Reich. Weil die Militärstrafgewalt nach dem System der Verfassung eigentlich den Landesfürsten als den Chefs der einzelnen Heereskontingente zustand, bedeutete die Errichtung einer Militärgerichtsbarkeit des Reiches wiederum eine materielle Verfassungsänderung. 5OO Gleichwohl bedeutete dies nur eine weitgehende Angleichung an die Verfassungswirklichkeit, wie sie bereits hinsichtlich der Militärverwaltung bestand. Den Forderungen Bayerns nach einer Sonderstellung wurde hierbei mit Errichtung eines besonderen Senats entsprochen, der allein für das bayerische Heer zuständig war. Auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts bildete das Reich nur eine kleine Gerichtsbarkeit für besondere Zweige der eigenen Verwaltung aus. Außerdem war diese Gerichtsbarkeit nur zum Teil unabhängigen und selbständigen Gerichten anvertraut, überwiegend aber Verwaltungsbehörden, die in einer Form von Administrativjustiz in einem gerichtsähnlich organisierten Verfahren entschieden. 50l Das Bundesamt für Heimatwesen, das Oberseeamt oder die Berufungskammer in Börsensachen wurden als Verwaltungsgerichte geschaffen. Das Eisenbahn-, Patent- oder Vgl. § 8 Abs. 1 EGGVG. Laband, StaatsR I, S. 401 f.; zur bald erfolgten Einschränkung des bayerischen Privilegs vgl. Huber, Dt. VerfG 111, S. 981 Fn. 35. 499 Vgl. die Übersicht bei Morsey, in: Dt. VerwG III, S. 177 ff. 500 Vgl. Laband, JöR 1 (1907), 40; Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 50 f. 501 Rüfner, in: Dt. VerwG III, S. 913. 497
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Versicherungsamt übten neben ihren administrativen Aufgaben auch eine gewisse VerwaItungsgerichtsbarkeit aus. 502 Im Bereich der Finanzgerichtsbarkeit wurde schließlich im Sommer 1918 der Reichsfinanzhof geschaffen, der aber neben der Rechtsprechung auch einige Aufsichtsrechte besaß. (2) Die Konsequenzen für die lustizhoheit der Gliedstaaten
Mit Blick auf die geringe Anzahl reichseigener Gerichte wird deutlich, dass der Großteil der Gerichtsbarkeit in der Verantwortung der Gliedstaaten blieb. Im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit waren die erst- und zweitinstanzlichen Gerichte, die Amts-, Land- und Oberlandesgerichte, solche der Gliedstaaten. Nicht anders war es bei den Militärgerichten. Sie übten die Justizhoheit ihres Staates aus und sprachen ihre Urteile im Namen des jeweiligen Landesherren. Lediglich die höchste Instanz, das Reichs- bzw. Reichsmilitärgericht, lag in den Händen des Gesamtstaates. So wie die Gliedstaaten ganz maßgeblich für die innere Verwaltung zuständig waren, so waren sie dies auch bezüglich der Gerichtsbarkeit. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit stand ihnen ungeschmälert zu. Ihre Organisationshoheit konnten angesichts der Kleinheit ihrer Verhältnisse allerdings einige Staaten gar nicht nutzen. 503 Vielfach wurden daher durch Staatsverträge gemeinschaftliche Obergerichte gebildet, etwa das Hanseatische Oberlandesgericht, das mit Sitz in Hamburg für alle drei Hansestädte zuständig war. Zu Gunsten Preußens übertrugen auch einige Kleinstaaten ihre eigene Gerichtsbarkeit - Ausdruck wie Verstärkung der preußischen Hegemonialstellung in Norddeutschland. Außerdem war die gliedstaatliche Justizhoheit doch beträchtlichen Eingriffen seitens des Reiches unterworfen. Zum einen bestimmte das Reich seit 1877 mit dem Gerichtsverfassungsgesetz die Organisation der Gerichtsbarkeit, d. h. den Aufbau und den Instanzenzug. Zum gleichen Zeitpunkt regelte es mit ZPO, StPO und - später - FGG das gerichtliche Verfahren. Schließlich hatte es eine höchste Revisionsinstanz geschaffen, an deren Rechtsprechung sich die Gerichte der Gliedstaaten orientieren mussten und deren Zuständigkeit mit der Vereinheitlichung des materiellen Rechts, insbesondere mit dem In-KraftTreten des BGB im Jahre 1900, zunahm. So führte das einheitliche Recht zusammen mit jenen Gesetzen und Institutionen, die zur Sicherung der Einheitlichkeit seiner Anwendung geschaffen wurden 504, letztlich zu einer "Mediatisierung" der Justizhoheit der Gliedstaaten. 505 502 Vgl. den Überblick über die Verwaltungsgerichte des Reiches bei Morsey, in: Dt. VerwG 1lI, S. 178 ff. Im Einzelnen siehe Laband, StaatsR I, S. 421 ff.; Huber, Dt. VerfG 1lI, S. 986 ff. 503 Vgl. zum Folgenden die Auflistung bei Laband, StaatsR 1lI, S. 397 f. 13 Holste
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Im Bereich der Gerichtsbarkeit erfuhr die Kompetenzverteilung zwischen Reich und Gliedstaaten ihre weitreichendste Umgestaltung506 - auch wenn der Verfassungstext davon wiederum völlig unberührt blieb. Auch bei der Verwaltung, mehr noch bei der Gesetzgebung, ergaben sich Kompetenzverschiebungen zu Gunsten des Reiches. Aber diese waren doch entweder in der Verfassung angelegt, wie im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung, oder hatten zumindest schon Vorbilder in Form bestehender Reichsverwaltungen, waren letztlich nur dessen Ausbau. Eine Gerichtsbarkeit des Reiches war aber überhaupt nicht vorgesehen. Hier wandelte sich ein völliges Schweigen der Verfassung, ein scheinbar ungeschmälerter Fortbestand der Kompetenz der Gliedstaaten, zu einer weitgehenden Mediatisierung. Zwar war eine oberste Gerichtsbarkeit stets zentraler Bestandteil der Forderung nach nationaler Rechtseinheit gewesen507 und war zu dessen Verwirklichung schließlich auch unverzichtbar, mit Blick auf die Rechtlage nach dem ursprünglichen Verfassungstext bedeutete diese Entwicklung aber nichts weniger als die "Sprengung eines Verfassungsprinzips,,508. f) Finanzverjassung des Reiches
Die Finanzverfassung eines Bundesstaates ist zum einen ausschnittsweise das Ergebnis der Kompetenzverteilung zwischen dem Gesamtstaat und den Gliedstaaten. Zum anderen ist eine angemessene Verteilung der Finanzmittel aber auch die Voraussetzung dafür, dass beide Hoheitsträger ihre Kompetenzen sachgemäß und eigenverantwortlich wahrnehmen können. Daher wird das Gewichtsverhältnis zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten ganz entscheidend von der Finanzverfassung eines Bundesstaates bestimmt. 509 Aufgrund dieser Bedeutung wird die Finanzverfassung hier gesondert dargestellt.
504 Nach den Worten seines späteren ersten Präsidenten, des preußischen Bundesratsbevollmächtigten Pape, sollte das BORG, "der Gefahr einer abweichenden Entwicklung des einheitlichen Rechts durch die Praxis und Judikatur vor[zu]beugen.", zitiert nach Laband, StaatsR I, S. 412. 505 Huber, Dt. VerfG III, S. 980. 506 Die Bedeutung der Verfassungsänderungen bzw. des Wandels betont Laband, JöR 1 (1907), 35; ders., StaatsR III, S. 363 f. 507 Vgl. Laufs, JuS 1969, 256 f. 508 Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 60 f. 509 Zur Bedeutung der Finanzverfassung im Bundesstaat vgl. Wendt, in: RdbStR IV, § 104, Rn. 1.
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aa) Die Verfassungsrechtslage im Jahr 1871 Nach Art. 70 RV sollte das Reich seine Ausgaben durch Zölle, gemeinschaftliche Verbrauchsteuern510 sowie Einnahmen aus dem Post- und Telegraphenwesen decken. Soweit dies nicht ausreichte, sollten "Beiträge der einzelnen Bundesstaaten nach Maßgabe ihrer Bevölkerung" erhoben werden. Allerdings waren diese sog. Matrikularbeiträge nur vorübergehend vorgesehen, nämlich "so lange Reichssteuern nicht eingeführt sind". Diesen Bestimmungen entsprechend hatte das Reich gern. Art. 35 RV die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für Zölle und einzelne Verbrauchsteuern und besaß dafür die Ertragshoheit (Art. 38 RV). Daneben war in Art. 4 Nr. 2 RV bestimmt, dass das Reich die Gesetzgebungskompetenz hinsichtlich der für seine Zwecke zu verwendenden Steuern hatte. Damit war dem Reich eine unbeschränkte Gesetzgebungskompetenz für alle Steuerquellen und -arten gegeben. 511 Außerdem bestand eine strikte Kongruenz von Gesetzgebungs- und Ertragshoheit der Steuern. 512 Den Gliedstaaten standen zur Einnahmebeschaffung mit Ausnahme der wenigen dem Reich ausschließlich zugewiesenen Verbrauchsteuern alle übrigen Steuerarten, vor allem die direkten Steuern, zur Verfügung. Thre Gesetzgebungskompetenz konkurrierte allerdings mit der des Reiches und wurde durch die Inanspruchnahme einer Steuerquelle durch das Reich verdrängt. 513 Den Gliedstaaten blieben daneben noch ihre Betriebserträge, etwa aus staatlichen Eisenbahnen oder Bergwerken, die teilweise beträchtlichen Umfang hatten. 514 Abgesehen von den offenkundig provisorischen Matrikularbeiträgen ergab sich also eine "vollständige und reinliche Trennung der Finanzwirtschaft von Reich und Staaten".515 Die Finanzverwaltung blieb in den Händen der Gliedstaaten. Dies sollte allerdings nur für jene Staaten gelten, die auch bisher eine eigene Verwaltung besaßen und ihre Kompetenzen nicht an andere Staaten - vornehmlich Preußen - übertragen hatten. 516 Aufgrund bestehender sowie folgender Zusammenschlüsse bestanden letztlich nur 15 statt 25 einzelne Verwaltungen. Diesen waren besondere Reichsbeamte zugeordnet, die die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften unmittelbar überwachen sollten. Insoweit fand eine gegenüber der normalen Reichsaufsicht 510
Nämlich auf Salz, Bier, Tabak, Branntwein, Zucker und Sirup, vgl.
Art. 35 RV. 511 Vgl. MeyerlAnschütz, Dt. StaatsR, S. 909; Haenel, Dt. StaatsR I, S. 374 f.; Laband, StaatsR IV, S. 382. 512 Vgl. v. Seydel, Kommentar, S. 77. 513 Haenel, Dt. StaatsR I, S. 377 f.; Zorn, Dt. StaatsR 11, S. 683.
514 Preußen konnte dadurch in den letzten Vorkriegsjahren gut die Hälfte seines Finanzbedarfs decken, vgl. Witt, Finanzen und Politik, S. 83. 515 Laband, StaatsR IV, S. 382. 516 Vgl. Art. 36 Abs. 1 RV.
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verstärkte Kontrolle der Gliedstaatstätigkeit statt. 517 Diese unmittelbar von der Reichsverfassung konstituierte Finanzordnung erwies sich in den Anfangsjahren des Reiches als durchaus funktionstüchtig. Die Ausgaben des Reiches waren noch begrenzt, bis 1877 zehrte man von den Milliarden der französischen Kriegskostenentschädigung, die Nutzung der verfassungsrechtlichen Steuerkompetenzen durch das Reich stand noch nicht zur Debatte. bb) Die Entwicklung der Finanzverfassung Die weitere Entwicklung der Finanzverfassung vollzog sich maßgeblich im Wege der einfachen Gesetzgebung. 518 Eine erste materielle Änderung der Finanzverfassung erfolgte 1879. 519 Im Zuge des Übergangs von der Freihandels- zur Schutzzollpolitik wurde die sog. Franckenstein'sche Formee 20 eingeführt. Danach durften die nunmehr stark erhöhten Einnahmen aus Zöllen sowie der Tabaksteuer dem Reich nur bis zu einer Höhe von 130 Millionen Mark verbleiben und mussten darüber hinaus an die Gliedstaaten überwiesen werden. Diese Bestimmung führte dazu, dass entgegen Art. 38 RV die Ertragshoheit des Reiches für Zölle und Verbrauchsteuern geschmälert wurde und ein Mischsystem an Stelle einer strikten Scheidung der Erträge gesetzt wurde. Sie sorgte für Zahlungen des Reiches an die Gliedstaaten, obwohl gern. Art. 70 Abs. 1 RV Überschüsse ausdrücklich beim Reich verbleiben sollten. Sie bedeutete schließlich eine Fortdauer der an sich obsoleten Matrikularbeiträge, weil das Reich seinen Finanzbedarf aus seinen originären Einnahmequellen hätte decken können. Die Franckenstein'sche Klausel war daher zweifellos materiell verfassungswidrig. 52 ! Dennoch waren auch die in der Folgezeit geschaffenen Verbrauch- oder Verkehrssteuern des Reiches sogenannte Überweisungssteuern, bei denen die Erträge abzüglich eines Fixums an die Gliedstaaten gingen. Das Ergebnis dieser Politik war eine bürokratische Verquickung der Finanzbeziehungen zwischen Reich und Gliedstaaten. Weil die Gliedstaaten teils von Reichsüberweisungen begünstigt, teils durch Matrikularbeiträge belastet wurden, führte dies zu einer Unkalkulierbarkeit ihrer Haushalte. Das Reich Vgl. zur Finanzverwaltung Hettlage, in: Dt. VerwG 1lI, S. 255 ff. Vgl. zur Entwicklung insgesamt Hidien, Der bundes staatliche Finanzausgleich, S. 159 ff. 519 Vgl. Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 914 ff.; Laband, JöR 1 (1907), 42 ff.; ders., StaatsR IV, S. 375 ff.; Huber, Dt. VerfG 1lI, S. 950 ff.; Patzig, DVBl. 1971, 17 ff. 520 Benannt nach einem bayerischen Zentrumsabgeordneten; vgl. Huber, Dt. VerfG 1lI, S. 951 Fn. 28. 521 Vgl. Laband, JöR 1 (1907), 43 f.; v. Seydel, Kommentar, S. 77; Haenel, Dt. StaatsR I, S. 382 ff. 517
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blieb von den Gliedstaaten finanziell abhängig. Mangels eigener, direkter Steuern, aber auch wegen unzureichender Matrikularbeiträge flüchtete es letztlich in eine Verschuldenspolitik. 522 Eine gewisse Umkehr dieser Entwicklung, aber auch deren partielle, formelle verfassungsrechtliche Legitimierung erfolgte ab 1904. Die Franckenstein' sehe Klausel und das Überweisungssystem wurden schrittweise abgeschafft. Bis dahin wurde ihre teilweise Fortführung durch eine textliche Änderung des Art. 70 RV legalisiert. Die Dauerhaftigkeit der nunmehr gesunkenen Matrikularbeiträge wurde durch die Streichung der Subsidiaritätsklausel verfassungsrechtlich verankert. 523 Sie wurden überdies zu einem festen Beitrag zum Reichshaushalt von anfänglich 40, später 80 Pfennig pro Landeseinwohner umgestaltet. Damit näherte sich die Praxis wieder der . verfassungsrechtlichen Ausgangslage, einer Trennung der Finanzwirtschaften von Reich und Gliedstaaten. 524 Trotz seines stetig steigenden Finanzbedarfs führte das Reich nur zögerlich direkte Reichssteuern ein, faktisch zwar bereits schon 1906 mit der Übernahme der Erbschaftsteuer, erklärtermaßen aber erst seit 1913.525 Mit einer Tantiemesteuer (auf Entgelte für Aufsichtsratsmandate), einer Zuwachssteuer, dem Wehrbeitrag sowie der Besitzsteuer wurde nun unmittelbar an die Vermögensverhältnisse der Steuerpflichtigen angeknüpft. Zwar kam es bei der Übernahme vormaliger Ländersteuern, wie der Erbschaftund der Zuwachssteuer, zu einer Ertragsbeteiligung der Gliedstaaten, doch geschah dies nun prozentual und nicht jenseits eines Reichsfixums. Der Wehrbeitrag und die Besitzsteuer flossen sogar ungeteilt in die Kassen des Reiches. Diese Einführung direkter Steuern mit kompletter Ertragshoheit stellte einen "Schritt auf dem Weg zur finanzpolitischen Emanzipation" des Reiches dar,526 eine Entwicklung, die sich im Krieg fortsetzte. Neben weiteren Verbrauchsteuern griff das Reich seit 1916 auch zu direkten Kriegssteuern. 527
522 Vgl. zur Kritik an der Franckenstein'schen Formel Hensel, Der Finanzausgleich, S. 141 f.; Preuß, Reichs- und Landesfinanzen, S. 6 ff.; Laband, StaatsR IV, S. 380 f.; heute Becker, Reich-Länder-Finanzausgleich, S. 165 ff. 523 Nämlich durch Fortlassung der Worte "so lange Reichssteuern nicht eingeführt sind". 524 Vgl. Laband, JöR 1 (1907),45. 525 Vgl. Patzig, DVBI. 1971,20; Bühler, in: HdbDStR I, S. 322 Fn. 5. 526 Huber, Dt. VerfG In, S. 954; ähnlich schon Hensel, Der Finanzausgleich, S. 142; vgl. zur Unitarisierung der Steuerverteilung gegen Reichsende Becker, Reich-Länder-Finanzausgleich, S. 186 ff. 527 Vgl. Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 912 f.
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c. Oas Bismarck-Reich als Bundesstaat cc) Die Finanzverfassung zwischen Steuer- und Verfassungspolitik
Die Reichsverfassung hatte zwar mit den Matrikularbeiträgen eine traditionell staatenbündische Reminiszenz enthalten, zugleich aber mit der unbeschränkten Gesetzgebungs- und Ertragshoheit des Reiches hinsichtlich aller Steuern auch einer unitarischen Entwicklung der Finanzverfassung weit mehr Raum gelassen, als dies in anderen Bereichen der Fall war. 528 Es deutete daher wenig darauf hin, dass das Reich über lange Zeit hinweg ein so Bismarck - "lästiger Kostgänger bei den Einzelstaaten"S29 werden würde. ( 1) Streitpunkt direkte Steuern
Ursächlich für die finanzielle Abhängigkeit des Reiches -war vor allem, dass es zu einer Ausschöpfung der Kompetenz des Reiches, sich auf finanziell eigene Beine zu stellen, niemals kam. Die Befugnis zu direkten Reichssteuem hatte erst der konstituierende Reichstag in die Verfassung eingefügt. Bismarck und seine Nachfolger hielten dagegen lange Zeit an der Doktrin fest, dass direkte Steuern nur von den Einzelstaaten erhoben werden sollten. Dahinter stand nicht nur eine Logik der Kongruenz von Zöllen und Verbrauchsteuern. 53o Direkte Steuern hätten auch einen Eingriff in die Finanzhoheit der Gliedstaaten bedeutet. Deren ungeschmälerter Erhalt bezüglich der direkten Steuern wurde teilweise geradezu zur Existenzfrage erhoben, zur Entscheidung über die Qualität der Gliedstaaten, zur Abgrenzung zwischen Staat und Selbstverwaltungskörperschaft. s31 Letztlich verbarg sich hinter der föderalistischen Argumentation aber die politische Absicht der Schonung der vermögenden Klassen: Die Besteuerung des Besitzes wähnte die politische Führung bei den überwiegend konservativ besetzten Landesparlamenten in sichereren Händen als im Reichstag, der nach allgemeinem und gleichem Wahlrecht bestimmt wurde. 532 (2) Der Kampf um das Einnahmebewilligungsrecht des Reichstages
Im Reichstag wiederum bestand zwar eine starke Forderung nach direkten Steuern, indes bestand keineswegs ein Interesse an ungesteuert spruHensel, Oer Finanzausgleich, S. 143. Bismarck, zitiert nach Preuß, Reichs- und Länderfinanzen, S. 46. 530 Vgl. Huber, Ot. VerfG III, S. 949. 531 So etwa Laband, JöR 1 (1907), 46; ders., StaatsR IV, S. 383; Bomhak, AöR 26 (1910), 395; Meyer/Anschütz, Ot. StaatsR, S. 914, 918. 532 Vgl. zu diesen Aspekten der Steuerpolitik Witt, Finanzen und Politik, S. 86 ff.; Th. Nipperdey, Ot. Geschichte 11, S. 166 ff. 528
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deinden Einnahmen. Teils suchte man durch jährlich zu bewilligende Einnahmen den politischen Einfluss des Parlaments zu steigern, teils bestand die föderalistisch motivierte Sorge vor allzu großer finanzieller Unabhängigkeit des Reiches - selbst im Reichstag. Die Franckenstein'sche Klausel, die mit den Matrikularbeiträgen einen "beweglichen Faktor" auf der Einnahmeseite des Reiches künstlich aufrechterhielt, erschien darum ihren Befürwortern geradezu als Ergebnis einer parlamentarisch-föderalen Koalition. 533 Letztlich sorgte die Klausel aber mit dem Erhalt der Matrikularbeiträge dafür, dass die Festsetzung der direkten Steuern weiter in der Hand der Einzelstaaten und ihrer Landtage blieb. Insofern war sie vorrangig ein Sieg des Föderalismus. 534 Ihn zog Bismarck aber direkten Reichssteuern und einer steigenden Parlamentsmacht unzweifelhaft vor. 535 (3) Finanzföderalismus und horizontaler Finanzausgleich
Als mit steigenden Reichsausgaben höhere Matrikularbeiträge auf die Gliedstaaten zukamen, machten diese, die ja an der Budgetfestsetzung über den Bundesrat Anteil hatten, ihren Einfluss stärker geltend. Sie sorgten für den Funktionswandel der Matrikularbeiträge: An sich dienten diese der unbegrenzten Defizitabdeckung des Reiches. 536 Mangels direkter Reichssteuern hätte der steigende Finanzbedarf des Reiches daher durch die Gliedstaaten gedeckt werden müssen. Weil sich die Gliedstaaten dem verweigerten, war es letztlich ihr Finanzpartikularismus, der das Reich in eine Schuldenpolitik trieb. 537 Sowenig die Matrikularbeiträge allerdings zur umfassenden Reichsfinanzierung gedacht waren, sowenig waren sie dafür auch geeignet. Ihre primitive, bloß an der Bevölkerungszahl orientierte Berechnung blendete die unterschiedliche Wirtschaftskraft der Staaten völlig aus und führte zu ungleichen Belastungen. 538 Überhaupt stellte sich die Finanzkraft der 533 So sah es der Zentrumsführer Windthorst: ,,Einmal wurde durch den Antrag Franckensteins der föderative Charakter der Bundesverfassung mehr festgehaiten und zweitens blieb in Beziehung auf das Recht der Einnahmebewilligung das in der Bewilligung der Matrikularbeiträge liegende Bewilligungsrecht bestehen, welches sich bisher kräftig genug gezeigt hat, um die Autorität des Reichstages zu tragen"; vgl. RT-Verh. 1879, S. 2177. 534 Th. Nipperdey, Dt. Geschichte 11, S. 170; dies hatten Kritiker wie der Nationalliberale v. Bennigsen schon früh erkannt, vgl. seine Reichstagsrede gegen Windthorst, RT-Verh. 1879, S. 2184. 535 Vgl. zu Bismarcks Politik bei der Entstehung der Formel Recker, ReichLänder-Finanzausgleich, S. 148 ff. 536 Laband, Direkte Reichssteuern, S. 17. 537 Hensel, Der Finanzausgleich, S. 140. 538 So schon der Abg. v. Miquel im konstituierenden Reichstag: ,,Eine Umlage, welche l00.()()() Bremer gleichmäßig trifft wie lOO.()()() Bewohner des Thüringer Waldes, eine solche Art der Umlegung der Lasten kann unmöglich die dauernde
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Gliedstaaten höchst unterschiedlich dar. Manche Kleinstaaten waren in beträchtlicher finanzieller Not, andere lebten reichlich - etwa dank ihrer Einnahmen aus Staatsbetrieben. Bei der Höhe der direkten Steuern ergaben sich beträchtliche Unterschiede zwischen den Gliedstaaten. 539 Insoweit bestand also ein bunter Finanz- und Steuerföderalismus im Reich. Deshalb war es auch weniger die formelle Steuerhoheit der Gliedstaaten, die sich zur Existenzfrage entwickelte, sondern die unterschiedliche Finanzkraft der Gliedstaaten. Einen horizontalen Finanzausgleich kannte die Verfassung aber ebenso wenig wie Hilfen des Reiches, und solche Überlegungen einer bündischen Solidarität in Fragen der finanziellen Not wurden auch gar nicht angestellt. Im Gegenteil, die Gliedstaaten wurden zur Disposition gestellt: "Preußen hat gar keine Veranlassung, lebensunfähige Kleinstaaten [... ] zu unterstützen. Erweisen sich aber schließlich einzelne Staaten als finanziell leistungsunfähig, so bleibt ihnen nichts anderes übrig, als in Akzessionsverträgen mit Preußen ihre Zuflucht zu suchen".540 (4) Resümee
Insgesamt zeigt sich, dass die Finanzverfassung des Reiches in ihrer einfachgesetzlichen, konkreten Gestalt bis an ihr Ende vielfach unsystematisch und der realen politischen Bedeutung von Reich und Gliedstaaten wenig entsprach. 541 Betrachtet man die Finanzverfassung isoliert, so unterschied sie sich in ihrer Entwicklung von anderen Bereichen der föderalen Kompetenzverteilung: Unitarisierung dort. Beibehaltung der föderalen Ausgangslage. ja zeitweise deren Verschärfung hier. 542 Bedenkt man jedoch die Zusammenhänge zwischen der Finanzverfassung und den verfassungs- und steuerpolitischen Problemen des Reiches - die Frage der Parlamentsmacht im Konstitutionalismus, die föderalistisch-parlamentarische Antinomie, der Streit um direkte oder indirekte Steuern - klärt sich das Bild. 543 Im Konflikt der bündisch-monarchischen und demokratisch-unitarischen Elemente der Verfassung fällt das lange Festhalten am föderalen Status quo der Finanzverfassung dann weniger aus dem Rahmen, es besitzt insoweit eine gewisse "innere Folgerichtigkeit,,544. So war es erst der Krieg - sowie die Basis des Steuersystems des Bundes sein", zitiert nach Laband, Direkte Reichssteuem, S. 18 f. 539 Witt, Finanzen und Politik, S. 84 f. 540 Bomhak, AöR 26 (1910), 396. Im Ergebnis ebenso, wenn auch mit Bedenken gegenüber einer "Oligarchie der größeren Staaten" Laband, JöR I (1907), 46. 541 Vgl. Witt, Finanzen und Politik, S. 99 f.; Korioth, Der Finanzausgleich. S. 323 f. 542 Hensel, Der Finanzausgleich, S. 142 f. 543 Th. Nipperdey, Dt. Geschichte II, S. 166 f., 180 ff.; Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 263 ff.
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ihm vorausgehende Hochrüstungsphase -, der hier wie bei der übrigen Kompetenzverteilung für einen Gleichklang sorgt: Dort verstärkt er unitarische Entwicklungen, hier erzwingt er einen - nicht nur finanzpolitischen Kurswechse1. 545 Unter dem Druck des enonnen Finanzbedarfs für das Militär setzt sich der Reichstag erstmals mit direkten Reichssteuem durch. Die Errichtung des Reichsfinanzhofes und die Ausweitung der Reichskontrolle über die Steuererhebung gegen Kriegsende sorgen bei Rechtsprechung und Verwaltung schließlich noch für eine weitere Unitarisierung der Finanzordnung. 546 3. Die Organe des Reiches und der Einfluss der Bundesstaaten auf die Willensbildung des Reiches a) Bundesrat
aa) Verfassungsrechtliche Stellung Der Bundesrat war das föderative Organ des Reiches. Die Gliedstaaten hatten vor allem durch ihn Anteil an der Willensbildung des Reiches. Die Bestimmungen über den Bundesrat standen im Verfassungstext an der Spitze der Artikel über die Reichsorgane. Er wurde als ,,zentralorgan des Reiches,,547, als "höchstes,,548 oder "oberstes Reichsorgan,,549 angesehen. Diese Charakterisierung ergab sich aus der juristischen Konstruktion des Reiches als Bundesstaat: Weil im monarchischen Bundesstaat die Gesamtheit der Staaten, die "verbündeten Regierungen", als Träger der Souveränität des Reiches angesehen wurden55o, sollte der von ihnen gebildete Bundesrat das höchste Reichsorgan sein. 55! Nach Bismarcks Verfassungsplänen hatte der Bundesrat die Funktion eines "gemeinschaftlichen MinisteKorioth, Der Finanzausgleich, S. 324. Th. Nipperdey, Dt. Geschichte 11, S. 182, sieht in den - mit Stimmen der Sozialdemokraten gegen den Widerstand der Konservativen beschlossenen - Besitzsteuern des Jahres 1913 "ein Stück Systernreform". 546 Vgl. Bühler, in: HdbDStR I, S. 323. 547 v. Rönne, VerfR, S. 148. 548 Laband, DJZ 1911, 1. 549 Zorn, Dt. StaatsR I, S. 150; Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 473; Herwegen, Reichsverfassung und Bundesrat, S. 34. 550 Siehe dazu unten c.m.8. 551 Vgl. Zorn, Dt. StaatsR I, S. 92, 147 ff.; Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 473, 477; vgl. auch Bismarcks Worte in der Verfassungsdebatte des Reichstages: "Ich glaube, der Bundesrat hat eine große Zukunft, indem er [... ] als föderatives Kollegium sich einigt, um die Souveränität des gesamten Reiches zu üben, denn die Souveränität ruht nicht beim Kaiser, sie ruht bei der Gesamtheit der verbündeten Regierungen", RT-Verh. 1871, S. 298 f. 544 545
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C. Das Bismarck-Reich als Bundesstaat
riums".552 Trotz der ministeriellen Stellung, die das Amt des Bundeskanzlers am Ende der Verfassungs beratung schließlich angenommen hatte 553 , wurde Bismarck nicht müde, seine Deutung von Funktion und Stellung des Bundesrates und seiner Ausschüsse zu betonen. "Unser Finanzminister ist der Finanzausschuß des Bundesrates", verkündete er etwa 1869 im Reichstag 554 _ eine Beurteilung, die sich auch in Teilen der Staatsrechtslehre wiederfand. 555 bb) Zusammensetzung Der Bundesrat bestand gern. Art. 6 RV aus "den Vertretern der Mitglieder des Bundes", d.h. aus den Repräsentanten der 25 Gliedstaaten. Diese Vertreter waren die Bevollmächtigten der Einzelstaaten, die von den jeweiligen Regierungen bestellt wurden. Die Bevollmächtigten durften nicht dem Reichstag angehören, hatten allerdings das Recht, dort jederzeit zu reden. 556 Die Anzahl der Vertreter und der Stimmen der Gliedstaaten war gestaffelt und in der Verfassung fest bestimmt: Preußen kamen 17 Stimmen zu, Bayern sechs, Sachsen und Württemberg je vier, Baden und Hessen je drei, Mecklenburg-Schwerin und Braunschweig je zwei. Die übrigen 17 Staaten besaßen jeweils eine Stimme. Diese Verteilung der Stimmenzahl war ausschließlich historisch legitimiert. 557 Allerdings hatte die als Vorbild dienende Stimmverteilung im Deutschen Bund ihrerseits "Rücksicht auf die Verschiedenheit der Größe der einzelnen Bundesstaaten,,558 genommen. Bei der Reichsgrundung entsprachen die Stimmverhältnisse den Größenverhältnissen allerdings nicht mehr, weder absolut noch relativ: Dem preußischen Anteil an der Reichsbevölkerung von anfanglich 60 Prozent stand lediglich knapp ein Drittel der Stimmen im Bundesrat gegenüber. Braunschweig besaß zwei Stimmen, obgleich Oldenburg und Hamburg schon bei der Reichsgrundung eine höhere Einwohnerzahl hatten. Zur Jahrhundertwende hatte Hamburg auch mehr Bewohner als das ebenfalls zwei Stimmen führende Mecklenburg-Schwerin. 559 Zwischen dem Stimmgewicht der Staaten Siehe dazu oben C.I.3.a)cc). Siehe dazu oben C.I.3.c) sowie unten C.II.3.b)bb). 554 RT-Verh. 1869, Bd. 1, S. 402. 555 Vgl. etwa Zorn, Dt. StaatsR I, S. 153: ,,[Der Bundesrat] ist eigentlich das Regierungskollegium des Reiches". Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 480: "Dem Reichstag gegenüber nimmt der Bundesrat [... ] diejenige Stellung ein, welche im konstitutionellen Staate die Regierung besitzt". 556 Vgl. Art. 9 RV. 557 Siehe dazu oben C.1.6.c). 558 Art. 6 DBA. 552 553
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bestanden beträchtliche Disproportionalitäten: Schaumburg-Lippe führte ebenso eine Stimme wie das bevölkerungsmäßig gut zehn mal so große Hamburg. Bei formaler Betrachtung führte diese Stimmenverteilung zu einer überproportionalen Bedeutung der Kleinstaaten sowie einer Schmälerung des tatsächlichen Gewichts der größeren Staaten, insbesondere Preußens. Die Stimmen waren für jeden Staat einheitlich nach Instruktionen durch die Regierungen abzugeben. 560 Allerdings galten einige Besonderheiten. Sofern einem Staat ein Reservatrecht gewährt war561 , zählten dessen Stimmen bei den diesbezüglichen Abstimmungen des Bundesrates nicht (Art. 7 Abs. 4 RV). Preußen war ausdrücklich privilegiert, weil sein Stimmverhalten bei Stimmengleichheit den Ausschlag gab und es bei Verfassungsänderungen bezüglich des Militär- und Marinewesens sowie der Verbrauchsteuern ein Vetorecht besaß. 562 cc) Vorsitz und Organisation Der Reichskanzler war gern. Art. 15 RV "geborener" Vorsitzender des Bundesrates und leitete dessen Geschäfte. Ob er stets preußischer Bevollmächtigter sein musste, war rechtlich zweifelhaft563 - in der Praxis war der Reichskanzler aber stets preußischer Außenminister und auch stimmführender preußischer Bundesratsbevollmächtigter. 564 Über die Einberufung und Schließung des Bundesrates bestimmte der Kaiser (Art. 12 RV). Allerdings musste sie mindestens jährlich erfolgen und konnte überdies von einem Drittel der Mitglieder verlangt werden (Art. 13 und 14 RV). In der Staatspraxis wurde der Bundesrat seit 1883 nicht mehr geschlossen, so dass er sich zu einem permanenten Gremium entwickelte. Anders als für den Reichstag 565 sah die Verfassung keine Geschäftsordnungsautonomie vor, dennoch beschloss der Bundesrat darüber formal selbst. 566 Der Bundesrat bildete gern. Art. 8 RV acht ständige Ausschüsse für die wichtigsten Politikfelder, denen die Verfassung teilweise ex559 Vgl. dazu die Ergebnisse der Volkszählungen von 1871 und 1900 in AnnDR 1872,903 und AnnDR 1902,78. 560 Art. 6 Abs. 2 RV. 561 Siehe dazu oben C.II.l.d)bb)(2)(y). 562 Vgl. Art. 7 Abs. 3; 5 Abs. 2; 37 RV. 563 Dafür die zeitgenössische h.M., etwa Laband, StaatsR I, S. 377; a.A. heute Huber, Dt. VerfG III, S. 854. Für die Zulässigkeit der Nicht-Mitgliedschaft des Reichskanzlers wohl auch Bismarck: "Ich halte das doch für möglich, ich halte es nicht für nützlich", GW 11, S. 503. 564 Vgl. Huber, Dt. VerfG III, S. 826. 565 Vgl. Art. 27 RV.
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c.
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plizit Beschlussrechte zuwies. 567 Jedem Ausschuss gehörten mindestens fünf Mitglieder an, die jährlich gewählt wurden und bei den Beratungen jeweils eine Stimme führten. Gem. Art. 8 Abs. 4 RV sollten den Ausschüssen "die zu ihren Arbeiten nötigen Beamten zur Verfügung gestellt [werden)". Trotz dieser Norm bildete der Bundesrat keinen eigenen Apparat aus. Sein lediglich dreiköpfiges Büro bestand aus nebenamtlich tätigen Mitarbeitern des Reichskanzleramtes, später des Reichsamtes des Innern568 , in dessen Räumen auch die Sitzungen des Bundesrates stattfanden. 569 Insgesamt zeigt sich, dass der Bundesrat hinsichtlich seiner Organisation wenig Eigenständigkeit besaß, sondern vielmehr eng an Kaiser und Reichskanzler angebunden war. dd) Kompetenzen des Bundesrates ( 1) Legislative (a) Einfache Reichsgesetzgebung
Der Bundesrat übte gemeinsam mit dem Reichstag die Gesetzgebung aus. Er hatte das Recht zur Gesetzesinitiative. 570 Für das Zustandekommen eines Gesetzes waren übereinstimmende Mehrheitsbeschlüsse der beiden Gremien notwendig. Allerdings war der Bundesrat insoweit gegenüber dem Reichstag bevorrechtigt, als ihm - der Stellung eines Monarchen in der konstitutionellen Staatslehre entsprechend - das Recht zur Gesetzessanktion zukam, d.h. der Erteilung des Gesetzes(anwendungs)befehls, während der Reichstag lediglich an der Feststellung des Gesetzesinhaltes mitwirkte. 57l Mittels seiner Gesetzgebungsbefugnisse nahm der Bundesrat auch Einfluss auf die Haushaltswirtschaft des Reiches, weil der Reichshaushalt gern. Art. 69 RV in Form eines Gesetzes beschlossen wurde.
566 Wie sehr er auch hierbei von der Reichsregierung dominiert wurde zeigte die Geschäftsordnungsrevision 1880, vgl. dazu Binder, Reich und Einzelstaaten, S. 126 ff.; siehe dazu auch unten Fn. 602. 567 Vgl. Art. 39,46,56 RV. 568 Im jährlichen Handbuch des Deutschen Reiches waren jeweils nur ein Protokollführer, dessen Stellvertreter sowie ein Bürovorsteher ausgewiesen. 569 Vgl. Meissner, Bundesrat, Bundeskanzler, Bundeskanzleramt, S. 88 mit Fn. 1 und 87. 570 Art. 7 Abs. 1 Nr. 1 RV. 571 Laband, StaatsR I, S. 256 f.; ders., StaatsR II, S. 33; vgl. auch Scholl, Der Bundesrat in der Verfassungsentwicklung, S. 96 f. m. w. N.
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(ß) Verfassungsändernde Gesetze und Kompetenz-Kompetenz Änderungen der Verfassung waren gern. Art. 78 RV im Wege der Gesetzgebung möglich. 572 Als Besonderheit galt lediglich, dass ein Gesetzentwurf gescheitert war, wenn er 14 Gegenstimmen im Bundesrat erhielt. Die Gliedstaaten hatten daher mittels des Bundesrates Einfluss auf Veränderungen der Verfassung und etwaige Veränderungen der föderalen Kompetenzverteilung. Aber der Staat als Einzelner hatte keinen Anteil an den Verfassungsänderungen und konnte sich gegen daraus folgende Kompetenzverluste nicht wehren. Allein für Preußen bestand angesichts seiner 17 Stimmen ein faktisches Veto gegenüber Verfassungsänderungen. Zählt man die Stimmen der drei Königreiche Bayern, Württemberg und Sachsen zusammen, so konnten auch sie missliebige Verfassungsänderungen verhindern. Ein alleiniges, ausdrückliches Veto bestand gern. Art. 78 Abs. 2 RV aber bezüglich der Sonderrechte i. w. S. Diese Privilegien konnten nur mit Zustimmung des betreffenden Staates verändert oder aufgehoben werden. (2) Exekutive
Der Bundesrat besaß eine Vielzahl von exekutiven Befugnissen: Im Bereich der auswärtigen Gewalt unterlagen Kriegserklärungen sowie der Abschluss völkerrechtlicher Verträge - soweit sie sich auf die Reichsgesetzgebung bezogen - seiner Zustimmung. 573 Beim Gesetzesvollzug war er für den Erlass von allgemeinen Verwaltungsvorschriften sowie für die Beschlussfassung über die erforderlichen Einrichtungen des Vollzugs zuständig. 574 Schließlich sollte dem Bundesrat - ,,kraft seiner allgemeinen verfassungsrechtlichen Stellung,,575 - in Ermangelung spezieller Zuständigkeitszuweisungen der Erlass von Rechtsverordnungen obliegen. Der Bundesrat besaß auch Aufsichtsfunktionen gegenüber den Gliedstaaten. Er hatte über Mängel beim Vollzug der Reichsgesetze zu beschließen576 , sowie als ultima ratio die Reichsexekution gegen einen Bundesstaat zu verhängen. 577 Eine staatsleitende, gubernative Funktion war seine Mitwirkung bei der Auflösung des Reichstages. Hierfür war ein Beschluss des Bundesrates sowie die Zustimmung des Kaisers erforderlich. 578 Auf die Finanzwirtschaft des Reiches nahm der Bundesrat in dreifacher Form Einfluss: durch die HaushaltsSiehe dazu oben C.II.2.a)cc). Art. 11 Abs. 2 und 3 RV. 574 Art. 7 Abs. 1 Nr. 2 RV. m Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 707, 479; Laband, StaatsR 11, S. 102 ff. 576 Art. 7 Abs. 1 Nr. 3 RV. 577 Art. 19 Satz 2 RV. 578 Art. 24 RV. 572
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gesetzgebung, die Entlastung hinsichtlich der Rechnungslegung 579 sowie durch die Festsetzung der von den Gliedstaaten an das Reich zu zahlenden Beträge an Zöllen und Verbrauchsabgaben. 58o Schließlich hatte der Bundesrat viele einfachgesetzlich bestimmte Wahl- und Vorschlagsrechte für das Personal von Reichsinstitutionen, so wählte er u. a. die Mitglieder des Reichsgerichts, des Rechnungshofes oder den Präsidenten und die Mitglieder des Reichsbank-Direktoriums. 581 (3) Rechtsprechung
Der Bundesrat hatte einige rechtsprechende Funktionen, die sich auf das interföderale Verhältnis sowie innere Angelegenheiten der Gliedstaaten bezogen. Er hatte über nichtprivatrechtliche Streitigkeiten zwischen einzelnen Gliedstaaten zu entscheiden. Außerdem wirkte er als (Landes-)Verfassungsgericht, wenn er den Ausgleich von Verfassungs streitigkeiten innerhalb eines Gliedstaates besorgte. Schließlich war er für Fälle der Justizverweigerung zuständig. 582 ee) Der Bundesrat in Verfassungswirklichkeit und -entwicklung (1) Kompetentielle Entwicklung des Bundesrates
in Recht und Wirklichkeit
Betrachtet man die Entwicklung des Bundesrates, so sind beträchtliche Zuwächse des allgemeinen Volumens seiner Geschäfte und Kompetenzen zu verzeichnen. Der Bundesrat wurde als Verordnungsgeber tätig. Insbesondere kraft einfachgesetzlicher Zuweisung wurde er vielfach zum Verordnungserlass ermächtigt. Den Umfang dieser Tätigkeit veranschaulichen die anschwellenden Jahresbände des ,,zentralblattes für das Deutsche Reich".583 Die Wahl-, Vorschlags- oder Benennungsrechte des Bundesrates weiteten sich erheblich aus: zählte der Katalog dieser Rechte 1884 noch 10 Posten, so umfasste er 1918 insgesamt 23. 584 Schließlich wurde dem Bundesrat mit Kriegsbeginn durch ein Ermächtigungsgesetz das Recht gegeben, ohne Beteiligung des Reichstages rechtssetzend tätig zu werden. 585 Art. 72 RV. Art. 39 Abs. 2 RV. 581 V gl. die Übersicht in dem jährlichen Handbuch für das Deutsche Reich. 582 Vgl. Art. 76, 77 RV. Zur Rechtsnatur dieser Kompetenz siehe oben C.ll.2.e)aa). 583 Vgl. dazu Rauh, Die Parlamentarisierung, S. 22 ff. 584 Vgl. Handbuch für das Deutsche Reich 1884, S. 2.; dass. 1918, S. 3 f.; vgl. dazu auch Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 583. 579 580
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Dieser steigende Geschäftsumfang des Bundesrates lässt sich allerdings kaum als Einflussgewinn der Gliedstaaten deuten. Das Verordnungsrecht kam dem Bundesrat aufgrund seiner formalen staatsrechtlichen Konstruktion als föderaler Exekutive zu. Faktisch waren es aber der Reichskanzler und die Reichsämter, die diese Kompetenz ausfüllten. Sie hatten im Einzelfall mehr Sachkunde und auch einen größeren Überblick über die Gesamtlage im Reich. Schon die zeitgenössische Staatsrechtslehre stellte fest, "daß viele bundesrätliche Verordnungen in Wahrheit nichts anderes sind als Verordnungen der obersten Reichsbehörde, die sich um der verfassungsmäßigen Form willen in das Gewand einer Bundesratsverordnung gekleidet haben"586. Ganz ähnlich verhielt es sich mit dem Ermächtigungsgesetz. Die Reichsregierung hatte dieses Gesetz nicht nur subtil initiiert587 , sondern sie war es auch, die die bundesrätlichen Kompetenzen faktisch ausübte. 588 Dies ging soweit, dass 1916 weite Bereiche der Regelungszuständigkeit sogar explizit dem Reichskanzler übertragen wurden. 589 Dem Bundesrat entwuchsen so mehr und mehr die ihm übertragenen Kompetenzen und die Reichsregierung gewann an Entscheidungsspielraum auch bei grundsätzlichen politischen Fragen. 590 Die Ausweitung der Berufungsrechte schließlich war die Folge der zunehmenden Einrichtung von Reichsinstitutionen. Hier wie auch bei der Gesetzgebung war der Tätigkeitszuwachs des föderalen Reichsorgans vor allem Ausdruck des Verlusts originärer Landeskompetenzen. Dieser wurde teilweise kompensiert durch die mindestens formale Teilhabe der Gliedstaaten mittels des Bundesrates an der nunmehrigen Erledigung der Materien durch das Reich. (2) Die Entwicklung hinsichtlich der Zusammensetzung und Arbeitsweise des Bundesrates Die Entwicklung des Bundesrates stand im engen Zusammenhang mit der Ausbildung einer eigenen politisch-administrativen Spitze des Reiches. 591 Anfänglich war die preußische Regierung "Motor und Lenker" der deutschen Politik gewesen. Diese Funktionen verlagerten sich in dem Maße, in dem sich erst mit dem Bundeskanzleramt, später mit den ressortartigen Reichsämtern ein eigener bürokratischer Apparat des Reiches bilRGBl. 1914, S. 328. Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 68; ebenso Rosenthai, Die Reichsregierung, S. 53. 587 Dies stellt dar Huber, Dt. VerfG V, S. 33 ff. 588 Vgl. Fenske, in: Dt. VerwG III, S. 874. 589 VO v. 22.5.1916, RGBl. 1916, S. 401. 590 Lassar, JöR 14 (1926), 11 f. 591 Siehe dazu unten C.1I.3.b)bb)(3). 585
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dete. Die politischen Initiativen gingen kaum mehr von den Einzelstaaten aus. Gesetz- und Verordnungsentwürfe wurden in den Reichsbehörden initiiert und erarbeitet. Den Bundesratsausschüssen, denen Bismarck diese Funktion zugeschrieben hatte, wurde insoweit "das Wasser abgegraben".592 Es entwickelte sich statt dessen die Praxis der sog. Präsidialvorlagen, d.h. des direkten Antrags- und Vorschlagsrecht der Reichsadministration im Bundesrat. 593 Zwar widersprach dies dem Wortlaut der Verfassung, weil gern. Art. 7 Abs. 2 RV lediglich die Mitglieder des Bundes, d.h. die Einzelstaaten und deren Bevollmächtigte, ein Antragsrecht besaßen, doch wurde diese Praxis schließlich als Gewohnheitsrecht anerkannt. 594 Diese Entwicklung fand auch in der personellen Zusammensetzung des Bundesrates ihren Niederschlag, wo auf der preußischen Bank die Funktionsträger der Reichsleitung dominierten. 595 Während der Reichskanzler und sämtliche Chefs der Reichsämter stets zu preußischen Bevollmächtigten im Bundesrat ernannt wurden, wurden nur gelegentlich einzelne preußische Staatsminister in den Bundesrat entsandt. Überdies setzte sich in der Praxis das von der Verfassung nicht vorgesehene und nur geschäftsordnungsmäßig legitimierte Institut des stellvertretenden Bevollmächtigten zum Bundesrat durch. Danach konnte jeder Staat eine unbeschränkte Zahl von Stellvertretern seiner Bundesratsmitglieder benennen, die an den Beratungen des Bundesrates mitwirkten. Von diesem Institut, das mit der Zeit eine beträchtliche Ausweitung erfuhr, machte nach und nach vor allem Preußen regen Gebrauch. 596 Es waren wiederum vor allem Fachbeamte aus den Reichsämtern, die so in die Arbeit des Bundesrates einbezogen wurden. 597 Auch im Vorsitz schlug sich diese Entwicklung nieder. Hatte anfänglich Bismarck die Sitzungen häufig selbst geleitet, so war es schon nach wenigen Jahren üblich, dass der Chef des Kanzleramtes, später der Staatssekretär des Reichsamtes des Innem, die Sitzungen leitete. 598 Meissner, Bundesrat, Bundeskanzler und Bundeskanzleramt, S. 87. Vgl. Laband, Wandlungen der Reichsverfassung, S. 19 f. Zum Ausmaß der Präsidialanträge siehe Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 86 ff., Fn. 99. 594 Vgl. Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 489 f. m.w.N; siehe auch unten C.II.3.b)bb)(3)(O). 595 V gl. dazu und zum folgenden Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 102 ff. 596 Es waren stellvertretende Bevollmächtigte berufen (wovon auf Preußen entfielen) 1872 erst 8 (-), 1890 schon 61 (17), 1918 schließlich 129 (71); vgl. das jährliche Handbuch für das Deutsche Reich. 597 Im Jahre 1918 nahmen von den 17 preußischen Bevollmächtigten 9 vorrangig ein Reichsamt wahr, von den 71 Stellvertretern hatten 42 ein solches inne. Zählt man die preußische Militärverwaltung als Reichssache, erhöhen sich diese Zahlen sogar auf 10 bzw. 54. 598 Vgl. Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 101. 592
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Nach der Verfassung sollte der Bundesrat ein Kollegium aus Repräsentanten der Einzelstaaten sein. Tatsächlich saßen sich dort die Spitzen der Reichsadministration im Gewand der preußischen Bevollmächtigten und die Vertreter der übrigen Einzelstaaten gegenüber. Außerdem wurde aus einem Organ von Regierungsmitgliedern - so Bismarck abwertend - ein Gremium der Geheimräte, der Fachbeamten. "Verreichung" und "Verbeamtung" kennzeichneten also die Entwicklung der Zusammensetzung des Bundesrates. (3) Die gliedstaatliehe Mitwirkung an der Arbeit des Bundesrates
Dem geballten Sachverstand der Vertreter der preußisch-reichischen Administration waren die übrigen Staaten heillos unterlegen. 599 Die Einzelstaaten beriefen zwar regelmäßig ihre leitenden Minister zu Bevollmächtigten, sie ließen in der Praxis aber ihre Gesandten in Berlin am Bundesrat teilnehmen. Die kleineren Staaten, die schon aus Kostengründen keine eigene Vertretung unterhalten konnten, ließen ihr Stimmrecht im Wege der Substitution sogar vielfach von fremden Gesandten ausüben. Nur die Mittelstaaten hatten überhaupt das fachliche und finanzielle Potential, mit eigenen Experten an den Beratungen teilzunehmen. Sie waren es auch, die in den Ausschüssen - wo die wesentliche Sacharbeit geleistet wurde - mitarbeiteten. 600 Von den sieben Fürstentümern des Reiches gehörte keines je einem verfassungsmäßigen Ausschuss des Bundesrates an. 601 Der Umstand, dass einzelne Gesandte, die mehrere Staaten zu vertreten hatten, ihre Stimmen jahrzehntelang einheitlich abgeben konnten, zeigte, wie wenig die Kleinstaaten in der Lage waren, auch nur reaktiv eine eigenständige Politik zu machen. 602 Die Bestimmung des Geschäftsganges des Bundesrates bot dem Reichskanzler auch die Möglichkeit, durch den Zeitpunkt der Informationspreisgabe - etwa über Gesetzgebungsprojekte - oder die Beschleunigung der Beratungen die Mitwirkungsmöglichkeiten der übrigen Staaten zu be stimmen. 603 Lediglich fünf Tage sah die Geschäftsordnung zwischen der ersten Vgl. zum Folgenden Fuchs, Bundesstaaten und Reich: Der Bundesrat, S. 94 f. Vgl. die Übersicht bei Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 114. 601 V gl. die Angaben in dem jährlichen Handbuch des Deutschen Reiches. 602 Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 105; Fuchs, Bundesstaaten und Reich: Der Bundesrat, S. 99 f. Durch das Substitutionswesen erwuchs allerdings den einzelnen Gesandten bisweilen ein persönlicher Machtgewinn, vgl. Rauh, ebd. Als es einmal durch ausgiebige Substitution (13 Kleinstaaten waren nicht eigenständig vertreten) zu einer Überstimmung Preußens kam, ließ Bismarck sofort diese Praxis per Geschäftsordnung beschränken, vgl. Goldschmidt, Reich und Preußen, S. 71 f. 603 Vgl. dazu und zum Folgenden Fuchs, Bundesstaaten und das Reich: Der Bundesrat, S. 92 f.; siehe auch beispielhaft Binder, Reich und Einzelstaaten, S. 126 mit Fn.92. 599
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C. Das Bismarck-Reich als Bundesstaat
und zweiten Lesung eines Gesetzentwurfes vor. 604 Klagen über verspätete Unterrichtung und fehlende Zeit für ernsthafte Beratungen waren daher gang und gäbe. 605 Auch die Instruktionsgebundenheit der Bevollmächtigten erschwerte eine aktive, gestalterische Mitwirkung an den Arbeiten des Bundesrates und verhinderte überdies jeden politischen Dialog. 606 Eine Teilnahme an den Sitzungen des Bundesrates war dadurch für die einzel staatlichen Minister weitgehend uninteressant. Hinzu kam, dass infolge der Vertraulichkeit der Sitzungen der Bundesrat auch kein öffentliches Forum der Darstellung der eigenen Person und Politik sein konnte. (4) Die Abstimmungsergebnisse im Bundesrat Zusammensetzung und Arbeitsweise des Bundesrates hatten auch Folgen für die Abstimmungsergebnisse. Zu Kampfabstimmungen kam es kaum. Niederlagen der reichisch-preußischen Bank blieben ganz seltene Sonderfälle. 607 Angesichts dessen blieb auch die Disproportionalität des Stimmgewichts weitgehend unerheblich. 6Os Der hohe Konsensgrad im Bundesrat ist vor allem auf das von Bismarck gepflegte bundesfreundliche Verhalten zurückgeführt worden. Danach habe man an Stelle von Mehrheitsentscheiden einen Stil im Sinne "gegenseitigen Vertrauens, Nachgebens und Achtens der besonderen Bedürfnisse sowohl Preußens als führender deutscher Großmacht, als auch der der Mittelstaaten und der der Kleinstaaten" gepflegt. 609 Tatsächlich suchte die Reichsregierung dort, wo es ihr opportun schien, den Kontakt mit den Regierungen 604 Vgl. § 16 Abs. 3 GO-BR, bei Huber, Dokumente 11, Nr. 271; vgl. Fuchs, Bundesstaaten und das Reich: Der Bundesrat, S. 100 f. 605 Vgl. Rauh. Föderalismus und Parlamentarismus, S. 110; siehe auch Binder, Reich und Einzelstaaten, S. 53, mit Verweis auf den badischen Ministerpräsidenten Jolly. Deutliche Kritik in dieser Richtung auch vom württembergischen Ministerpräsidenten Mittnacht in der Debatte um die Gesetzgebungskompetenz des Reiches für das bürgerliche Recht, RT-Verh. 1872, S. 607 ff. 606 Fuchs, Bundesstaaten und Reich: Der Bundesrat, S. 97 f.; vgl. Binder, Reich und Einzelstaaten, S. 53 mit dem Kommentar des Badeners Jolly: "In einer Versammlung, die nach Instruktionen stimmt, ist eine wirkliche Diskussion unmöglich." 607 Vgl. die Nachweise bei Scholl, Der Bundesrat in der dt. Verfassungsentwicklung, S.46 Fn. 182. Der bekannteste Fall war die Bestimmung des Sitzes des Reichsgerichts nach Leipzig anstelle des von Preußen gewünschten Berlins. 608 Als bei einer Überstimmung Preußens einmal die 30 Stimmen der Mehrheit nur 7,5 Millionen Bevölkerung repräsentierten, während die 28 Stimmen der Minderheit 38 Millionen vertraten, behauptete Bismarck allerdings prompt, eine solche Überstimmung Preußens widerspreche dem Geist der Reichsverfassung, vgl. Fuchs, Bundesstaaten und Reich: Der Bundesrat, S. 99. 609 E. Kaufmann. Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung, S. 33; vgl. auch Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 94 f. m. w. N.
11. Verfassungsrecht und Verfassungsentwicklung
211
und ließ deren Interessen in ihre Vorschläge mit einfließen. Diese Koordination erfolgte jedoch überwiegend außerhalb des Bundesrates in Ministerkonferenzen, ein Vorgehen, das die institutionelle Bedeutung des Bundesrates weiter schmälerte. 610 Es wurden auch keineswegs alle Staaten hierbei berücksichtigt. Lediglich die Mittelstaaten Bayern, Württemberg, Sachsen, später auch Baden611 , wurden als Verhandlungspartner beachtet. Dies trug dazu bei, dass es zu strikten Reich-Länder-Konfrontationen kaum kam. Dabei ist jedoch auch die Doppelrolle Preußens zu berücksichtigen, wodurch die Reichsadministration stets auch im Kreise der Länder präsent war. Die übrigen Staaten waren außerdem von ihrem politischen Gewicht her vielfach zu heterogen, um einander Kooperationspartner zu sein. Dort, wo dies wie bei den süddeutschen Staaten möglich gewesen wäre, verhinderte eine andauernde Rivalität und die Sorge vor einer bayerischen SüdHegemonie eine effektive Zusammenarbeit der Länder zur gemeinsamen Interessendurchsetzung. 612 So suchte jeder in direktem Kontakt mit der Reichsregierung seine Position zu stärken. Vor allem Bayern wurde so zum wichtigsten Kooperationspartner von Reich und Preußen und nutzte dies, seine Sonderstellung auch institutionell fortwährend zu behaupten. 613 Bemerkenswert ist, dass die Kleinstaaten bei der Reich-Länder-Koordination weitgehend ausgespart blieben, sie waren insoweit ein "partie negligeable,,614. Dieses - so Bismarck - ,,kleine Gemüse"615 war unbeachtlich, weil es schon aufgrund seiner Abhängigkeit von Preußen zu politischem Widerspruch kaum fähig war: "Die kaiserlich-königliche Regierung gebot über eine solche Fülle faktischer Möglichkeiten [... ], den Regierungen anderer Einzelstaaten Vorteile zuzuwenden oder vorzuenthalten, ja Nachteile zuzufügen (im Eisenbahnwesen, bei der Dislozierung der Garnisonen, im Bereich der Verwaltungshilfe und der höfischen Beziehungen), daß es ihr nicht allzu schwer fiel, besonders im Verhältnis zu den norddeutschen Kleinstaaten, Mehrheiten in ihrem Sinne zusammenzubringen.,,616 Ein Widerspruch gegenüber Preußen galt als "Todsünde 2. Grades,,617, und die InSo schon Laband, JöR 1 (1907),20 f.; ders., DJZ 1911,6. Vgl. Fuchs, Reich und Bundesstaaten: Der Bundesrat, S. 84 f. 612 Vgl. Binder, Reich und Einzelstaaten, S. 33 ff. 613 Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 95 betrachtet Bayern insoweit als "Vizehegemonialmacht". Während die Sonderrechte nach der Reichsgründung allgemein an Bedeutung verloren und teils aufgehoben wurden, gelangen Bayern hier Zugewinne, etwa bezüglich der Gerichtsorganisation, siehe oben C.II.l.d)bb)(3) und C.ll.2.e)bb)(1). 614 Laband, JöR 1 (1907), 20. 615 BisT1Ulrck, GW 8, S. 526. 616 ThoT1Ul, in: HdbDStR I, S. 75. 617 So der Chef des Reichsschatzamtes und preußische Bevollmächtigte Wermuth, zitiert nach Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 79 Fn. 68. 610 611
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struktion ihrer Bevollmächtigten lautete daher regelmäßig "im Zweifel mit Preußen". So trug auch die Abhängigkeit der Kleinstaaten von Preußen und ihre Unfähigkeit zur eigenständigen politischen Teilhabe an der Willensbildung des Reiches zum hohen Konsensgrad und der Dominanz der preußisch-reichischen Interessen im Bundesrat bei. (5) Der Bundesrat zwischen Reichsregierung und Reichstag
Solange die Reichspolitik im Wesentlichen von der preußischen Hegemonialmacht in Abstimmung mit den übrigen Gliedstaatsregierungen - sei es im Bundesrat, sei es außerhalb - gemacht wurde, waren die Gliedstaaten zumindest die größeren unter ihnen - ihrer Teilhabe an den Entscheidungen und eines gewissen Einflusses sicher. Sie profitierten von der föderalen monarchischen Solidarität gegenüber den Ansprüchen des Parlaments. Dieser Einfluss und die Bedeutung des Bundesrates schwand aber in dem Maße, in dem die Reichsregierung an Eigengewicht gewann und sich aus dem Bundesrat ablöste. Verantwortlich hierfür waren die allgemeine Unitarisierung, der Ausbau und Bedeutungszuwachs der Reichsverwaltung, und nicht zuletzt der Anspruch Kaiser Wilhelms 11. auf ein persönliches (Reichs-)Regiment. Zu Bismarcks Zeiten wurde im Kreise der verbündeten Regierungen eine einheitliche politische Linie erarbeitet, bevor man sich auf Verhandlungen mit dem Parlament einließ. Die Forderung der Nationalliberalen, schon im Vorfeld an Gesetzgebungsprojekten beteiligt zu werden, hatte Bismarck 1878 noch als Grund für eine Reichstagsauflösung angeführt. Weil die Reichsregierung angesichts der wachsenden Regelungsintensität, des größeren Budgets und des Finanzbedarfs des Reiches verstärkt die Kooperation mit dem Reichstag suchte und sich dessen Einflüssen öffnete, sank der Einfluss des Bundesrates. Durch das Eigengewicht der Reichspolitik verschoben sich nun bisweilen die Interessengegensätze: nicht mehr monarchische Regierungen einerseits und Reichstag andererseits, sondern Reichspolitik hier und Länderpolitik dort prägten die Auseinandersetzung. In der Finanzpolitik führte dies gelegentlich zu unitarischen Koalitionen gegen die Gliedstaaten. 618 "Im [ ... ] Zusammenspiel zwischen zentraler Exekutive und zentralem Parlament wurde der Bundesrat wie zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben".619 Selbst in Phasen der Konfrontation mit der Volksvertretung setzte die Reichsregierung zunehmend mehr auf ihre eigene politische Kraft und Geltung in der Öffentlichkeit als auf die verbündeten Regierungen. Dies zeigt sich etwa in den Fällen der Reichstagsauflösungen: 1878 hatte 618 619
Vgl. Bilfinger, Der Einfluß der Einzelstaaten, S. 118. Rauh, Die Parlamentarisierung, S. 144.
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Bismarck dazu noch mühevoll auf eine einheitliche Linie der Gliedstaaten gedrungen620, 1893 war es immerhin zu einer Sondersitzung des Bundesrates gekommen, 1906 verkündete Reichskanzler v. Bülow die Auflösung und ließ erst nachträglich den Bundesrat entsprechend beschließen. 621 Dies zeigt nicht nur, wer die gubernativen Kompetenzen des Bundesrates in der Praxis ausübte, sondern auch, wie sehr sich die föderale Konstruktion des monarchischen Bundesstaates in traditionelle konstitutionelle Fonnen, mit dem Dualismus von Parlament und kaiserlich-monarchischer Regierung, gewandelt hatte. 622 Für den Bundesrat bedeutete dies auch eine Veränderung im Umgang mit dem Parlament. Unter Bismarcks Kanzlerschaft waren eigene Kontakte der Regierungen zum Reichstag kaum üblich. 623 Durch die Lockerung der einstigen föderal-monarchischen Solidarität gegenüber der Volksvertretung veränderte sich dies, so dass die nicht-preußischen Bundesratsmitglieder von ihrem Rederecht im Reichstag häufiger Gebrauch machten und bisweilen sogar explizit gegen die Politik der Reichsregierung Stellung bezogen. 624 Insgesamt wurde der Bundesrat im politischen Alltag weitgehend zu einer "Abstimmungsmaschine" degradiert. 625 Der fonnale Einfluss des föderalen Reichsorgans sicherte den Gliedstaaten aber immerhin ein Verhinderungspotential, mit dem sie einzelne Entwicklungen der Unitarisierung, bei denen sie eigene fundamentale Interessen bedroht sahen, stoppen konnten: zum Beispiel die Vereinheitlichung des Eisenbahnwesens oder eine grundlegende, föderale Finanzrefonn. Für die Gliedstaaten bedeutete der Bundesrat daher zunehmend "eine Versicherungsanstalt für die Erhaltung des Status quo".626
b) Kaiser und Reichskanzler Die nun und im folgenden Abschnitt angesprochenen Reichsorgane sollen nur insoweit behandelt werden, wie sie für die bundesstaatliehe Ordnung des Reiches relevant waren. Dabei interessiert vor allem ihr Verhältnis zum Bundesrat und wie sich ihre eigene Entwicklung auf die Bedeutung des föderalen Reichsorgans auswirkte. In den Überschriften der Abschnitte der Verfassung finden sich Kaiser und Reichskanzler nicht wieder. Die sie Vgl. Binder, Reich und Einzelstaaten, s. 115 ff. Vgl. Huber, Dt. VerfG IV, S. 294; Rauh, Die Parlamentarisierung, S. 17 f. 622 Boldt, Dt. VerfG 11, S. 193. 623 Vgl. Ullrich, Gesetzgebungsverfahren und Reichstag, S. 89. 624 Vgl. Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 148 f. 625 So seIbst die Einschätzung von Bundesrats-Bevollmächtigten; zitiert bei Binder, Reich und Einzelstaaten, S. 149 Fn. 50. 626 Fuchs, Bundesstaaten und Reich: Der Bundesrat, S. 103. 620 621
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betreffenden Artikel finden sich im IV. Abschnitt der Verfassung unter dem Titel "Präsidium". Sie stehen damit zwischen "Bundesrat" und "Reichstag". Sprachlich und systematisch wird daher schon hier die föderativ-bündische Begründung der beiden Ämter ausgedrückt. aa) Der Kaiser (1) Entstehung als "föderalistisch-partikularistisches" Kaisertum
Die Reichsverfassung bestimmte in Art. 11: "Das Präsidium des Bundes steht dem Könige von Preußen zu, welcher den Namen Deutscher Kaiser führt." Nach der bismarckschen Verfassungskonstruktion sollte das Kaisertum lediglich der "Amtstitel" sein627 , unter dem die an sich unveränderten Präsidialrechte628 geführt wurden. Der preußische König sollte im Kreis der verbündeten Fürsten ein primus inter pares sein, besonders hervorgehoben durch seine zusätzliche Stellung als Reichsorgan, als Deutscher Kaiser. Nach der h.M. der zeitgenössischen Staatsrechtslehre war er kein Reichsmonarch im Sinne des Konstitutionalismus, weil nicht er, sondern die Gesamtheit der verbündeten Staaten der Träger der Souveränität des Reiches war. 629 Diese Konstruktion entsprach den historisch-politischen Vorgängen der Errichtung der Kaiserwürde. Bismarck hatte 1870 den bayerischen König Ludwig 11. gedrängt, die Initiative zur Kaiserwürde von den Fürsten ausgehen zu lassen "und namentlich nicht von der Volksvertretung zuerst".630 Hiermit sollte bei den Monarchen der Eindruck eines fürstlichen Wahlkaisertums gestärkt werden. Deren Sorge, dass mit dem neuen Titel eine Schmälerung ihrer monarchischen Befugnisse einhergehen könnte, suchte er durch den unverhohlenen Hinweis auf die reichs ständische Libertät im Alten Reich zu beruhigen: "Daß die großen Fürstenhäuser Deutschlands, das Preußische eingeschlossen, durch das Vorhandensein eines von ihnen gewählten deutschen Kaisers in ihrer hohen europäischen Stellung nicht beeinträchtigt würden, lehrt die Geschichte." Schließlich rechtfertigte Bismarck den Kaisertitel gegenüber bloßen Präsidialrechten Preußens damit, dass "nur der deutsche Titel bekundet, daß die damit verbundenen Rechte 627
Laband, Dt. RStaatsR, S. 58.
Vgl. den Beschluss des Bundesrates von 1870: "Durch die Bezeichnung ,Kaiser' und ,Reich' ist an dem materiellen Inhalt der Bundesverfassung ebensowenig wie an den Rechten des Bundesrates und der Einzelstaaten etwas geändert worden", zitiert nach Laband, StaatsR I, S. 215 Fn. 1. 629 Vgl. etwa Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 499; siehe dazu auch C.III.8. 630 Schreiben Bismarcks an Ludwig 11. v. Bayern am 27.11.1870, bei Huber, Dokumente 11, Nr. 228. 628
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aus freier Übertragung der deutschen Fürsten und Stämme hervorgehen". Bei politischer Betrachtung war es allerdings besonders diese dauerhafte, erbliche Verbindung der preußischen Krone mit der des Reiches, die den Einfluss Preußens in Deutschland sicherte. Rechtlich betrachtet schien aber gerade dieser Übergang von preußischem Präsidium zu deutschem Kaisertum manchem als "lebendige Verneinung dieser [preußischen] Hegemonie,,631, weil die Führungsrolle des preußischen Gewandes entkleidet und im Kaisertum neu und gesamtdeutsch institutionalisiert wurde. Dies konnte zwar auch unitarisch gedeutet werden, etwa im Sinne einer "Nationalisierung der Präsidialgewalt,,632, Bismarck verstand es aber, im Zeitpunkt der Reichsgründung gegenüber den Bundesfürsten die Negierung der direkten preußischen Hegemonie in den Vordergrund zu rücken, so dass der Eindruck eines strukturell "föderalistisch-partikularistische[n] Kaisertum[s]" entstand. 633 Der erste Kaiser, Wilhelm 1., war anfanglich wenig begeistert über die Form der neuen Würde. Schon angesichts des Titels - "Deutscher Kaiser" an Stelle eines die Gebietsherrschaft betonenden "Kaisers von Deutschland" - erschien ihm die neue Würde als die eines bloßen "Charaktermajors".634 Weil dieser Titelstreit aber keineswegs von einer national-unitarischen Sendung Wilhelms inspiriert war, sondern vielmehr auf groß-preußischem Prestigebedürfnis gründete, entsprach er damit letztlich doch ganz jenem gliedstaatlichen Partikularismus, auf den Bismarck mit der Struktur der neuen Kaiserwürde selbst Rücksicht nahm. 635 Tatsächlich blieben unter Wilhelm I. "Stil und Charakter" des neuen Kaisertums maßgeblich preußisch bestimmt. 636 Den gliedstaatlichen Fürsten gegenüber blieb er - entsprechend Bismarcks bundesfreundlicher Politik und ihres diplomatischen Stils - daher vor allem "Bundesgenosse". Wenn sich seine Stellung ihnen gegenüber dennoch erhöhte, so vornehmlich durch die Kraft seiner Persönlichkeit. Die wachsende Popularität seiner Person und der neuen Kaiserwürde gründete sich auf "die würdige, ruhige und respekteinflößende Art", mit der Wilhelm I. das neue Amt ausfüllte. 637 Trotz aller Schwierigkeiten der sogenannten inneren Reichsgründung wurde "der Kaiser" mehr und mehr zu 631 Meyer/Anschütz. Dt. StaatsR, S. 498 f., ähnlich Bomlulk. AöR 8 (1893), S. 440 f. 632 So Meyer/Anschütz. Dt. StaatsR, S. 498. 633 Fehrenbach. Wandlungen des Kaisergedankens, S. 79. 634 Zur Titeldiskussion vgl. Fehrenbach. Wandlungen des Kaisergedankens. S. 72 ff.; Bismarck. Gedanken und Erinnerungen, S. 380 ff. 635 Nach Meinung Bisrnarcks war Wilhelrn I. der "entschlossenste Partikularist unter den deutschen Fürsten", vgl. Bismarck. Gedanken und Erinnerungen, S. 431. 636 Fehrenbach. Wandlungen des Kaisergedankens. S. 80. 637 Th. Nipperdey. Dt. Geschichte 11, S. 259.
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einem nationalen Integrationssymbol638 - nicht zuletzt deshalb, weil er sich der Tagespolitik weitgehend enthielt und diese seinem Kanzler überließ. (2) Wandlung zum national-unitarischen Kaisertum Bismarck hatte entgegen seiner Betonung der föderalistisch-partikularistischen Begründung der Kaiserwürde schon von Anfang an deren unitarische Wirkung gesehen. ,,Ein werbendes Element für Einheit und Zentralisation,,639 sollte die neue Krone sein. Den dynamischen Charakter der neugeschaffenen Kaiserwürde, der Grundlage für einen Wandel des Kaisergedankens war640 , hatte er durchaus einkalkuliert. Obwohl es keine Veränderungen hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Bestimmungen über den Kaiser gab, war hier tatsächlich ein "stetiger Verfassungswandel" zu verzeichnen, der - zieht man die schon aufgezeigten Veränderungen in anderen Bereichen der föderalen Ordnung hinzu - "mit der inneren Logik der realen Entwicklung in Einklang" stand. 641 Verantwortlich hierfür waren drei miteinander verwobene Faktoren. Erstens: die allgemeine Unitarisierung der Verhältnisse im Reich mit der Herausbildung einer faktischen zentralen Reichsregierung. 642 Zweitens: der sich steigernde Nationalismus, der die großen politischen Themen der Zeit (Imperialismus, Flotte, Kolonien) bestimmte, welche sich natürlich auf nationaler Bühne abspielten. 643 Schließlich drittens: die Person Kaiser Wilhelms 11., der zum persönlichen Symbol dieser Politikbereiche wurde und dabei den Anspruch auf eigene politische Führerschaft erhob. Wilhelm 11., aufgrund seines Alters unbeeindruckt von der Reichsgründung und der ursprünglich föderalistischen Struktur von Kaiserwürde und Reich, verstand sich selbst als Reichsmonarch von Gottes Gnaden. 644 Durch sein sichtbares Hervortreten, insbesondere seine zahlreichen Reden und Reisen durch Deutschland, wurde er zum Symbol des Nationalstaates. Seine imperiale Rolle und sein Anspruch auf das "persönliche Regiment" entsprachen dem Begehren der Zeit des Nationalismus nach politischer Führerschaft und glanzvoller Repräsentation deutscher Macht. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des persönlichen Regiments im deutschen Konstitutionalismus bleibt umstritten. 645 Diese Selbstregierung Wilhelms 11. ist mittlerweile jedoch weitgehend als "bloße Fiktion" enttarnt worden. 646 Den638 639 640 641
642 643
644
Th. Nipperdey. Dt. Geschichte H, S. 259. Bismarck. Gedanken und Erinnerungen, S. 380. Fehrenbach, Wandlungen des Kaisergedankens, S. 225. Huber, Dt. VerfG III, S. 812. Siehe dazu unten C.H.3.b)bb)(3). Th. Nipperdey. Dt. Geschichte 11, S. 596. Fehrenbach. Wandlungen des Kaisergedankens, S. 89.
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noch blieben seine lautstarken politischen Stellungnahmen nicht ohne Wirkung647 und trugen vor allem zu einem Wandel des Kaiserverständnisses bei. 648 Dem kaiserlichen Regierungswillen entsprach es also durchaus, dass sich um den von ihm ernannten Reichskanzler eine faktische Reichsregierung herausgebildet hatte, die den Bundesrat in seiner politischen Bedeutung immer mehr zurücktreten ließ. Im Verhältnis zu den Fürsten der deutschen Gliedstaaten legte Wilhelm 11. ein imperiales Gehabe an den Tag. Dies zeigte sich etwa in Kraftworten, wie: "Nur einer ist Herr im Reich, keinen anderen dulde ich", oder durch unverhohlene Einmischung in gliedstaatliche Angelegenheiten. 649 Angesichts seiner Interventionen im Streit um die lippische Thronfolge650 hat man ihm geradezu ,,lehnsrechtliche Vorstellungen" bezüglich der Verhältnisse von Kaiser und Bundesfürsten attestiert. 651 Im Kreise der Bundesfürsten sehnte man sich daher nach dem bündisch-diplomatischen Stil vergangener Tage zurück: "Die Zeit ist eben vorbei, da die Bundesfürsten in Kaiser Wilhelm und im Fürsten Bismarck eine sichere und mächtige Gewähr hatten, daß ihre vertrags- und verfassungsmäßigen Rechte gegen Anzweifelungen und Angriffe gesichert seien", äußerte etwa 1892 der badische Gesandte und spätere Ministerpräsident Arthur v. Brauer. 652 Insgesamt lässt sich also eine deutliche Veränderung des Kaisertums im bismarckschen Bundesstaat ausmachen: Unter Wilhelm 11. entwickelt sich "aus dem Traditionsamt ein modern-cäsaristisches Imperialkaisertum,,653. Betrachtet man die Veränderungen strukturell, so wandelte sich das föderalistisch-partikularistisch begründete Kaisertum zu einer national-unitarischen Monarchie.654
645 Ablehnend etwa Huber, Dt. VerfG m, S. 814: ,,Es gab nach der Verfassung kein persönliches Regiment". Bejahend hingegen Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 128 f., der "ein verfassungsmäßig völlig korrektes persönliches Regiment" ausmacht, und zwar als Folge der Tatsache, dass "der deutsche Konstitutionalismus die Selbstregierung des Monarchen wo nicht fordert, so jedenfalls zuläßt". 646 Fehrenbach, Wandlungen des Kaisergedankens, S. 95; Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 129: " ... [kam] über sporadische und meist recht planlose Eingriffe in den ordentlichen Geschäftsgang [... ] nicht hinaus." 647 Vgl. Th. Nipperdey, Dt. Geschichte 11, S. 480 ff. 648 Fehrenbach, Wandlungen des Kaisergedankens, S. 98. 649 Vgl. Fehrenbach, Wandlungen des Kaisergedankens, S. 143 ff. 650 Vgl. dazu Huber, Dt. VerfG IV, S. 433 ff. 651 Fehrenbach, Wandlungen des Kaisergedankens, S. 154. 652 Zitiert nach Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 130 Fn. 34. 653 Th. Nipperdey, Dt. Geschichte n, S. 259 f. 654 Vgl. dazu Fehrenbach, Wandlungen des Kaisergedankens, S. 98, 226.
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bb) Reichskanzler ( 1) Veifassungsrechtliche Stellung des Reichskanzlers
Der Reichskanzler wurde gem. Art. 15 RV vom Kaiser ernannt und entlassen. Bundesrat und Reichstag hatten an dieser Personalentscheidung verfassungsrechtlich keinen Anteil. Die Verfassung gab dem Reichskanzler zwei Aufgaben: Zum einen war er der Vorsitzende des Bundesrates und oblag ihm dessen Geschäftsführung (Art. 15 RV), zum anderen hatte er die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers gegenzuzeichnen und dadurch die Verantwortung zu übernehmen (Art. 17 RV). Diese Verantwortung war rechtlich nicht näher bestimmt, wurde in der Praxis aber vornehmlich gegenüber dem Reichstag wahrgenommen. (2) Veifassungspolitische Dimensionen des Kanzleramtes im Zusammenhang mit der föderalen Struktur des Reiches
In den spärlichen Verfassungsbestimmungen spiegelte sich die Bedeutung, die das Amt des Kanzlers im Laufe der Zeit gewann, nicht wider. Mit Blick auf die bundesstaatliehe Ordnung enthielt das Amt drei verschiedene verfassungspolitische Dimensionen. Das Kanzleramt besaß einen föderalen Charakter. Vorsitz und Geschäftsführung des Bundesrates entsprachen Bismarcks anfänglicher Konzeption, wonach der Kanzler lediglich ein besserer preußischer Präsidialgesandter beim Bundesrat sein sollte. Diese Konstellation prägte noch den ganzen Verfassungstext, in dem nämlich der Kanzler ansonsten hinsichtlich der Reichsverwaltung völlig unerwähnt blieb. Nach der Aufwertung des Kanzleramtes im Zuge der Verfassungsberatungen vertrat Bismarck die Ansicht, dass sein Inhaber quasi ein Beamter sämtlicher deutscher Bundesfürsten sei. 655 Dem entsprach es, dass Bismarck insbesondere in Bezug auf den Reichstag den Kanzler lediglich als Teil des Bundesrates wähnte, der nur durch seine Bundesratsmitgliedschaft befugt sei, vor dem Parlament aufzutreten. 656 Das Amt des Kanzlers war auch stark preußisch-hegemonial geprägt. Der Kanzler war zwar Vorsitzender des Bundesrates, wurde aber vom Kaiser und dies war der preußische König - ernannt. Durch die Funktion als kaiserlicher Minister, die dem Kanzler im Zuge der Verfassungs beratungen zuVgl. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 50. Deutlich etwa in seinem Erlass an die preußischen Bundesratsbevollmächtigten v. 27.1.1885; bei Huber, Dokumente 11, NT. 269; vgl. auch die Nachweise bei Binder, Reich und Einzelstaaten, S. 148. 655
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gewachsen war, kam für dieses Amt allein der Inhaber eines politischen Führungsamtes in Betracht. Der Kanzler war daher regelmäßig zugleich preußischer Ministerpräsident657 , wodurch Preußen und das Reich besonders eng miteinander verknüpft wurden. Schließlich führte der Kanzler auch die zwischen den beiden Reichsorganen Bundesrat und Kaiser aufgeteilten Machtbefugnisse zusammen, da er einerseits die Geschäfte des föderalen Reichsorgan führte und andererseits Reichsminister des Kaisers war. Das Kanzleramt besaß schließlich eine unitarische Entwicklungsmöglichkeit. Indem beim Reichskanzler die politischen Fäden des Reiches zusammenliefen, konnte er zum "Kristallisationskern" einer zentralen Behördenorganisation werden. 658 Durch seine verfassungsmäßige Verantwortlichkeit mochte diese auch rechtlich nicht näher bestimmt sein - rückte er überdies nolens volens in die Rolle des Gegenpols. des Reichstags. Durch die sich wechselseitig bedingende Bedeutungssteigerung von Reichsadministration und Reichspolitik konnte der Kanzler als bürokratische wie politisch verantwortliche Spitze sein Eigengewicht gegenüber seinen föderativ-kollegialen Wurzeln im Bundesrat wie seiner preußisch-hegemonialen Basis stärken. (3) Die Verfassungsentwicklung hin zu einer Reichsregierung (a) Die ressortmäßige Ausbildung der Reichsämter
War anfänglich allein das Bundes-, später Reichskanzleramt als Behörde des Reiches gedacht, so begann doch bald die ressortartige Entwicklung oberster Bundes- bzw. Reichsbehörden. 659 Der Anfang erfolgte noch 1870 mit der Umwandlung des einstigen preußischen Außenministeriums in das Auswärtige Amt des Norddeutschen Bundes. Auch in der Folgezeit wurden entweder Gliederungen der preußischen Verwaltung, die kommissarisch Reichsaufgaben wahrgenommen hatten, umgewandelt oder bereits bestehende Fachabteilungen des Kanzleramtes organisatorisch verselbständigt. 660 So wurden für folgende Bereiche Reichsämter gebildet: Marine (1872/1889), Eisenbahnaufsicht (1873), Post (1876/80), Justiz (1877), Reichseisenbahnenverwaltung (1879), Finanzen (1879), Inneres (1879) und Kolonien (1907). In der Kriegszeit kamen noch die Bereiche Ernährung 657
Vgl. dazu und zu den drei kurzzeitigen Ausnahmen Huber, Ot. VerfG III,
S.826.
Meissner, Bundesrat-Bundeskanzler-Bundeskanzleramt, S. 77. Zur Arbeit des Bundeskanzleramtes vgl. Meissner, Bundesrat-BundeskanzlerBundeskanzleramt, S. 78 ff. 660 Vgl. zum Folgenden Morsey, Oie oberste Reichsverwaltung, S. 104 ff.; ders., OVBl. 1971,9 ff.; ders., in: Ot. VerwG III, S. 140 ff., 147 ff.; Huber, Ot. VerfG III, S. 833 ff. 658
659
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(1916), Wirtschaft (1917) und Arbeitsverwaltung (1918) hinzu. Insgesamt entwickelte sich also aus dem Reichskanzleramt eine ressortmäßige Gliederung der obersten Reichsverwaltung. Ihre Vorstände führten den Titel eines Präsidenten oder Staatssekretärs und blieben der Verantwortung des Reichskanzlers untergeordnet. Eine verfassungsmäßige Aufwertung erfolgte aber 1878 mit dem Stellvertretungsgesetz. (ß) Die Einführung der Stellvertretung des Reichskanzlers
Zur Entlastung des Reichskanzlers wurde 1878 per Gesetz die Möglichkeit geschaffen, die Gegenzeichnung kaiserlicher Akte gern. Art. 17 RV auf Stellvertreter zu übertragen. 661 Die Stellvertretung konnte entweder generell in Form einer Vizekanzlerschaft erfolgen oder den Vorständen der Reichsämter für ihren Geschäftsbereich übertragen werden. Sah das Gesetz zwar einige Kautelen für diese Stellvertretung vor, etwa die Beschränkung auf Fälle der Behinderung des Reichskanzlers oder dessen besonderen Antrag dafür, so wurden doch in der Praxis regelmäßig alle Staatssekretäre der Reichsämter zu Stellvertretern berufen. Sie trugen zwar nicht den Titel eines Ministers, und dem Reichskanzler war auch jetzt vorbehalten, jede Amtshandlung selbst vorzunehmen, aber letztlich gewannen die Staatsekretäre gegenüber Öffentlichkeit und Parlament die Stellung von verantwortlichen Ressortrninistern. 662 Dieser Umstand trat vor allem mit dem fortschreitenden Wandel des Selbstverständnisses des Kanzlers und seiner obersten Reichsbehörden sowie ihres Verhältnisses zum Bundesrat immer deutlicher zu Tage. (y) Quantitative und qualitative Gewinne der Reichsregierung
Die aufgezeigten Veränderungen hinsichtlich der Organisation der obersten Reichsbehörden sind nicht zuletzt Folgen der quantitativen Entwicklung der Reichsadministration. Aus den bescheidenen Anfangen des Bundeskanzleramtes hatte sich ein vieltausendköpfiger Beamten-Apparat entwickelt, der über ein beträchtliches Budget verfügte. 663 Mochten Reichsämter wie Stellvertretung isoliert gesehen bloße Folgen des quantitativen Zuwachses der Reichsadministration sein und an sich die föderale Gewichtsverteilung unbeeinträchtigt lassen 664 , so trug doch gerade diese Aus661 RGBl. 1878, S. 7; bei Huber, Dokumente ll, Nr. 266; zur Entstehung ausführlich Binder, Reich und Einzelstaaten, S. 71 ff. 662 So schon RosenthaI, Die Reichsregierung, S. 42, 62; Zorn, Dt. StaatsR I, S. 260, behandelte die Sache unter dem Titel "Stellvertretungsämter (Reichsministerien)". 663 Siehe dazu oben C.ll.2.c)cc)(7).
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weitung der Reichsverwaltung insgesamt zur Steigerung des politischen Eigengewichts der Reichsregierung bei und hatte daher zweifellos eine unitarisierende Wirkung. 665 Hinzu kam, dass die Zweige der reichseigenen Verwaltung an politischer Bedeutung gewannen. Während in den GründeIjahren unter Bismarck eher innenpolitische Themen auf der Tagesordnung standen und diese vornehmlich - sieht man von der Rechtsvereinheitlichung ab - Sache der Gliedstaaten waren, änderte sich dies gegen Ende des Jahrhunderts. Die Kolonialpolitik, der Flottenbau, die allgemeine Aufrüstung im Zuge des Weltmachtstrebens fielen als Außen- und Militärpolitik vor allem in die Zuständigkeit des Reiches. Die Sozialpolitik gewann an Bedeutung und wurde mehr und mehr vom Reich geregelt. Diese Veränderungen der politischen Agenda, befördert vom Kaiser und vollzogen unter großer öffentlicher Anteilnahme, rückten die Personen wie die Politik der Reichsregierung in die Mitte des öffentlichen Interesses und trugen zu deren Bedeutungszuwachs erheblich bei. 666 (ö) Der Wandel im Selbstverständnis der Reichsregierung und
seine Auswirkung auf die föderale Ordnung
Die aufgezeigten organisatorischen Entwicklungen hatten sich teilweise bereits unter Bismarck vollzogen. Auch der politische Gewichtsverlust des Bundesrates durch die Gesetzentwürfe der Reichsämter, die Präsidialanträge, die Verreichung und Verbeamtung des Bundesrates, dies waren allesamt Erscheinungen, die noch unter der Regierungszeit des ersten Kanzlers erfolgten. Aber dort fand die Reichspolitik noch immer in einem föderativdiplomatischen Stil statt. Die Mittelstaaten blieben Bismarcks wichtigste politische Partner, innerhalb wie außerhalb des Bundesrates. Die faktische Reichsregierung trat nur im Gewande der preußischen Bundesratsbevollmächtigten auf und hatte ihre feste Basis in der Hegemonialmacht und im preußischen Staatsministerium, dem Bismarck zugleich vorstand. Das sichtbare Hervortreten einer eigenständigen Reichsregierung unterband Bismarck, ja er verbot, im amtlichen Verkehr von einer "Reichsregierung" überhaupt zu sprechen. 667 Immer wieder zog er die Reichsregierung hinter und in den Bundesrat zurück und betonte das Regiment der verbündeten Regierungen durch den Bundesrat. 668 Den Chefs der Reichsämter unterSo Binder, Reich und Einzelstaaten, S. 110. Morsey, Die oberste Reichsverwaltung, S. 310. 666 Vgl. Th. Nipperdey, Dt. Geschichte 11, S. 488. 667 ,,Den Ausdruck Reichsregierung in seiner Anwendung auf kaiserliche Exekutiv-Behörden möchte ich als nicht korrekt in amtlichen Aktenstücken verschwinden sehen. Die Reichsregierung begreift notwendig den Bundesrat resp. sein Vollmachtgeber in sich", Bismarck, zitiert nach Rosenthai, Die Reichsregierung, S. 76. 664
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sagte er den unmittelbaren Verkehr mit dem Parlament und Auftritte als Quasi-Minister im Reichstag. 669 Zugleich suchte er jede Verselbständigung gegenüber dem preußischen Staatsministerium zu unterbinden 67o : Statt direkter Kontakte zwischen Reichsämtern und Ministerien liefen stattdessen alle Beziehungen in seiner Person zusammen. 671 Die Verfassungsmäßigkeit der Präsidialvorlagen zog er trotz gegenteiliger Praxis oftmals in Zweifel 672 , und ab 1884 ging er dazu über, auch preußische Staatsminister als Bevollmächtigte in den Bundesrat zu berufen. 673 Mit dem Ausscheiden Bismarcks setzte ein Wandel im Selbstverständnis der Reichskanzler und der obersten Reichsverwaltung ein. 674 Gestützt auf den Anspruch Kaiser Wilhelms H. auf ein persönliches Regiment in der Reichspolitik wurde nun eine eigene Regierungs- und Exekutivgewalt des Reiches, getragen von Kaiser und Reichskanzler, offen eingeräumt. 675 Auch der Einfluss der Reichsregierung auf die Gesetzgebung wurde nicht mehr geleugnet. Rechtlich wurde die Praxis der Präsidialvorlagen für verfassungsmäßig erklärt, politisch wurden - besonders nach der Jahrhundertwende - die direkten Verbindungen zum Reichstag ausgeweitet, etwa durch die Kontakte mit nahestehenden Fraktionen vor Gesetzgebungsprojekten oder die regelmäßigen Auftritte der Chefs der Reichsämter vor dem Parlament. 676 Zugleich erfolgte eine Lockerung der preußisch-hegemonialen Anbindung der Reichsregierung. Leo v. Caprivi, der Nachfolger Bismarcks als Reichskanzler, hatte auf die Personalunion mit der preußischen Ministerpräsidentschaft verzichtet und sich vom Reichsjustizamt gutachterlich bestätigen lassen, dass er "eine eigene Reichspolitik [vertritt], die mit der preußischen Politik nicht notwendig zusammenfallt".677 Auch wenn später diese 668 Vgl. die Erklärung des Bundesrates gegen verantwortliche Reichsministerien v.5.4.1884: "Die Einrichtung verantwortlicher Reichsministerien im Deutschen Reich ist nicht anders möglich als auf Kosten der Summe von vertragsmäßigen Rechten, welche die verbündeten Regierungen gegenwärtig im Bundesrat üben", abgedruckt in AnnDR 1886, 351 f.; vgl. zum Ganzen Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 75 ff. sowie Binder, Reich und Einzelstaaten, S. 146 ff. 669 Vgl. den Erlass an die preußischen Bundesratsbevollmächtigten v. 27.1.1885; bei Huber, Dokumente 11, Nr. 269. 670 Vgl. Morsey, Die oberste Reichsverwaltung, S. 314 f. 671 Vgl. das Protokoll über die Konferenz der Chefs der obersten Reichsämter v. 9.4.1879; bei Huber, Dokumente 11, Nr. 268. 672 Vgl. Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 77; Morsey, Die oberste Reichsverwaltung, S. 310 f. 673 Vgl. Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S 82. 674 Vgl. Morsey, DVBI. 1971,9 ff. 675 Vgl. das Gutachten des Reichsjustizamtes bezgl. der Zulässigkeit von Präsidialvorlagen aus dem Jahr 1892; bei Huber, Dokumente 11, Nr. 270. 676 Morsey, DVBl. 1971, 11, 12. Zu diesem Vorgang der "stillen Parlamentarisierung" siehe Rauh, Die Parlamentarisierung, S. 36 f.
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Personalunion wiederhergestellt worden ist, ging doch mit der schärferen Ausbildung einer Reichsregierung und ihrer Orientierung zum Reichstag sowie der allgemeinen Zunahme des politischen Gewichts der Reichsangelegenheiten ein Bedeutungsverlust der preußischen Politik und des preußischen Einflusses auf die Reichspolitik einher678 : "Die Personalunionen von Reichsleitung und preußischem Ministerium hatten einst die preußische Führung im Reich sichern sollen, jetzt führten sie aber immer häufiger zu einer Unterordnung der preußischen Politik unter die Reichspolitik. ,,679 Diese Entwicklung, verschärft durch unterschiedliche politische Mehrheitsverhältnisse in Landtag und Reichstag, gipfelte schließlich im Vorwurf einer "Staatssekretarisierung" Preußens, d.h. der Unterordnung der preußischen Politik unter die Interessen des Reiches eben durch den Einfluss der zu preußischen Staatsministern berufenen Reichsstaatssekretäre. 68o Diese ganze Entwicklung der . schärferen Konturierung der politischen Führung des Reiches, ihr Gewinn an politischem Eigengewicht und der Prozess der Verselbständigung gegenüber Bundesrat und preußischer Hegemonie schlug sich auch im Sprachgebrauch nieder. Statt der föderalen Phrase von den "verbündeten Regierungen,,681 setzten sich im Allgemeinen die Bezeichnungen "Reichsleitung" oder "Reichsregierung" für Kanzler und Staatssekretäre durch682 und fanden schließlich sogar Eingang in den amtlichen Wortschatz. 683
Vgl. Gutachten des Reichsjustizamtes; bei Huber, Dokumente 11, Nr. 270. Vgl. Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 249. 679 Th. Nipperdey, Dt. Geschichte II, S. 488. 680 Vgl. Rauh, Die Parlamentarisierung, S. 43 ff., 52 ff.; Croon, Die Anfänge der Parlamentarisierung im Reich und die Auswirkungen auf Preußen, S. 105 ff., 124 f. 681 Die Bemerkung des Zentrums-Abgeordneten Ludwig Windthorst: "Wir haben eigentlich nur verbündete Regierungen, von einer Reichsregierung kann man nicht reden" hatte schon 1879 im Reichstag für Heiterkeit gesorgt, vgl. Morsey, Die oberste Reichsverwaltung, S. 300 Fn. 75. 682 Rosenthai, Die Reichsregierung, S. 74 ff.; Rauh, Die Parlamentarisierung, S. 29 f. 683 Vgl. etwa den Staatssekretär des Innern Clemens v. Delbrück 1913 im Reichstag mit der zutreffenden Analyse: "Diese Reichsregierung mußte entstehen in dem Augenblick, wo durch das Stellvertretungsgesetz dem Reichskanzler ständige Stellvertreter mit Ministerverantwortung zur Seite gestellt wurden", RT-Verh. 1913, S. 3021 (D). 677 678
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C. Das Bismarck-Reich als Bundesstaat c) Reichstag
aa) Verfassungsrechtliche Stellung im Bundesstaat Der Reichstag war das Reichsorgan, in dem der national-unitarische und -demokratische Gedanke seine Verwirklichung fand. Hervorgegangen aus allgemeinen, direkten und geheimen Wahlen (Art. 20 RV), repräsentierte der Reichstag das ganze deutsche Volk, die Nation. 684 Er war Volks- nicht Völkervertretung. Nicht die Gliedstaaten und ihre Völker, sondern Deutschland als Ganzes war dort vertreten. Damit stand er ganz im Gegensatz zum Bundesrat mit seinem dynastisch-föderalen Organisationsprinzip. Im Verfassungstext kam der national-unitarische Charakter des Reichstages in Art. 29 RV zum Ausdruck, wonach die Abgeordneten "Vertreter des gesamten Volkes" sein sollten. Im Wahlrecht schlug sich dieser Gedanke dahingehend nieder, dass für die Wahlberechtigung lediglich an die deutsche Reichszugehörigkeit angeknüpft wurde. So war etwa ein Sachse auch in Preußen zum Reichstag wahlberechtigt. 685 Der Reichstag war von seinen Funktionen her eine Volksvertretung im Sinne des Konstitutionalismus. 686 Nach dem Bauplan der Verfassung wirkte das Parlament gegenüber den verbündeten Regierungen als den Trägem der Staatsgewalt als ein beschränkendes Element, dessen Mitwirkung bei der Ausübung bestimmter Funktionen nötig war. Dazu zählte vor allem die Gesetzgebung und die Budgetfeststellung. Schließlich oblag dem Parlament auch die allgemeine Kontrolle der Verwaltung. bb) Föderale Aspekte des national-unitarischen Reichsorgans Trotz des unitarischen Charakters des Reichstages strahlte die bundesstaatliche Ordnung des Reiches in verschiedener Weise auf ihn aus. 687 ( 1) Reservatrechteklausel
Art. 28 Abs. 2 RV bestimmte, dass bei Abstimmungen im Reichstag über Angelegenheiten, die nicht alle Gliedstaaten betrafen, "die Stimmen nur 684 Vgl. Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 473; Laband, StaatsR I, S. 294 f.; Zorn, Dt. StaatsR I, S. 213 ff.; allerdings blieb das Wahlrecht noch auf Männer beschränkt. 685 Vgl. § 1 WahlG, BGBl. 1869, S. 145; vgl. auch Laband, StaatsR I, S. 295. 686 Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 478, 501 ff.; vgl. auch Mußgnug, in: Dt. VerwG III, S. 109 ff. 687 Zu kurz wohl Huber, Dt. VerfG III, S. 880, der von einem "Verzicht auf alle föderativen Momente in seiner Wahl, Zusammensetzung und Funktion" spricht.
11. Verfassungsrecht und Verfassungsentwicklung
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derjenigen Mitglieder gezählt [werden], die in Bundesstaaten gewählt sind, welchen die Angelegenheiten gemeinschaftlich ist". Diese Norm entsprach der Bestimmung des Art. 7 Abs. 4 RV für den Bundesrat und bezog sich auf die Reservatrechte einzelner Bundesstaaten. 688 Mit dem national-unitarischen Charakter des Reichstages stand diese Bestimmung zweifellos in Widerspruch, da sie ein der bündischen Form der Reichsgründung geschuldetes Überbleibsel des Partikularismus war. 689 So wie das Reich schnell an Festigkeit gewann und die Reservatrechte zunehmend ihre Bedeutung verloren, wurde dieser Widerspruch beseitigt und Art. 29 Abs. 2 RV schon 1873 gestrichen.
(2) Bundesstaat und Wahlrecht Die Reichstagsabgeordneten wurden in absoluter Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen bestimmt. Auf 100.000 Einwohner sollte ein Mandat kommen. Weil die Mandatsverteilung jeweils für die Gliedstaaten erfolgte, bildete aber auch der kleinste Gliedstaat zumindest einen Wahlkreis. Diese Orientierung an den Landesgrenzen bevorzugte schon von Beginn an die Kleinstaaten mit ihren deutlich unterdurchschnittlich großen Wahlkreisen. Diese Situation verschärfte sich noch, weil die Einteilung von 1869 unverändert blieb, obwohl es zu beträchtlichen Zuwächsen und Veränderungen der Bevölkerungsverteilung kam. Nicht nur der Grundsatz der Gleichheit der Wahl wurde dadurch zunehmend verletzt690 , sondern es wurde zugleich auch die föderale Disproportionalität verstärkt, nämlich zu Gunsten der ländlichen Kleinstaaten und zu Lasten der Gliedstaaten mit den schnell wachsenden Ballungsgebieten, etwa den Hansestädten.
(3) Bundesstaat und Parteiensystem Aus dem Wahlsystem folgte an sich eine enge regionale Anbindung des einzelnen Abgeordneten. Damit hätte auch eine Partei bildung auf territorialer Basis nahegelegen. Tatsächlich bestand jedoch fast von Beginn des Reiches an ein nationales Fünf-Parteien-System aus Sozialisten, Links- und Nationalliberalen, politischem Katholizismus (Zentrum) und Konservativen. 691 Die Herausbildung eines Parteiensystems wurde im 19. Jahrhundert vor allem durch Ideen und Programme geprägt, und dies beförderte schnell eine übergreifende, nationale Ausbreitung. 692 Zu den Reservatrechten siehe oben C.II.l.d)bb)(2)(y). So schon die zeitgenössische Staatsrechtslehre, vgl. Laband, StaatsR I, S. 294; Zorn, Dt. StaatsR I, S. 214. 690 Vgl. Huber, Dt. VerfG III, S. 874 f. 691 Lösche, Kleine Geschichte der politischen Parteien, S. 27. 688 689
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C. Das Bismarck-Reich als Bundesstaat
Die unterschiedlichen Einstellungen der Parteien zur bundes staatlichen Ordnung des Reiches werden schon bei überblicksartiger Betrachtung deutlich: 693 Auf dem konservativen Flügel des Parteienspektrums, der stets von den überkommenen preußischen Eliten dominiert wurde, war die Haltung zur bundesstaatlichen Ordnung vielschichtig. Hier bestanden einerseits preußisch-partikularistische Strömungen. Sie waren anfänglich dynastisch-legitimistisch inspiriert und lehnten alles nationale als revolutionär ab. 694 Später waren sie interessenbestimmt. Die konservativen Kreise, die in Preußen dank des Klassenwahlrechts politisch dominierten, suchten ihren Einfluss gegenüber der mehr und mehr vom Reichstag geprägten Reichspolitik durch eine Betonung der Länderrechte zu behaupten. Andererseits hatten die sogenannten Freikonservativen Bismarcks Einigungspolitik unterstützt695 , und später bestand eine national-borussische Richtung im konservativen Lager, die - wie der Alldeutsche Verband - imperialistisch-nationalistischen Ideen anhing und insoweit nur wenig für die bundesstaatliche Ordnung übrig hatte 696 . Die Nationalliberalen waren die "Reichsgründungspartei". Sie erstrebten "die Kräftigung des Reiches und die Förderung der gemeinsamen Angelegenheiten des Deutschen Volkes auf dem bundesstaatlichen Boden der Reichsverfassung".697 Sie verfochten eine nationalunitarische Richtung und waren insoweit am ehesten die Verfassungspartei des Bismarck-Reiches. Dies galt hinsichtlich der bundesstaatlichen Ordnung wohl auch für die Linksliberalen, auch wenn diese eher einem parlamentarischen Bundesstaat anhingen. 698 Dagegen war das Zentrum die am stärksten föderalistische Partei. Bereits seine konfessionelle Prägung, die ursprüngTh. Nipperdey, Die Organisation der dt. Parteien, S. 393. Vgl. zum Folgenden insgesamt Huber, Dt. VerfG IV, §§ 2 ff.; Lösche, Kleine Geschichte der politischen Parteien, S. 40 ff.; Hofmann, Geschichte der dt. Parteien, S. 26 ff.; Ritter, Die dt. Parteien vor 1918, 1973; Th. Nipperdey, Dt. Geschichte 11, S. 311 ff., 514 ff. 694 Vgl. Huber, Dt. VerfG IV, S. 25 f.; 35 ff. 695 Vgl. das Programm der Reichs- und freikonservativen Partei v. 1876: ,,[ ... ] Stärkung der Zentralgewalt des Reiches und ihrer monarchischen Spitze bei voller Achtung der vertragsmäßigen Rechte der Einzelstaaten [... ]", bei Mommsen, Parteiprogramme, S. 69. 696 Vgl. das Programm des Alldeutschen Verbandes v. 1891: "In die Mitte von Europa gestellt und an seinen Grenzen bedroht von fremden und feindlichen Nationalitäten, bedarf das deutsche Volk mehr als andere Völker der vollen und einheitlichen Zusammenfassung seiner Kräfte, um seine Unabhängigkeit nach außen und die Entfaltung seiner Eigenart im Innern zu sichern.", bei Mommsen, Parteiprogramm, S.89. 697 Heidelberger Erklärung der Nationalliberalen v. 1884; bei Mommsen, Parteiprogramme, S. 159. 698 Vgl. das Einigungsprogramm der Fortschrittlichen Volkspartei v. 1910: "Die Partei tritt ein für Schutz und Stärkung des Reiches und die Aufrechterhaltung der bundesstaatlichen Ordnung.", bei Mommsen, Parteiprogramme, S. 173. 692
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lich großdeutsche Ausrichtung des politischen Katholizismus, ließ es in Gegensatz zum "protestantischen Kaisertum" und Preußen geraten. So versuchte es, das Gewicht der katholischen Kräfte im Reich, insbesondere die süddeutschen Gliedstaaten, zu stärken. Überdies bot sich für das Zentrum im Subsidiaritätsgedanken auch eine inhaltliche Legitimation der bundesstaatlichen Ordnung. "Der Grundcharakter des Reiches als eines Bundesstaates soll gewahrt, dem gemäß den Bestrebungen, welche auf eine Änderung des föderativen Charakters der Reichsverfassung abzielen, entgegengewirkt, und von der Selbstbestimmung und Selbständigkeit der einzelnen Staaten in allen inneren Angelegenheiten nicht mehr geopfert werden, als die Interessen des Ganzen es unabweislich fordern", formulierte die Partei schon 1871. 699 So engagierte sich das Zentrum wiederholt für die Wahrung der Kompetenzen der Gliedstaaten und gegen Unitarisierungstendenzen, etwa bei der Finanzreform, wo es die sogenannte Franckenstein'sche Formel durchsetzte. Ihm schlossen sich angesichts seiner betont föderalistischen Haltung auch vereinzelt gleichgesinnte Protestanten an. 7OO Die Sozialdemokratie hatte aufgrund ihrer revolutionär-demokratischen Programmatik keinerlei Bezug zu den dynastisch geprägten Bundesstaaten. 701 Lange Zeit beteiligte sie sich nicht einmal an Landtagswahlen. Sie war die Partei mit der konsequentesten national-unitarischen Ausrichtung, ihr Ideal war der republikanische Einheitsstaat auf nationaldemokratischer Grundlage. 702 Jenseits dieses ideologisch bestimmten Fünf-Parteien-Schemas existierten einzelne, kleine Regionalparteien, z. B. für die nationalen Minderheiten von Dänen und Polen. Deren Aktivitäten erstreckten sich aber ebenso wie jene der hannoverschen Welfen nur auf eine Region und nicht auf einen ganzen Gliedstaat, so dass sie nicht den Charakter von föderalen "Staatsparteien" hatten. 703 Der föderale Staatsaufbau prägte allerdings nahezu alle Parteien. 699 Programm der Zentrumsfraktion des dt. Reichstages v. 1871, bei Mommsen, Partei programme, S. 222. 700 Einige welfische Abgeordnete hospitierten bei der Reichstagsfraktion des Zentrums. 701 Mangels deutlicher Stellungnahmen seit der Reichsgründung siehe die Aussagen ihrer Vorläufer: Die sächsische Volkspartei (Bebel-Liebknecht) wandte sich 1866 gegen "dynastisch-partikularistische Bestrebungen" und forderte die "Einigung Deutschlands in einer demokratischen Staatsform". Der Allgemeine deutsche Arbeiterverein (Lasalle) bekämpfte 1867 ,,[ ... ] jede bundesstaatliehe Gestaltung; er will das ganze Deutschland zu einem einheitlichen und freiwilligen Volks staate verbunden wissen.", bei Mommsen, Parteiprogramme, S. 307, 308. 702 Vgl. Friedrich Engels Kritik des sozialdemokratischen Programmentwurfs v. 1891: ,,Einerseits muß die Kleinstaaterei beseitigt werden [... ]. Andererseits muß Preußen aufhören zu existieren [... ]. Nach meiner Ansicht kann das Proletariat nur die Form der einen und unteilbaren Republik gebrauchen.", bei Mommsen, Parteiprogramme, S. 347. 703 Vgl. Lösche, Kleine Geschichte der politischen Parteien, S. 63 f.
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c. Das Bismarck-Reich als Bundesstaat
Zentrale Partei strukturen entstanden erst durch das Zusammenkommen regionaler Parteigruppen, die gewisse organisatorische Eigenständigkeiten zu behaupten wussten, wie etwa die bayerische Patriotenpartei innerhalb des Zentrums. Schließlich hatten die Parteien vielfach regionale Hochburgen und waren bei Wahlen noch keineswegs reichsweit mit Kandidaten präsent. 704 Auch die Eigenarten der föderalen Verfassungsentwicklung wirkten sich politisch aus. In Süddeutschland existierte etwa ein mehr demokratisch-parlamentarisch geprägter Liberalismus. Außerdem war der revisionistische F1ügel der Sozialdemokratie in Ländern mit gleichem Wahlrecht stärker. Dagegen dominierte in Preußen oder Sachsen bei Drei-KlassenWahlrecht und fehlenden parlamentarischen Beteiligungsmöglichkeiten der verbalradikale Flüge1. 705 Insgesamt unterlagen die Parteien trotz ihrer grundsätzlich weltanschaulich bestimmten Programmatik allesamt regionalen Prägungen. 706
(4) Föderale Aspekte der Zusammensetzung und Arbeit des Reichstages Die Unterschiede der verfassungsrechtlichen Verhältnisse in den Gliedstaaten hatten nicht nur Auswirkungen auf die inneren Verhältnisse der Parteiströmungen, sondern beeinflussten auch unmittelbar das Reichsparlament. Dies galt zum einen für die Wahl des Reichstages. Zwar bestand dafür ein einheitliches Wahlrecht, doch waren die Voraussetzungen für die Wahrnehmung dieses Rechts in den Gliedstaaten ganz unterschiedlich geprägt, entsprechend der jeweiligen dortigen Verfassungsentwicklung. Während manche Länder noch durch politische Repression und den Ausschluss weiter Volkskreise vom politischen Leben gekennzeichnet waren, war andernorts die Liberalisierung des Presse- und Vereinswesens sowie die Ausdehnung des Wahlrechts schon weit vorangeschritten. Die unterschiedlichen politischen Partizipationsmöglichkeiten und -erfahrungen wirkten sich in den ersten Jahren des Reiches - etwa in Form der Wahlbeteiligung - deutlich aus und trugen Landesunterschiede "in den Reichstag hinein,,707. Die zweite Seite des Einflusses der föderalen Verhältnisse auf den Reichstag rührt ebenfalls von den Unterschieden der Verfassungszustände her. Die Diskrepanz zwischen den Mitwirkungsrechten im Reich und in 704 Vgl. Th. Nipperdey, Die Organisation der dt. Parteien, S. 393; Lösche, Kleine Geschichte der politischen Parteien, S. 27. 705 Lösche, Kleine Geschichte der politischen Parteien, S. 27, 44. Dies hatte etwa die (innerparteiliche) Spottbezeichnung "königlich bayerische Sozialdemokraten" zur Folge. 706 Th. Nipperdey, Dt. Geschichte H, S. 573 f. 707 Molt, Der Reichstag vor der improvisierten Revolution, S. 62.
11. VeIfassungsrecht und VeIfassungsentwicklung
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manchen Gliedstaaten wurde fühlbarer, die Kritik daran größer. Die preußische Wahlrechtsfrage und die Verfassungslage in Mecklenburg wurden Thema im Reichstag, weil zur Umgestaltung der Verhältnisse in den Staaten selbst die legitimen Mittel fehlten, ja das Wahlrecht kaum erlaubte, die Parlamente überhaupt zum Forum der verfassungspolitischen Auseinandersetzung zu machen. 7os Originäre Landesangelegenheiten mussten deshalb im Reichsparlament behandelt werden. Hier zeigt sich, dass nicht zuletzt die Repräsentativität des Reichstages dazu beitrug, dass er zum Zentrum der politischen Auseinandersetzung im Reich wurde. cc) Der Aufstieg des Reichstages im Zuge der allgemeinen Unitarisierung bis zu den Oktoberreformen 1918 Der Reichstag als national-unitarisches Organ musste von jeder Ausweitung der Tätigkeit des Reiches und der Steigerung seiner politischer Bedeutung profitieren. Die Ausdehnung der Reichgesetzgebung, das Anwachsen des Budgets und der Aufbau der Reichsverwaltung brachte für das Parlament - anders als für den Bundesrat - jeweils einen Zuwachs an originären Beschluss- und Kontrollrechten. Als öffentlich diskutierendes Parlament musste der Reichstag auch gegenüber dem hinter verschlossenen Türen beratenden Bundesrat in der politischen Öffentlichkeit mehr zur Geltung kommen. Schließlich kam hinzu, dass das Parlament in allgemeiner Wahl bestimmt wurde, während die Zusammensetzung des föderalen Organs dem politischen Einfluss wie der allgemeinen Wahrnehmung völlig entzogen war. Gegenüber den Landesparlamenten gewann der Reichstag durch die quantitative Zunahme der Reichspolitik sowie qualitativ im Zuge der nationalen Welle an Bedeutung. Bedeutungssteigernd wirkte sich auch seine Zusammensetzung aus. Durch sein Wahlrecht konnte der Reichstag im Gegensatz zu manchen Landtagen, die faktisch nur einzelne Stände repräsentierten, zur echten Volksvertretung, zum Forum der Nation werden. In der Vorkriegszeit entfaltete der Reichstag eine rege Tätigkeit mit Resolutionen und Interpellationen, Forderungen, Anregungen und Anfragen zu allen Bereichen der Gesetzgebung und Verwaltung,709 ein Vorgang, der den wachsenden Anspruch des Parlaments auf aktive politische Gestaltung gegenüber der Reichsregierung dokumentiert. Die Intensität der Haushaltsberatungen zwischen Parlament und Regierung veranschaulicht die Zahl der beteiligten Fachbeamten: 140 Experten der Reichsfmanzverwaltung - der Konstruktion der Verfassung gemäß als "Kommissare des Bundesrates" bezeichnet - wurden etwa 1909 hinzugezogen. Indem sich die Reichsregie708 709
Siehe zu Mecklenburg und Preußen oben C.I1.l.c)cc)(3). Vgl. Rauh. Die Parlamentarisierung, S. 26 f.
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C. Das Bismarck-Reich als Bundesstaat
rung aus ihrer föderalen Einbettung in den Bundesrat löste und die Kooperation mit dem Parlament intensivierte, stieg auch ihre Abhängigkeit vom Reichstag. Die alte These Bismarcks: "Die verbündeten Regierungen bleiben, der Reichstag wechselt,,710 stimmte immer weniger, wenn man für die Chiffre der verbündeten Regierungen nun die sich deutlicher konturierende Reichsregierung einsetzte. Zwar entschied immer noch allein der Kaiser über die Berufung des Reichskanzlers, aber Bestand und Erfolg einer Reichsregierung und einzelner Staatssekretäre hing doch auch von der gelungenen Kooperation mit dem Reichstag ab. 711 Der Sturz des Reichskanzlers Bernhard v. Bülow im Jahr 1909 war vor allem auf das parlamentarische Scheitern seiner Finanzpolitik zurückzuführen. 712 Diesem Wandel entsprach es, dass sich das Parlament mittels seiner Geschäftsordnung die Befugnis zulegte, dem Reichskanzler förmlich das Misstrauen auszusprechen713 - ein Vorgang allerdings noch ohne jede rechtlichen und politisch zwingenden Konsequenzen. Was als "stille Parlamentarisierung" begonnen hatte und durch den Krieg anfänglich gestoppt worden war, wurde im Angesicht der drohenden militärischen Niederlage und auch unter außenpolitischem Druck im Herbst 1918 in schnellen Schritten mit Verfassungsänderungen vollendet. 714 Indem der Reichskanzler vom Vertrauen des Reichstages abhängig gemacht wurde, erfolgte die Parlamentarisierung der Regierung. Der Reichskanzler und seine Stellvertreter wurden nunmehr auch rechtlich aus dem Bundesrat herausgelöst, indem sie ein eigenes Rederecht im Parlament erhielten sowie gegenüber dem Reichstag und dem Bundesrat verantwortlich wurden. Mit der Institutionalisierung der Reichsregierung und dem Aufstieg des Reichstages wurde der Bundesrat im Wesentlichen auf die Rolle einer zweiten Kammer reduziert, freilich mit der Besonderheit seiner Zusammensetzung und Kompetenzen. 4. Der Einfluss des Reiches auf die Gliedstaaten a) Überblick
Die Reichsverfassung traf nur wenige Bestimmungen, aus denen sich ein direkter Einfluss des Reiches auf die Gliedstaaten ergab. So fehlten etwa bundesstaatstypische Homogenitätsgebote für die Landesverfassungen715 GW 12, S. 204. V gl. Rauh, Die Parlamentarisierung, S. 33 f 712 Vgl. Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 340 f; Th. Nipperdey, Dt. Geschichte n, S. 493 f. 713 Vgl. Huber, Dt. VerfG m, S. 905 f 714 Vgl. Huber, Dt. VerfG V, S. 584 ff. 710 711
11. Verfassungsrecht und Verfassungsentwicklung
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ebenso wie Grundrechte, die auch für die Gliedstaaten hätten Bindungswirkung entfalten können. Ingerenzrechte des Reiches ergaben sich aber vor allem für den Bereich der Verwaltung aus Art. 7 Nr. 2 RV, wodurch ihm der Erlass allgemeiner Verwaltungsvorschriften für den Vollzug der Reichsgesetze durch die Behörden der Gliedstaaten möglich wurde. Darüber hinaus waren für die Bereiche des Zoll- und Steuerwesens, der Eisenbahnen und des Heeres, spezielle Kontroll-, Weisungs- bzw. Kommando- sowie Zustimmungsrechte unterschiedlichen Umfangs vorgesehen. Ein allgemeines Instrument des gesamtstaatlichen Einflusses auf die Gliedstaaten waren dagegen die Reichsaufsicht und die Reichsexekution. b) Reichsaufsicht
aa) Abhängige Reichsaufsicht In Art. 4 RV stellte die Verfassung nicht nur einen Katalog von Materien auf, für die das Reich die Gesetzgebung besaß, sondern dort war zugleich bestimmt, dass diese auch der "Beaufsichtigung seitens des Reiches" unterlagen. Die Kompetenzen des Reiches zur Gesetzgebung sollten sich daher grundsätzlich mit denen zur Aufsicht gegenständlich decken. 7!6 Mit Aufsicht war hierbei nicht eine Kontrolle der Materien selbst gemeint, sondern die Überwachung der Tätigkeit der Gliedstaaten in diesen Angelegenheiten. 7!7
Dort, wo das Reich seine Gesetzgebungskompetenz bereits genutzt hatte, lag eine sogenannte abhängige Reichsaufsicht vor. 718 Die Aufsicht war hier im Wesentlichen darauf gerichtet, dass die Reichsgesetze, die Verordnungen und Verwaltungsvorschriften des Reiches rechtmäßig angewandt wurden?!9 Insoweit war diese Aufsicht eine Rechtsaufsicht, Zweckmäßigkeitserwägungen und Ermessensentscheidungen konnte das Reich nicht kontrollieren. 72o Weil die zeitgenössische Staatsrechtslehre indes auch die Reichsverfassung selbst als Reichsgesetz ansah, blieb gleichwohl auch die Verfassung Maßstab für die abhängige Reichsaufsicht. 721 Dies galt jedoch nur, soweit die Verfassung selbst unmittelbar besondere Pflichten der Gliedstaaten statuSiehe dazu oben C.II.1.c )aa). Triepet. Reichsaufsicht, S. 355; Meyer/Anschütz. S. 938. 717 Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 938. 718 Diese Terminologie hat geprägt Triepet. Reichsaufsicht, S. 370; vgl. zur Begriffsbildung Dux. Bundesrat und Bundesaufsicht, S. 32 ff. 719 Meyer/Anschütz. Dt. StaatsR, S. 940 f. 720 Mußgnug. in: Dt. VeIWG III, S. 201. 721 Vgl. Triepet. Reichsaufsicht, S. 412 Fn. 2, 451; Meyer/Anschütz. Dt. StaatsR, S. 940 f. 715
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C. Das Bismarck-Reich als Bundesstaat
ierte722 , z. B. im Bereich der detaillierten Bestimmungen des Eisenbahnoder Militärwesens. Zuständig für die Reichsaufsicht waren der Kaiser und der Bundesrat. Das Aufsichtsverfahren lief in drei Phasen ab. 723 Der Kaiser war gern. Art. 17 RV für die allgemeine Überwachung der Ausführung der Reichsgesetze zuständig. Stellte er Mängel fest, so oblag ihm, durch Ermahnung oder Rüge auf Abhilfe zu drängen. Wurde einem Abhilfeverlangen des Kaisers nicht Folge geleistet und kam es zu Meinungsverschiedenheiten über die Sache, konnte gern. Art. 7 Nr. 3 RV der Bundesrat über das Vorliegen einer Rechtsverletzung letztverbindlich entscheiden. Verweigerte ein Gliedstaat auch jetzt die Abhilfe, stand das Instrument der Bundesexekution nach Art. 19 RV zur Verfügung, um den Gliedstaat zwangsweise zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten. Objekt der Aufsicht waren allein die Gliedstaaten. Sie bildeten gegenüber dem Reich mit allen ihren einzelnen Behörden "geschlossene Einheiten,,724. Das Reich konnte sich bei Kontrollrnaßnahmen oder Abhilfeverlangen allein an die oberste Landesbehörde, d. h. die Landesregierung, wenden. Ein direkter Durchgriff auf untergeordnete Landesbehörden war ihm grundsätzlich versagt. 725 In einigen Fällen wurden dem Reich allerdings durch Gesetz auch direkte Weisungs- oder Genehmigungsbefugnisse gegenüber untergeordneten Landesbehörden eingeräumt. 726 Bei der vielseitigen Ausgestaltung dieser Befugnisse kam es bisweilen zu Übergängen von der bloßen Aufsicht über die gliedstaatliche Verwaltung zu Formen eigener, unmittelbarer Reichsverwaltung. 727 bb) Selbständige Reichsaufsicht Die selbständige Aufsicht sollte sich auf all jene Gebiete erstrecken, auf denen das Reich noch nicht von seinem Recht zur Gesetzgebung Gebrauch gemacht hatte. Sie wurde in der Wissenschaft ganz überwiegend anerkannt. 728 Die Staatspraxis hier war jedoch uneinheitlich. Gegenüber Forderungen an das Reich, es möge gegen die repressive Politik der preußischen Vgl. Frowein, Selbständige Bundesaufsicht, S. 26. Vgl. Mußgnug, in: Dt. VerwG III, S. 200. 724 Haenel, Dt. StaatsR I, S. 306. 72S Triepel, Reichsaufsicht, S. 263 ff.; Meyer/Anschütz. Dt. StaatsR, S. 945; Laband, StaatsR 11, S. 209. 726 Beispiele bei Triepel. Reichsaufsicht, S. 298 ff. 727 Triepel, Reichsaufsicht, S. 312; siehe dazu auch oben C.II.2.c)cc)(2). 728 Triepel, Reichsaufsicht, S. 435 f.; Laband, StaatsR I, S. 109; Haenel, Dt. StaatsR I, S. 305 f.; Zorn, Dt. StaatsR I, S. 427; v. Seydel, Kommentar, S. 59; Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 939 f.; a.A. Damhitsch, Verfassung, S. 104 ff. 722
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11. Verfassungsrecht und Verfassungsentwicklung
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Behörden gegenüber der polnischen Minderheit einschreiten, leugnete die Reichsregierung die Möglichkeit einer selbständigen Aufsicht. 729 In anderen Fällen hingegen übte sie auch ohne vorherigen Gesetzeserlass Aufsichtsfunktionen regelmäßig aus. 730 Ähnlich zwiespältig stellte sich die Praxis hinsichtlich der Interventionen des Reiches in die Verfassungsangelegenheiten der Gliedstaaten dar. 731 Der Maßstab für die selbständige Aufsicht wurde anfänglich im jeweiligen Landesrecht gesehen. 732 Gegen Ende des Reiches konnte Triepel diese Ansicht jedoch widerlegen: Einerseits bestehe vielfach aus Sicht des Reiches kein Grund, warum es den Vollzug des Landesrechts überwachen sollte, andererseits könne die bloße Einhaltung von Partikularrecht allein den Interessen des Reiches nicht immer genügen?33 Die selbständige Aufsicht ziele daher vielmehr auf die "Erfüllung der Reichsverfassung selbst, genauer: auf die Erfüllung der verfassungsmäßigen Bundespflicht, die Interessen des Reiches oder andere von der Reichsverfassung anerkannte Gemeininteressen zu achten,,734. Der gemeinte Pflichtenkreis deckte sich dabei weitgehend mit dem, was auch als Bundestreue bezeichnet wurde. 735 Während die abhängige Aufsicht über den Gesetzesvollzug also lediglich über die Beachtung der speziellen verfassungsrechtlichen Pflichten wachte, richtete sich die selbständige Aufsicht auf die allgemeinen, nicht näher spezifizierten, im Wesentlichen ungeschriebenen Bundespflichten der Gliedstaaten. 736 Obwohl von "Interessen" des Reiches die Rede war und Triepel selbst betonte, die selbständige Aufsicht sei "niemals auf bloße Legalität, sondern auf die ,Zweckmäßigkeit' des gliedstaatlichen Verhaltens gerichtet,,737, sollte es hier dennoch um eine Rechtskontrolle, um die Einhaltung von Rechtspflichten gehen. 738 Allerdings sollte die Konkretisierung der Verfassungspflichten gerade im freien Ermessen des Reiches stehen. Es entTriepel, Reichsaufsicht, S. 418 ff. Vgl. Triepel, Reichsausicht, S. 424 ff. 731 Etwa im Hinblick auf Braunschweig einerseits, Mecklenburg andererseits; siehe dazu oben C.II.l.c)cc). 732 Haenel, Dt. StaatsR I, S. 305. 733 Triepel, Reichsaufsicht, S. 438 ff.; zustimmend Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 940 mit Fn. n. 734 Triepel, Reichsaufsicht, S. 451. 735 Frowein, Selbständige Bundesaufsicht, S. 81, 87; Dux, Bundesrat und Bundesaufsicht, S. 36; siehe zur Bundestreue oben c.n.l.d)cc). 736 Huber, Dt. VerfG III, S. 1024; Frowein, Selbständige Bundesaufsicht, S. 26. 737 Triepel, Reichsaufsicht, S. 450. 738 Dies wird bei Triepel, Reichsaufsicht, S. 451 Fn. 2, durch den Bezug auf Laband deutlich: ,,[ ... ] ist es mir wertvoll, daß auch Laband die selbständige Aufsicht als Kontrolle bezüglich der Erfüllung einer rechtlichen Pflicht betrachtet". 729
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Das Bismarck-Reich als Bundesstaat
scheide, was im Hinblick auf seine Interessen notwendig und nützlich, was gefährlich und schädlich sei, und was billigerweise zur Beseitigung von Missständen vom Gliedstaate verlangt werden könne. 739 Triepel kam denn auch zu dem Ergebnis, dass die vordergründig zwiespältige Staatspraxis im Wesentlichen durchaus rechtens sei. 74o ce) Resümee Mit der abhängigen Reichsaufsicht glich die Verfassung den Verzicht des Reiches auf den selbständigen Vollzug seiner Gesetze aus. Sie war das notwendige und erfolgreiche Koordinationsinstrument zwischen Reichsgesetzgebung und Länderverwaltung. 741 Die selbständige Reichsaufsicht war hingegen in Theorie und Praxis nicht ohne Widersprüche. Indem man die Bundespflicht zur Wahrung der Interessen des Reiches zum Aufsichtsrnaßstab erhob, wurde der Umfang der Aufsicht uferlos. Damit wurde die Reichsaufsicht entgegen dem Wortlaut des Art. 4 RV vom Umfang der Gesetzgebungskompetenzen des Reiches gelöst. 742 Wenn etwa das Reich sich bezüglich der auswärtigen Politik der Gliedstaaten zur Wahrung seiner eigenen Interessen der Reichsaufsicht bedienen durfte 743 , so hatte diese Materie doch keinen Bezug zu einer Gesetzgebungskompetenz des Reiches. 744 Auch jene Tätigkeitsbereiche, die den Gliedstaaten vollumfänglich verblieben und eigentlich von Aufsicht frei sein sollten745, wurden dadurch der Reichsaufsicht unterworfen. 746 Insgesamt wurde die Reichsaufsicht so von einem Instrument der partiellen Vollzugskontrolle zu einer umfassenden Verfassungsaufsicht. 747 Triepel, Reichsaufsicht, s. 451. Vgl. Triepel, Reichsaufsicht, S. 449. 741 Mußgnug, in: Dt. VerwG III, S. 206.; so noch heute vgl. Lerche, in: Maunz! Dürig, GG, Art. 84, Rn. 128. 742 Dux, Bundesrat und Bundesaufsicht, S. 35; Frowein, Selbständige Bundesaufsicht, S. 31 f. 743 Siehe zur auswärtigen Politik von Reich und Gliedstaaten oben C.II.2. d)aa)(3). 744 Frowein, Selbständige Bundesaufsicht, S. 31. Triepel hat versucht, diesen Widerspruch durch eine extensive Auslegung der Gesetzgebungskompetenzen zu verkleistern, vgl. Triepel, Reichsaufsicht, S. 368. 745 So auch grundsätzlich Triepel, Reichsaufsicht, S. 359. 746 Der Widerspruch tritt deutlich zu Tage bei Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 938: "In den ihrer gesetzgeberischen Tätigkeit vorbehaltenen, insbesondere also den im Art. 4 nicht erwähnten Angelegenheiten, sind die Einzelstaaten von Reichsaufsicht frei. Die letztere erstreckt sich hier nur darauf, daß die Einzelstaaten die Grenzen ihrer Autonomie nicht zum Nachteil des Reiches überschreiten und dadurch eine Verletzung der ihnen obliegenden , verfassungsmäßigen Bundespflichten ' begehen." 739
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11. Verfassungsrecht und Verfassungsentwicklung
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Weil die Rechtspflichten, die sich für einen Gliedstaat aus den allgemeinen Bundespflichten ergaben, erst im Einzelfall und zwar durch das Reich selbst konkretisiert wurden, war die Reichsaufsicht auch ein Mittel des Reiches, politische Entscheidungen gegenüber den Einzelstaaten zur Geltung zu bringen.748 Zwar bemühte sich etwa Triepel, für die zu beachtenden Interessen des Reiches Anhaltspunkte in der Verfassung selbst zu finden 749, aber auch für ihn war die Aufsicht nicht nur eine Rechtskontrolle. Streitfragen darüber seien nämlich im Wesentlichen "nach politischen Gesichtspunkten zu beantworten"?SO Die Zuständigkeit des Bundesrates trug zur politischen Natur der Reichsaufsicht bei. Man hat dem Bundesrat angesichts seiner letztverbindlichen Entscheidung in Aufsichtssachen gelegentlich gerichtlichen Charakter zugeschrieben. 7s1 Doch diese Einschätzung ging fehl. 7s2 Statt eines "neutralen Dritten" in unabhängiger Stellung war es mit dem Bundesrat das zentrale Reichsorgan selbst, das über Konflikte zwischen Reich und Gliedstaaten zu entscheiden hatte. Aufgrund der Zusammensetzung des Bundesrates - das Reich war in Gestalt der preußischen Bevollmächtigten vertreten - nahmen die streitigen Parteien hier selber an der Entscheidung teil. Indem die Austragung föderaler Konflikte eben nicht einem Gericht, sondern einem politischen Organ übertragen wurde, verstärkte sich der Charakter der Aufsicht weg von einer Rechtskontrolle und hin zu einem politischen Steuerungsinstrument. Die Zuordnung der Letztentscheidung über föderale Konflikte zum Bundesrat, die politische Behandlung der Sache, erlaubte sicherlich größere Flexibilität als bei einer strikten Rechtsgebundenheit. Man hat in der dadurch eröffneten Verständigungsmöglichkeit eine besondere Integrationswirkung gesehen7S3, aber letztlich waren Aufsichtsfragen und föderale Konflikte dadurch weniger Rechts- als Machtfragen. Dabei bestimmte indes nicht nur die Machtverteilung zwischen Reich und Einzelstaaten die Entscheidungen. Im Gewand der föderativen Konflikte um die Reichsaufsicht verbargen sich nämlich auch andere verfassungspolitische Kontroversen; dies ist bereits anband der Grenzen der Verfassungsautonomie hinsichtlich der Mecklenburger Verfassungsfrage oder der preußischen Wahlrechtsdiskussion deutlich geworden. 7s4 Indem die Verfassungsaufsicht und die letztverbindliche Entscheidung darüber in die Hand des Bundesrates gelegt 747 748 749 750 751
752 753 754
Huber, 01. VerfG III, S. 1023. Dux, Bundesrat und Bundesaufsicht, S. 37. Triepel, Reichsaufsicht, S. 441 ff. Triepel, Reichsaufsicht, S. 707. Vgl. Meyer/Anschütz, 01. StaatsR, S. 943. Huber, 01. VerfG m, S. 1024. So Dux, Bundesrat und Bundesaufsicht, S. 27 f. Siehe dazu oben C.1I.1.c)cc).
236
C. Das Bismarck-Reich als Bundesstaat
wurde, war dies auch eine Entscheidung zu Gunsten der monarchischen Regierungen. 755 Mit Blick auf die Handhabung der selbständigen Reichsaufsicht lässt sich insgesamt kaum von einer "klugen Zurückhaltung"756 des Reiches sprechen. Die unterschiedliche Praxis der Interventionen in Verwaltungs- wie Verfassungsangelegenheiten der Gliedstaaten offenbarte vielmehr, dass die selbständige Reichsaufsicht ein Instrument zum Einfluss auf die Gliedstaaten war, dessen Handhabung ganz wesentlich von politischer Opportunität bestimmt war. 757 c) Reichsexekution
Im engen Zusammenhang mit der Reichsaufsicht stand die Reichsexekution. 758 Gern. Art. 19 RV konnte das Reich im Wege der Reichsexekution gegen Bundesstaaten vorgehen, die ihre verfassungsmäßigen Bundespflichten verletzten. Allerdings sollte für die Zulässigkeit der Exekution nicht schon jede Pflichtverletzung ausreichen. Voraussetzung sollte vielmehr eine besondere Schwere der Pflichtverletzung, ein das föderale Grundverhältnis bedrohendes Verhalten des Gliedstaates sein. 759 Die Exekution konnte im Anschluss an ein Verfahren der Reichsaufsicht erfolgen, aber auch - etwa bei Eilbedürftigkeit - unmittelbar eingeleitet werden. 76o Die Beschlussfassung über die Exekution stand dem Bundesrat, die Ausführung dem Kaiser zu. Der Bundesrat hatte hier das größere Gewicht, weil das Ob und Wie der Exekution allein in seinem Ermessen stand und der Kaiser insoweit an seine Beschlüsse gebunden war. 761 Über die Mittel der Exekution traf die Verfassung keinerlei Bestimmungen, so dass alle geeigneten und erforderlichen Maßnahmen zulässig waren. 762 Dazu zählte im äußersten Falle auch militärische Gewalt, aber auch jedes mildere Mittel. 763 755 Die Kaiserliche Botschaft an den Reichstag bezüglich der preußischen Polenpolitik lehnte nicht nur ein Eingreifen des Reiches in dieser Sache ab, sondern wies auch mit einem unverhohlenen anti-parlamentarischen Unterton den Anspruch des Reichstages, ein solches gegenüber der Regierungspolitik fordern zu dürfen, brüsk zurück; vgl. den Text bei Triepel, Reichsaufsicht, S. 419. 756 Dux, Bundesrat und Bundesaufsicht, S. 37. 757 Vgl. Huber, Dt. VerfG III, S. 1026. 758 Vgl. Triepel, Reichsaufsicht, S. 665. 759 Vgl. Laband, StaatsR I, S. 112 f.; siehe auch Huber, Dt. VerfG III, S. 1034. 760 Triepel, Reichsaufsicht, S. 667 ff. 761 Triepel, Reichsaufsicht, S. 670 f.; Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 937. 762 Vgl. Huber, Dt. VerfG III, S. 1039 ff. 763 Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 937. Entgegen Triepel, Reichsaufsicht, S. 670, bedurfte es für die Zulässigkeit milderer Mittel keines Schlusses "a maiore
11. Verfassungsrecht und Verfassungsentwicklung
237
Die Ausgestaltung der Reichsexekution begegnet ähnlichen Bedenken wie die der Reichsaufsicht. Durch die Entscheidungsmacht des zentralen Reichsorgans wurde aus einer Rechtsfrage eine politische Machtfrage. Mit dem Bundesrat wurden föderale Konflikte gerade dem föderalen Reichsorgan übertragen. Dies entsprang einerseits einer Schutzfunktion gegenüber unitarischem Übereifer des Reiches, Triepel sprach insoweit von einem "Triumph des Föderalismus". Andererseits begründete der Umstand, dass die Gliedstaaten in eigener Sache letztverbindlich zu entscheiden hatten, Zweifel an der Effektivität. 764 Im Hinblick auf Preußen liefen die Einflussrechte des Reiches gegenüber den Gliedstaaten weitgehend leer. 765 Eine Reichsexekution gegen die preußische Regierung war undenkbar. Der Deutsche Kaiser konnte nicht gegen sich selbst in seiner Stellung als König von Preußen vorgehen. Allerdings wurde ein Eingreifen aufgrund des Verhaltens des preußischen Landtages durchaus für möglich gehalten. 766 Damit wurde unverhohlen eingestanden, dass es die Träger der staatlichen Macht waren, die bestimmten, ob eine Pflichtverletzung vorlag, und sie ahndeten. Sie selbst band das Recht indes nicht. Indem die föderalen Zwangsmittel in die Hand des Bundesrates gelegt wurden, waren sie so auch ein Instrument der monarchischen Regierungen gegenüber unbotmäßigen Volksvertretungen eine Ausprägung der Bundestreue bismarckscher Lesart, eine Form der Fürstensolidarität. Zur Anwendung ist das Instrument der Reichsexekution indes niemals gekommen. Man hat dies als Ausdruck der Stabilität der bundesstaatlichen Ordnung des Reiches gewertet und die Ansicht vertreten, allein die Möglichkeit einer Reichsexekution habe ihre Wirkung gehabt. 767 Allerdings ist nicht zu übersehen, dass angesichts der tatsächlichen Machtverteilung zwischen dem Reich, dem preußischen Hegemonialstaat sowie den übrigen Gliedstaaten auch beträchtliche informelle Einflussmittel bestanden, um die jeweiligen Interessen des Reiches zur Geltung zu bringen und die insoweit einen Verzicht auf verfassungsförrnige Verfahren erlaubten. 5. Die Koordination von Reich und Gliedstaaten Instrumente der Koordination von Reich und Gliedstaaten sind bereits verschiedentlich zur Sprache gekommen - fehlende, wie Grundrechte oder verfassungsrechtliche Homogenitätsgebote, ebenso wie bestehende, etwa ad minus", weil keinerlei härteres Mittel, von dem ein Schluss zu ziehen gewesen wäre, ausdrücklich genannt war. 764 Vgl. Triepel. Reichsaufsicht. S. 694: "Grundfehler der Organisation", m. W.N. 765 Triepel. Reichsaufsicht, S. 681 f. 766 Haenel. Dt. StaatsR I, S. 452 Anm. 6; vgl. Triepel, Reichsaufsicht, S. 682. 767 Vgl. Huber, Dt. VerfG m, S. 1030.
238
C. Das Bismarck-Reich als Bundesstaat
die Reichsaufsicht und -exekution. Zu den üblichen Koordinationsmitteln eines Bundesstaates gehört es, Mechanismen zur Lösung von Konflikten zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten vorzusehen, um ein widerspruchsloses Zusammenspiel der Kompetenzbereiche und der Normen zu gewährleisten. a) Die Kollision von Reichs- und Landesrecht sowie Art. 2 RV
In Art. 2 RV war bestimmt, dass das Reich das Recht zur Gesetzgebung mit der Wirkung ausübe, "dass die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen". Durch den Erlass eines Reichsgesetzes sollten alle landesrechtlichen Vorschriften, egal ob gleichlautend oder inhaltlich widersprechend, ipso jure ihre Geltung verlieren. 768 Nach h.M. sorgte das Reichsrecht nicht nur für eine auf die Zeit seiner eigenen Geltung beschränkte Suspension des Landesrechts, sondern hob es dauerhaft auf (Derogation), so dass dieses auch später nicht wieder zur Wirksamkeit gelangen konnte. 769 Der Vorrang des Reichsrechts blieb nicht auf formelle Gesetze beschränkt, sondern galt auch für anderes Reichsrecht, etwa Rechtsverordnungen. 77o Aus dem Wortlaut des Art. 2 RV ließ sich dies alles nicht ohne weiteres gewinnen. 771 So wurden diese Ergebnisse denn auch vielmehr auf einen in Art. 2 RV rudimentär zum Ausdruck kommenden Rechtsgrundsatz gestützt, wonach das Reich die souveräne Gesetzgebungsgewalt, die Gliedstaaten hingegen nur Autonomie besäßen. 772 Die Abkunft einer Norm von der höheren, weil souveränen Gewalt, die ebenenspezifische Herkunft im Bundesstaat, begründete daher ihre Qualität als "Rechtsquelle höherer Ordnung" gegenüber dem Landesrecht und ihren Geltungsvorrang. 773 Da im Bismarck-Reich keine verfassungs gerichtliche Normenkontrolle bezüglich des Reichsrechts bestand (siehe dazu sogleich unten), kam dem pauschalen Vorrang-Gebot für das Reichsrecht besondere Bedeutung zu. So konnten auch Reichsgesetze, die kompetenzwidrig waren, weil keine Gesetzgebungskompetenz des Reiches bestand und auch die formellen Voraussetzungen verfassungsändernder Gesetzgebung nicht beachtet wurden, sich gegenüber konkurrierendem Landesrecht durchsetzen. Das Vorrang-Gebot und der Verzicht auf eine Normenkontrolle sorgten so dafür, dass die verfassungsmäßige Verteilung Laband. StaatsR 11, S. 115; Meyer/Anschütz. Dt. StaatsR, S. 715 f. Meyer/Anschütz. Dt. StaatsR, S. 715 f. Fn. a. Eine sich am Jesuitengesetz von 1904 hierüber entzündende Kontroverse war ausschließlich politisch motiviert, vgl. März. Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 64 f. 770 Laband. StaatsR H, S. 115; Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 716. 771 März. Bundesrecht bricht Landesrecht, S. 63 f. 772 So Laband. StaatsR H, S. 115. 773 Meyer/Anschütz. Dt. StaatsR, S. 716, Fn. a. 768 769
11. Verfassungsrecht und Verfassungsentwicklung
239
der Gesetzgebungskompetenzen zu einer lex imperfecta wurde, deren Einhaltung nicht konsequent gesichert war. b) Verfassungskonflikte und ihre Lösung
aa) Verfassungsrechtslage Die Reichsverfassung enthielt nur spärliche Ansätze zu einer Verfassungsgerichtsbarkeit. 774 Föderale Streitigkeiten, also Reich-Länder-Konflikte, blieben hierbei völlig ausgespart. Dabei waren sie durchaus denkbar, etwa hinsichtlich der Frage der Erfüllung der Bundespflichten und der zulässigen Aufsichtsmaßnahmen des Reiches, bei Zweifeln über das Vorgehen von Reichsrecht gegenüber dem Landesrecht oder bezüglich der von der Verfassung aufgestellten Schutzmechanismen zu Gunsten der Landeshoheit, nämlich der Reservatrechte, der Kompetenzgrenzen des Reiches oder der Rechte des Bundesrates. 775 Das Fehlen einer föderalen Verfassungsgerichtsbarkeit wurde anfänglich von liberalen Autoren kritisiert776 und als Schwächung der Reiches gegenüber den Gliedstaaten empfunden. 777 Vereinzelt wurde auch die Erwartung geäußert, dass sich "die Schaffung eines Bundes [verfassungs]gerichts immer mehr als Bedürfnis herausstellen [wird]".778 Doch es kam trotz einer dahingehenden Diskussion um die Jahrhundertwende 779 bis zum Ende des Reiches nicht dazu. bb) Die Gründe für den Verzicht auf eine Verfassungsgerichtsbarkeit Die Gründe für den Verzicht auf ein Verfassungsgericht und das allgemeine Verblassen der Idee einer Staatsgerichtsbarkeit zur Zeit der Reichsgründung waren vielfaItig. 78o Bismarck hatte bereits im preußischen Verfassungskonflikt, aber auch bei der Verfassungsgebung deutlich gemacht, wie wenig er von einer allzu engen Verfassungsbindung der Politik oder gar deren Kontrolle durch ein Gericht hielt. Verfassungsfragen waren für ihn weniger Rechts-, als vielmehr Machtfragen, die einer politischen Konfliktlösung bedürften. Als Schöpfer der Verfassung betrachtete sich Bismarck überdies auch als den allein kompetenten Ausleger. 781 Bei dem, was er für 774 775
776 777
778 779 780
Rn. 6.
Siehe dazu oben C.II.2.e)aa); Huber, Dt. VerfG III, S. 1064 ff. Diese und weitere denkbare Streitgegenstände nennt Binding, DJZ 1899, 71. Vgl. etwa v. Mohl, Dt. RStaatsR, S. 68. Vgl. v. Mohl, Dt. RStaatsR, S. 79. Thudichum, VerfR, S. 98. Vgl. vor allem Binding, DJZ 1899, 69 ff. Vgl. Scheuner, in: FG f. BVerfG I, S. 36 ff.; Simon, in: HdbVerfR, § 34,
240
C. Das.. Bismarck-Reich als Bundesstaat
den weiteren Ausbau des Reiches notwendig hielt, ließ er sich nur ungern von einer Berufung auf die Verfassung Grenzen setzen. 782 So widerstrebte es ihm, "den Bund in seiner tiefsten prinzipiellen Grundlage durch Anregung der Kompetenzfrage zu beunruhigen,,?83 Mit der verfassungsmäßigen Kompetenzordnung nahm er es daher auch keineswegs genau. Eine Verfassungsgerichtsbarkeit für das föderale Verhältnis hätte ein Schutzinstrument der Gliedstaaten und ihrer Rechte sein können. Diese Funktion stand etwa im amerikanischen und schweizerischen Bundesstaat im Mittelpunkt einer Bundesverfassungsgerichtsbarkeit. 784 Thr Fehlen im deutschen Bundesstaat wird deshalb heute auch auf das damals "vorherrsehende zentralistische Streben" zurückgeführt. 785 Indes haben zeitgenössische liberale Verfechter des Bundesstaates wie Robert v. Mohl gerade im Verzicht auf diese Gerichtsbarkeit eine Schwäche der neuen Gesamtstaatsgewalt gesehen. Dies zeigt nicht nur die unitarische Ausrichtung der damaligen deutschen Bundesstaatslehre, sondern auch, dass gleichen Instituten in verschiedenen Bundesstaaten ganz unterschiedliche Bedeutung zukommen kann. Beim waitzschen Bundesstaatsmodell, bei dem sich Gesamtstaat und Gliedstaaten weitgehend unverbunden neben- resp. gegenüberstanden, schien ein Verfassungsgericht als Konfliktlösungsinstrument nötiger zu sein, als beim bismarckschen Verbundsystem, bei dem die Gliedstaaten selbst die maßgeblichen Faktoren des Gesamtstaates sein sollten. Hier suggerierte der Verzicht auf eine Verfassungsgerichtsbarkeit die Freiheit der Gliedstaaten von einer ihnen übergeordneten judikativen Gewalt. Tatsächlich sorgte die Zuweisung der Konfliktentscheidung an den Bundesrat aber dafür, dass auch bei Verfassungskonflikten Preußen seine hegemoniale Machtstellung ausspielen konnte. ce) Die Lösung föderaler Verfassungskonflikte in der Praxis Wenn es in der Staatspraxis zu verfassungsrechtlichen Meinungsverschiedenheiten mit den Gliedstaaten kam, wurde eher eine gütliche Einigung gesucht als eine verfassungsmäßig korrekte Entscheidung. Auch die Behauptung des Reichstages, dieses oder jenes Gesetz sei verfassungswidrig und bedürfe einer Änderung der Verfassung, mochte da nichts bewirken, weil dessen Mitwirkung bei einfacher wie bei verfassungsändernder Gesetzge781 So der bayerische Bundesratsbevollmächtigte v. Lerchenfeld, zitiert nach Binder, Reich und Einzelstaaten, S. 135. 782 Vgl. seine Rede in der Reichstagsdebaue v. 28.11.1881, RT-Verh. 1882, S. 39 ff. 783 Reichstagsrede v. 16.3.1869, in: GW 11, S. 35. 784 Dies hob bereits hervor Triepel, Reichsaufsicht, S. 97 ff. 785 Simon, in: HdbVerfR, § 34, Rn. 6.
11. Verfassungsrecht und Verfassungsentwicklung
241
bung völlig gleich war. Weil sich die Regierungen bereits im Vorfeld verständigt hätten, habe man "einen Kompromiss, mittels dessen man [... ] über die unliebsame Frage der Verfassungsänderung hinwegzukommen hoffte, weil ja [... ] alle Bundesregierungen ,Ja' gesagt haben".786 Wiederholt wurde das formale Problem einer Verfassungsänderung durch eine materielle Verständigung "gelöst".787 Dies führte nicht nur zu vielen stillschweigenden Verfassungsänderungen, sondern auch dazu, dass gelegentlich Gesetze in Kraft waren oder Behörden eingerichtet wurden, denen mehr oder minder einhellig die (materielle) Verfassungswidrigkeit bescheinigt wurde. 788 Ging es allerdings um handfeste Interessen des Reiches, dann - so hatte Bismarck einmal klargestellt - würden ihn auch "die partikularistischen Bedenken unserer Bundesgenossen [... ] unter Umständen nicht abhalten, bei unserer Abstimmung das Recht und die Majorität, die wir etwa im Bundesrat haben, soweit geltend zu machen, als die Verfassung uns erlaubt, auch wenn die Grenze zweifelhaft ist oder von anderer Seite bestritten ist".789 So wurde im Falle des Zollanschlusses von Hamburg die Hansestadt durch massiven politischen Druck von Preußen und dem Reich zum Verzicht auf ihr Reservatrecht aus Art. 34 RV genötigt. 790 Kleine Staaten, die eigene Rechte wahren wollten oder einmal einen von Preußen abweichenden Rechtsstandpunkt einnahmen - wie etwa Lippe, das Hamburg beigetreten war - sahen sich unverhohlenen Drohungen ausgesetzt. Angesichts der mangelnden Folgsamkeit ließ Preußen der lippischen Regierung seine Verärgerung mitteilen und bescheiden: ,,Der Zeitpunkt uns dessen zu erinnern, wird gelegentlich eintreten".791 Dieser Umgang mit der föderalen Kompe786 So der württembergische Ministerpräsident v. Mittnacht zum Streit um die Münzhoheit, RT-Verh. 1871, S. 336. Der Inhalt des Kompromisses war symptomatisch: Das Reich regelte die Münzange1egenheiten, die Bundesfürsten durften aber ihr Abbild einprägen; so wurde eine materielle Vereinheitlichung unter Wahrung des monarchischen Prestigebedürfnisses erreicht. 787 Binder, Reich und Einzelstaaten, S. 103, mit Blick auf das Stellvertretungsgesetz aus dem Jahre 1878. 788 Etwa die Franckenstein'sche Formel, siehe oben C.ll.2.f)bb); die Schiffsvermessungsordnung, vgl. Laband, StaatsR ll, S. 200 m.w.N.; die Errichtung des Reichsamtes für die Verwaltung der Reichseisenbahnen, vgl. Dietrich, Föderalismus, Unitarismus oder Hegemonialstaat, S. 76 sowie Binder, Reich und Einzelstaaten, S. 108 f. Vgl. auch die Bemerkung Triepels, Reichsaufsicht, S. 263, man habe die Verfassungsmäßigkeit bzw. das Erfordernis einer Verfassungsänderung "wohl gelegentlich, aber niemals ganz aus dem Auge verloren". 789 Bismarck am 17.11.1871 im Reichstag, RT-Verh. 1871, S. 337. 790 Vgl. dazu die Reichstagsdebatte v. 28.11.1881, RT-Verh. 1882, S. 39 ff.; Binder, Reich und Einzelstaaten, S. 134 ff. 791 Vgl. den Erlass an den preußischen Gesandten v. 9.5.1880, zitiert nach Binder, Reich und Einzelstaaten, S. 137. 16 Holste
242
C. Das Bismarck-Reich als Bundesstaat
tenzordnung und den gliedstaatlichen Rechten ließ selbst die Nationalliberalen Bismarck an die Verfassung erinnern: "In den diplomatischen Verhandlungen mit den deutschen Staaten, so lange diese nicht verfassungsmäßig geeinigt waren, mag es nach dem allgemeinen diplomatischen Gebrauch gestattet gewesen sein, Mittel mancherlei Art anzuwenden. Seitdem wir aber die Verfassung abgeschlossen haben, von jenem Tage an - das haben wir oft hier ausgesprochen - sollte jede Gewalt innerhalb des deutschen Reiches aufhören, gleichviel, ob die Mittel und die Zwecke, zu denen die Gewalt angewendet wird, sehr zu billigen und zu loben wären.,,792 Aber auch in späterer Zeit - vor allem während des Krieges - soll es gelegentlich vorgekommen sein, dass man die Reservatrechte unverhohlen leugnete und den Interessen des Reiches unterordnete. 793 Im Umgang mit mächtigeren Bundesstaaten gestaltete sich die Konfliktlösung schwieriger. Zehn Jahre dauerte der Streit um die Militärstrafprozessordnung - vornehmlich deshalb, weil Bayern ein Reservatrecht auf eine eigene Militärgerichtsbarkeit behauptet hatte. 794 Ob das Reservatrecht je bestand, konnte nie geklärt werden: Der Bundesrat müsse darüber entscheiden, weil es sonst genüge, ein Reservatrecht zu behaupten, um es zu besitzen, forderte das Reich. Das könne mit Blick auf die preußisch-reichische Hegemonie im Bundesrat nicht stimmen, weil es sonst genüge, ein Reservatrecht zu bestreiten und die Mehrheit im Bundesrat dafür zu finden, um es zu beseitigen, entgegnete Bayern. 795 Dies war ein offenkundiger Beleg für die Untauglichkeit des Bundesrates zur föderalen Konfliktlösung. Die Kontroverse wurde schließlich durch einen verfassungsrechtlich zweifelhaften Kompromiss beigelegt. 796
Neben der materiellen Verständigung oder der Unterdrückung von Konflikten wurden auch mit dem Instrument der Reichsaufsicht verfassungsrechtliche Streitigkeiten gelöst, soweit sie sich auf die Frage der Erfüllung der allgemeinen Bundespflichten zurückführen ließen. Beispielhaft ist hier der Streit um die braunschweigische Thronfolge. 797 Zwar ließen sich durch einen Beschluss des Bundesrates im Aufsichtsverfahren verfassungsrechtliche Kontroversen letztverbindlich entscheiden, doch war auch dies trotz autoritativer Rechtsfeststellung letztlich eine politische Konfliktlösung. 798 Abg. Lasker im Reichstag arn 28.11.1881, RT-Verh. 1882, S. 59. Vgl. die Bemerkung von Bilfinger, Der Einfluß der Gliedstaaten, S. 19 Fn. 3. 794 Vgl. Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 151 ff. 795 Vgl. Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 177 Fn. 126. 796 Es wurde ein besonderer Senat des Reichsrnilitärgerichts geschaffen, der allein für das bayerische Heer zuständig war und dessen Mitglieder - obwohl Reichsrichter - vorn bayerischen König ernannt wurden. Eine - so Laband, JöR 1, (1907), 40 - "Kuriosität des Reichsstaatsrechts". 797 Vgl. Triepel. Reichsaufsicht, S. 458 Fn. 2. 792 793
III. Die juristische Konstruktion und Legitimation des Reiches
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dd) Resümee Es zeigt sich, dass die "Ersetzung der Staatsgerichtsbarkeit durch die politische Vermittlung,,799 dazu führte, dass die Wahrung der verfassungsmäßigen Rechte der Gliedstaaten im Konfliktfall vom Wohlwollen der anderen Bundesstaaten, den Interessen des Reiches und nicht zuletzt dem politischen Gewicht des betroffenen Gliedstaates abhing. Rechtsfragen wurden so vor allem zu Machtfragen. Der Verzicht auf eine Staatsgerichtsbarkeit und die Konfliktlösung durch Kompromiss oder Unterdrückung waren daher auch Ausdruck wie Förderung einer gewissen Labilität der Verfassung und ihrer föderalen Kompetenzordnung.
ill. Die juristische Konstruktion und Legitimation des Reiches als Bundesstaat Fragen des Bundesstaates waren seit der Reichsgründung ein Schwerpunkt der deutschen Staatsrechtswissenschaft. 800 Anfänglich standen dabei die juristische Konstruktion des Reiches, seine Rechtsnatur und Staatsform im Mittelpunkt. Später ging es vor allem um die Verfassungsentwicklung mit der fortschreitenden Unitarisierung. Die Legitimation der bundesstaatlichen Ordnung wurde indes kaum thematisiert.
1. Die Lehre von der geteilten Souveränität Die ersten Stellungnahmen zur Konstruktion des Reiches waren noch der waitzschen Bundesstaatslehre verbunden. 80l Angesichts der realen Ordnung des Norddeutschen Bundes, die mit dem Verbundsystem bei der Kompetenzverteilung und der Willensbildung des Gesamtstaates so gar nicht mit der Theorie von der strikten organisatorischen Trennung von Gesamtstaat und Gliedstaaten zusammenpasste, hatte sich die Wissenschaft vom Bundesstaatsmodell Waitz' bereits vorsichtig gelöst. 802 Der Gedanke einer geteilten oder doppelten Souveränität im Bundesstaat wirkte aber fort - etwa bei Robert v. Mohl. Mit Blick auf die Kompetenzteilung zwischen Gesarntstaat und Gliedstaaten führte er aus: "Allerdings hören die Gliederstaaten nicht auf, abgesondert zu bestehen, ihre eigenen Verfassungen und Verwaltungen 798 Siehe zur problematischen Stellung des Bundesrates im Aufsichtsverfahren C.IIA.b )cc). 799 Scheuner, in: FG f. BVerfG I, S. 36. 8()() Vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts 11, S. 364 ff., 376 ff.; Oeter, Integration und Subsidiarität, S. 44 ff.; Dreyer, Föderalismus, S. 280 ff. 801 Zur Lehre von Waitz siehe oben C.I.6.a). 802 Siehe oben C.I.6.b).
16"
c.
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Das Bismarck-Reich als Bundesstaat
zu haben, einen bestimmten Teil des Zweckes eines Staates selbständig und mit eigenen Mitteln und nach eigenen Bestimmungen zu verfolgen; allein ein durch Zuständigkeit der Bundesgewalt bestimmter Teil der Souveränität geht für sie verloren und an die Bundesorgane über."s03 Das Recht des Gesamtstaates war daher für v. Mohl nur "in seinem Kreise das höhere, sein Wille der entscheidende und vorhergehende; er hat also insoweit die Souveränität auch über die Gliederstaaten".s04 Angesichts dieser Identifikation der Staatsgewalt mit der Souveränität kam v. Mohl mit Blick auf das Reich zu dem Ergebnis: "Es liegt somit unzweifelhaft eine getheilte Souveränität vor, sowie eine für die Zwecke der Gesamtheit bestehende organisierte Staatsgewalt und Regierungseinrichtung."s05 Dies war für ihn der Nachweis, dass es sich beim Deutschen Reich um einen Bundesstaat handelte.
2. Die These der begriffiichen Unmöglichkeit des Bundesstaates das Reich als Staatenbund Diese Auffassung von der geteilten Souveränität fand in dem bayerischen Staatsrechtler Max v. Seydel ihren schärfsten Kritiker. s06 Er wollte die theoretische Unmöglichkeit des Bundesstaates beweisen und das Reich als Staatenbund deuten. Für v. Seydel gehörte es zum Begriff des Staates, dass dieser von einem einheitlichen höchsten Willen beherrscht werde. S07 Ihn nannte er Staatsgewalt oder Souveränität. sos Zur Beschreibung der Eigenschaften der Souveränität fand er mit dem Eigentum eine Parallele im Zivilrecht. So wenig wie es zwei Eigentumsrechte für dieselbe Sache geben könne, könne es eine doppelte Souveränität geben, denn: "Zwei höchste Willen heben einander auf, verneinen sich gegenseitig, sind darum begrifflich unmöglich."s09 Wie das Eigentumsrecht keine Summe einzelner Befugnisse sei ("Wer Eigentümer ist, hat an der Sache kein Recht nicht"), umfasse auch das höchste Recht am Staate keine aufzählbare Summe von einzelnen Hoheitsrechten, sondern alle denkbaren Befugnisse. slO Eine der wesentlichen Eigenschaften der Souveränität sei gerade, dass sie keinen bestimmten Umfang, sondern inhaltlich völlig unbeschränkt sei. Ihre umfangliche Beschränkung sei geradezu ihre Negierung: "Sie ist nicht mehr die 803 804 80S
S.30. 806 807 808
809 810
v. Mohl, Dt. RStaatsR, S. 29 f. v. Mohl, Dt. RStaatsR, S. 30. v. Mohl, Dt. RStaatsR, S. 37. In ähnlichem Sinne auch v. Rönne, VerfR, Vgl. v. Seydel, ZgStW 28 (1872), 185 ff.; ders., Kommentar, S. 2 ff. v. Seydel, ZgStW 28 (1872), 189. v. Seydel, ZgStW 28 (1872), 190. v. Seydel, ZgStW 28 (1872), 189. v. Seydel, ZgStW 28 (1872), 190 f.
III. Die juristische Konstruktion und Legitimation des Reiches
245
Staatsgewalt, wenn sie nicht die ganze Staatsgewalt iSt."Sll Bei dieser Gleichsetzung von Souveränität und Staatsgewalt und ihrem Verständnis als höchster und einheitlicher Herrschaftsgewalt war eine Aufteilung der Souveränität im waitzschen Sinne daher begrifflich ebenso unmöglich wie eine Doppelung der Staatlichkeit auf einem Territorium. Der Begriff des Bundesstaates war für v. Seydel daher ,,rechtlich unhaltbar, weil er im Widerspruch steht mit dem Begriff des Staates".S12 Seine Schlussfolgerung: "Alle staatlichen Gebilde, die man mit dem Namen Bundesstaat zu bezeichnen pflegt, müssen entweder einfache Staaten oder Staatenbünde sein."S13 Zur Beantwortung der Frage nach der Rechtsnatur des Reiches stellte er darauf ab, ob das Reich auf einem Vertragsverhältnis oder einer Verfassung, d.h. auf einem Gesetz, beruhe: Das eine sei eine Vereinbarung zwischen Staaten, das andere eine Norm im Staate. Sl4 Bei einer Verfassung, mit der sich die Staatsgewalt selbst Normen setze, solle ein Staat vorliegen. Sei dagegen ein Bund durch einen Bundesvertrag geregelt, dann stünde die Souveränität der Bundesglieder und deren Staatsqualität fest. Sl5 Nach Ansicht v. Seydels hätte keiner der deutschen Staaten den Willen gehabt, seine Souveränität aufzugeben. Die Verfassung sei daher lediglich ein "Vertrag souveräner Staaten".S16 Zugleich sei sie aber auch ein in allen Staaten geltendes Landesgesetz, wie alle vermeintlichen Reichsgesetze denn eigentlich nur gleichlautende Landesgesetze seien. s17 Es existiere keine von den Staaten geschiedene Reichsgewalt: "Was die Staaten taten ist nichts anderes als daß sie sich zur gemeinsamen Ausübung gewisser Hoheitsrechte sich verbanden [... ]."SIS Den Nachweis, dass die Rechte des Bundes von den Gliedstaaten abgeleitet seien, fand v. Seydel in der Verfassungsbestimmung, wonach die Sonderrechte nur mit Zustimmung der betroffenen Gliedstaaten geändert werden konnten: "Dies aber ist der beste Beweis dafür, daß es sich hier um ein Vertragsverhältnis handelt, also nicht Rechte in Frage kommen, die vom Reiche sich herschreiben, sondern daß umgekehrt das Reich seine Rechte den Einzelstaaten verdankt."SI9 Der Art 78 Abs. 2 RV sei daher "ein unverkennbares Wahrzeichen des Staatenbundes".s2o Während v. Seydel für seine These von der Unteilbarkeit der Souveränität allgemeine Zustimmung SI1 SI2 S13 814
81S 816 817 818 819 820
v. Seydel. ZgStW 28 (1872), 202.
v. v. v. v. v. v. v. v. v.
Seydel, Seydel, Seydel. Seydel. Seydel. Seydel. Seydel, Seydel, Seydel,
ZgStW 28 (1872), 198. ZgStW 28 (1872), 208. ZgStW 28 (1872), 211. ZgStW 28 (1872), 210. ZgStW 28 (1872), 227. ZgStW 28 (1872), 231. ZgStW 28 (1872), 228. ZgStW 28 (1872), 229. Kommentar, S. 419.
246
c. Das Bismarck-Reich als Bundesstaat
erfuhr821 und somit der waitzschen Bundesstaatslehre das endgültige Aus bereitete, wurde seine Einschätzung des Reiches als Staatenbund nahezu einhellig abgelehnt.
3. Die "vertragsmäßigen Elemente" der Reichsverfassung Es war Albert Haenel, der es unternahm, die seydelsche Prämisse von der vertragsmäßigen Grundlage des Reiches anzugreifen. 822 Er stellte klar, dass die Verträge im Zusammenhang mit der Gründung des Norddeutschen Bundes lediglich die Pflicht der Einzelstaaten begründeten, ein neues Bundesverhältnis zu schaffen. Bereits aus den geschichtlichen Umständen ergebe sich aber, dass sich dieses nicht in einer weiteren, bloß vertragsmäßigen Form eines Staatenbundes erschöpfen sollte. 823 Die Einzelstaaten hätten Regelungen über die Bundesverhältnisse auch gar nicht selbst - wie v. Seydel meinte - im Wege der gleichmäßigen Landesgesetzgebung treffen können. Solche Bestimmungen lägen "über den Bereich des Herrschaftsverhältnisses jedes einzelnen Staates und damit irgend eines Landesgesetzes hinaus".824 Es wären daher vielmehr vertragsmäßig ad hoc geschaffene und legitimierte Organe gewesen, die im Wege konstitutioneller Gesetzgebung den Norddeutschen Bund und seine Verfassung geschaffen hätten. 825 Nicht als Summe übereinstimmender Partikulargesetze, sondern als Gesetz der Gesamtheit sei die Verfassung entstanden. 826 Mithin sei die Gründung "keinesfalls das unmittelbare Erzeugnis eines frei geschlossenen völkerrechtlichen Vertrages der norddeutschen Staaten, sondern die Erfüllung der vertragsmäßigen Verbindlichkeiten, welche in einem vorhergehenden, völkerrechtlichen Vertrage, dem Bündnisvertrage vom 18. August 1866 und den Accessionsverträgen zu demselben eingegangen worden waren".827 Mit ihrer Erfüllung seien die Bündnisverträge erloschen. 828 Mit dieser Deutung der Vorgänge wurde einerseits den historischen Gegebenheiten mit den Verträgen im Zusammenhang der Gründung und Verfassungsgebung von Norddeutschem Bund und Reich Rechnung getragen. Andererseits wurde es durch die Reduzierung der Verträge auf eine bloß koordinierende und politisch legitimierende Funktion möglich, die Existenz eines neuen souveränen 821 Vgl. Zorn, Dt. StaatsR I, S 67; Haenel, Vertragsmäßige Elemente, S. 66; Laband, StaatsR I, S. 63 Fn. 1; O. Mejer, Einleitung, S. 25. 822 Haenel, Die vertragsmäßigen Elemente der deutschen Reichsverfassung, 1873. 823 Haenel, Vertragsmäßige Elemente, S. 69 f. 824 Haenel, Vertragsmäßige Elemente, S. 76. 825 Haenel, Vertragsmäßige Elemente, S. 78. 826 Haenel, Vertragsmäßige Elemente, S. 79. 827 Haenel, Vertragsmäßige Elemente, S. 77 f. 828 Haenel, Vertragsmäßige Elemente, S. 76.
III. Die juristische Konstruktion und Legitimation des Reiches
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(Bundes-)Staates anzunehmen. Nur einzelne Stimmen stellten hiernach noch auf die vertragliche Begründung ab. 829 Bei der breiten Mehrheit der zeitgenössischen Staatsrechtslehre stießen die Ergebnisse Haenels dagegen auf Zustimmung. 83o 4. Das Reich als souveräner Staat Um das Reich als einen aus Staaten zusammengesetzten Bundesstaat zu konstruieren, bedurfte es noch der Auflösung der Identifikation der Staatsgewalt mit der Souveränität, die eine Scheidung von Souveränität und Staatlichkeit ermöglichte. Dies leisteten Georg Meyer sowie vor allem Paul Laband und auch Georg Jellinek. 831 Dazu wurde die Souveränität begrifflich wieder auf ihre negative Seite, den Ausschluss jedweder anderen, höheren Macht im Staat, zurückgeführt. Nach Meyer sollte ein Staat souverän sein, wenn er keiner höheren Gewalt unterworfen sei. 832 Jellinek definierte die Souveränität als unabhängige und höchste Gewalt. 833 Ganz ähnlich verstand Laband die Souveränität: als ,,höchste, oberste Gewalt", und er betonte, dass damit "nicht positiv ausgedrückt [wird], welche Befugnisse eine Gewalt in sich schließt, sondern es wird das negative Moment hervorgehoben, daß sie keine Gewalt über sich hat, welcher die Befugnis zusteht, ihr rechtlich bindende Befehle zu erteilen".834 Bei diesem Verständnis reduzierte sich die Souveränität von einem wesentlichen Merkmal zu einer möglichen Eigenschaft der Staatsgewalt. 835 Indem die Souveränität auf eine mögliche und nicht konstitutive Eigenschaft der Staatsgewalt reduziert wurde, wurde der nicht-souveräne Staat denkbar. Dieser bald herrschenden Meinung zufolge musste der Bundesstaat ein aus nicht-souveränen Staaten zusammengesetzter souveräner Staat sein. 836 Zum Kriterium der Verortung der Souveränität wurde vor allem die Kompetenz-Kompetenz erhoben: "In dieser Rechtsrnacht des Staates über seine Etwa O. Mayer oder Smend; siehe dazu unten C.III.lO. Vgl. Laband, StaatsR I, S. 89; Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 194 f.; Zorn, Dt. StaatsR, S. 17 ff., 72; G. Jellinek, Lehre von den Staatenverbindungen, S. 189, 255 ff.; Schulze, Dt. StaatsR 11, S. 2. 831 Vgl. G. Meyer, Staatsrechtliche Erörterungen, S. 2 ff.; ders., Dt. StaatsR, S. 6 f.; Laband, StaatsR I, 1. Aufl., S. 64. 832 G. Meyer, Dt. StaatsR, S. 10. 833 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 475. Wenn er dennoch eine "positive Seite" der Souveränität in der Fähigkeit der Staatsgewalt erblickte, "ihrem Herrschaftswillen einen allseitig bindenden Inhalt zu geben, nach allen Richtungen hin die eigene Rechtsordnung zu bestimmen" (S. 482), so war dies doch nur die andere Seite der Medaille der obersten und unabhängigen Gewalt. 834 Laband, StaatsR I, S. 72 f. 835 G. Meyer, Dt. StaatsR, S. 7; Laband, StaatsR I, S. 72; G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 474. 829 830
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C. Oas Bismarck-Reich als Bundesstaat
Kompetenz liegt die oberste Bedingung der Selbstgenügsamkeit, der Kernpunkt seiner Souveränität. ,,837 Im Deutschen Reich konnten gemäß Art. 78 RV Verfassungsänderungen im Wege der Reichsgesetzgebung erfolgen. Der Umfang der Zuständigkeiten des Reiches und somit auch derjenige der Glieder stand also zur Disposition des Reiches. Veränderungen erfolgten per Gesetz aufgrund von Mehrheitsbeschlüssen, d. h. "nicht in Gestalt der Betätigung oder Ausübung des Willens der Einzelstaaten, sondern in Gestalt einer sie bindenden Rechtsnorm, der Betätigung eines über ihnen stehenden Herrschaftswillens,,838. Art. 78 RV wurde daher als deutlichster Ausdruck der Souveränität des Reiches und der mangelnden Souveränität der Gliedstaaten angesehen. 839 Problematisch war in diesem Zusammenhang allerdings der Art. 78 Abs. 2 RV, wonach sogenannte Sonderrechte nur mit der Zustimmung der betroffenen Staaten abänderbar waren. Dies bedeutete eine verfassungsmäßige Grenze der Kompetenz-Kompetenz des Reiches und deren partielle Abhängigkeit vom Willen eines Gliedstaates. Für v. Seydel war dies daher auch "ein unverkennbares Wahrzeichen des Staatenbundes,,84o. Nach Ansicht G. lellineks war Art. 78 Abs. 2 RV hingegen lediglich eine selbstgesetzte, aber keine absolute Schranke des souveränen Staatswillens, "da ja auch jede prinzipielle Festsetzung im Wege der Verfassungsänderung aufgehoben werden kann,,841. Dass dieses Ergebnis der Zielsetzung der Norm kaum gerecht wurde, erkannte man woh1. 842 Theoretisch ließ sich dies jedoch für die zeitgenössische Staatsrechtslehre nur schwer fassen, weil eine Unterscheidung von verfassungsgebender und verfassungsändernder Gewalt der Reichsverfassung noch fremd war. 5. Die Staatsqualität der Glieder des Reiches Mit der Scheidung von Souveränität und Staatsgewalt entstand allerdings das Problem, die Staatsgewalt zu definieren und von anderer Hoheitsgewalt, etwa derjenigen von Gemeinden, abzugrenzen. 843 Zum Kriterium 836 Vgl. O. Mejer, Einleitung, S. 24; Schulze, Ot. StaatsR I, S. 24; Haenel, Ot. StaatsR I, S. 205; Meyer/Anschütz, Ot. StaatsR, S. 7; a. A. Zorn, Ot. StaatsR I, S. 63 ff. 837 Haenel, Vertragsmäßige Elemente, S. 149; vgl. auch Laband, StaatsR I, S. 63 f.; G. Jellinek, Lehre von den Staatenverbindungen, S. 294. 838 Laband, StaatsR I, S. 93. 839 Vgl. Laband, StaatsR I, S. 93 f.; Haenel, Vertragsmäßige Elemente, S. 240; ders., Ot. StaatsR I, S. 796 ff.; Zorn, Ot. StaatsR I, S. 76 ff., 83; Meyer/Anschütz, Ot. StaatsR, S. 226. 840 v. Seydel, Kommentar, S. 419. 841 G. Jellinek, Lehre von den Staatenverbindungen, S. 304. 842 Vgl. Laband, StaatsR I, S. 123. 843 V gl. Dreyer, Föderalismus, S. 286 ff.
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wurde im Wesentlichen erhoben, ob es sich um eigene, originäre und unabgeleitete Herrschaftsgewalt handele. 844 Bezüglich der Glieder eines Bundesstaates formulierte Laband: "Wenn ihnen diese Herrschermacht zu eigenem Recht zusteht, d. h. nicht kraft Delegation oder Auftrags der ihnen übergeordneten (souveränen) Gewalt und sie diese selbständig nach eigener Willensbestimmung zur Geltung bringen und durchführen, so hören sie zwar auf, souverän zu sein, aber sie hören nicht auf, Staaten zu sein. ,,845 Zum Charakteristikum der Staatsgewalt wurde so die Fähigkeit zur Selbstorganisation der Macht: "Wo immer ein Gemeinwesen seine Verfassung von einer anderen Macht erhält, so daß sie nicht auf seinem Willen ruht, sondern dauernd auf dem Gesetz dieser Macht ruht, da ist kein Staat, sondern nur das Glied eines Staates vorhanden.,,846 Nach diesem Verständnis waren im Bundesstaat also weder Souveränität noch Staatsgewalt geteilt, sondern vielmehr die Objekte, auf die die Staatstätigkeit gerichtet ist. 847 Die Souveränität war hingegen eine Eigenschaft, die ausschließlich der Bundesstaatsgewalt zukam. 848 Mit Blick auf die Glieder des Reiches wurde die Frage der Ursprünglichkeit der Hoheitsgewalt ganz überwiegend bejaht. Zum einen wurde auf die historischen Vorgänge der Reichsgründung und der einstmaligen Stellung der Glieder als souveräne Staaten verwiesen. Thre Rechte im Reich seien ihnen "verblieben" und nicht erst neuerlich begründet worden. 849 Zum anderen wurde auf ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation, ihre Verfassungsautonomie, abgestellt. 850 Nur "auf Grund und in Kraft ihrer eigenen Verfassung" übten sie ihre Rechte aus, begründeten sie also selbst. 851 Ihre Rechte nahmen sie auch durch Organe wahr, an deren Bestellung das Reich keinerlei Anteil hatte. 852 Insoweit besäßen sie auch eigene Willens- und Handlungsfreiheit. 853 Auch die umfassende Kompetenz-Kompetenz des Reiches 844 Vgl. Laband. StaatsR I, S. 57, 74; G. Jellinek. Allgemeine Staatslehre, S. 489 f.; ebenso im Wesentlichen auch Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 10 Fn. c; Haenel. Dt. StaatsR I, S. 799 f.; Arndt. StaatsR, S. 39. 845 Laband. StaatsR I, S. 162. 846 G. Jellinek. Allgemeine Staatslehre, S. 490 f.; auf die Fähigkeit der Staaten, ihre Verfassungen nach eigenen Gesetzen zu regeln, stellte schon entscheidend ab G. Meyer, Dt. StaatsR, S. 9 f. 847 G. Jellinek. Allgemeine Staatslehre, S. 503. 848 Laband, StaatsR I, S. 64; G. Meyer. Dt. StaatsR, S. 48; G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 769 f. 849 Laband. StaatsR I, S. 106; Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 227; Haenel, Dt. StaatsR I, S. 799. 850 Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 227. 851 Haenel, Dt. StaatsR I, S. 799 f. 852 Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 227. 853 Laband, StaatsR I, S. 105.
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sollte die Ursprünglichkeit der gliedstaatlichen Herrschaftsgewalt nicht trüben 854 : die bloße negative Möglichkeit des Reiches, ein Recht zu nehmen, lasse keineswegs auf dessen positive Begründung schließen. 855 Nach ganz herrschender Ansicht besaßen die Glieder des Reiches daher die Qualität nicht-souveräner Staaten. 856 Bei solch rein formaler Betrachtung wurden die politischen Realitäten völlig ausgeblendet. Daher wurde weder die Staatlichkeit Waldeck-Pyrmonts noch die anderer Kleinstterritorien in Zweifel gezogen. Das Reich insgesamt wurde daher als Bundesstaat angesehen. 857 Selbst diejenigen, die am Souveränitätskriterium festhielten 858 und den Gliedern die Staatsqualität absprachen 859 , schlossen sich dieser Deutung an. 860 Der Wille, im Reich das so lange erstrebte national-politische Ziel erblicken zu wollen, half hier über dogmatische Exaktheit hinweg.
6. Die Überordnung des Reiches über die Gliedstaaten Deutete man das Reich als Staatenbund aus souveränen Einzelstaaten, so bestand weder ein Unter- noch ein Überordnungsverhältnis zwischen Gesamtstaat und Einzelstaaten, denn, so v. Seydel: "Die einzelnen Staaten sind der Bund". Die Bundesgewalt sei die gemeinsame Staatsgewalt aller und darum auch die eines jeden Staates. 861 Die h. M. jedoch ging von einer strikten Überordnung des Reiches aus. 862 Die Unterordnung der Gliedstaaten komme dort zum Ausdruck, wo das Reich unmittelbar Hoheitsgewalt auf dem Territorium der Gliedstaaten ausübe, wo es sich der Gliedstaaten zur Umsetzung seiner Gesetze bediene, aber auch in den Bereichen, in denen die Gliedstaaten aufgrund eigenen Rechts tätig seien. Denn auch 854 So allerdings Zorn, Dt. StaatsR I, S. 80; unklar O. Mejer, Einleitung, S. 24 einerseits, S. 28 andererseits. 855 Vgl. Haenel, Dt. StaatsR I, S. 799; LAband, StaatsR I, S. 105. 856 Vgl. LAband, StaatsR I, S. 107; Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 226 f.; Schulze, Dt. StaatsR 11, S. 7. 857 Vgl. v. Mohl, Dt. RStaatsR, S. 37; v. Rönne, VerfR, S. 32; Schulze, Dt. StaatsR 11, S.4; O. Mejer, Einleitung, S. 31; Amdt, StaatsR, S. 41; LAband, StaatsR I, S. 88 ff.; Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 224 m. w.N. 858 So Zorn, Dt. StaatsR I, S. 63: "Souveränität ist das erste und oberste begriffliche Merkmal des Staates". 859 Zorn, Dt. StaatsR I, S. 84. Eigenwillig Haenel, Dt. StaatsR I, S. 802, der den Gliedern im Vergleich mit dem (natürlich souveränen) Einheitsstaat die Staatsqualität absprach. 860 Vgl. Zorn, Dt. StaatsR I, S. 61, 87; Haenel, Dt. StaatsR I, S. 805. 861 v. Seydel, Kommentar, S. 33. 862 Vgl. LAband, StaatsR I, S. 102 ff.; Zorn, Dt. StaatsR I, S. 137; O. Mejer, Einleitung, S. 293 f.; Schulze, Dt. StaatsR I, S. 47.
III. Die juristische Konstruktion und Legitimation des Reiches
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dieser letzte Bereich sei eingebunden in eine höhere Ordnung, die Gliedstaaten könnten sich angesichts der Kompetenz-Kompetenz des Reiches nur innerhalb des Raumes bewegen, den die Reichsgesetzgebung ihnen frei lasse. 863 Laband brachte diese vollkommene Unterordnung der Gliedstaaten trotz deren eigener Staatsqualität auf die Formel "Der Gliedstaat ist nach unten Herr, nach oben Untertan.,,864 Die Verortung der Souveränität bestimmte hier das vertikale Verhältnis im Bundesstaat. Allerdings kamen auch die Anhänger der waitzschen Bundesstaatslehre zu keinem anderen Ergebnis. Trotz Annahme einer geteilten Souveränität ging etwa v. Mohl von einer Überordnung des Gesamtstaates aus. Aber er wollte dies weniger abstrakt-konstruktiv aus der Natur des Bundesstaates folgern, sondern vielmehr auf die konkrete Ausgestaltung im positiven Verfassungsrecht abstellen. 865 Dabei beklagte er mit Blick auf die betont föderative Gestaltung des VerfassungsteJ(.tes des Deutschen Reiches, dass das "Oberhoheitsrecht des Reiches über die Einzelstaaten sehr spärlich und bruchstückartig" ausgebildet sei. 866 Haenel ging einen anderen Weg. Er befand: "Nicht der Einzelstaat, nicht der Gesamtstaat sind Staaten schlechthin, sie sind nur nach der Weise von Staaten organisirte und handelnde politische Gemeinwesen. Staat schlechthin ist nur der Bundesstaat als Totalität beider.,,867 Bei diesem frühen Vorläufer der dreigliedrlgen Bundesstaatslehre868 standen Reich und Bundesstaaten mit Blick auf die Kompetenzordnung der Verfassung in einem ,,rechtlich geordneten Verhältnis zueinander" .869 Indes hatte diese Lehre gleichfalls eine unitarische Tendenz und kam im Ergebnis zur Unterordnung der Gliedstaaten. Unter Hinweis auf die in der Kompetenz-Kompetenz wurzelnde Souveränität des Reiches als "Totalität" wurden insoweit eindeutige Verhältnisse ausgemacht. Anders als modeme Bundesstaatsauffassungen 870 war für Haenel die Kompetenzhoheit kein bloß "eventuelles oder latentes Recht".871 Gerade anband der Möglichkeit des Reiches, die bestehende Kompetenzverteilung zu verändern, werde deutlich, dass die Gliedstaaten nur eine "mitgliedschaftlich ein- und untergeordnete Herrschaft" ausübten. 872
Laband, StaatsR I, S. 105. Laband, StaatsR I, S. 59. 865 Vgl. v. Mohl, Dt. RStaatsR, S. 53. 866 v. Mohl, Dt. RStaatsR, S. 75. 867 Haenel, Die vertragsmäßigen Elemente, S. 63. 868 Vgl. besonders Haenel, Vertragsmäßige Elemente, S. 66. 869 Haenel, Dt. StaatsR I, S. 350. 870 Vgl. Isensee, in: HdbStR IV, § 98, Rn. 90: "Der latente Besitz der exzeptionellen Kompetenzhoheit begründet keine permanente und umfassende Überordnung ihres Trägers in der verfassungsrechtlichen Normallage". 871 Haenel, Dt. StaatsR I, S. 797. 863
864
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7. Das Reich - nur ein Fürstenbund? Zur Rechtsbasis des Reiches Hinsichtlich der theoretischen Konstruktion des Reiches vertrat mit Laband gerade ein die Souveränität des Reiches stark betonender Staatsrechtler eine föderalistisch anmutende Position. Danach bestehe das Wesen des Reiches in einer Mediatisierung der Gliedstaaten. 873 Diese seien das direkte, unmittelbare Herrschaftsobjekt der Reichsgewalt. Dies bedeutete für ihn, dass nicht die Bürger, sondern allein die Staaten Mitglieder des Reiches seien: "Das Deutsche Reich ist nicht eine juristische Person von stets sich vermehrenden Millionen Mitgliedern, sondern von 25 Mitgliedern".874 Das Reich also als bloßer Fürstenbund? Labands Ansicht stützte sich auf die Gründungsvorgänge von Reich und Norddeutschem Bund, deren rechtliche Einordnung umstritten war. 875 Für ihn war die Gründung eine Tat der deutschen Staaten gewesen und nicht eine Tat des deutschen Volkes. 876 Er versuchte, das Entstehen des neuen Staates streng legalistisch auf der Grundlage des einzelstaatlichen Verfassungsrechts zu erklären und stellte daher entscheidend auf die Gesetzgebung der 23 Einzelstaaten ab. 877 Eine andere Ansicht sah dagegen einen Vertragsschluss der Staaten als Rechtsbasis von Reich und Verfassung an. Die Verfassung war demnach nur ein in allen Staaten gleichlautendes Landesgesetz. 878 Auch insoweit ließ sich das Reich als Monarchenbund deuten, allerdings als rein völkerrechtliches VertragsverhäItnis, als Staatenbund. 879 Eine dritte Ansicht schließlich wollte eine Vereinbarung zwischen den einzelnen Staaten und dem Reichstag als Rechtsbasis des Reiches ansehen. 88o Alle drei Ansichten versuchten, das Entstehen des Reiches im Wesentlichen rechtsförmig im Rahmen der bisherigen Legalität zu begründen. 88l Dies führte aber dazu, dass das Reich als etwas von bestehender Staatlichkeit Abgeleitetes erschien, mithin mangels originärer HoheitsgewaIt kein 872
S.66.
Haenel, Dt. StaatsR I, S. 805; vgl. auch ders., Vertragsmäßige Elemente,
Laband, StaatsR I, S. 59. Laband. StaatsR I, S. 97. 875 V gl. Huber, Dt. VerfG III, S. 673 ff. 876 Laband, StaatsR I, S. 96. 877 Laband, StaatsR I, S. 32 ff., 36. 878 So v. Seydel. Kommentar, S. 15. 879 v. Seydel, Kommentar, S. 22 f. 880 Binding, Die Gründung des Norddeutschen Bundes, S. 131 ff., zum Begriff der Vereinbarung dort S. 163 ff. 881 Allerdings hatte auch Binding, Die Gründung des Norddeutschen Bundes, S. 161 f., die Vereinbarung mit gewissen Einschränkungen als einen rechtsbegründenden "tatsächlichen Vorgang", als einen ,.Akt extra legern" verstanden. 873
874
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Staat sein konnte. Erst G. Jellinek hat diesen Widerspruch überwunden, indem er jede Staatsgründung als außer-rechtliches, reines Faktum historisch-politischer Vorgänge definierte. Die Staatswerdung vollziehe sich nicht im Rahmen vorgegebenen Rechts, sondern schaffe solches erst neu. 882 Auch den historisch-politischen Vorgängen der Gründung wird eine Deutung des Reiches als Fürstenbund nicht gerecht. Sie blendet die Beteiligung des Reichstages ebenso aus wie die dominierende Stellung Preußens. Zwar wird die Rolle der Volksvertretung wohl überschätzt, wenn von einem Verfassungskompromiss die Rede ist und gar eine demokratische Grundlage der Verfassung behauptet wird 883 , aber trotz seiner bloß begrenzten Gestaltungsmacht symbolisierte der Reichstag die mächtige Idee der nationalen Einheit. Seine Mitwirkung an der Verfassungsgebung zeigte daher, dass das Reich mehr war als das Ergebnis zwischenstaatlich-diplomatischer Verhandlungen. Es stützte sich ebenso wie die Vormachtstellung Preußens nicht nur auf die überkommene dynastische Legitimation, sondern fand seine historisch-politische Berechtigung nicht zuletzt in der Nationalstaatsidee. 884 Im Gegensatz zur labandsehen Konstruktion des Reiches war es nach allgemeiner Ansicht auch gerade ein Kennzeichen des Bundesstaates - und somit auch des Reiches -, dass dieser direkte Herrschaftsrechte auch gegenüber den Bürgern besitze, während der Staatenbund auf die Vermittlung durch die Mitgliedsstaaten angewiesen war. 885 Eine Einschätzung, die im positiven Verfassungsrecht ihre Stütze fand. Einerseits waren die Bürger der Staatsgewalt des Reiches unmittelbar unterworfen durch Gesetze, Verwaltungsakte oder Urteile des Reichsgerichts. Andererseits hatten sie auch unmittelbaren Einfluss auf die Ausübung der Staatsgewalt, nämlich durch die Wahl einer Vertretung des gesamten Volkes der Nation, dem Reichstag. Mit Recht lehnte die Mehrheit der zeitgenössischen Staatsrechtslehre die Figur eines Fürstenbundes ab und betrachtete das Reich als einen nationalen, korporativen Verband, der sowohl ein "Bund der Staaten", als auch ein "Bund des Volkes" sei. Mitglieder des Reiches sollten beide sein: Einzelstaaten und Volk. 886
Vgl. G. lellinek, Lehre von den Staatenverbindungen, S. 264. So aber Huber, Dt. VerfG III, S. 667; ders., in: HdbStR I, § 2, Rn. 10; Maurer, in: FS f. Stern, S. 30. 884 Siehe dazu oben C.1.2.b) und 7. 885 So vor allem G. Meyer, Dt. StaatsR, S. 43 f.; v. Rönne. VerfR, S. 32; Schulze. Dt. StaatsR 11, S. 46; G. lellinek, Lehre von den Staatenverbindungen, S. 282,291. 886 Vgl. Haenel, Dt. StaatsR I, S. 805; Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 224; Triepel, Unitarismus und Föderalismus, S. 31 f.; v. Rönne, VerfR, S. 32; Schulze. Dt. StaatsR 11, S. 45. 882 883
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8. Der Träger der Souveränität und die Staatsform des Reiches Die Ansicht Labands zur Konstruktion des Reiches wird angesichts der Zuordnung der Staatsgewalt und der Staatsform des Reiches verständlich. Anfanglieh wurde der Kaiser als Inhaber der Reichsgewalt angesehen und das Reich als Monarchie gedeutet. 887 Teils wurden Bundesrat und Kaiser als Mitträger der Souveränität angesehen. Das Reich sollte ein Kondominium mit einem starken monarchischen Element sein. 888 Nach der ganz herrschenden Ansicht war aber die "Gesamtheit der verbündeten Regierungen", verkörpert im Bundesrat, die Inhaberin der Reichsgewalt. 889 Diese Anschauung ging zurück auf das Verständnis von der konstitutionellen Monarchie, wonach der Monarch als Träger der gesamten Staatsgewalt angesehen wurde. 89o Zwar konnte er durch Parlament und Verfassung verschiedentlich bei der Ausübung der Staatsgewalt beschränkt werden, doch vereinigte er in seiner Person die ganze Fülle staatlicher Hoheit und Macht. Die Bildung eines Bundesstaates aus Monarchien und Republiken sollte nun unterschiedliche Folgen haben. 891 Im republikanischen Bundesstaat ergebe sich im Gesamtvolk ein neuer Träger der Souveränität, beim monarchischen Bundesstaat sei hingegen die Gesamtheit der früheren Träger der Landessouveränitäten die neue Inhaberin der Gesamtstaatsgewalt. 892 Angesichts dieser Zuordnung der Reichsgewalt zu den "verbündeten Regierungen" sollte das Reich keine Einherrschaft, sondern eine Mehrherrschaft sein. Das Reich wurde daher als Pleonarchie 893 , als Republik 894 - hier verstanden als Mehrherrschaft und bloßer Gegensatz zur Monarchie - oder als "konstitutionelle, aristokratische Republik,,895 bezeichnet.
9. Gierke, Preuß und die Genossenschaftstheorie Einen Gegensatz zu den vorgenannten Überlegungen zum Bundesstaat bildete die organische Staatsauffassung der Genossenschaftstheoretiker. Vgl. v. Mohl, Dt. RStaatsR, S. 39 ff.; v. Rönne, VerfR, S. 29. Schulze, Dt. StaatsR 11, S. 29 f., 32. 889 Laband, StaatsR I, S. 97; Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 473 m. w. N.; Zorn, Dt. StaatsR I, S. 90; O. Mejer, Einleitung, S. 280, 340; Arndt, StaatsR, S. 114; G. Meyer, Dt. StaatsR, S. 420, 424. 890 Vgl. zur konstitutionell-monarchischen Staatslehre Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 17 ff.; 267 ff. 891 Vgl. Zorn, Dt. StaatsR I, S. 89 f.; O. Mayer, AöR 18 (1903), 351 f., 365. 892 O. Mayer, AöR 18 (1903), 364, sah hingegen im monarchischen Bundesstaat "keinen neuen Souverän, sondern einen Monarchenbund". 893 Zorn, Dt. StaatsR I, S. 90. 894 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 712. 895 Meyer/Anschütz, Dt. StaatsR, S. 474. 887 888
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Otto (v.) Gierkes monumentales Genossenschaftsrecht896 war ein "Konglomerat von spätromantischem idealisiertem Geschichtsbild, Deutschtümelei, aktuellem sozialem Engagement und einer Vision von ,Volkstaat' jenseits des nationalen Machtstaats" .897 Seine Genossenschaftstheorie versuchte, sowohl die Allmacht des modemen Staates als auch den Individualismus und die Vereinzelung in der bürgerlichen Gesellschaft zu überwinden. Während nach der dominierenden römisch-rechtlichen Auffassung Staat und Individuum die natürlichen Einheiten waren, schob Gierke die auf freier Vereinigung der Einzelnen beruhende Genossenschaft dazwischen. Sie bestand aus der Verbindung der Einzelnen zur Gesamtheit und sollte eine "reale Gesamtperson", ein "sozialer Organismus" sein898 - nicht lediglich ein abstrakt selbständiges Wesen neben seinen Gliedern, wie die juristische Person mit ihrer fiktiven Persönlichkeit. Theoretisch nahm Gierke Rückgriff auf Johannes Althusius, der den Föderalismus als umfassendes gesellschaftliches Organisationsprinzip begründete 899 und von Gierke wissenschaftlich wieder entdeckt wurde. 900 Historische Belege für seine Genossenschaft fand Gierke in altdeutschen Verbindungsformen wie Sippenverbänden, Zünften oder Gilden und Kommunen. Die Genossenschaft, die durch freie Verbindung und einen daraus erwachsenden Gesamtwillen gekennzeichnet war, stellte er der Herrschaft gegenüber - einer Anstalt, die nicht aus sich selbst, sondern von einem außerhalb stehenden Faktor, dem Herrn, bestimmt werde. Hier zeigte sich, dass die Genossenschaftstheorie vom Gedanken der Selbstverwaltung geleitet war und insoweit eine freiheitliche Tendenz gegenüber dem zeitgenössischen bevormundenden Etatismus hatte. Der Staat war für Gierke daher nicht - wie für den dominierenden staatsrechtlichen Positivismus - eine abstrakte Anstalt und bloßer Herrschaftsverband, sondern ein gegliederter Organismus und eine Synthese aus Genossenschaft und Herrschaft. Indem er den Staat letztlich als einen Verband der Verbände begriff, der zahllose Genossenschaften wirtschaftlicher, politischer und sozialer Natur umfasste 90l , enthielt die Genossenschaftstheorie auch einen pluralistischen Akzent. Für Gierke war daher klar, .dass "zwischen einem wahrhaft großen Einheitsstaat und dem germanischen Gedanken 896 (v.) Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, 4 Bände, 1868/1873/1881/ 1913; dazu Dreyer, Föderalismus, S. 371 ff.; Laufs, JuS 1969, 311 ff. 897 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts 11, S. 360. 898 Gierke, Vom Wesen der menschlichen Verbände, S. 13. 899 Zur Föderalismus-Theorie Althusius' siehe Dreyer, Föderalismus, S. 30 ff.; Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, S. 41 ff.; Duso/KrawietzIWyduckel, Konsens und Konsoziation in der politischen Theorie des frühen Föderalismus, 1997. 900 Vgl. Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 1880. 901 Gierke, Vom Wesen der Verbände, S. 29 f.
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C. Das Bismarck-Reich als Bundesstaat
selbstthätiger bürgerlicher Freiheit die Versöhnung nur gefunden werden kann, wenn zwischen Gemeinde und Staat in stufenweiser Gliederung mittlere Verbände bestehen, welche die Eigenschaft selbständiger, durch sich lebender Gemeinwesen mit der Eigenschaft von Gliedern einer höheren Allgemeinheit harmonisch verbinden [... ].,,902 Bei der Anwendung der Genossenschaftstheorie auf den Bundesstaat machte Gierke indes zahlreiche Konzessionen an den juristischen Zeitgeist903 , erst sein Schüler Hugo Preuß entwickelte hier seine Gedanken konsequent fort. "Im Gespinst des Souveränitätsbegriffs hat sich die Staatsrechtslehre verfangen wie die Fliege im Gewebe der Spinne", konstatierte Hugo Preuß 1889 mit Blick auf die juristischen Diskussionen um den Bundesstaat. 904 Für ihn war der "Souveränitätsbegriff die Negation des öffentlichen Rechts", weil für einen anderen als den souveränen Willen kein Raum mehr bleibe. 905 Der Souveränitätsbegriff sei "das tragende Princip des absoluten Obrigkeitsstaates".906 Er wollte daher das Souveränitätskriterium aus der Staatstheorie völlig ausscheiden. 907 Für ihn waren Gemeinde, Staat und Reich allesamt Gebietskörperschaften. Sie seien ihrem Wesen nach gleich, nämlich von eigenem Willen bestimmte Gesamtpersonen, die nicht nur ein eigener Organismus, sondern zugleich Glieder eines höheren Organismus seien. 908 Dabei sollten die dem Staat eingegliederten Körperschaften aber "nicht Geschöpfe seiner Willkür, sondern Evolutionen der gleichen Idee [sein], wie er selbst".909 Das Recht der Körperschaften werde daher vom Staat nicht eigentlich gesetzt, sondern dieser habe nur festzustellen, was als Recht bereits vorhanden sei. 910 Dieses preußsche Rechtsstaatskonzept entzog also die gegliederte Selbstverwaltung der staatlichen Verfügungsgewalt. Streitigkeiten zwischen den Körperschaften betrachtete Preuß daher nicht als Macht-, sondern als Rechtsfragen. Deshalb plädiert er für eine Verfassungsgerichtsbarkeit. 911 Die Abgrenzung zwischen Staat und GeGierke, Genossenschaftsrecht I, S. 783. Vgl. Dreyer, Föderalismus, S. 384 ff. 904 Preuß, Gemeinde, Staat und Reich als Gebietskörperschaften, S. VI; zu Person und Werk insgesamt Gillessen, Hugo Preuß, 1955; zu Preuß und Bundesstaat vgl. Dreyer, Föderalismus, S. 387 ff.; Mauersberg, Ideen und Konzeptionen Hugo Preuß', S. 16 ff.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts n, S. 363 f. 905 Preuß, Gemeinde, Staat und Reich als Gebietskörperschaften, S. 133. 906 Preuß, Gemeinde, Staat und Reich als Gebietskörperschaften, S. 136. 907 Preuß, Gemeinde, Staat und Reich als Gebietskörperschaften, S. 92; zur Kritik am Souveränitätsbegriff und Preuß' Staatsauffassung siehe auch Lehnert, Verfassungsdemokratie als BÜTgergenossenschaft, S. 107 ff., 115 ff. 908 Preuß, Gemeinde, Staat und Reich als Gebietskörperschaften, S. 251 ff., 257, 261. 909 Preuß, Gemeinde, Staat und Reich als Gebietskörperschaften, S. 223. 9\0 Preuß, Gemeinde, Staat und Reich als Gebietskörperschaften, S. 225 f. 902
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III. Die juristische Konstruktion und Legitimation des Reiches
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meinde hatte für Preuß mit der Preisgabe des Souveränitätskriteriums ihre Bedeutung verloren. Entscheidender sei vielmehr die konkrete Verteilung der Kompetenzen. Mit Blick auf England meinte er: "Deshalb existiert aber auch für das englische Staatsrecht das Problem von dem begrifflichen Wesensunterschied zwischen Gemeinde und Staat überhaupt nicht. Kompetenzen des local government wie die des national government bestimmt das Recht und entscheidet im Streitfalle der Richter; aus dem Wesen des ,Staates' aber folgt dafür ebenso wenig wie aus dem Wesen der ,Gemeinde,.,,912 Stärker noch als Gierke betonte Preuß, der selbst für die Linksliberalen in der kommunalen Selbstverwaltung engagiert war, den demokratischen Charakter der Genossenschaftsidee: ,,[F]ür ein politisches Gemeinwesen ist der Gegensatz von Selbstregierung und Regiertwerden eben kein anderer als der Gegensatz genossenschaftlicher Organisation von unten herauf zur anstaltlichen Organisation von oben herab.,,913 Hier zeigt sich, dass die Genossenschaftstheorie und das organische Staatsdenken sich nicht wie der staatsrechtliche Positivismus in juristischen Begriffskonstruktionen erging, sondern zugleich eine offene politische Dimension hatte und eine materielle Rechtfertigung der gegliederten Gemeinschaft enthielt. Gedanken der Subsidiarität, der Freiheit durch Herrschaftsbegrenzung und der demokratischen Selbstverwaltung durchzogen die Genossenschaftsidee. In der Staatsrechtslehre des Bismarck-Reiches nahm sie allerdings sowohl methodisch wie auch politisch eine krasse Außenseiterposition ein. 10. Die Legitimation der bundesstaatlichen Ordnung des Reiches
Die Mehrheit der zeitgenössischen Staatsrechtslehrer hat die Frage nach der Legitimation, dem Warum der bundesstaatlichen Ordnung kaum gestellt. 914 Dies lag zum einen an dem staatsrechtlichen Positivismus der Zeit. Man arbeitete mit dem bestehenden Verfassungs werk, Fragen nach seiner Legitimation oder Kritik daran wurden in den Bereich des Unjuristischen, der Politik verwiesen. Zum anderen lag die Begründung der bundesstaatlichen Ordnung für die Zeitgenossen aber auch ganz selbstverständlich auf der Hand: Sie wurde als notwendige Form angesehen, um angesichts der traditionellen partikularen Gliederung Deutschlands endlich einen Nationalstaat zu verwirklichen. Die Form der nationalen Einheit sei den ,,realen Zuständen und praktischen Bedürfnissen" geschuldet. 915 Eine Formel, die - in 9Jl 912 913
914 915
Preuß, Gemeinde, Staat und Reich als Gebietskörperschaften, S. 213 ff., 216. Preuß, in: FS f. Laband H, S. 243. Preuß, in: FS f. Laband 11, S. 205. Vgl. Kisker, Ideologische und theoretische Grundlagen, S. 23. v. Rönne, VerfR, S. 31.
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