Der besondere Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG: Eine Untersuchung zu Gehalt und Struktur des Diskriminierungsverbotes sowie seiner Bedeutung für die verfassungsrechtliche Stellung und soziale Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen [1 ed.] 9783428507023, 9783428107025

Der Autor unterzieht in der vorliegenden Arbeit den besonderen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG sowohl in sei

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German Pages 321 Year 2002

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Der besondere Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG: Eine Untersuchung zu Gehalt und Struktur des Diskriminierungsverbotes sowie seiner Bedeutung für die verfassungsrechtliche Stellung und soziale Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen [1 ed.]
 9783428507023, 9783428107025

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 890

Der besondere Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG Eine Untersuchung zu Gehalt und Struktur des Diskriminierungsverbotes sowie seiner Bedeutung für die verfassungsrechtliche Stellung und soziale Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen

Von

Stefan M. Straßmair

Duncker & Humblot · Berlin

STEFAN M. STRASSMAIR

Der besondere Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 890

Der besondere Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG Eine Untersuchung zu Gehalt und Struktur des Diskriminierungsverbotes sowie seiner Bedeutung für die verfassungsrechtliche Stellung und soziale Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen

Von Stefan M. Straßmair

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Straßmair, Stefan M . :

Der besondere Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG : eine Untersuchung zu Gehalt und Struktur des Diskriminierungsverbotes sowie seiner Bedeutung für die verfassungsrechtliche Stellung und soziale Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen / Stefan M. Straßmair. - Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 890) Zugl.: München, Univ., Diss., 2001 ISBN 3-428-10702-0

Alle Rechte vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-10702-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Meinen Eltern

Vorwort Das Verbot, wegen seiner Behinderung benachteiligt zu werden, wurde Ende 1994 im Zuge der Verfassungsreform nach der deutschen Wiedervereinigung in das Grundgesetz aufgenommen. Menschen mit Behinderungen und deren Verbände, die für die Aufnahme dieser Vorschrift in die Verfassung nachhaltig eingetreten waren, erwarteten dadurch eine deutliche Verbesserung der rechtlichen Stellung behinderter Personen im vereinten Deutschland. Demgegenüber erfuhr der neue besondere Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG von der Rechtswissenschaft wenig Beachtung; vielmehr wurde ihm mit großer Zurückhaltung und Skepsis begegnet. Dies mag zum einen an einem gewissen Unbehagen liegen, das bei Juristen im Umgang mit Gleichheitsrechten allgemein vorherrscht und sich noch verstärkt, sofern solche Normen die Gleichheit und die Gleichberechtigung sozial benachteiligter Personengruppen zum Zweck haben. Zum anderen eröffnet gerade dieser bei Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG kaum übersehbare Zweck im Zusammenhang mit dessen klarer Formulierung als Grundrecht des Einzelnen einen großen Spielraum zur Interpretation; in der Rechtswissenschaft wird daher zu Gehalt, Bedeutung und Wirkung der Vorschrift fast jede denkbare Auffassung vertreten. Ziel der nachfolgenden Arbeit ist es nicht, die Wirkung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG im Hinblick auf konkrete Fallgestaltungen zu untersuchen. Es soll vielmehr darum gehen, den neuen besonderen Gleichheitssatz für Menschen mit Behinderungen auf eine wissenschaftlich fundierte dogmatische Grundlage zu stellen. Nur so lässt sich zur Anwendung dieser Verfassungsnorm ein Lösungskonzept entwickeln, mit dem bei der rechtlichen Beurteilung einzelner Sachverhalte vertretbare und auch vernünftige Ergebnisse erzielt werden können. Die Arbeit wurde im Sommersemester 2001 von der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen. Meinem Lehrer und Doktorvater Herrn Professor Dr. Dr. h.c. Heinrich Scholler möchte ich an dieser Stelle zunächst dafür danken, dass er die Betreuung der Arbeit übernommen hat und dabei sowohl zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema als auch zum persönlichen Gespräch stets gerne bereit war. Ich schulde ihm aber auch meinen ganz persönlichen Dank für einen Einblick in sein Leben und Werk - in all das, was ein Mensch, der von einer erheblichen körperlichen Beeinträchtigung betroffen ist, zu leisten imstande ist. Herrn Professor Dr. Rupert Scholz, der als Kommentator des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG sowie einer der beiden ehemaligen Vorsitzenden der Gemeinsamen Verfassungskommission mit dieser Vorschrift von Beginn an vertraut ist, danke ich für die Übernahme und die zügige Anfertigung des Zweitgutachtens.

Vorwort

8

An dieser Stelle ist auch all denjenigen zu danken, die einen mehr oder weniger großen Beitrag zur Entstehung dieser Arbeit geleistet haben. Sei es nun durch aktive Mithilfe bei Recherche- und Korrekturarbeiten; oder sei es nur durch ihren freundschaftlichen Beistand und das geduldige Ertragen meiner Stimmungen und gelegentlicher Launen. Allen voran denke ich dabei besonders an Frau Staatsanwältin Teresa Winner, die sich aufopferungsvoll um das Gelingen dieser Arbeit bemüht hat. Der größte Dank gebührt jedoch meinen Eltern, die mich auf allen meinen Wegen mit ihrer Liebe und ihrem Zutrauen begleitet haben; ihnen soll diese Arbeit gewidmet sein. München, im September 2001

Stefan Manfred Straßmair

Inhalt

Einleitung

21

1. Kapitel Die rechtliche Stellung behinderter Personen im deutschen Sozialsystem A. Das soziale System in Deutschland I. Der Begriff der Sozialpolitik II. Sozialpolitik und ihr rechtlicher Niederschlag im historischen Überblick

24 24 25 26

1. Die Sozialgeschichte bis zur Industrialisierung

26

2. Die soziale Entwicklung im Zuge der Industrialisierung in Deutschland ....

28

3. Die Reichssozialgesetze

30

4. Sozialgesetzgebung bis zum Ende der Weltkriege

32

5. Sozialgesetzgebung nach dem Zweiten Weltkrieg

33

a) Zur Entwicklung in der Bundesrepublik

34

b) Zur Entwicklung in der ehemaligen DDR

36

6. Strukturermittlung und Typisierungsversuch

37

III. Das Sozialrecht in der Bundesrepublik Deutschland

39

1. Der Begriff des Sozialrechts

39

2. Die Grundstrukturen des Sozialrechts

40

IV. Zusammenfassung und Würdigung B. Die Entwicklung der Rehabilitation im deutschen Sozialsystem I. Der Gedanke von der Rehabilitation behinderter Menschen II. Der Begriff der Rehabilitation

42 43 43 44

10

Inhalt III. Die Bedeutung der Rehabilitation im deutschen Sozialsystem

45

IV. Zur Entstehungsgeschichte des Rehabilitationsrechts

46

1. Von den Reichssozialgesetzen bis zum Zweiten Weltkrieg

46

2. Die Entwicklung in der Nachkriegszeit

49

3. Zusammenfassung

54

C. Die Grundzüge der Rehabilitation im Sozialrecht I. Leistungsarten

54 55

II. Leistungsgrundsätze

56

III. Leistungsträger und Zuständigkeiten

58

IV. Zuständigkeitsgrenzen

60

V. Koordination, Kooperation und Kompetenzen VI. Probleme der Rehabilitation im Sozialrecht VII. Zusammenfassung

61 63 64

D. Der Strukturwandel in der Sozialpolitik I. Von der Kausalität zur Finalität im Sozialrecht II. Von der Rehabilitation zur Integration III. Der Perspektivenwechsel in der Behindertenpolitik

65 65 66 67

2. Kapitel Die verfassungsrechtliche Stellung behinderter Personen bis zur Einführung des A r t 3 Abs. 3 S. 2 GG A. Das Sozialstaatsprinzip I. Das soziale Staatsziel im Grundgesetz

68 68 68

1. Verfassungsrechtliche Grundlagen

68

2. Historische Entstehung

69

Inhalt II. Die soziale Staatsaufgabe

71

III. Die Idee der sozialen Gerechtigkeit

72

IV. Elemente moderner Sozialstaatlichkeit

73

1. Sicherung einer menschenwürdigen Existenz

74

2. Soziale Gleichheit

74

3. Soziale Sicherheit

75

4. Daseins- und Wachstumsvorsorge

77

5. Arbeitsrecht und Ausbildungsförderung

78

V. Die Bedeutung des Sozialstaatsprinzips für die Belange behinderter Menschen

78

1. Die verfassungsrechtliche Absicherung gesetzgeberischer Maßnahmen zugunsten behinderter Menschen

79

a) Sozialgestaltung als gesetzgeberische Verpflichtung

79

b) Die Wechselbeziehung von einfachem Recht und verfassungsrechtlichem Sozialstaatsprinzip

80

c) Die Auslegung der Sozialstaatsdeklaration

80

d) Folgerung für gesetzgeberische Maßnahmen zugunsten behinderter Menschen

83

2. Sozialstaatsprinzip und einklagbare Rechtsansprüche VI. Ergebnis B. Die Grundrechte I. Die subjektiv- und objektivrechtliche Dimension der Grundrechte

84 86 86 87

1. Grundrechte als subjektive Rechte - insbesondere ihre klassische Funktion als Abwehrrechte gegen den Staat

87

2. Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte

88

3. Objektiv-rechtliche Aufgaben und Funktionen der Grundrechte

89

a) Grundrechte als Einrichtungsgarantien

90

b) Staatliche Schutzaufträge und Schutzpflichten

90

c) Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren

92

II. Die sozialstaatliche Interpretation der Grundrechte

93

12

Inhalt III. Grundrechte als Leistungs- und Teilhaberechte 1. Derivative Rechte auf staatliche Leistung

94 95

a) Derivative Leistungsansprüche aus dem Gleichheitspostulat

95

b) Derivative Leistungsrechte aus Vertrauensschutz und Eigentumsgarantie

97

2. Originäre Rechte auf staatliche Leistung

98

a) Originäre Leistungsansprüche aus den Freiheitsrechten

98

b) Die Problematik der gerichtlichen Durchsetzung originärer Leistungsrechte

99

c) Konsequenzen für die Begründung originärer Leistungsrechte

101

d) Originäre Leistungsrechte und die Sicherung eines sozialen Mindeststandards 102 3. Zusammenfassung

104

III. Schlussfolgerung

104

3. Kapitel Die Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG im Zuge der Verfassungsreform des Jahres 1994 A. Die Verfassungsreform 1994 I. Die Verfassungsdiskussion im Rahmen der Wiedervereinigung II. Die Gemeinsame Verfassungskommission III. Die Forderung nach einer Verfassungsergänzung im Hinblick auf die Belange behinderter Personen

106 106 106 110

111

B. Die Hintergründe der Forderung nach einer Ergänzung des Grundgesetzes zugunsten behinderter Personen 112 I. Rechtssoziologische Aspekte 1. Verfassungsrechtliche Vorgaben

113 113

a) Die Garantie der Menschenwürde

113

b) Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit

116

2. Die Menschenwürde und das Lebensrecht behinderter Personen in der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit

118

Inhalt a) Öffentlicher Sprachgebrauch

118

b) Gewalt gegen Personen mit Behinderungen

120

c) Die besondere Situation behinderter Frauen

121

3. Die Menschenwürde und das Lebensrecht behinderter Menschen in der wissenschaftlichen Diskussion 122 a) Die (bio-)medizinische Konfliktlage

122

b) Die (bio-)ethische Problemlösung

123

c) Die historische Erfahrung

124

II. Rechtsgeschichtliche und rechtspolitische Aspekte

126

1. Die Rechtsprechung der Zivilgerichte in der alten Bundesrepublik - insbesondere die Entscheidungen zum Reisevertragsrecht 127 2. Die besonderen Vorschriften zugunsten behinderter Personen in den Verfassungen der neuen Bundesländer III. Außenpolitische und rechtsvergleichende Aspekte 1. Regelungen im Völkerrecht und im europäischen Gemeinschaftsrecht

129 131 131

a) Völkerrecht

131

b) Europarecht

133

2. Internationales Verfassungsrecht C. Der Weg bis zum Inkrafttreten des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG I. Die Alternativen zur Verfassungsergänzung

134 135 135

1. Die Aufnahme eines Verfassungsauftrages

135

2. Die Ergänzung von Art. 3 GG um einen weiteren Gleichheitssatz

137

a) Die Entstehung des Gedankens

137

b) Ergänzungsalternativen zu Art. 3 GG a.F.

138

II. Die Diskussion in der Gemeinsamen Verfassungskommission

139

1. Der Verlauf der Beratungen

139

2. Die Anhörung vor den Berichterstattern

140

3. Die Entscheidung der Kommission

141

14

Inhalt III. Das Gesetzgebungsverfahren zur Verfassungsänderung

143

IV. Die Zielsetzung der Verfassungsergänzung

144

4. Kapitel Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG A. Die Gewährleistung rechtlicher Gleichheit im Grundgesetz I. Die Gleichheitssätze im Grundgesetz II. Der Gehalt des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG III. Die objektiv-rechtlichen Grundlagen der Gleichheitsrechte

146 146 147 148 149

1. Gleichheit und Gerechtigkeit

149

2. Rechtliche und faktische Gleichheit

151

a) Das Verhältnis von rechtlicher und faktischer Gleichheit

151

b) Faktische Gleichheit als Chancen- oder Ergebnisgleichheit

152

3. Das Verhältnis von Gleichheit und Freiheit

153

a) Der Konflikt zwischen faktischer Gleichheit und Freiheit

153

b) Lösungsansätze in der Rechtswissenschaft

154

IV. Gleichheitsrechte als subjektive Rechte

155

1. Die Gleichheit als Gegenstand individueller Ansprüche

156

2. Die Akzessorietät der Gleichheitssätze

157

3. Die Struktur der Gleichheitssätze als subjektive Rechte

157

V. Die Bedeutung der besonderen Gleichheitssätze aus Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG 159 1. Die Konkretisierung der allgemeinen Rechtsgleichheit durch die besonderen Gleichheitssätze des Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG 159 2. Parallelen zwischen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 GG

160

3. Das Verhältnis zwischen Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG

162

4. Keine Benachteiligung oder Bevorzugung „wegen" eines Merkmals des Art. 3. Abs. 1 Satz 1 GG - der spezielle Gleichheitssatz als Anknüpfungsverbot 164 B. Der Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

166

Inhalt I. Der Begriff der Behinderung im Verfassungsrecht

166

1. Die herkömmliche defektorientierte Auslegung

167

2. Die sozialorientierte Begriffsauslegung

169

3. Umfang und Grenzen des Begriffsinhaltes

170

a) Ursachen der Behinderung

171

b) Intensität und Grad der Behinderung

171

c) Behinderung und chronische Krankheiten

173

d) Drohende Behinderungen

173

4. Zusammenfassung II. Das Verbot der Benachteiligung

174 175

1. Begriff und Bedeutung der „Benachteiligung"

175

2. Das Verhältnis von Behinderung und Benachteiligung

177

3. Die einseitige Verbotsrichtung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

178

4. Kein Verbot der Bevorzugung behinderter Personen

179

5. Die Formen (benachteiligender) Ungleichbehandlungen

180

a) Die unmittelbare Ungleichbehandlung

180

b) Die mittelbare Ungleichbehandlung

182

c) Die „strukturelle" Benachteiligung behinderter Menschen

182

III. Der persönliche Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG 1. Der berechtigte Personenkreis

183 183

a) Natürliche Personen

183

b) Juristische Personen

185

2. Die Bindungsadressaten

187

a) Die staatliche Gewalt

187

b) Die Gesellschaft als Bindungsadressat?

188

C. Die subjektiv-rechtliche Dimension des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

191

I. Subjektiv-rechtliche Grundrechtspositionen aus Art. 3 GG a.F. 1. Die Struktur des allgemeinen Gleichheitssatzes als individuelles Abwehrrecht gegen staatliche Ungleichbehandlungen

191

191

Inhalt a) Verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlungen

192

b) Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung

192

(1) Die Willkürformel

193

(2) Die „neue" Formel

193

(3) Die „neueste" Formel

194

c) Fazit 2. Das individuelle Abwehrrecht aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG a) Die staatliche Ungleichbehandlung durch Anknüpfung an ein Merkmal des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG

195 196 197

(1) Die Ungleichbehandlung durch „unmittelbare" Anknüpfung in Form der unmittelbaren Differenzierung 198 (2) Die Ungleichbehandlung durch „mittelbare" Anknüpfung in Form der mittelbaren Differenzierung 200 b) Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung im Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG

202

(1) Anforderungen an die Rechtfertigung einer unmittelbaren Differenzierung

203

(2) Anforderungen an die Rechtfertigung einer mittelbaren Differenzierung

205

c) Zusammenfassung und Würdigung

207

(1) Die herkömmliche Auslegung als striktes Differenzierungsverbot .. 207 (2) Vom Differenzierungs- zum Diskriminierungsverbot

208

II. Die Interpretation des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG als subjektives Abwehrrecht gegen benachteiligende Ungleichbehandlungen 209 1. Ansichten in der Literatur

210

a) Die restriktive Interpretation

211

b) Die extensive Interpretation

213

2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

215

a) Die Grundsatzentscheidungen zum Schulrecht

215

b) Die Entscheidung zur Testierfreiheit

218

3. Zusammenfassende Stellungnahme

220

III. Die dogmatische Struktur des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG als subjektives Recht Kritik und eigener Ansatz 221 1. Der besondere Gleichheitssatz als Sitz eines „Anknüpfungsverbotes für benachteiligende Ungleichbehandlungen"? 221

Inhalt a) Das herkömmliche Modell eines Anknüpfungsverbotes auf Grundlage eines kategorischen Verbotes rechtlicher Differenzierungen 222 b) Die Problematik bei der Interpretation des Art. 3 Abs. 3 GG nach dem herkömmlichen Anknüpfungsmodell 222 c) Die Erweiterung des herkömmlichen Anknüpfungsmodells in Literatur und Rechtsprechung

225

d) Kritik am Konzept des Anknüpfungsverbotes

225

e) Strukturelle Unterschiede zwischen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 GG

227

f) Fazit

229

2. Das Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG als Verbot der Diskriminierung behinderter Menschen 229 a) Diskriminierung und Differenzierung

230

b) Die Struktur des Diskriminierungsverbots aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG . 231 (1) Die Ermittlung einer - benachteiligenden - Ungleichbehandlung durch Vergleich 231 (2) Die Priifungskonzepte für einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot 232 3. Die Wirkung des Diskriminierungsverbotes a) Die verfassungsrechtlich relevanten Ungleichbehandlungen

233 233

b) Die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung im Rahmen des Diskriminierungsverbotes 234 c) Schlussfolgerung IV. Ergebnis D. Die objektiv-rechtliche Dimension des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

237 238 238

I. Die Bedeutung des besonderen Gleichheitssatzes im Wertesystem der Grundrechte - Aspekte aus Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie 238 1. Die Grundlagen einer Werteordnung im Grundgesetz

239

a) Menschenwürde und Recht auf Leben

239

b) Freiheit und Gleichheit

239

c) Fazit

240

2. Die Verfassungswirklichkeit a) Die Diskrepanz zwischen Seins- und Sollensordnung

241 241

b) Der Wert- und Geltungsanspruch menschlichen Lebens im rechtsphilosophischen Konflikt 243 c) Schlussfolgerung 2 Straßmair

245

18

Inhalt 3. Konsequenzen für die Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG im Wertesystem der Grundrechte 246 II. Der objektiv-rechtliche Gehalt des besonderen Gleichheitssatzes

248

1. Die Konkretisierung von allgemeinem Gleichheitssatz und Sozialstaatsprinzip 248 2. Die Verstärkung von Menschenwürdegarantie und Recht auf Leben

250

3. Die Überwindung von Diskriminierungen wegen einer Behinderung als Staatsauftrag 252 4. Die integrative, appellative und edukative Wirkung des Verfassungssatzes .. 255 5. Objektiv-rechtliche Aufgaben und Funktionen

258

a) Schutzrechtsgewährleistungen

258

b) Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren

260

c) Die Sicherung von Leistung und Teilhabe

260

6. Zusammenfassung

261

III. Die Ausstrahlungswirkung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ins bürgerliche Recht . 262 1. Die „unmittelbare" Wirkung der Verfassungsnorm auf private Rechtsbeziehungen 262 2. Die mittelbare Drittwirkung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG im Privatrecht .... 264 3. Zusammenfassung

267

5. Kapitel Die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen A. Der Gleichstellungsauftrag aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG I. Gleichheit, Gleichberechtigung und Gleichstellung

268 269 269

1. Der Gleichstellungsgedanke im Bereich der Geschlechtergleichheit

269

2. Inhalte und Ziele der Gleichstellung

270

II. Die gruppenorientierte Perspektive des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

272

1. Der Gruppenvergleich als Grundlage des Gleichheitssatzes

272

2. Vom Verbot der Diskriminierung zum Gebot der Privilegierung

273

3. Die Rolle des Sozialstaatsprinzips

274

4. Der besondere Gleichheitssatz als Gleichstellungsgebot

275

Inhalt a) Parallelen zum Thema der Geschlechtergleichheit

275

b) Ziele der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen

276

c) Konsequenzen

277

5. Folgerungen III. Gemeinschaftsrechtliche und internationale Aspekte 1. Anti-Diskriminierungsmaßnahmen im Europarecht

277 278 278

a) Gleichstellungsinitiativen

278

b) Der neue Art. 13EGV

279

c) Die Europäische Grundrechtscharta

281

d) Folgerung

283

2. Die französische Gesetzgebung zur Beseitigung von Diskriminierungen

284

3. Das amerikanische Antidiskriminierungsgesetz von 1990

285

B. Gleichstellungsinitiativen auf Landesebene

286

I. Die Änderungen im Verfassungsrecht der alten Bundesländer

287

II. Landesgleichstellungsgesetze zugunsten behinderter Personen

289

1. Gegenstände von Gleichstellungsgesetzen auf Landesebene

289

a) Zuständigkeiten der Länder

289

b) Allgemeine Bestimmungen

290

c) Änderungen einzelner Landesgesetze

291

2. Das Landesgleichberechtigungsgesetz von Berlin III. Zusammenfassung C. Gleichstellungsinitiativen auf Bundesebene I. Das neue Rehabilitationsrecht im Neunten Buch Sozialgesetzbuch

2*

19

293 294 295 295

1. Aufgaben und Ziele des Gesetzes

295

2. Gliederung und Schwerpunkte des Gesetzes

296

3. Weiterentwicklungen im Rehabilitationsrecht

297

a) Der neue Behinderungsbegriff

297

b) Leistungsarten und Zuständigkeiten

298

c) Koordination und Kooperation

299

20

Inhalt II. Das allgemeine Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsgesetz

299

1. Antidiskriminierungsgesetz

300

2. Änderungen im Bundesrecht

301

III. Zusammenfassende Stellungnahme

301

Zusammenfassung und Ausblick

303

Literaturverzeichnis

309

Sachwortverzeichnis

318

Einleitung Die modernen Strukturen der staatlichen Gemeinschaft scheinen „Behinderungen" geradezu auf vielfältige Weise zu produzieren. Einen solchen Eindruck bestätigen bereits die Gefahren eines stetig zunehmenden Straßenverkehrs in der Bundesrepublik und die damit wachsende Anzahl von Unfallopfern, die mit einer dauernden Behinderung leben. Aber auch die Vorzüge eines weitreichenden Lebensschutzes in Deutschland, der nicht zuletzt aufgrund großer Fortschritte im Bereich der Medizin gewährleistet werden kann, bewirken gleichzeitig die Steigerung von immer schwereren körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen. Die Zunahme von Behinderungen in der modernen Gesellschaft lässt sich aber auch aus einer völlig anderen Perspektive beschreiben. Betrachtet man die wachsenden Anforderungen an die Fähigkeiten des Einzelnen, welche die moderne Gesellschaft gewissermaßen als Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben aufstellt, ließe sich behaupten, dass diejenigen in der staatlichen Gemeinschaft in ihrem Streben nach einem selbstbestimmten Leben „behindert" werden, die diese wachsenden Anforderungen aufgrund einer Einschränkung in ihren körperlichen, geistigen oder seelischen Fähigkeiten nicht erfüllen können. Ein solcher Gedanke ist auch nicht völlig von der Hand zu weisen: Aufgrund der zahlreichen Verflechtungen von Staat und Gesellschaft im modernen Sozialstaat lässt sich die Frage immer schwieriger beantworten, ob nun die Verantwortung für eine Behinderung alleine dem Einzelnen oder etwa ebenso der staatlichen Gemeinschaft zuzuschreiben ist; und wenn ja, in welchem Maße. Eine Frage mit enormer Bedeutung für die tatsächliche Verfassung der modernen Gesellschaft im Deutschland des 21. Jahrhunderts, die mittels der rechtlichen Verfassung der Bundesrepublik, sprich dem Grundgesetz, entschieden werden muss. Als im Zuge der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten das Grundgesetz auf seinen Reformbedarf durchgesehen wurde, hat man auch die Notwendigkeit einer gesonderten Vorschrift zugunsten behinderter Menschen diskutiert, die über das Sozialstaatsprinzip im Grundgesetz hinaus der besonderen Verantwortung des Staates für diese Personen Ausdruck verleihen sollte. Trotz heftiger Kontroversen um den Nutzen einer solchen Bestimmung kam es nach anfänglicher Ablehnung einer Verfassungsänderung zugunsten von Menschen mit Behinderungen schließlich zur Ergänzung des sog. Diskriminierungsverbots in Art. 3 Abs. 3 GG a.F. um einen neuen Satz 2 mit dem Wortlaut: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." Seither sind Gehalt, Bedeutung und Wirkungsweise dieser neuen Verfassungsbestimmung heftig umstritten. Zum Teil mag dies daran liegen, dass diese Verfas-

22

Einleitung

sungsbestimmung innerhalb der Verfassungsdiskussion von 1994 im Unterschied zu anderen Änderungsvorschlägen wie etwa der gleichzeitigen Ergänzung des Gleichberechtigungssatzes in Art. 3 Abs. 2 GG nicht im Detail beraten wurde. Neben diesem Umstand lassen aber auch die offensichtliche Anlehnung der Bestimmung an den heutigen Satz 1 des Art. 3 Abs. 3 GG sowie deren Verwandtschaft zu den sozial(staatlich)en Grundrechtsgewährleistungen viel Raum für Spekulationen und weit auseinandergehende Auffassungen zu Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Eine objektive Sichtweise zu entwickeln ist vielfach nur möglich, wenn man die verschiedenen Perspektiven kennt und weitgehend auch versteht. Liegen die Extrempositionen so sehr auseinander wie im Falle des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, ist jeder Versuch einer objektiven Betrachtung eine Gradwanderung. Vom bedeutungslosen Zugeständnis an den Zeitgeist bis hin zum Anspruch auf fast unbegrenzte Leistungen gegen den Staat wird dieser Verfassungsnorm eine weite Bedeutungsspanne in der Literatur zugeschrieben. Besonders seine Ausformulierung als Individualgrundrecht sowie seine Stellung innerhalb der besonderen Gleichheitssätze machen das Verbot, wegen seiner Behinderung benachteiligt zu werden, zu einer äußerst problematischen Verfassungsbestimmung, zu der sich eine herrschende Meinung in Literatur und Rechtsprechung noch nicht herausbilden konnte. Die nachfolgende Untersuchung will den Versuch unternehmen, die neue Verfassungsbestimmung im Hinblick auf ihren Gehalt und ihre Bedeutung innerhalb des Grundrechtskataloges und besonders auch im Kontext mit einfachgesetzlichen Regelungen zugunsten von Menschen mit Behinderungen eingehend zu untersuchen. Nach Auffassung des Verfassers kann der neue Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nur aus seiner Entwicklungsgeschichte im Zusammenhang mit der sozialen Bewegung in Deutschland verstanden werden. Diese findet mittlerweile nicht mehr nur im Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes, sondern auch in dem neuen Benachteiligungsverbot zugunsten behinderter Menschen ihren deutlichen Ausdruck im Grundgesetz. Einleitend soll daher im ersten Kapitel die Entwicklung des sozialen Systems in Deutschland bis zur Jahrtausendwende dargestellt und dabei insbesondere auf das Recht der Rehabilitation im Sozialgesetzbuch eingegangen werden. Im zweiten Kapitel geht es um die Untersuchung der verfassungsrechtlichen Stellung behinderter Menschen nach dem Grundgesetz vor der Aufnahme des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Im Mittelpunkt steht dabei die verfassungsrechtliche Berücksichtigung und Absicherung der sozialen Belange behinderter Personen durch Sozialstaatsprinzip und Grundrechte. Insbesondere wird auch danach zu fragen sein, ob und inwieweit sich nach der heutigen Grundrechtsdogmatik positive Ansprüche des Einzelnen (sog. Leistungs- und Teilhaberechte) aus dem Grundgesetz begründen lassen. Die Einführung des Benachteiligungsverbots im Grundgesetz kann jedoch nicht alleine auf das Fortschreiten in der sozialen Behindertenpolitik zurückgeführt werden; diese setzte vielmehr nur den äußeren Rahmen für die Einführung des

Einleitung

Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Die weiteren Hintergründe und konkreten Anlässe der Forderung nach einer Verfassungsergänzung zugunsten von Menschen mit Behinderungen sollen deshalb im dritten Kapitel im Zusammenhang mit dem historischen Verlauf der Verfassungsergänzung dargestellt werden. Das vierte Kapitel bildet den eigentlichen Hauptteil der Untersuchung und widmet sich der subjektiv-rechtlichen und objektiv-rechtlichen Dimension der Verfassungsvorschrift. Die dogmatische Struktur und Wirkungsweise des Benachteiligungsverbotes als subjektives Individualgrundrecht kann sicherlich nur unter Rückgriff auf die anderen Gleichheitssätze im Grundgesetz ermittelt werden, wobei allerdings fraglich ist, ob und ggf. inwieweit sich die zu Art. 3 Abs. 3 GG a.F. entwickelten Lösungsansätze auf den neuen Gleichheitssatz übertragen lassen. Im Hinblick auf seinen objektiv-rechtlichen Gehalt ist von großer Relevanz, welche Bedeutung dem Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG innerhalb der sog. Werteordnung des Grundgesetzes zukommt. Überdies wird auf sein Zusammenspiel mit anderen Verfassungsprinzipien sowie auf seine Ausstrahlungswirkung auf die gesamte Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland einzugehen sein. Das fünfte Kapitel widmet sich der Frage, ob und inwieweit dem Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ein Auftrag zur sog. Gleichstellung im Sinne einer rechtlichen Besserstellung behinderter Personen zum Ausgleich bestehender Nachteile entnommen werden kann. In diesem Zusammenhang geht es auch um das neue Rehabilitationsgesetz im Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX), das jedenfalls einen politischen Auftrag aus der Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG für den Bereich des Sozialrechts erfüllen soll, sich in der Praxis aber noch zu bewähren haben wird. Ein Blick auf dieses Gesetz schließt an die Ausführungen zum Rehabilitationsrecht im ersten Kapitel an. Das SGB IX trat am 1. Juli 2001 in Kraft; diesem Zeitpunkt entspricht auch der Stand der vorliegenden Arbeit. In einem Überblick sollen schließlich wesentliche Aspekte von derzeit größtenteils erst geplanten Gleichstellungsmaßnahmen auf Ebene des Bundes und der Länder dargestellt werden.

1. Kapitel

Die rechtliche Stellung behinderter Personen im deutschen Sozialsystem Die heutigen Lebensbedingungen von Personen mit Behinderungen und deren rechtliche Stellung in der Bundesrepublik Deutschland lassen sich auf ein stetiges Fortschreiten der Behindertenpolitik zurückführen. Über Jahrhunderte hinweg stand Politik für behinderte Menschen im Zeichen der Armenfürsorge, da zwangsläufig derjenige arm war, der sich wegen seiner körperlichen oder geistigen Gebrechen nicht ausreichend selbst versorgen konnte1. Erst die Bestrebungen der modernen Sozial- und Behindertenpolitik führten allmählich zu Veränderungen. Diese Politik für behinderte Menschen führte auch zu der neuen Verfassungsbestimmung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und konnte damit auf der höchsten Ebene der deutschen Rechtsordnung das Bekenntnis des Staates erreichen, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Soziale Politik bildet deshalb Ausgangspunkt und Hintergrund für die Diskussion um die Verfassungsänderung. Ein Blick auf die wesentlichen Aspekte behindertenspezifischer Sozialpolitik ist Grundlage für das Verständnis der neuen Verfassungsbestimmung.

A. Das soziale System in Deutschland Die Rechtsentwicklung auf sozialem Gebiet ist heute in der Bundesrepublik Deutschland von immenser gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Bedeutung. Wer sich mit sozialem Recht befasst, begegnet einer schier unüberschaubaren Menge von Gesetzgebung, die von der staatlichen Sozialpolitik hervorgebracht wurde. Diese Gesetzgebung formt heute in Deutschland ein vielschichtig gegliedertes und differenziertes soziales System, auf dessen geschichtliche Entwicklung aus der sozial(politisch)en Bewegung, dessen Bedeutung und wesentliche Grundstrukturen im Folgenden eingegangen werden soll.

ι Simon, Die Rehabilitation 1985, S. 131.

Α. Das soziale System in Deutschland

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L Der Begriff der Sozialpolitik Der Begriff der Sozialpolitik ist heute aus der politischen und wissenschaftlichen Diskussion kaum mehr wegzudenken. Seitdem sich der Begriff mit dem Aufkommen der sozialen Arbeiterfrage im 19. Jahrhundert -insbesondere nach der Gründung des „Vereins für Socialpolitik" im Jahre 1872- auch in der deutschen Rechtssprache etabliert hat2, gibt er in der Wissenschaft Anlass zum Streit über seine Bedeutung und seinen Inhalt. Einhellig wird der Begriff als unglücklich und unpraktisch, sein Inhalt und seine Konturen als unklar und unscharf bezeichnet3. Nicht zuletzt mag dies darin begründet sein, dass sich der weite Begriff der Sozialpolitik einer exakten und zeitlosen wissenschaftlichen Definition entzieht, sein Sinngehalt vielmehr am Wandel der sozialen Befindlichkeiten und Bedürfnisse in der Bevölkerung ausrichtet ist 4 . Die Anfänge der staatlichen Sozialpolitik lassen sich auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückdatieren. Sozialpolitik ist aber keine Erscheinung, die erstmals im 19. Jahrhundert auftrat, auch wenn sie von diesem Zeitpunkt an für den Staat eine herausragende Bedeutung bekam mit der Folge, dass heute die vom Staat betriebene Sozialpolitik das allgemeine Begriffsverständnis hauptsächlich prägt. Zur Sozialpolitik zählen jedoch nicht nur alle staatlichen, sondern auch alle ausserstaatlichen Maßnahmen und Bestrebungen zur Verbesserung der Lebenslage von wirtschaftlich und/oder sozial Schwächeren5. Schon von daher stellt das rein staatliche Tätigwerden nur einen Teilbereich der gesamten Sozialpolitik dar. Als weiterer Teilbereich der Sozialpolitik ist die staatlich oder außerstaatlich betriebene Behindertenpolitik zu betrachten. Der Begriff der Sozialpolitik beschreibt also eine Entwicklung, die schon sehr früh ihren Anfang nahm und deren Bestrebungen erst in der jüngeren Geschichte zum Anliegen des Staates wurden. Aus dieser Entwicklung heraus erfolgte auch die Kodifizierung sozialer Maßnahmen im deutschen Recht, insbesondere die Entstehung eines sozialen Rechtssystems in Deutschland.

2 Frerich/Frey, Band 1, S. V. 3 Vgl. Merten, Sozialrecht. Sozialpolitik, in: HBdVerfR, S. 961 ff. (S. 994, Rn. 111); von Maydell, in: LdR/SozR, S. 441. 4 von Maydell, in: LdR/SozR, S. 441. 5 Frerich/Frey, Band 1, S. V.

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1. Kap.: Die rechtliche Stellung behinderter Personen

II. Sozialpolitik und ihr rechtlicher Niederschlag im historischen Überblick Die Entstehung des Sozialsystems im deutschen Recht ausführlich chronologisch nachzuzeichnen ist weder beabsichtigt, noch ist dies im Rahmen dieser Untersuchung sinnvoll möglich. Ein kurzer historischer Rückblick kann nämlich immer nur ein unvollständiges Bild der Sozialgeschichte vermitteln, da die einzelnen Maßnahmen nur aus der jeweiligen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation heraus zu verstehen sind6. Insofern ist an dieser Stelle ergänzend auf andere entsprechende Darstellungen zu verweisen7. Die Wurzeln der Sozialpolitik und der Ursprung sozialer Rechtsentwicklung reichen bis weit vor den Beginn unserer Zeitrechnung zurück. Die Bedeutung der Sozialpolitik sowie die Grundstrukturen des Sozialrechts im heutigen sozialen System Deutschlands sind auf die historische Entwicklung zurückzuführen und lassen sich aus dieser heraus besser verdeutlichen.

1. Die Sozialgeschichte bis zur Industrialisierung Die Hilfe für Menschen, die aus wirtschaftlichen oder gesundheitlichen Gründen Not leiden, ist seit Beginn der Geschichtsschreibung schon immer ein Thema des menschlichen Zusammenlebens gewesen. In der Vergangenheit wurde ein „soziales Problem" aber solange nicht akut, wie sich der Einzelne in einem Familienoder Sippenverband befand, der ihn unterstützte. Die Familie war somit die Basis der sozialen Sorge und Sicherung. Als die Völker begannen, sich vom Agrarstadium zu Handels- und Industrievölkern fortzuentwickeln, lösten sich infolge dieser gesellschaftlichen Umbrüche die engeren Gemeinschaften der Großfamilie immer weiter auf und soziale Probleme traten erstmals sichtbar in Erscheinung8. So tauchten im Altertum 9 erste soziale Lösungsansätze bereits im Ägypten der Pharaonen auf, die für die verletzungsträchtigen Arbeiten an den Monumentalbauten arbeitsmedizinische Anweisungen und eine spezielle Fürsorge für Kranke und Invalide kannten10. Im alten Griechenland war das Verhalten gegenüber den Mitmenschen stark von Skrupellosigkeit geprägt, bis in der Zeit nach den Perserkriegen (490 bis 449/448 6 Vgl. Gitter, S. 7. 7 Insbesondere: Frerich/Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik, Band 1 - 3 , 1993; Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherung, 1978; Gitter, Sozialrecht, S. 7 ff.; Eichenhof er, Sozialrecht, S. 11 ff.

8 Merten, S. 965, Rn. 14; Gitter, S. 7. Der Begriff des Altertums erfasst den Zeitraum vom Beginn erster Geschichtsschreibung im 3. Jahrtausend v. Chr. bis etwa zum Ende des weströmischen Reiches im Jahre 476. 10 Fichtner, Die Rehabilitation 1985, S. 114. 9

Α. Das soziale System in Deutschland

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v. Chr.) Handel und Gewerbe aufblühten und immer mehr Freie als Arbeitskräfte benötigt wurden. Der Staat begann zunächst für Kriegsgeschädigte und deren Hinterbliebene Unterhalt zu leisten und unterstützte später auch erwerbslose oder arbeitsunfähige Bürger, die nicht von Angehörigen unterhalten wurden, mit Geld, Nahrung, Kleidung und ärztlicher Behandlung durch Armenärzte. Zudem entwikkelten sich zu dieser Zeit erste Ansätze einer privaten Selbsthilfe in Form von privaten Begräbnisgesellschaften und Krankenhilfsvereinen. Ahnlich verlief die Entwicklung im antiken Rom, wo sich die staatlichen Sozialleistungen zunächst auf staatliche Spenden beschränkten. Als nach den Punischen Kriegen (264 bis 146 v. Chr.) große Teile der Bevölkerung verarmten, wurde eine öffentliche Armenfürsorge eingeführt, deren Leistungen trotz bereits eingeführter Geldwirtschaft in der Verteilung von Naturalleistungen bestanden11. Bemerkenswert ist auch hier die Gründung von privaten Vorsorgeeinrichtungen wie Sterbeund Krankenkassenvereinen, die etwa seit Beginn unserer Zeitrechnung mit staatlicher Konzession und unter staatlicher Aufsicht Leistungen für ihre Mitglieder erbrachten 12. Diese durch Eintrittsgeld, laufende Beiträge und Umlagen ihrer Mitglieder finanzierten Kassenvereine stellten juristische Personen dar 13 . Als mit der Anerkennung des Christentums als Staatsreligion 14 die christlichen Gemeinden die Fürsorge für ihre Glaubensgenossen aus religiösem Antrieb übernahmen, verschwanden die Kassen vereine jedoch allmählich wieder. Bis ins Mittelalter 15 zählte die öffentliche Wohlfahrtspflege und das Armenwesen im Wesentlichen zu den Aufgaben der christlichen Caritas 16. Arme und Kranke wurden von medizinisch ausgebildeten Mönchen in klostereigenen Krankenhäusern und Hospitälern versorgt. Als nach den ersten Stadtgründungen im deutschen Raum (seit ca. 950) immer mehr landvertriebene Bauern und ehemalige Soldaten in die Städte strömten, reichte die christliche Caritas zur Lösung der sozialen Probleme bald nicht mehr aus. Zur Bekämpfung der Armennot begannen deshalb zunächst die größeren Städte ab dem 13. Jahrhundert mit der Errichtung von Hospitä11 Hauptsächlich wurde Getreide, später auch Brot, Öl und Fleisch an die notleidende Bevölkerung verteilt; vgl. Peters, S. 16 f.; Gitter, S. 7. 12 Die Sterbekassen vereine (collegia funeraticia) übernahmen die Begräbniskosten und angemessene Gaben für Hinterbliebene. Die Krankenkassenvereine (collegia tenuiorum) leisteten bei Krankheit und Unfällen Ersatz für den Verdienstausfall in Geld und Lebensmitteln und gewährten ihren Mitgliedern ärztliche Hilfe und Heilmittel; vgl. Peters, S. 17. 13 Sie hatten ehrenamtliche Vorstände, Satzungen und Mitgliederverzeichnisse; vgl. Peters, S. 17. 14 Kaiser Konstantin I. (324 bis 337) entschied sich 325 auf dem Konzil von Nizäa für das christliche Bekenntnis, das 380/381 unter Theodosius I. für alle Reichsangehörigen verbindlich wurde. Der Begriff des Mittelalters bezeichnet die Epoche zwischen Altertum und Neuzeit; sein Beginn kann etwa auf das 4. Jahrhundert, sein Ende auf das 16. Jahrhundert datiert werden. 16 Man bezeichnet als Caritas neben der Gottesliebe v.a. die tätige Nächstenliebe und uneigennützige Fürsorge für Hilfsbedürftige; Peters, S. 19.

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1. Kap.: Die rechtliche Stellung behinderter Personen

lern und stellten vereinzelt auch Stadtärzte zur Behandlung der Kranken und Hilfsbedürftigen zur Verfügung. Die Fürsorgemaßnahmen der Kirchen und Städte, die bald ohnehin nur noch die allerdringlichsten sozialen Missstände beseitigen konnten, kamen durch die Folgen des Dreißigjährigen Krieges (1618 bis 1648) fast völlig zum Erliegen 17 . Die Genossenschaften im Bergbau und im Handwerk, die Selbsthilfe auf gemeinschaftlicher Grundlage leisteten, gewannen deshalb vermehrt an Bedeutung18. Bei den Bergarbeitern - den „Knappen" - war der Zusammenhalt auf Grund der besonderen Arbeitsbedingungen und Berufsgefahren besonders ausgeprägt. Dies führte schon frühzeitig zur gegenseitigen Unterstützung in Notlagen. Die Hilfeleistung wurde bei Unglücken und Erkrankungen der Knappen zunächst durch freiwillige Umlagen finanziert, später wurden die Knappen zur Entrichtung eines Beitrages, des sog. Büchsenpfennigs 19, verpflichtet. Den Büchsenkassen, später den Knappschaftskassen, oblag die Fürsorge für kranke, verunglückte und invalide Bergleute sowie deren Familien. Sie gewährten neben ärztlicher Behandlung in eigenen Berghospitälern und Krankengeld auch geringe Renten bei Invalidität sowie eine Hinterbliebenenunterstützung. Parallel hierzu entwickelte sich die Selbsthilfe des Handwerks in den Städten, wo sich freie Handwerker und Gesellen zu Zünften und Innungen zusammenschlossen. Ähnlich wie bei den Knappen wurde auch hier die Fürsorge aus den sog. Zunftbüchsen finanziert, für die Beiträge zu entrichten waren. Die Leistungen umfassten die Gewährung von Darlehen in Notlagen sowie die Unterbringung in Hospitälern im Krankheitsfall. Aus der Zeit der Genossenschaftsgründungen stammen auch die ersten Rechtsquellen im deutschen Raum, die diese sozialen Fürsorgeverpflichtungen kodifizierten 20 . Aus heutiger Sicht können die Genossenschaften der Bergleute und Handwerker als die ersten bekannten Vorläufer der deutschen Sozialversicherung betrachtet werden 21.

2. Die soziale Entwicklung im Zuge der Industrialisierung in Deutschland Als Ende des 18. Jahrhunderts mit großen Fortschritten in der Technik und der Schaffung von Großbetrieben das Industriezeitalter begann, verfiel das Zunft- und 17 Peters, S. 25; Gitter, S. 8. 18

Siehe zur geschichtlichen Entwicklung des Bergbaus und des Handwerks: Peters, S. 21 ff. 19 Die Beiträge wurden zunächst freiwillig entrichtet, indem jeder Knappe nach seinem Gutdünken seinen Anteil in die an Lohntagen aufgestellten Büchsen warf; vgl. Peters, S. 22. 20 Vgl. die Kuttenberger Bergordnung aus der Zeit des Königs Wenzel II. (1283 bis 1305) oder die Satzung der Bender in Straßburg von 1355; abgedruckt bei: Peters, S. 25 21 Gitter, S. 9.

Α. Das soziale System in Deutschland

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Gildewesen sowie die ständische Ordnung immer mehr. Die Bevölkerung im von Preußen dominierten Deutschen Bund 22 begann zunehmend vom Land in die Städte zu strömen und bildete dort bald eine gewaltige Lohnarbeiterschicht. Das immense Anwachsen des städtischen Proletariats wurde nicht nur durch Bevölkerungswachstum und fortschreitende Industrialisierung, sondern auch durch gesellschaftliche Reformen wie die Aufhebung der Erbuntertänigkeit der Bauern 23 und die Einführung von Gewerbefreiheit und Freizügigkeit stark begünstigt24. Den Lohnarbeitern ging es wirtschaftlich immer schlechter. Sie verloren alte Gemeinschaftsbindungen und damit vielfach jegliche soziale Absicherung; gesellschaftlich waren sie ausgegrenzt25. Das mit dem Anwachsen des Angebots an Arbeitskräften stetig fallende Lohnniveau zwang ganze Familien täglich bis zu 16 Stunden für ihr Überleben zu arbeiten 26. Da die mittelalterlichen Strukturen sozialer Hilfeleistungen nicht mehr ausreichten, um die neuen sozialen Probleme des Industriezeitalters annähernd zu bewältigen, konnte der Staat nicht länger untätig bleiben. Nachdem bereits im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten vom 5. 2. 1794 die Bedürftigenfürsorge als Staatsaufgabe 27 erstmals gesetzlich festgelegt worden war, folgten weitere zaghafte Ansätze für eine Besserstellung der Arbeitnehmer im Krankheitsfalle mit der Preußischen Allgemeinen Gewerbeordnung aus dem Jahre 184528. Hiermit begann der Staat erstmals, den aus der Selbsthilfe bestimmter Berufsgruppen hervorgegangenen sog. Hülfs- und Unterstützungskassen29 seine Aufmerksamkeit zu widmen. Die Gemeinden wurden ermächtigt, durch Ortsstatut den Beitritt von Ortsansässigen zu Zwangshilfskassen und Fabrikarbeiterkassen zu erzwingen 30. Erstmalig wurde der Beitrag zu diesen Krankenkassen zwischen Arbeitgebern (1/3) und Arbeitnehmern (2/3) aufgeteilt 31. Obwohl längst nicht jede Gemeinde von dieser Er22

An die Stelle des alten Reiches trat der 1815 gegründete Deutsche Bund. Durch die Stein-Hardenbergsche Reformgesetzgebung in Preußen, beginnend mit dem Edikt vom 9. 10. 1807 (PrGS. 1806-1810, S. 170); siehe zur geschichtlichen Entwicklung des Feudalismus und zur Bauernbefreiung, Frerich/Frey, Band 1, S. 30 ff. 2 * Siehe ausführlich: Gitter, S. 10; Peters, S. 33; Merten, S. 966, Rn. 16. 2 5 Ost/Mohr/Estelmann, S. 18. 2 6 Gitter, S. 11. 23

27

Die Armenpflege war allerdings den Städten und Gemeinden sowie den bestehenden Korporationen (ζ. B. Innungen) zugewiesen; vgl. §§ 9, 10 des Teils II Titel 19 des ALR (abgedruckt bei: Peters, S. 29 ff.). 2 » Allgemeine Gewerbeordnung vom 17. 1. 1845 (PrGS. S. 41). 29 Diese waren hauptsächlich Krankenkassen; aber auch Kasseneinrichtungen mit anderer Zielsetzung wie Sterbe-, Pensions-, Witwen- und Waisenkassen wurden als solche bezeichnet; in Deutschland waren sie besonders als Einrichtungen von Unternehmern oder Innungen weit verbreitet; vgl. Peters, S. 45. 30 Wegen der Abhängigkeit des Versicherungszwanges von den örtlichen Regelungen ging der Versicherungsschutz mit einem Ortswechsel oftmals wieder verloren. 31 Geregelt durch Verordnung vom 9. 2. 1849 zur Preußischen Gewerbeordnung (PrGS. S. 93).

30

1. Kap.: Die rechtliche Stellung behinderter Personen

mächtigung Gebrauch machte, entstand im Laufe der Zeit eine größere Anzahl solcher Krankenkassen. Dennoch war noch im Jahre 1876 nur die Hälfte der Arbeiter gegen Krankheit versichert 32. Besonderer Schutz für die Lohnarbeiter beim Eintritt anderer Lebensrisiken als Krankheit, wie ζ. B. Unfall, Invalidität oder Alter, war kaum vorhanden. Allerdings wurde die Rechtslage der Arbeiter bei Arbeitsunfällen durch das Reichshaftpflichtgesetz 33 im Jahre 1871 verbessert. Es führte für die Eisenbahnunternehmen eine verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung ein und erweiterte die Haftung der dort aufgeführten besonders gefährlichen Unternehmen. Meist blieb den Arbeitern, die aufgrund von Gebrechen oder Alter keine Erwerbstätigkeit ausüben konnten, nur die Fürsorge, die durch das Gesetz über den Unterstützungswohnsitz von 1870 neu geregelt worden war 34 . Die kommunale Fürsorge trat aber nur subsidiär ein, d. h. wenn eigene Mittel verbraucht waren und der Unterhalt nicht von Seiten der Angehörigen aufgebracht werden konnte 35 . Der Bezug von Armenfürsorge war darüber hinaus mit dem Verlust politischer Rechte wie dem Wahlrecht verbunden 36

3. Die Reichssozialgesetze Bismarck 37 hatte schon frühzeitig die Zeichen der Zeit erkannt, konnte sich dringend notwendigen Reformen der Sozialgesetzgebung aber erst nach Ende der „liberalen Ära" im Jahre 1878 annehmen38. Mehr von Pragmatismus als von christlicher Nächstenliebe angetrieben, strebte er die Versöhnung mit der Arbeiterschaft an, um zu verhindern, dass sich die explosiv gewordene soziale Situation in einer Revolution entlud 39 . So führten die von ihm in Gang gebrachten Reformbestrebun32 Gitter, S. 12. 33 Gesetz betreffend die Verbindlichkeit zum Schadensersatz für die bei den Betrieben von Eisenbahn, Bergwerken, Fabriken, Steinbrüchen und Gräbereien herbeigeführten Tötungen und Körperverletzungen (Reichshaftpflichtgesetz) vom 7. 6. 1871 (RGBl. S. 207). 34 Dieses Gesetz des Norddeutschen Bundes vom 6. 6. 1870 enthielt aber weitestgehend nur Zuständigkeitsregelungen; vgl. Ost/Mohr/Estelmann, S. 20. 35 Vgl. schon § 1, I I 19 ALR; Das Subsidiaritätsprinzip prägt noch heute das Sozialhilferecht; vgl. § 2 BSHG i.d.F. vom 23. 2. 1994 (BGBl. I S. 646, ber. S. 2975). 36 Der Verlust des aktiven und passiven Wahlrechts zu staatlichen und kommunalen Ämtern als Folge des Bezugs von Armenunterstützung wurde erst im Jahre 1909 aufgehoben, vgl. Simon, Die Rehabilitation 1985, S. 132. 37 Otto von Bismarck (1815-1898) war ab 1862 unter Wilhelm I. preußischer Ministerpräsident und ab 1871 bis zu seiner Entlassung durch Wilhelm II. im März 1890 deutscher Reichskanzler. 38 Merten, S. 966, Rn. 19. 39 Bekanntermaßen hatte Bismarck die Forderung der Arbeiterschaft auf Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen Leben mit den sog. Sozialistengesetzen unerbitterlich abgewehrt.

Α. Das soziale System in Deutschland

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gen schließlich zur berühmten Kaiserlichen Botschaft 40 vom 17. 11. 1881, die heute als die „Magna Charta der deutschen Sozialversicherung" bezeichnet werden kann 41 . Diese enthielt bereits eine Beschreibung der geplanten sozialen Versicherung in ihren Grundzügen. Die dort genannten drei Hauptzweige der klassischen Sozialversicherung - die Kranken-, die Unfall-, sowie die Alters- und Invalidenversicherung - sollten in den folgenden Jahren gesetzlich umgesetzt werden. Als erstes der drei Gesetzesvorhaben wurde das „Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter" 42 verabschiedet, das am 1. 12. 1884 in Kraft trat. Dieses baute auf den schon bestehenden örtlichen Hilfs- und Fabrikarbeiterkassen auf, aus denen Orts- und Betriebskrankenkassen hervorgingen. Alle Arbeiter sowie gering verdienende Angestellte unterlagen der Versicherungspflicht. Die Beiträge betrugen zwischen 3 % und 6 % des Arbeitslohns und wurden von Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Verhältnis 113 zu 2/3 getragen. Der Leistungskatalog umfasste freie ärztliche Behandlung, Gewährung von Arzneimitteln und Krankengeld für die Dauer von 13 Wochen sowie ein Sterbegeld. Darüber hinaus konnten die Familienangehörigen des Versicherten durch Satzung in den Versicherungsschutz einbezogen werden 43. Das erste Unfallversicherungsgesetz 44 trat am 1. 10. 1885 in Kraft. Es sollte die Unternehmerhaftung für Arbeitsunfälle ablösen und damit soziale Spannungen vermeiden, die bei der Inanspruchnahme des Unternehmers durch den Arbeiter entstehen konnten45. Als eine Art Gegenleistung für die Haftungsfreistellung trug der Unternehmer die Beiträge zur Unfallversicherung alleine. Die Leistungen umfassten die Übernahme der Kosten des Heilverfahrens ab der 14. Woche, Geldleistungen an Hinterbliebene sowie eine Rente für den Verletzten in Höhe von bis zu 2/3 des Arbeitsentgeltes. Schließlich trat am 1. 1. 1891 das „Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung " 46 in Kraft. Auch insoweit unterlagen alle Arbeiter und geringverdienende Angestellte der Versicherungspflicht. Der Beitrag i.H.v. 1,7 % des Arbeitsentgeltes wurde zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern hälftig geteilt. Damit lag die normale Versichertenrente unter Zugrundelegung eines durchschnittlichen Bruttomonatseinkommens von 60 Mark bei etwa 10 Mark monatlich 47 . Daher hatte die Rente, bei der eine Wartezeit von fünf Jahren bei Invalidität und von

40

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Ein Faksimile-Auszug der Originalschrift ist bei Frerich/Frey; Ost/Mohr/Estelmann, S. 18; Merten, S. 966, Rn. 19. Gesetz vom 15. 6. 1883 (RGBl. S. 73). Gitter, S. 15. Gesetz vom 6. 7. 1884 (RGBl. S. 69).

45 Gitter, S. 16. 46 Gesetz vom 22. 6. 1989 (RGBl. S. 97). 47 Ost/Mohr/Estelmann, S. 19.

Band 1, S. 92 abgebil-

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1. Kap.: Die rechtliche Stellung behinderter Personen

30 Jahren für die ab dem 70. Lebensjahr gewährte Altersrente zu erfüllen war, lediglich die Funktion eines Zuschusses zum Lebensunterhalt. Obschon die soziale Versicherung nicht im Entferntesten den heutigen Umfang und Standard erreichte, sind die Grundstrukturen der Sozialversicherung, die mit diesen drei Gesetzen geschaffen wurden, bis heute erhalten geblieben.

4. Sozialgesetzgebung bis zum Ende der Weltkriege Die Reichssozialgesetze hatten in Deutschland eine rasante Entwicklung in der Sozialgesetzgebung eingeleitet. Nachdem noch in der Kaiserzeit mehrere Gesetzesänderungen zu einer Leistungsverbesserung und zur Einbeziehung weiterer Personenkreise in die Sozialversicherungen geführt hatten, wurde bereits vor dem ersten Weltkrieg eine erste Gesamtkodifikation des Sozialversicherungsrechts angestrebt und die drei bestehenden Gesetze in der Reichsversicherungsordnung von 1911 zusammengefasst 48. Der Charakter einer Gesamtkodifikation ging jedoch mit dem im gleichen Jahr verabschiedeten Versicherungsgesetz für Angestellte49 wieder verloren, das den gesellschaftlichen Unterschieden von Arbeitern und Angestellten mit wesentlich erweiterten Rentenleistungen Rechnung trug 50 . Neben die für die Invaliditäts- und Altersversicherung der Arbeiter zuständigen Landesversicherungsanstalten trat die Reichsversicherungsanstalt der Angestellten. Mit dem Ansteigen der Arbeitslosigkeit während und nach dem Ersten Weltkrieg trat dieses von der klassischen Sozialversicherung zunächst nicht erfasste Risiko immer stärker in den Blickpunkt staatlicher Sozialgesetzgebung. Ihm hatte man zunächst im Rahmen der Erwerbslosenfürsorge Rechnung getragen 51. Erst im Jahre 1927 wurden die Regelungen zur Arbeitslosenfürsorge und -Vermittlung in einem eigenständigen Gesetz über Arbeitslosenvermittlung und Arbeitslosenversicherung 52 zusammengefasst und so ein neuer Zweig der Sozialversicherung begründet. Als Träger dieser Versicherung wurde eine Reichsanstalt mit Landesarbeitsämtern und Arbeitsämtern geschaffen, die ihre Leistungen mit den von Arbeitnehmern und Arbeitgebern je zur Hälfte getragenen Beiträgen finanzierte. Der versicherte Personenkreis, der sich im Wesentlichen mit dem der anderen Sozialversicherungszweige deckte, hatte bis zu 26 Wochen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung. Erst nach Ablauf dieses Zeitraums war der Erwerbslose wieder

48 RVO vom 19. 7. 1911 (RGBl. S. 509). 49 Gesetz vom 20. 12. 1911 (RGBl. S. 989), das am 1. 1. 1913 in Kraft trat; nach seiner Neufassung im Jahre 1924 trug dieses Gesetz den Namen Angestelltenversicherungsgesetz (AVG). 50 Gitter, S. 18. 51 Ost/Mohr/Estelmann, S. 20. 52 AVAVG vom 16. 7. 1927 (RGBl. I S. 187).

Α. Das soziale System in Deutschland

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auf die Armenfürsorge verwiesen, welche durch die Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge näher geregelt worden war 53 . Besonders nach dem Ersten Weltkrieg stellte die Entschädigung der rund vier Millionen Kriegsopfer in der Wehrmacht und in der Zivilbevölkerung 54 ein soziales Problem von allerhöchster Dringlichkeit dar 55 . Die Zuständigkeit für die Versorgung der Kriegsgeschädigten wurde im Jahre 1919 zunächst aus dem Militärversorgungswesen ausgegliedert 56 und schließlich den Versorgungsämtern übertragen 57 . Die Versorgung erfuhr durch das Reichsversorgungsgesetz 58 von 1920 eine völlige Umgestaltung. Maßgebend für die Höhe der Renten war von da an neben den Schädigungsfolgen nicht mehr der militärische Dienstgrad des Geschädigten, sondern sein Zivilberuf, Familienstand und Wohnsitz. Das Dritte Reich brachte neben einer Ausweitung des versicherten Personenkreises auf gewisse Selbständige vor allem mit der Einführung des Lohnabzugsverfahrens eine wesentliche Neuerung auf dem Gebiet der Sozialversicherung mit sich 59 . Die neue Ausrichtung auch der Sozialversicherung nach dem „Führerprinzip" führte zwar nicht zu der angestrebten Einheitsversicherung, jedoch wurde unter der Herrschaft der Nationalsozialisten die Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger beseitigt60.

5. Sozialgesetzgebung nach dem Zweiten Weltkrieg Nach Ende des Krieges offenbarte sich die katastrophale Lage in Deutschland gerade im sozialen Bereich besonders deutlich. Das in den Besatzungszonen nunmehr unterschiedlich geregelte soziale Rechtssystem hatte enorme soziale Probleme wie Verpflegungsnot, Wohnungsmangel und massive Arbeitslosigkeit zu bewältigen. Im geteilten Deutschland ging die soziale Entwicklungsgeschichte nunmehr für fast ein halbes Jahrhundert getrennte Wege.

53 Siehe die Verordnung über die Fürsorgepflicht vom 13. 2. 1924 (RGBl. I S. 100), sowie die Reichsgrundsätze vom 4. 12. 1924 (RGBl. I S. 765). 54 Frerich/Frey, Band 1, S. 228. 55 Bereits nach dem Krieg von 1870/71 waren mehr als 100.000 Soldaten verwundet und rd. 49.000 getötet worden; ihnen und ihren Hinterbliebenen wurden zur Entschädigung Renten nach dem Reichsmilitär-Pensionsgesetz vom 27. 6. 1871 (RGBl. S. 275) gewährt; vgl. hierzu Frerich/Frey, Band 1, S. 162 ff. 56 Durch Verordnung vom 8. 2. 1919 (RGBl. S. 187) wurde die Kriegsopferversorgung im Zuge der Demobilmachung entmilitarisiert. 57 Gesetz über die Versorgungsbehörden vom 15. 5. 1920 (RGBl. S. 1063). 58 RVG vom 12. 5. 1920 (RGBl. S. 989). 59 Vgl. Merten, S. 968, Rn. 27; siehe ergänzend zur sozialen Rechtsentwicklung im Dritten Reich: Frerich/Frey, Band 1, Kapitel 5, S. 245 ff. 60 Frerich/Frey, Band 1, S. 289 ff. 3 Straßmair

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1. Kap.: Die rechtliche Stellung behinderter Personen

a) Zur Entwicklung in der Bundesrepublik In der noch jungen Bundesrepublik wurde die Rechtseinheit bald nach Inkrafttreten des Grundgesetzes und der Rückübertragung der Gesetzgebungskompetenzen an die zuständigen deutschen Instanzen wiederhergestellt 61. Die frühen Sozialmaßnahmen galten der Kriegsfolgenbewältigung, der Hilfe für Kriegsopfer, Angehörige von Kriegsgefangenen und Heimkehrer sowie für neun Millionen Heimatvertriebene, zu denen bis 1961 noch vier Millionen Flüchtlinge aus der Sowjetzone hinzukamen62. Aus der Zeit der Kriegsfolgengesetzgebung ist insbesondere das Bundesversorgungsgesetz 63 zu erwähnen, das an das alte Reichsversorgungsgesetz anknüpfte, sowie das Lastenausgleichsgesetz64, mit dem zur Verteilung der Kriegslasten Nichtbetroffenen Abgaben auferlegt wurden 65 . In der Sozialversicherung wurde das bewährte gegliederte System sowie die Selbstverwaltung wiederhergestellt 66. Die rechtsprechende Tätigkeit der Versicherungsbehörden wurde unter Geltung des Grundgesetzes auf die neu geschaffene unabhängige Sozialgerichtsbarkeit übertragen 67. Die weitere Entwicklung des Sozialversicherungsrechts in der Bundesrepublik war von zwei wesentlichen Faktoren geprägt, nämlich der ständigen Ausdehnung des versicherten bzw. anspruchsberechtigten Personenkreises sowie der Erweiterung und Verbesserung der Leistungen68. In die Krankenversicherung wurden im Laufe der Zeit auch Rentner, Landwirte, Künstler, Behinderte, Studenten und Praktikanten einbezogen. Der Leistungskatalog wurde u. a. um Leistungen wie Haushaltshilfe, Krankengeld bei der Pflege eines kranken Kindes, Maßnahmen zur Früherkennung von Krankheiten sowie heftig umstrittene Leistungen zur Empfängnisverhütung und bei Schwangerschaftsabbrüchen erweitert 69. Die Rentenversicherung, welche die sog. „Invalidenversicherung" nun völlig ablöste, wurde durch die große Rentenreform im Jahre 1957 völlig neu gestaltet70. Das materielle Recht der Arbeiter-, Angestellten- und Knappschaftsversicherung wurde aneinander angeglichen, was besonders für die Arbeiter wesentliche Verbesserungen mit sich brachte. Mit einer neuen Rentenformel und einer Rentendynamisierung wurde Gitter, S. 20. 62 Merten, S. 969, Rn. 28. 63 BVG vom 20. 12.1950 (BGBl. I S. 791). 64 Gesetz über den Lastenausgleich vom 14. 8. 1952 (BGBl. I S. 446). 65 Siehe ergänzend zur weiteren umfangreichen Kriegsfolgengesetzgebung in der Bundesrepublik: Frerich/Frey, Band 3, S. 31 ff., 37 ff. 66 Gitter, S. 20; Merten, S. 970, Rn. 33. 67 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vom 3. 9. 1953 (BGBl. I. S. 1239). 68 Gitter, S. 20. 69 Siehe hierzu die Nachweise bei: Merten, S. 970, Rn. 35; Gitter, S. 21; Frerich/Frey, Band 3, S. 63 ff. 70 Siehe allgemein zur Rentenreform von 1957: Frerich/Frey, Band 3, S. 46 ff.

Α. Das soziale System in Deutschland

35

eine Beziehung der Rentenleistungen zur allgemeinen Lohnentwicklung hergestellt. Die Rente verlor in weiten Bereichen den Zuschusscharakter und erhielt immer mehr die Funktion eines echten Ersatzeinkommens, gesichert durch den sog. Generationenvertrag 71. Auch di e Arbeitslosenversicherung wurde durch zahlreiche Änderungen weitgehend umgestaltet. Im Jahre 1952 wurde die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, die spätere Bundesanstalt für Arbeit mit Sitz in Nürnberg gegründet 72. Vier Jahre später löste die Arbeitslosenhilfe dann die Arbeitslosenfürsorge mit verbessertem Leistungsinhalt ab 73 und das übrige Recht der öffentlichen Fürsorge wurde im Jahre 1961 durch das Bundessozialhilfegesetz 74 zur Sozialhilfe reformiert. Im Jahre 1969 trat das Arbeitsförderungsgesetz in Kraft 75 , infolge dessen der Aufgabenbereich der Bundesanstalt für Arbeit weiter wuchs. Ab dem Jahr 1970 hat man in der Bundesrepublik damit begonnen, das völlig zersplitterte und unübersichtlich gewordene Sozialrecht wieder in einer Gesamtkodifikation - dem Sozialgesetzbuch - zusammenzufassen. Dieses Gesetzbuch sollte das gesamte Sozialrecht in zehn Bücher gliedern, angefangen mit dem Allgemeinen Teil (SGB I) 7 6 , bis hin zur Regelung des Verwaltungsverfahrens im Zehnten Buch (SGB X ) 7 7 . Abweichend von der ursprünglichen Planung78 findet sich das Recht der Krankenversicherung im Fünften Buch (SGB V), die Rentenversicherung im Sechsten Buch (SGB VI) und die Unfallversicherung im Siebten Buch (SGB V I I ) 7 9 ; das Arbeitsförderungsgesetz wurde wie vorgesehen in das Dritte Buch (SBG III) eingegliedert 80. Die Einführung der Pflegeversicherung 81 im Jahre 71 Das ursprüngliche Kapitaldeckungsverfahren in der Rentenversicherung wurde abgelöst durch das Umlageverfahren, d. h. die laufenden Leistungen für die Rentner wurden von da an aus dem aktuellen Beitragsaufkommen der Erwerbstätigen finanziert. 72 Durch Gesetz vom 10. 3. 1952 (BGBl. I S. 123). 73 Die durch ÄndG vom 16. 4. 1956 (BGBl. I S. 243) eingeführte Arbeitslosenhilfe enthielt u. a. einen gegenüber der Fürsorge um 12 % erhöhten Unterstützungssatz. BSHG vom 20. 6. 1961 (BGBl. I. S. 815, S. 1875).

74 BSGH vom 20. 6. 1961 (BGBl. I. S. 815, S. 1875). 75 AFG vom 25. 6. 1969 (BGBl. I. S. 1112). 76 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) vom 11. 12. 1975 (BGBl. I S. 3015). 77 SGB X vom 18. 8. 1980 (BGBl. IS. 1469). 78 Die Sachverständigenkommission plante im Jahre 1980 folgende Einteilung für die weiteren Bücher: Ausbildungsförderung (2. Buch), Arbeitsförderung (3. Buch), Sozialversicherung (4. Buch), Soziale Entschädigung (5. Buch), Kindergeld (6. Buch), Wohngeld (7. Buch), Jugendhilfe (8. Buch), Sozialhilfe (9. Buch). 79 Die klassischen Sozialversicherungszweige wurden aus der RVO herausgenommen, teilweise reformiert und in das SGB eingegliedert; das SGB V entstand durch das Gesundheitsreformgesetz vom 20. 12. 1988 (BGBl. I S. 2477), das SBG V I durch Gesetz vom 18. 12. 1989 (BGBl. I S. 2261) und das SGB V I I durch Gesetz vom 7. 8. 1996 (BGBl. I S. 1254). so SGB III vom 24. 3. 1997 (BGBl. I S. 594). 8i SGB X I vom 26. 5. 1994 (BGBl. I S. 1014). 3*

36

1. Kap.: Die rechtliche Stellung behinderter Personen

1994 als neuer Zweig der Sozialversicherung erweiterte das Gesamtwerk um ein Elftes Buch. Zweck des Sozialgesetzbuchs ist es, die Rechtsanwendung durch Verwaltung und Rechtsprechung zu erleichtern, Rechtssicherheit zu gewährleisten sowie das Rechtsverständnis des Bürgers und damit sein Vertrauen in den sozialen Rechtsstaat zu fördern 82.

b) Zur Entwicklung

in der ehemaligen DDR

In der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, schlug die soziale Entwicklungsgeschichte einen anderen Weg ein. Zwar wurde durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik mit dem Einigungsvertrag die „Rechtseinheit" in Deutschland nach über vierzig Jahren weitgehend wieder hergestellt 83, das Rechtsund Sicherungsbewusstsein der ehemaligen DDR-Bürger wird aber noch längere Zeit von den Erfahrungen mit dem Sozialismus geprägt bleiben 84 . In der ehemaligen DDR konnte sich ein eigenständiges, mit dem Recht der Bundesrepublik vergleichbares Sozialrecht nicht herausbilden. Sozialgesetzgebung wurde, weil nahezu die gesamte Bevölkerung in den Arbeitsprozess einbezogen war, in das Arbeitsrecht eingegliedert 85. Struktur und Grundprinzipien des staatlichen Gesundheitswesens und der Sozialversicherung wurden nach dem zweiten Weltkrieg allmählich nach sowjetischem Vorbild ausgerichtet 86. Das Sozialversicherungswesen sollte gemäß Art. 16 Abs. 3 der Verfassung der DDR 8 7 vereinheitlicht und umfassend geregelt werden. So wurde schließlich der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund zum Träger der Sozialversicherung für Arbeiter und Angestellte. Daneben gab es die Staatliche Versicherung für Genossenschafts- und Kollegienmitglieder, Selbständige und Freiberufler. Als Träger des Sozialwesens und der Sozialversicherung nahmen insbesondere die Betriebe eine herausragende Rolle ein, denen nach dem Arbeitsgesetzbuch der DDR vielfältige soziale Aufgaben oblagen88. Zur Sozialversicherung bestand grundsätzlich Pflichtmitgliedschaft, wobei das Beitrags- und Leistungsrecht ausschließlich durch staatliche Rechtsvorschriften 82 Vgl. BT-Drucksache 7/868. 83 Der Einigungsvertrag vom 31.8. 1990 (BGBl. I I S. 889) stellte die Einheit Deutschlands mit Wirkung zum 3.10. 1990 wieder her. Er führte auch insofern zur Rechtseinheit, als er bestimmt, dass das westdeutsche Sozialrecht auch im Osten Deutschlands eingefühlt wird; vgl. Eichenhofer, S. 27. 84 Lohmann, in: LdR/SozR, S. 455. 85 Vgl. die §§ 201-305 des Arbeitsgesetzbuchs der DDR vom 3. 11. 1977 (DDRGB1.1 S. 370). 86 Ausführlich zur Entwicklung des Gesundheitswesens und der Sozialversicherung in der DDR siehe: Frerich/Frey, Band 2, S. 205 ff., 265 ff. 87 Vom 7. 10. 1949 (DDR-GB1. S. 5). 88 Vgl. insbesondere das 11. Kapitel des DDR-AGB.

Α. Das soziale System in Deutschland

37

geregelt war 89 . Nur etwa die Hälfte der Leistungen war beitragsfinanziert; das Übrige schoss der Staat zu, so dass die Frage, ob eine Leistung von der Sozialversicherung oder als staatliche Unterstützung gewährt wurde, letztlich relativ unbedeutend war 90 . Der Leistungskatalog des DDR-Sozialwesens umfasste insbesondere Mütter- und Familienunterstützung, Ausbildungs- und Beschäftigungsförderung, freie medizinische Versorgung und Krankengeld sowie eine Alters- und Hinterbliebenensicherung. Bei dem scheinbar sehr umfangreichen Leistungskatalog darf aber nicht übersehen werden, dass sich die Höhe der einzelnen Leistungen auf sehr niedrigem Niveau bewegte. Die Renten nahmen beispielsweise im Gegensatz zum westdeutschen Recht nicht an der allgemeinen Lohnentwicklung teil, weil die Beitragsbemessungsgrenze auf dem Stand der 1950er Jahre eingefroren blieb 91 . In einer Gesamtbetrachtung des Sozialwesens der ehemaligen DDR lässt sich sagen, dass es vornehmlich darauf ausgerichtet war, den Einzelnen in das berufliche und gesellschaftliche Leben einzugliedern, da Gesundheit u. a. als ein Zustand sozialen Wohlbefindens verstanden wurde. Zwar kommt der über vierzigjährigen Entwicklung des sozialen Rechts in der DDR wegen des Rechtsbewusstseins der Bürger in den neuen Ländern auch weiterhin eine hohe sozialpolitische Bedeutung zu. In der Entwicklungsgeschichte des Sozialrechts in Deutschland hinterlässt dieser Zeitraum abgesehen von wenigen Übergangsregelungen jedoch kaum Spuren.

6. Strukturermittlung und Typisierungsversuch Unterzieht man die sozialgeschichtliche Entwicklung einer abstrahierenden Betrachtung, so lassen sich eine Reihe von alternativen idealtypischen Grundelementen des Sozialwesens aufzeigen, die im historischen Verlauf in verschiedener Weise zu Modellen und Systemen kombiniert worden sind 92 . In der späteren Entwicklung hat sich die Kombination und das Nebeneinander von sich ergänzenden oder konkurrierenden Systemen zunehmend verkompliziert 93. Dennoch lässt sich das heutige Verständnis von Sozialpolitik und Sozialrecht zu weiten Teilen auf gewisse Grundelemente zurückführen, die hier kurz erläutert werden sollen. So kann man das Sozialwesen in einem Bild konzentrischer Kreise erfassen, ausgehend vom Individuum, das zu seiner Umgebung in einem abgestuften Verhältnis in Beziehung tritt: Der Einzelne ist für die Schaffung und Erhaltung seiner 89 Lohmann, in: LdR/SozR, S. 456. 90 Lohmann, in: LdR/SozR, S. 457. 91 Weil die Rente daher bald nur das Existenzminimum deckte, wurde 1971 eine freiwillige Zusatzversicherung eingeführt; Eichenhof er, S. 27. 92 Bley/Kreikebohm, S. 10. 93 Bley/Kreikebohm,

S. 15.

38

1. Kap.: Die rechtliche Stellung behinderter Personen

Existenzgrundlage primär selbst verantwortlich und hat seinen bestehenden Bedarf deshalb durch Selbsthilfe zu sichern; so ist der Primat der Selbstverantwortung das Kernstück eines jeden sozialen Systems94. Die erste Beziehung, die der Mensch regelmäßig erfährt, ist die zu seiner Familie, innerhalb derer gegenseitige Unterstützung und Hilfe in Bedarfslagen geleistet wird. Neben der Selbsthilfe steht somit das Element der Fremdhilfe, welche ebenfalls zur Primärordnung eines jeden Sozialwesens zählt. In einer zweiten Stufe tritt das Individuum in seiner wirtschaftlichen Betätigung mit anderen in Beziehung. Auch hier ist der Einzelne zunächst wieder für sich selbst verantwortlich. Die historische Entwicklung berufsständischer Hilfs- und Unterstützungssysteme lässt aber auch auf dieser Ebene Elemente der Fremdhilfe erkennen. Die dritte Stufe beschreibt die Stellung des Einzelnen in Gesellschaft und Staat. Auch hier ist der Einzelne zuvorderst auf seine Selbsthilfe verwiesen, bevor die staatliche Fremdhilfe hinzutritt. Eine erste Untergliederung soll also zwischen Selbsthilfe und Fremdhilfe vorgenommen werden. Eine weitere Untergliederung stellt auf das Kriterium des Leistungsaustausches innerhalb der Hilfesysteme ab. Hierauf beruht die Unterscheidung von Vorsorge, Versorgung und Fürsorge. Vorsorge ist als „erkaufte" Fremdhilfe eigentlich ein Fall der Selbsthilfe 95. Der Einzelne sichert seine künftige Bedarfsdeckung durch Vorleistung. Schon im Beispiel der Familie kann die Hilfe der Eltern für ihre Kinder als Vorleistung für die Unterstützung der Eltern durch die Kinder im Alter betrachtet werden. In den berufsständischen Systemen lässt sich das Vorsorgeelement am deutlichsten anhand der Entwicklung von den Büchsensammlungen zu den beitragsfinanzierten Sozialleistungssystemen belegen. Versorgung beruht dagegen grundsätzlich nicht auf einer Gegenleistung. In der historischen Entwicklung wurden jedoch stets gewisse Anforderungen an die „Rechtfertigung" eines Versorgungsbezuges geknüpft, denn diese wurde zumeist nur auf Grund geleisteter Dienste oder als Entschädigung für aufgebrachte Opfer geleistet, wie am Beispiel der Soldaten- und Kriegsopferversorgung erkennbar wird. Lässt sich die Fremdhilfe nicht durch eine Vorleistung begründen oder rechtfertigen, so handelt es sich um Fürsorge. Diese wird im Gegensatz zur Vorsorge und Versorgung meist nur subsidiär und bei Bedürftigkeit gewährt, wie die historische Entwicklung der staatlichen Armenpflege erkennen lässt. Darüber hinaus lassen sich die Hilfesysteme weiter unterscheiden in rechtsfreie und verrechtlichte Systeme und Instrumentarien sowie in individuelle und institutionelle Hilfesysteme. Rechtsfreie Hilfesysteme basieren auf sozialen Gewohnheiten, Brauch und Sitte, individuelle Hilfe meint Leistungserbringung durch Einzelpersonen. Als Beispiele für individuelle, rechtsfreie Hilfesysteme können Almosen, christliche Caritas und familiäre Hilfe angeführt werden. Dagegen zeigt die historische Entwicklung eine eindeutige Tendenz zur Verrechtlichung und Institu94

Zum sog. Primat der Selbstverantwortung im Rahmen der Sozialstaatlichkeit: Zacher, in: HBdStR, Bd. V, S. 1062. 95 Bley/Kreikebohm, S. 13.

Α. Das soziale System in Deutschland

39

tionalisierung der Hilfesysteme. So hat sich ζ. B. die individuelle, zunächst rechtsfreie Hilfe bestimmter Berufsgruppen zur organisierten Leistungserbringung durch Institutionen in Form der Sozialleistungsträger als Körperschaften des öffentlichen Rechts weiterentwickelt. Heute macht das In-, Neben- und Gegeneinander der verschiedenen Grundelemente und Formen der Hilfe eine genaue Unterscheidung zumeist unmöglich. Sie liefern aber dennoch eine Grundlage für das Verständnis der Strukturen des heutigen Sozialrechts.

I I I . Das Sozialrecht in der Bundesrepublik Deutschland Ausgehend von der geschichtlichen Entwicklung und den Grundelementen des Sozialwesens soll im Nachfolgenden ein Blick auf das heutige Sozialrecht geworfen werden.

1. Der Begriff des Sozialrechts Das im Gefolge staatlicher Sozialpolitik entstandene Sozialrecht - oder Recht der Sozialen Sicherheit, wie es im internationalen Sprachgebrauch bezeichnet wird 96 - ist ein Rechtsgebiet, dessen Inhalt und Umfang missverständlich und deshalb auch umstritten ist 97 . Die gängige Formel vom „Sozialrecht als zur Norm verfestigten Sozialpolitik" 98 trifft nur sehr bedingt zu. Längst nicht alles, was sich an staatlicher Sozialpolitik im deutschen Rechtssystem niederschlägt, zählt zum Sozialrecht, da die Gegenstände der Sozialpolitik weitaus mehr erfassen, als die des Sozialrechts 99. Vielmehr schafft das Sozialrecht Rechte und Pflichten für den Staat als Träger öffentlicher Gewalt, die den Staat „als solchen" berechtigen und verpflichten; es ist somit dem öffentlichen Recht zuzuordnen 100. Sozialpolitisches Handeln des Gesetzgebers, das dem Schutz des wirtschaftlich Schwächeren im Privatrecht dient, wie ζ. B. der Erlass von gesetzlichen Regelungen im Miet- und Arbeitsrecht, kann deshalb nicht

96

Der Begriff „Soziale Sicherheit" (Social Security) soll im Jahre 1935 von Franklin D. Roosevelt geprägt worden sein und hat sich im internationalen Sprachgebrauch durchgesetzt; vgl. Eichenhofer, S. 7; von Maydell, in: LdR/SozR, S. 447. 97 Eichenhofer, S. 3. 98 Bley/Kreikebohm, S. 16. 99 Vgl. Merten, S. 994, Rn. 112. 100

So die von Hans J. Wolff begründete (modifizierte) Zuordnungstheorie, vgl. Merten, S. 962, Rn. 3; allgemein zur Abgrenzung von öffentlichem Recht und Privatrecht siehe Maurer, § 3, Rn. 12 ff.

40

1. Kap.: Die rechtliche Stellung behinderter Personen

dem Sozialrecht zugerechnet werden 101 ; zur terminologischen Unterscheidung empfiehlt sich hier der Begriff „soziales Recht" 102 . Sozialrecht lässt sich von daher nicht über einen „sozialpolitischen Sozialrechtsbegriff 4 von anderen Rechtsgebieten abgrenzen 103. Eine inhaltliche Differenzierung nach dem sozialen Gehalt von gesetzlichen Bestimmungen, also eine materielle Zuordnung von Normen zum Sozialrecht, erscheint schwer möglich. Seit Inkrafttreten des Allgemeinen Teils des Sozialgesetzbuchs (SGB I) begann sich daher ein pragmatischer Ansatz für die begriffliche Bestimmung des Sozialrechts durchzusetzen. Dieser stellt primär auf eine gegenständliche Festschreibung ab, so dass unter Sozialrecht jene Rechtsmaterien verstanden werden, die das Sozialgesetzbuch bilden 104 . Hierzu zählen nicht nur die in das Sozialgesetzbuch als besondere Teile bereits eingegliederten Materien; vielmehr gelten nach der Fiktion in Art. I I § 1 SGB I zahlreiche weitere Gesetze als besondere Teile des Sozialgesetzbuches 105 . Zwar bestehen insofern Bedenken gegen diese rein formale Betrachtungsweise, als diese inhaltliche Wesensmerkmale des Sozialrechts gänzlich vernachlässigt und eine inhaltliche Zuordnung allein durch den Gesetzgeber problematisch sein kann 106 . Für diesen formellen Sozialrechtsbegriff spricht aber, dass er allgemein verständlich ist und dadurch eine klare Abgrenzung des Sozialrechts von anderen Rechtsgebieten ermöglicht 107 .

2. Die Grundstrukturen des Sozialrechts Die Tendenz der Sozialgesetzgebung zur stetigen Ausweitung des Sozialrechts verwischt zunehmend die Grundstrukturen dieses Rechtsgebiets. Dennoch lässt sich aus der historischen Entwicklung eine Systematisierung des Sozialrechts auf Grund einer Unterscheidung zwischen den Rechtsbereichen der Vorsorge, der Versorgung und der Fürsorge vornehmen. Die Sozialversicherung stellt dabei ein Vorsorgesystem dar, die Kriegsopferversorgung sowie das staatliche Entschädigungswesen ein Versorgungssystem und die heutige Sozialhilfe ein Fürsorgesystem 108. Diese drei Bereiche sind in Deutschland als öffentlich-rechtlich organisierte Instic i Merten, S. 994, Rn. 112. 102 Nach Eichenhof er, S. 3 lässt sich das „soziale Recht" weiter unterteilen z. B. in: „soziales Privatrecht", „soziales Strafrecht" und „soziales Prozessrecht". 103 Gitter, S. 2. 104 Vgl. Gitter, S. 3; Merten, S. 963, Rn. 5 f.; Ost/Mohr/Estelmann, S. 3.

i° 5 Bundesausbildungsförderungsgesetz, Bundessozialhilfegesetz, Bundesversorgungsgesetz, Schwerbehindertengesetz, Reha-Angleichungsgesetz. 106 Merten, S. 963, Rn. 6. 107 Ost/Mohr/Estelmann, los Vgl. Bley/Kreikebohm,

S. 3. S. 7.

Α. Das soziale System in Deutschland

41

tutionen verrechtlicht, auf deren Leistungen der Bürger zumindest dem Grunde nach Rechtsansprüche hat 1 0 9 . Unterschiede zwischen den drei Bereichen bestehen allerdings hinsichtlich der Finanzierung und der Leistungsvoraussetzungen. Während die Mittel der Vorsorge als Form der Selbsthilfe grundsätzlich von den Versicherten selbst aufzubringen sind, werden Versorgung und Fürsorge als reine Fremdhilfe durch allgemeine Steuermittel finanziert. Bedingt durch ihren Selbsthilfecharakter werden die Leistungen der Vorsorgesysteme nur unter der Voraussetzung erbracht, dass der Leistungsbedarf durch den Eintritt eines versicherten Lebensrisikos hervorgerufen wurde und der Betroffene zum Kreis der geschützten Personen gehört. In der Sozialversicherung muss das Leistungsbedürfnis also im Rahmen eines sog. Sozialversicherungsverhältnisses entstanden sein 110 . Ähnliches gilt für Leistungen der Versorgungssysteme, wo das Rechtfertigungserfordernis grundsätzlich voraussetzt, dass der Leistungsbedarf auf ein bestimmtes Ereignis zurückzuführen ist. Demgegenüber ist das Leistungssystem der Fürsorge allein an den Bedürfnissen des Leistungsempfängers ausgerichtet. Die Fürsorge erbringt allerdings lediglich Leistungen zur Beseitigung konkreter Notlagen und nur sofern Bedürftigkeit besteht und Hilfe von dritter Seite nicht gewährt wird. Da sich neue Formen von Sozialleistungen, wie ζ. B. die Ausbildungsförderung oder das Wohn- und Kindergeld, nicht in die herkömmliche Systematisierung des Sozialrechts eingliedern lassen, werden moderne Einteilungen der Sozialleistungsbereiche vorgeschlagen. So unterscheidet Bley zwischen schadensausgleichenden und nachteilsausgleichenden Systemen und stellt damit auf die Art der individuellen Defizite ab, die durch Sozialleistungen auszugleichen sind 111 . Ein anderer Systematisierungsversuch, der an die traditionelle Einteilung anknüpft, ist die Unterscheidung zwischen den Bereichen soziale Vorsorge, soziale Entschädigung, soziale Förderung und soziale Hilfe, wie sie sich bei Zacher findet 112. Während sich die Begriffe der sozialen Vorsorge, Entschädigung und Hilfe im Wesentlichen mit den herkömmlichen Begriffen der Vorsorge, Versorgung und Fürsorge decken, erfasst der Begriff der sozialen Förderung diejenigen Sozialleistungsbereiche, die in der Folge moderner staatlicher Sozialpolitik neu geschaffen worden sind. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass der Staat mit dem Sozialrecht zunehmend gesellschafts- und verteilungspolitische Zwecke verfolgt.

109 von Maydell, in: LdR/SozR, S. 452. no von Maydell, in: LdR/SozR, S. 453. m Siehe Bley/Kreikebohm, 112

S. 8 ff.

Zacher, Einführung in das Sozialrecht, S. 20 ff.

42

1. Kap.: Die rechtliche Stellung behinderter Personen

IV. Zusammenfassung und Würdigung Das Sozialsystem in Deutschland ist kein Konstrukt staatlicher Sozialpolitik, sondern als Reaktion auf die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung gewachsen. Ursprünglich bezweckte das Sozialwesen nur Unterstützung und Hilfe in allerdringlichsten Notlagen und war von rechtsfreier individueller Hilfe nach dem Vorbild der Familiensorge geprägt. Mit Beginn der Neuzeit musste sich das Sozialwesen aber der sich immer rascher verändernden Gesellschaftssituation anpassen. Gleichzeitig setzte eine zunehmende Verrechtlichung im Sozialwesen ein, Brauch und Sitte wurden allmählich zu geschriebenem Recht, die Träger des Sozialwesens wurden institutionalisiert. Mit den Anfängen staatlicher Sozialpolitik setzte ein immenses Wachstum im Sozialwesen ein. Aufbauend auf die gewachsenen Sozialstrukturen entwickelte sich ein Sozialsystem in Deutschland, das heute die Lebensbedingungen fast der gesamten Bevölkerung gestaltet. Das geschaffene Rechtsgebiet des Sozialrechts wurde bald auch für den Sachkundigen kaum mehr durchschaubar. Daneben erfuhr das Sozialrecht in Lehre und Forschung an den Universitäten eine weitgehende Vernachlässigung 113. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg und dem einsetzenden Wirtschaftswachstum wurde das Sozialsystem immer weiter ausgebaut und erhielt auch als Politikum zunehmend an Bedeutung. Da politischer Machtgewinn erfordert, dass am wachsenden Wohlstand immer größere Bevölkerungsgruppen einen Anteil haben, wurde das Sozialrecht zum Verteilungsmedium. Folglich trat auch das Prinzip der Schutzbedürftigkeit bestimmter Personengruppen allmählich in den Hintergrund und das Sozialrecht entwickelte sich vom Sonderrecht für die Armen und Schutzbedürftigen zu einem Recht für jedermann 114 . Die anfänglich als Zuschuss zum Lebensunterhalt in Ausnahmefällen gewährte Hilfe erhielt den Charakter einer regelmäßig eingreifenden und den Lebensstandard weitgehend sichernden Volksversicherung. Es lässt sich beobachten, dass als Folge dieser Ausweitung das für eine Leistungsgesellschaft konzipierte Sozialsystem die Gesellschaft selbst in eine Anspruchsgesellschaft umzuformen beginnt, in welcher geschaffene Besitzstände auch gegen besonders schutzbedürftige Personengruppen verteidigt werden. Jedenfalls ist auch in Zeiten ausbleibenden Wirtschaftswachstums ein sozialer Rückschritt politisch nicht mehr durchsetzbar. Der Staat beschränkt sich daher in Zeiten der wirtschaftlichen Stagnation vornehmlich auf eine Umverteilung des Vorhandenen. Als Verteilungskriterium gewinnt dabei der politische Einfluss bestimmter Personengruppen zunehmend an Bedeutung, wofür die mit auffälliger Gesetzmäßigkeit stets in Wahljahren durchgeführten Sozialreformen hinreichend Indiz liefern 115 . Obschon Reformen des deutschen Sozialsystems mit fortschreitenden gesellschaftlichen Veränderun"3 von Maydell, in: LdR/SozR, S. 451. 114 von Maydell, in: LdR/SozR, S. 449. us Vgl. Merten, S. 997, Rn. 122.

Β. Die Entwicklung der Rehabilitation

43

gen und beginnender Globalisierung immer dringlicher werden, reagieren die staatlichen Gesetzgebungsorgane mehr als schwerfällig. Die Wirklichkeit der parlamentarischen Demokratie mit seinem System konkurrierender Parteien und seinen kurzen Legislaturperioden lässt sich mit dem Erfordernis einer langfristigen und bedächtigen Planung im Sozialwesen nicht in Einklang bringen.

B. Die Entwicklung der Rehabilitation im deutschen Sozialsystem Im sozialen System der Bundesrepublik gibt es eine Vielzahl von Regelungen, die sich den Belangen behinderter Menschen widmen. Besondere Bedeutung für die rechtliche Stellung behinderter Personen innerhalb des deutschen Sozialsystems haben die Normen zur Rehabilitation. Auf die Entwicklung der Rehabilitation und ihre Verankerung im Sozialrecht ist nachfolgend einzugehen.

I. Der Gedanke von der Rehabilitation behinderter Menschen Wie der Verlauf der historischen Entwicklung des Sozialwesens zeigt, soll der Einzelne seine Lebensgrundlagen grundsätzlich durch Selbsthilfe schaffen und erhalten. Der Mensch ist aber regelmäßig in ein gesellschaftliches Umfeld eingebunden, so dass er im Bestreben nach einem angemessenen Lebensstandard in einer am Markt orientierten Gemeinschaft mit anderen in Wettbewerb zu treten hat. Der Lebensstandard des Einzelnen ist dabei auch für seine Stellung innerhalb der Gemeinschaft bestimmend. In einer am gesunden Menschen ausgerichteten Umwelt ist jedoch derjenige benachteiligt, dessen Erwerbsfähigkeit auf Grund einer gesundheitlichen Beschädigung im Vergleich zu anderen vermindert ist. Dieser Nachteil kann dazu führen, dass er seinen Lebensstandard nicht ausreichend durch Selbsthilfe schaffen und erhalten kann; dann drohen ihm soziale Notlagen sowie Einbußen in der gesellschaftlichen Stellung. Das staatliche Sozialwesen kann auf zweierlei Art reagieren: Zunächst kann der Nachteil durch Fremdhilfe kompensiert werden, indem der Bedarf des Betroffenen an denjenigen Mitteln gedeckt wird, die er sich nicht durch Selbsthilfe verschaffen kann. Diese Handlungsalternative zielt auf den Ausgleich eines Nachteils durch Verteilung des Vorhandenen. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, den Ursachen der Benachteiligung entgegenzuwirken. Neben der Hilfe zur Bekämpfung der gesundheitlichen Beeinträchtigung kommt dafür besonders die aktive Unterstützung bei der Überwindung des aus der gesundheitlichen Beeinträchtigung resultierenden Nachteils in Betracht. Letztere Alternative zielt nicht auf den Ausgleich eines

44

1. Kap.: Die rechtliche Stellung behinderter Personen

Nachteils, sondern auf dessen Überwindung, indem der gesundheitlich Beeinträchtigte in die Lage versetzt wird, sich seinen Lebensbedarf möglichst weitgehend durch Selbsthilfe zu sichern und einen angemessenen Platz in der Gesellschaft zu finden. Letztere Alternative bringt den modernen Gedanken von der Rehabilitation kranker und behinderter Menschen zum Ausdruck.

II. Der Begriff der Rehabilitation Hinter der Überzeugung, dass für den behinderten Menschen die Überwindung bestehender Nachteile und die Verbesserung seines Sozialstatus auch dann möglich ist, wenn die gesundheitliche Beeinträchtigung nicht auf medizinischem Wege beseitigt werden kann, stehen moderne Erkenntnisse über die Förderungs- und Bildungsfähigkeit behinderter Menschen. Bis ins 18. Jahrhundert war das Verhältnis des Staates gegenüber kranken und behinderten Menschen, denen nicht mit den Mitteln der Medizin geholfen werden konnte, von Absonderung und Ausgrenzung geprägt 116. Eine integrative Förderung dieser Personen gab es nur vereinzelt im Rahmen der Familie und karitativer Vereinigungen. Dort erzielte Erfolge, insbesondere bei der Beschulung behinderter Kinder, führten erst in der Zeit nach der Aufklärung zu einem beginnenden Bewusstseinswandel in der Gesellschaft 117. Die Medizin war von da an nicht mehr das einzige Mittel des staatlichen Sozialwesens, auf die Probleme behinderter Menschen zu reagieren. Vor diesem Hintergrund kam mit Beginn der staatlichen Sozialpolitik Mitte des 19. Jahrhunderts der Begriff von der „Rehabilitation " erstmals auf 118 . Er steht bis heute für das soziale Ziel, den kranken und behinderten Menschen zu einem der Würde des Menschen entsprechenden Leben zu verhelfen 119. Der umfassende Begriff der Rehabilitation beinhaltet aber auch den Weg, der zu diesem Ziel führt. Damit werden heute unter Rehabilitation „alle Maßnahmen verstanden, die darauf gerichtet sind, körperlich, geistig oder seelisch behinderten Menschen zu helfen, ihre Fähigkeiten und Kräfte zu entfalten und einen angemessenen Platz in der Gesellschaft zu finden" 120 . Im weiteren Sinn fallen unter den Begriff der Rehabilitation auch Maßnahmen, die einer drohenden Behinderung vorbeugen sollen. Damit wird der Terminus Rehabilitation zum Sammelbegriff für vorbeugende Maßnahmen gegen drohende Behinderungen (Prävention 121) sowie die erstmalige Eingliederung 116 Vgl. Fichtner, Die Rehabilitation 1985, S. 114. 117 Scholler, Beiträge, S. 50 f. us Die erstmalige Verwendung des Begriffs der Rehabilitation durch den badischen Hofmeister und Staatsrechtslehrer Franz Joseph Ritter von Buss (1803-1878) geht zurück auf das Jahr 1844; Hennies, in: LdR/SozR, S. 288; Fichtner, Die Rehabilitation 1985, S. 114. 119 Vgl. Hennies, in: LdR/SozR, S. 288. 120 So die Gesetzesbegründung zum RehaAnglG von 1974, siehe BT-Drs. 7/1237, S. 54. 121 Hinsichtlich der Prävention unterscheidet sich der juristische Sprachgebrauch vom medizinischen: Was Mediziner unter primärer Prävention verstehen, wird juristisch als „Vor-

Β. Die Entwicklung der Rehabilitation

(Habilitation) und Wiedereingliederung (.Rehabilitation) schen in die Gesellschaft.

45

des behinderten Men-

Der Begriff der Rehabilitation steht damit für Ziele, Mittel und Wege einer allumfassenden medizinischen und integrativen Förderung behinderter Menschen.

I I I . Die Bedeutung der Rehabilitation im deutschen Sozialsystem Der Gedanke einer Rehabilitation behinderter Menschen fand auch Eingang in das deutsche Sozialsystem. So sind heute im Sozialrecht Aufgaben, Ziele, Zwecke und Mittel der Rehabilitation in § 10 SGB I normiert. Nach dieser Vorschrift hat jeder, der körperlich, geistig oder seelisch behindert ist oder dem eine solche Behinderung droht, ein Recht auf Hilfe, die notwendig ist, um „die Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu bessern, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern" sowie „ihm einen seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprechenden Platz in der Gemeinschaft, insbesondere im Arbeitsleben, zu sichern". Hierdurch werden zwei miteinander zusammenhängende Ziele abgesteckt. Zunächst geht es um die Bekämpfung der Behinderung mit den notwendigen medizinischen Mitteln. Darüber hinaus soll dem behinderten Menschen die Möglichkeit eröffnet werden, aus eigenen Kräften in der Gemeinschaft mit anderen zu leben. Seine Lebensqualität soll so nahe wie möglich an die eines nichtbehinderten Menschen angenähert werden 122 . Wenn § 10 SBG I das Recht behinderter Mensch auf einen angemessenen Platz in der Gemeinschaft, insbesondere im Arbeitsleben anspricht, so sind in dieser Aussage mehrere Gesichtspunkte enthalten. Zunächst wird damit der allgemeinen Erkenntnis Ausdruck verliehen, dass dem behinderten Menschen nicht allein mit der Deckung seines Lebensbedarfs durch Fremdhilfe geholfen ist. Die Zufriedenheit eines Menschen hängt vielmehr entscheidend davon ab, dass er eine berufliche Aufgabe hat, dass er seine Kräfte und Fähigkeiten einsetzen, entfalten und erhalten kann 123 . Hilfe zur (Wieder-)Eingliederung von behinderten Personen ins Arbeitsleben ist darüber hinaus eine Hilfe zur Selbsthilfe und zur Überwindung der durch die gesundheitliche Beeinträchtigung bedingten Benachteiligung. Wenn behinderte Menschen ihre Fähigkeiten beruflich verwerten können, dient dies nicht nur der Schaffung und Erhaltung eines Lebensstandards und der Sicherung einer angemessenen Stellung in der Gemeinschaft, sondern kommt letztlich auch dem Sozialwesorge", also Vorbeugung und Verhütung drohender Krankheiten bezeichnet (vgl. § 23 SGB V). Rehabilitation als Behandlung und Nachbehandlung eingetretener Krankheiten kann medizinisch den Bereich der sekundären und tertiären Prävention umfassen; vgl. hierzu Hennies, in: LdR/SozR, S. 290 f. 122 Hennies, LdR/SozR, S. 291. 123 Vgl. Jung, RdA 1974, S. 161.

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1. Kap.: Die rechtliche Stellung behinderter Personen

sen selbst zugute. So ermöglicht dies nicht nur eine Absenkung der Aufwendungen für den Nachteilsausgleich; vielmehr kann der frühere Ausgleichsempfänger mit seiner Arbeitsleistung selbst wieder einen Beitrag zum Sozialsystem leisten. Ausgehend von dem Ziel der Rehabilitation, dem behinderten Menschen durch Hilfe zur Selbsthilfe zu einem menschenwürdigen Leben zu verhelfen, kann die Rehabilitation im staatlichen Sozialsystem drei Zwecke haben 124 . An erster Stelle steht die medizinische Rehabilitation, die unmittelbar auf die Ursachen der Benachteiligung abzielt und die Erhaltung und Verbesserung des Gesundheitszustandes zum Gegenstand hat. Dagegen sind berufliche und soziale Rehabilitation mehr auf die Uberwindung des Nachteils aus der drohenden oder eingetretenen gesundheitlichen Beeinträchtigung und damit vornehmlich auf die Sicherung einer angemessenen Stellung innerhalb der Gemeinschaft gerichtet. Berufliche Rehabilitation bezweckt die (Wieder-)Eingliederung in das Erwerbsleben bzw. die Sicherung der erreichten beruflichen Stellung. Daneben hat die soziale Rehabilitation die Förderung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zum Gegenstand. Die in § 10 SGB I zum Ausdruck gebrachten Aufgaben und Ziele der Rehabilitation sind das Ergebnis eines langen Entwicklungsprozesses in den verschiedenen Bereichen des Sozialsystems. Von dieser Entwicklung wird auch die gesetzliche Ausgestaltung des Rechts behinderter Personen auf Rehabilitation bestimmt.

IV. Zur Entstehungsgeschichte des Rehabilitationsrechts Der Gedanke der Rehabilitation behinderter Menschen begleitet die Entwicklung des Sozialwesens schon seit ihren Anfängen im Altertum. So gab es immer schon Menschen, die ihren Aufgabenschwerpunkt nicht nur in der Heilung und Linderung von Krankheiten und Behinderungen, sondern besonders in der sozialen Integration behinderter Menschen gesehen haben 125 . Zum staatlichen Programm wurde die Rehabilitation behinderter Menschen jedoch erst mit dem Beginn staatlicher Sozialpolitik, insbesondere im Gefolge der Sozialgesetzgebung Bismarcks.

1. Von den Reichssozialgesetzen bis zum Zweiten Weltkrieg Schon mit dem ersten Krankenversicherungsgesetz der Arbeiter übernahmen die Krankenkassen ab 1884 die Heilbehandlung für ihre Mitglieder. Hilfe zur Wiederherstellung der Gesundheit war primär die Aufgabe der Krankenversicherung, jedoch setzten bald auch bei den anderen Trägern des staatlichen Sozialwesens Bestrebungen in diesem Bereich ein. So finden sich erste Ansätze einer medizini124 Siehe hierzu: Ost/Mohr/Estelmann, S. 434 f. 125 Fichtner, Die Rehabilitation 1985, S. 113.

Β. Die Entwicklung der Rehabilitation

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sehen Rehabilitation schon bald nach Inkrafttreten des Unfallversicherungsgesetzes im Jahre 1885, als man erkannte, dass durch eine möglichst sofort nach dem Unfall einsetzende Heilfürsorge nicht nur die Folgen der Unfallverletzung gemildert, sondern auch die Rentenlasten verringert werden können. Neben Ersatzleistungen für die Beschädigung wurde daher von den Berufsgenossenschaften auch Heilfürsorge in eigens dafür errichteten Unfallkrankenhäusern geleistet 126 . Ebenso konnten die Landesversicherungsanstalten nach dem „Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Alterssicherung der Arbeiter" das Heilverfahren in eigenen Sanatorien und Kureinrichtungen übernehmen, sofern als Folge der gesundheitlichen Beeinträchtigung Erwerbsunfähigkeit zu besorgen war, die einen Anspruch auf Rentenleistung begründete. Insofern waren es nicht nur humanitäre, sondern insbesondere ökonomische Gründe, aus denen schon damals einer Rehabilitation der Vorzug vor einer dauerhaften Rentenzahlung gegeben wurde 127 . Frühe Maßnahmen einer beruflichen Rehabilitation finden sich vor allem im Recht der Kriegsopferversorgung. Im Ersten Weltkrieg wurde deutlich, dass die auf Rentenleistungen abgestellte Versorgung den besonderen Nöten der Kriegsbeschädigten nicht gerecht wurde. Den Betroffenen musste das Gefühl genommen werden, infolge ihrer körperlichen Schäden nutzlose Glieder der Gesellschaft geworden zu sein 128 . Deshalb wurde es für erforderlich gehalten, neben der Heilbehandlung möglichst frühzeitig auch auf eine berufliche Wiedereingliederung hinzuwirken 129 . Erste berufsfördernde Maßnahmen wurden nach Kriegsende im Rahmen der allgemeinen Demobilmachung gesetzlich verankert. Im Reichsversorgungsgesetz130 von 1920 waren neben der Heilbehandlung auch berufsfördernde Leistungen wie eine unentgeltliche Ausbildung zur Wiedergewinnung und Erhöhung der Erwerbsfähigkeit vorgesehen. Insbesondere wurde bereits im Januar 1919 mit der Verordnung über die Beschäftigung Schwerbeschädigter erstmalig eine Einstellungspflicht der Arbeitgeber eingeführt 131 , wonach 1 % der Arbeitsplätze mit Schwerbeschädigten zu besetzen waren. Als schwerbeschädigt in diesem Sinne waren Kriegsbeschädigte und gleichgestellte Unfallverletzte mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50 % anzusehen. Im selben Jahr wurde der Kündigungsschutz für Schwerbeschädigte geregelt und die Pflichteinstellungsquote in Betrieben mit mehr als 20 Arbeitsplätzen auf 2 % festgesetzt 132. Diese Rege126

Das erste Unfallkrankenhaus nahm bereits 1890 in Bochum seine Tätigkeit auf; vgl. Rindt, S. 255. 127 Vgl. Eichenkofens. 261. us Jung, RdA 1974, S. 161. 129 So hatte der aus privaten Initiativen der freien Wohlfahrtspflege hervorgegangene „Reichsausschuß für Kriegsbeschädigtenfürsorge", der im Februar 1919 beim Reichsarbeitsamt als Körperschaft des öffentlichen Rechts errichtet wurde, vor allem das Ziel, die Kriegsbeschädigten in das Wirtschaftsleben zurückzuführen; vgl. Rindt, S. 256; Jung, RdA 1974, S. 161 f. 130 RVG vom 12. 5. 1920 (RGBl. S. 989).

131 Verordnung vom 9. 1. 1919 (RGBl. S. 28).

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1. Kap.: Die rechtliche Stellung behinderter Personen

lungen wurden schließlich im Folgejahr im „Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter" 133 zusammengefasst. In der Folgezeit schuf man das Institut des Vertrauensmannes der Schwerbeschädigten und übertrug die Zuständigkeiten der Kriegsbeschädigtenfürsorge auf die Hauptfürsorgestellen 134. Überdies dehnte man die Gleichstellungsmöglichkeit auf Minderbeschädigte und Zivilblinde aus. Somit bewirkte das Schwerbeschädigtengesetz in seiner Neufassung aus dem Jahre 1923 135 , das als eines der besten sozialpolitischen Gesetze nach dem Ersten Weltkrieg gilt 1 3 6 , dass trotz der Wirtschaftskrisen bis zum Jahr 1930 der allergrößte Teil der mehr als 400.000 Schwerbeschädigten in Arbeit gebracht werden konnte 137 . Die in der Kriegsbeschädigtenfürsorge gewonnenen Erkenntnisse hinsichtlich der Berufsfürsorge machte sich auch die Unfallversicherung zunutze, wo man sich zunächst bemühte, die „Arbeitstherapie" dem Heilverfahren zuzuordnen 138. Mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung der Unfallversicherung 139 vom Juli 1925 wurde dann neben der Unfallverhütung auch die Berufsfürsorge zur Pflichtaufgabe der Berufsgenossenschaften 140. Als berufsfördernde Leistungen gewährte man dem Unfallverletzten Berufsberatung sowie berufliche Ausbildung zur Wiedergewinnung oder Erhöhung der Erwerbsfähigkeit. Darüber hinaus waren als neue Leistungen auch die Umschulung in einen neuen Beruf und Hilfen zur Erlangung einer Arbeitsstelle vorgesehen. Berufliche Rehabilitation gab es auch im Bereich der öffentlichen Fürsorge, die mit den „Reichsgrundsätzen" 141 vom Dezember 1924 begonnen hatte, sich von der Armenfürsorge zur öffentlichen Wohlfahrtspflege fortzuentwickeln 142. Berufliche Rehabilitationsmaßnahmen beschränkten sich dabei allerdings hauptsächlich auf Hilfen zur pädagogischen Förderung körperbehinderter Minderjähriger, setzten also im schulischen Bereich ein. Diese Entwicklungen waren insbesondere vor dem Hintergrund bemerkenswert, dass nun die moderne Überzeugung von der Bildungsfähigkeit behinderter Menschen Eingang ins Sozialrecht gefunden hatte 143 .

132 Durch Schutzvorschriften vom 1. 2. 1919, 11. 8. 1919 und 24. 9. 1919; vgl. Jung, RdA 1974, S. 162. 133 Gesetz vom 6.4. 1920 (RGBl. S. 458). 134 Durch die Verordnung über die Fürsorgepflicht vom 13. 2. 1924 (RGBl. I. S. 100). 135 Die Novelle zum Schwerbeschädigtengesetz vom 23. 12. 1922 (RGBl. I. S. 972) führte zu einer Neufassung des Gesetzes vom 12. 1. 1923 (RGBl. I. S. 58). 136 Vgl. Jung, RdA 1974, S. 162; Rindt, S. 256. 137 Siehe hierzu die Tabelle über die Zahl der Schwerbeschädigten bei: Frerich/Frey, Band 1,S. 194 138 Rindt, S. 256. 139 Gesetz vom 14. 7. 1925 (RGBl. I. S. 97). 140 Frerich/Frey, Band 1, S. 211. 141 Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge vom 4. 12. 1924 (RGBl. I S. 765). 142 Vgl. hierzu Frerich/Frey, Band 1, S. 231 ff.

Β. Die Entwicklung der Rehabilitation

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Die Förderung von Minderjährigen im Recht der öffentlichen Fürsorge entsprach darüber hinaus dem besonderen Schutz von Kindern und Jugendlichen nach der Weimarer Reichsverfassung 144. So umfassten ihre Leistungen nunmehr auch Hilfen zur Erziehung und Erwerbsbefähigung von minderjährigen Blinden, Taubstummen und Krüppeln.

2. Die Entwicklung in der Nachkriegszeit Nachdem infolge des Zweiten Weltkrieges das Sozialsystem weitgehend zum Erliegen gekommen war, setzte bald nach Wiederherstellung der Rechtseinheit in der Bundesrepublik Deutschland die Weiterentwicklung des Rehabilitationswesens ein. Eine enorme Zahl von Kriegsopfern und Flüchtlingen musste ihren Platz in der Nachkriegsgesellschaft finden und bedurfte dabei staatlicher Hilfe. Zur notwendigen sozialen Wiedereingliederung behinderter Menschen war man schon gegen Ende des Krieges neue Wege in der Rehabilitation gegangen. Mit der Gewährung von Freifahrten im öffentlichen Nahverkehr für Kriegsbeschädigte und eine Reihe von Gleichgestellten wurden Maßnahmen eingeführt, die eine allgemeine Förderung der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zum Gegenstand hatten 1 4 5 . Im Mittelpunkt der Bemühungen um die Kriegsopfer stand jedoch weiterhin die Teilnahme der behinderten Personen am Arbeitsleben, die mit Beginn der 1960er Jahre auch mittelbar durch sonstige Leistungen, wie ζ Β. durch Hilfen zur Beschaffung eines Kraftfahrzeuges oder einer behindertengerechten Wohnung, gefördert wurde 146 . Die von der Kriegsopferfürsorge vorangetriebene Entwicklung in der Rehabilitation kam immer mehr auch anderen Gruppen von behinderten Personen zugute. Schon das neugeschaffene Bundesversorgungsgesetz 147 hatte seinen Anwendungsbereich von daher nicht nur auf Soldaten beschränkt, sondern diente ebenso Personen, die durch militärähnliche Dienste oder unmittelbare Kriegsein-

143 Die Erkenntnis, dass man auch „nicht vollsinnigen" Kindern mit neuen Lehrmethoden zu Bildung und damit besseren Chancen auf dem Arbeitsmarkt verhelfen konnte, setzte sich erst Anfang des 19. Jahrhunderts langsam durch; siehe zur Entwicklung im pädagogischen Bereich: Simon, Die Rehabilitation 1985, S. 132 und zur schulischen Förderung blinder Kinder: Scholler/Krause, S. 25 ff. 144 Art. 122 WRV erklärte nicht nur das vorrangige Erziehungsrecht der Eltern, sondern auch den Schutz der Jugend gegen Verwahrlosung zum Grundrecht, woraufhin sich die Jugendhilfe zur Staatsaufgabe herauszubilden begann; siehe hierzu: Frerich/Frey, Band 1, S. 234 f. 145 Dieser Weg wurde bis heute kontinuierlich weiterbeschritten, so dass nunmehr ein großer Teil von Schwerbehinderten Menschen Freifahrten im öffentlichen Nahverkehr bis 50 Kilometer um den Wohnort beanspruchen kann, siehe hierzu: Rindt, S. 258 ff. 146 Durch das erste Neuordnungsgesetz zur Kriegsopferversorgung vom 27. 6. 1960 (BGBl. IS. 85) und die hierauf ergangenen Verordnungen; vgl. Rindt, S. 257. w BVG vom 20. 12. 1950 (BGBl. I S. 791).

4 Straßmair

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1. Kap.: Die rechtliche Stellung behinderter Personen

Wirkungen eine Schädigung erlitten hatten 148 . Das Schwerbeschädigtengesetz149 aus dem Jahre 1953 erfasste neben den Kriegsgeschädigten unmittelbar auch politisch Verfolgte, Blinde und schwer Sehbehinderte. Zugleich wurde mit ihm erstmals das Institut einer Ausgleichsabgabe eingeführt, welche von privaten Arbeitgebern zu entrichten war, die ihre Beschäftigungspflicht nicht erfüllten 150 . Im Bereich der Sozialversicherung schlug sich die allmähliche Verbesserung der wirtschaftlichen Lage in der Bundesrepublik und das Fortschreiten der Rehabilitationsmedizin in einer Erweiterung der Leistungskataloge nieder. Insbesondere sollten die Maßnahmen zur Bekämpfung von gesundheitlichen Beeinträchtigungen möglichst frühzeitig einsetzen. Dementsprechend konnte in der Rentenversicherung seit der Rentenreformgesetzgebung von 1957 die Heilbehandlung in Kur- und Spezialanstalten schon dann gewährt werden, wenn die Erwerbsfähigkeit gefährdet war und dadurch voraussichtlich erhalten werden konnte. Hinzu kamen zahlreiche Maßnahmen zur Wiedergewinnung oder Erhöhung der Erwerbsfähigkeit, wie ζ. B. die Umschulung in einen anderen zumutbaren Beruf und Hilfen zur Erhaltung oder Erlangung einer Arbeitsstelle, begleitet von ergänzenden Lohnersatzleistungen während der Dauer der Rehabilitationsmaßnahmen. In der Krankenversicherung begann sich eine zunehmende Betonung der Prävention abzuzeichnen. Insbesondere für die Früherkennung und rechtzeitige Behandlung von Gesundheitsschäden wurden mit dem Krankenversicherungsänderungsgesetz von 1970 wichtige Fortschritte erzielt 151 . In der Fürsorge brachte das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) 152 von 1961 wichtige Verbesserungen im Bereich der Rehabilitation. Außer einem eigenen Abschnitt zur Regelung der „Eingliederungshilfe für Behinderte" umfasste sein Leistungskatalog neben Präventiv- und medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen auch Maßnahmen zur Ermöglichung und Vorbereitung der Eingliederung in das Erwerbsleben. Das BSHG verbesserte nicht nur die Rechtsstellung der behinderten Personen mit der gesetzlichen Verankerung eines individuellen Leistungsanspruchs, sondern präzisierte und erweiterte auch den Leistungskatalog sowie den begünstigten Personenkreis, der nunmehr u. a. auch geistig behinderte Personen umfasste. 148

So wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass besonders gegen Ende des Krieges die Zivilbevölkerung in nahezu dem gleichen Maße in das Kriegsgeschehen einbezogen war, wie die kämpfende Truppe; siehe Frerich/Frey; Band 3, S. 38. 149 Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter vom 16. 6. 1953 (BGBl. I S. 389). 1 50 Für jeden nichtbesetzten Pflichtplatz (zwischen 2 % und 10 % der Arbeitsplätze) war eine Ausgleichsabgabe i.H.v. DM 50,- zu entrichten. Die hierdurch eingenommenen Mittel durften nur zum Zwecke der Arbeits- und Berufsförderung für Schwerbeschädigte verwendet werden. 151 Mit dem 2. KVÄndG vom 21. 12. 1970 (BGBl. I S. 1770) wurde ein Rechtsanspruch zur Früherkennung von solchen Krankheiten eingefühlt, die eine normale körperliche, geistige oder seelische Entwicklung von Kindern in besonderem Maße gefährdeten. 152 BSHG vom 30. 6. 1961 (BGBl. IS. 815, 1875)

Β. Die Entwicklung der Rehabilitation

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Neben der medizinischen gewann die berufliche Rehabilitation und damit die Eingliederung behinderter Personen in die Arbeitswelt weiter an Bedeutung. Mit Erlass des Arbeitsförderungsgesetzes 153 im Jahre 1969 kam der Bundesanstalt für Arbeit, welche für berufsfördernde Leistungen gegenüber der Sozialversicherung und Kriegsopferfürsorge nachrangiger und im Verhältnis zur Sozialhilfe vorrangiger Rehabilitationsträger wurde, dabei eine Schlüsselstellung zu. Gegenüber anderen Trägern war sie in der beruflichen Rehabilitation vorleistungspflichtig und konnte umfangreiche Leistungen zur Berufsförderung vorläufig gewähren. Bis Ende der 1960er Jahre hatte sich durch die Erweiterung der Rehabilitationsleistungen und eine Ausdehnung des begünstigten Personenkreises die Lage der behinderten Personen in der Bundesrepublik zweifellos wesentlich verbessert. Die Entwicklung der Rehabilitation im gegliederten System der einzelnen Sozialleistungsbereiche hatte allerdings zu einer nachteiligen Rechtszersplitterung geführt, die nicht nur bei der notwendigen Koordination der Maßnahmen, sondern auch auf Grund der unterschiedlichen Leistungsgewährung und der Zuständigkeitskonkurrenzen Schwierigkeiten bereitete. Zwar wurde 1969 zur Förderung der Zusammenarbeit die „Bundesarbeitsgemeinschaft Rehabilitation" gegründet, die unbefriedigende Rechtslage blieb jedoch bestehen154. Mit der Vorlage eines „Aktionsprogramms zur Förderung der Rehabilitation" 155 durch die Bundesregierung am 14. April 1970 wollte man dann eine koordinierte und alle Bereiche umfassende Rehabilitationspolitik einleiten. Dieses Programm hatte das vorrangige Ziel, allen behinderten Personen unabhängig von Art und Ursache ihrer Behinderung die erforderlichen medizinischen, pädagogischen, beruflichen und sozialen Hilfen zukommen zu lassen 156 . Das neue Schwerbehindertengesetz 157 von 1974 erfasste nunmehr alle Schwerbehinderten unabhängig von Art und Ursache der Behinderung. Die Pflichteinstellungsquote wurde auf 6 % erhöht, die Ausgleichsabgabe verdoppelt und der Kündigungsschutz für Schwerbehinderte Arbeitnehmer verbessert. Im Bereich der beruflichen Rehabilitation konnte eine behindertengerechte Ausstattung der Arbeitsplätze finanziell gefördert werden; darüber hinaus wurden erstmals auch die Grundzüge einer einheitlichen und umfassenden Werkstatt für Behinderte entwickelt 158 . Ebenfalls im Jahre 1974 wurde das Ziel der Eingliederungshilfe durch eine Novelle zum Bundessozialhilfegesetz neu definiert, wonach die Eingliederung nunmehr vor allem darauf ausgerichtet

153 Mit dem AFG vom 25. 6. 1969 (BGBl. I S. 582) wurde auch die bisherige „Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung" in „Bundesanstalt für Arbeit" umbenannt. 154 Frerich/Frey, Band 3, S. 81 155 BT-Drs. VI/896. 156 Rindt, S. 259. 157 Gesetz zur Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft vom 29.4. 1974 (BGB. I. S. 1005). 158 Siehe ausführlich zu den Leistungen des SchwbG von 1974: Jung, RdA 1974, S. 164 ff. 4*

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1. Kap.: Die rechtliche Stellung behinderter Personen

sein muss, dem behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern 159 . Das Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (RehaAnglG) 1 6 0 aus dem gleichen Jahr konnte entgegen seinem Titel wirkliche Leistungsangleichung in der Rehabilitation nicht herbeiführen. Rehabilitationsleistungen richteten sich auch weiterhin nach den für den einzelnen Rehabilitationsträger geltenden Vorschriften 161. Zumindest konnte aber für alle Träger einheitlich die Angleichung der ergänzenden Leistungen 162 und die Normierung einer Reihe von allgemeinen Grundsätzen erreicht werden. Dem behinderten Menschen wurde nun ein umfassendes Recht auf Rehabilitation mit dem Ziel seiner dauerhaften Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft gewährt. Außerdem wurde mit dem RehaAnglG die rechtliche Stellung behinderter Personen im Sozialsystem dadurch verbessert, dass man Rehabilitanden in ihrer sozialen Sicherung den Arbeitnehmern gleichgestellte. Das wenig später erlassene „Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter" 163 bezog dann behinderte Personen, die in Heimen, Anstalten und den Werkstätten für Behinderte beschäftigt werden, in den Schutz der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung ein 1 6 4 . Seit dem Ende der 1970er Jahre war auch das Sozialsystem von den durch Schwierigkeiten in der deutschen Wirtschaft bedingten finanziellen Problemen der öffentlichen Haushalte betroffen 165 . Deshalb war auch die folgende Zeit für die Fortentwicklung der Rehabilitation weniger günstig. Im Hinblick auf das von den Vereinten Nationen proklamierte kommende internationale Jahr der Behinderten legte die Bundesregierung im Sommer 1980 nichtsdestotrotz ein zweites Aktionsprogramm zur „Rehabilitation in den 80er Jahren" vor 1 6 6 . Das von den Spargesetzen 1 6 7 der frühen 1980er Jahre begleitete Aktionsprogramm konnte, allerdings weniger weitreichend als das erste aus dem Jahr 1970, zu einigen wichtigen Verände159 BSHG-ÄndG vom 25. 3. 1974 (BGBl. I. S. 777). 160 RehaAnglG vom 7. 8. 1974 (BGBl. I. S. 1881). 161 Siehe hierzu neben Rindt, S. 259 auch Köhler, SdL 1996, S. 378 f. 162 Besonders vorzuheben ist die einheitliche Regelung der Lohnersatzleistungen (Kranken- und Übergangsgeld), die während der Reha-Maßnahme geleistet wurden. Sie betrugen einheitlich 80 % des bisherigen durchschnittlichen Bruttoverdienstes, durften aber das Nettoentgelt nicht übersteigen. 163 Gesetz vom 7. 5. 1975 (BGBl. I. S. 1061) 164 Schwerbehinderten wurde so nach einer Versicherungszeit von 20 Jahren der Bezug einer Rente ermöglicht. Ferner konnten seitdem alle Schwerbehinderten unter gewissen Voraussetzungen der gesetzlichen Krankenversicherung freiwillig beitreten; vgl. Rindt, S. 261. 165 Zur „Krise des Sozialstaats" siehe Scholler, Beiträge, S. 221 ff.; Frerich/Frey, Band 3, S. 159 ff. 166 Die Bundesregierung sprach sich u. a. für eine vorbeugende Sozialpolitik aus und forderte die Verbesserung von Behindertenrechten und Bildungschancen; zu den weiteren Vorschlägen der Bundesregierung siehe: Rindt, S. 261; Frerich/Frey, Band 3, S. 280. 167 Zu erwähnen sind hier das 2. Haushaltsstrukturgesetz, das Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetz und das Kostendämpfungsgesetz zur Krankenversicherung vom 22. 12. 1981.

Β. Die Entwicklung der Rehabilitation

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rungen führen. So folgte aus der Anpassung des Schwerbehindertengesetzes an die geänderten Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt 168 auch die Möglichkeit zur psychosozialen Betreuung, eine Anhebung der Ausgleichsabgabe um 50 % und eine Verbesserung der Rechtsstellung der Schwerbehindertenvertretung. Darüber hinaus wurde die missverständliche Bezeichnung der „Minderung der Erwerbsfähigkeit" im Schwerbehindertenrecht ersetzt und damit verdeutlicht, dass die neue Bezeichnung „Grad der Behinderung" nichts über die Leistungsfähigkeit des behinderten Menschen aussagt169. Seit den 1980er Jahren geriet die Förderung der Eingliederung behinderter Menschen immer mehr unter den Vorbehalt der Wirtschaftlichkeit der Maßnahmen. Für Leistungen der Krankenversicherung ist das Wirtschaftlichkeitsgebot seit dem Gesundheitsstrukturgesetz von 1992 nunmehr ausdrücklich gesetzlich verankert 170 , allgemeine Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und der Sparsamkeit sind aber auch in den übrigen Zweigen der Sozialversicherung zu beachten171. Trotz der weiterhin angespannten wirtschaftlichen Situation in der Bundesrepublik hat sich der Bundestag nach dem Zweiten Aktionsprogramm der Lage von behinderten Menschen verstärkt angenommen. Insbesondere wurde der Bundesregierung im Jahre 1982 vom Bundestag aufgegeben, einmal in der Legislaturperiode einen „Bericht über die Lage der Behinderten und die Entwicklung der Rehabilitation" vorzulegen 172 . Im Zuge der Kodifikationsbestrebungen der 1980er Jahre sollte das Rehabilitationsrecht in einem besonderen Teil des Sozialgesetzbuchs so bald wie möglich zusammengefasst werden 173 . Über die Vorlage eines Referentenentwurfs 174 für ein solches Neuntes Buch des SGB aus dem Jahre 1993 kamen diese Bestrebungen bis zur Jahrtausendwende jedoch nicht mehr hinaus 175 .

168 Mit dem 1. Schwb-ÄndG vom 24. 7. 1986 (BGBl. I. S. 1110) wurde der gespannten Lage am Arbeitsmarkt Rechnung getragen. Die Angleichung des Beginns des besonderen Kündigungsschutzes an den des allgemeinen sowie die Kürzung des Zusatzurlaubes, aber auch die Möglichkeit einer Mehrfachanrechnung von Schwerstbehinderten sollte den Arbeitgeber zur vermehrten Einstellung Schwerbehinderter Arbeitnehmer bewegen; vgl. Frerich/ Frey, Band 3, S. 281. 169 Rindt, S. 262 no § 12 SGB V wurde eingeführt mit Gesetz vom 21. 12. 1992 (BGBl. I. S. 2266). 171

Vgl. die Anforderungen bei der Aufstellung der Haushaltspläne nach § 69 Abs. 2 SGB IV. 172 Auf die am 25. 6. 1982 angenommene Entschließung (BT-Drs. 9 /1753) folgte der Erste Behindertenbericht 1984 (BT-Drs. 10/1233), der Zweite im Jahr 1989 (BT-Drs. 11/4455), der Dritte Bericht im Jahr 1994 (BT-Drs. 12/7148) und der Vierte im Jahre 1998 (BT-Drs. 13/ 9514). ι 7 3 Die Zusammenfassung des Rehabilitations- und Schwerbehindertenrechts und seine Eingliederung ins Sozialgesetzbuch war schon im Jahre 1987 Gegenstand der Koalitionsvereinbarung der Regierungsparteien; vgl. Rindt, S. 263. 1 74 Referentenentwurf nach dem Stand vom 15. 3. 1993; vgl. hierzu: Köhler, SdL 1996, S. 385

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1. Kap.: Die rechtliche Stellung behinderter Personen

3. Zusammenfassung Der Gedanke von der Rehabilitation geht aus modernen Erkenntnissen über die Bildungs- und Förderungsfähigkeit von behinderten Menschen hervor. Er folgt der Uberzeugung, dass der behinderte Mensch auch in einer am Gesunden ausgerichteten Umwelt die Möglichkeit hat, ein selbständiges Leben zu führen und einen angemessenen Platz innerhalb der Gesellschaft zu finden, sofern die Nachteile aus der gesundheitlichen Beeinträchtigung überwunden werden können. Aufgabe der Rehabilitation im Sozialsystem ist es daher, dem behinderten Menschen zu helfen, seine Fähigkeiten und Kräfte zu entfalten, um schließlich den bestehenden Nachteil so gut wie möglich aus eigenen Kräften zu überwinden. Ansatzpunkt für die Rehabilitation ist die Fremdhilfe, welche auf die Eingliederung des behinderten Menschen in die Gesellschaft abzielt. Dieses Ziel liegt mit der Förderung der Selbsthilfefähigkeit des behinderten Menschen nicht nur in dessen Interesse, sondern entspricht auch dem Interesse der Allgemeinheit. Im staatlichen Sozialwesen wurde der Rehabilitationsgedanke in den verschiedenen Sachbereichen aufgegriffen und dort entsprechend der verschiedenen Ausrichtung der Leistungssysteme zum Teil unterschiedlich umgesetzt und fortentwikkelt. Auch im Zuge der Kodifikationsbestrebungen der 1970er Jahre gelang es nicht, das Rehabilitationsrecht als eigenständiges Rechtsgebiet zu verselbständigen. In der Bundesrepublik Deutschland kam es zudem nie zur Entstehung eines einheitlichen Rehabilitationsträgers, obschon die Idee einer „Bundesanstalt für Rehabilitation" in der Vergangenheit mehrfach erörtert wurde 176 . Die Regelungen zur Rehabilitation verteilen sich deshalb über fast alle besonderen Teile des Sozialgesetzbuchs. Dennoch wurde ein umfangreicher Normenbestand geschaffen, der die rechtliche Stellung behinderter Menschen im sozialen System wesentlich prägt und diese letztlich auch entscheidend verbessern konnte.

C. Die Grundzüge der Rehabilitation im Sozialrecht Das Recht der Rehabilitation ist besonders umfangreich und gerade aus der Sicht des Betroffenen unüberschaubar. Deshalb ist zu untersuchen, welchen Grundzügen dieses Recht im Sozialgesetzbuch folgt 1 7 7 .

175 Auf das zum 1.7. 2001 in Kraft getretene SGB IX wird im fünften Kapitel einzugehen sein. 176 Vgl. Schollen Beiträge, S. 13; Köhler, SdL 1996, S. 379, Fn. 100 m. w. N.

177 Die nachfolgende Darstellung basiert auf der Gesetzeslage vor der Jahrtausendwende. Auf die seit Einführung des Neunten Buch Sozialgesetzbuch geänderte Rechtslage wird im 5. Kapitel gesondert eingegangen.

C. Die Grundzüge der Rehabilitation im Sozialrecht

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I. Leistungsarten Neben vielen Unterschieden gibt es auch für alle Leistungsträger gemeinsame Grundsätze für die Eingliederung behinderter Menschen. So ist für die Hilfen zur Rehabilitation behinderter Menschen im Sozialgesetzbuch ein für sämtliche Rehabilitationsträger einheitlicher Leistungsrahmen vorgegeben. Die zur Verfügung stehenden Leistungsarten können in vier Gruppen aufgegliedert werden: Die erste Gruppe setzt sich aus den medizinischen Leistungen zusammen. Diese sollen alle Hilfen umfassen, die erforderlich sind, um einer drohenden Behinderung vorzubeugen, eine Behinderung zu beseitigen, zu bessern oder eine Verschlimmerung zu verhüten 178 . Die medizinischen Hilfen haben neben ärztlicher Behandlung sowie Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln auch Belastungserprobung und Arbeitstherapie zum Gegenstand179. Die Gruppe der berufsfördernden Leistungen schließt alle Hilfen ein, die erforderlich sind, um die Erwerbsfähigkeit des Behinderten entsprechend seiner Leistungsfähigkeit zu erhalten, zu bessern, herzustellen oder wiederherzustellen und ihn dadurch möglichst auf Dauer beruflich einzugliedern. Hierzu zählen u. a. Maßnahmen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes, zur Förderung einer Erwerbs- und Berufstätigkeit sowie solche zur beruflichen Vorbereitung, Anpassung, Ausbildung, Fortbildung und Umschulung (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 SGB I). Die dritte Gruppe von Leistungen zur Rehabilitation umfasst nach § 29 Abs. 1 Nr. 3 SGB I solche zur allgemeinen sozialen Eingliederung behinderter Menschen. Hierunter fallen zunächst pädagogische Unterstützungsmaßnahmen mit Hilfen zur vorschulischen, schulischen oder praktischen Bildung des behinderten Menschen. Daneben sind beispielsweise auch Hilfen im Bereich der Kommunikation und der Mobilität sowie zur Freizeitgestaltung und zur sonstigen Teilnahme am gesellschaftlichen und kulturellen Leben vorgesehen 180. Vielfach bedarf es aber noch weiterer Leistungen, um dem behinderten Menschen die Teilnahme an einer Rehabilitationsmaßnahme zu ermöglichen. Zur Gruppe der ergänzenden und sonstigen Leistungen - die zur Rehabilitation hinzutreten, soweit es im Einzelfall erforderlich ist - gehört sowohl die Gewährung von Lohnersatzleistungen für die Dauer der Maßnahme, als auch die Tragung der Beiträge zur Sozialversicherung durch den Rehabilitationsträger 181. Daneben kann un178 Vgl. §§ 10,29 SGB I. 179 Heilmittel sind u. a. Krankengymnastik und Therapien; der umfangreiche Hilfsmittelkatalog reicht von der Brille über Körperersatzstücke bis zu Rollstühlen und anderen orthopädischen Hilfsmitteln, vgl. § 29 Abs. 1 Nr. 1 a)-e) SGB I. 180 Vgl. im einzelnen § 29 Abs. 1 Nr. 3 a)-i) SGB I. 181 Als Lohnersatzleistungen werden Krankengeld, Versorgungskrankengeld, Verletztengeld und Übergangsgeld gewährt. Mit Ausnahme des Übergangsgeldes betragen diese Lohnersatzleistungen 80% des letzten regelmäßigen Bruttoentgeltes, höchstens aber das entgangene regelmäßige Nettoentgelt. Beim Übergangsgeld schwankt der Prozentsatz vom regelmäßi-

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1. Kap.: Die rechtliche Stellung behinderter Personen

ter bestimmten Voraussetzungen auch Haushaltshilfe und Reisekostenerstattung gewährt werden sowie weitere Kosten, die mit einer berufsfördernden Leistung im Zusammenhang stehen, übernommen werden 182 .

II. Leistungsgrundsätze Alle im Sozialgesetzbuch aufgeführten Leistungen haben zum Ziel, den behinderten Menschen möglichst vollständig, dauerhaft und unter bestmöglichen Lebensbedingungen in das Gemeinschaftsleben einzugliedern. Der Erfolg einer Rehabilitationsmaßnahme beurteilt sich deshalb nicht nach der Beseitigung der Behinderung oder deren Ursache, sondern nach dem Ziel der Eingliederung. Demgemäß sind die genannten Hilfen und Leistungen final auf den Eintritt dieses Rehabilitationserfolges ausgerichtet. Dem Leistungsrahmen ist insofern ein Finalitätsprinzip übergeordnet. Sozialleistungen werden danach in dem Umfang gewährt, wie sie als Hilfen zur Eingliederung des behinderten Menschen erforderlich sind und eine Eingliederung mit eben diesen Hilfen erreicht werden kann. Welche Ursache den Leistungsbedarf hervorgerufen hat, spielt nach dem Grundgedanken der Rehabilitation eigentlich keine Rolle, was auch die Grundnorm des § 10 SBG I deutlich zum Ausdruck bringt. Maßgebend für Art, Umfang und Höhe der Leistungen ist nach dem Finalitätsprinzip also grundsätzlich nur der auf Grund der Beeinträchtigung bestehende Hilfebedarf. Umgekehrt werden Leistungen aber auch nur dann gewährt, wenn tatsächliche Aussichten auf einen Erfolg der Rehabilitationsmaßnahme bestehen183. Ob der angestrebte Erfolg mit den zur Verfügung stehenden Mitteln herbeigeführt werden kann, wird in hohem Maße vom behinderten Menschen selbst beeinflusst. Nur wenn es gelingt, sein Selbstbewusstsein, sein Selbstvertrauen und seinen Selbsthilfewillen zu stärken, kann auch das Ziel seiner möglichst endgültigen Eingliederung erreicht werden 184 . Im Mittelpunkt aller Rehabilitationsbemühungen steht daher der behinderte Mensch, der von jedem Leistungsträger unter Berücksichtigung der medizinischen, technischen und sozialen Fortschritte die bestmögliche Hilfe erhalten soll 1 8 5 . Maßgeblich für die Maßnahmen zur Rehabilitation sind deshalb zunächst die Neigungen und Fähigkeiten des behinderten Menschen. Für den Erfolg einer Rehabilitationsmaßnahme ist entscheidend, dass er weder geistig noch körperlich überfordert wird und nach besten Kräften an den einzelnen Maßnahmen mitwirkt. Dem Recht auf Leistungen zur Rehabilitation entspricht dagen Bruttoentgelt je nach Art der Leistung und dem Familienstand zwischen 68 % und 80 %; vgl. § 29 Abs. 1 Nr. 4 SGB I. 182 Vgl. § 29 Abs. 1 Nr. 3 SGB I. 183 Hennies, in: LdR/SozR, S. 294. 184 Vgl. Hennies, in: LdR/SozR, S. 291. 185 Hennies, in: LdR/SozR, S. 294.

C. Die Grundzüge der Rehabilitation im Sozialrecht

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her nach §§ 60 ff. SGB I auch eine Pflicht zur aktiven Mitwirkung bei den Maßnahmen 186 . Der Empfänger von Leistungen wird somit als eigenverantwortlich handelnder Mensch in das Rehabilitationsgeschehen einbezogen. Deshalb muss er nicht nur über alle Möglichkeiten und Leistungen zur Rehabilitation möglichst umfassend beraten und aufgeklärt werden, sondern hat den geplanten Maßnahmen auch zuzustimmen187. Heute ist es nicht nur ein humanitäres Anliegen, sondern auch ein wirtschaftliches Gebot, dafür zu sorgen, dass behinderte Menschen möglichst selbständig und unabhängig von fremder Hilfe innerhalb der Gesellschaft leben können. Gerade deshalb kommt den oben aufgeführten Leistungen im Sozialrecht ein hoher Stellenwert zu, den der Vorrang der Rehabilitation verdeutlicht. So ist der allgemeine Grundsatz „Rehabilitation vor Rente" gleichzeitig Richtschnur bei der Gesetzesauslegung und Wegweiser für die Alltagspraxis aller Sozialleistungsträger 188. Insbesondere in der Rentenversicherung, die ursprünglich nach dem Prinzip des Ausgleichs der geminderten oder verlorenen Erwerbsfähigkeit durch Rentenleistungen angelegt war, kommt dem Vorrang der Rehabilitation mittlerweile besondere Bedeutung zu 1 8 9 . Demgemäß hat der Rentenversicherungsträger bei jedem Rentenantrag gem. § 116 SBG V I zu prüfen, ob Leistungen zur Rehabilitation voraussichtlich erfolgreich sind und ggf. auf die Zustimmung des Versicherten zur Einleitung des Rehabilitationsverfahrens bei gleichzeitiger Zurückstellung des Rentenantrags hinzuwirken 190 . In einer Zusammenschau mit dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung lautet die Rangfolge: „Prävention vor Rehabilitation, Rehabilitation vor Rente" 191 . Die Grundregel „Rehabilitation vor langdauerndem Krankengeld" findet in der Vorschrift des § 51 SGB V Ausdruck. Danach kann dem Versicherten, dessen Erwerbsfähigkeit gefährdet oder gemindert ist, eine Frist zur Stellung eines Rehabilitationsantrages bei der gesetzlichen Rentenversicherung gesetzt werden. Kommt er dieser Aufforderung nicht nach, entfällt der Krankengeldanspruch nach § 51 Abs. 3 SGB V. Schließlich wird der Vorrang 186

Insbesondere hat der Berechtigte die Obliegenheit, sich untersuchen zu lassen (§ 62 SGB I) und an den Maßnahmen auch teilzunehmen (§§ 63, 64 SGB I). Notfalls können bei ungerechtfertigter Weigerung Leistungen versagt oder entzogen werden (§ 66 SGB I). 187 Auf Aufklärung und Beratung besteht im Sozialrecht ein allgemeiner Rechtsanspruch nach §§ 14, 15 SGB I. 1 88 Vgl. Hennies, in: LdR/SozR, S. 292. Es sei nochmals erwähnt, dass sich der Grundsatz „Reha vor Rente" schon früh im Recht der Rentenversicherung herausgebildet hat. Er hat im Laufe der Zeit in der Rechtsprechung Eingang gefunden (vgl. insbes. BSGE 17, S. 238; E 21, S. 260) und ist für die Rentenversicherung in § 9 Abs. 1 S. 2 SGB V I nochmals ausdrücklich gesetzlich verankert. 189

190 Umgekehrt gilt auch der Antrag auf Reha-Leistungen als Rentenantrag (§116 Abs. 2 SGB VI); durch diese Doppelfunktion von Renten- und Reha-Anträgen ist auch sichergestellt, dass der Versicherte durch seine Bereitschaft zur Reha keinen Rechtsverlust erleidet. 191 Vgl. hierzu die umfangreichen Leistungen der Krankenversicherung zur Verhütung und Früherkennung von Krankheiten im Dritten und Vierten Abschnitt des SGB V (§§ 20 ff., 25 ff. SGB V).

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1. Kap.: Die rechtliche Stellung behinderter Personen

der Prävention und Rehabilitation auch in der gesetzlichen Pflegeversicherung durch die Regelung des § 5 SGB X I besonders herausgestellt 192. Das Rehabilitationsrecht folgt damit dem Leitgedanken, dass die volle und umfassende Ausschöpfung aller Rehabilitationsmöglichkeiten generellen Vorrang erhält vor der dauerhaften Gewährung von nachteilsausgleichenden Sozialleistungen, die letztlich nur eine Reaktion auf eingetretene Schäden darstellen 193.

I I I . Leistungsträger und Zuständigkeiten Der beschriebene einheitliche Leistungsrahmen legt den Schluss nahe, dass dem Recht der Rehabilitation ein in sich geschlossenes Leistungssystem zugrunde liegt. Dies wäre aber nur dann der Fall, wenn sich aus dem Sozialgesetzbuch Rechtsansprüche auf Rehabilitation tatsächlich herleiten oder begründen ließen. Bei der Grundnorm des § 10 SGB I und der Leistungsaufzählung des § 29 SGB I, die für alle Leistungsträger richtungsweisend eine gemeinsame Klammer bilden 194 , handelt es sich jedoch um sog. soziale Rechte. Aus ihnen ergeben sich nach § 2 Abs. 1 S. 2 SGB I unmittelbar keine individuell einklagbaren Ansprüche für behinderte Personen, da solche nur insoweit geltend gemacht oder hergeleitet werden können, als deren Voraussetzungen und Inhalt durch die Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuchs im Einzelnen bestimmt sind. In ähnlicher Weise gilt auch für das Recht der Rehabilitation, dass sich die Leistungsgewährung im Einzelnen nach den für den Rehabilitationsträger geltenden besonderen Rechtsvorschriften 195 richtet. Mit anderen Worten gilt für die einzelnen Leistungen zur Rehabilitation behinderter Menschen das materielle Recht der jeweiligen Zweige des gegliederten Sozialsystems. Seine Ursache hat dies darin, dass das Recht der Rehabilitation mit der Entwicklung des gegliederten Systems der sozialen Sicherung historisch gewachsen ist und in den einzelnen Bereichen des Sozialrechts Regelungen für einzelne Gruppen von Betroffenen und ihre spezifischen Probleme geschaffen wurden. Die Sozialleistungsträger sind folglich im Rahmen ihres an bestimmten Personengruppen und Risiken orientierten Leistungsbereiches für ihre jeweils eigenen Rehabilitationsleistungen zuständig. Insgesamt können sechs verschiedene Gruppen von Rehabilitationsträgern ermittelt werden: Aus dem Bereich der Sozialversicherung sind zunächst die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zu nennen. Rehabilitationsträger sind damit die Landes192 Siehe für den Grundsatz „Reha vor Pflege" § 31 SGB XI. Die Pflegeversicherung erbringt im Unterschied zur RV und KV ausschließlich vorläufige Leistungen zur Rehabilitation (§ 32 SGB XI). 193 Rindt, S. 263. 194 Hennies, in: LdR/SozR, S. 295. 195 So schon der Wortlaut des § 9 Abs. 1 RehaAnglG (ab 1. 7. 01: § 7 SGB IX).

C. Die Grundzüge der Rehabilitation im Sozialrecht

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Versicherungsanstalten, die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, die Bundesknappschaft sowie die landwirtschaftlichen Alterskassen und die Seekasse (vgl. § 23 SGB I, § 125 SGB VI). Sie erbringen nach §§ 15 - 32 SGB V I medizinische, berufsfördernde und ergänzende Rehabilitationsleistungen für ihre Versicherten bei erheblich gefährdeter oder geminderter Erwerbsfähigkeit 196. In der gesetzlichen Krankenversicherung sind Rehabilitationsträger alle Orts-, Betriebs- und Innungskrankenkassen, die landwirtschaftlichen Krankenkassen, die See-Krankenkasse sowie die Bundesknappschaft und die Ersatzkassen (§21 Abs. 2 SGB I, § 4 Abs. 2 SGB V). Ihre Zuständigkeit ist nach §§ 27 - 43 SGB Vauf medizinische und ergänzende Leistungen für die versicherten Mitglieder und Familienversicherte beschränkt 197. Nach dem Recht der Arbeitsförderung ist die Bundesanstalt für Arbeit mit ihren örtlichen Arbeitsämtern und sonstigen Dienststellen als Rehabilitationsträger für berufsfördernde Leistungen zuständig (§ 19 Abs. 2 SGB I, §§ 3, 367 SGB III). Die Leistungspflicht der Bundesanstalt tritt nach § 22 Abs. 2 SGB III jedoch nur subsidiär ein, d. h. berufsfördernde Leistungen werden nur dann erbracht, wenn kein anderer Rehabilitationsträger zuständig ist 1 9 8 . Innerhalb der Sozialversicherung steht den Rehabilitationsträgern der gesetzlichen Unfallversicherung das umfangreichste Leistungsspektrum zur Verfügung. Die gewerblichen und landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften sowie die Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand 1 9 9 sind sowohl für medizinische, berufsfördernde und soziale als auch für ergänzende Leistungen zuständig (§ 22 SGB I, § 26 SGB VII). Die Leistungen werden jedoch nur für versicherte Personen und nur auf Grund eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit erbracht 200 . Im Bereich der Versorgung und sozialen Entschädigung erbringen Versorgungsämter, Versorgungs- und Hauptfürsorgestellen Leistungen bei Behinderungen, die auf Gesundheitsschäden von Kriegs-, Wehr- und Zivildienstopfern sowie auf son196 Die landwirtschaftlichen Alterskassen erbringen nach § 7 Abs. 1 ALG (vom 29. 07. 1994 BGBl. IS. 1890) nur medizinische und ergänzende Leistungen. 197 Siehe zur Versicherungspflicht in der Krankenversicherung §§ 5, 9, 10 SGB VI; zur Mitgliedschaft §§ 186 ff. SGB V. 198 An dieser Stelle ist die Zuständigkeit von Arbeitsämtern und Hauptfürsorgestellen nach dem SchwbG für berufsfördernde Hilfen, die Förderung der Werkstätten für Behinderte und die unentgeltliche Beförderung von Schwerbehinderten im öffentlichen Nahverkehr noch zu erwähnen. Ausführliche tabellarische Aufstellungen der Rehabilitationsträger finden sich im Ratgeber für behinderte Menschen, Bonn 1999, S. 18 ff., sowie bei Köhler, SdL 1996, S. 382. 199 Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand sind die Gemeindeunfallversicherungsträger, die Unfallkassen der Feuerwehr, Eisenbahn etc. sowie die Eigenunfallversicherungen von Bund, Ländern und einigen Städten, vgl. § 22 Abs. 2 SGB I. 200 Nach § 2 SGB V I I sind neben Arbeitnehmern insbesondere auch Kindergartenkinder, Schüler, Studenten und im öffentlichen Interesse Tätige kraft Gesetzes versichert. Leistungsauslösende Versicherungsfälle i. S. d. § 7 Abs. 1 SGB V I I sind Arbeitsunfälle (§ 8 SGB VII) und Berufskrankheiten (§ 9 SGB VII).

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1. Kap.: Die rechtliche Stellung behinderter Personen

stige Schädigungen im Sinne des Entschädigungsrechts von Impfgeschädigten und Opfern von Gewalttaten zurückzuführen sind. Sie sind Rehabilitationsträger für medizinische, berufsfördernde und ergänzende Leistungen; für Kinder und Jugendliche werden auch schulische Hilfen erbracht (§ 24 SGB I, §§ 10 - 24a, 25 - 21 à BVG). Die örtlichen und überörtlichen Träger der Sozialhilfe sind Rehabilitationsträger für alle Leistungsarten und verfügen über einen umfangreichen Katalog von Hilfen zur Rehabilitation (§§ 28 Abs. 1 Nr. 2 Buchst, c, 29 SGB I, § 27 BSHG). Sie gewähren Leistungen gem. § 2 BSHG aber nur subsidiär, wenn sich die behinderte Person nicht selbst helfen kann und sie die erforderliche Hilfe auch nicht von anderer Seite, insbesondere nicht von einem anderen Rehabilitationsträger erhält.

IV. Zuständigkeitsgrenzen Abweichend von den Vorgaben des Sozialgesetzbuches führte die historisch bedingte Normenvielfalt im Bereich der Rehabilitation somit zu einer uneinheitlichen Verteilung der Zuständigkeiten für jeweils unterschiedliche Arten von Rehabilitationsleistungen. Deshalb spielt neben dem allem übergeordneten Finalitätsprinzip, das auf das Rehabilitationsziel abstellt, im zersplitterten Recht der Rehabilitation das Kausalitäts- und Spezialitätsprinzip eine wichtige Rolle. Besonders in der Sozialversicherung wird die Zuständigkeit eines Rehabilitationsträgers - abgesehen von der obligatorischen Zugehörigkeit zum versicherten Personenkreises - auf Grund des Kausalitätsprinzips bestimmt. Danach ist maßgeblich, welcher Umstand für die Behinderung und den hieraus folgenden Leistungsbedarf ursächlich geworden ist 2 0 1 . So ist beispielsweise der Rentenversicherungsträger nur dann zuständig, wenn sich eine Krankheit oder Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit auswirkt; die Zuständigkeit des Unfallversicherungsträgers wird nur dann begründet, wenn die Behinderung auf einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit beruht. Das hinzutretende Spezialitätsprinzip regelt das Verhältnis von mehreren zuständigen Rehabilitationsträgern. Danach hat die besondere und speziellere Zuständigkeit den Vorrang vor der allgemeineren und generellen. So ist ζ. B. bei Auswirkungen einer Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit die Zuständigkeit des Rentenversicherungsträgers spezieller als die allgemeine Zuständigkeit eines Trägers der Krankenversicherung 202. Zudem ist für die Entscheidung über die Zuständigkeit auch die Art und der Zweck der einzelnen Rehabilitationsmaßnahme maßgebend 203 . 201 BSGE 46, S. 286. 202 Bei der Abgrenzung der Zuständigkeiten von RV und KV liegt der Schwerpunkt beim Zweck der Leistung und bei den zur Reha einsetzbaren Mitteln; siehe hierzu: Hennies, in: LdR/SozR, S. 297.

C. Die Grundzüge der Rehabilitation im Sozialrecht

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Im Bereich der Rehabilitation richtet sich also die Frage, welcher Träger Rehabilitationsleistungen zu erbringen hat, nach dem Kausalitäts- und Spezialitätsprinzip. Gleichzeitig erfährt damit das Finalitätsprinzip, das für Art, Umfang und Höhe der Leistungen grundsätzlich maßgebend ist 2 0 4 , eine weitere Relativierung. Denn nicht nur die Leistungsarten sind im gegliederten System auf verschiedene Zuständigkeiten verteilt; vielmehr sind auch Voraussetzungen, Art und Umfang der Leistungen in den für den jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Vorschriften des einzelnen Sachgebiets unterschiedlich geregelt 205 .

V. Koordination, Kooperation und Kompetenzen Das Ziel einer endgültigen Eingliederung des behinderten Menschen wird häufig nicht nur mit einer einzelnen Maßnahme zu erreichen sein, sondern vielfach umfassender Hilfen bedürfen. Angefangen bei der Heilbehandlung über Maßnahmen zur individuellen Arbeits- oder Berufsförderung bis hin zu ergänzenden Leistungen müssen diese Hilfen zu einer lückenlosen Rehabilitationskette zusammengefügt werden. Von daher ist die Rehabilitation des behinderten Menschen ein kontinuierlicher Vorgang, der kaum sinnvoll in Einzelphasen aufgeteilt werden kann. Bestehen jedoch für die im Einzelfall erforderlichen Maßnahmen unterschiedliche Zuständigkeiten der Rehabilitationsträger, kann dies in der Verwaltungspraxis zu Schwierigkeiten führen. Auf dem Weg zu einer möglichst endgültigen und erfolgreichen Eingliederung des behinderten Menschen muss aber unbedingt verhindert werden, dass langwierige und kostspielige Maßnahmen des einen Rehabilitationsträgers nur deshalb ohne Erfolg und Nutzen bleiben, weil bestimmte zusätzlich notwendige Leistungen eines anderen nicht im erforderlichen Umfang, nur mit Verzögerung oder gar nicht gewährt werden 206 . Um dieser aus dem Kausalitätsprinzip folgenden Gefahr entgegenzutreten, führte der Gesetzgeber bereits mit dem RehaAnglG von 1974 mehrere Regelungen ein, welche das Zusammenwirken der Leistungsträger zum Gegenstand hatten 207 . Da das angestrebte einheitliche Rehabilitationsverfahren eigentlich gar keinen Wechsel von Zuständigkeiten verträgt, sollte der in § 5 Abs. 2 RehaAnglG verankerte Grundsatz von der Einheitlichkeit der Trägerschaft zunächst vermeiden helfen, dass der Behinderte von einem zum anderen Träger weitergeschickt wird und dringend notwendige Rehabilitationsmaßnahmen nicht rechtzeitig eingeleitet wer-

203 Vgl. das Beispiel bei Köhler, SdL 1996, S. 381 f. 204 Hennies, in: LdR/SozR, S. 297. 205 Köhler, SdL 1996, S. 383. 206 Hennies, in: LdR/SozR, S. 293. 207 Die nachfolgenden Regelungen sind seit 1. 7. 2001 in modifizierter Form in das SGB IX eingegliedert; siehe hierzu im fünften Kapitel.

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1. Kap.: Die rechtliche Stellung behinderter Personen

den 2 0 8 . Jeder Träger sollte seine Leistungen grundsätzlich so vollständig und umfassend erbringen, dass Leistungen eines anderen Trägers gar nicht erst erforderlich werden. Sofern im Rehabilitationsverfahren aber mehrere verschiedenartige Maßnahmen notwendig sind und deshalb eine Beteiligung mehrerer Stellen unvermeidbar ist, sollten die Rehabilitationsträger gem. § 5 Abs. 1 RehaAnglG im „Interesse einer raschen und dauerhaften Eingliederung" zur engen Zusammenarbeit verpflichtet werden. Zum Zweck einer Abstimmung der Leistungspflichten sollte auch der nach § 5 Abs. 3 RehaAnglG vom zuständigen Träger aufzustellende „Gesamtplan zur Rehabilitation" 209 dienen. In einem solchen Plan wird vorausschauend festgelegt, welche Leistungen im Einzelfall erforderlich erscheinen, wobei sicherzustellen ist, dass die Maßnahmen nahtlos ineinander greifen. Da im gegliederten System Zuständigkeitszweifel und Kompetenzstreitigkeiten trotz der Pflicht zur Kooperation und Koordination nicht ausbleiben, hatte man in § 6 RehaAnglG Vorleistungspflichten geregelt: Nach § 6 Abs. 2 Nr. 1 RehaAnglG sollte für medizinische Maßnahmen der Träger der Rentenversicherung vorleistungspflichtig werden. Dieser kann sich deshalb bei Zuständigkeitszweifeln seiner vorläufigen Leistungspflicht nicht unter Hinweis auf vermeintliche Leistungspflichten der Krankenkasse entziehen. Die vorläufige Leistungspflicht für berufsfördernde Maßnahmen lag nach § 6 Abs. 2 Nr. 2 RehaAnglG bei der Bundesanstalt für Arbeit, die ohnehin von allen anderen Trägern bei geplanten berufsfördernden Maßnahmen stets zu beteiligen war (vgl. § 5 Abs. 4 RehaAnglG). Nach endgültiger Klärung der Zuständigkeit steht dem vorleistenden, aber unzuständigen Leistungsträger nach § 102 SGB X ein privilegierter Anspruch auf Erstattung seiner Aufwendungen zu 2 1 0 . Die umfangreichen Regelungen zur Koordination und Kooperation des RehaAnglG sollten ein schnelles und unbürokratisches Rehabilitationsverfahren gewährleisten und gleichzeitig vermeiden, dass Streitigkeiten zwischen den Rehabilitationsträgern auf dem Rücken des behinderten Menschen ausgetragen werden 211 . Nachteile aus dem gegliederten System, die sich aus überschneidenden Kompetenzen besonders an den Nahtstellen des Rehabilitationsrechts ergeben können, dürfen den Erfolg der Rehabilitation nicht gefährden. Dieser hängt nämlich wesentlich davon ab, dass der behinderte Mensch die notwendigen Sozialleistungen in zeitgemäßer Weise, umfassend und schnell erhält 212 .

208 Vgl. die Gesetzesbegründung zu § 5 Abs. 2 RehaAnglG: BT-Drs. 7/1237. 209 Dieser Gesamtplan hat aber nur interne Bedeutung für die Rehabilitationsträger und ist somit mangels Außenwirkung kein Verwaltungsakt i. S. d. § 31 SGB X. Sein Sinn liegt hauptsächlich darin, koordinierend zu wirken und den Weg der geplanten Rehabilitation zu überdenken, siehe hierzu: Hennies, in: LdR/SozR, S. 296. 210 Der Erstattungsanspruch nach § 102 SGB X ist insofern gegenüber den der §§ 103 ff. SGB X privilegiert, als sich sein Umfang nach den für den vorleistenden Träger geltenden Rechtsvorschriften richtet, d. h. dass sich der vorleistende Träger nicht die Einwendungen aus dem Rechtsverhältnis zwischen Begünstigtem und zuständigem Träger entgegenhalten lassen muss (§ 102 Abs. 2 SGB X). 211 Hennies, in: LdR/SozR, S. 295 f.

C. Die Grundzüge der Rehabilitation im Sozialrecht

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VI. Probleme der Rehabilitation im Sozialrecht Die unterschiedlichen Regelungen zur Rehabilitation behinderter Menschen in den verschiedenen Sachbereichen des Sozialrechts bereiten zahlreiche Probleme in der Rechtsanwendung und offenbaren eine Antinomie im Recht der Rehabilitation. Nach dem Grundgedanken der Rehabilitation, so wie er bereits im Gesetzesplan des SGB I und des RehaAnglG seinen Ausdruck fand, sollen die Maßnahmen zur Rehabilitation möglichst umfassend und schnell einsetzen. Mit der grundsätzlichen Ausrichtung der Leistungen nach dem Finalitätsprinzip soll darüber hinaus gewährleistet sein, dass dem behinderten Menschen diejenigen Hilfen zur Verfügung stehen, die in seiner konkreten Situation erforderlich sind. Für die Rechtsanwendung durch die einzelnen Rehabilitationsträger stellen diese allgemeinen Grundsätze des Rehabilitationsrechts zumeist nur unverbindliche Appelle dar, ohne wirklich zwingenden Charakter zu entfalten. Die für die Praxis maßgeblichen Vorschriften für die jeweiligen Träger aus den besonderen Büchern des Sozialgesetzbuches stehen mit diesen Grundsätzen häufig nicht in Einklang, so dass nach wie vor Kausalität und Spezialität auch Art und Umfang der Leistungsgewährung bestimmen. Die Folge hiervon ist, dass bei gleichartiger Behinderung je nach Zuständigkeit zum Teil unterschiedliche Leistungen gewährt werden, welche sich nach Umfang und Qualität beträchtlich unterscheiden können. So hat beispielsweise die Rehabilitation durch den Unfallversicherungsträger nach § 1 Nr. 2 SGB V I I „mit allen geeigneten Mitteln" zu erfolgen, während Leistungen im Recht der Krankenversicherung wegen des Wirtschaftlichkeitsgebots gemäß § 12 Abs. 1 SGB V das „Maß des Notwendigen" nicht überschreiten dürfen. Gerade in diesen Bereichen führt die teilweise sehr kasuistische Rechtsprechung zur Abgrenzung von Zuständigkeiten dazu, dass es häufig sogar von Zufälligkeiten abhängt, welcher Träger die Rehabilitationsleistungen letztlich zu gewähren hat 2 1 3 . Daneben gestaltet sich in der praktischen Rechtsanwendung die Abgrenzung nach den speziellen Zuständigkeiten für bestimmte Rehabilitationsleistungen zum Teil recht schwierig. Hierauf ist es auch zurückzuführen, dass Rehabilitation in der Praxis oft in mehreren Einzelphasen stattfindet und der für einen bestmöglichen Rehabilitationserfolg notwendige zeitliche Zusammenhang einzelner Maßnahmen nicht immer gewährleistet ist. Die gesetzlichen Instrumente des RehaAnglG, mit welchen ein nahtloser, zügiger und einheitlicher Rehabilitationsvorgang erzielt werden soll, haben sich für die Rechtsanwendung als wenig wirksam erwiesen 214 . Dies zeigt sich beispielsweise auch daran, dass die gesetzliche Pflicht zur Aufstellung von Gesamtplänen nach § 5 Abs. 3 RehaAnglG von den Rehabilitationsträ-

212 Siehe § 12 Abs. 2 Nr. 1 SGB I. 213 Vgl. die eindrucksvollen Beispiele hinsichtlich der Rechtsprechung des BSG zum Wegeunfall in der UV bei Köhler, SdL 1996, S. 383 f. (Fn. 111). 214 Hennies, in: LdR/SozR, S. 300; Köhler, SdL 1996, S. 378.

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1. Kap.: Die rechtliche Stellung behinderter Personen

gern in der Praxis nur selten beachtet wurde 215 . Ebenso ließ sich die in § 5 Abs. 1 RehaAnglG gesetzlich angeordnete enge Zusammenarbeit der Leistungsträger kaum verwirklichen. Mangelnder Informationsaustausch und Ressortegoismus sind immer noch keine Seltenheit im Rehabilitationsalltag216. Die Möglichkeit zur zügigen und umfassenden Rehabilitation des behinderten Menschen - sozusagen „aus einem Guss" - geht damit in der Wirklichkeit des gegliederten Systems allzu oft verloren 217 .

VII. Zusammenfassung Der Gedanke der Rehabilitation hat zwar im sozialen System Eingang gefunden, kann aber vom Sozialrecht in seiner vollen Breite und Typik nicht recht erfasst werden 218 . Nach dem Leitgedanken der Rehabilitation orientieren sich die erforderlichen Hilfen an dem durch die gesundheitliche Beeinträchtigung bedingten Nachteil, den es zu überwinden gilt, und nicht etwa an der Ursache der Behinderung. Dies bringt auch der final ausgerichtete § 10 SGB I deutlich zum Ausdruck, wonach jede behinderte Person unabhängig von der Ursache ihrer Behinderung einen Anspruch auf umfassende Rehabilitation hat. Diese Grundnorm der Rehabilitation beschreibt jedoch nur einen Sollzustand, der letztlich mit der realen Struktur des Sozialrechts schwer zu vereinbaren ist. Besonders der große Bereich des Sozialversicherungsrechts ist nämlich aufgrund seiner historischen Entwicklung am Schutz abgegrenzter Personengruppen gegen den Eintritt bestimmter Lebensrisiken orientiert und daher vorwiegend kausal ausgerichtet. Demgegenüber wurde im Bereich des Schwerbehindertenrechts und der Sozialhilfe der Weg von der Kausalität zur Finalität über die Ausweitung des geschützten Personenkreises beschritten. Das gegliederte System mag zwar die Vorteile der größeren Sachnähe haben und in Teilbereichen auch die Möglichkeit zu individueller Beratung bieten, im Bereich der Rehabilitation zeigen sich jedoch dessen Schwachstellen. Es entwickelten sich nämlich in den verschiedenen Zuständigkeitsbereichen der einzelnen Rehabilitationsträger erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Leistungsgewährung. Der starke Einbezug der Rehabilitation in diese verschiedenen Bereiche steht einer Vereinheitlichung des Rehabilitationsrechts damit entgegen. Das RehaAnglG konnte deshalb letztlich nicht bewirken, die Leistungen der jeweiligen Bereiche aneinander anzugleichen und am Rehabilitationsziel auszurichten. Auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit der Leistungsträger wurde durch dieses Gesetz nicht wesentlich verbessert. Das Recht der Rehabilitation blieb damit nicht nur über das gesamte 215 216 217 218

Köhler, SdL 1996, S. 379. Vgl. hierzu: Hennies, in: LdR/SozR, S. 300. Köhler, SdL 1996, S. 379. So auch Scholler, Beiträge, S. 83.

D. Der Strukturwandel in der Sozialpolitik

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Sozialgesetzbuch verstreut, sondern bereitete auch in seiner Anwendung große Schwierigkeiten.

D. Der Strukturwandel in der Sozialpolitik Trotz vieler Ansatzpunkte zur Kritik am staatlichen Sozialsystem und dem darin verankerten Recht der Rehabilitation darf nicht verkannt werden, dass auf dem Weg zu einer allumfassenden Rehabilitation behinderter Menschen schon viele wichtige Schritte gegangen wurden. Dennoch scheint sich in den letzten Jahren ein struktureller Wandel in der sozialen Behindertenpolitik in Deutschland zu vollziehen.

I. Von der Kausalität zur Finalität im Sozialrecht Ursprünglich war die Sorge für behinderte Menschen fast ausschließlich Angelegenheit der Familie. Mit dem Einsetzen staatlicher Sozial- und Behindertenpolitik im 19. Jahrhundert traten auch die sozialen Belange behinderter Menschen immer weiter aus dem Hintergrund hervor. Nicht zuletzt ein allmählich einsetzender Bewusstseinswandel im Umgang mit behinderten Personen hat bewirkt, dass heute in vielen Bereichen der sozialen Sicherung umfangreiche Regelungen bestehen, welche die rechtliche Stellung behinderter Personen erheblich verbessern konnten. Im Sozialrecht drückt sich diese Entwicklung in einer stetigen Fortentwicklung und Ausweitung der Leistungen für die Betroffenen sowie im Übergang vom kausalen zum finalen System aus. Die enorme Ausdehnung des begünstigten Personenkreises im Sozialrecht im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs der ersten Nachkriegsjahrzehnte kam zweifelsohne behinderten Menschen sehr zugute. Gleichzeitig führten verteilungspolitische Zielsetzungen aber auch zu einer allzu großen, fast willkürlich erscheinenden Großzügigkeit des Gesetzgebers. Gerade hinsichtlich der Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft wurde schon früh beklagt, dass die großzügigen Kriterien berechtigte Anliegen der „wirklich Schwerbehinderten" ernsthaft gefährden 2 1 9 . Der Fortschritt der Behindertenpolitik hat sich seit den 1980er Jahren mit dem Beginn der Wirtschaftskrise in Deutschland verlangsamt. So stößt das Bestreben, jedem unabhängig von der Ursache seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung die bestmöglichen Hilfen zur Überwindung seiner Behinderung zu gewähren, auf die Grenzen der Finanzierbarkeit. Einmal geschaffene Besitzstände verhindern die po219 Vgl. Scholler, Beiträge, S. 73 f. 5 Straßmair

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1. Kap.: Die rechtliche Stellung behinderter Personen

litische Durchsetzung einer Rückbesinnung auf die wirkliche Schutzbedürftigkeit von Personengruppen, so dass in Zeiten wirtschaftlicher Stagnation auch in der Behindertenpolitik neue Wege zur Rehabilitation gefunden werden müssen.

II. Von der Rehabilitation zur Integration Bis in die 1980er Jahre war Politik für behinderte Menschen von der Idee ihrer Rehabilitation dominiert, stand also die Anpassung dieser Personen an ihre Lebensumwelt durch individuelle Förderung im Vordergrund. Die immensen Erfolge der Rehabilitationspolitik im Hinblick auf die Verbesserung der Lebenssituation behinderter Menschen dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Politik auch Nachteile mit sich bringt. Aus Sicht des Sozialstaates kann die individuelle Förderung behinderter Menschen das soziale System mit sehr hohen Kosten belasten. Für den behinderten Menschen ist Rehabilitation oftmals mit einem Leben in Sondereinrichtungen verbunden und kann so zu dessen Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen Leben führen. Mit dem Wachstumsrückgang in der deutschen Wirtschaft und der damit beginnenden „Krise des Sozialstaates" stagnierte auch die Weiterentwicklung des sozialen Leistungsrechts; es begann ein „sozialer Rückschritt", der auch die Situation behinderter Menschen in der Bundesrepublik betraf. So sind es wie einst bei der Idee der Rehabilitation ebenso Kostenargumente, die der Idee der Integration behinderter Menschen maßgeblichen Vorschub leisteten. Ausgangspunkt der Rehabilitation ist eine am gesunden Menschen orientierte Lebensumwelt. An ihre Anforderungen ist der behinderte Mensch mit allen individuell erforderlichen Hilfen anzupassen. Eine Anpassung eines jeden behinderten Menschen an seine Lebensumwelt im Wege der Rehabilitation ist aber nicht immer zu realisieren, weil entweder die Anforderungen, die die Lebensumwelt an den einzelnen behinderten Menschen stellt, zu hoch sind oder schlicht die hierfür erforderlichen Leistungen vom Sozialsystem nicht für jeden finanziert werden können. Deshalb drängt sich schon seit längerem die Frage auf, ob die ständig steigenden Anforderungen an ein selbstbestimmtes Leben in der modernen Industriegesellschaft nicht behindertengerechter ausgerichtet werden können. Ziel der Integration ist es, die Lebenssituation behinderter Menschen trotz zurückgehender Haushaltsmittel zu verbessern und dabei gleichzeitig die mit der Rehabilitation einhergehende Ausgrenzung dieser Menschen zu vermeiden. In einem Beispiel lässt sich der dahinterstehende Gedanke folgendermaßen darstellen: Man kann entweder viele Rollstuhlfahrer durch individuelles Training schulen, Mobilitätsbarrieren wie Treppen zu überwinden, oder man baut Rampen und Aufzüge, die dann von vielen Rollstuhlfahrern benutzt werden können. Dies spart dem Sozialsystem Kosten und kommt gleichzeitig auch anderen „Mobilitätsbehinderten" wie ζ. B. alten Menschen und Müttern mit Kleinkindern zugute.

D. Der Strukturwandel in der Sozialpolitik

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I I I . Der Perspektivenwechsel in der Behindertenpolitik Insofern zeichnet sich in den letzten Jahren ein Perspektivenwechsel in der Behindertenpolitik ab, der maßgeblich vom Gedanken der Integration behinderter Menschen in die Gesellschaft geprägt wird. Wenn die strukturbedingten Hindernisse, die der behinderte Mensch für ein angemessenes Leben in der Gemeinschaft zu überwinden hat, abgebaut werden können, käme dies allen Betroffenen zugute. Nicht nur diejenigen, denen alle erdenklichen Hilfen zur Rehabilitation zur Verfügung stehen, sondern auch andere Personen, die nur wenig Unterstützung durch das Sozialsystem erhalten, könnten hierdurch profitieren. Dem Ziel, behinderten Menschen ein selbstbestimmtes Leben als gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft zu ermöglichen, kann mit der behindertengerechten Gestaltung der Lebensumwelt entgegengekommen werden. Die Integration behinderter Menschen könnte damit im umfassenden Sinne so zu verstehen sein, dass in Ergänzung zur Rehabilitation die Belange von behinderten Menschen bei der Schaffung und Veränderung von Strukturen der Lebensumwelt in einem Maße Berücksichtigung finden müssen, das der Stellung dieser Menschen als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft gerecht wird. Diesen Perspektivenwechsel in der Behindertenpolitik könnte nicht zuletzt auch die verfassungsrechtliche Verankerung einer besonderen Vorschrift zugunsten behinderter Menschen im Grundgesetz bewirken. Die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland spiegelt nämlich in gewisser Weise wider, in welcher Verfassung sich eine Gemeinschaft befindet und erfüllt damit die Funktion einer Integrationsordnung.

5*

2. Kapitel

Die verfassungsrechtliche Stellung behinderter Personen bis zur Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG Obschon das Grundgesetz vor Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG keine Bestimmung kannte, die sich ausdrücklich den Belangen von behinderten Personen widmete, waren diese nicht ohne grundgesetzlichen Schutz. Im Mittelpunkt des verfassungsrechtlichen Schutzes für diese Personen standen und stehen das Sozialstaatsprinzip und die Grundrechte, auf deren Gehalt und Bedeutung mit besonderem Blick auf die Belange behinderter Menschen nunmehr eingegangen werden soll.

A. Das Sozialstaatsprinzip Die lange Tradition der sozialen Bewegung in Deutschland sowie die umfangreiche Sozialgesetzgebung seit der Kaiserlichen Botschaft von 1881 findet heute im Grundgesetz insbesondere im sog. Sozialstaatsprinzip ihren Ausdruck. Im Folgenden soll daher der Blick von der einfachrechtlichen zur „verfassungsrechtlichen" Sozialgesetzgebung gewendet und der Gehalt dieses Verfassungsprinzips gerade in Bezug auf die verfassungsrechtliche Stellung behinderter Menschen in Deutschland untersucht werden.

I. Das soziale Staatsziel im Grundgesetz 1. Verfassungsrechtliche Grundlagen Das Sozialstaatsprinzip findet seine normative Grundlage in Art. 20 Abs. 1 GG sowie im nach Art. 28 Abs. 1 GG an die Landesgesetzgeber gerichteten Homogenisierungsgebot1. Die Aussage des Grundgesetzes in Art. 20 Abs. 1 GG, die Bundesrepublik Deutschland sei als Staat ein „sozialer", ist eingebettet in die Reihe der Staatsfundamentalnormen 2 und daher nach Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlich. ι Bieback, EuGRZ 1985, S. 657. 2 Zacher, HBdStR, Bd. I, S. 1046.

Α. Das Sozialstaatsprinzip

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Das im Grundgesetz mit dem Eigenschaftswort „sozial" festgeschriebene Sozialstaatsprinzip unterscheidet sich aber wesentlich von anderen Strukturprinzipien der Verfassung. Während die übrigen Prinzipien des Art. 20 Abs. 1 GG - die Republik, die Demokratie sowie die Rechts- und Bundesstaatlichkeit - mehr oder weniger deutlich in zahlreichen Vorschriften des Grundgesetzes ausgeführt und konkretisiert werden 3, finden sich zum Sozialstaatsprinzip im Text der Verfassung nur spärliche Aussagen. Nicht zuletzt deshalb wird auch immer wieder betont, dass die Auslegung und inhaltliche Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips der Verfassungsrechtslehre die größten, ja fast unüberwindliche Schwierigkeiten bereitet 4. Dessen ungeachtet unterstellt das Grundgesetz in Art. 28 Abs. 1 GG, dass es „Grundsätze des ...sozialen Rechtsstaates" gibt, denen die Landesverfassungen entsprechen müssen5. Auch der Umstand, dass das Sozialstaatsprinzip nach Art. 79 Abs. 3 GG in seinem Kernbereich verfassungsfest ist 6 , wirft die Frage nach dem Inhalt zumindest dieses Kernbereiches der Sozialstaatlichkeit auf.

2. Historische Entstehung Der Versuch, den Inhalt dieser unbestimmten Staatszielbestimmung zu ermitteln, muss mit einem Blick auf die Entstehung des Sozialstaatsprinzips und seiner Ausgestaltung als Verfassungsauftrag beginnen. Die historischen Vorgänger der heutigen Regelung im Grundgesetz folgten aus der Entstehung sozialer Rechte in der Zeit der Industrialisierung, deren einfachgesetzlicher Niederschlag in der deutschen Rechtsordnung im 1. Kapitel bereits ausführlich dargestellt wurde. In der deutschen Verfassungsgeschichte stellte sich die Frage nach einer verfassungsrechtlichen Verankerung sozialer Rechte erstmals während der Grundrechtsdiskussion in der Frankfurter Paulskirche nach der Revolution von 1848 / 49 7 . Im weiteren Sinne ging es dabei um die verfassungsrechtliche Verbürgung positiver Forderungen der Bürger gegen den Staat, die - insbesondere wenn sie als individuelle Ansprüche innerhalb des Grundrechtsteils einer Verfassung ausformuliert sind - auch soziale Grundrechte genannt werden8. Das klassische Beispiel für ein sozia3

Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 20, VIII, Rn. 5. Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 20, VIII, Rn. 1,3, 18; weniger prägnant: Katz, Staatsrecht, Rn. 218. s Zacher, HBdStR, Bd. I, S. 1046. 4

6

Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 355. Ausführlich dazu: Scholler, Die sozialen Grundrechte in der Paulskirche, in: Der Staat 1974, S. 51 ff.; ders., Soziale Frage und soziale Rechte, in: FS Zacher, S. 965 ff.; ders., Die soziale Frage und die Forderung sozialer Grundrechte, in: Bahners/Roellecke (Hrsg.), 1848 Die Erfahrung der Freiheit, S. 71 ff. 7

8

Zum Begriff des sozialen Grundrechtes siehe: Lange, Soziale Grundrechte in der deutschen Verfassungsentwicklung, in: Böckenförde/Jekewitz/Ramm (Hrsg.), Soziale Grundrechte, S. 49 f.; Wipfelder, ZRP 1986, S. 140.

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2. Kap.: Stellung behinderter Personen vor Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

les Grundrecht ist ein „Recht auf Arbeit", das erstmals in der französischen Jakobinerverfassung von 1793 erwähnt wird 9 und um dessen Aufnahme in die Paulskirchenverfassung heftig gekämpft wurde 10 . Nach dem Scheitern der Paulskirchenverfassung wurde allerdings erst im Jahre 1919 ein Grundrechtskatalog in die deutsche Verfassung eingefügt, in dem auch soziale Rechte eine Rolle spielten. So wurde unter dem Eindruck der umfangreichen Sozialgesetzgebung Bismarcks gleich eine ganze Reihe sozialer Grundrechte mit der Weimarer Reichsverfassung erstmals verfassungsrechtlich positiviert, unter denen sich neben einer Vielzahl sozialer Schutz- und Förderpflichten des Staates auch ein soziales Grundrecht auf Arbeit befand 11. Die sozialen Einzelrechtsgewährleistungen in der Weimarer Reichsverfassung sind auch das erste Beispiel dafür, dass nicht aus jeder Verbürgung innerhalb eines Grundrechtskataloges gleichzeitig ein subjektives Recht des Einzelnen hergeleitet werden kann. Im Unterschied zu den klassischen Abwehrgrundrechten wurde den sozialen Grundrechten der WRV, nicht zuletzt wegen ihrer verschwommenen Ausformulierung und erheblichen Variationsbreite, von den Staatsrechtslehrern der damaligen Zeit auch nur geringe rechtliche Bedeutung zuerkannt 12. Vielmehr betrachtete man diese Rechte lediglich als Programmsätze oder Gesetzgebungsaufträge und kritisierte deren grundrechtliche Ausgestaltung als leere und uneinlösbare Versprechen 13. Obschon einige dieser sozialen Grundrechte der WRV tatsächlich Wirkung zeigten und im deutschen Sozialrecht umgesetzt und einfachgesetzlich konkretisiert wurden, blieb das verbreitete Unbehagen in Bezug auf soziale Einzelgewährleistungen im Verfassungsrecht bestehen14. Eine ablehnende Haltung gegenüber der verfassungsrechtlichen Verbürgung sozialer Grundrechte zeichnete sich auch nach Ende des Zweiten Weltkrieges während der Arbeiten an einem Grundrechtskatalog für die neue Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ab 15 . So beschränkte sich bereits der Grundrechtsabschnitt im sog. Herrenchiemsee-Entwurf von 1948 im Wesentlichen auf die Gewährleistung der klassischen (liberalen) Grundrechte 16. Auch im Parlamentarischen Rat fand sich keine Mehrheit für eine umfangreiche Aufnahme sozialer Grundrechte in das spätere Grundgesetz. Nach dem Weltkrieg mit seinen verhee9

Vgl. Art. 21 der sog. Jakobinerverfassung, abgedruckt bei: Böckenförde, in: Böckenforde/Jekewitz/Ramm (Hrsg.), Soziale Grundrechte, S. 7; hierzu auch Sarlet, Soziale Grundrechte, S. 297. 10 Ausführlich: Scholler, in: Der Staat 1974, S. 66 ff. h Vgl. Art. 163 Abs. 2 Satz 1 WRV:, Jedem Deutschen soll die Möglichkeit gegeben werden, durch wirtschaftliche Arbeit seinen Unterhalt zu erwerben." Ein Überblick über die sozialen Grundrechte in der WRV findet sich bei Lange, S. 50 f. 12 Lange, S. 51; Sarlet, S. 301 jeweils m. w. N. 13 Murswiek, HBdStR, Bd. V, S. 262. 14 Zu Beispielen zur Umsetzung sozialer Grundrechte der WRV siehe: Lange, S. 53 f. 15 Sarlet, S. 301. 16 Stern, Staatsrecht, Bd. III /1, § 60, II, S. 146.

Α. Das Sozialstaatsprinzip

71

renden Folgen für Deutschland, der Teilung des Staatsgebietes und dem Niedergang der deutschen Wirtschaft entschlossen sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes wegen der Unabsehbarkeit der zukünftigen Entwicklungen, keine endgültige Gestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung im Verfassungstext zu verankern 17. Denn schließlich ging man auch von einem provisorischen Charakter des Grundgesetzes aus, da man im Parlamentarischen Rat von der Möglichkeit einer baldigen Wiedervereinigung überzeugt war 1 8 . Danach war die Diskussion um eine verfassungsrechtliche Positivierung sozialer Rechte letztlich nicht beendet, sondern nur auf den Zeitpunkt der Wiedervereinigung verschoben worden. Schließlich verzichtete der Parlamentarische Rat daher auf die Aufnahme sozialer Einzelrechtsgewährleistungen in das Grundgesetz und entschied sich, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen, wie ζ. B. dem Anspruch jeder Mutter aus Art. 6 Abs. 4 GG, lediglich für die Verankerung einer sozialen Generalklausel in Form des sozialen Staatszieles.

II. Die soziale Staatsaufgabe Der Inhalt der Sozialstaatlichkeit wird sich aber selbst in seinem Kernbereich nicht in einer statischen Definition beschreiben lassen19; vielmehr ist der Sozialstaat von einer Reihe von Elementen gekennzeichnet, die sich in mehr oder weniger starkem Maße in ihm vorfinden lassen, von denen sich Einzelne im Laufe der Zeit aber auch ändern oder gar ganz wegfallen können. Der „Sozialstaat" des Grundgesetzes ist damit als Typus 20 zu bezeichnen; ihm liegt ein dynamisches System zugrunde. Einen ersten Zugang zum Verständnis der Sozialstaatsdeklaration eröffnet schon der Begriff „Sozialstaat". Versteht man „sozial" als „gesellschaftlich" und „gesellschaftsbezogen", kann man hieraus eine Verantwortung des Staates für die Befindlichkeit der Gesellschaft ableiten 21 . Mit dieser Verantwortung geht dann aber auch eine Verpflichtung des Staates einher, auf sozialem Gebiet tätig zu werden; es ergibt sich eine Pflicht des Staates zur Sozialgestaltung. Heute kann diese Pflicht als allgemein akzeptierte Basis der Sozialstaatlichkeit vorausgesetzt werden 22 . In Abgrenzung zum „klassischen" Liberalismus darf sich der Staat deshalb nicht auf die Sicherung der Gesellschaft und der bestehenden Güterverteilung zurückzie17 Murswiek, HBdStR, Bd. V, S. 262 ff.; Sarlet, S. 303. is Der Charakter des Grundgesetzes als Übergangslösung bestätigt sich auch in der Begriffswahl „Grundgesetz" statt „Verfassung" und wurde in Art. 146 GG a.F. verankert. 19 Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 355. 20 Zur logischen Unterscheidung von Definition und Typus siehe Schnapp, JuS 1998, S. 875. 21 Zacher, HBdStR, Bd. I, S. 1058. 22 Bieback, EuGRZ 1989, S. 658.

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2. Kap.: Stellung behinderter Personen vor Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

hen, sondern hat diese aktiv mitzugestalten23. Gleichzeitig muss aber im demokratischen Rechtsstaat auch das Gegenüber von Staat und Gesellschaft aufrechterhalten werden. Das Rechtsstaatsprinzip basiert nämlich auf der liberalen Vorstellung, dass die Gesellschaft eine Selbststeuerungskraft besitzt 24 und dadurch ebenfalls in der Lage ist, eine sozial gerechte Ordnung zu erzeugen 25. Der Staat hat deshalb kein Monopol zur sozialen Gestaltung, sondern greift vielmehr nur korrigierend und ergänzend dort ein, wo die Gesellschaft das „Soziale" nur unzureichend selbst bewirkt 26 . Da sich die moderne Industriegesellschaft aber - auch als Folge staatlicher Gestaltung27 - in ständigem Wandel befindet, ist Sozialstaatlichkeit ebenfalls von ständigem Wandel geprägt. Letztlich sind damit die sozialen Aufgaben des Staates ebenso unbestimmt wie unbestimmbar, denn sie sind von veränderlichen Gegebenheiten und Einflüssen abhängig28.

I I I . Die Idee der sozialen Gerechtigkeit Der Inhalt der sozialen Staatsaufgabe ist untrennbar mit der historischen Entwicklung der Gesellschaft verbunden. Der Verfassungsgeber hat nämlich mit der Einführung des Sozialstaatsprinzips eine viel früher begonnene sozialstaatliche Entwicklung aufgegriffen und verfassungsrechtlich abgesichert 29. Als Ausdruck der richtigen Befindlichkeit der Gesellschaft muss die Sozialstaatlichkeit als dynamisches Prinzip für die sozialen Probleme der modernen industriellen Gesellschaft offen sein 30 . Die liberalen Freiheitsrechte schützen die Entfaltungsmöglichkeiten des Individuums, berücksichtigen aber nicht die Voraussetzungen und Folgen des Freiheitsgebrauchs. Die soziale Frage des 19. Jahrhunderts machte deutlich, dass Grundrechte für alle diejenigen leer laufen, die nicht über die ökonomischen und sozialen Voraussetzungen verfügen, um von ihren Freiheiten Gebrauch zu machen. So ist ζ. B. der Arbeiter, der nichts als seine Arbeitskraft 23

Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 20, VIII, Rn. 7

24

Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 20, VIII, Rn. 30 25 Dass diese Annahme überwiegend von nur theoretischer Natur ist, bringt Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 20, VIII, Rn. 54 treffend auf den Punkt: „Wer von den Selbstregulierungskräften der Gesellschaft um jeden Preis die besten und richtigsten Lösungen der menschlichen Probleme erwartet, der postuliert einen uneingeschränkt vernunftgesteuerten Menschen und hat damit die Summe der geschichtlichen Erfahrungen gegen sich." 2 6 Zacher, HBdStR, Bd. I, S. 1061. 27

Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 210 f. « Badura, DÖV 1989, S. 494. 29 Herzog, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, Art. 20, VIII, Rn. 22. 30 Zacher, HBdStR, Bd. I, S. 1060. 2

Α. Das Sozialstaatsprinzip

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besitzt, zwar rechtlich formal frei, sich vertraglich auf dem Arbeitsmarkt zu binden. Muss er aber seine Arbeitskraft verkaufen, um seine physische Existenz zu erhalten, begibt er sich in soziale Abhängigkeit und ist in seiner gesamten Existenz gefährdet, sobald seine Arbeitskraft auf Grund von Krankheit, Unfall, Alter etc. unverwertbar wird. Der Unternehmer hingegen ist zur Entfaltung seiner wirtschaftlichen Freiheit an einer möglichst intensiven Nutzung der Arbeitskraft seiner Beschäftigten interessiert. Die Entfaltung der Freiheit des einen bedingt daher die Unfreiheit des anderen und führt ohne soziale Kompensation letztlich zur sozialen Unfreiheit des Schwächeren. Der Sozialstaat ist damit aus seiner historischen Entwicklung als Kompensation zur Entfaltung grundrechtlicher Freiheiten allgemein anerkannt 31. Garantiert der Rechtsstaat die Entfaltungsmöglichkeiten durch grundrechtliche Freiheiten, muss er aufgrund seiner Verantwortung gegenüber der Befindlichkeit der Gesellschaft gleichzeitig die Folgen dieses Freiheitsgebrauchs regulieren und kompensieren; jedenfalls wenn er bestrebt ist, den grundrechtlichen Freiheitsgebrauch möglichst vielen Mitgliedern der Gemeinschaft zu ermöglichen. Ein Leitmotiv der sozialen Gestaltungsaufgabe des Staates ist daher die Sicherung der Entfaltungsmöglichkeit auch und gerade für den sozial Schwächeren. Vor diesem Hintergrund hat im Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes die Idee der sozialen Gerechtigkeit Eingang gefunden 32. Danach versteht man den Sozialstaat als einen Staat, der den Schwächeren hilft und die Teilhabe an den wirtschaftlichen Gütern nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit zu bewirken sucht33. Seine wichtigsten Ziele sind Hilfe gegen Not und Armut, eine menschenwürdige Existenz für jedermann, mehr Gleichheit durch den Abbau von Wohlstandsdifferenzen, die Kontrolle von Abhängigkeitsverhältnissen sowie mehr Sicherheit gegenüber den „Wechselfällen des Lebens" und die Hebung und Ausbreitung des Wohlstandes in der Gesellschaft 34.

IV. Elemente moderner Sozialstaatlichkeit Das Bestreben, die soziale Staatsaufgabe zu verwirklichen, brachte im historischen Verlauf eine Reihe von Elementen hervor, die heute den Typus des Sozialstaates prägen. Um einem Verständnis von moderner Sozialstaatlichkeit und deren Festschreibung im Grundgesetz näherkommen zu können, ist es notwendig, sich einen Überblick über diese wesentlichen Elemente zu verschaffen. 31 Bieback, EuGRZ 1989, S. 658. 32 Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 20, VIII, Rn. 10. 33 Soziale Gerechtigkeit besteht letztlich aus drei (Teil-)Gerechtigkeiten: der Bedarfsgerechtigkeit, der Leistungsgerechtigkeit und der Besitzstandsgerechtigkeit, vgl. Zacher, ZfSH/SGB 1991, S. 629; ders., HBdStR, Bd. I, S. 1058. 34 Zacher, HBdStR, Bd. I, S. 1060.

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2. Kap.: Stellung behinderter Personen vor Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

1. Sicherung einer menschenwürdigen Existenz Die Hilfe gegen Not und Armut und damit die Verantwortung der staatlichen Gemeinschaft für das Existenznotwendige entspricht einer sehr frühen Entwicklungsstufe des Sozialstaates35. In das Grundgesetz hat dieses Element der Sozialstaatlichkeit mit der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für die „öffentliche Fürsorge" in Art. 74 Nr. 7 GG Einzug gefunden. In der Tradition der Armenfürsorge war der Einzelne Objekt einer staatlichen Verpflichtung und nicht Subjekt eines Anspruchs auf staatlichen Schutz. Im öffentlichen Interesse sollte nämlich verhindert werden, dass Not und Verwahrlosung die „niederen Bevölkerungsschichten" zur Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung treibe 36 . Dieses Verständnis von sozialer Fürsorge wandelte sich erst unter der Geltung des Grundgesetzes. Das Prinzip des demokratischen und sozialen Rechtsstaats erzwang die Anerkennung des Bürgers als Träger eigener Rechte, dessen Menschenwürde es verbiete, den Hilfebedürftigen als „Gegenstand staatlichen Handelns" zu betrachten 37. Damit konnte auf Grund einer verfassungskonformen Auslegung des Fürsorgerechts erstmals ein einklagbarer Individualanspruch auf Hilfe begründet werden. Erst Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts wurde vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip die bekannte Formel abgeleitet, dass der Staat zur Schaffung und Sicherung der „Mindestvoraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins" verpflichtet sei 38 .

2. Soziale Gleichheit Die Idee der sozialen Gerechtigkeit trägt eine starke Gleichheitskomponente in sich 39 . Die geschichtliche Entwicklung von der feudalistischen Monarchie hin zur egalitären Demokratie und die Abschaffung der ständischen Vorrechte bildeten wichtige Abschnitte für dieses Gleichheitsstreben40. Die rechtsstaatliche Konsequenz, die Gleichheit aller vor dem Gesetz, kann die soziale Ungleichheit nicht übersehen41. Der auf Rechtsgleichheit gerichtete allge35 Zur geschichtlichen Entwicklung der Fürsorge siehe: Sachße/Tennstedt, Armenfürsorge. 3 6 Neumann, NVwZ 1995, S. 427.

Geschichte der

37 BVerwGE 1, S. 159 [161]; die hier aufgegriffene sog. „Objektformer prägt bis heute maßgeblich das Verständnis des Art. 1 Abs. 1 GG. 3 « BVerfGE 40, S. 121 [131]; E 45, S. 187 [228]. 39 Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 20, VIII, Rn. 36. 40 Zacher, HBdStR, Bd. I, S. 1065.

41 Zacher, HBdStR, Bd. I, S. 1068.

Α. Das Sozialstaatsprinzip

75

meine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG nimmt zwar Ungleichheiten zwischen den Menschen als etwas Gegebenes hin, verbietet aber dem Gesetzgeber, diese Ungleichheiten rechtlich zu vertiefen. Als Ausdruck einer rechtlichen Gleichheit der Chancen gebietet er, jedem für seine Entwicklung den absolut gleichen Rahmen wie allen anderen zu setzen42. Kann aufgrund wirtschaftlicher und sozialer Unterschiede nur ein Teil der Bevölkerung von seinen rechtlichen Chancen und Möglichkeiten Gebrauch machen, läuft der Gleichheitssatz für den anderen Teil leer. Inwieweit der allgemeine Gleichheitssatz aber den Staat rechtlich bindet, eine faktische Gleichheit der Chancen herzustellen und somit „Chancengerechtigkeit" zu erzielen, kann aus der Verfassung heraus nicht eindeutig beantwortet werden. Deutlicher wird ein solcher Auftrag des Grundgesetzes allenfalls dort, wo es besondere Gleichheitssätze enthält, wie die Gleichstellung von Mann und Frau (Art. 3 Abs. 2 GG) 4 3 , die Pflicht des Gesetzgebers zur Gleichstellung von unehelichen Kindern (Art. 6 Abs. 5 GG), aber auch den Anspruch auf gleichen Zugang zum öffentlichen Dienst (Art. 33 Abs. 2, 3 GG). Betrachtet man die Verwirklichung von sozialer Gleichheit in seiner Entwicklung und bezieht man dabei die Aufnahme der besonderen Gleichheits sätze und des Sozialstaatsprinzips in das Grundgesetz in diese Betrachtung mit ein, wird erkennbar, dass auch eine Komponente faktischer Gleichheit dem allgemeinen Gleichheitspostulat innewohnt44. In diesem Sinne ermächtigt das Sozialstaatsprinzip in seiner Konkretisierung durch den Gleichheitssatz den Gesetzgeber in den Grenzen der Rechtsstaatlichkeit zum Abbau von Wohlstandsdifferenzen und zur Kontrolle von sozialen Abhängigkeitsverhältnissen, um so soziale Gleichheit möglichst weitgehend herzustellen 45.

3. Soziale Sicherheit Von besonderer Bedeutung für die Sozialstaatlichkeit erweist sich die soziale Absicherung vor sog. „Wechselfällen des Lebens". Ziel ist es, soziale Ungleichheiten abzumildern, die entstehen, wenn die Verwirklichung von Lebensrisiken wie 42 Herzog, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, Art. 20, VIII, Rn. 36. 43 Auch schon vor der Einführung des neuen Gleichberechtigungssatzes in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG wurde aus der alten Fassung des Art. 3 Abs. 2 GG ein Auftrag an den Gesetzgeber zur Gleichstellung von Mann und Frau in der sozialen Wirklichkeit abgeleitet; vgl. BVerfGE 57, S. 335 [345]; Friauf, Gleichberechtigung der Frau als Verfassungsauftrag, Bonn 1981. 44 Scholler erkennt schon früh, dass mit den vom allgemeinen Gleichheitssatz gewährleisteten Basisrechten auch der Schutz von Basis-Chancen i.S. einer „égalité en fait" korrespondieren muss, vgl. Scholler, Die Interpretation des Gleichheitssatzes, S. 15. 45 Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 20, VIII, Rn. 36; s.a. BVerfGE 9, S. 124 [129].

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2. Kap.: Stellung behinderter Personen vor Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

Krankheit, Alter, Tod, Arbeitslosigkeit etc. zum Verlust von Einkommen führt. Dieses Ziel kann damit erreicht werden, dass dem Einzelnen die Möglichkeit gegeben wird, Vorsorge für die Wechselfälle des Lebens zu treffen 46. Als sich mit der Kaiserlichen Botschaft von 1881 die Sozialversicherung zu entwickeln begann47, wurde die Möglichkeit, soziale Vorsorge zu treffen, erstmals einer breiteren Bevölkerungsschicht zugänglich. Die Sozialversicherung eröffnete aber zunächst nur dem Erwerbstätigen die Gelegenheit, sich gegen typische Lebensrisiken wie Invalidität, Alter, Unfall oder Krankheit abzusichern und einen damit verbundenen Einkommensverlust abzumildern 48. Das Grundprinzip der Sozialversicherung ist die Verteilung des Individualrisikos auf eine Mehrzahl von Personen. Hierzu entwickelte sich ein nach Risiken gegliedertes System von mitgliedschaftlich organisierten Gemeinschaften, die als Solidargemeinschaften gemeinsam Vorsorge treffen. Das einzelne Mitglied soll bei Verwirklichung eines versicherten Risikos davor bewahrt werden, dessen Folgen alleine tragen zu müssen. Die Träger dieser Vorsorge verwalten sich bis heute als Körperschaften selbst49. Ein System von sozialer Vorsorge als Bestandteil der Sozialstaatlichkeit ist dem Grundgesetz in Gestalt der Sozialversicherung von Beginn an selbstverständlich, was sich in den Vorschriften der Art. 74 Nr. 12, Art. 87 Abs. 2 und Art. 120 Abs. 1 S. 4 GG widerspiegelt 50. Ein weiterer bedeutender Bestandteil der sozialen Sicherung ist das Recht der sozialen Entschädigung. Es entspricht einer sehr frühen Entwicklungsstufe im sozialen Gerechtigkeitsdenken, dass Schäden des Einzelnen, die er durch das Gemeinwesen oder infolge von Umständen im Verantwortungsbereich des Gemeinwesens erleidet, durch das Gemeinwesen abzumildern sind. Der Gedanke der Schadenskompensation fand einen normativen Niederschlag bereits in §§ 74, 75 der Einleitung zum preußischen Allgemeinen Landrecht von 179451. Besonders aber die Folgen der Weltkriege, die die Menschen in Deutschland in äußerst ungleichem Maße betrafen, unterstrichen die Notwendigkeit einer sozialen Entschädigung von Kriegsgeschädigten, um die Lasten möglichst gleichmäßig und weitgehend auf die Gesamtheit der Bürger zu verteilen 52. Dem staatlichen Entschädigungsrecht, das mit der Kriegsfolgengesetzgebung stark an Bedeutung gewonnen 46 Zacher, HBdStR, Bd. I, S. 1071. 47 Siehe zur geschichtlichen Entwicklung der Sozialversicherung: Peters, Die Geschichte der sozialen Versicherung, S. 49 ff. 48 Später kam die Vorsorge für weitere Risiken hinzu, insbes. für den Verlust des Arbeitsplatzes durch die Einführung der Arbeitslosenversicherung im Jahre 1927, aber auch in jüngerer Vergangenheit die Vorsorge für das Risiko von Pflegebedürftigkeit, die erst im Jahre 1994 mit dem Elften Buch in das Sozialgesetzbuch eingeführt wurde. 49 Die heutige Organisation und Selbstverwaltung der Sozialversicherung in Körperschaften des öffentlichen Rechts regeln die §§ 29 ff. SGB IV. 50 Vgl. Zacher, HBdStR, Bd. I, S. 1073 51 Abgedruckt bei Zacher, HBdStR, Bd. I, S 1072, Fn. 227. 52 Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 20, VIII, Rn. 11.

Α. Das Sozialstaatsprinzip

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hat, kommt auch für den Sozialstaat in der heutigen „Friedensgesellschaft" 53 besonderes Gewicht zu; aus ihm resultiert ein Kompensationsanspruch des Einzelnen bei Aufopferung für das Gemeinwesen54. Im Grundgesetz findet dieser Entschädigungsgedanke nicht zuletzt eine besondere Ausprägung in der sog. Junktimklausel des Art. 14 Abs. 3 GG 5 5 .

4. Daseins- und Wachstumsvorsorge Die Schaffung von staatlichen Vorsorge- und Entschädigungssystemen kann dort einen Ausgleich schaffen, wo das „Soziale" nur schwer oder unzureichend von der Gesellschaft selbst bewirkt werden kann. Dies darf aber nicht dazu führen, der Gesellschaft die Verantwortung für das „Soziale" vollständig abzunehmen. Damit die Gesellschaft ihrer Verantwortung gerecht werden kann, muss der Staat eine Grundlage schaffen, auf der es der Gesellschaft möglich ist, eine sozial gerechte Ordnung selbst zu erzeugen. Der Sozialstaat hat deshalb die Erreichbarkeit lebensnotwendiger Güter und Dienste sicherzustellen 56. Unerlässlich für die Erfüllung dieser Aufgabe ist zunächst eine freiheitliche Rechtsordnung, die dem Einzelnen die Möglichkeit gibt, existenznotwendige Güter zu erwerben, zu nutzen und darüber zu verfügen sowie den gesellschaftlichen Kräften ermöglicht, den Einzelnen mit diesen Gütern zu versorgen. Das Grundrecht auf Eigentum (Art. 14 Abs. 1 GG) und Elemente der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) sowie der Freiheit des Zusammenschlusses (Art. 9 Abs. 1, 3 GG) spielen dabei eine wesentliche Rolle. Eine weitere wichtige Komponente stellt die Thematik dar, die mit dem von Forsthoff geprägten Begriff der Daseinsvorsorge verbunden wird 5 7 . Die damit ursprünglich umschriebene Versorgung der Bevölkerung mit elementaren Gütern durch Verkehrs- und Versorgungsunternehmen der öffentlichen Hand erstreckt sich mittlerweile auf die Schaffung von Infrastrukturen im weitesten Sinne58. Der Sozialstaat macht es sich auf diese Weise zur Aufgabe, die Gesellschaft und insbesondere die Wirtschaft aktiv fortzuentwickeln und leistet durch die Verbesserung ihrer 53 Der Begriff findet sich bei Zacher, HBdStR, Bd. 1, S. 1072 und bezeichnet heute wohl einen Staat - wie die USA oder die Bundesrepublik Deutschland - der seit einem längeren Zeitraum keinen Krieg mehr auf eigenem Staatsgebiet geführt hat. 54 Teils wird diese Kompensation durch Einbeziehung des Betroffenen in den Schutz der Sozialversicherung (vgl. ζ. B. § 2 Abs. 1 Nr. 13a) - c) SGB V I I für die sog. „unechte" Unfallversicherung), teils nach dem Vorbild der Kriegsopferversorgung bewirkt (vgl. ζ. B. §§ 56 ff. InfektionsschutzG für die Entschädigung bei Impfschäden). 55 Merten, Sozialrecht. Sozialpolitik, in: HBdVerfR, S. 982 , Rn. 73. 56 Zacher, HBdStR Bd. I, S. 1064. 57 Forsthoff, Die Verwaltung als Leistungsträger, Stuttgart 1938. 58 Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 20, VIII, Rn. 12.

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2. Kap.: Stellung behinderter Personen vor Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

Existenzchancen Vorsorge für ihr Wachstum59. Die hiermit angestrebte Mehrung des gesellschaftlichen Wohlstands bewirkt dann die Teilhabe möglichst vieler an den lebensnotwendigen Gütern 60. Die Vermittlung des Wohlstandes an immer breitere Kreise durch eine effiziente Wirtschaft liegt im besonderen Interesse der Sozialstaatlichkeit.

5. Arbeitsrecht und Ausbildungsförderung Schließlich ist ein weiteres, nicht minder bedeutendes Gebiet sozialstaatlicher Tätigkeit zu nennen, das im Grundgesetz ebenfalls Erwähnung in Kompetenznormen findet. Mit der Gesetzgebungszuständigkeit nach Art. 74 Nr. 12 GG für das „Arbeitsrecht einschließlich der Betriebsverfassung, des Arbeitsschutzes und der Arbeitsvermittlung" sowie für Ausbildungsbeihilfen nach Art. 74 Nr. 13 GG hat der Bund die Möglichkeit, sozial korrigierend und fördernd in die Arbeitswelt einzugreifen. Da solche Eingriffe aber auch maßgeblichen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung haben können, steht dem Staat mit diesen Kompetenzen gleichzeitig ein zusätzliches Mittel zur Verfügung, das wirtschaftliche Wachstum und die Ausbreitung des Wohlstandes zu steuern. Heute ist der gesamte Produktionsprozess in Deutschland, soweit er nicht allein durch tarifvertragliche Regelungen bestimmt ist, von sozialstaatlicher Gesetzgebung geprägt 61.

V. Die Bedeutung des Sozialstaatsprinzips für die Belange behinderter Menschen Nachdem zum besseren Verständnis des Sozialstaatsprinzips des Grundgesetzes versucht wurde, seinen Charakter zumindest in groben Zügen zu skizzieren, stellt sich die Frage nach der Bedeutung dieses Prinzips für die Belange von behinderten Menschen. Konkret geht es um die Frage, ob und in welchem Umfang Rechte von behinderten Menschen durch das Sozialstaatsprinzip verfassungsrechtlichen Schutz erfahren.

59 Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 20, VIII, Rn. 14. 60 Zachen HBdStR, Bd. I, S. 1078. 61 Ipsen, Staatsorganisationsrecht, Rn. 972.

Α. Das Sozialstaatsprinzip

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1. Die verfassungsrechtliche Absicherung gesetzgeberischer Maßnahmen zugunsten behinderter Menschen Im Gefolge der sozialen Bewegung in Deutschland steht eine Vielzahl von gesetzgeberischen Maßnahmen, die sich zu einem wesentlichen Teil mit den Rechten behinderter Menschen befassen. Im Folgenden wird der Frage nachzugehen sein, in welchem Verhältnis sozialpolitische Maßnahmen, die sich im einfachen Recht zur Norm verfestigt haben, zum verfassungsrechtlichen Sozialstaatsprinzip stehen. Insbesondere geht es um das Problem, ob Gesetze, die sich den Rechten behinderter Menschen widmen, durch das Sozialstaatsprinzip eine verfassungsrechtliche Absicherung erfahren.

a) Sozialgestaltung als gesetzgeberische Verpflichtung Der soziale Gestaltungsauftrag aus dem Grundgesetz ist in erster Linie an den demokratisch legitimierten Gesetzgeber gerichtet, der das Sozialstaatsprinzip im einfachen Recht konkretisiert. Dies folgt schon aus der Sozialstaatsdeklaration selbst, die als Verfassungsprinzip und Teil der verfassungsmäßigen Ordnung zuvorderst die gesetzgebende Gewalt bindet 62 . Gesetzgeberisches Handeln ist auch insofern notwendig, als die Aufgabe des Sozialstaates, den grundrechtlichen Freiheitsgebrauch zu regulieren und zu kompensieren, oft auch mit Eingriffen in Rechte Dritter verbunden ist. Stellt sich soziales Handeln des Staates aber als Eingriff in Freiheitsgrundrechte dar, ist dies in vielen Fällen überhaupt nur unter dem Vorbehalt eines Gesetzes verfassungsrechtlich gerechtfertigt 63. Neben rechtsstaatlichen Erwägungen spielt auch der Umstand eine wesentliche Rolle, dass soziale Staatstätigkeit mangels konkreter Vorgaben aus der Verfassung von der Entscheidung zwischen mehreren sozialen Handlungskonzepten abhängt. Solche Entscheidungen sind politischer Natur und bedürfen im demokratischen Staat der Legitimation durch das Volk bzw. der parlamentarischen Volksvertretung. Die politische Entscheidungsfindung im Parlament mündet dann regelmäßig im Erlass von Gesetzen. Wenn es um die Verpflichtung des Staates zur sozialen Einflussnahme auf die Gesellschaft geht, ist daher in erster Linie die gesetzgebende Gewalt zur Wahrnehmung sozialstaatlicher Aufgaben legitimiert und verpflichtet 64.

62 Vgl. Art. 20 Abs. 3 GG: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung ( . . . ) gebunden." 63 Jarras/Pieroth, GG, Art. 20, Rn. 84; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 213 ff. 64

Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 213.

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2. Kap.: Stellung behinderter Personen vor Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

b) Die Wechselbeziehung von einfachem Recht und verfassungsrechtlichem Sozialstaatsprinzip Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet zwar den Staat abstrakt zum sozialen Handeln, die konkrete Ausgestaltung dieser vagen Vorgabe wird aber weitestgehend dem politischen Entscheidungsprozeß des demokratisch legitimierten Gesetzgebers überlassen65. Allerdings muss die gesetzgeberische Erfüllung des sozialen Handlungsauftrages inhaltlich anhand des verfassungsrechtlichen Rahmens, den das Sozialstaatsprinzip vorgibt, mess- und kontrollierbar bleiben. Eine inhaltliche Bestimmung dieses verfassungsrechtlichen Rahmens ist aber ohne Einbezug der sozialen Entwicklung in Deutschland nur schwer vorstellbar. Notwendigerweise muss dazu auf die aus der sozialen Entwicklung hervorgegangenen wesentlichen Elemente moderner Sozialstaatlichkeit zurückgegriffen werden. Diese sind selbst wiederum zum größten Teil auf einfachgesetzliche Maßnahmen zurückzuführen, die aus der politischen sozialen Bewegung heraus ergriffen wurden. Die einfachgesetzlichen Maßnahmen früher Sozialpolitik lieferten damit letztlich die inhaltliche Grundlage für das, was mit der Verankerung des Sozialstaatsprinzips im Grundgesetz als geschichtliches Faktum aufgegriffen und verfassungsrechtlich abgesichert werden sollte 66 . Jedoch ist das Sozialstaatsprinzip hinsichtlich Inhalt und Auslegung nicht an jene Situation gebunden, die bei Inkrafttreten des Grundgesetzes vorhanden war 67 . Damit wird die Bestimmung eines verfassungsrechtlichen Rahmens, an dem die staatliche Sozialgestaltung zu messen ist, vom aktuellen Verständnis von Sozialpolitik und letztlich von den daraus resultierenden einfachgesetzlichen Maßnahmen maßgeblich beeinflusst.

c) Die Auslegung der Sozialstaatsdeklaration Die Wechselbeziehung von verfassungsrechtlichem Sozialstaatsprinzip auf der einen Seite und Sozialpolitik und einfachgesetzlichen Maßnahmen auf der anderen Seite könnte zu dem Schluss führen, das Sozialstaatsprinzip im Grundgesetz sei nur ein bloßer Formelkompromiss ohne normativen Inhalt 68 . Und in der Tat scheint diese Wechselbeziehung die Gefahr eines Zirkelschlusses in sich zu tragen, wenn es um die inhaltliche Auslegung der Sozialstaatsdeklaration geht. Wenn aber nur in einem Punkt eine breite Übereinstimmung in Bezug auf die Sozialstaatsdeklaration besteht, dann ist es die normative Verbindlichkeit, die dieses Prinzip für alle Staatsgewalten entfaltet 69. Eine Auslegung des normativen 65 66 67 68 69

Vgl. BverfGE 44, S. 70 [89]; E 65, S. 182 [193]. Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 20, VIII, Rn. 22. Herzog, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, Art. 20, VIII, Rn. 15. Herzog, in: Maunz /Dürig /Herzog /Scholz, Grundgesetz, Art. 20, VIII, Rn. 20. Herzog, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, Art 20, VIII, Rn. 6.

Α. Das Sozialstaatsprinzip

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Gehalts des Sozialstaatsprinzips muss deshalb auch immer die beschriebene Wechselbeziehung im Auge behalten und die Frage zu beantworten suchen, inwieweit das aktuelle Verständnis von Sozialpolitik bewirkt, dass gesetzliche Maßnahmen auf sozialem Bereich wesentlicher Bestandteil dieses Prinzips werden. Dann konkretisiert sich der verfassungsrechtliche Auftrag zur Sozialgestaltung auf die Durchführung dieser Maßnahmen. Wegen der generalklauselartigen Offenheit des Sozialstaatsbegriffs im Grundgesetz und seiner Konkretisierungsbedürftigkeit scheint es auf den ersten Blick nahe zu liegen, die vorhandenen Schutzlücken durch eine extensive Auslegung zu schließen. Konsequenz einer extensiven Auslegung wäre, dass gesetzgeberischen Sozialmaßnahmen durch das Sozialstaatsprinzip eine sehr weitgehende verfassungsrechtliche Absicherung zukäme. Ein Vorteil liegt scheinbar auf der Hand: Das Anliegen, die soziale Befindlichkeit in der Gesellschaft durch sozialpolitische Maßnahmen zu verbessern, wird gefördert, wenn die soziale Fortentwicklung auch verfassungsrechtlich verfestigt werden kann und damit ein stetig wachsender sozialer Mindeststatus gesichert ist. Betrachtet man aber das Sozialstaatsprinzip im Kontext der Verfassung, wird man nur schlussfolgern können, dass der verfassungsrechtliche Rahmen dessen, was der Sozialstaat zwingend vorschreibt, sehr viel enger ist, als der Rahmen dessen, was politisch wünschenswert, ja sogar notwendig erscheint. Diese Erkenntnis ist besonders aus dem dynamischen Charakter des grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzips selbst zu erklären, hängt aber auch mit verfassungsdogmatischen Erwägungen zusammen. Denn der Sozialstaat ist im Spannungsverhältnis zum liberalen Rechtsstaat v.a. als dessen Korrektiv und Ergänzung zu betrachten. Die beiden Prinzipien zielen aber in verschiedene Richtungen70. Während der liberale Rechtsstaat die Unterlassung von Eingriffen in die gesellschaftliche Ordnung anordnet, gebietet der Sozialstaat dem Gesetzgeber soziales Handeln. Dieses Gebot ist somit gerade darauf gerichtet, mit sozialen Maßnahmen in die Gesellschaft einzugreifen. Das grundgesetzliche Axiom von der Einheit des Verfassungsinhalts schreibt aber einen Ausgleich zwischen den scheinbar widerstreitenden Prinzipien vor, ohne dass dabei einem Verfassungsprinzip der eindeutige Vorrang einzuräumen wäre 71 . Rechts- und Sozialstaat stehen daher in einer ständigen Wechselbeziehung von gegenseitiger Ergänzung und Begrenzung in einer sich laufend verändernden Gesellschaft. Aber eben diese Wechselbeziehung verbietet gleichzeitig die verfassungsrechtliche Verfestigung der einzelnen politischen Maßnahmen des Gesetzgebers, da solche Maßnahmen regelmäßig in rechtsstaatlich garantierte Freiheiten des Einzelnen eingreifen und andernfalls das Gleichgewicht von Sozial- und Rechtsstaatsprinzip zu kippen drohte.

70 Forsthoff, VVDStRL 12 (1954), S. 8 ff. betont insofern die theoretische Unvereinbarkeit beider Verfassungsprinzipien. 71 Herzog, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, Art 20, VIII, Rn. 34. 6 Straßmair

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2. Kap.: Stellung behinderter Personen vor Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

Soziale Intervention des Staates muss Schwerpunkte setzen, damit die sozialstaatlich gebotene Kompensation von sozialen Unterschieden verwirklicht, zugleich aber die rechtsstaatlich geforderte Individualität in der Gesellschaft gewahrt werden kann. Soziale Handlungskonzepte des Staates sind sowohl von der Beurteilung der Korrekturbedürftigkeit der sozialen Befindlichkeit der Gesellschaft als auch von der Existenz faktischer Handlungsalternativen des Staates, v.a. im Hinblick auf die Umverteilung beschränkter Ressourcen72, abhängig. Den eingeschränkten staatlichen Handlungsalternativen steht aber eine uneingeschränkte Anzahl sozialer Kompensationsbedürfnisse gegenüber 73. Die Entscheidung, welche aktuellen sozialen Probleme einer Kompensation dringend bedürfen und welche (noch) toleriert werden müssen, ist sowohl von politischen Anschauungen abhängig als auch in der Zeit wandelbar. Dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber muss ein möglichst weiter Entscheidungsspielraum hinsichtlich sozialer Intervention belassen werden. Andernfalls drohte der Handlungsspielraum des Staates zur Lösung anderweitiger, auch neuer sozialer Problemstellungen immer enger zu werden, weil gesetzliche Maßnahmen, wenn sie durch das Sozialstaatsprinzip verfassungsrechtlich abgesichert wären, nicht mehr relativiert oder zurückgenommen werden könnten. Von daher muss der „freiheitliche Sozialstaat"74 des Grundgesetzes für die Zukunft, insbesondere für neue soziale Probleme stets offen sein, darf aber andererseits nicht daran gehindert sein, auch alte soziale Festschreibungen zu relativieren 75, um nicht am Ende das rechtsstaatlich geforderte Gegenüber von Staat und Gesellschaft in einem totalitären „sozialistischen" Staat aufgeben zu müssen76. Dem entspricht eine allgemein restriktive Auslegung dessen, was das Sozialstaatsprinzip im Grundgesetz dem Staat an sozialem Handeln zwingend vorschreibt 77. 72

Im Hinblick darauf, dass staatliche Sozialintervention eine starke Umverteilungskomponente in sich trägt, muss sich diese besonders an der Leistungsfähigkeit der Gesellschaft orientieren. Die faktische Handlungsmöglichkeit des Staates ist vor allem bei kostenintensiven Maßnahmen im Sozialbereich beschränkt; vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/ Scholz, Grundgesetz, Art. 20, VIII, Rn. 23. 73 Da das Sozialstaatsprinzip nicht auf Herstellung absoluter Gleichheit zielt {Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 20, VIII, Rn. 36), sondern ein relatives Mehr an Gleichheit und Gerechtigkeit anstrebt, folgt hieraus zugleich die Unbeschränktheit der Kompensationsmöglichkeiten; denn „jede Intervention macht, indem sie eine BesserSchlechter-Relation ausräumt, den Blick frei auf andere, potentiell neue Besser-SchlechterRelationen, die ihrerseits nach Kompensation verlangen"; Zacher, HBdStR, Bd. I, S. 1069. 74 Der Begriff beschreibt das komplexe, dialektische Verhältnis zwischen Sozial- und Rechtsstaatsprinzip, vgl. Zacher, HBdStR, Bd. I, S. 1061; vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig/ Herzog /Scholz, Art. 20, VIII, Rn. 34. 7 5 Zacher, HBdStR, Bd. I, S. 1060. 76 Von daher sind sozialstaatliche Konzepte unzulässig, die zu einem zentral gesteuerten Versorgungsstaat führen, in dem selbstverantwortliche Freiheit erstickt; Jarras/Pieroth, GG, Art. 20, Rn. 79. 77 Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 20, VIII, Rn. 24; Badura, DÖV 1989, S. 493.

Α. Das Sozialstaatsprinzip

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Konsequenz hieraus ist aber auch, dass der „politische Sozialstaat", der sich an aktuellen sozialen Problemstellungen orientiert, sehr viel weiter gefasst ist als der verfassungsrechtliche. Dem grundgesetzlichen Schutz von sozialen Errungenschaften sind deshalb viel engere Grenzen gesteckt, als (sozial-) politisch erwünscht ist.

d) Folgerung für gesetzgeberische Maßnahmen zugunsten behinderter Menschen Das Sozialstaatsprinzip, das einerseits der Konkretisierung durch gesetzgeberische Maßnahmen bedarf, entfaltet andererseits nur geringe rechtliche Kraft, wenn es um die verfassungsrechtliche Absicherung dieser gesetzlichen Sozialmaßnahmen geht. Für den Schutz der Belange von behinderten Menschen bedeutet dies zwar nicht, dass sie durch das Sozialstaatsprinzip keinerlei verfassungsrechtliche Absicherung erfahren; Maßnahmen des Gesetzgebers, die der Wahrung dieser Belange dienen, zählen als Ausdruck einer besonderen Verantwortung der Gesellschaft gegenüber Menschen mit Behinderungen vielmehr zum Kern moderner Sozialstaatlichkeit78. Andererseits sind solche Maßnahmen aber nicht vom Sozialstaatsprinzip in dem Sinne zwingend vorgeschrieben, dass ein staatliches Unterlassen gegen ein Verfassungsgebot verstieße 79. Die Sozialstaatsdeklaration, die angesichts verfassungsrechtlicher Bedenken gegen eine allzu weite Ausdehnung des Sozialstaates restriktiv auszulegen ist 8 0 , dient letztlich vorwiegend dazu, den weiten Spielraum des Gesetzgebers zur Sozialgestaltung zu unterstreichen. Konkret bedeutet dies, dass der Gesetzgeber weitgehend frei von verfassungsrechtlichen Vorgaben über seine Aktivität auf sozialem Gebiet entscheiden kann. Dies betrifft nicht nur die Legitimation des Gesetzgebers, Leistungen in dem einen sozialen Bereich zugunsten eines anderen zu reduzieren, sondern umfasst sogar die Kürzung von Förderungen im allgemeinen öffentlichen Interesse der Einsparung von Finanzmitteln81. Eine Schutzwirkung entfaltet das Sozialstaatsprinzip erst, wenn dieser weite Gestaltungsspielraum evident überschritten ist. Das Sozialstaatsprinzip, das als Gebot den Staat positiv zur sozialen Gesetzgebung verpflichtet, enthält damit lediglich das Verbot einer eindeutig unsozialen Politik 82 . Dabei ist zu berücksichtigen, dass Sozialstaatlichkeit besonders auf die soziale Befindlichkeit der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit abzielt und daher auch als Streben nach dem größtmöglichen Glück 78 Vgl. Herdegen, VSSR 4/1992, S. 247. 79 Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 20, VIII, Rn. 24. 80

Eine restriktive Auslegung des Sozialstaatsprinzips wird sowohl vom Bundesverfassungsgericht (vgl. E 27, S. 253 [283]; E 38, S. 154 [170]; E 51, S. 43 [58]), als auch vom Bundessozialgericht vertreten (vgl. BSGE 6, S. 213 [219]; E 19, S. 88 [92]). si Vgl. BVerfGE 76, S. 220 [239]. 82 Vgl. Herzog, in: Maunz /Dürig /Herzog /Scholz, Art. 20, VIII, Rn. 26. 6*

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2. Kap.: Stellung behinderter Personen vor Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

der größtmöglichen Zahl verstanden werden kann 83 . Der Staat handelt unter dieser Prämisse dann nicht sozialstaatswidrig, wenn die Interessen von größeren Gesellschaftsgruppen bei der staatlichen Sozialgestaltung eine stärkere Gewichtung erfahren als die Interessen zahlenmäßig kleinerer Gesellschaftsgruppen. Hinzu kommt, dass die inhaltliche Ausgestaltung der Sozialstaatlichkeit ohnehin dem demokratischen Prozess überlassen ist und somit auch von bestehenden Mehrheitsverhältnissen abhängt; der Grad der Mehrheitsfähigkeit eines sozialen Interesses steigt und fällt aber nicht mit dem Grad seiner sozialen Dringlichkeit 84 . Das Sozialstaatsprinzip alleine bietet keine Gewähr dafür, dass weniger dringlichen Interessen vieler Menschen der Vorzug vor „objektiv" dringlicheren Interessen von wenigen gegeben wird. Erst wenn ein so hoher Grad an Dinglichkeit eines sozialen Interesses erreicht wird, dass das ohnehin schon bestehende Ungleichgewicht zwischen sozialer Dringlichkeit und demokratischer Durchsetzungskraft gleichsam unerträglich wird, sind die Grenzen erreicht, die das Sozialstaatsprinzip der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers setzt. Aber selbst wenn das Sozialstaatsprinzip in solchen besonderen, eng begrenzten Ausnahmefällen die Wahrung eines dringlichen sozialen Interesses zwingend fordert, verbleibt dem hierdurch verpflichteten Gesetzgeber dennoch ein Ermessensspielraum hinsichtlich der Auswahl der konkreten gesetzlichen Regelungen zur Wahrung dieses Interesses. Zusammenfassend wird man deshalb feststellen müssen, dass sich aus dem Sozialstaatsprinzip nicht generell ein verfassungsrechtlicher Bestandsschutz für konkrete gesetzgeberische Maßnahmen ergibt, sondern dass allenfalls in besonderen, eng begrenzten Ausnahmefällen das dabei im Mittelpunkt stehende soziale Interesse gewahrt bleiben muss. Gesetzgeberische Maßnahmen zugunsten behinderter Menschen sind durch das Sozialstaatsprinzip deshalb im Regelfall nicht in ihrer konkreten gesetzlichen Ausgestaltung verfassungsrechtlich abgesichert; im Ausnahmefall können aber gewisse Regelungsbereiche als Einrichtung zur Wahrung eines sozialen Interesses in ihrem grundsätzlichen Bestand geschützt sein, so dass zumindest eine ersatzlose Beseitigung unzulässig wäre.

2. Sozialstaatsprinzip und einklagbare Rechtsansprüche Von besonderer Bedeutung für die Belange von behinderten Menschen ist die Frage, ob das Sozialstaatsprinzip eine Grundlage für die Ableitung konkreter einklagbarer Rechtsansprüche des Einzelnen darstellen kann.

83 Auf die hier angesprochene Interpretation von Eudämonie vor dem Hintergrund einer utilitaristischen Geisteshaltung wird im 3. Kapitel unter dem Stichwort der „Bio-Ethik" sowie im 4. Kapitel im Rahmen der objektiv rechtlichen Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG noch einzugehen sein. 84 Zacher, HBdStR, Bd. I, S. 1097.

Α. Das Sozialstaatsprinzip

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Die besondere Verantwortung der Gesellschaft gegenüber Menschen mit Behinderungen begründet für den Sozialstaat eine Verpflichtung, für diese Menschen Fürsorge zu tragen und für ihre Eingliederung in die Gesellschaft zu sorgen 85. Im Hinblick darauf, dass das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes kein unverbindlicher Programmsatz, sondern justiziables Recht ist 8 6 , stellt sich die Frage, ob mit dieser Verpflichtung auch ein Recht des Einzelnen korrespondiert. Sofern aus dem Sozialstaatsprinzip ein unmittelbares subjektives Recht auf Schaffung sozialer Leistungen abgeleitet werden kann, kann der Einzelne auch die Wahrung seiner persönlichen sozialen Belange einfordern, d. h. Leistungsansprüche gegen den Staat notfalls gerichtlich geltend machen. Der Dynamik und Offenheit, die für das Sozialstaatsprinzip kennzeichnend sind, liefe es aber zuwider, wenn jeder Bürger direkte einklagbare Einzelansprüche alleine aus der Sozialstaatsdeklaration geltend machen könnte. Für den Sozialstaat steht die soziale Befindlichkeit der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit im Mittelpunkt; an ihr hat sich die Sozialpolitik des Staates zu orientieren. Schon unter diesem Gesichtspunkt hat das Sozialstaatsprinzip keinen hinreichend fassbaren Gehalt einer Rechtszuweisung an den Einzelnen87. Die Zuerkennung von Individualansprüchen durch das Sozialstaatsprinzip birgt weiter die Gefahr in sich, dass der Staat die Interessen der Bevölkerung in ihrer Gesamtheit nicht mehr ausreichend berücksichtigen kann, weil sich Sozialgestaltung nur noch in der Befriedigung von Individualansprüchen erschöpft. Angesichts einer potentiell unbeschränkten Zahl von sozialen Leistungsbegehren kann eine stetig ansteigende Zahl von gerichtlich festgestellten Leistungsansprüchen die Grenze der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Staates bald übersteigen 88. Damit droht aber der Gestaltungsspielraum des Staates umgekehrt proportional zu den festgestellten Individualansprüchen immer kleiner zu werden. In diesem Zusammenhang muss nochmals betont werden, dass der genannte Gestaltungsspielraum zur Sozialgestaltung dem politischen Prozess beim demokratisch legitimierten Gesetzgeber vorbehalten ist. Einklagbare Individualansprüche, die alleine auf dem Sozialstaatsprinzip gründen, bedingen letztlich eine Verlagerung der Entscheidungskompetenz des Parlaments auf die Gerichte. Dies wäre nicht nur mit der Kompetenzordnung der parlamentarischen Demokratie unvereinbar, sondern auch im Hinblick auf das rechtsstaatliche Prinzip der Gewaltenteilung bedenklich89. 85 Vgl. Herdegen, VSSR 1992, S. 250. 86 BVerfGE 1, S. 97 [105]; E 22, S. 180 [204]. 87 Badura, DÖV 1989, S. 495. 88 Der Staat kann zwar die rechtlichen Voraussetzungen von sozialen Ansprüchen garantieren, hat jedoch nur beschränkten Einfluss auf die wirtschaftlichen Voraussetzungen, von denen die Gewährung dieser Leistungen abhängt. Diese sind maßgeblich von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Gesellschaft abhängig, für dessen Zuwachs der Staat vorzusorgen hat, den er aber letztlich nicht garantieren kann; vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 20, VIII, Rn. 28.

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2. Kap.: Stellung behinderter Personen vor Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

Nach ganz überwiegender Auffassung in Rechtsprechung90 und Literatur 91 kann daher das Sozialstaatsprinzip alleine keine Grundlage für die Ableitung konkreter, einklagbarer Rechtsansprüche darstellen.

VI. Ergebnis Die Sozialstaatsdeklaration, die als Verfassungsprinzip einen Maßstab für alles staatliche Handeln darstellt, bindet in erster Linie die gesetzgebende Gewalt. Sie ruft den Gesetzgeber umfassend dazu auf, die Gesellschaft durch soziale Intervention aktiv mitzugestalten. Während der soziale Handlungsauftrag aus Art. 20 Abs. 1 GG eindeutig das Ziel vorgibt, eine gerechte Sozialordnung in der Gesellschaft anzustreben, stehen dem Gesetzgeber hinsichtlich der Mittel, mit denen die Erreichung dieses Zieles zu verfolgen ist, alle Wege offen. Dieser Ermessensspielraum des Gesetzgebers bei der Sozialgestaltung und der unbestimmte soziale Handlungsauftrag bewirken aber zugleich, dass das Sozialstaatsprinzip nur in sehr begrenztem Umfang einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle zugänglich ist. Die Sozialstaatsdeklaration vermag deshalb keinen oder nur einen äußerst begrenzten Bestandsschutz für einen „sozialen Mindeststandard" zu gewährleisten; auch kann sie alleine keine Grundlage für individuelle Rechtsansprüche des Einzelnen gegen den Staat darstellen. Wenn im Ausnahmefall ein solcher Mindeststandard und individuelle Ansprüche aus dem Sozialstaatsprinzip abgeleitet werden sollen, ist dies meist nur dort möglich, wo das Sozialstaatsprinzip mit anderen Verfassungswerten wie den Grundrechten in Verbindung tritt. Hierauf wird im Folgenden noch gesondert einzugehen sein.

B. Die Grundrechte Neben dem Sozialstaatsprinzip muss gerade auch den Grundrechten besondere Beachtung zukommen, wenn es um die Frage nach der verfassungsrechtlichen Stellung behinderter Menschen geht. Ebenso wie bei nichtbehinderten Personen bestimmen die Grundrechte wesentlich die Stellung dieser Personen im Staat. Für den behinderten Menschen, der in seiner besonderen Situation in erhöhtem Maße auf staatlichen Schutz und Fürsorge angewiesen ist, kommt der Frage nach seinen

89 Murswiek, HBdStR, Bd. V, S. 282; Bieback, EuGRZ 1985, S. 664. 90 BVerfGE 39, S. 302 [315]; E 82, S. 60 [80]; BSGE 6, S. 213 [219]; E 20, S. 41 [45]; BVerwGE 18, S. 332 [355]; E 27, S. 360 [363]. 91 Herzog, in: Maunz /Dürig /Herzog /Scholz, Art. 20, V i l i , Rn. 28; Jarass/Pieroth, Art. 20, Rn. 73; Badura, DÖV 1989, S. 495; Bieback, EuGRZ 1985, S. 664.

GG,

Β. Die Grundrechte

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Rechten und vor allem seinen Ansprüchen aus der Verfassung gegenüber dem Staat große Bedeutung zu.

I. Die subjektiv- und objektivrechtliche Dimension der Grundrechte Zunächst empfiehlt sich eine Unterscheidung zwischen einer subjektivrechtlichen Seite, aus der der Einzelne unmittelbar gerichtlich einklagbare Rechte für sich in Anspruch nehmen kann, und einer objektivrechtlichen Seite der Grundrechte.

1. Grundrechte als subjektive Rechte - insbesondere ihre klassische Funktion als Abwehrrechte gegen den Staat Mit dem Grundrechtskatalog verleiht das Grundgesetz dem Einzelnen eine ganze Reihe subjektiver Rechtspositionen. Kennzeichnend für diese subjektiv-rechtlichen Grundrechtspositionen ist, dass der Bürger vom Staat ein Tun oder Unterlassen verlangen kann 92 . Damit erhält er im weiteren Sinne einen Anspruch gegen den Staat, der sich auch unmittelbar (verfassungs-)gerichtlich durchsetzen lässt93. Das einzelne Grundrecht selbst enthält aber nicht nur eine einzelne rechtliche Position, sondern muss vielmehr als ein ganzes Bündel von Rechtspositionen verstanden werden 94. Aufgrund dieser Rechtspositionen lässt sich zunächst das Verhältnis des Einzelnen zum Staat definieren. So beschreiben die Grundrechte die Position des Individuums hinsichtlich seiner Beziehung zum Staat und seiner Stellung im Staat. Dieser Zustand wird seit der Lehre von Jellinek als Status bezeichnet und lässt sich je nach der Qualität der Beziehung weiter untergliedern 95. Der Status, dem in der 92 Im Zivilrecht entspricht dies der Legaldefinition des Anspruchs in § 194 Abs. 1 BGB, mit dem Unterschied, dass der „Anspruchsgegner" eines subjektiven Rechtes keine natürliche Person, sondern stets der Staat mit seinen Organen ist. Im Einzelnen ist der Begriff des subjektiven Grundrechts allerdings umstritten, hierzu: Stern, Staatsrecht, Bd. I I I /1, § 65, III, S. 554 ff. 93 Also insbesondere im Wege der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 90 ff. BVerfGG. 94 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 224. 95

Vgl. hierzu Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 86 ff.; auf die Jellineksche Statuslehre und ihre Anwendung und Weiterentwicklung in der Grundrechtsdogmatik der letzten hundert Jahre kann an dieser Stelle nicht vertiefend eingegangen werden; vgl. hierzu die ausführliche Darstellung und Kritik bei Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 229 ff.; Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte, S. 288 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 60 ff.; zu Versuchen einer Weiterentwicklung der Statuslehre siehe ζ. B. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 280 f.; Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 ff., 52, 81.

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2. Kap.: Stellung behinderter Personen vor Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

klassischen Grundrechtsinterpretation die größte Beachtung zukommt, ist derjenige, aus welchem dem Bürger eine staatsfreie, das Imperium verneinende Sphäre zusteht96. Als Rechte eines sog. „negativen Status"97 können die Grundrechte als Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat qualifiziert werden; diese Abwehrfunktion bildet nach allgemeiner Meinung auch den funktionalen Schwerpunkt der Grundrechte 9 8 . Als subjektive Grundrechtspositionen sind Abwehrrechte in erster Linie auf ein staatliches Unterlassen gerichtet. Sie schützen grundrechtlich verbürgte Individualrechtsgüter, insbesondere also bestimmte Freiheiten, aber auch Gleichheitsinteressen des Einzelnen gegen staatliche Eingriffe, Einschränkungen, Beschränkungen oder Verletzungen 99. Nach ihrer Dogmatik setzen sie insofern den Bestand eines grundrechtlich geschützten Substrats voraus und schirmen dieses gegen das Eindringen der öffentlichen Gewalt ab. Wie bereits aus der herkömmlichen Statuslehre hervorgeht, erschöpft sich das Verhältnis zwischen Staat und Bürger jedoch nicht in dieser abwehrenden, also auf staatliches Unterlassen gerichteten Position. Ein Grundrecht ist vielmehr eine vielschichtige Gesamtposition des Einzelnen. So gibt es auch subjektive Grundrechtspositionen des Bürgers, die im weitesten Sinne auf positives staatliches Handeln gerichtet sind. Man kann diese Rechte, die auf ein positives Tun des Staates gerichtet sind, auch als Rechtspositionen aus einem „positiven Status" bezeichnen100. Diesen Rechten wird noch unter dem Stichwort der Leistungs- und Teilhaberechte nachzugehen sein.

2. Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte Neben ihren subjektivrechtlichen Funktionen erfüllen die Grundrechte auch Aufgaben, die einer objektivrechtlichen Dimension entstammen. Zunächst wird diese objektivrechtliche Seite als das perspektivische Gegenstück zu den subjektiven Rechten verstanden 101. Sie beschreibt das Weniger an Handlungsspielraum 96

Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 87; hierzu: Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HBdStR, Bd. V, S. 143 ff. (145). 97 „status negativus" oder „status libertatis". 98 So auch das Bundesverfassungsgericht im sog. Lüth-Urteil aus dem Jahre 1958: „Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des Einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat."; BVerfGE 7, S. 198 [207 f.]. 99

Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 58. Hier soll der Terminologie Alexys gefolgt werden, der die Jellineksche Statuslehre aufgreifend im Wesentlichen zwischen „status negativus im weiteren Sinne" und dem „status positivus (im engeren Sinne)" unterscheidet; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 241 f. 101 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 81; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 290 ff. 100

Β. Die Grundrechte

89

des Staates, das den subjektiven Rechten gegenübersteht. So begrenzt sie im Sinne einer „negativen Kompetenz" 102 den Handlungs- und Entscheidungsspielraum des Staates. Die objektivrechtliche Dimension der Grundrechte hat überdies aber noch eine weitere besonders gewichtige Bedeutung, die unabhängig von jeglichen subjektiven Rechten des Bürgers besteht. Aus ihr leitet sich nämlich eine Art Ordnungssystem ab, das den Staat in der Regel zwar nicht konkret zu einem bestimmten Tun verpflichtet, das aber einen Kompetenzrahmen für Politik und Staatshandeln vorgibt. Der objektivrechtlichen Grundrechtsdimension entstammt so die vielzitierte Theorie von einer Wertordnung im Grundgesetz 103. Diese leitet sich gewissermaßen aus den ethisch-philosophischen Gemeinschaftswerten ab, die sich aus der Stellung, der Bedeutung und der abgestuften Schutzintensität der grundrechtlich verbürgten Individualrechtsgüter ablesen lassen. Der Grundrechtskatalog enthält nämlich nicht nur allgemeine Gewährleistungen von Würde, Freiheit und Gleichheit, sondern darüber hinaus auch explizite Einzelgewährleistungen von besonders bedeutsamen, weil aus der historischen Erfahrung heraus gefährdeten Rechten. Die Eingriffsmöglichkeit des Staates in diese Rechtspositionen ist in unterschiedlicher Weise von mehr oder weniger engen Voraussetzungen abhängig, woraus Rückschlüsse auf die Bedeutung und den Stellenwert des jeweiligen Grundrechts gezogen werden können. So zeigt sich auch in den Grundrechten der Verfassung, auf welchen Gemeinschaftswerten der Staat basiert und in welcher Verfassung sich die staatliche Gemeinschaft befindet oder befinden soll. Aus den grundlegenden Gemeinschaftswerten im Grundrechtskatalog geht damit ein System hervor, das als Wert-, Güter- und Kultursystem bezeichnet wird 1 0 4 .

3. Objektiv-rechtliche Aufgaben und Funktionen der Grundrechte Vor dem Hintergrund dieser grundrechtlichen Wertordnung werden auch bestimmte Aufgaben und Funktionen von Grundrechten sichtbar, die in erster Linie dem Bestand dieser Ordnung selbst dienen und mit denen unmittelbar keine subjektiven Rechte des einzelnen Bürgers korrespondieren.

102 Pieroth/Schlink, 103

Grundrechte, Rn. 79.

Zum Begriff der „Wertordnung" siehe das Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 7, S. 198 [205]; s.a. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 299 ff.; Pieroth/ Schlink, Grundrechte, Rn. 82. 104 Heinegg /Haltern, JA 1995, S. 334.

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2. Kap.: Stellung behinderter Personen vor Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

a) Grundrechte als Einrichtungsgarantien In diesen Zusammenhang fällt zunächst die Funktion von Grundrechten als sog. Einrichtungsgarantien. Je nachdem, ob privatrechtliche oder öffentlichrechtliche Einrichtungen in den Grundrechten verbürgt werden, wird auch von Institutsgarantien oder institutionellen Garantien gesprochen 105. Ein anschauliches Beispiel für eine privatrechtliche Einrichtungsgarantie im Sinne einer Institutsgarantie ist die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG. Das subjektive Grundrecht auf Erwerb von Eigentum setzt zwingend voraus, dass die Existenz von Privateigentum vom Staat grundsätzlich gewährleistet wird. Die Einrichtungsgarantie des Art. 14 GG schützt also die Existenz von Privateigentum im Staat. Ein Beispiel für eine institutionelle Garantie ist die eines öffentlichen Schulwesens aus Art. 7 GG, die nicht die Existenz einer konkreten öffentlichen Einrichtung, sondern abstrakt den Bestand eines öffentlichen Schulwesens schützt. Bemerkenswert an der Interpretation der Grundrechte als Einrichtungsgarantien ist der darin zum Ausdruck kommende Gedanke, dass die Ausübung subjektiver Rechte vielfach den Bestand eines gewissen Substrats voraussetzt, dieser Bestand folglich auch gesichert werden muss. So wäre ein subjektives Recht, Eigentum zu erwerben, zu nutzen und zu vererben, ohne die Anerkennung des Instituts privaten Eigentums sinnlos; das Recht würde leer laufen.

b) Staatliche Schutzaufträge

und Schutzpflichten

Das Grundgesetz enthält an einigen Stellen ausdrückliche Schutzaufträge an den Staat, wie beispielsweise in Art. 6 Abs. 1 und Abs. 4 GG. Überdies werden aus den Einrichtungsgarantien im Grundgesetz Schutzaufträge abgeleitet, die darauf abzielen, die Existenz der jeweiligen Einrichtung zu sichern 106 . Schließlich folgt aus der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension auch eine allgemeine Pflicht des Staates, die Grundrechte nicht nur durch das Unterlassen staatlicher Eingriffe, sondern auch durch aktives Handeln vor einer Gefährdung durch Dritte zu schützen107. Diese Pflicht wird zunächst damit begründet, dass der Staat gewisse Werte als Individualrechtsgüter in seiner Verfassung garantiert und in unterschiedlicher Intensität schützt. Der staatlichen Gemeinschaft kommt deshalb eine besondere Verantwortung für den Erhalt dieser Rechtsgüter zu. Überdies los Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 170 ff.; Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/ Scholz, Art. 1, III, Rn. 97; Katz, Staatsrecht, Rn. 578; beachtenswert ist ein differenzierender Ansatz von Stern, Staatsrecht, Bd. I, § 12 II; hierzu: Lissack, S. 26, Rn. 88. 106 Ζ. B. aus Art. 7 Abs. 1,4 GG die Schutzpflicht für den Bestand der Einrichtung „privater Ersatzschulen" (BVerfGE 75, 40 [62 ff.]); hierzu: Stern, Staatsrecht, Bd. III/ 1, § 69, IV, S. 935; Hund, Staatliche Schutzpflichten statt Teilhaberechte ?, in: FS Zeidler, S. 1445 ff. (1450). io? Stern, Staatsrecht, Bd. III /1, § 69, IV, S. 931,937.

Β. Die Grundrechte

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steht dem einzelnen Bürger aufgrund des staatlichen Gewaltmonopols sein natürliches Recht zur Verteidigung seiner Rechtsgüter nicht z u 1 0 8 . Es ist daher notwendig, dass die staatliche Gewalt den Schutz von Individualrechtsgütern sicherstellt. Aus der objektiv-rechtlichen Weiteordnung folgt somit auch die Garantie einer Friedensordnung, die mit staatlichen Schutzpflichten aufrecht erhalten werden soll 1 0 9 . Die Begründung staatlicher Schutzpflichten hängt maßgeblich von der Bedeutung des grundrechtlich geschützten Rechtsgutes und seiner jeweiligen Gefährdung durch Eingriffe Dritter ab. Anerkannt ist das Bestehen staatlicher Schutzpflichten insbesondere für das fundamentale Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Gerade wenn - wie beim Schutzgegenstand dieses Grundrechts - Verletzungen, die aus einer Gefährdung durch Dritte drohen, mit gravierenden Folgen für die Betroffenen verbunden oder gar irreparabel sind, hat die staatliche Gewalt eine gesteigerte Verpflichtung, sich schützend vor das gefährdete Individualrechtsgut zu stellen. Erstmals konstruierte das Bundesverfassungsgericht mit seinem sog. Fristenlösungsurteil von 1975 eine staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG auch und gerade für das werdende Leben 110 . Mittlerweile ist das Bestehen staatlicher Schutzpflichten beispielsweise auch bei terroristischer Bedrohung 111 , atomaren und chemischen Gefahren sowie Gesundheitsgefährdungen durch Flug- und Straßenverkehrslärm verfassungsgerichtlich anerkannt 112 . Der Umfang und die Durchsetzbarkeit grundrechtlicher Schutzaufträge und Schutzpflichten wird von zwei Faktoren wesentlich beeinflusst. Zunächst obliegt ihre Erfüllung und Ausgestaltung innerhalb der Rechtsordnung zuallererst der gesetzgebenden Gewalt, der dabei - wie auch bei der Erfüllung anderer Verfassungsaufträge - ein erheblicher Gestaltungsspielraum zukommt 113 . Eine verfassungsgerichtliche Kontrolle kann sich deshalb nur auf die Einhaltung der Grenzen dieses Spielraumes beschränken. Da für die Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten ein positives Tun des Gesetzgebers erforderlich ist, bezieht sich die Kontrolle zunächst auf ein erforderliches Mindestmaß an gesetzgeberischem Tätigwerden und orientiert sich dabei am sog. Untermaßverbot. Weiterhin spielt der Umstand eine große Rolle, dass zum Schutze des einen Individualrechtsgutes vielfach Rechte eines Dritten, von dem eine Gefährdung für dieses Schutzgut ausgeht, eingeschränkt werden müssen. Aus Sicht des betroffenen Dritten ist die Erfüllung einer staatlichen Schutzpflicht also oft mit einem staatlichen Eingriff in seine Grundrechte verbunden, gegen den er sich ggf. auf ein Abwehrrecht berufen kann. Die Erfüllung 108

Ausführlich: Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 21 f. 109 Klein, NJW 1989, S. 1636. no BVerfGE 39, 1 [41 f.]. m Vgl. die sog. Schleyer-Entscheidung BVerfGE 46, 160 [164]. 112 Ζ. B. BVerfGE 49, 89 [140 ff.]; E 79,174 [201 f.]; BVerfG, NJW 1996, S. 651. 113 Klein, NJW 1989, S. 1637

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2. Kap.: Stellung behinderter Personen vor Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

staatlicher Schutzpflichten ist damit umgekehrt durch die Rechte des Dritten auf ein zulässiges Höchstmaß begrenzt. Diese obere Grenze des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraumes bei der Erfüllung von Schutzpflichten unterliegt in Bezug auf die Verletzung der Grundrechte Dritter wiederum der verfassungsgerichtlichen Kontrolle, die sich dabei am sog. Übermaßverbot orientiert 114 .

c) Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren Der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension ist auch das Stichwort vom Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren zuzuordnen. Der Einfluss von Grundrechten auf staatliche Organisation und Verfahren spielte in der Grundrechtslehre lange Zeit eine untergeordnete Rolle, obschon das Grundgesetz ausdrückliche Verfahrensgrundrechte kennt 115 . Das wohl bedeutendste Verfahrensgrundrecht folgt aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, der zunächst ein subjektives Grundrecht auf Gerichtsschutz bei der Verletzung subjektiver Rechte durch die öffentliche Gewalt einräumt 116 . Aus ihm ergibt sich aber nicht nur der bloße Anspruch auf gerichtliche Kontrolle; daneben werden aus dieser Verfassungsbestimmung auch gewisse Anforderungen an die gerichtliche Organisation abgeleitet, namentlich hinsichtlich der Wirksamkeit, Lückenlosigkeit und Rechtzeitigkeit der Gerichtskontrolle 117 . Überdies sind für Organisation und Verfahren der rechtsprechenden Gewalt auch Verfassungsnormen wie Art. 101 bis Art. 104 GG von allergrößter Bedeutung. Der Gedanke, dass Grundrechte Organisation und Verfahren aller staatlichen Gewalt beeinflussen können, wird aber auch dadurch gestützt, dass gewisse Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte notwendigerweise staatliche Organisation und Verfahren voraussetzen, um überhaupt wirksam ausgeübt werden zu können; so beispielsweise das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Art. 4 Abs. 3 GG, das Petitionsrecht aus Art. 17 GG und nicht zuletzt auch das Recht auf Durchführung der Bundestagswahl nach den Grundsätzen des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG 1 1 8 . Aber auch andere Grundrechte weisen mehr oder weniger starke Bezüge zu Organisation und Verfahren auf, indem sie wie z. B. Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 GG selbst gewisse Organisationsanforderungen aufstellen 119. Im Ergebnis kann sich je114

Kritisch dazu: Denninger, Vom Elend des Gesetzgebers zwischen Übermaßverbot und Untermaßverbot, in: FS Marenholz, S. 561 ff. (565). us Stern, Staatsrecht, Bd. III /1, § 69, V, S. 953. 116 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 19, IV, Rn. 7; Krüger, Sachs, GG, Art. 19, Rn. 107. 117 Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, § 69, V, S. 962. us Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, § 69, V, S. 956.

119 Vgl. zu den Organisationsanforderungen für den Rundfunk zum Schutze der öffentlichen Meinungsbildung: BVerfGE 12, 205 [261 ff.]; E 57, 295 [325]; E 60, 53 [64]; zur Organisation der wissenschaftlichen Hochschulen: BVerfGE 35, 79 [115 f.]; E 43, 242 [267 ff.]; E 61, 210 [239 ff.].

in:

Β. Die Grundrechte

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des materielle Grundrecht auf organisations- und verfahrensrechtliche Vorschriften auswirken, indem es beispielsweise eine grundrechtskonforme Anwendung des bestehenden Verfahrensrechts oder gar eine bestimmte Ausgestaltung von Organisation und Verfahren bis hin zur Beteiligung des Grundrechtsträgers am Verfahren verlangt 120 . Der Grundrechtssicherung durch Verfahrensgestaltung und Beteiligung an Organisation und Verfahren kommt daher als objektiv-rechtliche Funktion von Grundrechten mittlerweile eine große Bedeutung zu.

II. Die sozialstaatliche Interpretation der Grundrechte Die soziale Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland lässt auch die Grundrechte in einem neuen Lichte erscheinen. Im liberalen Rechtsstaat lag der traditionelle Schwerpunkt der Grundrechte darin, dem Einzelnen Freiheit vom Staat zu sichern. Freiheit wurde als natürliche, vor-staatliche Freiheit, als Autonomie und Autarkie verstanden 121. Die Grundrechte als reine Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe sollten die Freiheitssphäre des Bürgers absichern. Ein Umdenken wurde nötig, als der Staat seinem sozialen Handlungsauftrag gemäß begann, die gesellschaftliche Entwicklung zu beeinflussen. Denn je mehr der Staat die Gesellschaft mitgestaltet, je mehr er in ihr präsent ist, desto dichter wird auch das Beziehungsgeflecht zwischen Staat, Gesellschaft und Bürger. Auch die Freiheit, die dem Einzelnen durch die Grundrechte vermittelt wird, muss vor diesem Hintergrund anders verstanden werden. Freiheit im Sozialstaat ist eine Freiheit, die der Einzelne „nicht ohne den Staat" haben kann, weil er für die Schaffung und Erhaltung seiner freien Existenz auf staatliches Tätigwerden 122

angewiesen ist . Wenn der liberale Rechtsstaat sich gleichzeitig als Sozialstaat versteht, genügt es folglich nicht mehr, Freiheit in Form der bloßen Abwesenheit von staatlichem Zwang zu garantieren; eine solche „formale" Freiheit ist für den Einzelnen wertlos, wenn er nicht die tatsächliche Möglichkeit hat, von seiner Freiheit Gebrauch zu machen 123 . Dieses sozialstaatlich geprägte Freiheitsverständnis kennzeichnet auch einen Wandel in der Interpretation der Grundrechte. Diesen Wandel beschreibt Martens mit den Worten: „Die Grundrechte verlassen hier den status negativus und wan120

Stern, Staatsrecht, Bd. III /1, § 69, V, S. 967 f. mit umfangreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung des BVerfG. 121 Heinegg /Haltern, JA 1995, S. 334. 122 Vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 63. 123 So auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Numerus-clausus-Entscheidung, BVerfGE 33, S. 303 [331].

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2. Kap.: Stellung behinderter Personen vor Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

dem in den status positivus hinüber" l24. Neben der klassischen Funktion der Grundrechte als reine Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat gewinnt im Zuge der Sozialstaatlichkeit eine weitere Funktion immer mehr an Bedeutung, aus der für den Einzelnen Ansprüche gegen den Staat auf positives Handeln erwachsen können. Auf diese Grundrechtsdimension soll im Nachfolgenden genauer eingegangen werden.

I I I . Grundrechte als Leistungs- und Teilhaberechte Grundrechtspositionen des Einzelnen, die auf positives Handeln, also ein Tun des Staates gerichtet sind, können als Leistungsrechte im weiteren Sinne bezeichnet werden. Gegenstand dieses weiten Leistungsbegriffs sind dabei nicht nur Ansprüche auf Erbringung von Geld- und Sachleistungen gegen den Staat, sondern auch Schutz- und Verfahrensbeteiligungsrechte des Bürgers 125 . Da es sich bei der Frage, ob und in welchem Umfang Leistungsrechte aus den Grundrechten hergeleitet werden können, um eine der wohl umstrittensten Fragen der neueren Grundrechtsdogmatik handelt 126 , konnte sich eine Leitlinie für eine weitere begriffliche Unterscheidung und inhaltliche Konkretisierung der Leistungsrechte nicht durchsetzen. In Literatur und Rechtsprechung werden Begriffe wie „Leistungsrechte und -ansprüche im engeren oder weiteren Sinn", „Forderungsrechte", „Teilhabe und Teilhaberechte" bis hin zum Schlagwort der sog. „sozialen Grundrechte" uneinheitlich, teilweise auch synonym und irreführend verwendet 127 . Dies mag zum einen darin begründet sein, dass sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes bei der Formulierung von Leistungsrechten und der Konkretisierung sozialstaatlicher Handlungspflichten äußerst zurückgehalten und damit einen weiten Freiraum zur Interpretation eröffnet haben 128 . Zum anderen sind die Übergänge der einzelnen Positionen, die der leistungsrechtlichen Dimension der Grundrechte entstammen, fließend. Zunächst soll hier aber von einem weiten Leistungsbegriff ausgegangen werden, um schlicht das Leistungsrecht auf positives Tun vom Abwehrrecht auf staatliches Unterlassen zu unterscheiden. Der Streit um die richtige Terminologie bei Leistungs- und Teilhaberechten 129, der hauptsächlich von unterschiedlichen inhaltli124 Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 21. 125 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 403. 126 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 395. 127 Murswiek, HBdStR, Bd. V, S. 245 m. w. N.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 402. 128 Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 20, VIII, Rn. 5. 129 Der Begriff der Teilhabe soll hier als Gegenstück zur Leistung verstanden werden. Während „Leistung" aus der Perspektive des Verpflichteten auf das abstellt, was dieser erbringt, soll der Begriff „Teilhabe" aus der Perspektive des Begünstigten darauf hindeuten, was dieser zugeteilt erhält; vgl. Murswiek, HBdStR, Bd. V, S. 247.

Β. Die Grundrechte

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chen Grundauffassungen und begrifflichen wie dogmatischen Unklarheiten geprägt ist, kann dann unentschieden bleiben. Es soll lediglich darum gehen, Struktur und Grundlagen einer Herleitung von subjektiven Leistungsrechten aus den Grundrechten anhand besonders wichtiger Beispiele zu beleuchten.

1. Derivative Rechte auf staatliche Leistung Nach ihrer Begründung können Leistungsrechte des Einzelnen gegen den Staat in derivative und originäre Rechte unterschieden werden 130 . Während originäre Leistungsrechte unmittelbar aus den Grundrechten folgen, werden derivative zwar ebenfalls aus den Grundrechten abgeleitet, letztere sind aber in Bestand, Inhalt und Umfang von vorausgehendem staatlichen Handeln abhängig 131 . Die Entwicklung derivativer Leistungsrechte kann als eine Art „Reaktion auf vorgängiges staatliches Handeln" 132 verstanden werden. Erfüllt der Staat seinen sozialstaatlichen Handlungsauftrag und schafft er so einen Bestand von Leistungen, können für den Bürger verfassungsrechtliche Ansprüche entstehen, die auf eine angemessene Teilhabe an diesem Bestand gerichtet sind 133 .

a) Derivative Leistungsansprüche aus dem Gleichheitspostulat Eine zentrale Rolle bei der Begründung von unselbständigen, weil von bereits vorhandenem Güterbestand abhängigen Leistungsansprüchen spielt der allgemeine Gleichheitssatz und seine Konkretisierungen. Schon in seiner herkömmlichen Funktion als Abwehrrecht gegen ungleiche Begünstigungen und ungleiche Belastungen kann der allgemeine Gleichheitssatz bei der Gewährung von Leistungen durch den Staat an einzelne Bürger dazu führen, dass allen anderen, die in gleicher Weise die Voraussetzungen für die Leistungsgewährung erfüllen, ebenfalls ein Leistungsanspruch zusteht 134 . Das derivative Leistungsrecht bezieht sich also auf die Verpflichtung des Staates aus Art. 3 Abs. 1 GG zur Gleichbehandlung seiner Bürger bei der Leistungsgewährung. Lässt sich so scheinbar unproblematisch ein Leistungsrecht aus dem Gleichheitspostulat begründen 135, relativiert sich dieses Leistungsrecht bei genauerer Be130 Die begriffliche Unterscheidung geht zurück auf das Referat von Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 21 ff. 131 Murswiek, HBdStR, Bd. V, S. 247 f. 132 Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 21. 133 Sarlet, Die Problematik der sozialen Grundrechte, S. 329. 134 Murswiek, HBdStR, Bd. V, S. 273. 135 Murswiek, HBdStR, Bd. V, S. 272.

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2. Kap.: Stellung behinderter Personen vor Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

trachtung aber aufgrund der abgestuften Intensität der Bindungswirkung des Gleichheitssatzes136. Hinsichtlich der Gewährung von Leistungen durch den Gesetzgeber ist die tatsächliche Entstehung eines derivativen Leistungsrechts nämlich von zwei wesentlichen Faktoren abhängig: Erstens muss die Verweigerung einer Leistung, die einem anderen gewährt wird, gegen den allgemeinen oder einen besonderen Gleichheitssatz verstoßen 137. Eine Differenzierung durch den Gesetzgeber bei der Leistungsgewährung verstößt aber regelmäßig nicht gegen den Gleichheitssatz, wenn für sie ein sachlicher Grund gefunden werden kann 138 . Da das Sozialstaatsprinzip dem Gesetzgeber überdies einen erheblichen Gestaltungsspielraum verleiht, kommt es bei der Leistungsgewährung auch nicht darauf an, ob der Gesetzgeber jeweils die gerechteste und zweckmäßigste Regelung getroffen hat 1 3 9 . Hinzu kommt, dass gerade bei der Vergabe von Leistungen zureichende sachliche Gründe für eine Differenzierung in erheblich weiterem Umfang bestehen, als dies bei hoheitlichen Eingriffen der Fall ist 1 4 0 . Enger wird der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers bei der Leistungsgewährung allerdings im Bereich der besonderen Gleichheitssätze, wie sie beispielsweise Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG, Art. 21 GG und Art. 33 Abs. 1 bis 3 GG enthalten. Diese speziellen Differenzierungsverbote beschränken sich aber nur auf eine begrenzte Anzahl verbotener Unterscheidungsmerkmale, deren Zahl auch nicht im Wege der Analogie erweitert werden kann 141 , so dass dem Gesetzgeber noch genügend Spielraum für Differenzierungen im Leistungsrecht verbleibt. Auch im Falle einer tatsächlich gleichheitswidrigen Leistungsgewährung des Gesetzgebers hängt das Entstehen eines derivativen Leistungsrechts aus dem Gleichheitssatz noch von einer weiteren Voraussetzung ab. Die Gewährung der Leistung muss nämlich die einzige Möglichkeit sein, den Gleichheitsverstoß zu beseitigen. Ansonsten kann die Gleichbehandlung anstatt durch Ausdehnung des Kreises der Begünstigten auch durch Wegfall der gesamten Leistungsgewährung hergestellt werden 142 . Der derivative Leistungsanspruch aus Art. 3 Abs. 1 GG relativiert sich somit zu einer bloßen Chance auf Leistungsteilhabe. Er wird bedingt durch die Wahlmöglichkeit des Gesetzgebers zwischen Ausdehnung und Abschaffung der Begünstigung143. 136 Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 22. 137 Murswiek, HBdStR, Bd. V, S. 272. 138 Vgl. BVerfGE 1, S. 14; E 17, S. 122 [130]; vgl. auch E 71, S. 39 [53]; E 80, S. 109 [118]. 139 BVerfGE 64, S. 158 [168]. 140 Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 22 mit umfangreichen Nachweisen. 141 Jarras/Pieroth, GG, Art. 3, Rn. 69. 142 Bestehen mehrere Möglichkeiten zur Beseitigung der Ungleichbehandlung, begnügt sich das Bundesverfassungsgericht mit der Feststellung der Verfassungswidrigkeit der in Frage stehenden Regelung, überlässt es aber dann der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, wie er die Ungleichbehandlung beseitigen will (st. Rspr. seit BVerfGE 22, S. 349 [361]).

Β. Die Grundrechte

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Regelmäßig besteht für die Verwaltung nicht die Möglichkeit, die Leistung ganz wegfallen zu lassen, weshalb der Anspruch aus Art. 3 Abs. 1 GG ihr gegenüber auch unbedingt entstehen kann. Existiert nämlich eine rechtmäßige 144 Verwaltungspraxis hinsichtlich der Vergabe von Leistungen, entfaltet der Gleichheitssatz eine ermessensbindende Wirkung. Diese sog. Selbstbindung der Verwaltung 145 führt dazu, dass Personen mit gleichgestellten Interessen ebenfalls einen Leistungsanspruch haben 146 . Aber auch hier ist der Schutz des Gleichheitssatzes nicht absolut, sondern wird durch die Kapazität der Mittel begrenzt, die insgesamt für die Verteilung zur Verfügung stehen 147 .

b) Derivative Leistungsrechte aus Vertrauensschutz und Eigentums garantie Für die Ableitung derivativer Leistungsansprüche kommt auch die Heranziehung anderer Verfassungsnormen in Frage, auf die hier wegen des sehr begrenzten Anwendungsbereichs nur hingewiesen werden soll. Lässt sich ein Leistungsrecht gegenüber der Verwaltung nicht aus dem Gleichbehandlungsgebot ableiten, ist auch eine Herleitung aus dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutzprinzip 148 in Betracht zu ziehen. Dies betrifft im Unterschied zur Selbstbindung der Verwaltung Fälle, in denen zwar noch keine Gewährungspraxis der Verwaltung vorausgegangen ist, eine leistungsgewährende Verwaltungsvorschrift aber existiert. Hier erkennt die Rechtsprechung einen Leistungsanspruch an, wenn der Bürger aufgrund besonderer Umstände die Einhaltung der Verwaltungsvorschrift auch ohne deren vorherige Anwendung erwarten darf 149 . In diesem Zusammenhang kann auch das Vertrauen, etwas zu haben, behalten und verwerten zu dürfen, in Verbindung mit der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG bedeutend werden. Wird beispielsweise die Teilhabe an öffentlichen Gütern erlaubt und werden im Vertrauen auf diese Erlaubnis dann vom Begünstigten Investitionen vorgenommen, so kann sich aus Art. 14 GG ein eigentumsrechtlicher Investitionsschutz in dem Sinne ergeben, dass ein Leistungsrecht auf Aufrechterhaltung der

143 Murswiek, HBdStR, Bd. V, S. 272. 144 Die Verwaltungspraxis muss rechtmäßig sein, da Art. 3 Abs. 1 GG keine Gleichbehandlung im Unrecht gewährleistet; vgl. BVerwGE 5, S. 1 [8]. 145 Siehe zur sog. Selbstbindung der Verwaltung auch Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24, Rn. 21 f. 146 Murswiek, HBdStR, Bd. V, S. 273. 147 Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 24 f. 148 Das Vertrauensschutzprinzip ist ebenso wie das Verhältnismäßigkeitsprinzip eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips aus Art. 20 Abs. 1 GG; vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 185; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 127. 149 BVerwGE 35, S. 159 [162]. 7 Straßmair

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2. Kap.: Stellung behinderter Personen vor Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

Erlaubnis besteht 150 . In dieselbe Richtung gehen die Fälle, in denen aus Art. 14 GG ein Schutz vor Veränderungen des Leistungsniveaus bei Sozialleistungen abgeleitet werden kann. Soll eine Leistung gekürzt werden, auf die der potentiell Begünstigte bereits durch Eigenleistung ein Anwartschaftsrecht erworben hat, dann kann sich aus Art. 14 GG ein Recht auf Gewährung der Leistung in alter Höhe ergeben 151.

2. Originäre Rechte auf staatliche Leistung Im Gegensatz zu derivativen Leistungsrechten ist für die Begründung von originären Ansprüchen aus den Grundrechten eine vorausgehende staatliche Leistungsgewährung nicht erforderlich. Der originäre Anspruch zielt nicht auf die Teilhabe an vorhandenen, sondern auf die Schaffung neuer Kapazitäten.

a) Originäre Leistungsansprüche aus den Freiheitsrechten Ansatzpunkt für die Herleitung originärer Leistungsrechte bildet ein sozialstaatlich geprägtes Freiheitsverständnis, aus dem heraus die Freiheitsrechte im Grundgesetz zu Leistungsrechten umgedeutet werden. Mit der Gewährung von Freiheitsrechten setzt es der Staat als selbstverständlich voraus, dass diese Freiheiten in der Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens auch von möglichst vielen Bürgern ausgeübt werden können 152 . Freiheit ist das Substrat, an dem sich der Inhalt des Grundrechtes ausrichtet. Die Überlegung, der Staat habe für das Bestehen der tatsächlichen sozialen Voraussetzungen von realer Freiheit einzustehen, ist nicht von der Hand zu weisen. Ahnlich wie die Grundrechte als Einrichtungsgarantien den Bestand gewisser Institutionen sichern, könnten sie dem Staat auch eine Art Garantenstellung für den Bestand realer Freiheit auferlegen 153. Diese Annahme erscheint umso mehr gerechtfertigt, je stärker der Staat die tatsächlichen Grundrechtsvoraussetzungen kontrolliert. In diese Richtung zielt beispielsweise eine viel zitierte, aber auch viel kritisierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 154 zum Grundrecht der freien Auswahl der Ausbildungsstelle gem. Art. 12 Abs. 1 GG. In dieser Entscheidung wurde 150 Siehe hierzu das Beispiel zur Erlaubnis der Gewässerbenutzung nach § 6 WHG bei: Murswiek, HBdStR, Bd. V, S. 275. 151 Vgl. zum Versorgungsausgleich: BVerfGE 53, S. 257 [289 f.], zum Arbeitslosengeld: BVerfGE 72, S. 9, [19]; nach Katzenstein, SGb 1988, S. 184, hält sich das BVerfG aber sehr zurück, wenn es darum geht, den Eigentumsschutz auf weitere Rechtspositionen auszudehnen. 152 Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, zu Art. 20 GG, VIII, Rn. 49. 153 Murswiek, HBdStR, Bd. V, S. 279. 154 Numerus-clausus-Entscheidung, BVerfGE 33, S. 303 ff.

Β. Die Grundrechte

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festgestellt, dass insbesondere dort, „wo der Staat - wie im Bereich des Hochschulwesens - ein faktisches, nicht beliebig auf hebbares Monopol für sich in Anspruch genommen hat und wo - wie im Bereich der Ausbildung zu akademischen Berufen - die Beteiligung an staatlichen Leistungen zugleich notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung von Grundrechten ist" 155, aus Art. 12 Abs. 1 GG ein Zutrittsrecht zum Ausbildungsplatz folgen kann. Im freiheitlichen Rechts- und Sozialstaat könne es nicht mehr der freien Entscheidung der staatlichen Organe überlassen bleiben, den Kreis der Begünstigten nach ihrem Gutdünken abzugrenzen und einen Teil der Staatsbürger von den Vergünstigungen auszuschließen156. Der Anspruch aus Art. 12 Abs. 1 G G 1 5 7 muss daher mehr beinhalten als die gleiche Teilhabe am Vorhandenen, andernfalls erhielte ein Teil der Begünstigten mit der Zuteilung eines Ausbildungsplatzes alles und der andere Teil nichts. Insbesondere wenn die vorhandenen Kapazitäten bei weitem nicht ausreichen, um alle Zuteilungsberechtigten zu versorgen, droht der Zuteilungsanspruch aus Art. 12 Abs. 1 GG weitgehend leer zu laufen 158 . Ob tatsächlich aus Art. 12 Abs. 1 GG ein originäres Leistungsrecht auf Erweiterung der Kapazitäten erwächst, wenn nur so ein Leerlaufen des Freiheitsrechts verhindert werden kann, hat das Bundesverfassungsgericht in seiner konkreten Entscheidung allerdings offengelassen. Dies aber nicht ohne festzustellen, dass ein solches jedenfalls „ unter dem Vorbehalt des Möglichen im Sinne dessen, was der Einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen kann" 159 stünde.

b) Die Problematik der gerichtlichen Durchsetzung originärer Leistungsrechte Eine Verantwortung des Sozialstaates für die Gewährleistung der tatsächlichen Voraussetzungen der Freiheitsrechte lässt sich nach dem Gesagten schwerlich leugnen. Ob aufgrund dieser Verantwortung die Umdeutung von Freiheitsrechten zu originären Leistungsrechten gerechtfertigt ist und ob diese Leistungsrechte dann als tatsächlich gerichtlich durchsetzbare Individualansprüche angesehen werden können, erscheint angesichts zahlreicher Bedenken gegen ein solches Vorgehen zweifelhaft. Zunächst kann die Anerkennung originärer Leistungsrechte aus den Freiheitsrechten darauf hinauslaufen, in den Grundrechten Verbürgungen bestimmter sozia155 BVerfGE 33, S. 303 [331 f.]. 156 BVerfGE 33, S. 303 [332]. 157 Die Frage, ob das Freiheitsrecht zum derivativen Leistungsrecht umgedeutet werden kann, soll hier nicht weiter vertieft werden. Das derivative Recht geht immer auf gerechte Verteilung vorhandener Kapazitäten, weshalb der Schwerpunkt der Prüfung regelmäßig bei Art. 3 Abs. 1 GG liegt; vgl. Murswiek, HBdStR, Bd. V, S. 276. 158 BVerfGE 33, S. 303 [332 f.]. 159 BVerfGE 33, S. 303 [333]. 7*

100 2. Kap.: Stellung behinderter Personen vor Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

1er (Grund-)Rechte zu sehen. So würde beispielsweise die Berufsfreiheit ein „Recht auf Arbeit" und die Garantie auf Unverletzlichkeit der Wohnung ein „Recht auf Wohnung" als tatsächliche Vorbedingungen für die Ausübung dieser Freiheitsrechte beinhalten. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben sich aber nur in sehr begrenztem Umfang zur Aufnahme sozialer Ansprüche entschieden160. Da dem Parlamentarischen Rat das Problem der realen Freiheitsvoraussetzungen bekannt war 1 6 1 , kann hieraus im Umkehrschluss eine Absage an weitere soziale Grundrechts verbürgungen gefolgert werden 162 . Weiterhin spricht gegen die Annahme originärer Leistungsrechte die dann notwendige Positivierung von Freiheit. Wenn originäre Leistungsrechte Ansprüche auf Gewährleistung der tatsächlichen Freiheitsvoraussetzungen verleihen, müssen diese Voraussetzungen logischerweise auch inhaltlich bestimmt werden können. Freiheit nach dem Grundgesetz ist aber zugleich individuelle Autonomie in dem Sinne, dem Einzelnen die freie Selbstbestimmung darüber zu belassen, wie er mit seinem Verhalten die rechtlich gewährleistete Freiheit inhaltlich erfüllt 163 . Würde man so aber letztlich den Begünstigten bestimmen lassen, was er zur inhaltlichen Erfüllung seiner individuellen Freiheit benötigt, liefe das originäre Leistungsrecht auf ein unbegrenztes „Recht auf alles" hinaus 164 . Umgekehrt kann auch der Staat Freiheitsvoraussetzungen nicht inhaltlich bestimmen, ohne Freiheit ihrem Umfang nach zu begrenzen. Freiheit wäre dann quantitativ auf das beschränkt, was der Staat ausdrücklich zuteilt. Die abwehrrechtliche Seite der Grundrechte würde weitgehend an Bedeutung verlieren, da Freiheit ja von vornherein beschränkt und nicht mehr unbegrenzt gewährt wäre. Aus den Grundrechten als Schrankenbestimmungen für staatliche Eingriffe in die natürliche Freiheit würden Grundrechte als Inhaltsbestimmungen einer beschränkten Freiheit. Die Grundsätze des liberalen Rechtsstaats stehen einer solchen Entwicklung aber vehement entgegen165. Die Notwendigkeit, die tatsächlichen Freiheitsvoraussetzungen für die Begründung originärer Leistungsrechte positiv zu bestimmen, lässt zudem ein Kompetenzproblem zwischen Parlament und Verfassungsgericht erkennen. Hat das Gericht darüber zu befinden, welchen Bestand von Leistungen der Staat für die Sicherung realer Freiheit zur Verfügung stellen muss, trifft es zugleich Entscheidungen mit beträchtlichen Auswirkungen auf den Staatshaushalt. Haushaltswirtschaftliche Entscheidungen sind jedoch, wie auch aus Art. 109 GG ersichtlich ist 1 6 6 , den Par160

Solche Rechte waren bislang lediglich in Art. 6 GG zu finden. 161 Herzog, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, zu Art. 20 GG, VIII, Rn. 23. 162 Vgl. Martens, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 30; Murswiek, HBdStR, Bd. V, S. 281; jeweils m. w. N. 163 Murswiek, HBdStR, Bd. V, S. 281. 164 Murswiek, HBdStR, Bd. V, S. 281. 165 Siehe hierzu oben: Teil A, V, 1 c).

Β. Die Grundrechte

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lamenten in Bund und Ländern vorbehalten und folglich politischer Art. Die gerichtliche Anerkennung originärer Leistungsrechte birgt von daher die Gefahr in sich, dass das Bundesverfassungsgericht mit einer solchen Entscheidung seine Kompetenzen in einer mit dem rechtsstaatlichen Prinzip der Gewaltenteilung und dem Demokratieprinzip unvereinbaren Weise überschreitet 167.

c) Konsequenzen für die Begründung originärer Leistungsrechte Der Versuch, individuelle Ansprüche des Einzelnen durch die Umdeutung von Freiheitsrechten in originäre Leistungsrechte zu begründen, erweist sich somit als äußerst problematisch. Insofern wird eine Parallele zur Begründung von Individualansprüchen aus dem Sozialstaatsprinzip deutlich; dies ist insofern nicht verwunderlich, als originäre Leistungsrechte schließlich aus einem sozialstaatlich geprägten Grundrechtsverständnis hervorgehen. So erscheint die Annahme nur konsequent, dass originäre Leistungsrechte wie das Sozialstaatsprinzip lediglich einen Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber zur Sicherung der tatsächlichen Freiheitsvoraussetzungen beinhalten 168 . Dieser Auftrag ist von objektivrechtlicher Natur, so dass mit ihm grundsätzlich keine subjektivrechtlichen Ansprüche des Einzelnen korrespondieren. Eine gerichtliche Kontrolle des Verfassungsauftrages scheint wie schon beim Sozialstaatsprinzip nur möglich, wenn der Gesetzgeber die Grenzen seines Konkretisierungsauftrages evident und unerträglich unterschreitet 169. Ein Auftrag an den Staat zur Sicherung der faktischen Freiheitsvoraussetzungen geht aber auch schon aus dem Sozialstaatsprinzip hervor, weshalb sich die Frage nach dem Sinn und Zweck von originären Leistungsrechten stellt. Sofern ihr normativer Inhalt mit dem des Sozialstaatsprinzips tatsächlich völlig deckungsgleich sein sollte, bedarf es ihrer Herleitung aus den Grundrechten überhaupt nicht.

166 Das Verfassungsgebot an Bund und Länder, bei der Haushaltswirtschaft „den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen", umfasst das sog. magische Viereck von Preisstabilität, hohem Beschäftigungsstand, außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und stetigem Wirtschaftswachstum. Da diese Verfassungsziele in einem erheblichen Spannungsverhältnis zueinander stehen und daher nicht insgesamt und gleichzeitig verwirklicht werden können, muss das geforderte Gleichgewicht ständig neu beurteilt und ausbalanciert werden und verbietet sich die einseitige und nachhaltige Bevorzugung eines dieser Ziele zu Lasten der übrigen (vgl. Merten, S. 986 f., Rn. 86). 167 Vgl. Murswiek, HBdStR, Bd. V, S. 282; Heinegg/Haltern, JA 1995, S. 340. 168 In diese Richtung geht sowohl die Konzeption von originären Leistungsrechten als Verfassungsaufträge aus der grundrechtlichen Wertordnung (vgl. Murswiek, HBdStR, Bd. V, S. 283), als letztlich auch das von Alexy vertretene Modell der Abwägung von Prinzipien (vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 465 ff.) 169 Murswiek, HBdStR, Bd. V, S. 288.

102 2. Kap.: Stellung behinderter Personen vor Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

d) Originäre Leistungsrechte und die Sicherung eines sozialen Mindeststandards Die Grundannahme, dass die Grundrechte im Sozialstaat die tatsächlichen Freiheitsvoraussetzungen nicht ignorieren dürfen, wird aber auch von denjenigen nicht völlig bestritten, die eine Umdeutung der Freiheitsrechte in originäre Leistungsrechte für eine „gigantische Fehlinterpretation" der modernen Sozialstaatlichkeit halten 170 Von den Kompromissvorschlägen 171, die den veränderten Bedingungen menschlicher Freiheit im Sozialstaat Rechnung tragen sollen, soll hier nur auf die Konzeption der Minimalgarantie 112 näher eingegangen werden. Mit dieser lässt sich, wenn auch nicht völlig unproblematisch, ein gangbarer Weg finden, auf dem auch die Kompetenzverteilung zwischen Verfassungsgericht und Parlamenten gewahrt bleiben kann. Danach wird das Entstehen von Leistungsrechten anerkannt, soweit sie zur Erhaltung der grundrechtlichen Freiheit notwendig sind. Ihr Umfang richtet sich nach dem Minimalstandard der Notwendigkeit staatlicher Unterstützung für den Bestand der grundrechtlichen Freiheit 173 . Einen Optimalzustand sozialstaatlicher Verteilungsgerechtigkeit anzustreben, fällt hingegen in die Zuständigkeit des Gesetzgebers. Für dieses Konzept spricht, dass sich hierfür auch eine Tendenz in der Rechtsprechung abzeichnet. Als das wohl wichtigste Beispiel aus der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung für die Anerkennung eines Minimalstandards kann der schon erwähnte Anspruch auf Sicherung des Existenzminimums durch die staatliche Fürsorge 174 angesehen werden. Der Gedanke, der diesem Anspruch zugrunde liegt, basiert auf der Vorstellung, dass der Sozialstaat jedem die Mindestvoraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins zu gewährleisten hat 1 7 5 . Grundlage für die Herleitung dieses Rechts bildet somit die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG); daneben spielen aber auch das Grundrecht auf Leben und Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 GG) 170 So vehement Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, zu Art. 20, VIII, Rn. 49 - 51; eine völlige Ablehnung der Konstruktion von originären Leistungsrechten wird heute kaum mehr vertreten; vgl. Heinegg/Haltern, JA 1995, S. 340. 171 Neben der schon genannten Konzeption originärer Leistungsrechte als objektivrechtliche Gestaltungsaufträge sei nochmals auf das Abwägungsmodell von Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 465 ff. hingewiesen sowie die von Murswiek, HBdStR, Bd. V, S. 285 ff. favorisierte Konzeption der rechtlichen Verfassungsaufträge. Vor allem bei letzterem Vorschlag ist zu beanstanden, dass die Grenzen zwischen originären Leistungsrechten und institutionellen Einrichtungsgarantien zu verschwimmen scheinen; das von Murswiek gegebene Beispiel des Gemeingebrauchs geht wohl auch in Richtung einer institutionellen Garantie des Gemeingebrauchs. 172 Vgl. Murswiek, HBdStR, Bd. V, S. 284. 173 Breuer, Grundrechte als Anspruchsnormen, S. 93 f. 174 BVerfGE 40, S. 121 [131 ff.]; E 45, S. 187 [228]; vgl. hierzu oben: Teil A, 1,4 a). 175 Vgl. Neumann, NVwZ 1995, S. 426.

Β. Die Grundrechte

103

sowie das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) eine wesentliche Rolle 1 7 6 . Beispiele für einen zu sichernden Minimalstandard aus den Grundrechten finden sich im Anspruch von Privatschulen auf staatliche Förderung gem. Art. 7 Abs. 4 GG 1 7 7 , im Recht des Hochschullehrers auf die für seine wissenschaftliche Tätigkeit unerlässliche Mindestausstattung aus Art. 5 Abs. 3 G G 1 7 8 und im Anspruch des Grundeigentümers auf den Anliegergebrauch der für die Nutzung seines Grundstücks erforderlichen Straßen aus Art. 14 Abs. 1 GG 1 7 9 . Die Entwicklung eines generellen Lösungskonzepts für die Begründung originärer Leistungsrechte steht aber wieder vor dem Problem, dass auch ein Minimalstandard notwendiger staatlicher Unterstützung für den Bestand von Freiheit inhaltlich bestimmt werden muss. Der Staat kann nicht für jedes Grundrecht generell bestimmen, was die Mindestvoraussetzungen des Freiheitsgebrauchs sind, ohne Gefahr zu laufen, Freiheit dann generell zu positivieren. Ebenso kann auch nicht der subjektive Maßstab des Grundrechtsträgers herangezogen werden; dann unterläge es der freien Selbstbestimmung des Einzelnen, was er an materiellem Substrat als Grundlage für ein bestimmtes Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechtes fällt, „mindestens" benötigt. Letztlich führt somit kein Weg daran vorbei, die Minimalgarantie inhaltlich anhand objektivierbarer Kriterien zu bestimmen. Diese können nicht vom Staat vorgegeben werden, sondern müssen sich an einem Wirklichkeitsmaßstab im gesellschaftlichen Leben orientieren und unterliegen damit der Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung und Veränderung. Hier knüpft die Begründung von Leistungsrechten zur Sicherung eines Minimalstandards grundrechtlicher Freiheitsvoraussetzungen an die Feststellungen an, die bereits zu Leistungsrechten aus dem Sozialstaatsprinzip getroffen wurden 180 .

176 Murswiek, HBdStR, Bd. V, S. 284. 177 Die Institution Privatschule wird in Art. 7 Abs. 4 S. 1 GG verbürgt. Der Bestand eines Privatschulwesens und deren Überlebensfähigkeit gegenüber dem staatlichen Schulwesen muss aber auch faktisch gewährleistet bleiben. Aus der generellen Hilfsbedürftigkeit der Privatschulen, die nach der Auffassung des Verfassungsgerichts einen „empirisch gesicherten Befund" darstellt, kann sich deshalb eine Verpflichtung des Staates ergeben, Privatschulen zu fördern und zu schützen; vgl. BVerfGE 75, S. 40 [62 ff.]; BVerwGE 27, S. 360 [362 ff.]. 178 Der Staat hat die Pflege der freien Wissenschaft und ihre Vermittlung an die nachfolgende Generation durch Bereitstellung von personellen, finanziellen und organisatorischen Mitteln zu ermöglichen und zu fördern. Es ist seine Pflicht, schützend und fördernd einer Aushöhlung des Freiheitsrechts aus Art. 5 Abs. 3 GG vorzubeugen; vgl. BVerfGE 35, S. 79 [115], E 43, S. 242 [285]. 179 BVerwGE 32, S. 222 [225 f.]. 180 Siehe oben: Teil A, 1,5 b).

104 2. Kap.: Stellung behinderter Personen vor Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

3. Zusammenfassung Während das Sozialstaatsprinzip alleine keine geeignete Grundlage für die Ableitung individueller Leistungsansprüche gegen den Staat darstellt, kann dies anders sein, wenn dieses Prinzip durch die Grundrechte weiter konkretisiert wird. Hierbei spielen besonders die Gleichheitssätze eine wichtige Rolle, aus denen sich derivative Leistungsrechte ableiten lassen, die als subjektive Rechte des Einzelnen auch gerichtlich durchsetzbar sind. Originäre Leistungsansprüche lassen sich hingegen nur im Einzelfall und wohl nur ausnahmsweise aus besonders bedeutsamen Freiheitsgrundrechten herleiten. Dabei ist für jedes Grundrecht unter Berücksichtigung seiner Bedeutung im Wertgefüge des Grundgesetzes und in der aktuellen gesellschaftlichen Wirklichkeit zu ermitteln, welche Leistungen der Staat dem Einzelnen mindestens zur Verfügung stellen muss, damit das Freiheitsrecht nicht leer läuft. Der Raum, der für die Herleitung und gerichtliche Durchsetzung von originären Leistungsrechten verbleibt, ist somit sehr begrenzt. Sie können aus den Grundrechten entstehen, wenn diese das Sozialstaatsprinzip soweit konkretisieren, dass es sich zum individuellen Anspruch verdichtet.

I I I . Schlussfolgerung Die verfassungsrechtliche Stellung von behinderten Menschen, die ihnen durch die Grundrechte vermittelt wird, unterscheidet sich nicht von der Stellung nichtbehinderter Menschen. Durch die Freiheitsrechte wird dem behinderten Menschen ebenso die rechtliche Möglichkeit eröffnet, in freier Selbstbestimmung über sein Verhalten zu entscheiden. Grundrechte als Abwehrrechte sichern diesen Freiraum gegen staatliche Eingriffe ab. Wenn es darum geht, die rein rechtlichen Möglichkeiten zur freien Selbstbestimmung in tatsächliche Verhaltensalternativen des Bürgers umzusetzen, entfalten die Grundrechte aber nur sehr begrenzte Wirkungen. Das Grundgesetz geht von einer natürlichen Freiheit der Person aus und setzt die faktische Möglichkeit, diese Freiheit auszuüben, als selbstverständlich voraus. Die sozialen Voraussetzungen der Freiheitsausübung bleiben dabei weitgehend unberücksichtigt. Leistungsrechte aus den Grundrechten sichern nur sehr bedingt die gerechte Verteilung des Vorhandenen und berücksichtigen nur in extremen Ausnahmefällen die faktischen Voraussetzungen der Freiheitsausübung. Diese schwache Wirkung betrifft die Rechte behinderter wie nichtbehinderter Menschen gleichermaßen. Tatsächliche Unterschiede zwischen behinderten und nichtbehinderten Personen werden im Rahmen der Grundrechte unberücksichtigt gelassen. In einer Gesellschaft, die sich am Nichtbehinderten orientiert, bestehen für den behinderten Menschen aber zusätzliche Barrieren für die tatsächliche Ausübung seiner rechtlichen Freiheit. Aus dem Grund-

Β. Die Grundrechte

105

gesetz lassen sich für den behinderten Menschen aber keine subjektiven Rechte ableiten, die darauf abzielen, die zusätzlichen Nachteile des behinderten Menschen auszugleichen und so für Behinderte und Nichtbehinderte eine zumindest gleiche soziale Ausgangslage herzustellen.

3. Kapitel

Die Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG im Zuge der Verfassungsreform des Jahres 1994 Das Verbot der Benachteiligung behinderter Personen wurde im Zuge der Verfassungsreform von 1994 im Grundgesetz verankert. Dieser Reform war eine Verfassungsdiskussion vorausgegangen, die durch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten ausgelöst wurde. Eine Auseinandersetzung mit dem Benachteiligungsverbot muss sich auf diese Rahmenbedingungen seiner Einführung sowie auf die mit der Verfassungsergänzung verfolgten Ziele und Motive zurückbesinnen.

A. Die Verfassungsreform 1994 Die Verfassungsreform des Jahres 1994 markiert den Endpunkt in der Diskussion um eine neue gesamtdeutsche Verfassung nach der Wiedervereinigung. Das ursprünglich als Provisorium für den westlichen Teil Deutschlands geschaffene Grundgesetz wurde schließlich in reformierter Form zur endgültigen Verfassung „für das gesamte Deutsche Volk" 1 . Dieser aus heutiger Sicht unumstößlichen Tatsache gingen kontroverse Diskussionen um die Auswirkungen der Wiedervereinigung auf die Verfassungsgebung in Deutschland voraus.

I. Die Verfassungsdiskussion im Rahmen der Wiedervereinigung Die Massendemonstrationen in der DDR während der Feierlichkeiten zum vierzigsten Jahrestag der Staatsgründung im Herbst 1989 ließen den begonnenen Umbruch unübersehbar werden2. In einer „friedlichen Revolution" wandten sich die DDR-Bürger mit der Parole „ Wir sind das Volk" nicht nur gegen die Herrschaft des SED-Regimes, sondern forderten mit der Devise „Wir sind ein Volk", das Volk 1

Vgl. Satz 3 der Präambel des Grundgesetzes. Zum historischen und (außen-)politischen Hintergrund siehe: Frowein, Die Entwicklung der Rechtslage Deutschlands von 1945 bis zur Wiedervereinigung 1990, in: HBdVerfR, S. 19. ff. (28 ff.); Eisenhardt, S. 539 ff.; Maurer, Staatsrecht, S. 106 ff. 2

Α. Die Verfassungsreform 1994

107

als den Träger der Staatsgewalt anzuerkennen und in seiner Einheit wiederherzustellen3. Nachdem die „Wende"4 in der DDR zum Fall der Mauer am 9. November 1989 geführt hatte, stellte sich die Frage, ob das nun nicht mehr räumlich getrennte deutsche Volk zukünftig unter einer gemeinsamen Verfassung leben wollte. Von Seiten der DDR-Regierung war man zunächst bestrebt, die Eigenstaatlichkeit der DDR zu erhalten, weshalb das SED-Politbüro noch im November 1989 den Dialog mit den Bürgerrechtsbewegungen aufnahm. Am „Zentralen Runden Tisch der DDR" 5 wurde neben einem neuen Wahlgesetz auch eine Reform der eigenen DDR-Verfassung beraten6. Demgegenüber stritt man in der alten Bundesrepublik wegen des eindeutigen Verfassungsauftrages zur Wiedervereinigung 7 lediglich um den richtigen Weg zur Einheit, für den das Grundgesetz zwei Möglichkeiten vorsah: Einmal konnte die Vereinigung nach Art. 23 Satz 2 GG a.F. durch einen Beitritt der DDR unter grundsätzlicher Beibehaltung des Grundgesetzes vollzogen werden. Dieser Weg der Verfassungskontinuität, den man schon beim Beitritt des Saarlandes beschritten hatte, stand auch für eine Wiedervereinigung offen; schließlich hatte man seinerzeit beim Beschluss des Grundgesetzes „auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war" 8 . Eine zweite Möglichkeit bestand darin, sich durch einen Akt der verfassungsgebenden Gewalt des gesamten „deutschen Volkes" i.S.d. Art. 146 GG a.F. eine neue Verfassung zu geben und damit das Grundgesetz der alten Bundesrepublik abzulösen9. Die Entscheidung für einen Beitritt nach Art. 23 GG a.F. wurde letztlich von den Bürgern der DDR selbst getroffen, die in ihrer Mehrzahl mit einer Wiedervereinigung die Erlangung wirtschaftlichen Wohlstandes verbanden 10. Von daher ging 3

Schlink, Deutsch-deutsche Verfassungsentwicklung, in: Guggenberger/Stein, S. 19 ff. Siehe zur sog. Wende in der ehem. DDR den chronologischen Abriss der Ereignisse vom Oktober 1989 bis Oktober 1990 in: Guggenberger/Stein, S. 413 ff. 5 Dieser sog. Runde Tisch war ein Kommunikationsgremium, in denen SED, Blockparteien und Oppositionsgruppen gemeinsam unter Moderation der Kirchen die krisenhafte Situation berieten; zu seiner Entstehung und Zielsetzung: Kammradt, S. 14 ff. 6 Siehe: Guggenberger/Stein, S. 414. 7 Nach der alten Fassung des Satz 3 der Präambel des GG galt in der Bundesrepublik die Staatszielbestimmung, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden", vgl. Sachs, GG, Rn. 4 zur Präambel. 8 Vgl. Satz 2 der Präambel des GG a.F. 9 Der „Königsweg" zur Einheit war im alten Bundesgebiet sowohl im Parlament, als auch in der Rechtswissenschaft umstritten. Für eine neue Verfassung nach Art. 146 GG a.F. traten die Oppositionsparteien SPD und DIE GRÜNEN ein; siehe zu dieser Ansicht: Vogel, in: DVB1. 1994, S. 498; Mahrenholz, Das Volk muss „JA" sagen können, in: Guggenberger/ Stein, S. 220 ff. Einen Beitritt nach Art. 23 GG a.F. befürworteten die Regierungsparteien, CDU/CSU und FDP; vgl. dazu Scholz, in: ZFA 1991, S. 683 ff; Leicht, Einheit durch Beitritt, in: Guggenberger /Stein, S. 186 ff. 10 Kammradt, S. 31. 4

108

. Kap.:

ie Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

die konservative „Allianz für Deutschland"11, welche sich im Wahlkampf für einen raschen Beitritt zur Bundesrepublik ausgesprochen hatte, als Sieger aus den ersten demokratischen Volkskammerwahlen am 18. 3. 1990 hervor. Die neue Volkskammer verwarf den nunmehr fertigen Entwurf des Runden Tisches für eine neue DDR-Verfassung 12 und bekannte sich mit dem „Vertrag über die Herstellung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion"13, dem „Verfassungsgrundsätze-Gesetz" 14 und dem Wahl vertrag vom 3. August zu den grundlegenden Werten und Strukturen des Grundgesetzes. Damit war der Weg für einen Beitritt der DDR nach Art. 23 GG a.F. zum Geltungsbereich des Grundgesetzes vorgezeichnet, welchen die Volkskammer am 23. 8. 1990 mit verfassungsändernder Mehrheit beschloss15. Die Einzelheiten des Beitritts regelte der „Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands" CEinigungsvertrag) 16 vom 31.8. 1990, der zunächst zwingende beitrittsbedingte Grundgesetzänderungen zum Gegenstand hatte 17 . Der Einigungsvertrag hob in seinem Art. 5 aber auch einige Punkte hervor, über die im Rahmen einer künftigen einigungsbedingten Verfassungsänderung nachgedacht werden sollte. Neben Fragen zur föderativen Struktur der Bundesrepublik und Überlegungen zur Aufnahme von Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz sollten sich die gesetzgebenden Körperschaften innerhalb von zwei Jahren „insbesondere" auch mit der „Frage der Anwendung des Art. 146 GG und in deren Rahmen einer Volksabstimmung" befassen. Als das Grundgesetz in den „neuen Bundesländern" mit Wirkung zum 3. 10. 1990 in Kraft trat 18 , mündete so auch der Diskurs um eine neue Verfassung im Streit um den Umfang einer Grundgesetzreform. Nach Ansicht der Oppositionsparteien im Bundestag war die Vorschrift des Art. 146 GG a.F. auch für den Fall eines Beitritts nach Art. 23 GG a.F. geschaffen worden. Da überdies Art. 5 EinigungsV ausdrücklich auf eine mögliche „Anwendung des Art. 146 GG" 11

Hierzu gehörten neben der CDU (40,9 %) auch die Deutsche Soziale Union (6,3 %) und der Demokratische Aufbruch (0,9 %). Demgegenüber erreichte die SPD 21,8 % der Stimmen, die SED /PDS kam auf 16,3 %, das liberale Parteienbündnis auf 5,3 % und das Bündnis 90 auf 2,9 %. 12 Entwurf der Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR" des Runden Tisches, abgedruckt in: Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder (Hrsg.), In Freier Selbstbestimmung, S. 125 ff.; siehe hierzu: Templin, Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches, in: Guggenberger/Stein, S. 350 ff. 13 Vertrag vom 18. 5. 1990 (BGBl. II S. 537). 14 Gesetz vom 17. 6. 1990 (DDR-GB1.1 S. 229). 15 Gem. Art. 63 Abs. 2 S. 2, Art. 106 der DDR-Verfassung von 1974 (DDR-GB1. S. 432); der Volkskammerbeschluss (DDR-GB1. I S. 1324, s.a. BGBl. II S. 885) ist abgedruckt bei: Frowein, HBdVerfR, S. 29; vgl. auch Eisenhardt, S. 540; Kammradt, S. 45 ff. (50). 16 BGBl. II S. 889; Zustimmungsgesetz der Bundesrepublik zum EinigungsV, BGBl. II S. 885. 17 Vgl. Art. 4 EV; zu den einzelnen Änderungen des GG siehe: Herdegen, Die Verfassungsänderungen im Einigungsvertrag, S. 1 f. is Vgl. Art. 1 Abs. 1, Art. 3 EV.

Α. Die Verfassungsreform 1994

109

verwies, forderte man einen Verfassungsrat und eine Volksabstimmung19. Von den Diskussionen über neue Landesverfassungen der neuen Bundesländer beeinflusst, hielt man die Zeit reif für eine weitgehende Verfassungsreform auf Bundesebene, um das Grundgesetz an die seit 1949 veränderten Lebensbedingungen anzupassen und unter Berücksichtigung der „DDR-Identität" gegebenenfalls andere Prioritäten setzen zu können20. Unterstützung fand dieses Bestreben im außerparlamentarischen Bereich durch das „Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder", das einen eigenen Entwurf für eine Bundesverfassung am 23. 5. 1991 in der Frankfurter Paulskirche vorstellte 21. In diesem Kuratorium vertrat man die Ansicht, die ehemalige DDR habe einiges an politischen Erfahrungen in eine neue gesamtdeutsche Verfassung einzubringen und nahm dabei auf den Verfassungsentwurf des Runden Tisches Bezug 22 . Diese Bestrebungen hin zu einem neuen „Parlamentarischen Rat" und zur Volksabstimmung des pouvoir constituant23 konnten sich jedoch nicht durchsetzen. Aus Sicht der Regierungskoalition von Union und FDP hatte sich eine Anwendung des Art. 146 GG a.F. mit dem Beitritt erledigt und war dessen Neufassung von deklaratorischer Rechtsnatur 24. Die Ereignisse in der DDR im Herbst 1989 bewertete man als eine „Revolution hin zum Grundgesetz", was gerade der mit der Volkskammerwahl nachdrücklich vom Volk geforderte Beitritt nach Art. 23 GG a.F. belegen sollte 25 . Indirekt sei so auch das Grundgesetz durch die Volkskammerwahl von den DDR-Bürgern im Wege mittelbarer Demokratie angenommen und legitimiert worden, weshalb allenfalls nur geringer Reformbedarf bestünde26. Nach langen Verhandlungen beschloss deshalb der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates, zur Erfüllung der Aufgaben nach Art. 5 EinigungsV eine Gemeinsame Verfassungskommission (im Folgenden: GVK) einzusetzen. !9 Siehe den Antrag der SPD-Fraktion zur „Weiterentwicklung des GG zur Verfassung für das geeinte Deutschland" vom 24. 4. 1991, BT-Drs. 12/415 sowie den Antrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN; „Vom GG zur gesamtdeutschen Verfassung" vom 13. 5. 1991, BTDrs. 12/563. 20 Scholz, in: FS Lerche, S. 65; ders., Die Gemeinsame Verfassungskommission, in: ZG 1994, S. 5; Schweizer, S. 53 f.; zur „DDR-Identität" siehe: Kammradt, S. 50 ff. 21 Das Kuratorium sah sich als unabhängige Bürgerinitiative, die von den Angehörigen des Runden Tisches und den ehemaligen DDR-Bürgerbewegungen, aber auch von Staatsrechtslehrern, Schriftstellern aus Ost und West sowie von Angehörigen linksgerichteter Parteien unterstützt wurde. Sein Verfassungsentwurf ist abgedruckt bei: Guggenberger/Preuß/ Ulimann, S. 99 ff. 22

Herdegen, Die Verfassungsänderungen, S. 2; Scholz, in: FS Lerche, S. 67. Zur Aktivierung des pouvoir constituant siehe: Herdegen, Die Verfassungsänderungen, S. 24 ff. 24 Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 23 (a.F.), Rn. 3 ff., 27 ff., 40 ff., Art. 146 Rn. 2 ff. 23

2 5 Scholz, in: FS Lerche, S. 66; ders., in: ZG 1994, S. 5; Schweizer, DVB1. 1994, S. 498. 26

Zur Legitimation des GG: Scholz, in: FS Lerche, S. 68.

S. 53; Vogel,

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1

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.

Kap.:

ie Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

II. Die Gemeinsame Verfassungskommission Auf der formellen Grundlage der gleichlautenden Einsetzungsbeschlüsse von Bundestag und Bundesrat 27 vom 28. und 29. 11. 1991 nahm die GVK mit ihrer konstituierenden Sitzung am 16. 1. 1992 die Arbeit auf. Im Vorfeld hatte sich schon eine 32-köpfige Kommission des Bundesrates mit verfassungsrechtlichen Fragen zum Föderalismus auseinandergesetzt und damit Vorarbeit geleistet28. Die 64 Mitglieder der GVK, die je zur Hälfte vom Bundestag gewählt und von den Regierungen der Bundesländer entsandt waren, wählten zu ihren gleichberechtigten Vorsitzenden den Abg. Prof. Dr. Rupert Scholz (CDU) und den Ersten Bürgermeister von Hamburg Dr. Henning Voscherau (SPD) 29 . Bis zum Beschluss ihres Abschlußberichtes hielt die GVK 26 Sitzungen und neun zum Teil ganztägige Anhörungen öffentlich ab 30 . Verfahrensrechtlich arbeitete die GVK auf der Grundlage der Geschäftsordnung des Bundestages, unterschied sich aber grundlegend von einem Bundestagsausschuss. Vielmehr stellte die GVK als paritätisches Organ von Bundesrat und Bundestag ein Novum in der Verfassungsgeschichte dar 31 . Als organübergreifendes Verfassungsgremium konnte die GVK mangels Legitimationsgrundlage im Grundgesetz lediglich Empfehlungen zur Verfassungsänderung nach Art. 79 GG aussprechen. Diese waren von der Kommission mit einer Zweidrittelmehrheit zu beschließen, was gewährleisten sollte, dass die Empfehlungen im anschließenden Gesetzgebungsverfahren zur Verfassungsänderung auch tatsächlich aufgegriffen und verwirklicht würden 32 . Da es keine Unterausschüsse der GVK gab, entfaltete sich eine intensive Tätigkeit der von den politischen Gruppen benannten Berichterstatter. Im kleineren Kreise nichtöffentlicher Berichterstattergespräche wurden einige wichtige Vorentscheidungen für die Beratungen in der GVK getroffen 33.

27 BT-Drs. 12/1590,1670; BR-Drs. 741 /91. 28 Die Kommission Verfassungsreform wurde im März 1991 vom BR eingesetzt (BRDrs. 103/91) und verabschiedete ihren Abschlußbericht „Stärkung des Föderalismus in Deutschland und Europa sowie weitere Vorschläge zur Änderung des Grundgesetzes" im Mai 1992 (BR-Drs. 360/92). 29

Von jeder Landesregierung wurden zwei Mitglieder entsandt, die über keinen anderen Status als im Bundesrat verfügten (Art. 51 GG); eingehend: Scholz, in: ZG 1994, S. 2. 30 Siehe den Bericht der GVK (BT-Drs. 12/6000) = Deutscher Bundestag (Hrsg.), Zur Sache 5/93; ausführlich zu Auftrag, Verfahren und Durchführung der GKV siehe: Zur Sache 5/93, S. 13 ff. 31 Scholz, in: ZG 1994, S. 5; allerdings wurde in der Verfassungsgeschichte schon einmal eine grundlegende Überprüfung des GG angegangen und Anfang der 1970er Jahre eine Enquete-Kommission zur Verfassungsreform eingesetzt; s. hierzu Röhn/Sannwald, ZRP 1994, S. 65 f. 32 Vgl. Zur Sache 5/93, S. 21. 33 Röhn/Sannwald, ZRP 1994, S. 66; Zur Sache 5/93, S. 24; neben den Berichterstattern gab es für Fragen zum Verfahren und zur organisatorischen Festlegung der GVK fünf Obleute

Α. Die Verfassungsreform 1994

111

Materielle Grundlage für die Beratungen der GVK war Art. 5 EinigungsV mit seinem Auftrag an die gesetzgebenden Körperschaften, sich „mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung und Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen" 34. Da Art. 5 EinigungsV einige Beratungsgegenstände nur „insbesondere" empfahl, ging die GVK von einem weitgehenden Selbstbefassungsrecht aus. Aus diesem Grunde zählten auch viele Themenvorschläge der dort repräsentierten politischen Gruppen zur Agenda der GVK, so dass sich die Kommission letztlich mit insgesamt 95 Änderungsanträgen und 119 eingebrachten Arbeitsunterlagen auseinander zu setzen hatte 35 ; eine „Totalrevision" des Grundgesetzes unterblieb allerdings 36.

I I I . Die Forderung nach einer Verfassungsergänzung im Hinblick auf die Belange behinderter Personen Die Befassung der GVK mit Fragen zu einer Grundgesetzänderung zugunsten behinderter Personen war nicht nur durch ihr Selbstbefassungsrecht vorbestimmt. Bereits in dem Entwurf für eine demokratische DDR-Verfassung des Runden Tisches sollte in Art. 1 Abs. 2 Satz 2 verankert werden 37: „Niemand darf wegen seiner Rasse, Abstammung, ... seiner Behinderung, ... benachteiligt werden. " Gleichzeitig sollte mit Art. 23 Abs. 1 des Entwurfs das Gemeinwesen dazu verpflichtet werden, behinderte Menschen zu respektieren 38. Auch der Kuratoriumsentwurf für eine neue Bundesverfassung bekannte sich zur besonderen Verantwortung des Staates für Menschen mit Behinderungen in Art. 12b Abs. 2 Satz 1, der folgenden Wortlaut hatte: „Alte und behinderte Menschen genießen den besonderen Schutz des Staates " 39. Überdies erfuhr die GVK trotz nur geringer Beachtung durch die Medien ein unerwartet hohes Echo von Seiten der Bürger 40 . So hatte sie sich unter etwa 800.000 Individualeingaben und gleichlautenden Masseneingaben mit fast 36.000 Eingaben alleine zum Behindertenschutz zu befassen 41. Zur Vorbereitung der Politischen Parteien sowie zwei Obleute der Bundesratsseite; diese hatten neben den Vorsitzenden ein Recht auf Teilnahme an den Berichterstattergesprächen. 34 Röhn/Sannwald, in: ZRP 1994, S. 66. 35 Scholz, in: FS Lerche, S. 71; ders., in: ZG 1994, S. 2; Schweizer, S. 56. 36 Zu Kommissionsdrucksachen und Arbeitsunterlagen: Zur Sache 5/93, S. 266 ff., 315 ff. 37 Der Entwurf ist abgedruckt in: Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder (Hrsg.), In Freier Selbstbestimmung, S. 125 ff. 38 Art. 23 Abs. 1 lautete: „Das Gemeinwesen achtet das Alter. Es respektiert Behinderungen:' 39 Abgedrucktin: Guggenberger/Preuß/Ullmann, S. 121. 40 Scholz, in: ZG 1994, S. 2. 41 Zur Sache 5/93, S. 7, 250.

112

. Kap.:

ie Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

der Beratungen in der GVK lag auch ein vom Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Behinderten in Auftrag gegebenes Gutachten des Bonner Staatsrechtlers Matthias Herdegen vor, das sich mit verfassungsrechtlichen Fragen der Aufnahme besonderer Vorschriften zugunsten behinderter Personen in das Grundgesetz auseinander setzte42. Die Arbeit der GVK war daher von Beginn an mit der Forderung nach einer Verfassungsergänzung zum Behindertenschutz konfrontiert. Den Hintergründen, Motiven und Zielen dieser Forderung soll im folgenden Abschnitt nachgegangen werden.

B. Die Hintergründe der Forderung nach einer Ergänzung des Grundgesetzes zugunsten behinderter Personen Die rechtliche Stellung behinderter Personen im deutschen Sozialsystem und die verfassungsrechtliche Ausgangslage wurde oben bereits erörtert. Trotz normativ bedingter Vollzugsdefizite im Bereich der Rehabilitation gewährleistet das deutsche Sozialsystem im internationalen Vergleich eine relativ gute Absicherung für Personen mit Behinderungen 43. Der Staat bekennt sich mit dem Sozialstaatsprinzip im Grundgesetz zu einer besonderen Verantwortung für behinderte Menschen auch ohne ausdrückliche Verankerung im Verfassungstext. Überdies erkennt das Grundgesetz behinderten und nichtbehinderten Personen in gleicher Weise Grundrechtsfähigkeit zu, weshalb grundsätzlich niemand aufgrund einer Behinderung a priori von der rechtlichen Möglichkeit zur Ausübung seiner Grundrechte und deren Geltendmachung gegenüber dem Staat ausgeschlossen ist 44 . Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Motive hinter der Forderung nach der Aufnahme einer besonderen Vorschrift in das Grundgesetz zugunsten behinderter Personen stehen, zumal diese Personen nach dem Grundgesetz mit den gleichen Rechten wie nichtbehinderte Menschen ausgestattet sind. Die Gründe für die Forderung einer Ergänzung des Grundgesetzes lassen sich aber nicht aus einer isolierten Betrachtung des Verfassungsrechts ermitteln, sondern folgen aus dem Zusammenspiel von Verfassungsrecht und den tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen und Entwicklungen. Die wichtigsten Gesichtspunkte aus dieser „VerfassungsWirklichkeit" 45, die für eine Grundgesetzänderung zugunsten behinderter Menschen sprechen, sollen nunmehr dargestellt werden. 42

Herdegen, Die Aufnahme besonderer Vorschriften zugunsten behinderter Personen in das Grundgesetz, VSSR 1992, S. 245 ff. 43 Köhler, SdL 1996, S. 375; Firsching, in: Wissing/Umbach, S. 182. 44 Zur Prozessfähigkeit geistig behinderter Personen siehe: BVerfGE 10, S. 302, [306, 322]; Katz, Staatsrecht, Rn. 673. 4 5 Vgl. Köhler, SdL 1996, S. 389.

Β. Ergänzung des Grundgesetzes zugunsten behinderter Personen

113

I. Rechtssoziologische Aspekte Zunächst lassen sich die Gründe und Überlegungen für die Forderung nach einer Verfassungsergänzung zugunsten behinderter Menschen unter rechtssoziologischen Gesichtspunkten betrachten 46. Hierzu muss nochmals ein Blick auf die Grundlagen einer verfassungsrechtlichen Sollensordnung geworfen werden. Besondere Aufmerksamkeit ist dabei den Inhalten einzelner Gewährleistungen des Grundgesetzes zu widmen, wenn es um die Frage geht, wie sich die Umsetzung gewisser verfassungsrechtlicher Vorgaben in der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit aus der Sicht von Menschen mit Behinderungen darstellt.

1. Verfassungsrechtliche Vorgaben a) Die Garantie der Menschenwürde Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen wurde das Bekenntnis zur Menschenwürde dem Grundrechtskatalog ganz bewusst vorangestellt. Wenn daher in Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG die Würde des Menschen für unantastbar erklärt wird, ist dies primär als Reaktion auf ganz bestimmte historische Verletzungsvorgänge zu verstehen, welche die tatsächliche Antastbarkeit der Menschenwürde zu belegen schienen47. Aus dieser Erfahrung heraus sollte alle staatliche Gewalt durch Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichtet werden, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Die nach Art. 79 Abs. 3 GG verfassungsfeste Menschenwürdegarantie ist Bestandteil einer wertgebundenen Sollens-Ordnung, die den Schutz und die Achtung der Menschenwürde als den obersten Zweck erkennt 48 . Mit dieser Zielsetzung ist sie oberstes Konstitutionsprinzip 49 des Staates sowie „Ausgangs- und Gravitationspunkt, Basis und Zentrum des Grundrechtswertesystems"50. Die Würde des Menschen wird zum höchsten Wert in der freiheitlichen Demokratie 51 und zum Geltungsgrund aller Menschen- und Grundrechte 52.

46

Allgemein zu den Erkenntniszielen der Rechtssoziologie: Rehbinder, S. 1 ff. ? Siehe: Dürig, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, GG, Art. 1 Abs. 1, Rn. 4, Art. 2 Abs. 2, Rn. 8; Pieroth/Schlink, Rn. 349; Hannesen/Jacobi/Lachwitz/Vater, in: VSSR 1992, S. 199. 4 « Vgl. BVerfGE 12,45 [51]; Hoerster, in: JuS 1983, S. 93; zum Sollensanspruch der Menschenwürde als ethische Handlungsmaxime vgl. Auer, FS Mikat, S. 15 f.; allgemein zum Recht als Sollensordnung: Rehbinder, S. 3 f. 49 Dürig, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 1 Abs. 1, Rn. 14. so Katz, Staatsrecht, Rn. 699; Graf Vitzthum, JZ 1985, S. 203 nimmt Bezug auf 4

BVerfGE 30, 1, [29]; E 45, 187, [227]; E 50, 166, [175]. si Vgl. BVerfGE 5, 85, [204]; E 6, 36, [41]. 52 Auer, FS Mikat, S. 16. 8 Straßmair

114

. Kap.:

ie Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

Gleichwohl bereitet die Bestimmung eines konkreten Schutzumfanges des Art. 1 Abs. 1 GG in mehrfacher Hinsicht Schwierigkeiten. Dies liegt vor allem an seiner generalklauselartigen Offenheit und der Unbestimmtheit eines Würde-Begriffs, dem eine lange ethisch-philosophische Tradition vorausgeht 53. Der Menschenwürdesatz schlägt gleichsam den Bogen von einer Naturrechtsordnung zur positiven Grundrechtsverfassung und vom Menschen im metaphysischen Sinne zum Menschen als Subjekt eigener Rechte54. Dementsprechend basiert das Menschenbild des Grundgesetzes auf der Vorstellung vom Menschen als einem geistigsittlichen Wesen, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten 55. Schon das gemeinschaftsbezogene und -gebundene Individuum „Mensch" verkörpert mit dem, was das Wesensmäßige und Personenhafte an ihm ausmacht, einen geistlich-sittlichen Wert an sich, der ihn von Gegenständen, aber auch von allen anderen Lebewesen unterscheidet 56. Dem menschlichen Leben haftet deshalb ein unabtrennbarer und unbedingter Eigenwert an, der jedem fremden Zugriff entzogen ist und niemandem zur Disposition steht57. Wenn das menschliche Leben an sich damit schon ein Wert ist, kommt folglich auch jedem menschlichen Leben grundsätzlich Würde zu 5 8 . Damit reicht aber allein die Tatsache der Existenz menschlichen Lebens aus, um in personeller Hinsicht den Gewährleistungsbereich des Art. 1 Abs. 1 GG zu eröffnen 59. Hinsichtlich des sachlichen Anwendungsbereiches des Art. 1 Abs. 1 GG besteht mit den herkömmlichen ethisch-philosophischen Wertvorstellungen, die der Menschenwürde zugrunde liegen, weitestgehend Einigkeit darüber, dass sein Eigenwert dem Menschen um seiner selbst und nicht um anderer Güter und Zwecke willen zukommt 60 . Deshalb ist der konkrete Mensch auch als Selbstzweck in seiner sittlichen Selbstbestimmung zu achten und darf nicht als bloßes Mittel für Zwecke anderer gebraucht, also zum Objekt und zur vertretbaren Größe herabgewürdigt werden. Die so von Dürig als sog. Objektformel auf das Verfassungsrecht übertragenen philosophischen Lehren Kants 61 können sich auf einen breiten Grundkonsens im Verständnis der Menschenwürde stützen und sind trotz aller Unbestimmtheit für die Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG wegweisend62. Eine als Leistungstheorie be53 In diesem Zusammenhang von einer Belastung sprechend: Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 353; s.a. Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1, Rn. 6. 54 Vgl. Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1, Rn. 1 f.; ders., JuS 1995, S. 857 ff.; Graf Vitzthum, JZ 1985, S. 205 f. 55 Katz, Staatsrecht, Rn. 699; Köhler, SdL 1996, S. 388 m.w.N; ausführlich zum Menschenbild des GG siehe: Benda, HBdVerfR, S. 163 ff. 56 Jarassi Pieroth, GG, Art. 1, Rn. 4. 57 Katz, Staatsrecht, Rn. 674. 58 Deshalb betont auch das BVerfG (E 39, S. 1, [41]): „Wo menschliches Lehen existiert, kommt ihm Menschenwürde zu"\ bestätigt durch BVerfGE 88, 203, [252]. 59 Höfling in: Sachs, GG, Art. 1, Rn. 46. 60 Brohm, JuS 1998, S. 199.

61 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, Ausgabe Weischedel, Bd. IV, 1956, S. 67 ff.

Β. Ergänzung des Grundgesetzes zugunsten behinderter Personen

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zeichnete Auffassung greift einen weiteren zentralen Aspekt für das Verständnis der Menschenwürde auf und konkretisiert damit in gewisser Weise die Objektformel im Hinblick auf die Personalität des Menschen63. Diese Theorie betrachtet als das Entscheidende der Menschenwürde die Leistung zur Identitätsbildung, also die Fähigkeit, das Leben kraft Vernunftbegabung und eigener Einsicht selbstgestaltend zu verwirklichen 64 . Hiermit soll klargestellt werden, dass letztlich doch der Einzelne selbst bestimmt, was seine Würde ausmacht. Gleichzeitig wird betont, dass die Menschenwürde in einem engen Zusammenhang mit den die Leistung der Identitätsbildung ermöglichenden Grundentscheidungen der Verfassung steht65. Zahlreiche wesensbestimmende Verhaltensweisen des Menschen und damit auch mögliche Gefährdungsbereiche für die Würde der menschlichen Person werden durch die Art. 2 ff. GG näher konkretisiert und unter besonderen Schutz gestellt. Insofern dienen die Freiheitsrechte, aber auch die Gleichheitssätze, mit ihrem jeweiligen Menschenwürdegehalt allesamt der Würde des Menschen66. Eine umfassende und abschließende positive Bestimmung des Eigenständigen an der Gewährleistung der Menschenwürde wird deshalb auch nicht möglich sein. Wegen der normativen Offenheit des Menschenwürdesatzes sowie seines problematischen Verhältnisses zu den Schutzbereichen anderer Grundrechte bedient man sich daher einer negativen Interpretationsmethode und bestimmt eine Verletzung des Art. 1 Abs. 1 GG jeweils im konkreten Einzelfall 67 . In dieser Beispielstechnik spiegelt sich auch die soziologische Funktion der Menschenwürdegarantie als Tabugrenze wider. Ohne dies jeweils hinterfragen zu wollen und allgemein begründen zu können, scheint sich die Gesellschaft darüber einig zu sein, dass gewisse Formen des Umgangs mit dem Menschen schlichtweg unerträglich sind 68 . Betrachtet man den Menschenwürdesatz in diesem Sinne als Schutz vor Tabuverletzung und schweren Beeinträchtigungen elementarer Persönlichkeitskomponenten 69 , können die Objektformel und die Grundentscheidungen der Verfassung für die Freiheit und Gleichheit des menschlichen Individuums lediglich als richtungsweisender Beurteilungsmaßstab für eine Verletzung des Art. 1 Abs. 1 GG herangezogen werden. Im Zentrum der Menschenwürde stehen letztlich zwei zentrale Komponenten, nämlich der Eigenwert des menschlichen Lebens, der als gegeben vorausgesetzt werden muss, sowie die Personalität des Menschen, die in seiner Leistung zur 62 Zur Objektformel siehe: Dürig, AöR 81 (1956), S. 127; ders., in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 1 Abs. 1, Rn 28. 63 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 355. 64 Vgl. hierzu: Graf Vitzthum, JZ 1985, S. 206 f. m. w. N.; Katz, Staatsrecht, Rn. 674. 65 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 355. 66 Vgl. Höfling, JuS 1995, S. 861; Benda, HBdVerfR, S. 166. 67 BVerfGE 30,1, [25 f.]. 68 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 358. 69 Höfling, JuS 1995, S. 862. 8*

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ie Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

Identitätsbildung zum Ausdruck kommt. Seinem Träger verleiht die Menschenwürde einen inneren und zugleich sozialen Wert-, Achtungs- und Schutzanspruch, der anknüpfend an die schlichte Tatsache menschlichen Lebens jedem einzelnen Lebewesen der Gattung „Mensch" um seiner selbst willen und im Verhältnis zu anderen Mitmenschen in gleichem Maße zukommt 70 . Gerade aus den historischen Erfahrungen heraus fordert der Menschenwürdesatz, die menschliche Identität und Integrität zu respektieren und wendet sich gegen alle Formen des Umgangs mit dem menschlichen Leben, bei denen sich die Missachtung seines Eigenwertes insbesondere in einer Negation der Subjektsqualität des menschlichen Individuums ausdrückt 71 . Folglich hat niemand die Kompetenz, selektive Kategorien über den „Wert" oder „Unwert" eines Menschen aufzustellen oder uneingeschränkt mit menschlichem Leben zu experimentieren. Demzufolge sind auch der Gentechnologie durch Art. 1 Abs. 1 GG enge Grenzen gezogen72. Denn auch dort, wo das menschliche Leben handlungs- oder willensunfähig und zur Leistung der Identitätsbildung außerstande ist, hat es einen besonderen Wert und muss deshalb auch respektiert, geachtet und geschützt werden. Die Garantie der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG reicht inhaltlich damit jedenfalls weiter, als alleine mit der Leistungstheorie begründet werden kann. Dies ist besonders im Hinblick auf den Schutz von schwerst- oder mehrfachbehinderten Menschen zu beachten.

b) Recht auf Leben und körperliche

Unversehrtheit

Dem Menschenwürdesatz besonders nahe steht das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Gerade weil dem menschlichen Leben ein unantastbarer Eigenwert zukommt, folgt aus Art. 1 Abs. 1 GG ein Gebot, die menschliche Identität und Integrität zu achten und zu schützen73. Als eigentlich selbstverständlich hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit keine Vorläufer in der deutschen Verfassungsgeschichte und muss ebenso wie der Menschenwürdesatz als unmittelbare Reaktion auf die Verbrechen der Nationalsozialisten verstanden werden 74. Vor diesem Hintergrund folgt aus Art. 1 Abs. 1 GG ein Bekenntnis zum grundsätzlichen Wert jedes Menschenlebens in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Menschenverachtenden Verletzungen der körperlichen Integrität in der Zeit des Nationalsozialismus, wie Zwangsversuchen, Zwangssterilisationen und Folterungen soll mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und seinem Menschen-

70

Katz, Staatsrecht, Rn. 674; zum Egalitätsgedanken in Art. 1 Abs. 1 GG siehe: Kirchhof, in: HBdStR, Bd. V, S. 881; Benda, HBdVerfR, S. 167. 7 1 Vgl. BVerfGE 30, 1, [26]. 72 Zum umfassenden Problemfeld der Gentechnologie siehe: Auer, FS Mikat, S. 19 ff.; Brohm, JuS 1998, S. 197 ff.; Benda, HBdVerfR, S. 179 ff. jeweils m. w. N. 73 Katz, Staatsrecht, Rn. 696; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 391. 74

Dürig, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 2 Abs. 2 GG, Rn. 8.

Β. Ergänzung des Grundgesetzes zugunsten behinderter Personen

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würdegehalt ebenso der Riegel vorgeschoben werden wie der Vernichtung „rassisch wertlosen" oder sonst „lebensunwerten" Lebens75. Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbietet insbesondere staatlich organisierten Mord sowie zwangsweise durchgeführte Experimente am Menschen und verleiht seinem Träger zunächst ein Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe in das Lebensrecht 76. Es enthält aber auch eine an den Staat gerichtete objektiv-rechtliche Verpflichtung, sich schützend und fördernd vor die in ihm genannten Rechtsgüter zu stellen, den Einzelnen also vor rechtswidrigen Eingriffen von dritter Seite zu bewahren 77. Mit dem Schutzgut „Leben" ist das „Lebendigsein" im Sinne biologisch-physischer Existenz gemeint, weshalb auf natürliche Zusammenhänge sowie einen naturwissenschaftlichen Lebensbegriff Bezug zu nehmen ist 78 . Demzufolge beginnt das Leben nicht erst mit der Geburt, sondern bereits mit der Befruchtung der Eizelle und endet mit dem Tod, welcher medizinisch als Hirntod, also als das endgültige Erlöschen aller Hirnströme definiert wird 7 9 . Im Zweifel über das Vorhandensein menschlichen Lebens spricht im Hinblick auf Art. 1 Abs. 1 GG vieles dafür, den Grundrechtsbegriff „Leben" sehr weit auszulegen80. Damit ist aber die Frage nach dem personellen Schutzbereich des Lebensgrundrechts nicht geklärt. Das Bundesverfassungsgericht hat bislang noch nicht entschieden, ob die Grundrechtsfähigkeit erst mit der Geburt einsetzt oder ob schon der Nasciturus Träger eines subjektiven Rechtes auf Leben ist 8 1 . Objektiv-rechtlich hat es aber bereits das werdende Leben dem Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG unterstellt 82. Schon der Gesichtspunkt möglichst effektiven Grundrechtsschutzes spricht dafür, den Nasciturus als Grundrechtssubjekt zu betrachten 83. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit schützt alle Träger des Lebensrechts in ihrer konkreten Körperlichkeit und muss sich damit auch auf das ungeborene Leben beziehen. Es steht allen Einwirkungen entgegen, welche die menschliche Gesundheit im biologisch-physiologischen Sinne beeinträchtigen, wozu auch die

75 Hansen/Jacobi/Lachwitz/Vater, in: VSSR 1992, S. 200. 76 BVerfGE 1,97 [104 f.]. 77 St. Rspr. seit BVerfGE 39, S. 1 ff. 78 Dürig, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 2 Abs. 2 GG, Rn. 9; Höfling, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 144. 79 Mit der wohl h.M. muss wegen der Möglichkeit einer Befruchtung außerhalb des Mutterleibes (sog. Retorte) das Leben schon mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle beginnen, vgl. Höfling, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 142 f., 145 m.w.N; zum Hirntod als Zeitpunkt des Todeseintritts: Rixen, ZRP 1995, S. 461 ff. so Höfling, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 145. 81 Höfling, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 145; Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 46 a. 82 Vgl. das 1. Fristenregelungsurteil zu § 218 StGB (i.d.F. vom 18. 6. 1974): BVerfGE 39, 1 [37]. 83 Dürig, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 2 Abs. 2, Rn. 21; Höfling, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 145.

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ie Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

Zufügung körperlicher Schmerzen zählt 84 . Da dieses Recht den jeweiligen „Ist-Zustand" der Körperlichkeit schützt, kann es selbstverständlich auch dann verletzt werden, wenn bereits eine körperliche Beschädigung vorhanden ist, wie es ζ. B. bei behinderten Menschen der Fall sein kann. Eine Verletzung des Grundrechts liegt insofern nicht nur bei eindeutig kriminellen gewaltsamen Ubergriffen vor, sondern kann gerade im Hinblick auf Menschen mit Behinderungen auch bei sog. „Heileingriffen" in Betracht zu ziehen sein, die bei diesem Personenkreis oft zwangsweise durchgeführt werden 85.

2. Die Menschenwürde und das Lebensrecht behinderter Personen in der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit Menschen mit Behinderungen sehen sich in der Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens immer wieder Angriffen auf ihre Menschenwürde und ihr Lebensrecht ausgesetzt. Ein Grund hierfür liegt in der Art und Weise begründet, wie ihnen nichtbehinderte Menschen im öffentlichen Leben gegenübertreten. Dabei müssen behinderte Personen allzu oft feststellen, dass ihnen soziale Wertschätzung und Achtung in der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht in gleichem Maße zukommt wie den nichtbehinderten Menschen.

a) Öffentlicher

Sprachgebrauch

Dies drückt sich bereits im öffentlichen Sprachgebrauch aus, der von behinderten Menschen vielfach als herabwürdigend betrachtet wird 8 6 . Die Kritik wendet sich dabei zunächst gegen die Stigmatisierung der Betroffenen, weil ihnen durch Bezeichnungen wie „Blinde", „Taube", „Geisteskranke" etc. das Gefühl vermittelt wird, ihre Persönlichkeit sei alleine auf solche Merkmale reduziert, die in der Bevölkerung als Defizite wahrgenommen werden. Hinzu kommt, dass im gesellschaftlichen Leben mit Begriffen aus dem Wortfeld der Behinderungen tendenziell eine Minderwertigkeit des Betroffenen assoziiert wird. Dies wird deutlich, indem Äußerungen wie „Krüppel", „Schwachsinniger", „Idiot" etc. in der Gesellschaft als geläufige Begriffe zur Kundgabe der Missachtung und zur Herabwürdigung gegenüber jedermann verwendet werden. Aber auch an dem Begriff des „Behinderten", der seit den 1970er Jahren herabsetzende Bezeichnungen wie „Krüppel" und „Invalide" ablöst, lässt sich feststellen, wie ein vermeintlich wertneutraler Begriff 84 BVerfGE 56, 54 [73 ff.]. 85 Köhler, SdL 1996, S. 389 erwähnt exemplarisch: die Zwangsbehandlung, die Zwangssterilisation, Zwangsabtreibungen bei geistig behinderten Frauen, plastische Chirurgie an Menschen mit Down-Syndrom und die Fesselung (Fixierung) geistig behinderter Menschen. 86 Siehe ausführlich: Zirden, „Worte können sein wie winzige Arsendosen", in: Strickstrock (Hrsg.), S. 135 ff.; Köhler, SdL 1996, S. 416 ff.

Β. Ergänzung des Grundgesetzes zugunsten behinderter Personen

119

durch lang tr&iierte, emotional negativ belegte Bedeutungselemente in der Gesellschaft eine schleichende Abwertung erfährt 87. So können schließlich auch scheinbar „gut gemeinte" Bezeichnungen eine Herabwürdigung behinderter Menschen bedeuten. Ein Beispiel hierfür ist die heutige „Aktion Mensch", welche unter dem Namen „Aktion Sorgenkind" zwar unbestritten in bester Absicht gegründet wurde, mit ihrer Namensgebung jedoch dazu beigetragen hat, behinderten Menschen im gesellschaftlichen Bewusstsein einen kindlichen Status zu verleihen, der überdies anderen Menschen „Sorgen" bereitet 88. Stigmatisierungen mögen zwar wegen der damit zum Ausdruck gebrachten Aberkennung der prinzipiellen Gleichheit von Menschen mit Behinderungen gegenüber allen anderen Menschen und der Negation der Subjektsqualität dieser Personen einen Bezug zur Menschenwürde aufweisen 89, sind andererseits jedoch nicht immer vermeidbar. Nicht allein im öffentlichen Sprachgebrauch muss ein gewisses Gruppen- bzw. „Schubladendenken" als wohl kulturell bedingt und üblich angesehen werden. Auch im rechtlichen Bereich sind Definitionen und Bezeichnungen im Rahmen der herkömmlichen Subsumtionstechnik für „die Juristen" unverzichtbar. Im normativen Anwendungsbereich des Art. 1 Abs. 1 GG wird der Schutzauftrag des Staates deshalb nur dann virulent, wenn ein gewisser Grad der Diffamierung erreicht ist und eine Herabwürdigung als strafrechtlich relevante Beleidigung das Persönlichkeitsrecht des behinderten Menschen verletzt 90 . Primär geht es aber nicht um einzelne verbale Entgleisungen, sondern um das gesamte Bild einer abwertenden und ablehnenden Haltung der nichtbehinderten Gesellschaft gegenüber Menschen mit Behinderungen, die im öffentlichen Sprachgebrauch ihren Ausdruck findet. Von daher hat es durchaus eine Berechtigung, wenn gerade von staatlichen Stellen eine besondere sprachliche Sensibilität im Umgang mit behinderten Menschen gefordert wird 9 1 . Dass dies möglich ist, zeigt sich schon daran, wie Staat und Gesellschaft vor dem Hintergrund des Verfassungsauftrages zur Gleichstellung von Mann und Frau 92 und unter dem Druck einer entsprechend starken Lobby außerordentlich darauf bedacht sind, einen korrekten „diskriminierungsfreien" offiziellen Sprachgebrauch einzuhalten.

87 Zirden, in: Strickstrock (Hrsg.), S. 136. 88 Köhler, SdL 1996, S. 419. 89 Vgl. Jarras/Pieroth, GG, Art. 1, Rn. 4. 90 Das allgemeine Persönlichkeitsrecht wird nicht alleine aus der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG, sondern insbesondere aus der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG hergeleitet; vgl. Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 60. 91 Köhler, SdL 1996, S. 421. 92 Art. 3 Abs. 2 GG wurde ebenfalls im Zuge der Verfassungsreform von 1994 ergänzt; hierzu ausführlich: Schweizer, Der Gleichberechtigungssatz - neue Form, alter Inhalt?, Berlin 1998.

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Kap.:

ie Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

b) Gewalt gegen Personen mit Behinderungen Wenn die Negation eines jeglichen sozialen Wert- oder Achtungsanspruchs in körperliche Gewalt gegenüber behinderten Menschen umschlägt, ist nicht nur das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, sondern auch die Menschenwürde in gravierender Weise betroffen. Insbesondere wenn Motiv und Ursache für gewaltsame Angriffe auf behinderte Menschen alleine deren Behinderung ist, drückt sich dadurch die Minderwertigkeit der Betroffenen im Bewusstsein der Täter mit zum Teil schwerwiegenden Folgen für die Opfer aus. Ein Zusammenhang zwischen der Behinderung einer Person und dem Angriff auf ihre körperliche Integrität lässt sich oftmals aufzeigen. So werden die kriminellen Motive der häufig sogar Pflegenden auf die Tendenz zurückgeführt, Menschen mit Behinderungen zu infantilisieren, ihnen verantwortliche Aufgaben zu entziehen und sie wie unmündige Kinder zu behandeln. Die Täter könnten dabei nicht nur von einer verminderten Widerstandsfähigkeit der Betroffenen, sondern auch von einem geringen Risiko der Strafverfolgung ausgehen. Die Opfer hätten nämlich eine allgemein geringere Bereitschaft zur Anzeige an ihnen verübter Straftaten und würden darüber hinaus wegen verschiedener Behinderungen im Strafverfahren oftmals als unzuverlässige Zeugen betrachtet 93. Gerade weil sie behindert sind, fühlen sich viele Personen auch in der Öffentlichkeit vor gewaltsamen Übergriffen nicht sicher 94. Wenn in Zeiten wirtschaftlicher Stagnation immer häufiger von solchen Vorfällen berichtet wird, so deutet dies auf eine abnehmende Toleranz- und Integrationsbereitschaft besonders in den Teilen der Bevölkerung hin, die selbst eine sozial schwache Gruppe bilden. Bei Menschen, die sich in wirtschaftlichen Existenzkrisen und Grenzsituationen befinden, scheint eine zunehmende Bereitschaft zu bestehen, sich von anderen, vermeintlich noch schwächeren sozialen Gruppen gewaltsam abzugrenzen. Die öffentliche Diskussion in Politik und Gesellschaft um notwendige Einsparungen im Sozialwesen droht von denjenigen als Rechtfertigung für eine „gewaltsame Problembeseitigung" missverstanden zu werden, die andere Personen aufgrund ihrer Behinderung als Belastung für die Gesellschaft und als „Schmarotzer" erkennen wollen 95 . Besonders von der betroffenen Personengruppe wird die zunehmende Gewaltbereitschaft gegenüber Menschen mit Behinderungen innerhalb der Gesellschaft mit Besorgnis verfolgt 96 . Ist nämlich eine Behinderung einziger Anlass für Gewalt und gesellschaftliche Ausgrenzung einer anderen Person, so zeigt dies auch, wie deren

93 Vgl. Köhler, SdL 1996, S. 415 m. w. N. 94 Siehe hierzu: Arnade, Deutschland im Herbst 1997: Gewalt hat viele Gesichter, in: Strickstrock (Hrsg.), S. 29 ff. 95 Köhler, SdL 1996, S 416. 96 Arnade, in: Strickstrock (Hrsg.), S. 29; Köhler, SdL 1996, S. 416.

Β. Ergänzung des Grundgesetzes zugunsten behinderter Personen

121

sozialer Wert- und Achtungsanspruch alleine über das Merkmal der „Behinderung" definiert wird.

c) Die besondere Situation behinderter Frauen Von einer Herabwürdigung und Ausgrenzung im gesellschaftlichen Bereich fühlen sich behinderte Frauen am stärksten betroffen. Zunächst sehen diese sich häufig schon auf Grund ihres Geschlechts im gesellschaftlichen Leben diskriminiert, wie auch hinsichtlich ihrer rechtlichen Stellung im deutschen Sozialsystem benachteiligt. Gerade im Bereich beruflicher Rehabilitation wird nämlich vielfach beklagt, dass diese zu sehr an „männlichen" Berufsbildern und Erwerbsbiographien orientiert sei und die spezifischen Belange behinderter Frauen, insbesondere in Bezug auf Kindererziehung und Familie, kaum berücksichtigt würden 97 . Eine Herabwürdigung der Betroffenen wird aber besonders im Rahmen der gesellschaftlich geprägten Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern beklagt. Im Gegensatz zu nichtbehinderten Frauen, denen alleine für ihren Beitrag zur Kindererziehung und Haushaltsführung Achtung und Anerkennung durch die Gesellschaft zukäme, werde behinderten Frauen die Erfüllung dieser Aufgaben oft gar nicht zugetraut. Oft bestünden gegen die Mutterschaft behinderter Frauen Vorurteile, da man befürchte, dass Frauen mit Behinderungen entweder selbst behinderte Kinder zur Welt brächten oder aufgrund der Behinderung unfähig zur Kindererziehung seien. Der natürliche Wunsch dieser Frauen nach Sexualität und Kindern werde deshalb häufig nicht nur missachtet, sondern auch mit Maßnahmen unterbunden, die von einer strikten Geschlechtertrennung in Heimen und Anstalten bis hin zur Zwangssterilisation der Betroffenen reichen 98. Gerade wenn sich behinderte Frauen „männlicher" Gewalt wie sexuellen Zudringlichkeiten, körperlichem Missbrauch oder Vergewaltigung ausgesetzt sehen, zeigt sich die abwertende Haltung gegenüber den Betroffenen in mehrfacher Hinsicht. Zu einer Herabwürdigung durch die Anwendung körperlicher Gewalt an sich kommt noch hinzu, dass behinderte Frauen in ihrer Betroffenheit nicht ernst genommen und als „Frauen zweiter Klasse" im gesellschaftlichen Bewusstsein schon gar nicht als potentielle Opfer sexueller Gewalt betrachtet werden 99.

97 Zur Situation behinderter Frauen im Erwerbsleben siehe: Karches/Kühn, Benachteiligung von Frauen mit geistiger Behinderung im Arbeitsleben, in: Strickstrock (Hrsg.), S. 120 ff.; Grießer, Über ihren Kopf hinweg - Frauen in der beruflichen Rehabilitation, ebenda, S. 125 ff.; Hermes, Die Stellung behinderter Frauen am Arbeitsplatz, in: Windisch/ Miles-Paul (Hrsg.), S. 21 ff. 98 Hierzu: Schopmans, Behinderte Frauen - eine diskriminierte Minderheit, in: Windisch/ Miles-Paul (Hrsg.), S. 11 ff.; Ρorr-Griffaton, Diskriminierung sehgeschädigter Mütter, ebenda, S. 17 ff. 99 Siehe hierzu: Bartz, Anja lacht nicht mehr, in: Strickstrock (Hrsg.), S. 128 ff.; Schopmans, Mit uns ist zu rechnen!, in: Heiden (Hrsg.), S. 93 ff.

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ie Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

Vor dem Hintergrund des staatlichen Gleichstellungsauftrages aus Art. 3 Abs. 2 GG und der besonderen Situation von Frauen mit Behinderungen in Deutschland wird deshalb gefordert, dass der Staat diesem besonders schutzbedürftigen Personenkreis seine besondere Aufmerksamkeit zukommen lässt.

3. Die Menschenwürde und das Lebensrecht behinderter Menschen in der wissenschaftlichen Diskussion Welche Probleme die Umsetzung der verfassungsrechtlichen Sollensordnung in die konkrete Lebensumwelt von Menschen mit Behinderungen bereiten kann, soll an einem Diskurs verdeutlicht werden, bei dem auch die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Menschenwürde und das Recht auf Leben eine tragende Rolle spielen.

a) Die (bio-)medizinische Konfliktlage Den Ausgangspunkt bildet der rasante technische Fortschritt in Biologie und Medizin in Bereichen, wo sich menschliches Leben erst entwickelt und dort, wo es endet. Je tiefer die Naturwissenschaftler in die Geheimnisse der menschlichen Evolution vordringen, desto größer werden auch die Zugriffsmöglichkeiten auf die Grundbedingungen menschlichen Lebens - seine Entwicklung wird beeinflussbar und bestimmbar. Werden menschliche Anlagen, welche das Personenhafte sowie die ganze Wesensmäßigkeit menschlichen Lebens maßgeblich beeinflussen, zum möglichen Gegenstand menschlicher Handlungsalternativen, gerät das technisch Machbare in Konflikt mit den traditionellen ethisch-philosophischen Standards und Werten aus Art. 1 Abs. 1 GG 1 0 0 . Dies betrifft nicht nur die Forschung mit menschlichem Erbgut und frühen Stadien menschlichen Lebens, sondern auch die Möglichkeiten der Erhaltung und Verlängerung menschlichen Lebens. Im Hinblick auf behindertes Leben geht es dabei beispielsweise um die Frage der Zulässigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen nach Feststellung einer drohenden Behinderung des Fötus im Wege pränataler Diagnostik oder der Zulässigkeit des Abbruchs lebenserhaltender Maßnahmen bei schwerstbehinderten Menschen. Hierbei offenbaren sich deutliche Widersprüche zum geltenden Verfassungsrecht, wenn im Rahmen des biologisch-medizinischen Fortschritts Selektionsmaßnahmen am Anfang und am Ende des menschlichen Lebens in Wissenschaft und Gesellschaft zunehmend offen diskutiert werden. Besonders aus der Sicht schwerst- und mehrfachbehinderter Menschen muss diese Diskussion nicht nur äußerst fragwürdig erscheinen, sondern ist auch geeignet, ihr Lebensrecht gänzlich in Frage zu stellen 101 . Insofern ist darzutun, wie dieser Diskurs um das Lebensloo Zu diesem Problemkreis: Brohm, JuS 1998, S. 197 ff.

Β. Ergänzung des Grundgesetzes zugunsten behinderter Personen

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recht behinderter Personen einen Prozess der wissenschaftlichen Abwertung behinderten Lebens befördert, der in eindeutigem Widerspruch zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben steht.

b) Die (bio-)ethische Problemlösung Die Schwierigkeiten, die bei der Herleitung und Begründung des obersten Verfassungsprinzips in Art. 1 Abs. 1 GG bestehen, bilden den Ansatzpunkt für ethische Lösungskonzepte, welche die neuen Handlungs- und Entscheidungsspielräume der Wissenschaft ethisch, moralisch und letztlich im Hinblick auf den Schutz der Menschenwürde verfassungsrechtlich absichern sollen. So werden unter dem Stichwort der Bioethik 102 im Bereich neuer Technologien wie der Gentechnik, der Humangenetik, der Fortpflanzungs- und Transplantationsmedizin auftretende ethische Problemstellungen im englischen Sprachraum bereits seit Ende der 1970er Jahre kontrovers diskutiert 103 . Insofern steht auch in Deutschland die sogenannte „Praktische Ethik" des australischen Bioethikers Peter Singer im Mittelpunkt der Debatte 104 . Dieser behauptet, das menschliche Leben sei als solches kein plausibler Wertträger. Schützenswert sei nur das Leben einer Person, die über bestimmte Eigenschaften verfüge, wozu vor allem die Fähigkeit zähle, Bewusstseinszustände zu erfahren. Für die Ermittlung der menschlichen Personalität werden Kriterien wie Rationalität, Autonomie, Selbstbewusstsein sowie Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Beziehungsfähigkeit herangezogen 105. Fehle dem menschlichen Leben danach dieser „positive Wert", so sei es nach Singer jedenfalls dann nicht zu erhalten, wenn nach bester Diagnose und Prognose nur ein Leben von Leid und Elend zu erwarten sei. Von diesen Theorien wird damit besonders das Lebensrecht behinderter Neugeborener in Frage gestellt und für deren „Sterbenlassen" offen eingetreten 106. Die bioethische Argumentation stellt aber nicht nur auf eine isolierte Betrachtung des Individuums ab, sondern geht auch auf dessen soziale Vernetzung ein, wobei eine extrem utilitaristische Betrachtungsweise im Vordergrund steht 107 . Mit der Annahme, das

ιοί Köhler, SdL 1996, S. 391. i° 2 Zur weiteren Unterscheidung zwischen Bioethik, die sich mit den Fragen alles Lebenden befasst und biomedizinischer Ethik, die sich nur auf den kranken Menschen beziehen soll; vgl. Kienle, ZRP 1996, S. 254. 103 Köbsell, Tödliche Diskriminierung, in: Heiden (Hrsg.), S. 148. 1 04 Singer, Praktische Ethik (im Org.: Practical Ethics, Cambridge 1979); zur Konto verse in Deutschland vgl. insbes. die Beiträge in: Bastian, Denken-Schreiben-Töten, Stuttgart 1990; Bruns/Penselin/Sierck, Tödliche Ethik, Hamburg 1990. i° 5 Singer, S. 136 ff., S. 233; hierzu: Köbsell, Tödliche Diskriminierung, in: Heiden (Hrsg.), S. 149 106 Siehe Kuhse/Singer, Muß dieses Kind am Leben bleiben? (im Org.: „Should the Baby Live? The Problems of Handicapped Infants" 1985)

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menschliche Leben habe erst dann eine Daseinsberechtigung, wenn es zum Wohlergehen aller beitrage, lassen sich eine Vielzahl vermeintlich vernünftiger Gründe finden, welche scheinbar geeignet sind, die Tötung eines Menschen ethisch-moralisch zu legitimieren. Neben dem „Leid und Elend" des Betroffenen wird auch das „Leid" der Angehörigen in dramatisch-emotionaler Weise in das Argumentationsschema eingestellt sowie auf die Kostenbelastung der Allgemeinheit durch die Pflege behinderter Menschen verwiesen 108 . Mit der Behauptung, die Tötung entspreche sowohl dem ureigensten Interesse des Betroffenen als auch dem der Allgemeinheit 109 , kommt diese Position über die Negation jeglichen Eigenwertes menschlichen Lebens im Falle der Nichtnachweisbarkeit der genannten Kriterien letztlich sogar zu einem „Handlungsgebot" zur Vernichtung von behinderten Menschen. Nun muss nicht in die ethisch-moralische Diskussion um die Begründungsdefizite und Unschlüssigkeiten dieser Theorien eingetreten werden, um die Gefahren bioethischer Wertvorstellungen für Menschen mit Behinderungen aufzuzeigen. Nach dem oben zu den ethisch-philosophischen Fundamenten unseres Grundgesetzes Gesagten muss schon die Forderung nach einem „positiven Wert" des menschlichen Lebens hellhörig machen. Letztlich verbirgt sich dahinter nichts anderes als der Versuch, selektive Kriterien für die Entscheidung über den Wert menschlichen Lebens auf der Erkenntnisebene von Erfahrungswissenschaften herzuleiten.

c) Die historische Erfahrung Nach den Erfahrungen der deutschen Vergangenheit muss sich angesichts der dargestellten Versuche, das ethisch-moralische Fundament des Grundgesetzes offen in Frage zu stellen, die Erinnerung an einen überwunden geglaubten Zeitgeist und dessen Folgen für schwerstbehinderte Menschen förmlich aufdrängen. Dieser Zeitgeist nimmt seinen historischen Ausgangspunkt mit der zunehmenden Bedeutung der Biowissenschaft im 19. Jahrhundert und kann namentlich auf Charles Darwin zurückgeführt werden, dessen Forschung einen gewissen „Domino-Effekt" in der Wissenschaft auslöste110. In seinem 1859 erschienenen Werk „Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl" bezieht sich der Naturforscher auf den „Kampf ums Dasein" in der Natur, spricht aber lediglich von „natürlicher Aus107

Der Begriff „Utilitarismus" (lat. utilis = nützlich) geht zurück auf ein gleichnamiges Werk von John S. Mill (1806-1873). Dabei steht das Ziel des „größtmöglichen Glücks für die größtmögliche Zahl" im Mittelpunkt einer zweckrationalen Ethik. 108 Singer, S. 117. 109 Kuhse/Singer: Muß dieses Kind am Leben bleiben?, S. 188 ff.; zum angesprochenen Interesse der Allgemeinheit ist hinzuweisen auf Singers „Totalansicht", vgl. Singer, S. 141, 161 f., 236 ff. no Siehe hierzu und zum Nachfolgenden ausführlichst: Klee, „Euthanasie" im NS-Staat, S. 15 ff.; Friedlander, Der Weg zum NS-Genozid, S. 27 ff.

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lese" schlecht angepasster Pflanzen und Tiere 111 . Diese Theorien wurden jedoch bald schon auf den Menschen übertragen und ermutigten die Natur- und Geisteswissenschaft, Hypothesen über die Ungleichheit der Menschen mit wissenschaftlichen Tatsachen zu belegen. So wurde beispielsweise medizinisch von den Gehirnmaßen auf die Intelligenz des Menschen geschlossen; damit sollte nicht nur die Überlegenheit des Mannes über die Frau wissenschaftlich bewiesen werden, sondern auch gewisse Wertunterschiede zwischen den menschlichen „Rassen" begründet werden. Der Schluss, die höherwertige und überlegene Existenz habe im Kampf ums Dasein über die der minderwertigen zu entscheiden, lag damit nahe und wurde insbesondere in Deutschland mit Friedrich Nietzsches missgedeuteten Werken philosophisch untermauert 112. Von Sozialdarwinisten und -utilitaristen wurde bereits zur Jahrhundertwende die Minderwertigkeit von Menschen mit schwersten körperlichen oder geistigen Defekten wegen ihrer Nutzlosigkeit und Schädlichkeit für die Gesellschaft diagnostiziert 113 . Die Sterilisation dieser Menschen sollte verhindern, dass sich krankes Erbgut fortpflanzt; ihr „Gnadentod" unter dem Stich wort der Euthanasie 114 sollte die natürliche Auslese herbeiführen. Der Einzug dieser Ideologien in die deutsche Rechtswissenschaft ist untrennbar mit dem Namen Karl Binding verbunden, der heute zu den renommiertesten Strafrechtswissenschaftlern der Weimarer Zeit zählt 115 . In seiner zusammen mit dem Psychiater und Neuropathologen Alfred E. Hoche im Jahre 1920 veröffentlichten Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens" negiert der Jurist „auf Grund bedächtiger rechtlicher Erwägungen" die Tötung unheilbar Kranker als „Tötungshandlung im Rechtssinne" 116 . Er propagiert den Ausschluss der „Defektmenschen" von der Fortpflanzung und führt Rentabilitätserwägungen gegen die Erhaltung von „Ballastexistenzen" an 1 1 7 . Unter der Herrschaft der Nationalsozialisten wurden Bindings Theorien 111 Unter dem engl. Titel: „On the origins of species by means of natural selection or the preservation of favoured races in the struggle for life" erschien das Buch am 24. 11. 1859 in London mit einer Auflage von 1250 Exemplaren. 112 Vgl. ζ. B. nur das bekannte Werk Nietzsches (1844 - 1900) „Also sprach Zarathustra" im Kapitel „vom freien Tode" (Lit.), S. 77 f.: „Mancher wird nie süß, er fault im Sommer schon. Feigheit ist es, die ihn an seinem Aste festhält. Viel zu viele leben und lange hängen sie an ihren Asten. Möchten Prediger kommen des schnellen Todes! Das wären mir die rechten Stürmer und Schüttler an Lebensbäumen! 113

Vgl. hierzu die umfangreiche Bibliographie bei: Beck, S. 18 ff. Der Begriff der Euthanasie (von griech.: „schöner Tod") meint ursprünglich die Sterbehilfe für unheilbar Kranke mit dem Ziel, ihnen ein qualvolles Ende zu ersparen; vgl. Mayers Taschenlexikon (Bd. 6), S. 264. 115 Karl Binding (1841-1920), Dr. iur. et phil., Professor der Rechte in Leipzig und Reichsgerichtspräsident, gilt als führender Vertreter des wissenschaftlichen Rechtspositivismus. 116 Binding /Hoche, Die Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, S. 17 f. 117 Binding /Hoche, S. 55. 114

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dann zum Gesetz, die Verfolgung und Tötung Schwerstbehinderter zur Realität. Eingeleitet wurde die Ausgrenzung schwerstbehinderter Menschen mit den Eugenikgesetzen der NS-Zeit, insbesondere dem sog. Sterilisationsgesetz von 1933, das die Zwangssterilisation für Patienten mit bestimmten Geisteskrankheiten und körperlichen Gebrechen vorschrieb 118 , sowie dem sog. Ehegesundheitsgesetz von 1935, das Eheschließungen angeblich Erbkranker verhindern sollte 119 . Die Propaganda um die „Rassenhygiene" und die Verlegung behinderter Menschen aus kirchlichen in staatliche Anstalten bereiteten das staatliche Euthanasieprogramm vor, das mit Hitlers Ermächtigung vom Oktober 1939 durch eine geheime staatliche Euthanasie-Verwaltung mit Sitz in der Tiergartenstraße 4, Berlin-Charlottenburg (die sog. „T 4") koordiniert wurde. In staatlichen „Krankenanstalten" 120 wurden zunächst behinderte Kinder getötet, arbeitsfähige Erwachsene in den Konzentrationslagern erst nach „Verbrauch" der „Sonderbehandlung 14 f 13" zugeführt 121 . Neben der Exekution durch Erschießen wurden unzählige behinderte Menschen in den sog. Gaswagen grausam erstickt und dienten so als Versuchsobjekte für die späteren Massenvergasungen von Juden. Im Dritten Reich fielen auf diese Weise der sog. „Aktion Τ 4", die nach einer Intervention der Kirchen ab August 1941 nur noch unter strengster Geheimhaltung fortgeführt wurde, insgesamt etwa 100.000 behinderte Menschen zum Opfer 122 .

I I . Rechtsgeschichtliche und rechtspolitische Aspekte Aus rechtshistorischer und rechtspolitischer Sicht sind bezüglich der Forderung nach einer Grundgesetzänderung zugunsten behinderter Personen besonders zwei unterschiedliche Aspekte anzuführen. Im Hinblick auf die alte Bundesrepublik findet diese Forderung besonders in der Rechtsprechung der Zivilgerichte einen konkreten historischen Ansatzpunkt. Dies kann nur sehr bedingt auch für die neuen Bundesländer gelten, da die besagte Zivilrechtsprechung das Rechtssystem der us Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. 7. 1933 (RGBl. I, S. 529); alleine in den Jahren 1934-1936 wurden daraufhin mehr als 170 000 Zwangssterilisationen durchgefühlt, vgl. die Tabellen und Nachweise bei Friedlander, S. 68 ff. h 9 Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes vom 18. 10. 1935 (RGBl. I, S. 1246). ι 2 0 Grafeneck in Württemberg, Brandenburg an der Havel, Hartheim bei Linz, Sonnenstein in Pirna (Sachsen), Bernburg an der Saale (Provinz Sachsen), Hadamar in Hessen. 121 Die „Sonderbehandlung" war seit 1939 bei der Geheimen Staatspolizei das übliche Wort für Exekution; „14 f 13" das Aktenzeichen des Inspekteurs der Konzentrationslager beim Reichsführer der SS, vgl. Klee, S. 345. 122 Insbesondere auf die Intervention einiger Bischöfe bei den zuständigen Reichsministern hin wurde das Τ 4-Programm ab dem 24. 8. 1941 offiziell gestoppt, vgl. Klee, S. 333 ff.; nach dem offiziellen Euthanasiestopp verlieren sich genaue Opferzahlen unter der Massenvernichtung in den KZ's; zu den etwa 70 000 Opfern alleine in den staatlichen Euthanasiezentren: vgl. Friedlander, S. 190.

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ehemaligen DDR erst ab dem Zeitpunkt der Wiedervereinigung prägte. Vielmehr herrschten im Sozialismus ganz andere Verhältnisse im Umgang mit behinderten Personen im gesellschaftlichen Leben. So ist es gerade der Ubergang vom Sozialismus zur sozialen Markwirtschaft, der aus Sicht der Bürger in den neuen Bundesländern zur Wahrung der sozialistisch geprägten „DDR-Identität" eine (verfassungs-)-rechtliche Absicherung der Rechte sozial schwacher Bevölkerungsgruppen wie Menschen mit Behinderungen erforderte. Diese politischen Motive finden nicht zuletzt Ausdruck in der Aufnahme zahlreicher „sozialer Rechte" zugunsten behinderter Personen in den Verfassungen der neuen Länder.

1. Die Rechtsprechung der Zivilgerichte in der alten Bundesrepublik - insbesondere die Entscheidungen zum Reisevertragsrecht Obschon der Staat die (sozial-)rechtliche Stellung behinderter Personen in der Bundesrepublik seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges stetig verbesserte, zeigte sich aus Sicht der Betroffenen die Rechtsprechung auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts zunehmend behinderten-unfreundlich. So wurden nach der Rechtsprechung des BGH beispielsweise geistig Schwerbehinderte Personen lange Zeit nicht als gleichwertig Berechtigte im Hinblick auf einen Schmerzensgeldanspruch gem. § 847 BGB angesehen123. Bis zum Jahr 1992 vertrat man am BGH die Auffassung, dass wegen der eingeschränkten Wahrnehmungsfähigkeit dieser Menschen das Schmerzensgeld seine Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion nicht voll erfüllen könne, da die Betroffenen den Zusammenhang von schädigender Handlung und Schmerzensgeldzahlung nicht erkennen könnten 124 . Der eigentliche Anlass, der schon früh zur Forderung einer Gesetzesänderung zur Verhinderung der Ausgrenzung behinderter Menschen im gesellschaftlichen Leben führte, ist allerdings in einigen Zivilurteilen zum Reisevertragsrecht zu finden 1 2 5 . Im Mittelpunkt steht dabei das sog. Behindertenurteil des Landgerichts Frankfurt, das Anfang der 1980er Jahre großes Aufsehen in der Öffentlichkeit erregte sowie ein Urteil des Amtsgerichts Flensburg aus dem Jahr 1992. Bereits in einem Urteil des Amtsgerichts Frankfurt von 1977 wurde einer Klägerin eine 60-prozentige Minderung des Reisepreises für eine dreiwöchige Pauschales BGH, NJW 1976, S. 1147, bestätigt durch BGH, NJW 1982, S. 2123. Zur Entwicklung der Rechtsprechung des BGH siehe ausführlich: Hagmann, S. 91 ff.; Köhler, SdL 1996, S. 413. 124 Vgl. BGH, NJW 1976, S. 1148; durch das Urteil des BGH vom 13. 10. 1992 (NJW 1993, S. 781) wurde jedoch ausdrücklich von dieser Rechtsprechung Abstand genommen. 125 Scholler, JZ 1980, S. 677 forderte als erster eine Ergänzung des Reisevertragsrechts um ein Diskriminierungsverbot zugunsten behinderter Personen.

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reise auf die griechische Insel Euböa zugesprochen 126. Sie rügte dabei unter anderem den Umstand, dass eine Gruppe von ca. 25 körperlich und geistig behinderten Personen täglich für etwa drei Stunden den Swimmingpool des Hotels in Anspruch nahm und einige Personen aus der Gruppe dabei des Öfteren ins Badewasser erbrachen. Überdies rügte die Klägerin, dass die behinderten Personen bei der Einnahme der Mahlzeiten im gemeinsamen Speisesaal teilweise gefüttert werden mussten, dass sie dabei mitunter auf den Tisch erbrachen und gelegentlich auch während der Mahlzeit urinierten 127 . Das Gericht stellte hinsichtlich der Beeinträchtigung durch die Gruppe behinderter Personen zwar fest, dass der bloße Anblick behinderter Menschen keinen Minderungsanspruch begründen könne. Das Erbrechen ins Badewasser und die unangenehme Atmosphäre bei den Mahlzeiten stelle jedoch eine erhebliche Störung des Urlaubsgenusses und damit einen Mangel im Sinne des Reisevertragsrechts dar 1 2 8 . In dem besagten sog. Behindertenurteil von 1980 ging es um die gleiche Gruppe behinderter Personen im gleichen Hotel, jedoch um eine andere Mitreisende, der das Landgericht Frankfurt eine Minderung des Reisepreises zusprach 129. Die Vorinstanz hatte bereits die in Höhe von 50 % beantragte Minderung allein wegen zahlreicher Mängel im Hotelbetrieb zugestanden und dabei die rechtliche Einordnung der Anwesenheit der Reisegruppe dahinstehen lassen 130 . Zwar bestätigte die 24. Berufungskammer den Minderungsanspruch in gleicher Höhe, bezog dabei jedoch den Aufenthalt der fraglichen Gruppe behinderter Menschen ausdrücklich mit ein. Dazu führte es aus, dass die Anwesenheit einer Gruppe von Schwerbehinderten einen Reisemangel begründet, da sie bei „empfindsamen Menschen" eine Beeinträchtigung des Urlaubsgenusses verursacht. Dies gelte jedenfalls dann, wenn es sich um „verunstaltete geistesgestörte Menschen" handele, die keiner Sprache mächtig seien, von denen der eine oder andere in unregelmäßigem Rhythmus unartikulierte Schreie ausstoße und gelegentlich Tobsuchtsanfälle bekäme 131 . Obschon beide Urteile etwa zur gleichen Zeit veröffentlicht wurden, löste lediglich das Urteil des Landgerichts große Empörung und Diskussionen in der Öffentlichkeit aus, die in einer öffentlichen Protestveranstaltung in Frankfurt mit 5000 Teilnehmern gipfelten 132 . In der Rechtswissenschaft nahm man an der früheren 126 Urteil vom 8. 12. 1977 - Hö 3b C 2579/76 - , abgedruckt in NJW 1980, S. 1965. 127 AG Frankfurt, NJW 1980, S. 1965. 128 Das Urteil stützte sich dabei auf die §§ 633, 634 BGB, da die §§ 651a ff. BGB erst zum 1. 10. 1979 in Kraft traten. 129 Urteil vom 25. 02. 1980 - 2724 S 282/79 - , abgedruckt in: NJW 1980, S. 1169 f.; hierzu: Schollen JZ 1980, S. 672 ff.; Brox, NJW 1980, S. 1939 f. 130 Vgl. Brox, NJW 1980, S. 1939. 131 LG Frankfurt, NJW 1980, S. 1940; kritisch zur „ästhetischen" Störung durch behinderte Menschen als Mangel: Scholler, JZ 1980, S. 674; ablehnend auch Brox, NJW 1980, S. 1170. 132 Vgl. Die Zeit, Nr. 20/1980, S. 13; DER SPIEGEL, Nr. 18/1980, S. 10; SZ vom 04. 07. 1982, S. 52; FAZ vom 23. 4. 1980, S. 9. .

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Entscheidung des Amtsgerichts ebenfalls kaum Anstoß 133 , stritt sich allerdings umso heftiger um das Urteil des LG Frankfurt 134 . Im Jahre 1992 wurde die Erinnerung an die Frankfurter Urteile durch eine ähnliche Entscheidung des Amtsgerichts Flensburg aufgefrischt, die wiederum großes Aufsehen in der Öffentlichkeit erregte 135 . In diesem Urteil sprach das Gericht den Klägern, einem Ehepaar mit zwei Kleinkindern, eine Minderung des Reisepreises um 10 % zu 1 3 6 . Im Unterschied zu den Frankfurter Entscheidungen begründete es das Vorliegen eines Reisemangels i. S. d. § 651 c BGB alleine mit der gleichzeitigen Anwesenheit von zehn zum Teil an Rollstühle gebundenen Schwerstbehinderten im gleichen Hotel. Dazu stellte es zunächst fest, dass die meisten von dieser Gruppe das Essen nicht in „normaler Weise" einnehmen konnten, sondern bei der Einnahme der gemeinschaftlichen Mahlzeiten im Speisesaal u. a. auch mit einem spritzenähnlichen Instrument gefüttert werden mussten. Darin sah das Gericht das Wohlbefinden der Kläger und ihrer Kinder stark beeinträchtigt, denn „der unausweichliche Anblick einer Gruppe behinderter Personen verursachte Ekel und erinnerte ständig in einem ungewöhnlich eindringlichen Maße an die Möglichkeiten menschlichen Leids". In der Zeit der Verfassungsdiskussion nach der Wiedervereinigung stellte besonders das Urteil des Amtsgerichts Flensburg ein schlagkräftiges Argument dar, das die Forderung nach einer Besserstellung behinderter Menschen im (Verfassungs-)Recht politisch untermauerte.

2. Die besonderen Vorschriften zugunsten behinderter Personen in den Verfassungen der neuen Bundesländer Im Zeitraum der Beratungen über die Reform des Grundgesetzes wurden die Verfassungen der fünf neuen Bundesländer erlassen. Entscheidende Impulse für die Reform des Grundgesetzes gingen deshalb auch von den Verfassungsdiskussionen in den Parlamenten der neuen Bundesländer aus. In den Ländern der ehemaligen DDR gaben sich die Bürger durchweg Verfassungen, in denen nicht nur die

!33 Brox, NJW 1980, S. 1940 führt dies darauf zurück, dass im Parallelurteil des Amtsgerichts klarer zum Ausdruck kommt, welche konkreten Störungen von dieser Reisegruppe ausgingen. 134

Besonders Dürig wandte sich vehement und wortgewaltig gegen die Ansichten von Scholler und Brox, was darin gipfelte, dass dieser „den Kollegen" eine gemeinsame Reise auf die Insel Euböa zusammen mit Maunz als „unverwüstlich Gesunden" vorschlug (vgl. Dürig, in: FS Maunz, S. 42). 135 Urteil vom 27. 8. 1992 - 63 C 265/92 - , abgedruckt in: NJW 1993, S. 272; zu einzelnen Reaktionen in der Öffentlichkeit siehe die Nachweise bei: Hagmann, S. 55. 136 Urteil vom 27. 8. 1992 - 3 Ο 567/91 - , abgedruckt in: NJW 1993, S. 272. 9 Straßmair

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Freiheitsrechte des Einzelnen, sondern gerade auch soziale Grundrechte eine bedeutende Rolle spielten 137 . So enthält die Verfassung des Freistaates Sachsen, die der Landtag am 26. 5. 1992 beschloss138, in Art. 7 Abs. 2 eine Staatszielbestimmung zugunsten behinderter Menschen mit folgendem Wortlaut: „Das Land bekennt sich zur Verpflichtung der Gemeinschaft, alte und behinderte Menschen zu unterstützen und auf die Gleichwertigkeit ihrer Lebensbedingungen hinzuwirken. " Die am 16. 7. 1992 vom Landtag beschlossene Verfassung des Landes SachsenAnhalt enthält in Art. 38 ein Staatsziel mit dem Inhalt: „ Altere Menschen und Menschen mit Behinderungen stehen unter dem besonderen Schutz des Landes. Das Land fördert ihre gleichwertige Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft. " Eine ähnliche Bestimmung ist auch in der Verfassung des Freistaates Thüringen zu finden, die auf einem Landtagsbeschluss vom 25. 10. 1993 und einem nachfolgenden Volksentscheid vom 16. 10. 1994 beruht 139 . Dort heißt es bereits in Art. 2 Abs. 4: „Menschen mit Behinderungen stehen unter dem besonderen Schutz des Freistaats. Das Land und seine Gebietskörperschaften fördern ihre gleichwertige Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft. " Ebenso in Form einer Staatszielbestimmung regelt die auf den Beschluss des Landtags vom 14. 5. 1993 und den Volksentscheid vom 12. 6. 1994 zurückgehende 1 4 0 Verfassung von Mecklenburg-Vorpommern in Art. 17 Abs. 2: „Land, Gemeinde und Kreise gewähren alten und behinderten Menschen besonderen Schutz. Soziale Hilfe und Fürsorge dienen dem Ziel, das Leben gleichberechtigt und eigenverantwortlich zu gestalten. " Zahlreiche Bestimmungen zugunsten von Menschen mit Behinderungen enthält schließlich die Landesverfassung von Brandenburg, die am 14. 4. 1992 vom Landtag und am 14. 6. 1992 durch Volksabstimmung von den Bürgern des Landes beschlossen wurde 141 . Neben einem Recht auf gleichen Zugang zu öffentlichen Bildungseinrichtungen gemäß Art. 29 Abs. 3 Satz 2 und auf besonderen Kündigungsschutz gemäß Art. 48 Abs. 4 sowie zwei Staatszielbestimmungen zur sozialen Sicherheit in Art. 45 Abs. 1 und Abs. 3 enthält die brandenburgische Landesverfassung in ihrem Grundrechtsteil zwei besonders zu erwähnende Regelungen zugunsten behinderter Personen. In Anlehnung an Art. 3 Abs. 3 GG a.F. enthält Art. 12 Abs. 2 einen besonderen Gleichheitssatz folgenden Inhalts: „Niemand darf wegen seiner Rasse, Abstammung, Nationalität, Sprache, seines Geschlechts, seiner sexuellen Identität, seiner sozialen Herkunft oder Stellung, seiner Behinderung, seiner religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung bevor137

Zu den sog. sozialen Grundrechten vgl. oben: 2. Kap., Teil A, I, 2. 138 GVB1. vom 5. 6. 1992, S. 243. 139 GVB1. vom 29. 10. 1993, S. 625; GVB1. vom 16. 10. 1994, S. 1194. 140 GVB1. vom 23. 05. 1993, S. 372; GVB1. 1994, S. 811. 141 GVB1.1 S. 122, berichtigt: S. 139; GVB1.1 vom 28. 8. 1992, S. 298.

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zugt oder benachteiligt werden. " In Art. 12 Abs. 4 heißt es dann weiter: „Das Land, die Gemeinden und Gemeindeverbände sind verpflichtet, für die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne Behinderungen zu sorgen."

I I I . Außenpolitische und rechtsvergleichende Aspekte Seitdem das Grundgesetz im Mai 1949 in Kraft getreten ist, hat sich -bedingt durch zahlreiche völkerrechtliche Bindungen- die außenpolitische Stellung der Bundesrepublik Deutschland stark verändert. In diesem Zusammenhang bezog sich der Reformbedarf des Grundgesetzes aber nicht nur auf Vorschriften, welche die Einbindung der Bundesrepublik in völkerrechtliche Verträge und staatsorganisatorische Fragen der Zusammenarbeit in Europa regelten 142 . Vielmehr hatte sich die GVK mit der Frage zu befassen, ob die Veränderungen der überstaatlichen und außerstaatlichen Rechtslage bei einer Reform des Grundgesetzes auch im Hinblick auf die Inhalte einzelner Gewährleistungen zugunsten der Bürger berücksichtigt werden mussten. Im Zusammenhang mit der Forderung nach der Aufnahme des Behindertenschutzes ins Grundgesetz stellten deshalb sowohl die zahlreichen Verpflichtungen der Bundesrepublik im Rahmen zwischenstaatlicher Verträge als auch die außerstaatlichen Rechtsentwicklungen in den Verfassungen anderer Länder gewichtige (verfassungs-)politische Argumente dar, die eine solche Forderung stützen konnten; denn zahlreiche Vorschriften aus diesen zwischen- und überstaatlichen Regelwerken widmen sich ausdrücklich den Rechten behinderter Personen.

1. Regelungen im Völkerrecht und im europäischen Gemeinschaftsrecht a) Völkerrecht Im Bereich völkerrechtlicher Vereinbarungen ist besonders auf verschiedene Regelwerke der Vereinten Nationen (UN) hinzuweisen, an die die Bundesrepublik Deutschland als Mitglied dieser internationalen Organisation gebunden ist 1 4 3 .

142 An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass Art. 23 GG a.F., der den Geltungsbereich des Grundgesetzes sowie dessen Inkrafttreten in beitretenden Teilen Deutschlands regelte, aufgrund von Art. 4 des EinigungsV bereits im September 1990 aufgehoben wurde. Seitdem regelt Art. 23 GG das Verhältnis der Bundesrepublik zur Union sowie die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in diesem Bereich. 143 Die Bundesrepublik Deutschland ratifizierte die Charta der Vereinten Nationen im Jahre 1973 (BGBl. II, S. 430); siehe auch Ipsen, Staatsorganisationsrecht, Rn. 1153 ff.

9*

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Dabei ist zunächst das Übereinkommen Nr. 159 aus dem Jahr 1983 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), einer Sonderorganisation der UN, anzuführen 1 4 4 . Dieses Abkommen zielt auf die berufliche Rehabilitation behinderter Menschen und verpflichtet die Bundesrepublik Deutschland, die Rechte und Chancengleichheit behinderter Personen durch geeignete Maßnahmen zur Rehabilitation sicherzustellen 145. Weiterhin enthält das Übereinkommen über die Rechte des Kindes aus dem Jahr 1989 Regelungen zugunsten geistig und körperlich behinderter Kinder 146 . In Artikel 23 dieses Abkommens bekennen sich die Mitgliedstaaten der UN nicht nur zum Anspruch behinderter Kinder auf ein menschenwürdiges Leben, sondern erkennen überdies deren Rechte auf staatliche Unterstützung durch eine besondere Betreuung sowie auf staatliche Förderung der aktiven Teilnahme am Leben der Gemeinschaft an. Schließlich ist auf eine Erklärung der Generalversammlung der UN besonders hinzuweisen, die in den Zeitraum des Gesetzgebungsverfahrens zur Grundgesetzänderung fiel 147. Diese Resolution über die Rahmenbestimmungen für die Herstellung der Chancengleichheit fir Behinderte 1** vom Dezember 1993 enthält in ihrer Anlage umfangreiche Regelungen, welche die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen am Leben in der Gemeinschaft betreffen. Dort werden u. a. die Sensibilisierung der Allgemeinheit sowie die Gewährleistung einer wirksamen medizinischen Versorgung und Rehabilitation als Voraussetzungen für eine gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen genannt 149 . Als Ziele werden insbesondere die Gestaltung einer behindertengerechten Umwelt, die Förderung von Bildung und Beschäftigung behinderter Menschen sowie die Förderung der Teilhabe im sozialen Bereich wie ζ. B. im kulturellen und religiösen Bereich festgeschrieben 150. Im Unterschied zu dieser UN-Resolution, die lediglich empfehlenden Charakter hat, sind die genannten Übereinkommen mit ihren jeweiligen Inhalten für die Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich verbindlich. Allerdings werden damit dem deutschen Staat nur allgemeine Ziele vorgegeben, die er letztlich in eigener Entscheidung umzusetzen hat. Die Art und Weise dieser Umsetzung bleibt also alleine dem Staat, besonders der innerstaatlichen Gesetzgebung überlassen.

144 in der Bundesrepublik ratifiziert im Jahre 1989 (BGBl. II, S. 2 ff.). 145 Nach Teil II, Art. 2 - Art. 4 des Abkommens. 146 BGBl. II (1992), S. 121 ff. 147 Bereits im Jahre 1982 verabschiedete die Generalversammlung ebenfalls mit einer Resolution das sog. Weltaktionsprogramm für Behinderte; hierzu: Dürig, FS Maunz, S. 39 ff.; Herdegen, VSSR 1992, S. 254. 148 A/RES/48/96. 149 Nach den Bestimmungen 1 - 4 in Teil I. 150 Vgl. Teil I I der Anlage, Bestimmungen 5 - 12.

Β. Ergänzung des Grundgesetzes zugunsten behinderter Personen

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b) Europarecht Im Recht der Europäischen Union finden sich mehrere Rechtsquellen, die sich ganz oder teilweise dem Schutz behinderter Personen annehmen. Das in seiner Tragweite für die Mitgliedstaaten wichtigste Abkommen stellt die Europäische Sozialcharta von 1961 dar, die sich den Rechten behinderter Personen an zwei Stellen annimmt 151 . In ihrem Teil I werden Rechte und Grundsätze benannt, auf deren Verwirklichung mit geeigneten Maßnahmen hinzuwirken die Vertragsstaaten verpflichtet sind. Unter Nr. 15 findet sich das Recht jedes behinderten Menschen „auf berufliche Ausbildung sowie auf berufliche und soziale Eingliederung oder Wiedereingliederung ohne Rücksicht auf Ursprung und Art seiner Behinderung. " Konkretisiert wird diese Verpflichtung weiter im Teil II der Charta, nach dessen Art. 15 sich die Vertragsstaaten zur Gewährleistung einer wirksamen Ausübung dieses Rechts behinderter Personen verpflichten, „(I) geeignete Maßnahmen zu treffen für die Bereitstellung von Ausbildungsmöglichkeiten, erforderlichenfalls unter Einschluß von öffentlichen oder privaten Sondereinrichtungen " und darüber hinaus „(2) geeignete Maßnahmen zu treffen für die Vermittlung Behinderter auf Arbeitsplätze, namentlich durch besondere Arbeitsvermittlungsdienste, durch Ermöglichung wettbewerbsgeschützter Beschäftigung und durch Maßnahmen, die den Arbeitgebern einen Anreiz zur Einstellung von Behinderten bietenNormadressat dieser Vorschriften ist stets der Staat, der mit seiner Gesetzgebung die konkret zu treffenden Maßnahmen erst ins geltende nationale Recht umzusetzen hat. Auf einige Entschließungen des Rates zugunsten von Menschen mit Behinderungen soll wegen ihres nur empfehlenden Charakters für die Mitgliedstaaten der EU an dieser Stelle lediglich hingewiesen werden. Bereits im Jahre 1974 wurde vom Rat eine „Entschließung über ein gemeinschaftliches Aktionsprogramm zur beruflichen Rehabilitation von Behinderten" verabschiedet 152. Ihr folgten zwei Entschließungen „ über die soziale Integration von Behinderten " aus den Jahren 1981 und 1987 153 . Hinzuweisen ist schließlich auch auf die im Jahre 1989 von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten angenommene Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer 154. Diese enthält im Titel I unter Nr. 26 eine Bestimmung, die sich der Förderung beruflicher und sozialer Eingliederung behinderter Personen widmet. Auf die jüngsten Änderungen im Recht der Europäischen Union und auf ihren Zusammenhang mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG wird an späterer Stelle noch zurückzukommen sein. 151 Die Europäische Sozialcharta wurde in der Bundesrepublik am 19. 9. 1996 ratifiziert (BGBl. II, S. 1261 ff.). 152 Vom 9. 7. 1974, Abi. Nr. C 80, S. 30.

153 Vom 31. 12. 1981, Abi. Nr. C 347, S. 1; vom 31. 12. 1987, Abi. Nr. C 354, S. 1. 154 Dokumente der Kommission (KOM) 1989, S. 248 ff.

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2. Internationales Verfassungsrecht Für die Beratungen in der GVK spielte der Umstand eine gewisse Rolle, dass sich in den Verfassungen anderer Staaten Regelungen zum Behindertenschutz finden lassen, die als Vorbild für die Aufnahme einer besonderen Vorschrift zugunsten behinderter Personen in das Grundgesetz herangezogen werden konnten 155 . Aus dem Bereich der EU-Mitgliedstaaten sind in diesem Zusammenhang die Verfassungen von Griechenland, Portugal und Spanien zu nennen. So ist in Art. 21 Abs. 2 der Griechischen Verfassung eine besondere Fürsorgepflicht des Staates „für die an unheilbaren körperlichen oder geistigen Krankheiten Leidenden u verankert. In Art. 71 Abs. 1 der Verfassung Portugals wird zunächst ausdrücklich bestätigt, dass körperlich und geistig behinderten Bürgern grundsätzlich alle in der Verfassung verankerten Rechte und Pflichten zukommen; in Abs. 2 des gleichen Artikels verpflichtet sich der portugiesische Staat, eine Politik der Vorsorge und Behandlung, der Rehabilitation und Resozialisierung von behinderten Menschen zu verfolgen. Eine ähnliche Bestimmung findet sich in Art. 49 der spanischen Verfassung innerhalb der Leitprinzipien der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Neben einer Politik der Vorsorge, Behandlung, Rehabilitation und Eingliederung verpflichtet sich der spanische Staat, behinderten Personen besonderen Schutz bei der Inanspruchnahme ihrer Grundrechte zu gewährleisten. Besondere Vorschriften, die sich der Rechtsstellung behinderter Menschen widmen, enthalten auch die Verfassungen einiger Staaten auf dem amerikanischen Kontinent. Im lateinamerikanischen Bereich ist die kolumbianische Verfassung von 1991 anzuführen, die den Staat in Art. 47 zu einer Politik der Fürsorge, Rehabilitation und sozialen Integration für behinderte Personen verpflichtet. Die brasilianische Verfassung aus dem Jahre 1988 enthält einen ausführlichen Katalog sozialer Grundrechte, unter denen sich im Abschnitt über die sog. Grundrechte der Arbeiter in Art. 7 Abs. 30 f. ein Verbot der Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Rasse, Alter oder Behinderung findet 156. Von den nordamerikanischen Staaten verdient die Verfassung Kanadas aus dem Jahre 1982 besondere Erwähnung 157 . In ihrem Grundrechtsteil, der Canadian Charta of Rights and Freedoms, ist in Art. 15 Abs. 1 ein ausdrückliches Verbot der Diskriminierung aufgrund bestimmter persönlicher Eigenschaften verankert, zu denen auch das Merkmal einer Behinderung zählt. Der folgende Abs. 2 stellt dabei jedoch klar, dass dieses Diskri-

155 So ist die folgende Darstellung im Wesentlichen einem Gutachten des Bonner Staatsrechtlers Matthias Herdegen entnommen, das auch den Beratungen in der GVK zugrunde lag; hierzu: Herdegen, in: VSSR 1992, S. 253 f. 156 Ausführlich zu den sog. sozialen Grundrechten in der brasilianischen Verfassung: Sarlet, S. 130 ff. 157 Demgegenüber dient dem Schutz behinderter Bürger der Vereinigten Staaten ein AntiDiskriminierungsgesetz („Americans with Disabilities Act" von 1990), auf das an späterer Stelle noch zurückzukommen sein wird.

C. Der Weg bis zum Inkrafttreten des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

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minierungsverbot kein Hindernis für öffentliche Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen behinderter Menschen darstellt.

C. Der Weg bis zum Inkrafttreten des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG Obschon von den Betroffenen zahlreiche Gründe für die Verankerung einer besonderen Vorschrift zum Schutz behinderter Menschen im Grundgesetz angeführt werden konnten, war die Durchsetzung dieser Forderung im Verfahren zur Verfassungsänderung äußerst schwierig. Nunmehr soll dieser lange Weg bis zum Inkrafttreten des neuen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG dargestellt werden.

I. Die Alternativen zur Verfassungsergänzung In den Beratungen der GVK hatte man sich nicht nur mit der Frage auseinanderzusetzen, ob der Schutz behinderter Menschen überhaupt mit einer besonderen Verfassungsvorschrift in das Grundgesetz aufgenommen werden sollte. Vielmehr war zunächst unklar, in welcher Art und Weise der Forderung nach einer Verbesserung der verfassungsrechtlichen Stellung behinderter Personen im wiedervereinigten Deutschland mit einer Reform des Grundgesetzes Rechnung getragen werden konnte. So hatte sich die GVK in ihren Sitzungen und Beratungen mit einer Vielzahl konkreter Gestaltungsvorschläge für eine Verfassungsänderung zu befassen. Die Vorschläge, wie man den Schutz behinderter Personen im Grundgesetz festschreiben konnte, liefen im Wesentlichen auf zwei unterschiedliche Arten der Ausgestaltung hinaus. Diese wurden in einem Gutachten des Bonner Staatsrechtlers Matthias Herdegen, das von dem damaligen Beauftragten der Bundesregierung Otto Regenspurger in Auftrag gegeben wurde und den Beratungen der GVK zugrunde lag, ausführlich erörtert 158 .

1. Die Aufnahme eines Verfassungsauftrages Eine Möglichkeit, der besagten Forderung zu entsprechen, bestand darin, den Schutz behinderter Personen in Gestalt eines allgemeinen Verfassungsauftrages im Grundgesetz festzuschreiben.

158 Herdegen, Die Aufnahme besonderer Vorschriften zugunsten behinderter Personen in das Grundgesetz; ohne wesentliche Änderungen abgedruckt in: VSSR 1992, S. 245 ff.

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Als ein solcher Verfassungsauftrag im weiten Sinne kam zunächst in Betracht, eine besondere Verantwortung des Staates für Menschen mit Behinderungen in Form einer Staatszielbestimmung in das Grundgesetz aufzunehmen, wie sie auch die meisten Verfassungen der neuen Bundesländer enthielten 159 . Man argumentierte, ein gesondertes Staatsziel zum Behindertenschutz würde das Sozialstaatsprinzip konkretisieren und gleichzeitig alle Zweige staatlicher Gewalt binden 160 . Allerdings sei ein solches sozialstaatliches Staatsziel ähnlichen Bedenken hinsichtlich seiner konkreten Bindungswirkung für die staatliche Gewalt ausgesetzt wie das Sozialstaatsprinzip 161. Der mögliche Ertrag einer solchen Staatszielbestimmung zugunsten behinderter Menschen wurde damit zu Recht mehr in ihrer appellati ven Funktion gesehen162. Als ein Verfassungsauftrag, der sich allerdings lediglich an den Gesetzgeber richtet, jedoch mit ähnlicher Wirkung wie eine Staatszielbestimmung, wurde auch die Verankerung eines objektiv-rechtlichen Gesetzgebungsauftrages im Grundgesetz erwogen. Bei Herdegen findet sich diesbezüglich eine Formulierungsalternative mit folgendem Wortlaut: „ Der Gesetzgeber hat auf den Ausgleich der Nachteile hinzuwirken, die mit einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung verbunden sind. uh53 Schließlich kam als weitere Möglichkeit in Betracht, im Grundgesetz einen Verfassungsauftrag festzuschreiben, der sich an dem Gleichberechtigungsgebot des Art. 3 Abs. 2 GG orientiert. In Form eines grundrechtlichen Gleichstellungs- und Förderungsgebotes zugunsten behinderter Personen wies dieser Verfassungsauftrag in seiner möglichen Formulierung wesentliche Parallelen zum späteren Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG auf: „Behinderten Menschen sind Bedingungen fir ihre rechtliche und soziale Stellung zu schaffen, die den Lebensverhältnissen der anderen Mitglieder gleichwertig sind. " Der wesentliche Unterschied einer solchen Formulierung zu den o.g. rein objektiv-rechtlichen Aufträgen an den Staat wurde darin gesehen, dass diese Formulierung nun konkret genug erschien, um subjektive Rechte des Einzelnen begründen zu können. Ein solches grundrechtliches Gleichstellungsgebot kommt damit allerdings einem Leistungsgrundrecht behinderter Menschen nahe, das den Gestaltungsspielraum der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt beträchtlich einschränkt 164.

159 Vgl. die Bestimmungen der Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Mecklenburg· Vorpommern oben: Teil B, III, 2. 160 Herdegen, in: VSSR 1992, S. 261.

161 Hierzu im 2. Kap., Teil A, V. 162 Herdegen, VSSR 1992, S. 262. 163 Herdegen, VSSR 1992, S. 261. 164 Herdegen, VSSR 1992, S. 259.

C. Der Weg bis zum Inkrafttreten des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

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2. Die Ergänzung von Art. 3 GG um einen weiteren Gleichheitssatz Eine weitere Möglichkeit, den Schutz behinderter Personen im Grundgesetz konkret auszugestalten, wurde darin gesehen, den Grundrechtsteil der Verfassung um eine besondere Gleichheitsgewährleistung zugunsten behinderter Menschen zu ergänzen.

a) Die Entstehung des Gedankens Bereits der Vorschlag, den Schutz behinderter Menschen im Grundgesetz in Form eines Gleichstellungsgebotes zu verwirklichen, ging in Richtung einer Ergänzung des Art. 3 GG. Überdies trägt aber der Gedanke des Behindertenschutzes an sich schon einen starken Gleichheitsbezug in sich. Dies zeigt sich bereits in seiner historischen Entwicklung im Rahmen der Behindertenpolitik, die in engstem Zusammenhang mit der sozialen Bewegung steht 165 . Mit dem Sozialstaatsprinzip im Grundgesetz fand dieser Gedanke somit einen Ausdruck in einem Staatsziel, das in besonderer Weise auf die Herstellung von sozialer Gleichheit gerichtet ist 1 6 6 . Aber auch aus den Hintergründen der Forderung nach einem verbesserten verfassungsrechtlichen Schutz behinderter Menschen wird ein gewisser Bezug zur Gleichheit aller Menschen und zur notwendigen Gleichstellung behinderter Menschen erkennbar. Obschon behinderten wie nichtbehinderten Personen unterschiedslos die gleichen Rechte aus der Verfassung zukommen, wird aus dem oben Gesagten nur allzu deutlich, dass sich diese Rechte für behinderte Personen in der Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens nicht als „gleichwertig" darstellen. Der Gedanke, den Behindertenschutz im Grundgesetz mittels einer Ergänzung des Art. 3 GG zu verankern, steht damit in unmittelbarem Zusammenhang mit der Benachteiligung und Diskriminierung behinderter Menschen in der Gesellschaft. In der Rechtswissenschaft tauchte die Idee, die Diskriminierung behinderter Personen gesetzlich zu verbieten, erstmals im Zusammenhang mit dem sog. Frankfurter Behindertenurteil auf. Im Jahre 1980 hatte der Münchner Staatsrechtslehrer Heinrich Scholler in Bezug auf diese Rechtsprechung der Zivilgerichte als erster vorgeschlagen, das Reisevertragsrecht um eine dem Art. 3 Abs. 3 GG a.F. entsprechende Regelung zu ergänzen, ohne zur damaligen Zeit bereits an eine tatsächliche Reform des Grundgesetzes zu denken 167 . Nichtsdestotrotz wurde Schollers Erwägung von Herdegen aufgegriffen und in seinem Gutachten zu konkreten Vorschlägen für eine Ergänzung von Art. 3 GG a.F. weiterentwickelt 168 . 165

Ausführlich hierzu im 1. Kap., Teil A. 166 Zur sozialen Gleichheit vgl. oben: 2. Kap., Teil A, IV, 2. 167 Scholler, JZ 1980, S. 677. 168 Herdegen, VSSR 1992, S. 246 (Fn. 4).

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b) Ergänzungsalternativen

zu Art. 3 GG a.F.

Eine Möglichkeit, den Schutz behinderter Personen im Grundgesetz in Form eines besonderen Gleichheitssatzes auszugestalten, bestand darin, den Katalog des Art. 3 Abs. 3 GG a.F. um das weitere Merkmal der Behinderung zu ergänzen. Ein Vorbild für eine solche Regelung enthält Art. 12 Abs. 2 der Landesverfassung von Brandenburg. Den Vorteil eines solchen speziellen Differenzierungsverbotes sieht Herdegen in seinem Gutachten darin, dass die Maßstäbe für die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung gegenüber dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verschärft werden. Er räumt dabei allerdings ein, dass bereits das Zusammenspiel von Art. 3 Abs. 1 GG mit dem Sozialstaatsprinzip den Rechtfertigungsstandard für Ungleichbehandlungen behinderter Personen verschärfe und daher nur eine begrenzte Verbesserung der verfassungsrechtlichen Stellung dieser Personen durch eine Ergänzung des Art. 3 Abs. 3 GG a.F. bewirkt werden könne 169 . Überdies weist Herdegen auf die Nachteile einer bloßen Ergänzung des Kataloges aus Art. 3 Abs. 3 GG a.F. hin. Da dieser als doppelseitiges Differenzierungsverbot nicht nur jede Benachteiligung, sondern auch jede Bevorzugung verbiete, bestünde im Hinblick auf das Merkmal der Behinderung die Gefahr, dass gerade durch die Verwerfung dieser Eigenschaft als zulässiges Differenzierungsmerkmal das verfolgte Anliegen der Integration und Solidarität im gesellschaftlichen Bereich verdunkelt würde. Eine Ergänzung des Art. 3 Abs. 3 GG a.F. verlange daher zumindest einen klarstellenden Zusatz, nach dem das Bevorzugungsverbot die Förderung behinderter Menschen zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse nicht berührt 170 . Unter Hinweis auf eine entsprechende Regelung in Art. 15 Abs. 2 der kanadischen Verfassung schlägt er als notwendigen Zusatz in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG die Formulierung vor: „Maßnahmen zum Ausgleich der mit der Behinderung verbundenen Nachteile bleiben unberührt. " Demgegenüber favorisiert Herdegen allerdings eine Ergänzung des Art. 3 GG a.F. um einen eigenen Absatz 4 zugunsten behinderter Menschen mit folgendem Wortlaut: "Die Ungleichbehandlung wegen einer Behinderung ist nur dann zulässig, wenn sie die soziale Integration fördert, dem Ausgleich von Nachteilen dient oder sich auf sachliche gebotene Fähigkeiten bezieht. " 1 7 1 Nach Ansicht des Staatsrechtlers ist diese Lösung nicht nur gesetzestechnisch einer etwas „unglücklichen" Ergänzung des Art. 3 Abs. 3 GG a.F. klar überlegen; überdies fände damit auch die besondere Verantwortung gegenüber behinderten Menschen in einer verfassungsrechtlichen Wertentscheidung einen klaren Ausdruck. Schließlich kommt sein Gutachten zu dem Schluss, dass die Aufnahme einer besonderen Vorschrift zugunsten behinderter Personen in das Grundgesetz mittels ei169 Herdegen, VSSR 1992, S. 256; ders., in: Der Diskriminierungsschutz für Behinderte im Grundgesetz, S. 22. no Herdegen, VSSR 1992, S. 258.

πι Herdegen, VSSR 1992, S. 259.

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ner Ergänzung des Art. 3 GG a.F. ernsthaft in Erwägung zu ziehen sei. Dabei sei allerdings eine spezielle Diskriminierungsregelung in einem neuen Absatz einer Ergänzung der in Art. 3 Abs. 3 GG a.F. genannten Differenzierungskriterien um das Merkmal der Behinderung vorzuziehen 172.

II. Die Diskussion in der Gemeinsamen Verfassungskommission Die Beratungen in der GVK standen von Beginn an nicht im Zeichen eines fraktionsübergreifenden Konsenses über die Aufnahme einer besonderen Vorschrift zugunsten behinderter Personen in das Grundgesetz. Vielmehr herrschte dort eine mehrheitlich ablehnende Haltung gegenüber der Forderung nach einer derartigen Verfassungsergänzung, so dass der Verlauf der Beratungen in der GVK von kontroversen Diskussionen und emotional geführten Streitigkeiten geprägt war.

1. Der Verlauf der Beratungen Dem Beratungsgegenstand der Novellierung des Art. 3 GG a.F. widmete sich die GVK im Rahmen ihres Selbstbefassungsrechts erstmals in ihrer zehnten öffentlichen Sitzung am 24. 9. 1992. In diesem Zusammenhang sollte gemäß den von Herdegen favorisierten Vorschlägen über die Aufnahme einer besonderen Vorschrift zugunsten behinderter Personen innerhalb jener Sitzungen beraten werden, die für die Diskussion um den Reformbedarf bei Art. 3 GG a.F. angesetzt waren. Folglich war auch die geforderte Verbesserung der Gleichberechtigung von Frauen (Art. 3 Abs. 2 GG) ein Gegenstand dieser ersten Sitzung. Nach der Agenda der GVK sollten also beide Aspekte zunächst gemeinsam beraten werden 173 . Im Verlaufe der 10. Sitzung stellte sich jedoch heraus, dass das Thema der Gleichstellung von Mann und Frau die Beratungen zu Art. 3 GG ganz entscheidend beherrschen würde 174 . Wohl deshalb verständigten sich die Obleute der Fraktionen und Länder darauf, für das Teilgebiet des Schutzes behinderter Personen ein eigenes Verfahren zu wählen 175 . So wurde auch keine öffentliche Anhörung von Sachverständigen vor der GVK durchgeführt. Vielmehr wurden die Vertreter von Behindertenverbänden lediglich auf der Ebene der Berichterstatter zu ihren Forderungen gehört. 172 Herdegen, VSSR 1992, S. 262 f. 173 Vgl. das Protokoll der 10. Sitzung vom 24. 9. 1992; abgedruckt in: Zur Sache 2/96, Band 1. 174 Der Abg. Freiherr von Stetten (CDU/CSU) stellte diesbezüglich fest, dass von zwei Stunden der Redezeit mindestens eine Stunde und 50 Minuten über die Gleichberechtigung von Frauen geredet wurde. 175 BT-Drs. 12/6000, S. 53.

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3. Kap.: Die Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

2. Die Anhörung vor den Berichterstattern Die Anhörung der Behindertenverbände vor den Berichterstattern fand am 15. 1. 1993 in den Räumlichkeiten der Landes Vertretung von Niedersachsen in Bonn statt 176 . Unter der Leitung der Abg. Frau Mascher (SPD) wurden folgende Vertreter verschiedener Verbände zu ihrer Forderung nach einer verfassungsrechtlichen Verankerung des Schutzes behinderter Menschen gehört: Herr Backendorf (VdK) 1 7 7 , Herr Leutloff (Reichsbund)178, Herr Preis und Herr Kriele (Initiativkreis Gleichstellung Behinderter) 179, Dr. Andreas Jürgens (Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben), Frau Schatz (Allg. Behindertenverband in Deutschland), Herr Lachwitz (Bundesverband Lebenshilfe). Gegenstand der Anhörung war zunächst die Frage, in welcher Art und Weise eine besondere Vorschrift zugunsten behinderter Personen ins Grundgesetz eingefügt werden konnte. Dabei wurde zum einen die Verankerung eines Verfassungsauftrages zugunsten behinderter Menschen im Grundgesetz vorgeschlagen, ζ. B. eine Erweiterung des Art. 6 GG um einen neuen Art. 6a GG, mit dem behinderte Menschen unter den besonderen Schutz des Staates gestellt und dem Staat gleichzeitig eine besondere Förderpflicht im Hinblick auf deren Gleichstellung auferlegt werden sollte 180 . Überwiegend wurden jedoch verschiedenste Ergänzungsmöglichkeiten des Art. 3 GG a.F. diskutiert, hierunter solche, wie sie bereits in dem Gutachten von Herdegen aufgeführt waren, jedoch auch andere Varianten und Kombinationsmöglichkeiten. Zur Diskussion stand beispielsweise die Aufnahme eines speziellen Benachteiligungsverbotes in Art. 3 GG, das durch einen speziellen Schutzauftrag des Staates in Art. 6 GG ergänzt werden sollte 181 . Im Wesentlichen ging es bei der Anhörung jedoch darum, der Forderung der Behindertenverbände Nachdruck zu verleihen und die anwesenden Mitglieder der GVK von der Notwendigkeit einer Ergänzung des Grundgesetzes zu überzeugen. Dazu wurde zunächst auf die Diskriminierung und Ausgrenzung behinderter Menschen in der Gesellschaft hingewiesen, die aus Sicht der Betroffenen in Vorurteilen, Berührungsängsten, Intoleranz, Stigmatisierungen und anderen Formen mangelnden Verständnisses ihrer Mitmenschen zum Ausdruck kommt. Ferner wurde 176 Vgl. hierzu das Protokoll der Anhörung am 15. 1. 1993; abgedruckt in: Zur Sache 2/ 96, Band 2, S. 736 ff. 177 Verband der Kriegs- und Wehrdienstopfer, Behinderten und Sozialrentner. 178

Der im Jahre 1917 gegründete Reichsbund nennt sich heute Sozial verband Deutschland e.V. (SoVD). 179 Hierbei handelt es sich um einen Zusammenschluss folgender Organisationen: Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte, Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderte, Bundesvereinigung Lebenshilfe, Deutscher Blindenverband, Allgemeiner Behindertenverband Deutschland, Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben, Die Fittinge. 180 So der Vorschlag von Herrn Leutloff (Reichsbund); vgl. das Protokoll der Anhörung bei den Berichterstattern am 15. 1. 1993; Zur Sache 2/96, Band 2, S. 736 f. 181 Nach dem Vorschlag von Herrn Backendorf (VdK); Zur Sache 2/96, Band 2, S. 736.

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der Versuch von Ethikern, Schwerbehinderten Neugeborenen das Lebensrecht abzusprechen, als eindrucksvolles Beispiel einer Diskriminierung behinderter Menschen angeführt 182. Daneben wurde auf die „rechtliche" Diskriminierung durch die Rechtsprechung hingewiesen, insbesondere auf die zu jener Zeit besonders aktuelle Entscheidung des AG Flensburg zum Reisevertragsrecht. Weiterhin wurde die Situation behinderter Frauen in Deutschland dargestellt, die in hohem Maße nicht nur struktureller Gewalt gegenüber behinderten Personen im Allgemeinen, sondern besonders auch sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind 183 . Ein wichtiges Thema stellte auch die soziale (Gleich-)Stellung behinderter Personen dar, die mit dem Rückschritt in der Rehabilitation und dem dadurch notwendigen Perspektivenwechsel in der Behindertenpolitik im Zusammenhang steht 184 . Dabei wurde insbesondere auf die Stellung behinderter Personen in den neuen Bundesländern aufmerksam gemacht, für welche der Übergang vom Sozialismus zur Marktwirtschaft und die dadurch bedingte Veränderung der Rechtsordnung teilweise mit massiven Einschnitten verbunden war. Zwar zeigten sich einige der Anwesenden tief beeindruckt von den Ausführungen der Interessenvertreter 185; da es sich aber bei der Anhörung vor den Berichterstattern nicht um eine öffentliche Anhörung vor der gesamten GVK handelte, waren nur wenige Mitglieder der Kommission anwesend.

3. Die Entscheidung der Kommission Die Abstimmung über eine Verfassungsergänzung um eine Vorschrift zugunsten behinderter Personen war für die 24. Sitzung der GVK am 17. 6. 1993 angesetzt. Hierzu lagen der GVK zwei konkrete Formulierungsvorschläge in Form von Kommissionsdrucksachen vor, die beide eine Änderung des Art. 3 Abs. 3 GG a.F. zum Gegenstand hatten. Der Antrag der SPD-Kommissionsmitglieder 186 beinhaltete eine Anfügung eines neuen Satz 2 in Art. 3 Abs. 3 GG mit dem Wortlaut: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. " Ein weiterer Antrag von den Parteien PDS/Linke Liste zielte auf eine Änderung des Art. 3 Abs. 3 GG in folgende Form: „Niemand darf wegen seines/ihres Geschlechts, .. .seiner / ihrer körperlichen und psychischen Eigenschaften .. .unmittelbar oder mittelbar benachteiligt oder bevorzugt werden. " 1 8 7 Dieser Antrag wurde jedoch im Verlauf der 24. Sitzung zugunsten des SPD-Antrages wieder zurückgezogen 188. 182 Vgl. j m Protokoll der Anhörung die Ausführungen von Herrn Preis; abgedruckt in: Zur Sache 2/96, Band 2, S. 737. !83 Vgl. die Ausführungen von Frau Schatz; Zur Sache 2/96, Band 2, S. 740. 184 Vgl. die Ausführungen von Herrn Kriele; Zur Sache 2/96, Band 2, S. 743. 185 Siehe ζ. B. die Stellungnahme des Abg. Vogel (SPD); Zur Sache 2/96, Band 2, S. 742. 186

Kommissionsdrucksache Nr. 67; abgedruckt in: Zur Sache 5/93, S. 304. 187 Kommissionsdrucksache Nr. 20; abgedruckt in: Zur Sache 5/93, S. 281.

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Bereits in einem Berichterstattergespräch am gleichen Tag wurde deutlich, dass der Antrag der SPD zur Einführung eines Benachteiligungsverbotes nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit in der Abstimmung erhalten würde, da man in der CDU/CSU-Arbeitsgruppe eine derartige Ergänzung des Art. 3 Abs. 3 GG nicht für sinnvoll erachtete 189. Nichtsdestotrotz stritt man im Verlauf der Sitzung heftig um diese Verfassungsergänzung zugunsten behinderter Personen. Die Befürworter der Verfassungsergänzung unterstrichen deren Notwendigkeit unter Hinweis auf die bisherige rechtliche und soziale Benachteiligung behinderter Menschen sowie auf ihre Diskriminierung im Alltag in Form von Vorurteilen, Stigmatisierungen bis hin zur Gewalt gegenüber behinderten Personen 190. Auch die Menschenwürdegarantie und das allgemeine Gleichbehandlungsgebot im Grundgesetz habe die Benachteiligung behinderter Personen nicht vermeiden können 191 . Die Aufnahme des Merkmals der Behinderung in Art. 3 Abs. 3 GG stelle überdies nur den Ausgleich eines Versäumnisses dar, da die im Nationalsozialismus verfolgte Gruppe der Behinderten im Unterschied zu anderen Opfergruppen dort nicht besonders erwähnt sei 1 9 2 . Die Gegner einer Verfassungsergänzung zugunsten behinderter Personen sahen keinen verfassungspolitischen Anderungsbedarf, da die besondere Verantwortung der staatlichen Gemeinschaft gegenüber behinderten Menschen bereits über das in Art. 20 Abs. 1 GG verankerte Sozialstaatsgebot ausreichend verfassungsrechtlich abgesichert sei 1 9 3 . Man betrachtete dessen weitere Konkretisierung durch ein Benachteiligungsverbot zugunsten behinderter Menschen als wenig sinnvoll und ertragreich. Weiterhin befürchtete man bei einer Erweiterung des Art. 3 Abs. 3 GG um das Merkmal der Behinderung, dass dies nicht nur uneinlösbare Erwartungen bei den Betroffenen wecken könne, sondern auch für Forderungen anderer benachteiligter Gesellschaftsgruppen im Hinblick auf deren Erwähnung in Art. 3 Abs. 3 GG präjudizierend wirken könne, wodurch das Grundgesetz ernsthaft Schaden nehmen könne 194 . Bei der Abstimmung über den Antrag der SPD entfielen auf diesen 30 Ja-Stimmen gegenüber 22 Nein-Stimmen bei zwei Enthaltungen195. Damit fand sich zwar iss Durch den Abg. Heuer (PDS/LL); vgl. das Sten.-Prot. der 24. Sitzung am 17. 6. 1993, S. 8. 189 Vgl. das Protokoll des Berichterstattergespräches am 17. 6. 1993; Zur Sache 2/96, Band 2, S. 768. 1 90 Mit Hinweis auf die Situation behinderter Frauen: Min. Alm-Merk (Hessen), Sten.Prot. der 24. Sitzung am 17. 6. 1993, S. 5 f. 191 In diesem Zusammenhang wurde das Flensburger Urteil mehrmals angeführt; ζ. B. Abg. Vogel (SPD), Sten.-Prot. der 24. Sitzung am 17. 6. 1993, S. 9 f. 192 Hierzu die Abg. Mascher (SPD), Sten.-Prot. der 24. Sitzung am 17. 6. 1993, S. 4. 193 So ζ. B. der Abg. Jahn (CDU/CSU) Sten.-Prot. der 24. Sitzung am 17. 6. 1993, S. 14. 194 In diesem Zusammenhang ist mehrfach von einem „Irrsinnskatalog" die Rede; so die Abg. Rahardt-Vahldieck (CDU/CSU), Sten.-Prot. der 24. Sitzung am 17. 6. 1993, S. 13. 195 Sten.-Prot. der 24. Sitzung am 17. 6. 1993, S. 23.

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eine Mehrheit in der GVK für die Aufnahme des Benachteiligungsverbotes zugunsten behinderter Menschen in das Grundgesetz, die erforderliche Zweidrittelmehrheit für eine Empfehlung der GVK wurde allerdings nicht erreicht.

I I I . Das Gesetzgebungsverfahren zur Verfassungsänderung Die GVK beendete ihre Beratungen mit dem einstimmigen Beschluss über ihren Abschlußbericht am 28. 10. 1993, der ausdrücklich keine Empfehlung zur Erweiterung des Art. 3 Abs. 3 GG im Hinblick auf ein Benachteiligungsverbot wegen einer Behinderung aussprach 196. Im Anschluss daran begann das eigentliche Gesetzgebungsverfahren zur Änderung des Grundgesetzes. Der fraktionsübergreifende Entwurf eines verfassungsändernden Gesetzes von CDU/CSU, FDP und SPD enthielt keinen Änderungsvorschlag zu Art. 3 Abs. 3 GG 1 9 7 . Allerdings wurden noch weitere Gesetzesinitiativen zur Verfassungsänderung in den Bundestag eingebracht. Darunter befand sich neben Entwürfen von PDS /Linke Liste 1 9 8 und Bündnis 90/DIE GRÜNEN 1 9 9 , die beide Vorschriften zugunsten behinderter Personen enthielten, auch ein eigenständiger Entwurf der SPD-Fraktion, der die aus ihrer Sicht notwendigen weitergehenden Grundgesetzänderungen zusammenfasste und auch die Aufnahme des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG einschloss200. Nach den kontroversen Beratungen in der GVK entfachte die Verfassungsdiskussion um die Aufnahme eines Diskriminierungsverbotes zugunsten behinderter Personen in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG wieder von neuem. Da eine Einigung im Bundestag nicht möglich war, wurden die Änderungsentwürfe nach der ersten Lesung am 28. 6. 1994 an die Ausschüsse verwiesen. Die Interessenvertreter der Behindertenverbände machten deutlich, dass die Abstimmungen in diesen Gremien von behinderten Personen sorgfältig beobachtet und bei den anstehenden Bundestagswahlen im Oktober 1994 berücksichtigt würden 201 . Während der Debatten in den Ausschüssen schien der Widerstand der Regierungsparteien allmählich nachzulassen. Nachdem der Bundeskanzler Helmut Kohl im Mai 1994 öffentlich sein Eintreten für die Aufnahme eines Benachteiligungsverbotes in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG erklärt hatte, kam auch im Rechtsausschuss eine Einigung zustande, dessen Beschlussempfehlung vom Juni 1994 eine Ergänzung des Art. 3 Abs. 3 GG um einen neuen Satz 2 zugunsten behinderter Menschen enthielt 202 . In der zweiten und dritten Lesung im Bundestag am 196 BT-Drs. 197 BT-Drs. 198 BT-Drs. 199 BT-Drs. 200 BT-Drs.

12/6000 = Zur Sache 5/93. 12/6633. 12/6570. 12/6686. 12/6326.

201 G. Jürgens, in: ZfSH/SGB 1995, S. 353. 202 BT-Drs. 12/8165, S. 28 f.

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n u n g des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

30. 6. 1994 beschloss man daraufhin mit der nach Art. 79 Abs. 2 GG erforderlichen Zweidrittelmehrheit die Ergänzung des Art. 3 Abs. 3 GG um den Satz: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. " Das Änderungsgesetz stieß zwar noch auf Widerstand im Bundesrat, der im August 1994 den Vermittlungsausschuss einberief 203 ; die Streitpunkte betrafen dabei jedoch nicht den neuen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, der unverändert in die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses vom 2. 9. 1994 aufgenommen wurde 204 . Der Bundestag stimmte den Vorschlägen des Vermittlungsausschusses am 6. 9. 1994 weitgehend zu. Die nach Art. 79 Abs. 2 GG erforderliche Zustimmung des Bundesrates erfolgte dann am 29. 9. 1994, woraufhin das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes am 27. 10. 1994 ausgefertigt und verkündet wurde 205 .

IV. Die Zielsetzung der Verfassungsergänzung Die Zielsetzungen des Verbotes, wegen seiner Behinderung benachteiligt zu werden, lassen sich weitgehend aus den Hintergründen der Forderung nach seiner Aufnahme entnehmen. Auf den Nenner gebracht geht es um die Stärkung der gesellschaftlichen Integration behinderter Menschen. Damit soll das neue Benachteiligungsverbot den Betroffenen ein weitgehend selbstbestimmtes Leben als gleichberechtigte Mitglieder einer staatlichen Gemeinschaft ermöglichen. Zu diesem Zweck soll der Verfassungssatz dem Staat verbieten, behinderte Personen vom gesellschaftlichen Leben auszugrenzen, indem er sie beispielsweise in Sondereinrichtungen wie Heime, Sonderschulen und Werkstätten für Behinderte einweist oder ihnen die Benutzung öffentlicher Einrichtungen untersagt. Wegen seiner besonderen Verantwortung gegenüber Menschen mit Behinderungen soll der Staat aber auch zum Handeln verpflichtet werden, um die Integration der Betoffenen voranzutreiben. Der Verfassungssatz betrifft daher zunächst die Sozialpolitik und -gesetzgebung; innerhalb dieser Bereiche soll er einen Perspektivenwechsel verfassungsrechtlich absichern. Dies gilt für eine Verstärkung der Integration und sozialen Eingliederung durch Maßnahmen im sozialen Recht der Rehabilitation ebenso wie für eine bessere Anpassung der Lebensumwelt an die Bedürfnisse beeinträchtigter Personen durch weitere staatliche Maßnahmen. Die Verantwortung der staatlichen Gemeinschaft bezieht sich auch auf den Schutz behinderter Menschen vor Ausgrenzung im gesellschaftlichen Leben, der das Benachteiligungsverbot entgegenwirken soll. Damit betrifft seine Verbotswirkung ebenso private Rechtsbeziehungen, da die staatliche Gewalt damit sowohl verpflichtet wird, Diskriminierungen behinderter Personen durch die Zivilrechtsprechung zu unterlassen als auch die Betroffenen vor Diskriminierungen anderer Mitbürger aktiv zu schützen sowie 203 BR-Drs. 742/94. 204 BT-Drs. 12/8423. 205 BGBl. I,S. 3146.

C. Der Weg bis zum Inkrafttreten des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

145

die Integration und die Solidarität gegenüber Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft zu fördern. Die Ziele, die der verfassungsändernde Gesetzgeber mit der Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verfolgte, sind im Hinblick auf die am Gesetzgebungsverfahren zur Verfassungsänderung beteiligten Fraktionen im Bundestag unterschiedlich 2 0 6 . Aus Sicht der SPD-Fraktion, auf deren Antrag der Verfassungssatz letztlich zurückgeht, zielt das Verbot, behinderte Menschen zu benachteiligen, auf die Stärkung der Stellung behinderter Menschen in Recht und Gesellschaft. Nach dieser Ansicht kann sich seine Wirkungsweise als subjektives Grundrecht an dem bisherigen Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG a.F. orientieren. Die Gruppe der Behinderten sei mit den bisher nach Art. 3 Abs. 3 GG geschützten Personengruppen vergleichbar, hinreichend groß und über das dauerhafte Merkmal der Behinderung hinreichend abgrenzbar. Das Diskriminierungsverbot binde somit als Abwehrgrundrecht unmittelbar Verwaltung und Rechtsprechung, verpflichte aber auch den Gesetzgeber selbst. Rechtliche Beschränkungen der Handlungs- und Entfaltungsmöglichkeiten behinderter Personen seien erst dann zulässig, wenn dies unerlässlich sei, um behinderungsbedingten Besonderheiten Rechnung zu tragen. Betont wurde auch die objektiv-rechtliche Wirkung des Benachteiligungsverbotes als Ausdruck einer Wertordnung. Damit verstärke der Verfassungssatz nicht nur den sozialstaatlichen Gestaltungsauftrag, sondern wirke auch auf die rechtlichen Beziehungen Privater untereinander ein. Die Mitglieder der Regierungsfraktionen der CDU/CSU und FDP machten sich demgegenüber diese Zielsetzungen des Benachteiligungsverbotes nicht zu eigen und unterstrichen vielmehr ihre Auffassung, dass die Belange behinderter Menschen bisher mit dem Sozialstaatsprinzip im Grundgesetz ausreichend abgesichert seien. Sie betonten jedoch die „appellative Funktion" einer solchen Grundgesetzänderung im Hinblick auf die von ihr ausgehende „Signalwirkung" gegenüber der staatlichen Gemeinschaft. Unabhängig von der materiellen Wirkung des Verfassungssatzes, die wohl eher zurückhaltend beurteilt wurde, sah man in dieser Funktion schon einen „eigenen Wert an sich". Ob und inwieweit der Verfassungssatz die mit ihm verbundenen Erwartungen erfüllen kann, wird im folgenden Kapitel zu untersuchen sein.

206 Vgl. zum Folgenden die Begründung des SPD-Entwurfes (BT-Drs. 12/6323) sowie die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses (BT-Drs. 12/8165). 10 Straßmair

4. Kapitel

Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG Weder aus dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG noch aus seiner Stellung innerhalb des Grundrechtskataloges lässt sich bereits schließen, ob diesem Verfassungssatz „echte" Grundrechtsqualität zukommt1. Schon aus Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG, der gleichzeitig in das Grundgesetz eingeführt wurde, zeigt sich allzu deutlich, dass innerhalb des Grundrechtskataloges auch Verfassungsaufträge bzw. Staatszielbestimmungen zu finden sind, mit welchen unmittelbar keine subjektiven Rechte des Einzelnen korrespondieren. Aber auch bei klar formulierten Anspruchsnormen wie z. B. Art. 6 Abs. 4 GG steht deren objektiv-rechtliche Funktion als Staatsauftrag und Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips deutlich im Vordergrund, handelt es sich mithin zuallererst um ein sog. soziales Grundrecht 2. So wird auch im Hinblick auf das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG mitunter angezweifelt, ob ihm die klassische Grundrechtsfunktion eines Abwehrrechtes zukommt und ihm teilweise nur eine objektiv-rechtliche Funktion zugesprochen3. Nachfolgend müssen also Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG eingehend im Hinblick darauf untersucht werden, ob es sich bei dieser Verfassungsbestimmung um ein echtes Grundrecht oder lediglich um eine Art Staatszielbestimmung in Form eines sozialen Grundrechts handelt.

A. Die Gewährleistung rechtlicher Gleichheit im Grundgesetz Unter den diskutierten Vorschlägen hat sich der verfassungsändernde Gesetzgeber für eine Ergänzung des Art. 3 Abs. 3 GG um einen neuen Satz zugunsten behinderter Personen entschieden. Nach seiner Stellung innerhalb der Gleichheits1 Köhler, SdL 1996, S. 368. Art. 6 Abs. 4 GG enthält zwar eine explizite Formulierung eines subjektiven Rechts auf Leistung (hierzu: Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 396), seine Funktion als Grundrecht wird in der Kommentarliteratur hingegen zurückhaltend beurteilt (vgl. Schmitt-Kammler, in: Sachs, GG, Art. 6, Rn. 79 ff., 84; Maunz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 6, Rn. 11,41). 2

3

Gegen jegliche Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG: Bergmann, in: Hömig / Seifert, Art. 3, Rn. 20; skeptisch auch Köhler, SdL 1996, S. 357 ff.

Α. Die Gewährleistung rechtlicher Gleichheit im Grundgesetz

147

rechte des Art. 3 GG und seiner Formulierung in Anlehnung an Art. 3 Abs. 3 GG a.F. präsentiert sich der neue Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG als sog. besonderer bzw. spezieller Gleichheitssatz. Ausgangspunkt für eine Untersuchung des neuen Gleichheitssatzes zugunsten behinderter Personen soll deshalb ein Blick auf die Bedeutung und Gehalte der Gleichheitsrechte im Grundgesetz sein.

I. Die Gleichheitssätze im Grundgesetz Bereits aus Art. 1 Abs. 1 GG, welcher die Würde des Menschen zum obersten Gut der Verfassung erhebt, folgt der Grundsatz von der rechtlichen Gleichheit aller Menschen. Weil das Grundgesetz jedem einzelnen Menschen ohne Ausnahme Würde zuschreibt, wird die Menschenwürde zu einem allen gemeinsamen Merkmal und verkörpert sozusagen das Gleiche an jedem menschlichen Wesen4. So steht Art. 1 Abs. 1 GG auch für die Gleichheit aller Menschen im Recht und fordert die rechtliche Gleichheit aller Menschen5. Dem Grundsatz rechtlicher Gleichheit entsprechend enthält das Grundgesetz einzelne Gleichheitsvorschriften an mehreren Stellen und mit verschiedenen Aspekten6. Zu Beginn des Grundrechtskataloges findet sich nach der generellen Gewährleistung von Freiheit in Art. 2 Abs. 1 GG auch eine allgemeine Gewährleistung rechtlicher Gleichheit in Art. 3 Abs. 1 GG. Dieses allgemeine Gleichheitsgebot wird noch in demselben Verfassungsartikel durch seine Absätze 2 und 3 weiter konkretisiert, welche bestimmte tatsächliche Unterschiede zwischen den Menschen aufgreifen 7. Zum allgemeinen Gleichheitssatz verhalten sich diese Konkretisierungen gewissermaßen wie leges speziales und schließen in ihrem Geltungsbereich den Rückgriff auf das lex generalis in Art. 3 Abs. 1 GG weitgehend aus, weshalb diese besonderen Gleichheitsvorschriften auch als „spezielle" Gleichheitssätze bezeichnet werden8. Dabei nimmt sich Art. 3 Abs. 2 GG zunächst der rechtlichen Gleichheit von Mann und Frau an und postuliert deren Gleichberechtigung. Der Unterschied der Geschlechter wird jedoch nochmals Gegenstand des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, welcher neben dem Merkmal des Geschlechts noch weitere tatsächliche 4 Zur Gleichheit auf Basis gleicher Würde, siehe: Kirchhof, in: HBdStR, Bd. V, S. 880 ff.; Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, zu Art. 3,1, Rn. 3. 5 Benda, in: HBdVerfR, S. 161 ff. (167); s.a. Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 1, Rn. 11. 6 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 428. 7 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 438; Pieroth/Schlink, Rn. 428; vgl. auch BVerfGE 3, 225 [240]. 8

Grundrechte,

Spezialität im technischen Sinne, also ein absolutes Ausschlussverhältnis zwischen allgemeinen und speziellen Gleichheitssätzen kann wohl kaum angenommen werden, allenfalls besteht „Spezialität" im Sinne eines Wertungsvorrangs zugunsten der Anwendung spezieller Gleichheitssätze, hierzu: Sachs, in: HBdStR, Bd. V, S. 1026; Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 3 Anh., Rn. 1; Jarass/Pieroth, Art. 3, Rn. 2; differenzierend: Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3, Rn. 77. 10*

148

4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

Verschiedenheiten zwischen den Menschen zum Gegenstand eines Verbots benachteiligender oder bevorzugender Ungleichbehandlungen macht. Die Gleichheitsnormen im Grundgesetz beschränken sich allerdings nicht allein auf Art. 3 GG, was hier nur am Rande erwähnt werden soll. So verbürgt beispielsweise auch Art. 6 Abs. 5 GG ein Gleichheitsrecht in Form eines besonderen Gleichstellungsgebotes zugunsten unehelicher Kinder 9. Weitere spezielle Gleichheitsvorschriften finden sich in Art. 4 i.V.m. Art. 140 GG, Art. 136 Abs. 1 WRV in Bezug auf den Glauben. Besondere Gleichbehandlungsanforderungen für die staatsbürgerlichen Rechte und den Zugang zum öffentlichen Dienst enthält Art. 33 Abs. 1 bis 3 GG. Der Grundsatz der Wahlgleichheit folgt aus Art. 38 Abs. 1 bzw. Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG 1 0 und die Gleichbehandlung politischer Parteien verlangt Art. 21 GG 11 .

II. Der Gehalt des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG Kommen die Regelungsgehalte besonderer Gleichheitsvorschriften nicht zum Tragen, wird der rechtlichen Gleichheit durch den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG Rechnung getragen. Mit seiner insofern äußerst umfangreichen Gleichheitsgewährleistung bildet er die Generalklausel 12 zu den weiteren speziellen Gleichheitssätzen des Art. 3 GG, aber auch zu allen weiteren Gleichheitsvorschriften und ist insofern richtungweisend für deren Interpretation. Viele Problembereiche und besondere Sachthemen der rechtlichen Gleichheit sind nämlich aus dem umfassenden Aufgaben- und Anwendungsbereich des allgemeinen Gleichheitssatzes gewissermaßen „herausgenommen" und werden von der Verfassung mit den speziellen Gleichheitssätzen gesondert entschieden13.

9 Art. 6 Abs. 5 GG enthält zunächst nur einen an den Gesetzgeber gerichteten bindenden Verfassungsauftrag, wobei allerdings stets klar war, dass dieser die Verfassung verletzt, wenn er den Auftrag nicht binnen angemessener Frist erfüllt. Dann muss der Verfassungssatz unmittelbar vom Richter angewendet werden, was letztlich die Anerkennung eines individuellen subjektiven Rechts für nichtehelich Geborene bedeutet; i.d.S. eindeutig: BVerfGE 25, 167 [173]. 10 Ersterer gilt für Bundestagswahlen, letzterer betrifft die Wahlen zu den Landesparlamenten und kommunalen Vertretungskörperschaften. 11 Zwar fehlt dem Wortlaut der Vorschrift eine spezifische Ausrichtung gegen Gleichheitsverletzungen, Art. 21 GG wird aber durch Ungleichbehandlungen beeinträchtigt und kann daher als besonderer Gleichheitssatz betrachtet werden; vgl. Sachs, HBdStR, Bd. V, S. 1022 m. w. N. 12 BVerfGE 3, 225 [240]: „Generalklausel". 13

Riifner, in: Bonner Kommentar, Art. 3, Rn. 541; Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/ Scholz, Art. 3 Anh., Rn. 1.

Α. Die Gewährleistung rechtlicher Gleichheit im Grundgesetz

149

In umfassender Allgemeinheit fordert Art. 3 Abs. 1 GG unmittelbar die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und damit in erster Linie, dass bestehende Rechtsnormen ohne Ansehen der Person angewendet werden. Damit wird rechtliche Gleichheit zunächst im Sinne strikt formeller Rechtsanwendungsgleichheit gewährleistet 14. Überdies muss aber auch jeder Akt der Rechtsetzung, insbesondere jedes formelle Gesetz, dem Prinzip der Gleichheit entsprechen. Nach Art. 1 Abs. 3 GG ist nämlich jedes staatliche Rechtsetzungsorgan an den Gleichheitssatz gebunden. Dies gilt besonders auch für den parlamentarischen Gesetzgeber, der eben jenes gleich anzuwendende Recht erst schaffen muss. Die so geforderte materielle Rechtsetzungsgleichheit verbietet eine ungleiche Regelung gleicher Sachverhalte 15 . Hier entfaltet sich die eigentliche Problematik bei der Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG, weil damit die rechtliche Gleichheit als inhaltliche Rechtsgleichheit gewährleistet wird. Im Hinblick auf die Verschiedenheit der Menschen wird es aber absolute Gleichheit von Sachverhalten logischerweise nicht geben können, da die völlige Übereinstimmung von Personen oder Situationen Identität bedeuten würde 16 . Die inhaltliche Rechtsgleichheit kann daher nicht auf absolute Gleichheit, sondern nur auf eine relative Gleichheit gerichtet sein, welche sich immer nur an der Vergleichbarkeit bestimmter Gegebenheiten orientieren kann 17 .

I I I . Die objektiv-rechtlichen Grundlagen der Gleichheitsrechte Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG sowie auch die weiteren Gewährleistungen der Gleichheit im Grundgesetz zielen auf die Gleichbehandlung aller Menschen durch den Staat. Was staatliche Gleichbehandlung in diesem Sinne erfordert, beurteilt sich nach den objektiv-rechtlichen Grundsätzen, die dem Gedanken der rechtlichen Gleichheit aller Menschen zugrunde liegen.

1. Gleichheit und Gerechtigkeit Die Idee der Gleichheit aller Menschen reicht zurück bis zu den Philosophen im antiken Griechenland 18. Im modernen Verfassungsrecht entwickelte sich die rechtliche Gleichheit aller Menschen hingegen erst aus dem Gedankengut der Aufklärung und steht im Zusammenhang mit der Abschaffung ständischer Privilegien in14

Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 430. 15 Bereits im sog. Ersten Südweststaat-Urteil, BVerfGE 1, 14 [16, 52]. 16

Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 432; ders., FS Lerche, S. 121. π Gusy, NJW 1988, S. 2505. is Ausführlich zur Geschichte des allgemeinen Gleichheitssatzes: Bleckmann, S. 1 ff.

150

4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

folge der Französischen Revolution 19 . Die festen Status Verschiedenheiten zwischen den Ständen begründeten auch die Verschiedenheit der Menschen vor dem Gesetz und damit deren rechtliche Ungleichbehandlung durch den Staat. Der Gedanke egalitärer Gleichheit zwischen Menschen fordert demgegenüber vom Staat, keine rechtlichen Unterscheidungen zwischen den Menschen zu treffen sowie alle Menschen nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit „gleich" zu behandeln. Staatliche Gleichbehandlung kann dabei zum einen "jedem das Gleiche" und zum anderen „jedem das Seine " gewährleisten, worin die Grundzüge des aristotelischen Gerechtigkeitsverständnisses Ausdruck finden 20. Nach Aristoteles unterscheidet man zwei Dimensionen der Gerechtigkeit, nämlich die ausgleichende Gerechtigkeit (iustitia commutativa) und die austeilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva) 21 . Die ausgleichende Gerechtigkeit stellt die Mitte zwischen dem zu Großen und dem zu Kleinen dar 22 . Sie orientiert sich in diesem Sinne am Bild der Äquivalenz und am Verhältnis der einen Privatperson zur anderen 23. Staatliche Gleichbehandlung ist im Rahmen der ausgleichenden Gerechtigkeit auf die Herstellung eines gleichmäßigen Austauschverhältnisses zwischen den Menschen gerichtet. Rahmenbedingung hierfür ist zunächst, dass der Staat keine rechtlichen Verschiedenheiten zwischen den Menschen begründet, dass insbesondere das Recht ohne Ansehung der Person für jeden Bürger gilt 2 4 . Demgegenüber gebührt nach den Grundsätzen der austeilenden Gerechtigkeit , Jedem das Seine", soll also jeder vom Staat bekommen, was ihm zusteht („suum cuique tribuere"). Distributive Gerechtigkeit orientiert sich am Verhältnis zwischen dem Ganzen und dem Einzelnen als Teil dieses Ganzen, betrifft also unmittelbar die Beziehung zwischen Staat und Bürger 25 . In diesem Sinne ist Gleichbehandlung auf „verhältnismäßige Gleichheit" gerichtet, welche die tatsächlichen Unterschiede zwischen den Menschen zu berücksichtigen hat. Es geht dabei um eine Gleichheit in Ansehung der Person, die sich in dem Satz widerspiegelt: „Gleiches ist gleich, Ungleiches ungleich zu behandeln"26. Mit dem Gedanken egalitärer Gleichheit aller Menschen enthält der allgemeine Gleichheitssatz daher ein objektives Gebot der Gerechtigkeit, das im Rahmen der Rechtsanwendungs- sowie Rechtsetzungsgleichheit zu berücksichtigen ist. Der das Staat-Bürger-Verhältnis bestimmenden austeilenden Gerechtigkeit steht dabei im Verhältnis der Bürger untereinander die ausgleichende Gerechtigkeit gegenüber. 19 Heckel, FS Dürig, S. 252; Sachs, FS Friauf, S. 326. 20

Zur Verbindung von Gleichheit und dem aristotelischen Gerechtigkeitsverständnis ausführlich: Bleckmann, S. 15 ff.; Trude, S. 19 ff.; Salomon, S. 25 ff. 21 Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, Buch V, in: Dirlmeier, S. 119 ff. 22 Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, Buch V, Kap. 7, in: Dirlmeier, S. 128 ff. 23 Thomas v. Aquin, Deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 18, S. 92 24 Siehe hierzu auch: Bleckmann, S. 16. 2 5 Trude, S. 97; Thomas v. Aquin, Deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 18, S. 92. 26 Salomon, S. 25 f.

Α. Die Gewährleistung rechtlicher Gleichheit im Grundgesetz

151

2. Rechtliche und faktische Gleichheit a) Das Verhältnis von rechtlicher und faktischer

Gleichheit

Durch die rechtliche Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz wird zunächst nur gewährleistet, dass der Staat die Menschen nicht rechtlich verschieden behandelt, mithin keine rechtlichen Statusverschiedenheiten zwischen den Menschen in seiner Rechtsordnung zugrundelegen darf. Gleichbehandlung in diesem Sinne erfordert, dass für jeden das Recht ohne Ansehung der Person Anwendung findet. Die Durchsetzung dieser rein formalen rechtlichen Gleichheit gegen den Ständestaat machte jedoch bald deutlich, dass die Gleichheitsrechte keine allgemeine Gleichheit der Lebensverhältnisse hervorbrachten. Folge war vielmehr eine Differenzierung faktischer Art nach Besitz und Lebensart, bedingt durch die tatsächlichen Verschiedenheiten der Menschen und die Ungleichheit ihrer Ausgangsbedingungen27. Die rechtliche Gleichheit vor dem Gesetz gibt nämlich jedem das Recht, Verschiedenheiten gegenüber anderen zu begründen sowie zu vertiefen und führt so zu einer fortschreitenden Differenzierung der sozialen Lebens Verhältnisse28. Staatliche Gleichbehandlung, die jedem ohne Ansehung der Person das Gleiche zukommen lässt, ist letztlich eine Gleichbehandlung „faktisch" Ungleicher, welche die faktischen Verschiedenheiten zwischen den Menschen nicht nur bestehen lässt, sondern sogar noch verstärkt 29. Rechtliche Gleichbehandlung ohne Ansehung der Person führt somit zur faktischen Ungleichbehandlung, da das Recht mit seinen juristischen Tatbeständen stets Bezug auf faktische Voraussetzungen nimmt 30 . Damit greift es die tatsächlichen Verschiedenheiten der Menschen auf und beeinflusst die Wirklichkeit zu Lasten eines gleichmäßigen Austauschverhältnisses zwischen den Menschen. „Gleiches" Recht hat also im Interesse der ausgleichenden Gerechtigkeit die Verschiedenheit der Menschen zu berücksichtigen und staatliche Gleichbehandlung erfordert ebenso eine Rechtsetzung in Ansehung der Person 31. Dabei nimmt die Gleichheit Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und fordert vom Staat die Herstellung faktischer Gleichheit. Dies erfordert, dass der Staat die tatsächlichen Verschiedenheiten zwischen den Menschen aufgreift und rechtlich verschieden behandelt. Staatliche Gleichbehandlung im Sinne der Herstellung faktischer Gleichheit führt damit letztlich wiederum zu einer rechtlichen Ungleichbehandlung. Weil die rechtliche Gleichheit der Menschen deren faktische Ungleichheit vertieft, umgekehrt jedoch die Herstellung faktischer Gleichheit zur rechtlichen Un27 Heckel, FS Dürig, S. 253. 28 Heckel, FS Dürig, S. 252 f.; Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 31, Rn. 121; Kirchhof, HBdStR, Bd. V, S. 854. 29 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 378; Schweizer, S. 192. 30 Heckel, FS Dürig, S. 255. 31 Heckel, FS Dürig, S. 255.

152

4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

gleichbehandlung führt, geraten beide Dimensionen der Gleichheit in eine fundamentale Kollision, die von Alexy das „Paradox der Gleichheit" genannt wird 32 . Diese kann auch nicht einfach dadurch vermieden werden, dass die Rechtsordnung auf eine der beiden Postulate verzichtet 33. Die rechtliche Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz ist ein tragender Grundsatz aus Art. 1 Abs. 1 GG und Grundbedingung einer staatlichen Gleichbehandlung nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit. Führt jedoch die rechtliche Gleichbehandlung in diesem Sinne zu faktischer Ungleichbehandlung und mithin zu einer Veränderung des gleichmäßigen Austauschverhältnisses zwischen den Bürgern, darf der moderne Sozialstaat die faktische Ungleichheit der Menschen nicht ignorieren.

b) Faktische Gleichheit als Chancen- oder Ergebnisgleichheit Die Herstellung faktischer Gleichheit kann sowohl die Gewährleistung von Chancengleichheit als auch von Ergebnisgleichheit erfordern. Nicht zuletzt vom Gedanken sozialer Gerechtigkeit beeinflusst, ist die Idee der Chancengleichheit der austeilenden Gerechtigkeit zuzuordnen 34. Denn nur wenn Chancengleichheit besteht, kann jeder bekommen, was ihm gebührt. Chancengleichheit orientiert sich an den tatsächlichen Möglichkeiten jedes Einzelnen, nach seinen Eignungen und Fähigkeiten gesetzte Ziele erreichen zu können. Sie richtet sich auf gleiche rechtliche Ausgangsbedingungen des Einzelnen und wird insofern auch als Gleichheit der Startchancen bezeichnet35. Demgegenüber liegt dem Begriff der Ergebnisgleichheit, welcher dem der Chancengleichheit immer wieder gegenübergestellt wird, der Gedanke der Parität zugrunde 36. Ergebnisgleichheit orientiert sich nicht an gleichen rechtlichen Bedingungen auf dem Weg, sondern hat stets das Ziel der tatsächlichen Gleichheit aller Menschen vor Augen. Dieses Ziel gilt es unabhängig von den Eignungen und Fähigkeiten des Einzelnen zu erreichen, wenn mit individueller Verteilungsgerechtigkeit im Sinne rein rechtlicher Chancengleichheit die Herstellung von Parität nicht bewirkt werden kann. In diesem Sinne basiert die Ergebnisgleichheit auf der ausgleichenden Gerechtigkeit in einer Art kollektivrechtlichen Dimension, welche auf tatsächliche Herstellung faktischer Gleichheit zwischen den Menschen gerichtet ist. Damit steht diese Form der Gleichheit in einem engen Zusammenhang mit dem Sozialstaatsprinzip und seiner Forderung nach sozialer Gleichheit sowie so32 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 379. 33 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 380. 34 Zum Begriff der Chancengleichheit und zur sog. „égalité en fait" siehe: Scholler, Die Interpretation, S. 14 ff. 35 Dürig, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 3 I, Rn. 113, 140. 36 Im Zusammenhang mit der Gleichberechtigungsdiskussion von Mann und Frau: vgl. Schweizer, S. 129 m. w. N.

Α. Die Gewährleistung rechtlicher Gleichheit im Grundgesetz

153

zialer Gleichstellung37. Bei der Ergebnisgleichheit handelt es sich insofern um eine Form tatsächlicher Chancengleichheit, die auch als Gleichheit der Zielchancen bezeichnet wird 38 .

3. Das Verhältnis von Gleichheit und Freiheit a) Der Konflikt

zwischen faktischer

Gleichheit und Freiheit

Solange die Gleichheit vor dem Gesetz lediglich auf die Herstellung rechtlicher Gleichheit ohne Ansehung der Person gerichtet ist, steht sie in einem unproblematischen Verhältnis zur Freiheit. Mit der Gleichheit vor dem Gesetz wird sichergestellt, dass jedem das gleiche Recht auf größtmögliche individuelle Entfaltungsfreiheit zukommt und die rechtliche Privilegierung bestimmter Gruppen unzulässig ist. In diesem Sinne gewährleistet die Gleichheit vor dem Gesetz abstrakt das Bestehen gleicher Freiheit ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Verschiedenheiten der Menschen. Diese abstrakt gleiche Freiheit fördert einen freien unverzerrten Wettbewerb zwischen den Menschen im Hinblick auf die Verbesserung der individuellen Lebensbedingungen, da jeder durch die Ausübung seiner Freiheit tatsächliche Unterschiede nicht nur schaffen, sondern auch vergrößern kann 39 . Sobald aber die Gleichheit auf die tatsächlichen Voraussetzungen in der Lebenswirklichkeit Bezug nimmt und Gleichbehandlung die Herstellung faktischer Gleichheit fordert, gerät sie in Konflikt mit der Freiheit. Das Postulat der faktischen Gleichheit, das auf die Angleichung der tatsächlichen Lebensverhältnisse hinwirkt, steht dann der individuellen Entfaltungsfreiheit entgegen. Besonders die Ergebnisgleichheit schränkt den freien Wettbewerb zwischen den Menschen ein, da sie ohne Berücksichtigung individueller Fähigkeiten und Eignungen auf Erreichung des gleichen tatsächlichen Zieles gerichtet ist und so jeden Antrieb zur individuellen Leistung und Freiheitsentfaltung nimmt. Ein Zuviel an faktischer Gleichheit führt letztlich zur staatlichen Gleichbehandlung im Sinne von faktischer „Gleichmacherei" zu Lasten individueller Entfaltungsfreiheit und steht damit dem Wesen einer freiheitlichen Verfassung entgegen40. Andererseits stellt sich das bereits oben angesprochene Problem der „Wertlosigkeit" rein abstrakt gewährter Freiheit für denjenigen, der nicht die tatsächliche Möglichkeit hat, von seiner Freiheit Gebrauch zu machen41. Gerade die sozial37 Heun, in: Dreier, GG, Art. 3, Rn. 58. 38 Dürig, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 3 I, Rn. 113. 39 Dürig, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 3 I, Rn. 121; Kirchhof, HBdStR, Bd. V, S. 854. 40 Häberle, in: VVDStRL 30 (1972), S. 102 sieht die Gefahr eines Zuviel an Gleichheit im „Umschlag zum totalen Wohlfahrtsstaat"; s.a. Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 31, Rn. 113, 140.

154

4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

staatliche Interpretation der Grundrechte geht davon aus, dass die Gewährleistung von Freiheitsrechten nicht den Sinn hat, wenigen ein hohes Maß an Freiheit zu garantieren, sondern möglichst vielen die Möglichkeit zur freien Selbstbestimmung zu sichern. Die Verwirklichung von Freiheit beim Einzelnen setzt jedoch einen gewissen Bestand an geistigen und materiellen Gütern als Bedingung für freie Selbstbestimmung notwendig voraus. Das Postulat der faktischen Gleichheit steht damit für eine gleichmäßige Verteilung dieser freiheitsbedingenden Güter im Interesse einer möglichst großen Verbreitung von Freiheit unter den Bürgern. Andererseits kann, wie gesagt, die Herstellung faktischer Gleichheit beim Einzelnen zu einer Beschränkung seiner individuellen Entfaltungsfreiheit führen. Da auch die faktische Gleichheit neben der rechtlichen einen festen Platz innerhalb der Verfassung einnimmt, muss ein Lösungssystem gefunden werden, wie diesem „zwar korrelativen, aber nicht spannungsfreien Verhältnis" 42 von faktischer Gleichheit und Freiheit von der Rechtsordnung begegnet werden soll.

b) Lösungsansätze in der Rechtswissenschaft Im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG hatte bereits Scholler zutreffend bemerkt, die Konkretisierung des Gleichheitssatzes sei abhängig von Staatsbegriff und Staatsbild 4 3 . Da das Gebot staatlicher Gleichbehandlung im allgemeinen Gleichheitssatz auch die Herstellung faktischer Gleichheit beinhaltet, betrifft diese Feststellung ebenso das Verhältnis von Gleichheit und Freiheit. Gemäß der Entscheidung des Grundgesetzes für einen freiheitlich verfassten Staat versteht Dürig die rechtliche Gleichheit i.S.v. Art. 3 GG demzufolge als eine der Freiheit dienende Gleichheit und kommt so zu einem Vorrangverhältnis im Sinne einer Präponderanz der Freiheit 44. Umgekehrt müsste man mit einem sozialistisch geprägten Staatsverständnis zu einem Vorrang der Gleichheit kommen. Durch die Präponderanz der Freiheit ist Gleichbehandlung zuallererst auf die Herstellung rechtlicher Gleichheit gerichtet, die jedem ein größtmögliches Maß an individueller Entfaltungsfreiheit garantiert. Als individuelles Abwehrrecht gegen den Staat sichert die rechtliche Gleichheit also zunächst die Verwirklichung der Freiheit beim Einzelnen, mithin also deren Ausbreitung in vertikaler Richtung. Das Postulat der faktischen Gleichheit, das der Verwirklichung der Freiheit in horizontaler Richtung dient, darf die individuelle Entfaltungsfreiheit nicht überspielen. Staatliche Gleichbehandlung zur Herstellung faktischer Gleichheit kann daher nur

41 42 43 44

Vgl. oben: Kap. 2, Teil Β, II. Häberle, in: VVDStRL 30 (1972), S. 97. Scholler, Die Interpretation, S. 13; hierzu auch: Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 381. Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 3 I, Rn. 135.

Α. Die Gewährleistung rechtlicher Gleichheit im Grundgesetz

155

durch die Gewährung rechtlicher Chancengleichheit gewährleistet werden, so dass staatliche Eingriffe in den freien Wettbewerb ausgeschlossen sind 45 . Ein modernes Lösungssystem, das den beiden Dimensionen der Gleichheit in ihrem Verhältnis zur Freiheit Rechnung trägt, ist das sog. Prinzipienmodell nach Alexy. Dieser versteht unter Prinzipien Optimierungsgebote, die aus den Grundrechten folgen und gebieten, dass „etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohem Maße realisiert wird" 4 6 . Der Grad der Realisierung eines Optimierungsgebotes wird dabei wesentlich von dem ihm gegenläufigen Prinzip bestimmt. Dies impliziert, dass Prinzipien abwägungsfähig, zugleich aber auch -bedürftig sind, was diese von Regeln im Sinne definitiver Gebote unterscheidet 47. Das Prinzipienmodell kommt ohne ein antizipiertes Vorrangverhältnis zugunsten der Freiheit im Sinne von Präponderanz aus und bestimmt das Verhältnis zwischen faktischer Gleichheit und Freiheit jeweils im konkreten Fall durch Abwägung. Hierbei gilt das Abwägungsgesetz: Je höher der Grad der Nichtrealisierung des einen Prinzips ist, um so größer muss die Gewichtigkeit der Realisierung des anderen sein 48 . Im Unterschied zu Dürigs Lösungsansatz besteht nach dem Prinzipienmodell die Möglichkeit, dass das Prinzip der Freiheit im konkret abzuwägenden Fall hinter dem Prinzip der faktischen Gleichheit zurücktritt 49 .

IV. Gleichheitsrechte als subjektive Rechte Als Grundrechte sind auch die Gleichheitssätze jedenfalls primär als Abwehrrechte zu verstehen, welche das individuelle Interesse an rechtlicher Gleichheit vor beeinträchtigenden Ungleichbehandlungen schützen50. Für die Gleichheitssätze in Art. 3 GG a.F. als Grundlage eigenständiger subjektiver Rechte wird dies im Schrifttum schon seit langem für „heute unbestritten" erklärt 51 .

45

Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 3 I, Rn. 140 ff.; Gubelt, in: von Münch/ Kunig, Art. 3, Rn. 62. 46 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75. 47 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 71 f.; ders., Rechtssystem und praktische Vernunft, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, S. 213 ff. (216). 48 Alexy, Individuelle Rechte und kollektive Güter, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, S. 232 ff. (259); ders., Theorie der Grundrechte, S. 100; die Prinzipienabwägung steht so in engem Zusammenhang mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; vgl. Alexy, Grundrechte als subjektive Rechte, S. 262 ff. (269 f.); ders., Theorie der Grundrechte, S. 79 ff. 49

Dass Alexy ganz im Sinne Dürigs von einem sog. prima-facie-Vorrang individueller Rechte vor kollektiven Rechten spricht, steht dieser Feststellung nicht entgegen (vgl. Alexy, Individuelle Rechte und kollektive Güter, S. 260 f.). so Sachs, HBdStR, Bd. V, S. 1026. 5i Sachs, FS Friauf, S. 310; Osterloh, in: Sachs, GG, Rn. 38 [Fn. 63].

156

4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

1. Die Gleichheit als Gegenstand individueller Ansprüche Genauso selbstverständlich, wie heute die Funktion des allgemeinen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG als gerichtlich durchsetzbares Abwehrrecht des negativen Status anerkannt ist, hatte noch der Begründer der Statuslehre Jellinek selbst im Jahre 1905 prognostiziert, dass die Gleichheit „niemals Inhalt eines individuellen Anspruchs werden" kann 52 . Nun kann diese Aussage nicht alleine auf gänzlich verschiedene verfassungsrechtliche Bedingungen der damaligen Zeit zurückgeführt werden, wenn auch das Bundesverwaltungsgericht im Jahre 1982 noch ausdrücklich dahinstehen ließ, „ob der Gleichheitssatz überhaupt ein Recht im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO vermittelt" 53 . In der Tat sind individuelle Ansprüche des Einzelnen aus Gleichheitsrechten keineswegs so unproblematisch zu begründen, wie dies bei den Freiheitsrechten der Fall ist 54 . So ist zunächst ein zu schützendes Individualinteresse als zentrales Element subjektiver Rechte in den Gleichheitssätzen des Grundgesetzes weit schwieriger zu fassen 55. Nach dem Menschenbild des Grundgesetzes folgt Freiheit nämlich schon aus der natürlichen Anlage jedes menschlichen Wesens, in Freiheit sich selbst zu bestimmen56. Ihre unbeschränkte Ausübung entspricht von daher einem konkreten Interesse des Einzelnen, das unabhängig von jeder Staatlichkeit besteht. Gleichheit hingegen folgt erst aus der Gemeinschaftsbindung des menschlichen Wesens und trägt somit einen gewissen kollektiven Bezug in sich. Nach seinen natürlichen Anlagen ist der Mensch als Individuum einzigartig, womit sich jeder Einzelne vom anderen unterscheidet und bestehende tatsächliche Unterschiede durch die Ausübung seiner Freiheit noch vertiefen kann 57 . Gleichheit zwischen den Menschen besteht nur abstrakt in dem wesensbestimmenden Merkmal, Mensch zu sein 58 ; ein Umstand, der erst innerhalb einer rechtlichen Gemeinschaft die Gleichbehandlung jedes Einzelnen fordert. Damit ist Gleichheit nicht wie Freiheit konkret auf das einzelne Individuum, sondern abstrakt auf die Gesamtheit der Menschen bezogen. Sie folgt erst aus einem Vergleich mit anderen und wird daher auch nicht in einer isolierten Betrachtung des Einzelnen greifbar.

52

Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 135. 53 BVerwGE 65,167 [173 f.]. 54 Allerdings war einst auch die Begründung subjektiver Rechte aus Freiheitsrechten umstritten; vgl. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd., 5. Aufl. 1911, S. 151, zit. nach Sachs, FS Friauf, S. 313, eingehend siehe dort. 55 Sachs, FS Friauf, S. 314; zum Begriff des Individualinteresses vgl. Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 547 ff. 56 Zum Menschenbild des GG eingehend: Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 116 m. w. N. 57 Kirchhof, HBdStR, Bd. V, S. 854. 58 Kirchhof HBdStR, Bd. V, S. 839.

Α. Die Gewährleistung rechtlicher Gleichheit im Grundgesetz

157

2. Die Akzessorietät der Gleichheitssätze Im Gegensatz zur Freiheit besteht Gleichheit nicht unabhängig von jeder Staatlichkeit, sondern ist stets an ein Handeln des Staates gebunden; denn nur wo behandelt wird, kann überhaupt gleich-behandelt werden 59. Diese Vergleichs- und Handlungsbezogenheit der rechtlichen Gleichheit führt zu gewichtigen Problemen bei der Begründung subjektiver Individualansprüche aus den Gleichheitssätzen. So betrifft das Abwehrrecht gegen staatliche Beeinträchtigungen der Freiheit unmittelbar nur das Verhältnis zwischen Staat und Bürger. Das Abwehrrecht aus dem jeweiligen Gleichheitssatz hingegen setzt konstitutiv stets einen Drittbezug zum Vergleichsfall voraus und ist dabei in seiner Zielrichtung ergebnisoffen. Eine Ungleichbehandlung kann nämlich auf unterschiedliche Weise beseitigt werden. Da die Gleichheitssätze nicht gegen staatliche Einwirkungen an sich gerichtet sind, sondern nur fordern, dass diese „in gleicher Weise" erfolgen, kommt von Seiten des Staates eine Gleichstellung nicht nur zu Gunsten des Betroffenen, sondern auch zu Lasten des vergleichbaren Dritten in Betracht. Sofern die Gleichstellung zu Lasten Dritter geltend gemacht wird, wird teilweise von einer „Popularklage des Neids" und einem „Hebelgrundrecht zum Eindringen in eine fremde Rechtssphäre" gesprochen60. Die Auffassung, wonach die Verfolgung solcher Begehren als Tabu anzusehen ist, übersieht dabei jedoch, dass zunächst jeder von einer Ungleichbehandlung Betroffene selbst zu der in Betracht zu ziehenden Vergleichsgruppe gehören muss. Daneben entspricht der Wunsch nach Beseitigung fremder Privilegien der verfassungsgeschichtlichen Tradition, mit der Gleichheit aller vor dem Gesetz alte ständische Vorrechte einzuebnen61. Das Unbehagen, welches die Akzessorietät und Ergebnisoffenheit eines individuellen Anspruchs auf Gleichbehandlung offenbar bereitet, kann also letztlich nicht gegen die Herleitung subjektiver Rechte angeführt werden.

3. Die Struktur der Gleichheitssätze als subjektive Rechte Schwierigkeiten bereitet die Herleitung subjektiv-rechtlicher Ansprüche auf Gleichbehandlung auch wegen der besonderen Struktur der Gleichheitssätze. In ihrer klassischen Funktion als Abwehrrechte gegen den Staat sind die Gleichheitssätze auf ein Unterlassen rechtswidriger Störungen der Rechtsgleichheit gerich59 Zur Akzessorietät der Gleichheitssätze vgl. Sachs, FS Friauf, S. 315 ff. (317). 60

Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 3 I, Rn. 468. Siehe etwa § 137 Abs. 2 der Paulskirchen Verfassung: „Alle Standesvorrechte sind abgeschafft." sowie Art. 109 Abs. 3 Satz 1 WRV: „Öffentlich-rechtliche Vorrechte oder Nachteile der Geburt oder des Standes sind aufzuheben."; Sachs, FS Friauf, S. 326 folgert dazu prägnant: „Wenn der Wunsch nach Beseitigung fremder Privilegien Neid darstellte, wäre der moderne Verfassungsstaat auf Neid aufgebaut." 61

158

4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

tet 62 . Da die Rechtsgleichheit immer dann gestört ist, wenn eine staatliche Ungleichbehandlung festgestellt werden kann, greift das Abwehrrecht sowohl bei einer staatlichen Beeinträchtigung der rechtlichen als auch der faktischen Gleichheit. Die Herstellung faktischer Gleichheit kann jedoch ein positives Tun des Staates erfordern. Gleichbehandlung in diesem Sinne gebietet dem Sozialstaat, korrigierend in das Verhältnis zwischen den Bürgern einzugreifen und die faktische Gleichstellung zu fördern. Daher können den Gleichheitssätzen Rechte zugeordnet werden, die eigentlich als solche eines positiven Status zu betrachten sind, weil sie im weiteren Sinne auf eine staatliche Leistung gerichtet sind 63 . Das Abwehrrecht auf Unterlassung einer Ungleichbehandlung durch den Staat kann in ein Leistungsrecht übergehen, wie die im 1. Kapitel angesprochene Funktion der Gleichheitssätze als Leistungs- und Teilhaberechte zeigt. Damit erschöpft sich der subjektiv-rechtliche Anspruch aus den Gleichheitsrechten nicht in der Gewährung „klassischer" Abwehrrechte des negativen Status, sondern sichert die Rechtsgleichheit der Menschen zugleich mit individuellen Leistungs- und Teilhaberechten. Die Freiheitsrechte im Grundgesetz unterliegen einem System abgestufter Beschränkungsmöglichkeiten, die der Freiheit je nach Umfang und Bedeutung des jeweiligen Freiheitsgrundrechts teilweise sehr enge Grenzen ziehen. Die Gleichheit wird hingegen im Grundgesetz stets schrankenlos gewährleistet. Eine Begrenzung des Gleichbehandlungsanspruches ist daher nur durch kollidierendes Verfassungsrecht möglich, namentlich durch andere Grundrechte und das Sozialstaatsprinzip 64 . So findet die faktische Gleichheit, die im Interesse der Sozialstaatlichkeit die horizontale Ausbreitung von Freiheit sichert, ihre Grenzen in den individuellen Freiheitsrechten. Umgekehrt wird die rechtliche Gleichheit, die einen freien Wettbewerb zwischen den Menschen garantiert, durch das Sozialstaatsprinzip beschränkt. Wechselseitig handelt es sich dabei jeweils um ein kollektives Gut, das ein individuelles Recht beschränkt. Demgegenüber verleiht ein subjektives Recht dem Einzelnen einen einklagbaren individuellen Rechtsanspruch, wobei fraglich ist, ob die notwendige Begrenzung des Gleichbehandlungsanspruchs im kollektiven Interesse verfassungsgerichtlich überhaupt voll überprüfbar ist. Denn wie bereits die Frage nach der Herleitung einklagbarer Rechtsansprüche aus dem Sozialstaatsprinzip zeigte, ist der Ausgleich kollektiver Interessen zuvorderst Aufgabe des Gesetzgebers und kann die Begründung individueller Rechte aus dem Sozialstaatsprinzip diesem Interesse auch entgegenstehen65. Der subjektiv-rechtliche Anspruch auf Gleichbehandlung ist von daher auch nur einer beschränkten gerichtlichen Kontrolle zugänglich.

62

Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, S. 235. 63 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 389. 64 Ausführlich zu dieser vom BVerfG entwickelten und von der g.h.M. anerkannten Figur: Stern, Staatsrecht, Bd. III/2, S. 550 ff.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 72. 65 Siehe oben: 2. Kap., Teil A, V , 2.

Α. Die Gewährleistung rechtlicher Gleichheit im Grundgesetz

159

V. Die Bedeutung der besonderen Gleichheitssätze aus Art· 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG 1. Die Konkretisierung der allgemeinen Rechtsgleichheit durch die besonderen Gleichheitssätze des Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG Die Rechtsanwendungs- und Rechtsetzungsgleichheit ist auch in den folgenden Absätzen des Art. 3 GG Gegenstand der speziellen Gleichheitssätze und wird dort im Hinblick auf bestimmte Gegebenheiten weiter konkretisiert. Diese Gegebenheiten beziehen sich sämtlich auf besondere menschliche Eigenschaften, welche im Rahmen der rechtlichen Gleichheit besondere Berücksichtigung finden sollten und insbesondere unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft mit dem Katalog des Art. 3 Abs. 3 GG in das Grundgesetz Einzug gefunden haben. Die Gewährleistung rechtlicher Gleichheit unter verschiedenen Aspekten gibt es jedoch nicht erst seit Inkrafttreten des Grundgesetzes. Diese hat vielmehr in der deutschen Verfassungsgeschichte eine lange Tradition, wie auch jedes einzelne Merkmal aus dem Katalog des Art. 3 Abs. 3 GG seine eigene, teils sehr weit zurückreichende Entstehungsgeschichte hat 66 . So lassen sich beispielsweise die Merkmale „religiöse Anschauungen" und „Herkunft" auf Unterscheidungsverbote in zentralen Punkten der Religion und des Adels zurückführen, wie sie bereits zur Zeit des Rheinbundes im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts bekannt waren 67 . Das Merkmal der „Heimat" entwickelte sich aus vorsichtigen Ansätzen eines Unterscheidungsverbotes hinsichtlich der „Landeszugehörigkeit" bereits in der Zeit des Deutschen Bundes und das der „Sprache" findet seine erste Erwähnung in der Paulskirchenverfassung 68. Auch für die Entwicklung weiterer Merkmale des Art. 3 Abs. 3 GG, wie „Geschlecht", „politische Anschauungen" und „Abstammung", finden sich erste Ansätze bereits in der Reichsverfassung sowie den Landesverfassungen aus der Zeit der Weimarer Republik 69 . Als einziges Merkmal in Art. 3 Abs. 3 GG hat das der „Rasse" keine unmittelbaren verfassungsgeschichtli66 Ausführlich: Sachs, in: Der Staat 1984, S. 564 ff. 67 So versteht auch das BVerfG die „Herkunft" nicht örtlich, sondern als „ständischsoziale Abstammung und Verwurzelung" vgl. BVerfGE 5, 17 [22]; E 9, 124 [129]; E 23, 258 [262]. 68 Vgl. § 188 der Reichsverfassung vom 28. 3. 1849 (RGBL, 16. Stück, ausgegeben am 28.4. 1849). 69 Die WRV übernahm weitgehend die Unterscheidungsverbote der Paulskirchenverfassung in seinen Grundrechtsteil und enthielt erstmals das der „Abstammung" in Ansätzen (vgl. „Geburt" in Art. 109 Abs. 3 Satz 1 WRV); in der WRV war auch das „Geschlecht" erstmals Merkmal eines Unterscheidungsverbots (vgl. hierzu insbes. Art. 109 Abs. 2 WRV; hierzu: Schweizer, S. 37 f.; Sachs, in: Der Staat 1984, S. 571 f.). Ein Verdienst der Landesverfassungen war neben der Einführung der „politischen Anschauungen" als Unterscheidungsmerkmal auch die Entwicklung erster Kataloge von Unterscheidungsverboten; vgl. Sachs, in: Der Staat 1984, S. 551.

160

4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

chen Vorläufer. Bei diesem Merkmal handelt es sich um eine Neuschöpfung des Parlamentarischen Rates, die als unmittelbare Reaktion auf die Gräueltaten der Nationalsozialisten in das Grundgesetz aufgenommen wurde 70 . Ebenso ist das im Zuge der Verfassungsreform von 1994 neu aufgenommene Merkmal der Behinderung in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, dessen Entstehungsgeschichte oben bereits ausführlich dargestellt wurde, ein Novum innerhalb des Grundgesetzes.

2. Parallelen zwischen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 GG Betrachtet man die Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gewissermaßen als Ergänzung des Kataloges des Art. 3 Abs. 3 GG a.F. um das weitere Merkmal der Behinderung, lässt sich fragen, ob bezüglich seiner Aufnahme entstehungsgeschichtliche Parallelen zu anderen Merkmalen festzustellen sind. Solche könnten zunächst in Bezug auf das Merkmal der "Rasse " gesehen werden, das ebenfalls als Gegenstand rechtlicher Gleichheit erstmals im Grundgesetz besondere Berücksichtigung fand. So wie dieses Merkmal als unmittelbare Reaktion auf die Verbrechen des Nationalsozialismus bereits mit seinem Inkrafttreten im Grundgesetz enthalten war, könnte auch die Aufnahme des Merkmals der Behinderung als „verspätete" Reaktion auf die Verfolgung behinderter Menschen im Dritten Reich angesehen werden. Dieser Gedanke steht im Zusammenhang mit der Euthanasiediskussion um den australischen Bioethiker Peter Singer, welche gewissermaßen mit der Vernichtung „lebensunwerten Lebens" und dem Mord an schwerstbehinderten Menschen im Dritten Reich gedanklich verbunden ist 71 . Ob mit der Ergänzung des Art. 3 Abs. 3 GG um das Merkmal der Behinderung deshalb ein „Versäumnis" des Parlamentarischen Rates nach langer Zeit gewissermaßen korrigiert wurde, ist jedoch zweifelhaft 72. Zunächst gab es zur Zeit des Inkrafttretens des Grundgesetzes gar keine spezifische Personengruppe, wie sie heute mit dem Merkmal der Behinderung umschrieben werden könnte. Dieser Begriff entwickelte sich vielmehr erst in den 1970er Jahren und löste überkommene Bezeichnungen ab, die jeweils mit dem konkreten Defekt der Betroffenen in Beziehung standen. Darüber hinaus stand der Grund für die Verfolgung und die grausame Vernichtung jener nur aus heutiger Sicht „homogenen" Personengruppe behinderter Menschen nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der alleinigen Zugehörigkeit zu dieser Gruppe von Menschen; Verfolgungsgrund war vielmehr eine angenommene Minderwertigkeit wegen gewisser persönlicher Eigenschaften, 70 Anlass für dessen Aufnahme war die Verfolgung der Juden, welche nicht „wegen" ihrer Religionsverschiedenheit, sondern aus ,/assischen" Gründen zum Opfer des staatlichen Terrors wurden; vgl. Sachs, in: Der Staat 1984, S. 575. 71 Ausführlich hiezu oben: 3. Kap., Teil Β, I, 3 c). 72 In diesem Sinne sprechen sich G. Jürgens (in: ZfSH/SBG 1995, S. 354) und A. Jürgens (in: DVB1. 1997, S. 410) für ein Versäumnis des Parlamentarischen Rates aus.

Α. Die Gewährleistung rechtlicher Gleichheit im Grundgesetz

161

zu denen nur bestimmte (schwere) Behinderungen zählten, aber auch sonstige „Andersartigkeiten", wie die Verfolgung von Homosexuellen, Prostituierten und „Asozialen" im Dritten Reich zeigt. Für den Parlamentarischen Rat bestand also wenig Anlass und auch kaum eine reale Möglichkeit, als Reaktion auf die Verfolgung im Dritten Reich die damals noch nicht erfassbare Gruppe behinderter Menschen in den Katalog des Art. 3 Abs. 3 GG a.F. aufzunehmen. Die spätere Ergänzung dieses Gleichheitssatzes um das Merkmal der Behinderung hat somit wohl nichts (mehr) mit den an behinderten Menschen begangenen Verbrechen der Nationalsozialisten zu tun. Im Unterschied zum Merkmal der „Rasse" lässt sich die Einführung des Merkmals der Behinderung also nicht unmittelbar auf diese konkreten Ereignisse in der Vergangenheit zurückführen. Aus dem Gesamtzusammenhang seiner Einführung lassen sich allerdings entstehungsgeschichtliche Parallelen des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zum Merkmal des Geschlechtes aus Satz 1 erkennen. Ein besondere Verbindung zwischen den beiden Merkmalen zeigte schon der Umstand, dass die Ergänzung des Art. 3 Abs. 3 GG um das Benachteiligungsverbot bis zur 10. Sitzung der GVK zusammen mit der Ergänzung des Art. 3 Abs. 2 GG beraten wurde. Auch das Verbot jeder Bevorzugung und Benachteiligung wegen des Geschlechts in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG dient bereits seit jeher dem Schutz der gesellschaftlich minderprivilegierten Gruppe der Frauen. Dies belegt der historische Zusammenhang dieses Merkmals mit der ausdrücklichen Verankerung von „Frauenrechten" in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 wie beispielsweise der Einführung eines Wahlrechtes für Frauen 73. Die Festschreibung solcher Rechte im deutschen Verfassungsrecht ist aber nicht auf ein konkretes Ereignis in der Vergangenheit zurückzuführen, sondern auf eine viel früher begonnene Entwicklung, die mit dem Ende des patriarchalischen Systems und der deutschen Frauenbewegung in engem Zusammenhang steht74. Erst mit dem Wahlrecht erhielt diese gesellschaftliche Bewegung auch ein bedeutendes politisches Gewicht, weshalb seine Einführung mit der WRV den Beginn (verfassungs-) rechtlicher Veränderungen im Hinblick auf die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau markiert. Im Gefolge dieser Bewegung zugunsten der Belange von Frauen steht auch die Aufnahme des Merkmals des Geschlechts sowie des Gleichberechtigungssatzes in das Grundgesetz. Nicht zuletzt auch die Anfügung eines Auftrages an den Staat zur Förderung der Durchsetzung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Frauen und Männern in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG durch die Verfassungsreform von 1994 zeigt die Aktualität und das stetige Fortschreiten einer

73 Das Wahlrecht wurde Frauen in Art. 22 WRV ausdrücklich zugestanden und mit Art. 128 Abs. 2 WRV „Ausnahmebestimmungen für weibliche Beamte" beseitigt. Die Gleichberechtigung in der Ehe war Inhalt des Art. 119 Abs. 1 WRV und Art. 109 Abs. 2 WRV bestimmte: „Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten." 74 Zur historischen Entwicklung des Gedankens von der Gleichberechtigung von Mann und Frau siehe ausführlich: Schweizer, S. 35 ff. m. w. N.

11 Straßmair

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

Entwicklung, die auf die rechtliche und tatsächliche Gleichberechtigung von Frauen gerichtet ist. Ebenso ist die Aufnahme einer besonderen Vorschrift zugunsten behinderter Menschen als das Ergebnis einer längeren Entwicklung zu sehen. Diese hat zum Ziel, die (verfassungs-)rechtliche, aber auch faktische Stellung der gesellschaftlich minderprivilegierten Gruppe behinderter Menschen zu verbessern. In seinem Ursprung ist die gesellschaftliche und politische Behindertenbewegung untrennbar mit der Entwicklung des Sozialstaates verbunden und reicht insofern historisch noch weiter zurück als der Beginn der Frauenbewegung. Der viel spätere Niederschlag von Behindertenrechten im deutschen Verfassungsrecht im Jahre 1994 zeigt gegenüber der Frauenbewegung allerdings ein viel langsameres Fortschreiten dieser sozialen Bewegung, was wohl durch den unterschiedlich großen Bevölkerungsanteil der jeweiligen Gruppen bedingt ist. Dennoch lässt sich auch hier parallel zur Frauenbewegung eine Zunahme des politischen Gewichts der Belange behinderter Menschen historisch aufzeigen und im Entwicklungsverlauf der Behindertenpolitik deutlich festmachen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang beispielsweise an den Umstand, dass behinderte Menschen über Jahrhunderte hinweg als Almosenempfänger vom gesellschaftlichen und politischen Leben faktisch ausgeschlossen waren, dieser Gruppe ζ. B. politisch fundamentale Rechte wie das Wahlrecht erst seit Anfang des 19. Jahrhunderts allmählich zukamen75. Der fortschreitenden Entwicklung in der Rehabilitation, insbesondere der verstärkten Beschulung von Menschen mit Behinderungen, ist es zuzurechnen, dass mit einer zunehmenden Verbreitung von Bildung innerhalb dieser gesellschaftlichen Gruppe auch die politische Durchsetzung ihrer Belange schließlich zu einer Verfassungsänderung führte. Ebenso wie bei der Frauenbewegung markiert diese Verfassungsänderung weder Anfangsnoch Endpunkt, sondern steht inmitten einer gesellschaftlichen und rechtlichen Entwicklung. Ihre entstehungsgeschichtlichen Motive und Ziele sind mit der Durchsetzung eines Perspektivenwechsels in der Behindertenpolitik auf die Gleichberechtigung behinderter Menschen in Recht und Gesellschaft gerichtet. Mit der Aufnahme des Merkmals der Behinderung sollen damit ähnliche Ziele verfolgt werden wie mit den Gleichheitssätzen zugunsten von Frauen. Für die Auslegung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG wird daher auch auf die Interpretation des Satzes 1 bezüglich seines Merkmals des Geschlechts zurückzugreifen sein.

3. Das Verhältnis zwischen Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG In der Auseinandersetzung um den Gehalt der speziellen Gleichheitssätze in Art. 3 Abs. 2 und 3 GG steht zweifelsohne das Merkmal des Geschlechts im Mit75 Man bedenke den Ausschluss von Almosenempfängern vom Wahlrecht, der wegen der historischen Gleichung von Behinderung und Armut zum großen Teil Menschen mit Behinderungen traf. Hierzu oben: 1. Kap., Teil A, II, 2.

Α. Die Gewährleistung rechtlicher Gleichheit im Grundgesetz

163

telpunkt. Dies liegt nicht nur daran, dass sich beide Absätze der rechtlichen Gleichheit von Mann und Frau annehmen, sondern auch an der immensen gesellschaftspolitischen Bedeutung dieses Themas. Es kann daher kaum verwundern, dass sowohl die einschlägige Rechtsprechung als auch die Ansichten in der Literatur zu den speziellen Gleichheitssätzen von dem Thema der rechtlichen Gleichheit zwischen Mann und Frau gewissermaßen „beherrscht" werden. Demgegenüber sind greifbare Auswirkungen der übrigen Merkmale des Art. 3 Abs. 3 GG, namentlich vom Bundesverfassungsgericht festgestellte Verfassungsverstöße, äußerst rar 76 . Während mit der wohl h.M. ein Vorrang der besonderen Gleichheitssätze vor dem allgemeinen angenommen werden kann, der allgemeine Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG also im Geltungsbereich spezieller Gleichheitssätze zurücktritt, ist das Verhältnis der weiteren Absätze des Art. 3 GG zueinander hinsichtlich ihrer Bedeutung für individuelle Abwehrrechte gegen geschlechtsspezifische Ungleichbehandlungen problematisch. Lange Zeit ging man in Literatur und Rechtsprechung von einer gewissen Vorrangstellung des Art. 3 Abs. 2 GG gegenüber Art. 3 Abs. 3 GG aus, da die Nennung des Geschlechts in Absatz 3 als bloße entstehungsgeschichtlich bedingte Wiederholung angesehen wurde 77 . Diese Interpretation fand besonders in Art. 117 Abs. 1 GG eine Stütze, welcher lediglich die Wirkung des Art. 3 Abs. 2 GG bis zum 31. März 1953 suspendierte, sich aber gerade nicht auf Art. 3 Abs. 3 GG bezog78. Letztlich wurden aber beide Bestimmungen seit jeher als gemeinsame Grundlage eines Abwehrrechts gegen geschlechtsspezifische Ungleichbehandlungen herangezogen, beschränkte sich doch die Interpretation ihrer beider Gehalte primär auf diese Funktion des negativen Status79. Insofern wurde diesbezüglich auch von einer einheitlichen Normanordnung und Bedeutungsgleichheit beider Absätze ausgegangen80. Erst als sich allmählich die Interpretation des Art. 3 Abs. 2 GG als Träger einer eigenständigen, über die Funktion eines reinen Abwehrrechts hinausgehenden Be76 Vgl. hierzu die Nachweise bei Sachs, HBdStR, Bd. V, S. 1047 f.; s.a. Rüfner, in: Bonner Kommentar, Art. 3, Rn. 543. 77 Sachs, HBdStR, Bd. V, S. 1049; Gubelt, in: von Münch/Kunig, Art. 3, Rn. 83 ff., 95; Stark, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 3, Rn. 280; aus der Rechtsprechung ζ. B. BVerfGE 6, 389 [420]; E 15, 337 [345]; E 52, 369 [374]; E 74, 163 [179 f.]. 78 Dürig, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 3 III, Rn. 4; zum „Verblassen" dieses Arguments durch Zeitablauf: Rüfner, in: Bonner Kommentar, Art. 3, Rn. 549. 79 In diesem Sinne auch: BVerfGE 3, 225 [241]: „ [ . . . ] weil das Differenzierungsverbot des Art. 3 Abs. 2 ebenso wie das des Abs. 3 nur die Bedeutung hat, dass die aufgeführten faktischen Verschiedenheiten keine rechtliche [ . . . ] Wirkung haben dürfen" [Hervorhebungen nicht im Original]. so Aus der Rspr. vgl. ζ. B.: BVerfGE 6, 389 [420 ff.]; E 10, 59 [67 ff.]; E 15, 337 [342]; E 17, 38 [52 ff.]; E 21, 329 [343]; E 39, 169 [185 f.]; E 43, 213 [225]; E 74, 163 [179]; zum Meinungsstand in der Literatur vgl. die Nachweise bei Sachs, HBdStR, Bd. V, S. 1049 [Fn. 211, 213]. ll·

164

4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

deutung durchsetzte, wurde auch eine andere Beurteilung des Verhältnisses beider Absätze vorstellbar 81. Bereits bei Art. 3 Abs. 2 GG in seiner vor 1994 geltenden Fassung trat nämlich eine auf Herstellung der verfassungsrechtlich gewährleisteten Gleichberechtigung von Mann und Frau gerichtete objektiv-rechtliche Wertentscheidung immer deutlicher in den Vordergrund, so dass dieser Norm ein Verfassungsauftrag entnommen werden konnte, welcher spätestens seit der Anfügung des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG unübersehbar ist 82 . Im Gegensatz zu Art. 3 Abs. 3 GG ist primäres Thema des Art. 3 Abs. 2 GG mittlerweile nicht mehr die Beseitigung von geschlechtsspezifischen Ungleichbehandlungen, sondern die Durchsetzung der Gleichberechtigung für die Zukunft. Damit zeichnet sich ein Vorrang des Art. 3 Abs. 3 GG ab, wenn es um die Abwehr rechtlicher Ungleichbehandlungen wegen des Geschlechts geht. So hat sich auch das Bundesverfassungsgericht ausschließlich für Art. 3 Abs. 3 GG als alleinigen Prüfungsmaßstab für rechtliche Differenzierungen nach dem Geschlecht entschieden83. Dieser Vorrang gilt auch für den wortgleich neugefassten Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG und lässt sich somit für die Beurteilung subjektiver Abwehrrechte des Einzelnen gegen Ungleichbehandlungen wegen der anderen dort genannten Merkmale nutzbar machen. Die offensichtliche Anlehnung des Benachteiligungsverbots in Satz 2 an den Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 GG a.F. sowie dessen entstehungsgeschichtliche Parallelen zum Differenzierungsverbot aufgrund des Geschlechts sprechen ebenfalls für eine Übertragbarkeit der zum Merkmal des Geschlechts entwickelten Grundzüge bezüglich des subjektiv-rechtlichen Gehalts des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG auf das Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung.

4. Keine Benachteiligung oder Bevorzugung „wegen" eines Merkmals des Art. 3 Abs. 1 Satz 1 GG der spezielle Gleichheitssatz als Anknüpfungsverbot Nach seinem Wortlaut enthält Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ein eindeutiges Verbot sowohl der Benachteiligung als auch der Bevorzugung wegen eines dort aufgeführten Merkmals, ist also gleichsam Diskriminierungs- und Privilegierungsverbot in einem 84 . Demzufolge sah das Bundesverfassungsgericht bereits in Art. 3 Abs. 3 GG a.F. ein Verbot rechtlicher Differenzierungen enthalten und formulierte entsprechend eindeutig in seiner ersten einschlägigen Entscheidung: 81

Zum Verlauf dieser Entwicklung siehe: Schweizer, S. 118. Grundlegend für die Ableitung eines Verfassungsauftrages war ein Gutachten von Karl Friauf aus dem Jahre 1982 [Lit.]; s.a. Slupik, JR 1990, S. 318; zum diesbezüglichen Meinungsstand vgl. die Nachweise bei: Schweizer, S. 120. 83 So in seiner Leitentscheidung zum Nachtarbeitsverbot, BVerfGE 85, 191 [206]. 84 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 447. 82

Α. Die Gewährleistung rechtlicher Gleichheit im Grundgesetz

165

, flach den Erfahrungen in der Vergangenheit erschien es dem Grundgesetzgeber notwendig, die Differenzierungen nach „Geschlecht, Abstammung, Rasse, (...)" durch einen besonderen Verfassungssatz zu verbieten. Offenbar hat er angenommen, die allgemeine Überzeugung von der Unzulässigkeit solcher Differenzierungen sei noch nicht so gefestigt, dass sie durch die Generalklausel des Art. 3 Abs. 1 GG allein wirksam ausgeschlossen würden. Die politische Frage, ob die in Art. 3 Abs. 2 und 3 genannten Ungleichheiten einen beachtlichen Grund für Differenzierungen im Recht abgeben - worüber erfahrungsgemäß verschiedene Meinungen möglich sind-, ist damit verfassungskräftig verneint. " 85 In der Literatur war jedoch umstritten, ob Art. 3 Abs. 3 GG a.F. demzufolge als ein Verbot objektiver oder subjektiver Ungleichbehandlungen durch das Rechtsetzungsorgan auszulegen war. Ursache dieses Streits war insbesondere ein unterschiedliches Verständnis des Wortes „wegen" in Art. 3 Abs. 3 GG a.F. im Hinblick auf seine Bedeutung für die Verknüpfung von Unterscheidung und Merkmal. Unklar war insofern, ob man das in Art. 3 Abs. 3 GG a.F. enthaltene Verbot als Begründungsverbot oder aber als Anknüpfungsverbot zu verstehen habe. Nach der Theorie vom Begründungsverbot sollen Differenzierungen dann zulässig sein, wenn die Merkmale, nach denen differenziert wird, nicht zugleich Grund der Differenzierung sind 86 . In diesem Sinne tendierte auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bisweilen dazu, nur die „bezweckte Benachteiligung oder Bevorzugung" zu verbieten, „nicht aber einen Nachteil oder einen Vorteil, der die Folge einer ganz anders intendierten Regelung ist" sl. Schließlich konnte sich dort aber die Interpretation des Art. 3 Abs. 3 GG a.F. als Grundlage eines strikten Anknüpfungsverbotes durchsetzen, das auch in solchen Fällen gilt, in denen ein Rechtsetzungsakt nicht auf eine verbotene Ungleichbehandlung angelegt ist, sondern in erster Linie andere Ziele verfolgt 88 . Für ein Anknüpfungsverbot als einfachstes und zugleich in seiner Wirkung konsequentestes Modell wurde auch in der Literatur eingetreten 89. Im Interesse größtmöglicher Effektivität des Schutzes soll Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG eine starre Rechtsfolge erhalten, mit der es möglich wird, bestimmte Differenzierungen gewissermaßen „a limine" zurückzuweisen 90. Aus Sicht eines Anknüpfungsverbotes sind der öffentlichen Gewalt sehr enge Grenzen gezogen, was den Ermessens- und Gestaltungsspielraum für rechtliche Differenzierungen betrifft, weil damit grund85

BVerfGE 3, 225 [240]; von einem „Differenzierungsverbot" spricht insofern BVerfGE 5, 9 [12]. 86 Für ein Begründungsverbot und gegen eine Interpretation des Art. 3 Abs. 3 GG a.F. als Differenzierungsverbot: Heckel, FS Dürig, S. 241 ff. S7 BVerfGE 75,40 [70]; vgl. auch BVerfGE 19, 119 [126]; E 39, 334 [368]. 88

Unter ausdrücklicher „Klarstellung von BVerfGE BVerfGE 85, 191, 206; siehe auch BVerfGE 97, 35 [43]. S9 Sachs, in: HBdStR, Bd. V, S. 1044. 90 Sachs, RdJB 1996, S. 162.

75,

40

[70]"

nunmehr

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

sätzlich untersagt ist, bei Regelungen und Maßnahmen an ein verbotenes Merkmal „anzuknüpfen" 91. Mit dieser Interpretation als Anknüpfungsverbot ist also nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG jede kausale Verwendung eines verpönten Merkmals als Voraussetzung für eine Rechtsfolge unabhängig von den Beweggründen und Zwecken der Regelung grundsätzlich unzulässig92.

B. Der Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG Der kurze Verfassungssatz „ Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden" eröffnet bei genauerer Betrachtung verschiedene Möglichkeiten seiner Interpretation. Im Folgenden sollen daher zunächst die tragenden Begriffsinhalte des Verfassungssatzes einer genaueren Betrachtung unterzogen werden, um dem möglichen Aussagegehalt des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG näher zu kommen.

I. Der Begriff der Behinderung im Verfassungsrecht Den zentralen Begriff des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG bildet das Merkmal der Behinderung, mit dem nach dem Gesetzesplan eine klar umrissene Personengruppe in den Umfang einer grundrechtlichen Gewährleistung einbezogen werden sollte 93 . Nun wurde bei der Ausformulierung der Verfassungsbestimmung die unmittelbare Benennung der „Behinderten" vermieden und mit dem Abstellen auf die „Behinderung" ein neuer Begriff in das Grundgesetz eingeführt, der im Verfassungsrecht selbst nicht näher definiert wird, letztlich aber eine gewisse menschliche Eigenschaft umschreiben soll 94 . Es ist aber nicht seine Ausfüllungsbedürftigkeit, welche diesen Verfassungsbegriff problematisch erscheinen lässt, sondern vielmehr der Umstand, dass er nur sehr bedingt mit einem traditionell anerkannten, allgemeingültigen Inhalt in Verbindung gebracht werden kann 95 . Im Folgenden muss also 91 In diesem Sinne ausdrücklich BVerfGE 5, 17 [22]; E 23, 258 [262]; E 52, 369 [374]; E 64, 135 [157]; grundlegend hierzu: Sachs, Grenzen, S. 428 ff.; vgl. auch Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 447. 92 Dem Modell des Anknüpfungsverbotes ist immanent, dass für den Eintritt einer Rechtsfolge das verbotene Merkmal kausal i.S. einer conditio sine qua non sein muss; vgl. Sachs, in: HBdStR, Bd. V, S. 1044 ff.; s.a. Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 3 III, Rn. 134 ff. 93 Siehe die Empfehlung des Rechtsausschusses zu Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG: „Die Gruppe der Behinderten sei ( . . . ) hinreichend groß und - über das dauerhafte Merkmal der Behinderung· klar erkenn- und eindeutig bestimmbar." (BT-Drs. 12/8165, S. 29). 94 Angesichts des mittlerweile stigmatisierenden Begriffs des „Behinderten" (vgl. hierzu oben: 3. Kap., Teil Β, I, 2 a) kann man mit Caspar, EuGRZ 2000, S. 136 behaupten, dass der Begriff „mit gutem Grund" vermieden wurde.

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des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

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der Frage nachgegangen werden, ob sich der Begriff der Behinderung im Wege der Auslegung mit hinreichender Bestimmtheit fassen lässt.

1. Die herkömmliche defektorientierte Auslegung Zunächst ist zu untersuchen, ob der unbestimmte Verfassungsbegriff der Behinderung durch die einfache Gesetzgebung weiter ausgestaltet wird und ob hierauf zum Zwecke seiner Auslegung zurückgegriffen werden kann 96 . Der Begriff der „Behinderung" war bei Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG lediglich als Verfassungsbegriff ein Novum, in verschiedenen Sachbereichen des Sozialrechts hingegen bereits seit längerem als einfacher Rechtsbegriff bekannt. Im Sozialgesetzbuch finden sich Begriffe wie „Behinderung" bzw. „Behinderte" an verschiedenen Stellen; dort werden die Begriffsinhalte indes nur selten erläutert 97 . Sofern Begriffsdefinitionen in einzelnen Vorschriften innerhalb der verschiedenen Sozialrechtsbereiche enthalten sind, orientieren sich diese zumeist an der Zweckbestimmung der jeweiligen Sachbereiche und ihrer Leistungen. So stellen beispielsweise die in § 1 - 3 EingliederungshilfeVO enthaltenen Beschreibungen, wer im Sinne von § 39 Abs. 1 BSHG körperlich, geistig oder seelisch wesentlich behindert ist, auf die jeweilige Beeinträchtigung zur Eingliederung in die Gesellschaft ab, sind also am Zweck der sozialen Rehabilitation ausgerichtet. Demgegenüber liegt der Definition des § 19 Abs. 3 SGB III die Beeinträchtigung der beruflichen Eingliederung zugrunde, also der Zweck der beruflichen Rehabilitation, die einen Aufgabenschwerpunkt des Arbeitsförderungsrechts bildet. In § 68 Abs. 2 BSHG wird hingegen - ebenso wie in § 14 Abs. 2 SGB X I - auf die wegen einer gesundheitlichen Schädigung eingetretene Pflegebedürftigkeit Bezug genommen und die Behinderung anhand rein medizinischer Voraussetzungen definiert. Da die genannten Vorschriften insofern nur sehr eng begrenzte Lebenssachverhalte erfassen, können diese allenfalls ergänzend zur Auslegung des Behinderungsbegriffes herangezogen werden. Eine verallgemeinerungsfähige Definition des Begriffs der Behinderung lässt sich aus diesen Vorschriften schwerlich ableiten98. Ein Versuch, das Phänomen der Behinderung in einem möglichst umfassenden Sinne zu erfassen, fand sich zur Zeit der Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG lediglich im Schwerbehindertengesetz 99. Dort wurde in § 3 Abs. 1 SchwbG die 95 Sachs, RdJB 1996, S. 163 f. 96 Für eine Ausgestaltung und Auslegung durch die einfache Gesetzgebung auch: Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 3 Abs. 3, Rn. 176. 97 Siehe u. a. §§ 1, 29 SGB I, § 19 SGB III; §§ 9, 10,43, 44 SGB VI; §§ 39, 68 BSHG. 98 G. Jürgens, ZfSH/SBG 1995, S. 358. 99 In der Fassung der Bekanntmachung vom 26. August 1986 (BGBl. I S. 1421,1550), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter (SchwbBAG) vom 29. September 2000 (BGBl. I S. 1394). Das SchwbG wurde zum 1. 7. 2001 durch Art. 63 SGB IX aufgehoben und in das neue SGB IX eingegliedert.

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

„Behinderung" definiert als „die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht. " Der insofern dreigliedrige Begriff der Behinderung i. S. d. § 3 Abs. 1 SchwbG folgt damit im Wesentlichen der international anerkannten Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 1980 100 . Nach der sog. ICIDH 101 wird die Behinderung aus drei miteinander verbundenen und voneinander abhängigen Faktoren abgeleitet. Den Ausgangspunkt bildet ein gesundheitlicher Schaden, welcher im internationalen Sprachgebrauch der WHO als „Impairment" bezeichnet wird. Darunter ist jeder Verlust oder jede Abnormität psychologischer, physiologischer oder anatomischer Strukturen oder Funktionen zu verstehen. Zweiter Faktor ist eine Funktionsbeeinträchtigung (Disability) als Folge dieses Schadens, also jede Einschränkung oder jeder Verlust der Fähigkeit, Aktivitäten in der Art und Weise oder in dem Umfang auszuführen, welche für einen Menschen als normal angesehen werden 102 . Drittes Kriterium der Behinderung im Sinne dieser Definition bildet die soziale Beeinträchtigung (Handicap), mit welcher die jeweiligen Auswirkungen von Schaden und Funktionsbeeinträchtigung umschrieben werden. Hierunter fallen zunächst persönliche Folgen im Hinblick auf Unabhängigkeit, Beweglichkeit, Freizeitaktivitäten, Integrationsfähigkeit sowie wirtschaftliche und berufliche Möglichkeiten des Betroffenen. Daneben werden auch familiäre Folgen wie Pflegebedarf, gestörte familiäre Beziehungen und wirtschaftliche Belastungen für die Familie erfasst. Schließlich bezieht sich das Handicap auch auf gesellschaftliche Folgen wie Fürsorgebedürftigkeit und insbesondere auch Störungen der sozialen Eingliederung 103. Demzufolge ist auch nach der Definition i. S. d. § 3 SchwbG 104 für die Einstufung einer Person als behindert zunächst von der Frage auszugehen, ob deren jeweiliger körperlicher, geistiger oder seelischer Zustand von dem für das jeweilige Lebensalter typischen negativ abweicht. Zentrales Kriterium für die Bestimmung einer Behinderung ist damit eine sog. Regelwidrigkeit, mithin ein gesundheitlicher Defekt, der eine medizinische Anomalie darstellt 105 . In einem zweiten Schritt ist zu fragen, ob dieser Zustand mit einer Beeinträchtigung von Funktionen einhergeht, die nicht nur von vorübergehender Natur ist. Da nach der gesetzlichen Fiktion des § 3 Abs. 1 Satz 3 SchwbG als nicht nur vorübergehend ein Zeitraum von mehr als sechs Monaten gilt, sind für die Beurteilung einer Behinderung lediglich solche loo BT-Drs. 10/3138, S. 16. ι 0 1 „International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH)", hierzu: Schuntermann, Die Rehabilitation 1996, S. 6 ff.; Hennies, in: LdR/SozR, S. 289. 102 Schuntermann, Die Rehabilitation 1996, S. 8. 103 Hennies, in: LdR/SozR, S. 289. 104 Der jetzt in § 2 SGB IX fortentwickelte Begriff der Behinderung folgt demselben dreigliedrigen Aufbau wie der alte § 3 SchwbG; siehe dazu im 5. Kap. 105 Hennies, in: LdR/SozR, S. 289.

Β. Der Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

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Funktionsbeeinträchtigungen maßgeblich, die von gewisser Dauerhaftigkeit gekennzeichnet sind und voraussichtlich über einen gewissen Zeitraum verbleiben 1 0 6 . Dieses zeitliche Element des Behinderungsbegriffs dient hauptsächlich der Abgrenzung vom Begriff der Krankheit, welcher ebenfalls auf einen regelwidrigen gesundheitlichen Zustand einer Person Bezug nimmt 1 0 7 . Für die Beurteilung einer dauerhaften Funktionsbeeinträchtigung wird ebenso wie für die Feststellung des regelwidrigen Gesundheitszustandes auf medizinische Erkenntnisse und Erfahrungen abgestellt. Erst in einem dritten Schritt folgt die eigentliche Behinderung als das Maß der Auswirkungen einer oder mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen. Hierbei kommt es nicht nur darauf an, welche Auswirkungen die jeweilige Funktionsbeeinträchtigung auf die Befähigung zur üblichen auf Erwerb gerichteten Arbeit und deren Ausnutzung im wirtschaftlichen Leben hat, sondern auf die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigung auf sämtliche Lebensbereiche des BetroffeM nen 108 Dieser dem alten § 3 Abs. 1 SchwbG zugrundeliegende und an einen individuellen Gesundheitsschaden anknüpfende Begriff der Behinderung hat, wie immer wieder betont wird, auch dem verfassungsändernden Gesetzgeber bei der Fassung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG vor Augen gestanden109. Er ist deshalb für die Auslegung der neuen Verfassungsbestimmung richtungsweisend.

2. Die sozialorientierte Begriffsauslegung Die am Defekt orientierte herkömmliche Auslegung des Begriffs der Behinderung stößt insbesondere bei den Betroffenen und ihren Verbänden auf Ablehnung. Angesichts der von diesen mit der Verfassungsänderung verfolgten Motive und Ziele, bei welchen insbesondere das Anliegen sozialer Integration im Vordergrund stand, wird vielmehr gefordert, den Begriff der Behinderung in einem positiven Sinne auszulegen110. Beispielhaft für eine solche sozialorientierte Begriffsauslegung ist ein Verständnis von Behinderung, wie es in einem Aktionsplan der norwegischen Regierung zur Behindertenpolitik aus dem Jahre 1994 zum Ausdruck kommt. Behinderung wird dort verstanden als „die Diskrepanz zwischen den Fähigkeiten eines Individuums und den Funktionen, die ihm in der Gesellschaft ab106 Cramer, SchwbG, Rn. 4. 107 Hennies, in: LdR/SozR, S. 289. los Siehe hierzu: BT-Drs. 10/3138, S. 14; Cramer, SchwbG, § 3, Rn. 4; Neumann/Pahlen, SchwbG, § 3, Rn. 4. 109 G. Jürgens, ZfSH/SGB 1995, S. 358; Sachs, RdJB 1996, S. 163; Osterloh, in: Sachs, GG, zu Art. 3, Rn. 309. no Dieses Begriffsverständnis zugrundelegend auch: G. Jürgens, ZfSH/SGB 1995, S. 353 ff.; ders., NVwZ 1995, S. 452 ff.; A. Jürgens, DVB1. 1997, S. 410 ff.; ders., DVB1. 1997, S. 764 ff.; siehe weiterhin: Heiden, S. 15 ff.; ders., in: Strickstrock (Hrsg.), S. 13 ff.

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

verlangt werden" 111 . Im Unterschied zur defektzentrierten Betrachtungsweise ergibt sich eine Behinderung demzufolge nicht aus den persönlichen Defiziten des Betroffenen, sondern aus den Anforderungen des täglichen Lebens und ist danach weniger ein individuelles Schicksal als vielmehr ein gesamtgesellschaftliches Problem. Diese positive Begriffsinterpretation fasst unter Behinderung „jede Maßnahme, Struktur oder Verhaltensweise, die Menschen mit Beeinträchtigungen Lebensmöglichkeiten nimmt, beschränkt oder erschwert " 1 1 2 Eine Behinderung wäre demnach keine Eigenschaft und auch kein Persönlichkeitsmerkmal, das dem Betroffenen anhaftet, sondern ein von außen kommender Umstand. Mit dieser Begriffsinterpretation soll zum Ausdruck gebracht werden, dass ein Behinderter nicht per se behindert ist, sondern durch die an Nichtbehinderten ausgerichtete Lebensumwelt behindert wird. Dieses Verständnis der Behinderung ist durch den Wandel der Behindertenpolitik gekennzeichnet, welcher sich in den letzten Jahren abzuzeichnen beginnt. Gleichzeitig soll damit die Verantwortung der Gesellschaft für die Beseitigung der Folgen von körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigungen sichtbar gemacht werden 113 . Ein solches Begriffsverständnis kann sich ebenfalls auf die Definition der WHO stützen, da auch hier die soziale Beeinträchtigung - das Handicap - als wesentlicher Faktor der Behinderung zu betrachten ist 1 1 4 . Auch seitens der Vereinten Nationen wird der rein diagnostisch-medizinische Ansatz kritisiert, welcher in der Terminologie der herkömmlichen defektorientierten Begriffsauslegung zum Ausdruck kommt 115 . Sofern man den Blickwinkel weg vom Gesundheitsschaden und der Funktionsbeeinträchtigung verstärkt auf die soziale Beeinträchtigung verlagert, können Mängel im gesellschaftlichen Umfeld als Behinderung funktionsbeeinträchtigter Personen angesehen werden.

3. Umfang und Grenzen des Begriffsinhaltes Der dreigliedrige Begriff der Behinderung i. S. d. § 3 Abs. 1 SchwbG wird zunächst nur von zwei Merkmalen innerhalb seines Aufbaus bestimmt und eingem Zit. nach Caspar, EuGRZ 2000, S. 136; vgl. auch Heiden, in: Strickstrock (Hrsg.), S. 15. h 2 So die Definition des „Forums behinderter Juristinnen e.V.", welche auch die Basis für zwei Entwürfe aus den Jahren 1995 und 2000 für ein Gleichstellungsgesetz zugunsten behinderter Menschen bildet; s.a. Heiden, in: Strickstrock (Hrsg.), Die Gesellschaft der Behinderer, S. 15. 113 Caspar, EuGRZ 2000, S. 136. 114 Siehe hierzu auch die Neufassung der ICIDH, Version Beta 2 vom Juli 1999, welche das Handicap nicht mehr als soziale Beeinträchtigung, sondern als Partizipationsstörung versteht. 115 Vgl. die „Rahmenbedingungen für die Herstellung der Chancengleichheit für Behinderte" vom 20. 12. 1993 (A/RES748/96), Anlage, Einleitung, Punkt 20.

Β. Der Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

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grenzt. Diese sind die Regelwidrigkeit eines körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes und daraus folgende Funktionsstörungen als faktisches Element sowie die Notwendigkeit einer gewissen Dauerhaftigkeit der Funktionsbeeinträchtigung als zeitliches Element. Es ist deshalb zu klären, welche Konsequenzen hieraus für die Auslegung des Verfassungsbegriffs gezogen werden müssen.

a) Ursachen der Behinderung Zunächst kann es also nur darauf ankommen, ob eine Regelwidrigkeit im körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand einer Person faktisch vorliegt. Keinerlei Bedeutung hat hingegen, auf welche Ursache dieser regelwidrige Zustand zurückzuführen ist und ob dieser vom Betroffenen selbst schuldhaft herbeigeführt worden ist 1 1 6 . Hierauf ist deshalb besonders hinzuweisen, da insbesondere im kausalen System der Sozialversicherung die Leistungsgewährung regelmäßig von dem Eintritt eines bestimmten Versicherungsfalles - im Sinne einer Ursache für die Entstehung eines Gesundheitsschadens - abhängig ist bzw. gesetzliche Ausschlusstatbestände für selbstverschuldete Gesundheitsschäden bestehen117. Solche Einschränkungen kannte das final ausgerichtete Schwerbehindertengesetz gerade nicht 118 . Greift man nun zur Auslegung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG auf die Definition der Behinderung i. S. d. § 3 Abs. 1 SchwbG gerade auch deshalb zurück, weil die Begriffsdefinitionen in anderen Teilen des Sozialgesetzbuchs zu eng und zur Verallgemeinerung ungeeignet sind, dürfen die aus dem Kausalitätsprinzip resultierenden Leistungsbeschränkungen nicht zu Irritationen hinsichtlich der Bestimmung des Verfassungsbegriffs der Behinderung führen.

b) Intensität und Grad der Behinderung Aus dem Erfordernis des faktischen Vorliegens von regelwidrigem Zustand und Funktionsbeeinträchtigung ergibt sich, dass eine Behinderung nicht nur auf deren Vorliegen zurückführbar, sondern selbst auch feststellbar und messbar sein muss. Nach dem alten Schwerbehindertengesetz war die Behinderung in Graden zu messen, wobei gem. § 3 Abs. 2 SchwbG eine Abstufung in Zehnergraden erfolgte. Eine 116 Neumann/Pahlen, SchwbG, zu § 3, Rn. 9. 117 Besonders deutlich wird dies im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung, wo nur solche Gesundheitsschäden leistungsauslösend sind, die sich auf den Eintritt eines Arbeitsunfalls bzw. einer Berufskrankheit i. S. d. §§ 7 - 9 SGB V I I zurückführen lassen. Zur (praktisch kaum relevanten) Möglichkeit der Leistungsbeschränkung bei Selbstverschulden vgl. im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung § 52 SGB V. h 8 Das Schwerbehindertenrecht kennt das Kausalitätsprinzip nicht mehr seit dem 1. Mai 1974, als es mit Gesetz vom 24. 4. 1974 (BGBl. I, S. 981) im Bereich des alten Schwerbeschädigtenrechts aufgegeben wurde. Ausführlich zu dieser Entwicklung: Jung, Von der Kausalität zur Finalität, in: RdA 1974, S. 161 ff.

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

messbare Behinderung liegt zwar prinzipiell schon vor, wenn nach ärztlicher Beurteilung die Auswirkungen einer defektbedingten Funktionsbeeinträchtigung einen Grad der Behinderung von mehr als Null ergeben. Jedoch ist der erste mögliche Grad einer messbaren Behinderung im Sinne des Schwerbehindertenrechts der Grad 10 119 . Das Schwerbehindertenrecht kennt allerdings weitere Anforderungen hinsichtlich einer gewissen Intensität der Behinderung. So können Behinderungen überhaupt erst ab einem Grad von 20 förmlich festgestellt werden; für die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft i. S. d. § 1 SchwbG wird ein Grad der Behinderung von mindestens 50 vorausgesetzt 120. Auch im Hinblick auf Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG stellt sich die Frage der Notwendigkeit einer Mindestintensität der Behinderung. Da das Integrationsanliegen des verfassungsändernden Gesetzgebers in erster Linie auf Personen mit schweren Beeinträchtigungen bezogen war, wurde anfangs eine Beschränkung des Anwendungsbereichs auf Schwerbehinderte im Sinne des § 1 SchwbG erwogen 121 . Eine Anlehnung an § 3 Abs. 1 SchwbG zur Bestimmung des Verfassungsbegriffs der Behinderung rechtfertigt jedoch nicht den gleichzeitigen Einbezug des § 1 SchwbG, zumal im Verfassungstext keinerlei Anhaltspunkte für eine solche einschränkende Qualifizierung zu finden sind 122 . Gewisse Einschränkungen, welche ihrer Art nach als Intensitätsschwelle für das Vorliegen einer Behinderung bezeichnet werden könnten, ergeben sich allenfalls aus dem Erfordernis der Mess- und Feststellbarkeit von regelwidrigem Gesundheitszustand, Funktionsbeeinträchtigung und Behinderung. So ist beispielsweise nicht schon jede unterdurchschnittliche Beeinträchtigung körperlicher, geistiger oder seelischer Fähigkeiten als regelwidriger Zustand zu betrachten 123. Daneben lassen sich bei geringfügigen Funktionsbeeinträchtigungen deren Auswirkungen oft nur schwer oder gar nicht messen, so dass eine Behinderung im Sinne obiger Definition nicht feststellbar ist 1 2 4 . Insofern ist auch im Hinblick auf Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG eine notwendig zu erreichende Mindestintensität einer Behinderung allenfalls dort anzusetzen, wo die Grenzen dessen erreicht sind, was medizinisch und juristisch noch als Behinderung qualifizierbar ist.

H9 Cramer, SchwbG, § 3, Rn. 6. 120 Vgl. nunmehr § 2 Abs. 2 SGB IX 121 Sannwald, NJW 1994, S. 3314; Jarass/Pieroth, GG, Art. 3, Rn. 80 (bis zur 3. Aufl. 1996). 122 So die mittlerweile wohl g.h.M.: vgl. Scholz, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 3 III, Rn. 176; Gubelt, in: von Münch/Kunig, GG, Art. 3, Rn. 104 c; Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3, Rn. 310; Herdegen, in: Der Diskriminierungsschutz für Behinderte im Grundgesetz, S. 25; G. Jürgens, NVwZ 1995, S. 452 f.; ders., ZfSH/SGB 1995, S. 359. 123 In diesem Sinne wohl auch: Caspar, EuGRZ 2000, S. 136. 124 Rüfner, in: Bonner Kommentar, Art. 3, Rn. 871; Jarass/Pieroth,

GG, Art. 3, Rn. 106.

Β. Der Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

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c) Behinderung und chronische Krankheiten Zuordnungsprobleme können sich auch aus dem zeitlichen Element der Dauerhaftigkeit einer Funktionsbeeinträchtigung ergeben. Krankheiten, welche ebenfalls auf regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zuständen beruhen, stellen regelmäßig keine Behinderungen im Sinne der o.g. Definition dar. Dies gilt jedenfalls dann, wenn diese nur vorübergehender Natur sind. Chronische Krankheiten hingegen können vom zeitlichen Aspekt her den Begriff der Behinderung erfüllen 125 . Hierbei ist darauf abzustellen, ob eine chronische Krankheit in einer vorausschauenden medizinischen Beurteilung zu dauerhaften Funktionsbeeinträchtigungen führt. Dies ist jedenfalls dann nicht der Fall, wenn die Erwartung besteht, dass eine volle Genesung erfolgt 126 . Ebenso muss die Funktionsbeeinträchtigung kontinuierlich fortbestehen, was bei chronischen Krankheiten dann nicht der Fall sein wird, wenn -bedingt durch den Krankheitsverlauf- Funktionsstörungen nur in kürzeren zeitlichen Intervallen auftreten. Die Auswirkungen nachhaltiger Funktionsbeeinträchtigungen aufgrund einer chronischen Krankheit können daher grundsätzlich auch im Hinblick auf Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG eine Behinderung darstellen. d) Drohende Behinderungen Im Zusammenhang mit dem Verfassungsbegriff der Behinderung stellt sich die Frage, ob auch drohende Behinderungen vom Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG erfasst werden. Dies ist insbesondere deshalb problematisch, da nach der Definition des Schwerbehindertengesetzes eine Behinderung konkret bestehen muss, so dass die drohende Behinderung grundsätzlich nicht erfasst wäre. Andere einfachgesetzliche Normen des Sozialrechts, wie insbesondere die Generalklausel des § 10 SGB I, schließen eine drohende Behinderung jedoch in ihren Anwendungsbereich ein oder stellen diese einer bestehenden Behinderung gleich, wie beispielsweise § 19 Abs. 2 SGB III. Einerseits ergibt sich daraus, dass die drohende Behinderung im einfachen Recht an sich nicht vom Behindertenbegriff erfasst wird, sondern diesbezüglich unterschieden werden muss. Andererseits zeigt gerade das Abstellen auf drohende Behinderungen in der Generalklausel des § 10 SGB I, dass das Sozialrecht immer auch denjenigen im Blick hat, dem eine Behinderung droht und dessen Einbezug in den Anwendungsbereich einer Norm im Hinblick auf deren Schutzzweck gerechtfertigt sein kann 127 . 125 Caspar, EuGRZ 2000, S. 137. 126 Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 3 III, Rn. 176; Gubelt, in: von Münch/ Kunig, GG, Art. 3, Rn. 104 c; Herdegen, in: Der Diskriminierungsschutz für Behinderte im Grundgesetz, S. 25. 127

Rüfner, in: Bonner Kommentar, Art. 3, Rn. 878.

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

Deshalb ist fraglich, ob eine Einbeziehung der drohenden Behinderung in den Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG möglich ist. Legt man dessen Wortlaut sehr eng aus, wäre die drohende Behinderung ebenso wie im einfachen Recht nicht vom Behinderungsbegriff erfasst. Anders jedoch, wenn man den Schutz vor möglichen Diskriminierungen als Zweck der Verfassungsnorm in die Begriffsauslegung mit einbezieht. Dann könnte dieser Zweck den Einbezug einer drohenden Behinderung rechtfertigen, obschon diese nur ein Minus zu einer bestehenden Behinderung darstellt, aber als solche dennoch Ursache einer Benachteiligung sein kann. Gerade vor dem Hintergrund des Fortschritts der medizinischen Diagnostik und des enormen Wissenszuwachses über das menschliche Genom sind Benachteiligungen alleine wegen eines erhöhten Behinderungsrisikos des Einzelnen zukünftig denkbar, lange bevor eine Behinderung im eigentlichen Sinne auftritt. Im Hinblick auf die Gefahr einer Diskriminierung aus genetischen Gründen spricht vieles dafür, drohende Behinderungen nicht vom verfassungsrechtlichen Behindertenbegriff auszunehmen128.

4. Zusammenfassung Die Behinderung i. S. d. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ist ein unbestimmter Verfassungsbegriff 129, der mangels eines allgemeingültigen traditionellen Inhalts verschiedenen Auslegungen zugänglich ist. Gekennzeichnet ist dieser Begriff durch seinen dreigliedrigen Aufbau, wonach sich die Behinderung aus den Auswirkungen einer dauerhaften Funktionsbeeinträchtigung ergibt, die auf einen regelwidrigen Gesundheitszustand zurückzuführen ist. Offen bei der Auslegung ist jedoch, ob es sich bei diesen Auswirkungen um einen von außen oder von innen kommenden Umstand handelt, ob also eine Person mit einer defektbedingten Funktionsbeeinträchtigung in seiner Lebensumwelt behindert ist oder von dieser Umwelt behindert wird. Letztere Interpretation steht in engem Zusammenhang mit einem Perspektivenwechsel in der Behindertenpolitik. Dieser kennzeichnet den Ubergang von der Rehabilitation zur Integration behinderter Menschen, also von der Anpassung an eine nichtbehinderte Lebensumwelt hin zu einer verstärkten Ausrichtung dieser Umwelt an die Bedürfnisse behinderter Personen. Der Gedanke einer Vermeidung von außen kommender „Behinderungen" liegt auch der Einführung des Verfassungssatzes zugunsten behinderter Menschen zugrunde, lässt sich also im Rahmen der Begriffsauslegung nicht völlig von der Hand weisen. Mittlerweile definiert auch die WHO das „Handicap" im Sinne einer Partizipationsstörung, die sich aus der Wechselwirkung von Gesundheitszustand einer Person und den Umweltfaktoren ergibt 130 . 128 Caspar, EuGRZ 2000, S. 137. 129 Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 3 Abs. 3 GG, Rn. 176. 130 Vgl. die Neufassung der „International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps" Version Beta-2 vom Juli 1999, sowie die im Mai 2001 von der WHO vorgestellte

Β. Der Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

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Gleichwohl ist für die Auslegung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zu berücksichtigen, dass seinem Begriff der Behinderung die Terminologie des deutschen sozialen Systems zugrunde liegt, von dessen Systematik und Struktur er entscheidend geprägt wird. Ausgangspunkt für seine Auslegung ist daher die defektzentrierte Perspektive, welche die Behinderung als einen in der jeweiligen Person liegenden Umstand betrachtet und insofern als persönliche Eigenschaft des Betroffenen erscheinen lässt. Aus dieser Perspektive weisen die von außen kommenden Umstände einen stärkeren Bezug zur Benachteiligung auf, wobei jedoch die Abgrenzung im Einzellfall schwierig sein kann. Eine inhaltliche Bestimmung und Begrenzung der Behinderung als persönliche Eigenschaft einer Person lässt sich daher nur über die weiteren Elemente, auf denen der Begriff aufbaut, vornehmen. Im Mittelpunkt steht ein gesundheitlicher Defekt und die sich hieraus ergebenden dauerhaften individuellen Funktionsbeeinträchtigungen. Diese Faktoren lassen sich objektiv feststellen und messen, wobei die tatsächliche Messbarkeit einer defektbedingten Funktionsbeeinträchtigung auch die Intensitätsschwelle für das faktische Vorliegen einer Behinderung darstellt. Eine weitere Begrenzung enthält das zeitliche Element der Dauerhaftigkeit dieser Beeinträchtigung. Zu beachten ist dabei jedoch, dass faktisches und zeitliches Element aus Schutzzweckgesichtspunkten auch antizipiert festgestellt werden können. Dies bedeutet, dass es im Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG genügt, wenn eine Behinderung im eigentlichen Sinne nicht vorliegt, ihr späterer Eintritt aber wahrscheinlich oder zumindest möglich ist. Wird jemand alleine schon wegen der Möglichkeit seiner späteren Behinderung benachteiligt, ist der Anwendungsbereich des Verfassungssatzes eröffnet.

II. Das Verbot der Benachteiligung Der Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG beschränkt sich im Unterschied zu Satz 1 des gleichen Absatzes auf eine einseitige Ausrichtung, verbietet insofern nur die Benachteiligung, nicht aber die Bevorzugung wegen einer Behinderung. Nachfolgend sollen Probleme und Konsequenzen aus dieser einseitigen Verbotsrichtung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG dargestellt werden.

1. Begriff und Bedeutung der „Benachteiligung" Die Anwendung des besonderen Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG setzt voraus, dass sich ein Akt der staatlichen Gewalt als Benachteiligung des Be-

weiterentwickelte Version der ICIDH-2; ausführlich hierzu: Schuntermann, in: Die neue Sonderschule 1999, S. 342 ff.

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

troffenen darstellt. Ein staatliches Handeln, das grundsätzlich sowohl in jedem positiven Tun und pflichtwidrigen Unterlassen bestehen kann 131 , muss also zunächst nachteilige Auswirkungen für den vom Begriff der Behinderung gekennzeichneten Personenkreis haben. Im Anwendungsbereich von Gleichheitssätzen geht es dabei stets um solche nachteiligen Auswirkungen, die aus einer Ungleichbehandlung entstehen132. Für den so zu fordernden Nachteil ist es ausreichend, dass ein Gleichheitsinteresse des Betroffenen berührt wird. Im Rahmen der Gleichheitsrechte ist es also nicht erforderlich, dass eine Belastung in einer geschützten Rechtsposition des Betroffenen eintritt, mithin ein subjektives Recht des Einzelnen verletzt wird 1 3 3 . Es genügt vielmehr die Berührung irgendeines wirtschaftlichen, ideellen oder gar emotionalen Interesses einer Person 134 . Da Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG jedoch nur die Benachteiligung wegen einer Behinderung verbietet, liegt es nahe, in seinen Anwendungsbereich benachteiligende von bevorzugenden Ungleichbehandlungen abzugrenzen. Fraglich ist jedoch, anhand welcher Kriterien eine solche Abgrenzung zu erfolgen hätte und aus welcher Perspektive zu bestimmen wäre, ob ein Akt der staatlichen Gewalt benachteiligend oder bevorzugend wirkt. Denkbar ist einerseits, aus einer „objektiven" Sichtweise bestimmte Ungleichbehandlungen mit der Erwägung als nicht benachteiligend einzustufen, dass sie lediglich dem „Wohl des Betroffenen" dienen. Danach wären also für die Feststellung einer Benachteiligung im Rahmen des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG „objektive" Kriterien zugrunde zu legen. Hierfür wird angeführt, dass ein Abstellen auf die subjektive Beurteilung der Betroffenen bezüglich des Bestehens eines Nachteils ein sehr unsicheres Kriterium zur Bestimmung des Anwendungsbereiches von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG sei. Subjektive Einschätzungen könnten von Fall zu Fall differieren und unterlägen überdies dem Wandel der Anschauungen135. Da diese „objektive" Sichtweise eine Gesamtbetrachtung unter Abwägung aller Vor- und Nachteile voraussetzt, begegnet sie gewichtigen Bedenken136. Solche Globalerwägungen sind nämlich im Anwendungsbereich der besonderen Gleichheitssätze äußerst umstritten, weil die jeweilige Begünstigungs- oder Belastungswirkung nicht einfach dadurch entfällt, dass sie mit gegenläufigen Wirkungen zusammentrifft 137. Nachteile und Vorteile lassen sich insofern nicht gegeneinander aufwiegen; vielmehr besteht ein Nachteil, auch wenn er kompensiert wird, immer solange weiter, bis er beseitigt ist. Da ein solcher Nachteil bereits besteht, wenn 131 Gubelt, in: von Münch/Kunig, Art. 3, Rn. 103. 132 Jarass/Pieroth, Art. 3, Rn. 11. 133 Sachs, Grenzen, S. 271 f.; Jarass/Pieroth, Art. 3, Rn. 11; a.A. Rüfner, in: Bonner Kommentar, Art. 3, Rn. 158. 134 Sachs, HBdStR, Bd. V., S. 1040; ders., Grenzen, S. 273 f.; Dürig, in: Maunz/Dürig/ Herzog/Scholz, Art. 3 II, Rn. 38, 55. 135 Engelken, DVB1. 1997, S. 762. 136 Herdegen, Der Diskriminierungsschutz für Behinderte, S. 27. 137 Sachs, HBdStR, Bd. V, S. 1041; ders., Grenzen, S. 285 f.

Β. Der Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

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ein individuelles Interesse berührt ist, muss der Beurteilung einer Benachteiligung im Rahmen des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG stets das subjektive Gleichheitsinteresse des Betroffenen zugrunde gelegt werden.

2. Das Verhältnis von Behinderung und Benachteiligung Ein zentrales Problem bei der Auslegung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ist die Abgrenzung der Begriffe Behinderung und Benachteiligung. Als Auswirkungen einer dauerhaften defektbedingten Funktionsbeeinträchtigung definiert, stellt die Behinderung eine Eigenschaft dar, die für den Betroffenen die Lebensführung im Verhältnis zu nichtbehinderten Menschen regelmäßig schwieriger macht 138 . Der Begriff der Behinderung beinhaltet damit bereits nachteilige Auswirkungen und beschreibt einen Nachteil, dessentwegen der Betroffene im Verhältnis zu Nichtbetroffenen gewissermaßen faktisch benachteiligt ist. Der besondere Gleichheitssatz verbietet demgegenüber, vom Staat benachteiligt zu werden und setzt eine Einwirkung auf den Betroffenen voraus. Aufgrund der Tatsache, dass als verfassungsrechtlich relevantes Staatshandeln auch ein Unterlassen in Betracht kommt, stellt sich die Frage, ob eine Benachteiligung i. S. d. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG auch dann vorliegt, wenn es der Staat unterlässt, die genannten Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigung zu beseitigen. Hier kann insbesondere die sozialorientierte Begriffsauslegung der Behinderung zu einem methodischen Dilemma bei der Anwendung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG führen. Sieht man mit dieser die Verantwortlichkeit für die nachteiligen Auswirkungen einer defektbedingten Funktionsbeeinträchtigung bei der Gemeinschaft, so könnte man daraus eine Beseitigungsverpflichtung des Staates folgern. Damit wären solche Nachteile aber nicht unter den Begriff der Behinderung zu fassen, sondern stellten vielmehr eine Benachteiligung durch Unterlassen dar. Wenn aber „niemand wegen seiner Behinderung behindert werden" bzw. „wegen seiner Benachteiligung benachteiligt werden" darf, geht eine solche Tautologie zwischen Tatbestand und Rechtsfolge nicht nur zu Lasten jeglicher Substanz des Verfassungssatzes, sondern muss letzten Endes zu dessen Perplexität führen. Dieser Konflikt kann vermieden werden, wenn man zur Abgrenzung von Behinderung und Benachteiligung auf die Struktur und Systematik des sozialen Systems in Deutschland zurückgreift. Der Begriff der Behinderung ist nämlich aus der Entwicklung dieses sozialen Systems heraus entstanden und steht in engem Zusammenhang mit dessen Grundsätzen. Mit dem Grundsatz der Selbstverantwortlichkeit im deutschen Sozialsystem ist zunächst davon auszugehen, dass typische Auswirkungen einer defektbedingten Funktionsbeeinträchtigung primär im Verantwortungsbereich des Betroffenen liegen. Als solche stellen diese (nachteiligen) Auswirkungen eine Behinderung dar. In einem zweiten Schritt stellt sich dann die Frage, welche Auswirke So auch die Feststellung des BVerfG, NJW 1998, S. 132. 12 Straßmair

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

kungen einer Funktionsbeeinträchtigung auf ein Handeln des Staates zurückzuführen sind. Trägt der Staat (ausnahmsweise) die Verantwortlichkeit für solche nachteiligen Auswirkungen, weil diese durch ein positives Tun des Staates verursacht wurden oder diesem eine Handlungspflicht obliegt, kann eine Benachteiligung gegeben sein.

3. Die einseitige Verbotsrichtung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG Die zweiseitige Ausrichtung des heutigen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG erstreckt sich sowohl auf die eigene Benachteiligung einer Person, als auch auf die Bevorzugung eines anderen 139. Insofern kann die Begünstigung des einen als Belastung des anderen betrachtet werden, wenn die Bevorzugung wegen eines verbotenen Merkmals zugleich als Benachteiligung anderer wirkt 1 4 0 . Da die Vorschrift damit hauptsächlich als Verbot der Benachteiligung Anwendung findet, wird sie auch als Diskriminierungsverbot bezeichnet141. Im Vorfeld der Verfassungsänderung wurden Vorschläge diskutiert, welche auf eine schlichte Erweiterung des Katalogs des Art. 3 Abs. 3 GG a.F. um das Merkmal der Behinderung zielten. Damit hätte sich das Verbot aus dem besonderen Gleichheitssatz - wie in Art. 12 Abs. 2 der Brandenburgischen Landesverfassung nicht nur auf die Benachteiligung, sondern auch auf die Bevorzugung wegen einer Behinderung erstreckt. Fraglich ist in diesem Zusammenhang jedoch, ob Leistungen zur Förderung behinderter Menschen, insbesondere also Maßnahmen und Regelungen im Recht der Rehabilitation, von einem solchen zweiseitigen Verbot erfasst werden. Dies wäre der Fall, sofern solche Leistungen als Bevorzugung wegen einer Behinderung zu betrachten sind. Dagegen wird angeführt, dass derartige Leistungen ausschließlich der Kompensation behinderungsspezifischer Nachteile dienten und nichtbehinderte Menschen insofern keinen Bedarf für diese Leistungen hätten 142 . Die Gewährung von Förderleistungen für behinderte Menschen wäre sachgerecht auf die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse gerichtet und damit keine Benachteiligung nichtbehinderter Menschen. Für die Beurteilung einer rechtlichen Bevorzugung die Gesichtspunkte der Sachgerechtigkeit und Gleichwertigkeit anzuführen, um damit das Vorliegen einer solchen im Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3

139 Insofern kann auch eine (ungleiche) Begünstigung eines Dritten eine Beeinträchtigung darstellen; Jarass/Pieroth, Art. 3, Rn. 11. 140 Stark, in: von Mangoldt/Klein, Art. 3, Rn. 349.

1 41 So ζ. B. Sachs, dessen Habilitationsschrift „Grenzen des Unterscheidungsverbots gemäß Artikel 3 Absatz 2 und 3 des Grundgesetzes" unter dem Titel „Grenzen des Diskriminierungsverbotes" veröffentlicht wurde; ebenso Jarass/Pieroth, Vorb. vor Art. 1, Rn. 28. 142 A. Jürgens, ZRP 1993, S. 130 f.; G. Jürgens, ZfSH/SGB 1995, S. 357.

Β. Der Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

179

GG a.F. abzulehnen, ist jedoch umstritten 143 . Betrachtet man diese Förderleistungen ohne Einbezug jeglicher Zwecke und Beweggründe, führt dies zu einem anderen Ergebnis. Dann wird eine Person, die eine Leistung aufgrund ihrer Behinderung erhält, gegenüber einem anderen, der diese Leistung nicht erhält, wegen ihrer Behinderung bevorzugt. Damit aber die Förderleistungen des Sozialgesetzbuchs nicht am Verbot der Bevorzugung zu messen sind, hat man sich dazu entschieden, den neuen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG im Falle einer Ungleichbehandlung wegen einer Behinderung alleine auf das Verbot der Benachteiligung zu beschränken.

4. Kein Verbot der Bevorzugung behinderter Personen Aus dem einseitigen Regelungsgehalt des besonderen Gleichheitssatzes und der damit verfolgten Intention des verfassungsändernden Gesetzgebers ergibt sich, dass niemand mit der Behauptung, ein anderer werde wegen seiner Behinderung bevorzugt, eine Verletzung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG geltend machen kann. Da Fälle einer Privilegierung behinderter Menschen daher nicht vom Anwendungsbereich des besonderen Gleichheitssatzes erfasst sind, kann eine Maßnahme oder Regelung, durch die behinderte Menschen bevorzugt werden, von vornherein nicht gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verstoßen. Sein Anwendungsbereich ist im Hinblick auf solche Regelungen nicht eröffnet. Damit entfaltet Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG jedoch auch keine Spezialitätswirkung gegenüber dem allgemeinen Gleichheitssatz, der deshalb als Prüfungsmaßstab für Fälle einer Bevorzugung behinderter Menschen heranzuziehen ist 1 4 4 . Mit seiner Ausrichtung als einseitiges Benachteiligungsverbot werden auch die im Anwendungsbereich des besonderen Gleichheitssatzes notwendig zu bildenden Vergleichsgruppen erkennbar. Wenn die einseitige Verbotsrichtung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gewährleisten soll, dass sich kein Nichtbetroffener gegen die Bevorzugung einer behinderten Person wenden kann, zeigt dies umgekehrt, dass die Rechtssatzwirkung gerade die Benachteiligung behinderter gegenüber nichtbehinderten Menschen erfassen soll. Wie dies überdies auch aus dem spezifischen Unterscheidungsmerkmal der Behinderung hervorgeht, ist als Vergleichspaar nur auf behinderte und nichtbehinderte Menschen abzustellen. Hingegen kommen behinderte Menschen untereinander für die Bildung von Vergleichspaaren im Rahmen des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG regelmäßig nicht in Betracht. Diese Feststellung wird 143 Vgl. insofern die Kritik an Art. 12 Abs. 2 BrandVerf bei: Sachs, RdJB 1996, S. 160; gegen eine Beschränkung des Art. 3 Abs. 3 GG a.F. nur auf „sachwidrige" Differenzierungen: ders., in: HBdStR, Bd. V., S. 1042 m. w. N.; für eine Bevorzugung i. S. d. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG bei der Kompensation faktischer Nachteile: Stark, in: von Mangoldt/ Klein, Art. 3, Rn. 342 f. 1 44 Mangels Spezialität ist der Schluss von G. Jürgens (NVwZ 1995, S. 453), eine bevorzugende Regelung für behinderte Personen könne nicht mehr gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstoßen, kaum vertretbar. 12*

180

4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

im Hinblick auf das im deutschen Sozialrecht weitgehend bestehende Kausalitätsprinzip besonders relevant. Eine behinderte Person kann sich beispielsweise gegen einen Ausschluss von bestimmten Sozialleistungen nicht mit der Behauptung auf Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG berufen, sie werde dadurch gegenüber anderen behinderten Menschen benachteiligt 145 . Im kausalen Sozialsystem ist nämlich nicht die Behinderung das wesentliche Kriterium für eine Ungleichbehandlung, sondern ein bestimmter Sachverhalt, wie beispielsweise die vorangegangene Vorsorgeleistung des Betroffenen in der Sozialversicherung oder auch die Ursache des Defekts im Bereich der sozialen Entschädigung.

5. Die Formen (benachteiligender) Ungleichbehandlungen Nach dem Sprachgebrauch, der sich in der Diskussion um die Geschlechterdiskriminierung entwickelt hat, unterscheidet man Ungleichbehandlungen im Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 GG heute üblicherweise anhand ihrer Erscheinungsformen. Da auch jede Benachteiligung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG auf einer Ungleichbehandlung basiert, sollen die verschiedenen Formen einer Ungleichbehandlung nachfolgend mit Bezug auf diesen Verfassungssatz dargestellt werden.

a) Die unmittelbare Ungleichbehandlung Die am längsten im Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 GG diskutierte Form ist die einer direkten Ungleichbehandlung im Sinne einer unmittelbaren rechtlichen Schlechterstellung von Merkmalsträgern gegenüber anderen. Dabei geht es um rechtliche Unterscheidungen durch das Aufstellen persönlicher Voraussetzungen für den Eintritt gewisser (Rechts-)Folgen, die in der Regel aufgrund eines Aktes der Rechtsetzung vom Staat getroffen werden 146 . Das Aufstellen rein sachlicher Voraussetzungen, die einheitlich für alle gelten, ist hingegen keine Unterscheidung in diesem Sinne und stellt folglich auch keine rechtliche Ungleichbehandlung von Merkmalsträgern dar 1 4 7 . Eine unmittelbare Ungleichbehandlung liegt zunächst vor, wenn das sog. „verpönte" bzw. „verbotene" Merkmal ausdrücklich im Tatbestand einer Norm auftaucht, was auch als sog. offene direkte Ungleichbehandlung bezeichnet wird 1 4 8 . Im Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 GG wird aber auch die sog. ver-

145 Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 3 III, Rn. 174 (Fn. 1). 1 46 Zum Unterscheidungsbegriff vgl. Sachs, Grenzen, S. 70 ff. 147 Sachs, HBdStR, Bd. V, S. 1029. 148 Vgl. Schweizer, S. 68.

Β. Der Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

181

deckte unmittelbare Ungleichbehandlung diskutiert. Dabei geht es um Fälle, bei denen das verbotene Merkmal gleichwohl das wesentliche Kriterium für eine rechtliche Unterscheidung darstellen soll; weil aber scheinbar neutrale oder synonyme Merkmale im „Tatbestand" des Rechtsetzungsaktes auftauchen, die ausschließlich und genau denselben Personenkreis kennzeichnen wie das verbotene Merkmal selbst, wird dies dort nicht offensichtlich. Dann wird zur Feststellung einer unmittelbaren Ungleichbehandlung nicht mehr auf den objektiven Tatbestand einer Norm, sondern auf die vorgelagerte subjektive Entscheidungsmaxime der rechtsetzenden Gewalt abgestellt. Letztlich geht es darum, unter Missbrauchsgesichtspunkten zu verhindern, dass das Abstellen auf faktische Verschiedenheiten zwischen den Menschen bei formaler rechtlicher Gleichbehandlung zu einer subjektiv gewollten Ungleichbehandlung wird 1 4 9 . Für die Unmittelbarkeit einer Ungleichbehandlung ist also maßgeblich, ob im Tatbestand einer Norm -entweder offen oder versteckt- auf solche Merkmale abgestellt wird, die einen durch das verbotene Merkmal spezifizierten Personenkreis erfassen. Eine Ungleichbehandlung wegen einer Behinderung kann zunächst festgestellt werden, wenn es möglich ist, zwei Fälle zu bilden, die bis auf das Kriterium der Behinderung in allen wesentlichen Punkten gleich sind und die dennoch in unterschiedlicher Weise rechtlich geregelt werden 150 . Überdies müssen im Rahmen des Benachteiligungsverbotes des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG mit dieser rechtlichen Ungleichbehandlung nachteilige Auswirkungen für den Betroffenen einhergehen. Eine solche unmittelbare benachteiligende Ungleichbehandlung setzt voraus, dass die Behinderung das wesentliche Kriterium für die Setzung unterschiedlicher Rechtsfolgen ist und damit zugleich ein rechtlicher Nachteil für den Betroffenen begründet wird. An einem einfachen Beispiel aus dem Kommunalrecht lässt sich der Fall einer (offenen) unmittelbar benachteiligenden Ungleichbehandlung wegen einer Behinderung verdeutlichen: Die Benutzungsordnung einer städtischen Sporthalle enthält die Regelung: „Behinderte Gemeindeangehörige sind von der Benutzung der Sporthalle ausgeschlossen". Die Gebietskörperschaft als Trägerin hoheitlicher Gewalt hat mit dieser Regelung somit einen satzungsmäßigen Benutzungsausschluss für behinderte Menschen geschaffen. Durch diesen Akt der kommunalen Rechtsetzung werden behinderte Gemeindeangehörige gegenüber nichtbehinderten unmittelbar ungleichbehandelt, da die Behinderung das (einzige) Kriterium für die rechtliche Unterscheidung bildet. Die Regelung begründet zugleich einen rechtlichen Nachteil für behinderte Menschen, da ihnen als Gemeindebürgern das Recht auf allgemeine Benutzung kommunaler Einrichtungen in Bezug auf die Sporthalle entzogen wird.

149 Sachs, HBdStR, Bd. V, S. 1054; ders., Grenzen, S. 452 ff. 150 Ebsen, Gleichberechtigung von Männern und Frauen, in: HBdVerfR, S. 263 ff. (S. 277); eingehend: Sachs, Grenzen, S. 428 ff.

182

4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

b) Die mittelbare Ungleichbehandlung Eine sog. mittelbare bzw. indirekte Ungleichbehandlung liegt vor, wenn von den (Rechts-)Folgen eines Rechtsetzungsaktes zwar nicht ausschließlich, aber überwiegend ein durch ein verbotenes Merkmal gekennzeichneter Personenkreis erfasst wird. Es geht hierbei also um das Abstellen auf solche Gegebenheiten für eine (rechtliche) Unterscheidung, die typischerweise, aber nicht ausschließlich bei diesem Personenkreis vorliegen 151 . Von dieser Form der Ungleichbehandlung wird auch das Aufstellen solcher sachlicher Voraussetzungen für den Eintritt (rechtlicher) Folgen erfasst, die an sich zwar für alle gelten, jedoch aufgrund der faktischen Umstände typischerweise nur von Trägern eines verbotenen Merkmals erfüllt werden. Beim Merkmal der Behinderung stehen diese faktischen Umstände, die zu einer mittelbaren Ungleichbehandlung führen können, regelmäßig im Zusammenhang mit der konkret gegebenen Funktionsbeeinträchtigung. Der Fall einer mittelbaren benachteiligenden Ungleichbehandlung soll wiederum unter Fortführung des obigen Beispiels verdeutlicht werden. Die Kommune beschließt, eine Sporthalle zu errichten und diese als öffentliche Einrichtung der Benutzung durch alle Gemeindeangehörigen zu widmen. Zwar besteht keinerlei satzungsmäßiger Benutzungsausschluss, jedoch befindet sich am Eingang der Halle eine hohe Treppe. Ein körperbehinderter Gemeindebürger, der auf den Rollstuhl angewiesen ist, hat zwar - ebenso wie alle anderen Gemeindeangehörigen - das Recht auf Benutzung der Halle. Faktisch ist ihm dieses Recht jedoch aufgrund seines Unvermögens, ohne Zugangsrampe in die Halle zu gelangen, verwehrt. Dieser faktische Ausschluss betrifft typischerweise Körperbehinderte, jedoch nicht ausschließlich. Man denke beispielsweise an alte oder kranke Menschen, die (vorübergehend) auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen sind oder auch an Mütter mit Kinderwägen.

c) Die „ strukturelle

" Benachteiligung behinderter Menschen

In neuerer Zeit wird im Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 GG überdies als weitere Form die sog. „strukturelle" Schlechterstellung von Merkmalsträgern diskutiert, die in engem Zusammenhang mit der mittelbaren Ungleichbehandlung steht und sich von dieser schwer abgrenzen lässt 152 . Es geht dabei um die Schaffung und Erhaltung solcher Strukturen, die typischerweise für den durch ein verbotenes Merkmal gekennzeichneten Personenkreis nachteilige Auswirkungen haben. Für behinderte Personen präsentiert sich diese Form der Benachteiligung regelmä-

151 Sachs, HBdStR, Bd. V, S. 1053. 152 Der Begriff stammt aus dem Diskurs um die Diskriminierung von Frauen und soll auf Ernst Benda zurückgehen; Schweizer, S. 71 (Fn. 89); zur strukturellen Diskriminierung von Behinderten siehe auch: Heiden, in: Strickstrock, S. 16.

Β. Der Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

183

ßig in der Orientierung ihrer gesamten Lebensumwelt am nichtbehinderten Menschen. Im obigen Beispiel nützt es dem rollstuhlfahrenden Gemeindebürger wenig, dass die Sporthalle barrierefrei zugänglich ist, wenn er die Haltestelle für den Bus zur Sporthalle mangels abgesenkter Bürgersteige nicht erreichen kann und überdies der Bus mangels behindertengerechter Ausstattung keine Rollstuhlfahrer befördern darf. Für sich genommen könnte zwar jede dieser Barrieren im Hinblick auf den konkret gegebenen faktischen Ausschluss von der Benutzung der Sporthalle auch eine mittelbare Ungleichbehandlung wegen einer Behinderung darstellen; abstrakt im Hinblick auf sämtliche Lebensbereiche betrachtet, fallen diese faktischen Barrieren jedoch als Beeinträchtigung der Teilhabe am öffentlichen Leben unter die Form einer strukturellen Benachteiligung.

I I I . Der persönliche Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG 1. Der berechtigte Personenkreis a) Natürliche Personen Die prinzipielle Anerkennung des Menschen als Person und Rechtssubjekt wird von der Rechtsordnung im Hinblick auf Art. 1 Abs. 1 GG als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt 153. Demgemäß gewährleistet das Grundgesetz zu Beginn des Grundrechtskataloges „allen Menschen" rechtliche Gleichheit und gelten die Gleichheitsrechte des Art. 3 GG als allgemeine Menschenrechte 154. Einschränkende personelle Anforderungen bestehen daher auch für die Anwendung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG grundsätzlich nicht. Allerdings darf sein Wortlaut auch nicht missverstanden werden. „Niemand" kann sich nur auf „alle Menschen" i. S. d. Art. 3 Abs. 1 GG beziehen, was das Benachteiligungsverbot als ein Jedermannsrecht qualifiziert 155 . Wenn im Zusammenhang mit diesem Verfassungssatz von einem „Behindertengrundrecht" gesprochen wird, dessen Träger „alle Menschen mit Behinderungen" sind, darf dies nicht den Eindruck erwecken, das Bestehen einer Behinderung wäre persönliche Voraussetzung, um sich auf den besonderen Gleichheitssatz berufen zu können 156 . Eine solche Auslegung wird vom 153 Sachs, in: ders., GG, Vor Art. 1 GG, Rn. 50. 154 Demgegenüber war noch nach Art. 109 Abs. 1 WRV die Gleichheit vor dem Gesetz lediglich „Allen Deutschen" garantiert. 155 Siehe zum Begriff des Jedermannsrechts, welcher offensichtlich auf der Formulierung des § 90 Abs. 1 BVerfGG basiert: Sachs, in: ders., GG, Vor Art. 1 GG, Rn. 51; Pieroth/ Schlink, Rn. 107. 156 So ζ. B. die missverständliche Formulierung bei G. Jürgens, NVwZ 1995, S. 452; siehe auch Sachs, RdJB 1996, S. 154.

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nicht gedeckt, was im Zusammenhang mit einer lediglich drohenden Behinderung, welche vom sachlichen Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG erfasst sein kann, bedeutsam ist. Allerdings beschränkt das Grundgesetz bestimmte Grundrechte wie ζ. B. die Rechte aus Art. 8, 9, 11, 12 und 33 GG auf „Deutsche" und unterscheidet damit zwischen In- und Ausländern. Zwar werden damit bereits auf Verfassungsebene nicht allen Menschen die gleichen Rechte gewährleistet, was dem Grundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG eigentlich widerspricht; diese Ausnahmen zum allgemeinen Gleichheitssatz sind aber durch gleichrangige Verfassungsnormen begründet und haben mit seinem Anwendungsbereich als Prüfungsmaßstab für nachrangiges Recht nichts zu tun 1 5 7 . Damit finden die Gleichheitssätze des Art. 3 GG auf alle Menschen grundsätzlich uneingeschränkte Anwendung. Insbesondere ist der Umstand, dass sich die Staatsbürgerschaft nicht unter den verbotenen Unterscheidungskriterien des Art. 3 Abs. 3 GG befindet, kein Grund, im Anwendungsbereich dieser Verfassungsnorm zwischen Deutschen und Nichtdeutschen zu unterscheiden 158. Im Zusammenhang mit der Grundrechtsberechtigung werden noch weitere Beschränkungen des persönlichen Anwendungsbereiches von Grundrechten diskutiert, die im Verfassungstext keine Grundlage finden 159 . Insbesondere wird die Frage aufgeworfen, ob die selbständige Ausübung von Grundrechten unter dem Stichwort der sog. „Grundrechtsmündigkeit" vom Alter und der Verstandesreife des Grundrechtsträgers abhängig gemacht werden kann 160 . Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass besonders Kinder ihre Grundrechte nicht selbständig ausüben können, weil eine auf Rechtswirkungen abzielende Handlungsfähigkeit ein gewisses Maß an Einsichtsfähigkeit und Steuerungsfähigkeit voraussetzt 161. Mittlerweile wird die fehlende „Mündigkeit" zur Ausübung bestimmter grundrechtlich geschützter Freiheiten überwiegend nicht mehr als Problem im Anwendungsbereich von Grundrechten betrachtet, sondern im Zusammenhang mit der Beschränkbarkeit von Grundrechten behandelt. Die Grundrechte können nämlich bei Kindern schon im Hinblick auf elterliche und öffentliche Erziehungsrechte aus Art. 6 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 1 GG im Vergleich zu Erwachsenen regelmäßig stärker eingeschränkt werden 162 . Das weitere Thema der Grundrechtsmündigkeit, also der Fähigkeit zur selbständigen Geltendmachung und gerichtlichen Durchsetzung von Grundrechten hat ebenfalls nichts mit dem personellen Anwendungsbereich von Grundrechten zu tun, sondern ist als Frage der Prozessführungsbefugnis rein verfassungsprozessualer Art 1 6 3 . 157 158

Gubelt, in: von Münch/Kunig, Art. 3, Rn. 5. Stark, in: von Mangoldt/Klein, Art. 3, Rn. 344; Gubelt, in: von Münch/Kunig, Art. 3,

Rn. 5. 159 Sachs, in: ders., GG, Vor Art. 1, Rn. 75. 160 Ausführlich hierzu: Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 1064 ff.; Rüftier, Bd. V, § 116, Rn. 19 ff., 23 ff.; Hohm, NJW 1986, S. 3107 ff. 161 Stern, Staatsrecht, Bd. III /1, S. 1066. 162 Jarass/Pieroth, Art. 19, Rn. 11; Hohm, NJW 1986, S. 3113.

in: HBdStR,

Β. Der Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

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So ist auch bei Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG die Frage nach der Grundrechtsmündigkeit eigentlich kein Thema seines Anwendungsbereiches. Sie ist hier aber zumindest anzusprechen, da im Zusammenhang mit der Diskussion um die Grundrechtsfähigkeit von Kindern der Schluss nahe liegt, dass auch im Hinblick auf schwerst körperlich oder geistig behinderte Menschen der Anwendungsbereich des besonderen Gleichheitssatzes personell zu beschränken ist. Gerade aber hier zeigt die Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG die Unzulänglichkeit der Grundrechtsmündigkeit als Konstruktion zur Beschränkung von Grundrechten auf. Es wäre geradezu paradox, wenn innerhalb des Anwendungsbereichs einer Verfassungsnorm, die gerade auch dem Schutze Schwerbehinderter Menschen dienen soll, personelle Einschränkungen für eben diesen Personenkreis gemacht würden. Die Anwendung des besonderen Gleichheitssatzes auf „alle Menschen" unterliegt daher bei natürlichen Personen keinerlei Einschränkungen in persönlicher Hinsicht. b) Juristische Personen Die Grundrechte gelten jedoch nicht ausschließlich für natürliche Personen, sondern gem. Art. 19 Abs. 3 GG auch für inländische juristische Personen, „soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind". Nach dieser Verfassungsnorm bestimmt sich auch, ob Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG für juristische Personen Anwendung finden kann. Die Erstreckung des Geltungsbereiches von Grundrechten nach Art. 19 Abs. 3 GG beschränkt sich zunächst auf inländische juristische Personen. Diese müssen also ihren Sitz, d. h. den tatsächlichen Mittelpunkt der Tätigkeit, im Geltungsbereich des Grundgesetzes haben 164 . Überdies können Grundrechtsträger nur privatrechtliche juristische Personen sein, grundsätzlich aber nicht solche des öffentlichen Rechts. Denn als selbst gem. Art. 1 Abs. 3 GG grundrechtlich Gebundene sollen diese nicht gleichzeitig Berechtigte der Grundrechte sein, da die Grundrechte primär nur das Verhältnis zwischen Bürger und Staat betreffen 165. Das Bundesverfassungsgericht lässt jedoch Ausnahmen für Kirchen, Hochschulen und Rundfunkanstalten zu, welche als Berechtigte aus den Freiheitsrechten aus Art. 4 und 5 GG eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Unabhängigkeit vom Staat genießen166. 163

Siehe hierzu: Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 204 Zum Problem der Gleichstellung juristischer Personen aus dem Bereich der EU vgl.: Rüfner, HBdStR, Bd. V, S. 512 f. (Rn. 59); Krüger, in: Sachs, GG, Art. 19, Rn. 52; Jarass/ Pieroth, Art. 19, Rn. 17. 165 Vgl. BVerfGE 21, 362 [369 ff.]. 164

166 Zur Grundrechtsberechtigung von Universitäten und Fakultäten vgl. BVerfGE 15, 256 (262); für die Rundfunkanstalten vgl. die beiden sog. „Femsehurteile" des BVerfG (E 12, 205 [259 f.]; E 31, 314 [322]); zur Selbständigkeit der Kirchen BVerfGE 18, 385 [386 f.]; zur umstrittenen Grundrechtsträgerschaft anderer selbständiger staatlicher Einrichtungen: Krüger, in: Sachs, GG, Art. 19, Rn. 92 ff.; Jarass/Pieroth, Art. 19, Rn. 19 ff.

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

Ausschlaggebend für die Grundrechtsträgerschaft juristischer Personen ist jedoch, ob das jeweilige Grundrecht seinem Wesen nach auf die juristische Person angewendet werden kann. Dies wurde bereits für Art. 3 Abs. 3 GG a.F. bezweifelt, weil die dort genannten Merkmale überwiegend als höchstpersönliche Eigenschaften von Menschen erscheinen 167. Eine Erstreckung des Grundrechtsschutzes auf juristische Personen könnte deshalb mit dem Wesen dieser Norm unvereinbar sein. Es gibt jedoch auch gewichtige Stimmen in der Literatur, die unter Hinweis auf die Vereinigungsfreiheit in Art. 9 GG die Erstreckung des persönlichen Anwendungsbereichs von Art. 3 Abs. 3 GG auf freiwillige Assoziationen fordern, deren Zusammenschluss und Tätigkeit „wegen" der dort genannten Merkmale erfolgt 168 . Jedenfalls für die Kirchen und religiösen Gemeinschaften konnte sich diese Auffassung weitgehend durchsetzen 169. Soweit die genannten Merkmale wie „Glaube" und „religiöse und politische Anschauungen" nämlich unmittelbar grundrechtlich geschütztes Verhalten benennen, werden auch die insoweit von den Freiheitsgrundrechten geschützten Vereinigungen zu Trägern der Rechte aus Art. 3 Abs. 3 GG 1 7 0 . Im Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG wird eine Erstreckung der Grundrechtsträgerschaft auf juristische Personen jedoch überwiegend abgelehnt 171 . Nach Wortlaut und Zweck des Benachteiligungsverbots kämen nur natürliche Personen als Träger des Grundrechts in Betracht 172 . Überdies ist das genannte Merkmal der Behinderung eine höchstpersönliche Eigenschaft, die sich wegen ihrer engen Verknüpfung mit dem Gesundheitszustand eines Menschen nicht auf juristische Personen übertragen lässt. Fraglich ist allerdings, ob ein Behindertenverband, dessen Zusammenschluss und Tätigkeit zum Ziel hat, dass seine Mitglieder nicht „wegen" ihrer Behinderung benachteiligt werden, als freiwillige Vereinigung i. S. d. Art. 9 GG nicht dennoch Berechtigter des Benachteiligungsverbots sein kann. Vorgeschlagen wird dies für den Fall, dass ein solcher Verband wegen der Behinderung seiner Mitglieder oder Funktionsträger benachteiligt wird 1 7 3 . Ob nun einer juristischen Person allein deshalb, weil ihre Mitglieder behindert sind, im Vergleich zu anderen privatrechtlichen Vereinigungen ein besonderer Schutz vor Benachteiligungen zukommen muss, ist zweifelhaft. Anerkannt wird dies grundsätzlich für die Kirchen, die sich jedoch auf einen untrennbaren Zusammenhang zwischen Glaube, Gemeinschaft der Gläubigen und Kirche stützen können 174 . Behinderten verbände vertreten zwar das Interesse ihrer Mitglieder, we167 Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3, Rn. 238; Jarass/Pieroth, Art. 3, Rn. 71, 97. 168 Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 3 III, Rn. 166 f.; Stark, in: von Mangoldt/Klein, Art. 3, Rn. 345. 169 Jarass/Pieroth, Art. 3, Rn. 97; Stark, in: von Mangoldt/Klein, Art. 3, Rn. 345. 170 Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3, Rn. 238. 171 Heun, in: Dreier, GG, Art. 3, Rn. 121; Jarass/Pieroth, Art. 3, Rn. 10; Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3, Rn. 308; Stark, in: von Mangoldt/Klein, Art. 3, Rn. 383; Gubelt, in: von Münch/Kunig, Art. 3, Rn. 94 a. 172 Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3, Rn. 308. 173 Rüfner, in: Bonner Kommentar, Art. 3, Rn. 882.

Β. Der Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

187

gen einer Behinderung nicht benachteiligt zu werden, jedoch können deren Behinderungen dem Verband wohl kaum als „seine" Behinderung i.S.v. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG in vergleichbarer Weise zugerechnet werden, wie die Kirche im Zusammenhang mit der religiösen Anschauung und dem Glauben i.S.v. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG steht. Schließlich ist der weitere Fall, dass ein Verband keine eigene, sondern eine Benachteiligung seiner Mitglieder vor dem Verfassungsgericht rügen will, keine Frage des materiellen Verfassungsrechts, sondern des Verfassungsprozessrechts. Zwar kennt das bewusst lückenhafte Verfahrensrecht bei der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG keine Regelung zur Prozessstandschaft, jedoch dürfte eine entsprechende Anwendung der zivil- oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrensvorschriften 175 zur Geltendmachung fremder (Grund-)Rechte in eigenem Namen wegen der notwendigen Selbstbetroffenheit in eigenen Grundrechten regelmäßig ausgeschlossen sein 176 .

2. Die Bindungsadressaten a) Die staatliche Gewalt Nach Art. 1 Abs. 3 GG binden „die nachfolgenden Grundrechte ( . . . ) Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht." Die Benennung der grundrechtsgebundenen Staatsfunktionen zielt auf die lückenlose Bindung aller staatlichen Gewalt 177 . Als Adressat der Grundrechte ist deshalb primär der Staat zu betrachten, was ebenso für den besonderen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gelten muss. Im Hinblick auf die Ausgestaltung des Benachteiligungsverbots als besonderer Gleichheitssatz ist Inhalt dieser Bindung besonders die Rechtsetzungsgleichheit. Die Grundrechtsbindung der Gesetzgebung betrifft aber nicht nur die parlamentarischen Gesetzgeber von Bund und Ländern, sondern letztlich auch jegliche Rechtsetzung anderer Institutionen 178 . Es ist daher zuvorderst die Aufgabe des Gesetz174

Für die christlichen Kirchen des europäischen Kulturkreises vgl. schon: Mt 18, 20: „Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen." 175 Zur Prozessstandschaft § 51 ZPO (i.V.m. § 173 VwGO); die gewillkürte Prozessstandschaft ist im Verwaltungsprozessrecht allerdings umstritten, hierzu: Kopp/Schenke, VwGO, 12. Aufl.,Vor § 40, Rn. 24 ff. 176 Zur Verfahrensbeteiligung im Verfassungsprozessrecht siehe: Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rn. 204 ff. (224). 1 77 Vgl. Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1, Rn. 76; Rüfner, in: HBdStR, Bd. V, § 117, Rn. 1; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 164 ff. 178 Allenfalls bei Rechtsverordnungen und Satzungen von Autonomieträgern ist die richtige Zuordnung zu den in Art. 1 Abs. 3 GG genannten Staatsfunktionen strittig, nicht jedoch die Grundrechtsbindung an sich; vgl. Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1, Rn. 84.

188

4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

gebers, materielle Gleichheit mit seiner Rechtsetzung anzustreben. Die Grundsätze der materiellen Gleichheit binden aber auch die vollziehende Gewalt, soweit ihr rechtliche Handlungsspielräume zustehen179. Wo die Verwaltung zum Erlass von Richtlinien oder Satzungen sowie zur Ausübung von Ermessen ermächtigt ist, setzt diese selbst Recht und muss die Grundsätze der materiellen Gleichheit beachten. Vollzieht die Verwaltung jedoch nur das bestehende Recht, ist ihre Bindung an die Gleichheitsgrundrechte auf die Wahrung strikter Rechtsanwendungsgleichheit gerichtet180 Die Grundrechtsbindung der staatlichen Gerichtsbarkeit an die Gleichheitssätze ist gewissermaßen eine mehrstufige. Zunächst sind die Gerichte selbst bei ihrer rechtsprechenden Tätigkeit sowohl im Hinblick auf das Verfahren als auch das inhaltliche Ergebnis ihrer Entscheidungen an die Grundrechte gebunden. Überdies ist die sog. Dritte Gewalt die grundrechtsschützende Gewalt schlechthin und hat damit die Einhaltung der Grundrechte durch Gesetzgebung und vollziehende Gewalt zu sichern 181 . Mit anderen Worten haben die Gerichte also einerseits das Recht selbst ohne Ansehung der Person anzuwenden und innerhalb ihrer Entscheidungsspielräume die Grundsätze der materiellen Rechtsgleichheit zu beachten, andererseits aber auch die Rechtsanwendung und Rechtsetzung der anderen Gewalten zu kontrollieren. Während die Kontrolldichte bei der formalen Rechtsanwendungsgleichheit sehr hoch ist, kommt der Gesetzgebung bei der Rechtsetzung ein weiter Gestaltungsspielraum zu, den die Gerichte zu beachten haben. Die Gerichte können daher die Einhaltung der Rechtsetzungsgleichheit nur innerhalb gewisser Grenzen kontrollieren.

b) Die Gesellschaft als Bindungsadressat? Ausweislich seiner Entstehungsgeschichte sollte mit der Aufnahme des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG in das Grundgesetz das Ziel verfolgt werden, die gesellschaftliche Integration und Teilhabe behinderter Menschen zu verbessern und Diskriminierungen im öffentlichen Leben zu beseitigen. Das angestrebte Regelungsziel der Verfassungsnorm ist damit auf die Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse gerichtet und betrifft vor allem das Verhältnis Privater untereinander. Fraglich ist aber, ob die Gesellschaft überhaupt als Adressat des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG angesehen werden kann. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Grundrechte auch Private untereinander unmittelbar binden könnten. Als unmittelbar geltendes Recht binden die Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG jedoch nur die staatliche Gewalt. Im Umkehrschluss sind Private, sofern sie nicht ausnahmsweise ζ. B. als Beliehene selbst hoheitliche Gewalt ausüben, nicht unmittelbar grundrechtsverpflichtet. Ent179 Jarass/Pieroth, Art. 3, Rn. 34 180 Zur umstrittenen Grundrechtsgeltung im sog. Verwaltungsprivatrecht siehe Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1, Rn. 84; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 171. 181 Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1, Rn. 97.

Β. Der Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

189

stehungsgeschichtlich belegt sind Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat entstanden, regeln damit zuvorderst das Verhältnis des Einzelnen zum Staat und sollen seiner Allmacht Schranken setzen182. Grundsätzlich ist also auch nur der Staat Adressat von Grundrechten, nicht aber private Rechtssubjekte. Für die Grundrechte des Grundgesetzes ist aber weitestgehend unbestritten, dass diese über das klassische Staat-Bürger-Verhältnis hinaus auch im Verhältnis zwischen Privaten untereinander sog. Drittwirkung entfalten können. An wenigen Stellen erstreckt das Grundgesetz selbst die Geltung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten unmittelbar auf privatrechtliche Rechtsverhältnisse und macht damit Private zum Bindungsadressaten dieser Rechte 183 . Ebenso kennen einige Landesverfassungen unmittelbar drittwirkende Verfassungsbestimmungen, die sich unmittelbar an den Bürger als Adressaten richten184. Diese wenigen Ausnahmen von Art. 1 Abs. 3 GG bestätigen damit eigentlich die Regel, dass Grundrechte nur den Staat unmittelbar verpflichten. Jedoch wird auch für die übrigen Grundrechte des Grundgesetzes die Frage diskutiert, ob sich ihre Geltung unmittelbar auch auf das Verhältnis zwischen den Bürgern untereinander erstrecken kann 185 . Eine solche unmittelbare Drittwirkung, die den Privaten zum Adressat der Grundrechtsbindung macht, hat das Bundesarbeitsgericht mit einem Bedeutungswandel der Grundrechte begründet 186. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass im modernen Sozialstaat der Gegenwart Freiheitsbedrohungen nicht mehr nur vom Staat, sondern besonders auch von großen Wirtschaftsorganisationen, Verbänden, Gewerkschaften etc. ausgehen können 187 . In diesem Zusammenhang kann für eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte auch Art. 1 Abs. 2 GG angeführt werden, wonach die Menschenrechte „Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft" sind. Vor diesem Hintergrund wurde bereits für das Menschenrecht aus Art. 3 Abs. 3 GG a.F. eine unmittelbare Drittwirkung erwogen. Aus der absoluten Formulierung mit dem Wort „darf' ergebe sich ein Auftrag an Wirtschaft und Gesellschaft und würden diese zum Bindungsadressaten des Diskriminierungsverbots 188. Da auch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG eine ebenso absolute Formulierung enthält, kann

182

Nach dem Bericht des Abgeordneten v. Mangoldt, zit. nach: Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 175. 183 Vgl. Art. 9 Abs. 3 Satz 2, Art. 20 Abs. 4, Art. 38 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 48 Abs. 2 GG. 1 84 So ζ. B. Art. 7 Abs. 2 BrandVerf: „Jeder schuldet jedem die Anerkennung seiner Würde." 1 85 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 475 ff. kommt stets über eine mehrfache Abstraktion seines Prinzipienmodells zu einer unmittelbaren Dritt- bzw. Horizontalwirkung von Grundrechten. Dabei scheint aber für die Unmittelbarkeit dieser Wirkung für ihn ausschlaggebend zu sein, ob die Existenz eines Grundrechts in gewisser Weise conditio sine qua non für die Verpflichtung des Privaten ist, vgl. ders., ebenda, S. 489 f. bezugnehmend auf das sog. Lüth-Urteil des BVerfG (E 7, 198 ff.). 186 BAGE 1, 185, [193 f.]. 187

Pieroth/Schlink,

Grundrechte, Rn. 176.

iss siupik, JR 1990, S. 319.

190

4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

es nahe liegen, Wirtschaft und Gesellschaft in diesem Sinne als Adressat eines solchen Auftrages zu betrachten. Abgesehen von den wenigen Ausnahmen in der Verfassung ist eine unmittelbare Drittwirkung von Grundrechten jedoch abzulehnen. Dies liefe Sinn und Zweck der Grundrechte als Rechte gegenüber der öffentlichen Gewalt zuwider und würde diese zu Pflichten gegenüber allen Mitbürgern verkehren, die unvermeidlich weitgehende Freiheitsbeschränkungen mit sich brächten 189. Vielmehr können die Rechtsbeziehungen von Privaten untereinander nur mittelbar von den Grundrechten beeinflusst werden. Diese sog. mittelbare Drittwirkung der Grundrechte leitet das Bundesverfassungsgericht aus ihrer objektiv-rechtlichen Bedeutung als Weitentscheidungen ab, die eine Ausstrahlungswirkung in das Privatrecht entfalten 190 . In der Tat werden die Gehalte der Grundrechte stets nur durch ein Handeln des Staates - gewissermaßen im Rahmen seiner eigenen „unmittelbaren" Grundrechtsbindung - „vermittelt". Dies gilt besonders auch für die Gleichheitssätze aus Art. 3 GG. Jeder Private ist als Folge der formellen Rechtsanwendungsgleichheit ausnahmslos an das geltende Recht gebunden, bei dessen Schaffung die Gesetzgebung wiederum den Grundsätzen der materiellen Gleichheit verpflichtet ist. Besonders im Streitfall zwischen privaten Rechtssubjekten kommt die mittelbare Grundrechtsbindung der Bürger untereinander zum Ausdruck. Die ordentlichen Gerichte, die gem. § 13 GVG über diese Streitigkeiten zu entscheiden haben, sind nämlich selbst der unmittelbaren Grundrechtsbindung nach Art. 1 Abs. 3 GG unterworfen. Diese haben daher bei der Auslegung des geltenden Privatrechts die Weitungen des Grundgesetzes zu beachten, was für Private untereinander zu einer mittelbaren Grundrechtsbindung führen kann, insbesondere durch die Auslegung von Generalklauseln wie z. B. § 242 BGB oder Blankettbegriffen wie ζ. B. „rechtmäßig" oder „sittenwidrig". Bei Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG beschränkt sich seine Wirkung zwischen privaten Rechtssubjekten nach herrschender Ansicht ebenso auf diese sog. mittelbare Drittwirkung 191 . Auch sofern man dem Benachteiligungsverbot einen Auftrag zur Beseitigung von Diskriminierungen tatsächlich entnehmen kann, bindet dieser nicht unmittelbar Gesellschaft und Wirtschaft, sondern den Staat, dessen Gewalt diesen Auftrag erst um- und durchsetzen müsste. Damit ist als Adressat des Benachteiligungsverbots unmittelbar nur der Staat zu betrachten.

189 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 176. 190 So schon im Lüth-Urteil BVerfGE 7, 198 [206 f.]. 191 Für die ghM vgl. nur: Scholz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 3 III, Rn. 174; Heun, in: Dreier, GG, Art. 3, Rn. 123; Jarass/Pieroth, Art. 3, Rn. 109; Stark, in: von Mangoldt/Klein, Art. 3, Rn. 347.

C. Die subjektiv-rechtliche Dimension des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

191

C. Die subjektiv-rechtliche Dimension des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG Die Grundrechtsqualität einer Verfassungsnorm wird herkömmlicher Weise nach seiner klassischen Funktion als Abwehrrecht gegen den Staat beurteilt. Allerdings können aus einem Grundrecht mitunter auch subjektive Leistungsrechte hergeleitet werden, weshalb im Folgenden allgemein von der subjektiv-rechtlichen Dimension des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gesprochen werden soll. Nichtsdestotrotz sollen zunächst die subjektiv-rechtlichen Grundrechtspositionen der weiteren Gleichheitssätze des Art. 3 GG im Hinblick auf ihre herkömmliche Funktion als Abwehrrechte betrachtet werden und als Ausgangspunkt für die Untersuchung dienen.

I. Subjektiv-rechtliche Grundrechtspositionen aus Art. 3 GG a.F. 1. Die Struktur des allgemeinen Gleichheitssatzes als individuelles Abwehrrecht gegen staatliche Ungleichbehandlungen Die Interpretation des allgemeinen Gleichheitssatzes als Abwehrrecht gegen staatliche Ungleichbehandlungen wird entscheidend von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geprägt, welche sich seit Inkrafttreten des Grundgesetzes stetig fortentwickelt hat. Mittlerweile prüft das Gericht eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG in zwei Stufen. Zunächst ist zu fragen, ob der allgemeine Gleichheitssatz durch eine staatliche Ungleichbehandlung überhaupt betroffen ist. Nach herkömmlicher Auffassung ist Art. 3 Abs. 1 GG dann berührt, wenn wesentlich Gleiches ungleich 192 oder wesentlich Ungleiches gleich behandelt wird 1 9 3 . Allerdings sollen die Probleme der Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem, je nachdem welchen Bezugspunkt man wählt, regelmäßig auch als Probleme einer Ungleichbehandlung zu erfassen sein 194 , weshalb nachfolgend nur noch der letztere Begriff verwendet wird. Erst in einem zweiten Schritt geht es dann um die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer Ungleichbehandlung. In einer notwendig differenzierenden Rechtsordnung verstoßen nämlich nicht jegliche Ungleichbehandlungen gegen Art. 3 Abs. 1 GG, sondern nur solche, die nicht durch einen legitimen Differenzierungsgrund verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden können.

192 St. Rspr. seit BVerfGE 1, 14 [16, 52]; E 49,148 [165]. 193 So z. B. BVerfGE 19, 119 [125 f.]; E 37, 38 [46]; E 40, 148 [165]. 194 Rüfner, in: Bonner Kommentar, zu Art. 3 Abs. 1, Rn. 10; vgl. hierzu auch die Beispiele bei Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 437; dagegen Jarass/Pieroth, Art. 3, Rn. 5.

192

4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

a) Verfassungsrechtlich

relevante Ungleichbehandlungen

Ausgangspunkt für eine Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG ist immer die Feststellung einer verfassungsrechtlich relevanten, also rechtfertigungsbedürftigen Ungleichbehandlung. Eine solche liegt immer dann vor, wenn wesentlich Gleiches unterschiedlich behandelt wird. Wesentliche Gleichheit bezieht sich auf die Vergleichbarkeit von Personen, Personengruppen oder Situationen, wofür es zunächst eines Bezugspunktes 195 bedarf. Die verschieden behandelten Personen, Personengruppen oder Situationen müssen unter einen gemeinsamen Oberbegriff 196 fallen. Dieser stellt den Bezugspunkt dar, unter welchem die gemäß einem Unterscheidungsmerkmal 197 verschiedenen Personen, Personengruppen oder Situationen vollständig und abschließend sichtbar werden müssen. Eine verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem ist dann gegeben, wenn eine Person, Personengruppe oder Situation rechtlich anders behandelt wird als eine andere und überdies beide Personen, Personengruppen oder Situationen unter einen gemeinsamen Oberbegriff gefasst werden kön-

b) Rechtfertigung

einer Ungleichbehandlung

Hinsichtlich der Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen durch den Gesetzgeber ist zu beachten, dass die Auswahl von Gründen für Differenzierungen den Kernbereich der gesetzgeberischen Kompetenz tangiert, basiert doch die gesamte Rechtsordnung notwendigerweise auf Abstrahierung vom Einzelfall und jeder Tatbestand einer rechtlichen Regelung auf einer Differenzierung nach bestimmten Kriterien 199 . Die Auswahl von Gründen für rechtliche Differenzierungen kommt daher dem Gesetzgeber zu, der dabei einen weiten Gestaltungsspielraum hat, welchen das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung nicht übermäßig beschneiden darf 2 0 0 .

195

Lat.: tertium comparationis. Lat.: genus proximum. 197 Lat.: differentia specifica. ι 9 « Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 435. 196

i " Riifner, in: Bonner Kommentar, Art. 3 I, Rn. 90; Osterloh, in: Sachs, GG, Rn. 2. 200 in diesem Sinne auch: BVerfGE 3, 58 [135 f.]; E 17, 319 [330]; E 51, 295 [300].

C. Die subjektiv-rechtliche Dimension des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

193

(1) Die Willkürformel

Von daher hat sich das Verfassungsgericht bei der Kontrolle von Verstößen gegen Art. 3 Abs. 1 GG auch stets zurückgehalten und interpretierte besonders in seiner früheren Rechtsprechung den allgemeinen Gleichheitssatz als reines Willkürverbot. Nach der sog. Willkürformel 201 ist eine Ungleichbehandlung nur dann im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich unzulässig, wenn sich für die Differenzierung „ ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund nicht finden lässt" 202. Bei der Prüfung des Gleichheitssatzes als Willkürverbot kommt es also darauf an, ob der Grund für eine Ungleichbehandlung durch eine gesetzliche Regelung offenkundig unsachlich und mithin willkürlich erscheint 203. Dabei geht es nicht um die Feststellung subjektiver, also dem Rechtsetzungsorgan vorwerfbarer Willkür 2 0 4 , sondern um eine objektive, also evident sichtbar werdende Willkür 2 0 5 . Die verfassungsrechtliche Nachprüfung des sachlichen Grundes, welcher eine Ungleichbehandlung rechtfertigen kann, ist mit dieser Willkürformel insofern auf eine reine Evidenzprüfung beschränkt. Diese Selbstbeschränkung des Bundesverfassungsgerichts mit der Willkürformel zugunsten eines äußerst weiten Ermessensspielraumes des Gesetzgebers hinsichtlich der Auswahl von Differenzierungsgründen stieß in der Rechtswissenschaft jedoch auf Kritik. Das Willkürverbot wurde als leerformelhaft und unzulänglich empfunden 206.

(2) Die „neue" Formel Je mehr die Freiheitsrechte in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts aufgewertet und ausgebaut wurden, desto problematischer musste auch die Interpretation des Gleichheitssatzes als bloßes Willkürverbot erscheinen, da diese zuneh201

Während seiner Amtszeit am Bundesverfassungsgericht hatte Gerhard Leibholz mit der von ihm und H. Triepel in der Weimarer Zeit entwickelten Lehre diese Willkürformel entscheidend geprägt; vgl. hierzu: Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, Leipzig 1925. 2 2 St. Rspr. seit BVerfGE 1, 14 [16, 52]. 2 03 BVerfGE 55, 72 [90]; E 83, 1 [23]; E 91, 118 [123]. 204 So bereits ausdrücklich BVerfGE 2, 266 [281]. 205 Vielleicht kann damit auch erklärt werden, warum nach der Willkürformel genaugenommen auch „unvernünftige", aber dennoch „sonstwie" einleuchtende Gründe für eine Ungleichbehandlung ausreichen sollen: in parlamentarische Streitfragen, ob nun gewisse Regelungen einen politisch „vernünftigen" oder „unvernünftigen" Zweck verfolgen, soll sich das Verfassungsgericht nicht einmischen; siehe hierzu die Kritik von Hesse, FS Lerche, S. 122, Fn. 1. 206

Zur Unzulänglichkeit der Willkürinterpretation siehe bereits: Scholler, Die Interpretation, S. 36 ff.; zu ihrem methodischen Dilemma vgl. Sachs, JuS 1997, S. 124 f.; s.a. Hesse, FS Lerche, S. 126 (Fn. 29) m. w. N. 13 Straßmair

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

mend in einen auffälligen Kontrast zu der dynamisch ausdifferenzierten Grundrechtsjudikatur im übrigen geriet 207 . Wohl deshalb bemühte sich der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts darum, deutlichere Kriterien dafür zu entwickeln, wann eine Ungleichbehandlung hinzunehmen war und wann eine solche als verfassungsrechtlich unzulässig angesehen werden musste 208 . In seiner Entscheidung vom 7. Oktober 1980 formulierte er im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG, dieses Grundrecht sei „ vor allem dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten " 209. Dieser von der Literatur als „neue Formel" 210 bezeichnete Ansatz des Gerichts deutete nunmehr strengere Anforderungen hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Differenzierungen an. Im Gegensatz zur herkömmlichen Willkürformel konnte, jedenfalls im Hinblick auf verschieden behandelte Personengruppen, nicht mehr irgendein sachlicher Grund eine Ungleichbehandlung rechtfertigen, sondern nur Differenzierungsgründe von gewisser Art und gewissem Gewicht. Ob damit die strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Eingriffen in Freiheitsgrundrechte auf die Prüfung eines sachlichen Grundes für eine Ungleichbehandlung übertragen werden konnte, blieb jedoch umstritten 211 . Zumal auch das Bundesverfassungsgericht lange keine klaren Konturen erkennen ließ 2 1 2 , wurde in der „neuen Formel" vielfach auch kein wirklicher Unterschied zu einer reinen Evidenzprüfung erblickt 213 .

(3) Die „neueste" Formel Die „neue Formel" zu Art. 3 Abs. 1 GG markiert jedoch einen deutlichen Umbruch in der Gleichheitsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts. Mit der Ausdifferenzierung der Maßstäbe der „neuen Formel" begann das Gericht nämlich in der Rechtsprechung zu Art. 3 Abs. 1 GG eine neue Linie zu verfolgen, welche immer 207 Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 3 Anh., Rn. 6; Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3, Rn. 12 208 Jarass, NJW 1997, S. 2545. 209 So im Grundsatzbeschluss zur Präklusion im Zivilprozess, BVerfGE 55, 72 [88]. 210 Vgl. statt vieler: Rüfner, in: Bonner Kommentar, Art. 3 I, Rn. 25, 13; Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 3 Anh., Rn. 6. 211 Aus dogmatischen Gründen skeptisch: Kirchhof, HBdStR, Bd. V, S. 911 ff.; vgl. auch Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3, Rn. 14 m. w. N. 212 Unterschiedliche Auffassungen bestanden auch zwischen Erstem und Zweitem Senat; vgl. Hesse, FS Lerche, S. 125; s.a. Jarass, NJW 1997, S. 2545 [Fn. 8]; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 444 kritisiert die diesbezügliche Judikatur des Verfassungsgerichts als „zufällig". 213 Zur Kritik an der „neuen Formel" siehe: Umbach/Clemens, VSSR 1992, S. 278; Köhler, SdL 1996, S. 424.

C. Die subjektiv-rechtliche Dimension des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

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klarere Konturen erhielt 214 . Schließlich fasste es seine bisherige Rechtsprechung im sog. zweiten Transsexuellen-Beschluss aus dem Jahre 1993 zusammen215 und brachte sie damit derart prägnant auf den Punkt, dass diese Entscheidung als Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung der neuen Formel zu einem systematischen Konzept zur Feststellung verfassungsrechtlich unzulässiger Ungleichbehandlungen angesehen werden kann 216 . Mitunter als dessen neueste Formel 217 bezeichnet, trifft das Bundesverfassungsgericht dort folgende Feststellung: „Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich je nach Regelungszustand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen. (...) Da der Grundsatz, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, in erster Linie eine ungerechtfertigte Verschiedenbehandlung von Personen verhindern soll, unterliegt der Gesetzgeber bei einer Ungleichbehandlung von Personengruppen einer strengeren Bindung. Diese Bindung ist umso enger, je mehr sich die personenbezogenen Merkmale den in Art. 3 Abs. 3 GG genannten annähern und je größer deshalb die Gefahr ist, dass eine an sie anknüpfende Ungleichbehandlung zur Diskriminierung einer Minderheit führt. Die engere Bindung (... ) gilt auch, wenn eine Ungleichbehandlung von Sachverhalten mittelbar eine Ungleichbehandlung von Personengruppen bewirkt. Bei lediglich verhaltensbezogenen Unterscheidungen hängt das Maß der Bindung davon ab, inwieweit die Betroffenen in der Lage sind, durch ihr Verhalten die Verwirklichung der Merkmale zu beeinflussen, nach denen unterschieden wird. Überdies sind dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers umso engere Grenzen gesetzt, je stärker sich die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann. " 218

c) Fazit Die Entwicklung der „neuesten Formel" hat deutlich gemacht, dass bezüglich der Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung maßgeblich darauf abzustellen ist, mit welcher Intensität die Ungleichbehandlung den Betroffenen beeinträchtigt 219. Die Intensität der Betroffenheit nimmt zu, je mehr sich das Differenzierungskriterium einem nach Art. 3 Abs. 3 GG verpönten personenbezogenen Kriterium annähert und je weniger Einflussmöglichkeit der Betroffene hierauf hat 2 2 0 . Des weiteren ist ausschlaggebend, ob und in wel214 Zu dieser Entwicklung siehe: Sachs, JuS 1997, S. 126 ff.; Hesse, FS Lerche, S. 121 ff. 215 Beschluss vom 26. Ol. 1993, BVerfGE 88, 87. 216 S.a. Jarass, NJW 1997, S. 2545 ff. 217 218 219 220 13*

Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 3 Anh., Rn. 69. BVerfGE 88, 87 [96]. Vgl. auch BVerfGE 91, 389 [401]; E 95, 267 [316]. s.a. BVerfGE 92, 26 [52].

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

chem Maße die Ungleichbehandlung den Gebrauch grundrechtlich geschützter Freiheiten erschwert 221. Bei Ungleichbehandlungen geringer Intensität ist die Rechtfertigungsprüfung auf eine reine Evidenzkontrolle beschränkt und gemäß der Willkürformel nur auf das Vorliegen irgendeines sachlichen Grundes abzustellen. Demgegenüber können Ungleichbehandlungen größerer Intensität nur durch einen gewichtigen Grund gerechtfertigt sein. Ahnlich wie bei Eingriffen in Freiheitsgrundrechte wird hier eine Verhältnismäßigkeitsprüfung verlangt, so dass eine Ungleichbehandlung nur dann durch einen gewichtigen Grund gerechtfertigt ist, wenn sie einen legitimen Zweck verfolgt, zur Erreichung dieses Zwecks geeignet und notwendig ist und in einem angemessenen Verhältnis zur Bedeutung dieses Zwecks steht 222 . In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zeigen sich damit vielleicht nur zufällige, aber dennoch unübersehbare methodische Parallelen zur Handhabung von Gleichheitsrechten im internationalen Bereich. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang beispielsweise auf Art. 14 EMRK, welcher als akzessorischer Gleichheitssatz nur bei gleichzeitiger Berührung anderer Konventionsrechte greift 223 . Auffällig ist auch eine Parallele zur Judikatur des U.S. Supreme Court, der in ähnlicher Weise verschärfte Anforderungen stellt für Differenzierungen bei einer Betroffenheit von „fundamental rights" oder der Verwendung von „suspect classifications", die den „suspekten Differenzierungskriterien" des Art. 3 Abs. 3 GG weitgehend entsprechen 224. Ob die Entwicklung dynamischer Maßstäbe zur Prüfung des Art. 3 Abs. 1 GG nun den endgültigen Abschied von der alten Willkürformel bedeutet, soll hier weniger von Bedeutung sein. Hinzuweisen ist aber auf die Tendenz in der Gleichheitsjudikatur, unter Abkehr von einer strikt formelhaften Prüfung der Gleichheitssätze eine ausdifferenzierte Methodik zu entwickeln und dabei auch die Zusammenhänge von Freiheit und Gleichheit immer mehr zu berücksichtigen.

2. Das individuelle Abwehrrecht aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG Die Interpretation des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG als Anknüpfungsverbot führt nicht dazu, dass jede auf der Grundlage eines verpönten Merkmals getroffene Dif221 Ebenso BVerfGE 92, 53 [69]. 222 Zu den Unterschieden gegenüber der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Freiheitsrechten siehe: Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 441 ff.; gegen eine Parallelisierung mit der Verhältnismäßigkeitsprüfung: Heun, in: Dreier, GG, Art. 3, Rn. 24. 223 Zum Zusammenhang zwischen Freiheitsrechten und dem allgemeinen Gleichheitssatz und der diesbezüglichen Parallele zu Art. 14 EMRK: Bleckmann, Die Struktur, S. 51 ff. (57). 224 Hierzu Sachs, Grenzen, S. 163 ff. m. w. N.; ders., JuS 1997, S. 127; Hesse, FS Lerche, S. 127; Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3, Rn. 26 (Fn. 41).

C. Die subjektiv-rechtliche Dimension des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

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ferenzierung im Recht stets auch einen Verfassungsverstoß nach sich zöge, welcher ein einklagbares Recht des Einzelnen auf Abwehr dieser Ungleichbehandlung begründete. Unabhängig davon, wie streng man das Modell des Anknüpfungsverbots auch handhaben will, müssen doch gewisse Ausnahmen und Abweichungen von dieser Regel zugelassen werden, da die auf Abstrahierung und Differenzierung angelegte Rechtsordnung auch die in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG angesprochenen Unterschiede zwischen den Menschen nicht immer gänzlich ignorieren kann 225 . Deshalb soll auch hier zur Beurteilung der Frage, wann für den Einzelnen wegen eines verfassungswidrigen Verstoßes gegen diesen speziellen Gleichheitssatz ein individuelles Abwehrrecht entsteht, das zum allgemeinen Gleichheitssatz entwickelte zweistufige Regel-Ausnahme-Konzept als Ausgangspunkt der Untersuchung dienen. Demzufolge muss in einem ersten Schritt eine Ungleichbehandlung durch Anknüpfung an ein verbotenes Merkmal festgestellt werden, bevor sich die Frage stellt, ob diese dann vor dem Hintergrund der grundsätzlich verbotenen Anknüpfung ausnahmsweise gerechtfertigt ist.

a) Die staatliche Ungleichbehandlung durch Anknüpfung an ein Merkmal des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG Aus Sicht des AnknüpfungsVerbotes liegt eine im Rahmen des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG relevante Ungleichbehandlung immer dann vor, wenn eine Regelung oder Maßname der öffentlichen Gewalt auf der Grundlage des verpönten Merkmals als tertium comparationis eine Unterscheidung trifft, mithin also an eine konkrete Verwirklichungsform des Merkmals anknüpft 226 . Im Mittelpunkt des Anknüpfungsverbots stehen immer nur konkrete Verwirklichungsformen eines verbotenen Merkmals, da der Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG lediglich abstrakte Kategorien bezeichnet, die als persönliche Eigenschaften in unterschiedlicher Weise bei allen Menschen verwirklicht sind. Jeder hat nämlich ein Geschlecht, eine Abstammung, eine Rasse etc. und sogar - sofern 225 So ζ. B. auch die bewusst geschlechtsspezifisch differenzierenden Verfassungsbestimmungen des Art. 12 a Abs. 1 und Abs. 4 GG, welche die Gleichheitsgarantien des Art. 3 GG einschränken; vgl. noch zu Art. 12 Abs. 3 GG a.F.: BVerfGE 12, 45 [52 f.], wobei jedoch die Maßgeblichkeit des Art. 3 Abs. 3 GG a.F. offen bleibt. Zum Verhältnis der beiden Verfassungsbestimmungen siehe: Jarass/Pieroth, Art. 12 a, Rn. 3 m. w. N.; Scholz, in: Maunz/ Dürig /Herzog /Scholz, Art. 12 a, Rn. 31, 203; zum Spannungsverhältnis zwischen Art. 12 a Abs. 4 S. 2 GG a.F. und den gemeinschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsätzen insbes. im Hinblick auf die Kompetenzen der EU siehe: Scholz, DÖV 2000, S. 417 ff.; mittlerweile wurde das Verbot des Dienstes von Frauen an der Waffe gem. Art. 12 a Abs. 4 S. 2 GG a.F. nach dem Urteil des EuGH zum Fall „Tanja Kreil" (Rs. C-285/98 =NJW 2000, S. 497) in ein Verbot, Frauen zum Dienst an der Waffe zu verpflichten, umgeändert (durch Gesetz vom 29. 12. 2000, BGBl. I S. 1755). Das Problem einer Ungleichbehandlung alleine aus Gründen des Geschlechts hat sich mit dieser Verfassungsänderung nur zugespitzt, bleibt aber gleichwohl dem Prüfungsmaßstab des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG versperrt. 22 6 Sachs, HBdStR, Bd. V, S. 1031.

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

man diese Merkmale auch auf desinteressierte Standpunkte erstreckt - eine religiöse oder politische Anschauung227. Wie aber bereits der Wortlaut des Art. 3 Abs. 2 GG deutlich macht, kann nur eine konkrete Verwirklichungsform der angesprochenen Kategorie der tatsächliche Anknüpfungspunkt für eine Ungleichbehandlung sein, also beispielsweise die Eigenschaft als Mann, Frau, Katholik, Muslime, Jude, Farbiger, Asiat etc., nicht aber die übergeordnete Kategorie selbst. Nur der durch „seine" jeweilige konkrete Verwirklichungsform eines Merkmals i. S. d. Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG spezifizierte Personenkreis kann daher im Vergleich zu einem anderen - durch eine andere Verwirklichungsform desselben Merkmals begrenzbaren Personenkreis - ungleich behandelt werden. Im Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG werden im Wesentlichen zwei unterschiedliche Formen der Ungleichbehandlung unterschieden, nämlich die sog. unmittelbare und die mittelbare Differenzierung nach einem verbotenen Merkmal. Diese Unterscheidung ist zwar hauptsächlich aus der umfangreichen Auseinandersetzung um Ungleichbehandlungen wegen des Geschlechts hervorgegangen, ist jedoch auch für die weiteren verbotenen Merkmale des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG von Relevanz und soll deshalb nachfolgend dargestellt werden.

(1) Die Ungleichbehandlung durch „unmittelbare" Anknüpfung in Form der unmittelbaren Differenzierung Relativ unproblematisch erscheint die Feststellung einer Ungleichbehandlung in Fällen, in denen die Staatsgewalt das verbotene Merkmal ausdrücklich als notwendige Bedingung für den Eintritt rechtlicher Folgen einsetzt. Bezieht sich beispielsweise eine Maßnahme oder Regelung nur auf eine der beiden Verwirklichungsformen der Kategorie Geschlecht, werden also nach ihren Voraussetzungen ausdrücklich entweder nur Männer oder nur Frauen erfasst, dann differenziert diese Regelung unmittelbar nach dem verbotenen Merkmal Geschlecht. Diese Form der Differenzierung stellt wegen der unmittelbaren Anknüpfung an ein verpöntes Merkmal als „Regelfall" des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG eine sog. "offene " unmittelbare bzw. direkte Differenzierung dar 2 2 8 . 227

Beachtet sei in diesem Zusammenhang auch die Gewährleistung „negativer" Freiheitsausübung, wie z. B. die in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG enthaltene Gewährleistung, das entsprechende religiöse oder weltanschauliche Denken und Handeln zu negieren, es zu unterlassen und sich seinem Einfluss entziehen zu können; vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 516 m. w. N.; zur „negativen" Meinungsfreiheit i. S. d. Art. 5 Abs. 1 GG, ders., Rn. 559 ff.; vgl. Sachs, RdJB 1996, S. 164. 228 Der Begriff der „Differenzierung" wird hier deshalb dem der sog. „Diskriminierung" vorgezogen, da letzterer im Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG vielfach nur für die ungerechtfertigte Ungleichbehandlung verwendet wird (vgl. Schweizer, S. 69, Fn. 81 m. w. N.); dies ist angelehnt an die ebenfalls in der Grundrechtsdogmatik gängige terminologische Unterscheidung zwischen „Beeinträchtigung" und „Verletzung" eines Grundrechts. Die sog. direkte Differenzierung ist mit dem hier verwendeten Begriff der sog. unmittelbaren Differenzierung gleichbedeutend.

C. Die subjektiv-rechtliche Dimension des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

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Eine unmittelbare Anknüpfung an das verbotene Merkmal soll aber auch dann vorliegen, wenn das verbotene Merkmal selbst nicht als Voraussetzung einer Maßnahme oder Regelung benannt ist, der Rechtsetzungsakt aber dennoch objektiv nach einem verbotenen Merkmal differenziert. Es geht hierbei im weiteren Sinne um Fälle einer sog. „ verdeckten" unmittelbaren Differenzierung; ein Problembereich, der insbesondere in der US-amerikanischen Gleichheitsjudikatur schon lange eine wichtige Rolle spielt 229 . Hierzu gehört insbesondere der Fall, dass eine Maßnahme oder Regelung lediglich synonyme Begriffe oder scheinbar neutrale Merkmale im Tatbestand verwendet, von ihren (Rechts-)Folgen aber genau derselbe Personenkreis erfasst wird, wie der durch ein verbotenes Merkmal gekennzeichnete 230 . Dann soll ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Merkmal und Unterscheidung objektiv erkennbar bestehen und deshalb der Verwendung eines verpönten Merkmals als Anknüpfungspunkt gleichkommen, obwohl der Bezug zum verpönten Merkmals eigentlich nur mittelbarer Art ist 2 3 1 . Eine unmittelbare Anknüpfung an das verbotene Merkmal selbst soll aber auch in solchen Fällen gegeben sein, in denen sog. spezifische Begleitmerkmale als Grundlage für eine Ungleichbehandlung verwendet werden 232 . Als spezifische Begleitmerkmale werden solche persönlichen Eigenschaften in Betracht gezogen, die nur, aber nicht immer bei Trägern eines verbotenen Merkmals auftreten. Hierzu zählen beispielsweise Schwangerschaft und Niederkunft, die von Natur aus nur bei Frauen vorkommen, oder die von Verfassungs wegen nur Männer treffende Wehrbzw. Dienstpflicht i. S. d. Art. 12 a Abs. 1, 2 GG. Dass es sich bei der Verwendung von geschlechtsspezifischen Begleitvoraussetzungen im „Tatbestand" eines Rechtsetzungsaktes um eine unmittelbare Differenzierung wegen des Geschlechts handeln soll, wird jedoch bestritten. Da hier letztlich doch nicht das Geschlecht das wesentliche Unterscheidungskriterium darstellen soll, sondern lediglich ein Sachverhalt, der sich zwar nur in einem Geschlecht verwirklichen kann, jedoch nicht bei allen Trägern der jeweiligen Vergleichsgruppe verwirklicht ist, wird für die Fälle einer Anknüpfung an spezifische Begleitmerkmale auch eine Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG befürwortet 233 .

229 Sachs, Grenzen, S. 453 verweist diesbezüglich auf eine sehr frühe Entscheidung des US Supreme Court aus dem Jahre 1886; zum Problem der verdeckten Diskriminierung von Frauen; siehe: Schweizer, S. 69. 2 30 Sachs, in: HBdStR, Bd. V, S. 1031, S. 1054. 231 Im Hinblick auf eine beabsichtigte Diskriminierung ausführlich: Sachs, Grenzen, S. 483; zustimmend für eine Anwendung des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG auf verdeckte Diskriminierungen unter Missbrauchsgesichtspunkten: Rüfner, FS Friauf, S. 336; äußerst kritisch zu einer zumindest für den Gesetzgeber nur theoretischen Möglichkeit der Verwendung „getarnter Motive": Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 3 Abs. 3, Rn. 159. 232 Dafür Sachs, Grenzen, S. 459; ders., in: HBdStR, Bd. V, S. 1031. 233 Für eine Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG in diesen Fällen deshalb: Ebsen, in: HBdVerfR, S. 277; Rüfner, FS Friauf, S. 332.

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

(2) Die Ungleichbehandlung durch „mittelbare" Anknüpfung in Form der mittelbaren Differenzierung Im Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG steht ein weiterer Problemkreis mit dem der „verdeckten" unmittelbaren Differenzierung in engem Zusammenhang und lässt sich oft nur schwer von diesem abgrenzen 234. Es geht dabei um das Problem der sog. mittelbaren bzw. indirekten Differenzierung durch nur mittelbare Anknüpfung an ein verbotenes Merkmal. Eine solche soll dann gegeben sein, wenn ein Rechtsetzungsakt an Kriterien anknüpft, die typischerweise, regelmäßig oder überwiegend, aber nicht ausschließlich bei einer Gruppe von Merkmalsträgern vorkommen 235 . Der Gedanke, dass der spezielle Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG auch Formen einer mittelbaren Differenzierung erfassen könnte, lässt sich vor allem auf auswärtige Rechtsentwicklungen und deren „Reflexwirkungen" auf das deutsche Recht zurückführen. Die Idee eines Verbots mittelbarer Diskriminierungen kommt ursprünglich aus den Vereinigten Staaten. Sie wurde vom U.S. Supreme Court zunächst für Fälle einer Diskriminierung von Farbigen und anderen Minderheiten im Arbeitsleben entwickelt, aber auch für Fälle der Geschlechterdiskriminierung herangezogen 236. Jedenfalls im Hinblick auf das in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG genannte Merkmal des Geschlechts konnte sich der Gedanke auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene durchsetzen und wurde besonders vom Europäischen Gerichtshof fortentwickelt. Dieser sah nämlich bereits in Art. 119 EGV (nunmehr Art. 141 EGV), der die Gleichheit des Arbeitsentgelts ohne Diskriminierung wegen des Geschlechts fordert, nicht nur ein Verbot jeder unmittelbaren, sondern auch jeder mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts enthalten 237 . Darüber hinaus verbietet das den heutigen Art. 141 EGV konkretisierende europäische Sekundärrecht ausdrücklich nicht nur die unmittelbare Diskriminierung, sondern auch die mittelbare Diskriminierung auf Grund des Geschlechts238. Nach der Umsetzung dieser gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben in das nationale Recht der Bundesrepublik Deutschland kommt der Gedanke eines Verbots der mit234 Zur Unterscheidung zwischen verdeckter und mittelbarer Diskriminierung nach der Rechtsprechung des BAG: Wank, RdA 1985, S. 21. 235 Sachs, HBdStR, Bd. V, S. 1032; Rüfner, FS Friauf, S. 331; Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3, Rn. 255. 236 Zur Entwicklung des Verbots der mittelbaren Diskriminierung in den Vereinigten Staaken siehe ausführlich: Wisskirchen, S. 29 ff. 237 Siehe beispielsweise die Rechtsprechung des EuGH zum unterschiedlichen Entgelt für Voll- und Teilzeitarbeitnehmer, was als mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts nach Art. 119 EGV (heute Art. 141 EGV) angesehen wurde, so EuGH, Slg. 4/1981, S. 911 ff. (Rs. 96/80: Jenkins/Kingsgate). 238 Siehe insbesondere Art. 2 Abs. 1 der sog. Gleichbehandlungs-Richtlinie 76/207/ EWG (ABl. 1976, Nr. L 39, S. 40): „Der Grundsatz der Gleichbehandlung (...) beinhaltet, dass keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts (... )erfolgen darf. "

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telbaren Geschlechterdiskriminierung nunmehr in § 611 a BGB besonders zum Ausdruck 239 . Das Bundesarbeitsgericht sieht aber bei jeder mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts nicht nur einen Verstoß gegen Art. 141 EGV und § 611 a BGB als gegeben, sondern vielmehr auch Art. 3 Abs. 2 und 3 GG verletzt 240 . Auf gleicher Linie hat auch das Bundesverfassungsgericht den Gedanken eines Verbotes mittelbarer Diskriminierungen aufgegriffen und im Hinblick auf das in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG enthaltene Anknüpfungsverbot festgestellt: „Eine Anknüpfung an das Geschlecht kann nach der Rechtsprechung auch vorliegen, wenn eine geschlechtsneutral formulierte Regelung überwiegend Frauen trifft und dies auf natürliche oder gesellschaftliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern zurückzuführen ist" 241. Danach wäre also bei der Feststellung einer im Rahmen des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG relevanten Ungleichbehandlung auch auf die typische „mittelbare" Unterscheidungswirkung an sich „merkmalsneutral" gefasster Rechtsetzungsakte abzustellen. Das Schulbeispiel aus der Rechtsprechung ist die angesprochene unterschiedliche Behandlung von Vollzeit- und Teilzeitarbeitnehmern im Arbeitsrecht, die sich deshalb als mittelbare Differenzierung wegen des Geschlechts darstellt, da der überwiegende Anteil von Teilzeitkräften Frauen sind. Eine Differenzierung wegen eines verpönten Merkmals könnte also auch dann gegeben sein, wenn die materiellen Wirkungen einer staatlichen Maßnahme oder Regelung in der Realität nur typischerweise eine durch ein verpöntes Merkmal gekennzeichnete Gruppe betreffen und diese Gruppe dadurch im Vergleich zu einer anderen ungleich behandelt wird. In dogmatischer Hinsicht wird jedoch von Teilen der Literatur gegen eine Erstreckung des Anwendungsbereichs des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG auf Formen der mittelbaren Diskriminierung dessen Struktur als striktes Anknüpfungsverbot angeführt. Angesichts der strengen Wirkung des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, nämlich der generellen Verfassungswidrigkeit jeder objektiv kausalen Verwendung eines verbotenen Merkmals als Voraussetzung für eine Rechtsfolge, soll deshalb eine Anwendung des speziellen Gleichheitssatzes auf nur merkmalstypisch wirkende Regelungen nicht in Betracht kommen 242 . In vielen Fällen seien merkmalsneutral gefasste, gleichzeitig jedoch merkmalstypisch wirksame Regelungen vernünftigerweise un-

239 Vgl. neben § 611 a Abs. 1 BGB auch § 612 Abs. 3 BGB; s.a. Palandt, Putzo, zu § 611 a, Rn. 9. 240 Zur Rspr. des BAG hinsichtlich mittelbarer Diskriminierungen von Frauen im Erwerbsleben vgl. BAGE 53, 161 [167]; E 68, 320 [325]; E 72, 64 [72 ff.]; hierzu auch: Kirsten, RdA 1990, S. 284 m. w. N. 241 So in einem Beschluss vom 27. 11. 1997 (BVerfGE 97, 35 [43]), wobei das Gericht dem Gedanken eines Verbots der mittelbaren Diskriminierung im Rahmen des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG jedoch nicht weiter nachgegangen ist, da es eine solche im vorliegenden Fall nicht festgestellt hat. 242 Allen voran Sachs, HBdStR, Bd. V, S. 1054; ausführlich: ders., Grenzen, S. 479 ff.; s.a. Rüfner, FS Friauf, S. 331 ff; ders., in: Bonner Kommentar, Art. 3, Rn. 566 ff.; Ebsen, in: HBdVerfR, S. 277 f.

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verzichtbar 243 . Da es bei der Verwendung von typischen Begleitmerkmalen schließlich um die materiellen Wirkungen für eine Gruppe von Merkmalsträgern gehe, könne diese nur an den (dynamischen) Rechtfertigungsanforderungen des Art. 3 Abs. 1 GG gemessen werden. Für die Anwendung des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG sei eine Anknüpfung an nur geschlechtstypische Begleitvoraussetzungen daher ein „viel zu unsicheres Tatbestandsmerkmal" 244. Danach sollen also „mittelbare" Ungleichbehandlungen lediglich dem Anwendungsbereich des allgemeinen Gleichheitssatzes unterliegen. Von anderen wird die Einbeziehung der mittelbaren Differenzierung in den weiteren Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG -besonders im Hinblick auf die Diskussion um die Formen der „verdeckten" unmittelbaren Differenzierungfür zweckmäßig gehalten 245 . So scheint sich diese Auffassung gerade auch wegen der immer stärker werdenden Verflechtung von innerstaatlichem und europäischem Recht und einer damit angezeigt erscheinenden Harmonisierung in der Gleichheitsjudikatur allmählich durchzusetzen 246.

b) Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung im Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG Sofern man Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG tatsächlich als kategorisches Differenzierungsverbot im Sinne eines strikt formalen Anknüpfungsverbotes bei der Rechtsetzung betrachtet, dürfte sich die Frage nach einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Differenzierungen nach verbotenen Merkmalen gar nicht stellen. Wie oben bereits erwähnt, sind Regelungen und Maßnahmen, die in ihrem Tatbestand auf ein verbotenes Merkmal als Unterscheidungskriterium abstellen, aus Sicht des Anknüpfungsverbotes jedoch nicht schon deshalb und nicht „schlechthin" verfassungswidrig. Ein Anknüpfen an eine konkrete Verwirklichungsform aus der in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG genannten Kategorie ist lediglich „generell" unzulässig und macht den in Frage stehenden Rechtsetzungsakt eines Verfassungsverstoßes gewissermaßen „verdächtig". Auch die speziellen Gleichheitssätze können rechtliche Gleichheit nur in gewissen Grenzen gewährleisten, fordern also nicht strikt die absolute Gleichheit. Insofern ist auch Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG keine „schrankenlose" Gleichheitsvorschrift, sondern kann immer nur die ungerechtfertigte Differen-

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So beispielsweise auch viele unverzichtbare Regelungen aus dem Sexualstrafrecht, welche typischerweise von Männern verwirklicht werden; hierzu: Rüfner, FS Friauf, S. 334; vgl. auch Sachs, Grenzen, S. 482 mit weiteren Beispielen. 244 Rüfner, FS Friauf, S. 334; Ebsen, in: HBdVerfR, S. 278. 245 In diesem Sinne ausdrücklich: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3, Rn. 74; im Ergebnis befürwortend auch: Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3, Rn. 257; Gubelt, in: von Münch/Kunig, Art. 3, Rn. 86, 103. 246 Heun, in: Dreier, GG, Art. 3, Rn. 96 m. w. N.

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zierung wegen eines der dort genannten Merkmale verbieten. In diesem Sinne ist er nicht als Differenzierungs-, sondern als Diskriminierungsverbot zu verstehen. Angesichts des Streits, in welchen Fällen eine im Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG relevante Ungleichbehandlung vorliegt, muss auch hier zwischen den Rechtfertigungsanforderungen bei unmittelbaren und mittelbaren Differenzierungen unterschieden werden.

(1) Anforderungen an die Rechtfertigung einer unmittelbaren Differenzierung Für die unmittelbare Differenzierung wegen eines verpönten Merkmals aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG zeichnet sich ein sehr strenger Prüfungsmaßstab ab, der sich insbesondere aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum verbotenen Differenzierungskriterium des Geschlechts entwickelt hat. Anfänglich stellte das Bundesverfassungsgericht zur Rechtfertigung von Rechtssetzungsakten, die an ein Merkmal des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG anknüpften, auf die Vergleichbarkeit der geregelten Lebenssachverhalte als immanente Voraussetzung für die Anwendung des Gleichheitssatzes ab 2 4 7 . Insofern hat es hinsichtlich des Merkmals des Geschlechts entschieden, dass eine Anwendung des Unterscheidungsverbotes nur in Frage kommt, „ wenn der zu ordnende Lebenssachverhalt essentiell vergleichbar ist, d. h. wenn er, vom Geschlecht des Betroffenen abgesehen, weitere wesentliche Elemente umfaßt, die ihrerseits gleich sind. " Hieran fehle es, „wenn gemeinsame Elemente überhaupt nicht vorhanden sind" oder „ wenn der biologische Geschlechtsunterschied den Lebenssachverhalt so entscheidend prägt, dass etwa vergleichbare Elemente daneben vollkommen zurücktreten " 2 4 8 . Eine Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem sollte also nicht gegeben sein, wenn die geregelten Sachverhalte wegen des biologischen Geschlechtsunterschieds unvergleichbar waren. Diesen Ansatz der Unvergleichbarkeit wegen biologischer Geschlechtsunterschiede hat das Gericht später auf seine Konzeption der Ausnahmen von der Geschlechtergleichheit übertragen, wobei jedoch auch sog. funktionale Unterschiede, die aus der typischen Arbeits- und Rollenverteilung der Geschlechter resultieren, als zulässige Ausnahmen einbezogen wurden 249 . Somit sollte eine nach dem Geschlecht differenzierende Regelung oder Maßnahme zulässig sein, wenn im Hin247 Vgl. hierzu: Sachs, HBdStR, Bd. V, S. 1032 f.; ders., Grenzen, S. 330 ff. Jeweils m.w.N. 248 Grundlegend im sog. Homosexuellen-Urteil, BVerfGE 6, 389 [422 ff.]. 249 Bereits in seiner ersten Leitentscheidung (BVerfGE 3, 225 [242]) bezieht sich das BVerfG auf „eine funktionelle Gleichbehandlung, die davon ausgeht, dass Mann und Frau verschiedene gesellschaftliche Aufgaben zu erfüllen haben". Angesichts der zumindest rechtlich freien Rollenwahl wurde diese Begrenzung der rechtlichen Geschlechtergleichheit stets heftig kritisiert; siehe hierzu: Sachs, Grenzen, S. 363 ff., m. w. N. S. 368 (Fn. 385).

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blick auf die objektiven biologischen oder funktionalen Unterschiede nach der Natur des jeweiligen Lebensverhältnisses eine besondere Regelung erlaubt oder sogar geboten sei 2 5 0 . In seinem Beschluss zum ehelichen Namensrecht aus dem Jahre 1991 ließ es das Bundesverfassungsgericht dann bereits wieder offen dahinstehen, ob sog. funktionale Unterschiede „überhaupt noch herangezogen werden können" 251. Schließlich formulierte es in seinem Urteil zum Nachtarbeitsverbot vom Januar 1992 die zugelassene Ausnahme von der Geschlechtergleichheit dahingehend, dass differenzierende Regelungen im Hinblick auf Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG zulässig sein können, „soweit sie zur Lösung von Problemen, die ihrer Natur nach nur entweder bei Männern oder bei Frauen auftreten können, zwingend erforderlich sind." 252 Damit hatte das Gericht klargestellt, dass sog. funktionale Unterschiede, die letztlich allein auf dem tradierten Rollenverständnis beruhen, im Gegensatz zu objektiven biologischen Unterschieden kein tragfähiger Rechtfertigungsgrund für geschlechtsspezifische Differenzierungen mehr sind 253 . Darüber hinaus soll aber eine Differenzierung wegen des Geschlechts auch auf Grund kollidierenden Verfassungsrechts zulässig sein können 254 . Dabei spielt besonders der Verfassungsauftrag aus Art. 3 Abs. 2 GG eine gewichtige Rolle. Damit lassen sich nämlich geschlechtsspezifisch differenzierende Maßnahmen oder Regelungen im Hinblick auf Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG rechtfertigen, welche die Lösung lediglich geschlechtstypischer Problemlagen bezwecken. In diesem Sinne hatte das Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Rentenaltersbeschluss aus dem Jahre 1987 eine typisierende Regelung zum früheren Renteneintrittsalter für Frauen als zulässig betrachtet 255 und im Urteil zum Nachtarbeitsverbot nochmals ausdrücklich festgestellt: „Faktische Nachteile, die typischerweise Frauen treffen, dürfen infolge des Gleichberechtigungsgebots des Art. 3 Abs. 2 GG durch begünstigende Regelungen ausgeglichen werden. " 256 Ausgehend von dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu dem in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG genannten Merkmal des Geschlechts ist eine Regelung oder Maßnahme - jedenfalls wenn sie ausdrücklich und unmittelbar an ein verbotenes Merkmal anknüpft - also nur dann verfassungsrechtlich zulässig, wenn diese 250 So ζ. B. BVerfGE 10, 59 [74 ff.]; E 15, 337 [343]; E 37, 217 [249 f.]; E 48, 327 [337]; E 52, 369 [374 f.]; E 57, 335 [342 f.]; E 63, 181 [194]; E 68, 384 [390]; E 71, 224 [229]; E 74, 163 [179]; In diesem Sinne sah auch Dürig (in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 3 Abs. 2, Rn. 2) im Gebot der rechtlichen Gleichheit der Geschlechter ein umgekehrtes Willkürverbot enthalten, das eine Differenzierung erlaubt, wenn eine Ignorierung des Merkmals Geschlecht seinerseits willkürlich wäre; vgl. auch Rüfner, in: Bonner Kommentar, Art. 3, Rn. 580. 251 BVerfGE 84, 9 [18]. 252 BVerfGE 85, 191 [207]; ähnlich bereits: BVerfGE 48, 327 [337]. 253 Vgl. BVerfGE 85, 191 [208 f.]; hierzu: Rozek, BayVBl. 1993, S. 649. 254 Jarass/Pieroth, GG, Art. 3, Rn. 82; Gubelt, in: von Münch/Kunig, Art. 3, Rn. 88. 255 BVerfGE 74, 163 [180.] 256 BVerfGE 85, 191 [207].

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entweder objektiv zwingend erforderlich ist oder aus kollidierendem Verfassungsrecht gerechtfertigt werden kann.

(2) Anforderungen an die Rechtfertigung einer mittelbaren Differenzierung Der strenge Prüfungsm^ßstab, der sich für die Beurteilung einer unmittelbaren Differenzierung nach verbotenen Merkmalen aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG entwikkelt hat, lässt sich jedoch nicht ohne weiteres für die Fälle mittelbarer Differenzierungen heranziehen. Vielmehr ist die Frage, wann Formen einer mittelbaren Differenzierung im Hinblick auf das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG gerechtfertigt sind, in der Literatur nicht abschließend geklärt und kann auch nicht losgelöst von der Rechtsprechung auf europäischer und nationaler Ebene zur mittelbaren Geschlechterdiskriminierung im Erwerbsleben beantwortet werden. Zur Rechtfertigung einer mittelbaren Differenzierung wird in der Literatur zum Teil auf den Prüfungsmaßstab des Art. 3 Abs. 1 GG zurückgegriffen und nur das Vorliegen eines sachlichen Differenzierungsgrundes gefordert 257. Dieser Prüfungsmaßstab stützt sich auf die einfachgesetzliche Norm des § 611 a Abs. 1 Satz 3 BGB, der ebenfalls sachliche Gründe zur Rechtfertigung geschlechtsbezogener Ungleichbehandlungen im Arbeitsleben ausreichen lässt, und entspricht dem eines Willkürverbots 258 . Bereits im Hinblick auf die „neue Formel" zu Art. 3 Abs. 1 GG kann dieser Prüfungsmaßstab aber nicht überzeugen, da es sich bei Fällen der mittelbaren Differenzierung letztlich doch um personenbezogene Ungleichbehandlungen handelt. Selbst wenn man außer Acht ließe, dass das Verbot der mittelbaren Differenzierung nicht aus Art. 3 Abs. 1 GG, sondern nach der im Vordringen befindlichen Auffassung aus Art. 3 Abs. 3 GG folgt, müssten diese Fälle im Rahmen des allgemeinen Gleichheits satzes folglich strengeren Rechtfertigungsanforderungen unterliegen. Von der entgegengesetzten Ansicht wird hingegen kein Unterschied zwischen unmittelbaren und mittelbaren Differenzierungen gesehen259. Im Hinblick auf die gleiche normative Grundlage in Art. 3 Abs. 3 GG solle die mittelbare Differenzierung den gleichen strengen Rechtfertigungsanforderungen unterliegen wie die unmittelbare. Dies ergebe sich schon daraus, dass es für den betroffenen Personenkreis keinen Unterschied mache, ob eine Maßnahme oder Regelung unmittelbar 257

Heun, in: Dreier, GG, Art. 3, Rn. 96 lässt jedoch nur überzeugende sachliche Gründe gelten, ohne darauf einzugehen, ob auch der „vernünftige" Grund ein überzeugender sein kann; für die Maßstäbe des allgemeinen Gleichheitssatzes letzten Endes auch: Sachs, HBdStR, Bd. V, S. 1054; Rüfner, FS Friauf, S. 331 ff; Ebsen, in: HBdVerfR, S. 277 f. 258 Der Wortlaut von § 611 a BGB erfasst jedoch beide Formen der Differenzierung und wirkt überdies nicht vertikal im Verhältnis Staat-Bürger, sondern horizontal zwischen zwei Subjekten des Privatrechts; vgl. Palandt, Putzo, § 611 a, Rn. 13; Wisskirchen, S. 110. 2 59 Kirsten, RdA 1990, S. 282 ff.; Wank, RdA 1985, S. 21; vgl. auch: Wisskirchen, S. 110 f. m. w. N.

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

oder mittelbar differenziere, es also vielmehr auf deren tatsächliche Wirkung ankomme. Von daher sei die mittelbare Differenzierung kein weniger gravierender Eingriff als eine unmittelbare Differenzierung, beide Formen also in ihrer Eingriffsintensität völlig gleichwertig 260 . Dagegen lässt sich aber einwenden, dass im Gegensatz zur unmittelbaren Differenzierung der Kreis der Betroffenen niemals ausschließlich aus Trägern eines verbotenen Merkmals besteht und daher bezogen auf die ganze Vergleichsgruppe eigentlich nicht von einer gleichen „Eingriffsintensität" gesprochen werden kann. Die Intensität der Ungleichbehandlung für die jeweilige Vergleichsgruppe wird auch zum Bezugspunkt für eine vermittelnde Ansicht in der Literatur 261 . Diese unterscheidet zunächst danach, ob Träger eines verbotenen Merkmals ausschließlich oder nur typischerweise von einer Maßnahme oder Regelung erfasst werden, ob diese also unmittelbar oder nur mittelbar an ein verbotenes Merkmal anknüpft. Die unmittelbare Differenzierung unterliegt dann sehr strengen Rechtfertigungsanforderungen, während bei der nur mittelbaren Differenzierung ein abgestufter Prüfungsmaßstab herangezogen wird. Je stärker die Benachteiligung und die Betroffenheit einer durch das verbotene Merkmal gekennzeichneten Gruppe ist, umso gewichtiger müssen danach die Gründe sein, die eine mittelbar differenzierende Maßnahme oder Regelung rechtfertigen 262. In eine ähnliche Richtung tendiert auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes sowie des Bundesarbeitsgerichts zur mittelbaren Geschlechterdiskriminierung im Arbeitsleben. Hiernach soll eine mittelbare Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts nach Art. 141 EGV bzw. § 611 a BGB dann zulässig sein, wenn sie objektiv gerechtfertigt ist und somit nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun hat. Objektiv gerechtfertigt ist dabei eine Ungleichbehandlung im Arbeitsrecht nur dann, wenn diese einem wirklichen Bedürfnis des Unternehmens dient und zur Erreichung eines damit verfolgten Zwecks geeignet und erforderlich ist 2 6 3 . Übertragen auf die ähnliche Problemlage bei Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG bedeutet dies, dass - im Unterschied zur unmittelbaren Ungleichbehandlung - eine mittelbare Differenzierung nicht zwingend erforderlich oder vom Verfassungsrecht legitimiert sein muss. Diese unterliegt vielmehr geringeren Rechtfertigungsanforderungen und kann daher bereits aus einem gewichtigen Grund zulässig sein 264 . Ein solcher liegt regelmäßig dann vor, wenn die mittelbar

260 Kirsten, RdA 1990, S. 285 spricht insofern von einem „Eingriff 4 , womit er sich stark an die Terminologie bei den Freiheitsrechten anlehnt und wohl letztlich auch deren dogmatische Struktur auf die Gleichheitssätze übertragen will (ähnlich: Jarass/Pieroth, Vorb. vor Art. 1, Rn. 16 ff.). 261 Hierzu: Hanau/Preis, ZfA 1988, S. 177 ff. 2 2 6 Hanau/Preis, ZfA 1988, S. 192. 2 63 EuGH, Slg. 5/1986, S. 1607 ff. [1627] (Rs. 170/84: Bilka/Weber von Hartz); B AGE 74, S. 309 ff. [314]. 2 64 Jarass/Pieroth, Art. 3, Rn. 80; Gubelt, in: von Münch/Kunig, Art. 3, Rn. 91.

C. Die subjektiv-rechtliche Dimension des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

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differenzierende Regelung oder Maßnahme einen legitimen Zweck verfolgt und zur Erreichung dieses Zwecks geeignet und erforderlich ist.

c) Zusammenfassung und Würdigung Die Interpretation des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG als Anknüpfungsverbot hat sich in besonderem Maße in Bezug auf das verbotene Differenzierungsmerkmal des Geschlechts entwickelt. Im Hinblick auf die übrigen Merkmale dieses besonderen Gleichheitssatzes werden jedoch keine strukturellen Unterscheidungen gemacht 265 . Zunächst macht diese Auslegung als Anknüpfungsverbot nur deutlich, dass Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG als Verbot jeder objektiven Ungleichbehandlung anzusehen ist. Subjektive Beweggründe und Ziele der staatlichen Gewalt, welche mit einem differenzierenden Akt der Rechtsetzung verfolgt werden mögen, spielen also insofern keine Rolle. Im Einzelnen herrscht in der Diskussion um den Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG aber heftiger Streit.

(1) Die herkömmliche Auslegung als striktes Differenzierungsverbot Mit seiner herkömmlichen Interpretation als reines Verbot rechtlicher Differenzierungen werden der staatlichen Gewalt durch Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG enge Grenzen bei der Rechtsetzung gesetzt. Die Verfassungsbestimmung enthält damit ein strikt formales Verbot, auf der Grundlage verbotener Merkmale rechtliche Unterscheidungen zu treffen. Zum allgemeinen Gleichheitssatz, der ursprünglich nur als Willkürverbot interpretiert wurde, steht dieser besondere Gleichheitssatz mit seiner strikten Rechtsatzwirkung somit im krassen Gegensatz. Jedoch wurde der Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG auch entsprechend eng gezogen und soll damit nur solche Maßnahmen und Regelungen erfassen, die unmittelbar an ein verpöntes Merkmal „anknüpfen". Bei der Feststellung einer in seinem Anwendungsbereich relevanten Ungleichbehandlung infolge der unmittelbaren Anknüpfung eines Rechtsetzungsaktes an ein verbotenes Merkmal eröffnet sich jedoch eine besondere Problematik des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. Nach seinem Wortlaut bestimmt er mit dem jeweiligen verbotenen Merkmal lediglich das tertium comparationis, auf dessen Grundlage keine Differenzierungen getroffen werden dürfen. Da es sich hierbei um bei allen Menschen in bestimmter Weise verwirklichte Eigenschaften handelt, müssen die konkreten Vergleichsgruppen, die unter diesem Merkmal zu erfassen sind, erst bestimmt werden. Lediglich für das Geschlecht bezeichnet das Grundgesetz mit den Begriffen „Männern und Frauen" in Art. 3 Abs. 2 GG zwei dieser konkreten Ver265 Zur Kritik an dieser generalisierenden Auslegung vgl.: Bergmann, in: Seifert/Hömig, Art. 3, Rn. 17.

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

gleichsgruppen. Damit ist aus Sicht des Anknüpfungsverbotes zunächst einmal nur gesagt, dass ein Rechtsetzungsakt mit einem Tatbestandsmerkmal „Mann" oder „Frau" unmittelbar nach dem Geschlecht differenziert. Ebenso wird aber mit den Tatbestandsmerkmalen „Arbeiter" bzw. „Arbeiterin" eindeutig und unmittelbar an das Geschlecht angeknüpft und schließlich auch - was jedoch strittig ist - mit Tatbestandsvoraussetzungen wie der „Schwangerschaft", da hier das weibliche Geschlecht notwendige Bedingung für den Eintritt der Rechtsfolge ist. Angesichts der unbestimmten Vielzahl konkreter Anknüpfungsmöglichkeiten für einen Rechtsetzungsakt erscheint das Anknüpfungsverbot daher jedenfalls kein so einfaches Modell zu sein, als welches es gerne bezeichnet wird. Eine weitere Problematik dieser strengen Auslegung des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG zeigt sich dann, wenn eine in seinem Anwendungsbereich relevante Ungleichbehandlung schließlich festgestellt wird. Diese ist dann nämlich nicht strikt und kategorisch, sondern nur grundsätzlich und generell unzulässig, kann also verfassungsrechtlich „ausnahmsweise" gerechtfertigt sein. Die Rechtsordnung kann gewisse tatsächliche Unterschiede zwischen den Menschen nicht gänzlich und in jeglichen Lebensbereichen ignorieren. Dies gilt offensichtlich auch dann, wenn eine Differenzierung nach diesen Unterschieden eigentlich verfassungsrechtlich ausgeschlossen sein soll. So wie der Imperativ des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG im Hinblick auf die rechtliche Gleichberechtigung der Geschlechter bereits in der Verfassung selbst von Art. 12 a GG begrenzt wird, können verfassungsrechtliche oder sonst zwingende Gründe auch dessen Begrenzung im einfachen Recht erfordern.

(2) Vom Differenzierungs- zum Diskriminierungsverbot Angesichts der zahlreichen Probleme, die das Modell eines reinen Anknüpfungsverbotes in sich birgt, wandelt sich im Zuge der zu Art. 3 Abs. 1 GG entwikkelten „neuen Formel" allmählich auch die Interpretation des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. Gegen den heftigen Widerstand bedeutender Teile der Rechtswissenschaft beginnt sich damit - insbesondere infolge der Rechtsentwicklungen im europäischen und internationalen Bereich - eine Auslegung des besonderen Gleichheitssatzes durchzusetzen, bei der die Intensität einer Ungleichbehandlung - ähnlich wie bei Art. 3 Abs. 1 GG - zunehmend an Bedeutung gewinnt. Einen bedeutenden Wendepunkt markiert der Einbezug von Formen einer mittelbaren Differenzierung in den Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. Es geht dabei um solche Fälle, bei denen durch eine unmittelbare Unterscheidung nach bestimmten Sachverhalten mittelbar Träger eines verbotenen Merkmals betroffen werden. In den Mittelpunkt rückt damit die faktische Wirkung bestimmter rechtlicher Differenzierungen, womit es also nicht mehr ausschließlich darum geht, ob die Rechtsordnung formal nach einem verbotenen Merkmal differenziert, sondern auch darum, wie sich rechtliche Differenzierungen in der Lebenswirklichkeit auswirken. Entfalten daher

C. Die subjektiv-rechtliche Dimension des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

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rechtliche Differenzierungen eine faktisch diskriminierende Wirkung, müssen sie sich ebenfalls an den Anforderungen des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG messen lassen. Allerdings sind hierbei nicht dieselben starren Rechtfertigungsanforderungen heranzuziehen, wie sie für die Fälle einer unmittelbaren Differenzierung entwickelt wurden. Die Beurteilung einer Diskriminierung ist vielmehr ein komplizierter Vorgang, auf den das herkömmliche Rechtfertigungskonzept eines kategorischen Differenzierungsverbotes nicht passt. Entsprechend der Handhabung beim allgemeinen Gleichheitssatz ist daher auch dem Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ein dynamisches Konzept bei der Rechtfertigung von mittelbaren Differenzierungen zu Grunde zu legen. Eine solche kann danach gerechtfertigt sein, wenn ein objektiv gewichtiger Differenzierungsgrund besteht, die Differenzierung also einen legitimen Zweck verfolgt sowie zur Erreichung dieses Zwecks geeignet und erforderlich ist. Bei der Abwägung ist jedoch die besondere Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG als (nunmehr) kategorisches Diskriminierungsverbot zu berücksichtigen, was letztlich bedeuten muss, dass nur Gründe von gewissem Gewicht diskriminierende Ungleichbehandlungen rechtfertigen können. Die Interpretation des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG als striktes Diskriminierungsverbot, welche die herkömmliche Auslegung als Differenzierungsverbot ergänzt, steht auch nicht im Widerspruch zur Struktur dieses Gleichheitssatzes. Auch aus Sicht eines reinen rechtlichen Differenzierungsverbotes können faktische Gegebenheiten und Unterschiede zwischen den Menschen nicht übersehen werden. Zugegebenermaßen nähern sich zwar die Anwendungsbereiche von allgemeinem und besonderem Gleichheitssatz aneinander an, wodurch Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG in gewissen Bereichen seine strikte Rechtssatzwirkung verliert, was Ansatzpunkt vielfacher Kritik ist. Andererseits schwindet damit aber auch die tiefe Kluft zwischen den Maßstäben beider Gleichheitssätze. So zeigt schon die „neue Formel" zu Art. 3 Abs. 1 GG, dass die Rechtfertigungsanforderungen für rechtliche Differenzierungen immer strenger werden, je mehr sie sich auf persönliche, für den Betroffenen indisponible Eigenschaften beziehen. Stellt sich eine rechtliche Differenzierung jedoch als Diskriminierung wegen bestimmter in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG genannter Eigenschaften dar, ist diese am kategorischen Diskriminierungsverbot aus dem besonderen Gleichheitssatz zu messen, dessen Rechtfertigungsanforderungen die staatliche Gewalt einer noch engeren Bindung unterstellen, als dies nach der Generalklausel des Art. 3 Abs. 1 GG der Fall ist.

IL Die Interpretation des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG als subjektives Abwehrrecht gegen benachteiligende Ungleichbehandlungen Nach seiner Einführung mit der Verfassungsreform von 1994 setzte sich zunächst das Schrifttum mit der Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG auseinander, 14 Straßmair

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

bevor schließlich im Jahre 1996 erstmals das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung zu dem neuen Verfassungssatz traf. Nachfolgend soll daher darauf eingegangen werden, wie sich die Interpretation des Benachteiligungsverbots in Literatur und Rechtsprechung entwickelt hat.

1. Ansichten in der Literatur Die Kontroverse um Sinn und Zweck der Aufnahme einer besonderen Vorschrift zugunsten behinderter Personen, die bereits die Verfassungsdiskussion bis 1994 prägte, mündete nach der Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG innerhalb der Literatur im Streit um dessen Rechtsatzwirkung. So eröffnet das einschlägige Schrifttum eine breite Palette von Interpretationsmöglichkeiten zu dem Verfassungssatz, angefangen mit einer äußerst restriktiven Auslegung bis hin zur Annahme einer sehr umfangreichen und weitgehenden Wirkung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Abgesehen von einzelnen Stimmen, die dem Benachteiligungsverbot jegliche eigenständige Bedeutung absprechen wollen 266 , ist jedoch für die Interpretation des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG im einschlägigen Schrifttum dessen historischer und systematischer Zusammenhang mit Satz 1 des gleichen Absatzes gemeinsamer Ausgangspunkt267. Im Einklang mit dem Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers orientiert sich die Auslegung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG insofern an den zu Art. 3 Abs. 3 GG a.F. entwickelten Grundsätzen, so dass in der Literatur nun weitgehende Einigkeit darüber besteht, dass eine Behinderung nicht (mehr) als Anknüpfungspunkt für eine benachteiligende Ungleichbehandlung herangezogen werden darf 268 . Diese Interpretation des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG als „Anknüpfungsverbot" im Sinne des Art. 3 Abs. 3 GG a.F. führte jedoch dazu, dass sich die Meinungsverschiedenheiten bezüglich des alten Art. 3 Abs. 3 GG a.F. auch auf das neue Benachteiligungsverbot zugunsten behinderter Personen übertrugen. Insofern entwickelten sich im Schrifttum unterschiedliche Ansichten über die Rechtsatzwirkung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, die jeweils auf einem unterschiedlichen Verständnis von Art. 3 Abs. 3 GG a.F. aufbauen. 266 Alleine die Kommentierung von Bergmann (in: Hömig/Seifert, Art. 3, Rn. 20) bezeichnet bereits seit der 5. Auflage 1995 die Vorschrift des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG als „Konzession an den Zeitgeist, ohne eigenständige Bedeutung". In der Folgeauflage 1999 wird - zwar unter Hinweis auf die „andere Ansicht" des BVerfG - weitergehend angemahnt, dass sich Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG „auf dem Wege zu einem mißgedeuteten Grundrecht befindet." 267 Für eine Zugrundelegung der Maßstäbe des Art. 3 Abs. 3 GG a.F. vgl. bereits: Herdegen, VSSR 1992, S. 256 ff.; siehe in diesem Zusammenhang auch die Vorschlagsbegründung der SPD (BT-Drs. 12/6633), wo ausdrücklich das Urteil des BVerfG zum Nachtarbeitsverbot erwähnt ist (E 85, 191). 268 Für eine solche strikte Verbotswirkung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ausdrücklich: Scholz, in: Maunz /Dürig /Herzog /Scholz, Art. 3 Abs. 3, Rn. 174 („Anknüpfungs verbot"); Heun, in: Dreier, GG, Art. 3, Rn. 120 („striktes Benachteiligungsverbot").

C. Die subjektiv-rechtliche Dimension des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

a) Die restriktive

211

Interpretation

Ausgehend von der Interpretation des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG als kategorisches Differenzierungsverbot im Sinne eines Anknüpfungsverbotes wurde von führenden Stimmen in der Literatur auch die Rechtsatzwirkung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG sehr zurückhaltend beurteilt. Namentlich von Sachs wird hinsichtlich des Benachteiligungsverbotes wegen einer Behinderung auf den Maßstab eines strikten Anknüpfungsverbotes abgestellt; ein Modell, dessen Grundzüge von den Arbeiten des Staatsrechtlehrers entscheidend geprägt werden 269 . Kennzeichnend für eine restriktive Auslegung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nach der strengen Dogmatik eines kategorischen Differenzierungsverbotes ist zunächst, dass rechtliche Differenzierungen, die an das Merkmal der Behinderung anknüpfen, grundsätzlich untersagt sind, d. h. verfassungsrechtlich letztlich nur sehr ausnahmsweise durch einen zwingenden Grund gerechtfertigt werden können. Allerdings werden aus Sicht des Anknüpfungsverbotes dogmatisch streng genommen nur rein rechtliche Differenzierungen erfasst. Im Rahmen der Rechtsetzungsgleichheit sind dies solche staatliche Handlungen, bei denen für den Eintritt bestimmter Rechtsfolgen anhand des spezifischen Merkmals der Behinderung eine rechtliche Unterscheidung zwischen zwei Vergleichsgruppen getroffen wird. Rechtliche Differenzierungen, die eine Unterscheidung anhand anderer Kriterien als einer Behinderung treffen, sollen hingegen in den Anwendungsbereich des allgemeinen Gleichheitssatzes fallen. Genauso wenig werden faktische Differenzierungen, die durch die tatsächliche Wirkung bestimmter Rechtsakte in der Lebenswirklichkeit eintreten, von der strikten Rechtsatzwirkung eines rein rechtlichen Differenzierungsverbotes erfasst 270. Für ein striktes Verbot rechtlicher Differenzierungen wegen einer Behinderung bedeutet dies zunächst, dass jede Unterscheidung anhand des Kriteriums der Behinderung nur ausnahmsweise verfassungsrechtlich zulässig sein kann, wenn die Unterscheidung aus zwingendem Grund erforderlich ist. So kann beispielsweise die Versagung oder der Entzug einer Fahrerlaubnis wegen einer starken Sehbehinderung zum Schutze bedeutender Rechtsgüter, wie ζ. B. dem Leben und der Gesundheit anderer Verkehrsteilnehmer, gerechtfertigt sein. Ein zwingender Grund für rechtliche Differenzierungen kann sich jedoch auch aus der Unvergleichbarkeit der zu regelnden Lebenssachverhalte ergeben 271. So kann beispielsweise die inte269 Sachs, RdJB 1996, S. 161 ff.; zu dessen Interpretation von Art. 3 Abs. 3 GG a.F.: ders., Grenzen, München 1987; ders., in: HBdStR, Bd. V, § 126, S. 1017 ff. 270 Ausnahmen bestehen aus Sicht des Anknüpfungsmodells nur, wenn offensichtlich ist, dass die jeweilige Staatsgewalt mit dem Abstellen auf „verdeckte" Unterscheidungskriterien bewusst zur Umgehung des rechtlichen Differenzierungsverbots gehandelt hat. Dann wird über die Kausalität zwischen Merkmal und Rechtsfolge hinaus auf die tatsächlichen („getarnten") Motive und Intentionen der jeweiligen Staatsgewalt abgestellt. Allerdings bestritt bereits Dürig (in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Art. 3 III, Rn. 159) in bekannter Wortgewalt die Wahrscheinlichkeit einer „Tarnung von Motiven" in der Praxis. 1*

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

grative Beschulung eines behinderten Schulpflichtigen wegen tatsächlicher Unterschiede im Vergleich zu den nichtbehinderten Schülern unsachlich sein, wenn sie seinen Fähigkeiten und Eignungen in keiner Weise entspricht. Obschon der dogmatische Lösungsansatz eines strikten Anknüpfungsverbotes ausnahmsweise faktisch zwingende Gründe zur Rechtfertigung rechtlicher Differenzierungen zulassen muss, fallen umgekehrt jedoch faktische Differenzierungen grundsätzlich nicht in den Anwendungsbereich des Benachteiligungsverbotes. Für Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG folgt daraus, dass tatsächliche Gegebenheiten, die aus einer Behinderung folgen, zwar rechtliche Differenzierungen rechtfertigen können, gleichzeitig aber das subjektive Abwehrecht nicht auf die Beseitigung faktischer Ungleichheiten gerichtet ist. Bei den oben genannten Beispielen ist folglich die Frage, ob der Staat den zwingenden Grund für die rechtliche Differenzierung durch kompensierende Maßnahmen beseitigen kann oder muss, nicht Thema eines subjektiven Abwehrrechts aus dem negativen Status. Dabei geht es vielmehr um die Frage nach Leistungsrechten aus einem positiven Status, die an anderen Maßstäben zu messen sind. Wegen des weiten Ermessensspielraumes des Gesetzgebers bei der Erfüllung von Leistungspflichten können nämlich die strengen Maßstäbe eines Anknüpfungsverbotes grundsätzlich nicht auf positive Leistungsrechte i.w.S. angewendet werden. Weiterhin ist nach dem Modell eines strikten Differenzierungsverbotes für den Eintritt der strikten Rechtsfolge des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG strukturelle Voraussetzung, dass im Rahmen der gebotenen Rechtsetzungsgleichheit die jeweilige Vergleichsgruppe unter dem Merkmal der Behinderung vollständig und abschließend sichtbar wird. Für rechtliche Unterscheidungen wegen einer Behinderung folgt daraus, dass letztlich nur solche Regelungen unter das Benachteiligungsverbot fallen, die mit ihren rechtlichen Folgen ausschließlich die spezifische Gruppe behinderter Menschen betreffen. Damit unterliegt aber nur die Anknüpfung an behinderungsspezifische Merkmale dem strikten Verbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Eine Anknüpfung an lediglich behinderungstypische Merkmale müsste hingegen dem Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 1 GG unterfallen. Bezogen auf den dreigliedrigen Behinderungsbegriff bedeutet dies, dass eine Anknüpfung beispielsweise alleine an eine bestimmte Funktionsbeeinträchtigung eine Differenzierung anhand lediglich behinderungstypischer Kriterien darstellt und damit genaugenommen nicht 271 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Unvergleichbarkeit eigentlich einem anderen dogmatischen Lösungsansatz entstammt. Mit dem Erfordernis der „Vergleichbarkeit" unterschiedlich geregelter Lebenssachverhalte wird die Frage nach einem Verfassungsverstoß im Rahmen des Vergleichs gewissermaßen auf Tatbestandsebene des besonderen Gleichheitssatzes entschieden; hierbei handelt es sich um ein einstufiges Konzept, wie es von der früheren Rechtsprechung des BVerfG angewendet wurde und noch heute von Sachs favorisiert wird. Das Erfordernis eines „zwingenden Grundes" für Differenzierungen entspricht dem Regel-Ausnahme-Konzept der neueren Rechtsprechung des BVerfG zu den Gleichheitssätzen, das dem dogmatischen Ansatz von Eingriff und verfassungsrechtlicher Rechtfertigung bei den Freiheitsrechten ähnlich ist. Heute muss deshalb wohl die Frage der Unvergleichbarkeit auf Rechtfertigungsebene behandelt werden.

C. Die subjektiv-rechtliche Dimension des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

213

vom Tatbestand des Benachteiligungsverbotes erfasst wird 2 7 2 ; denn sofern lediglich an eine Funktionsbeeinträchtigung gewisse Rechtsfolgen geknüpft werden, wären mangels Unterscheidung zwischen dauerhaften und vorübergehenden Beeinträchtigungen ebenso Kranke in die Vergleichsgruppe mit einzubeziehen. Gleiches gilt aber auch für eine isolierte Anknüpfung an dauerhafte Funktionsbeeinträchtigungen, weil hiervon beispielsweise auch altersbedingte Beeinträchtigungen erfasst wären. Ebenso können (negative) soziale Auswirkungen auf die verschiedensten Ursachen zurückgeführt werden, so dass ein isoliertes Anknüpfen an diese ebenso nicht als behinderungsspezifisch betrachtet werden kann. Schließlich ist bei der Interpretation des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG als striktes Anknüpfungsverbot zu beachten, dass dieser Verfassungssatz nur die benachteiligende Ungleichbehandlung verbietet. Damit ist lediglich die Anknüpfung nachteiliger Rechtsfolgen an das Merkmal der Behinderung untersagt. Dieser Umstand lässt Raum für eine Beschränkung des Anwendungsbereichs des Benachteiligungsverbotes durch eine restriktive Auslegung des Nachteilsbegriffes. So wird teilweise aus einer „objektiven" Perspektive lediglich darauf abgestellt, ob von einer Unterscheidung ein rechtliches Interesse des Betroffenen negativ berührt wird; ideelle, wirtschaftliche oder emotionale Interessen des von einer rechtlichen Differenzierung Betroffenen bleiben hingegen unberücksichtigt 273.

b) Die extensive Interpretation Auf Grundlage einer verbotenen Anknüpfung an eine Behinderung steht vor allem die strikte Rechtsfolge eines kategorischen Differenzierungsverbotes im Mittelpunkt einer insbesondere von Betroffenen und ihren Verbänden vertretenen extensiven Auslegung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Gekennzeichnet ist dieses Verständnis des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, das in der Literatur besonders von Andreas und Gunther Jürgens vertreten wird, durch das Erfordernis eines zwingenden Grundes für eine Differenzierung zwischen Menschen mit und Menschen ohne Behinderungen 274. Bezüglich der Anwendung des Benachteiligungsverbotes auf staatliche Differenzierungen folgt diese Ansicht offenbar den Motiven und Zwecken, die mit der Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verbunden sind. Mit dem Ziel, die verfassungsrechtliche Stellung von Menschen mit Behinderungen zu verbessern, findet in dieser Interpretation die verfassungs272 Sachs, RdJB 1996, S. 170. 273 Ausdrücklich: Engelken, DVB1. 1997, S. 762; im Ergebnis auch: Hagmann, S. 84 (Fn. 314): 274 Andreas Jürgens steht dem Forum behinderter Juristinnen und Juristen vor und hatte in dieser Funktion bereits aktiv an der politischen Diskussion um die Einführung besonderer Vorschriften zugunsten behinderter Personen innerhalb der GVK mitgewirkt (siehe oben: 3. Kap., Teil C, II, 2).

214

4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

rechtliche Absicherung eines Perspektivenwechsels in der Behindertenpolitik ihren Ausdruck 275 . In dogmatischer Hinsicht orientiert sie sich besonders an den Vorgaben der neueren Rechtsprechung und Literaturmeinungen zur Geschlechterdiskriminierung. Demgemäß soll sich danach die Rechtsatzwirkung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG auch auf faktische Differenzierungen erstrecken, so dass sowohl die unmittelbare als auch die mittelbare Ungleichbehandlung durch Anknüpfung einer (Rechts-)Folge an ein behinderungsspezifisches oder -typisches Merkmal nur durch einen zwingenden Grund gerechtfertigt werden kann 276 . Dem liegt ein sozialorientiertes Verständnis des Behinderungsbegriffes zugrunde, das sich auch auf die Weiterentwicklung der WHO-Definition von Behinderung stützen kann 277 . Begründet wird die Gleichstellung unmittelbarer und mittelbatrer Differenzierungen im Anwendungsbereich des Benachteiligungsverbotes mit der Vergleichbarkeit beider Formen der Benachteiligung in ihren tatsächlichen Wirkungen auf die Betroffenen 278. So argumentiert A. Jürgens, dass beispielsweise für einen Rollstuhlnutzer ein rechtlicher Ausschluss von der Benutzung öffentlicher Einrichtungen ebenso benachteiligend wirke, wie dessen faktischer Benutzungsausschluss durch Zugangsbarrieren wie Treppen und Stufen an öffentlich zugänglichen Gebäuden und Fahrzeugen des öffentlichen Personenverkehrs 279. Für die Rechtsatzwirkungen des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ist nach dieser Ansicht zunächst von einem sehr weiten Begriff der Behinderung auszugehen. Teilweise soll im Anwendungsbereich des Verfassungssatzes deswegen schon das isolierte Anknüpfen an eine Funktionsbeeinträchtigung für eine benachteiligende Ungleichbehandlung genügen, weil behinderungsspezifische Auswirkungen nach der sozialorientierten Interpretation nicht vom Behinderungs-, sondern vom Benachteiligungsbegriff erfasst werden 280 . Mitunter wird auch dafür eingetreten, der verfassungsrechtliche Behinderungsbegriff solle über den Umfang des § 3 Abs. 1 SchwbG hinaus auch „altersbedingte" - also nicht lediglich regelwidrige - Behinderungen umfassen 281. Weiterhin bedeutet der Einbezug von unmittelbaren als auch von mittelbar-faktischen Benachteiligungen in den Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, dass diese Formen der Ungleichbehandlungen stets an den strengen 275 A. Jürgens, ZRP 1993, S. 129 f. 276 G. Jürgens, ZfSH/SGB 1995, S. 358. 277 Hierzu oben: Teil Β, I, 2. 278 Zu den Formen der Benachteiligung siehe oben: Teil Β, II, 5. 279 A. Jürgens, DVB1. 1997, S. 764 mit weiteren Beispielen. 280 G. Jürgens, ZfSH/SGB 1995, S. 358 f. 281 Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3, Rn. 310; Springer, br 1998, S. 93; ders., DVB1. 1998, S. 1058 verkennt jedoch, dass eine Anlehnung an den sozialrechtlichen Behindertenbegriff aus dem SchwbG zur Auslegung des Verfassungsbegriffs noch lange nicht bedeutet, dass sich das Benachteiligungsverbot auch nur auf Schwerbehinderte i. S. d. § 1 SchwbG beschränkt. Vereinzelte anfängliche Irritationen diesbezüglich, wie sie noch bei Sannwald, (NJW 1994, S. 3313 f.) anklingen, werden mittlerweile kaum mehr vertreten (vgl. auch: Jarass /Pieroth, 3. Aufl. 1996, Art. 3, Rn. 80).

C. Die subjektiv-rechtliche Dimension des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

215

Maßstäben dieses Verfassungssatzes zu messen wären 282 . Das Erfordernis eines zwingenden Grundes zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung rechtlicher sowie faktischer Ungleichbehandlungen schränkt dabei den Ermessensspielraum der rechtsetzenden Gewalt für rechtliche Differenzierungen erheblich ein. Bewirken nämlich die (Rechts-)Folgen eines Aktes der staatlichen Gewalt eine faktische Benachteiligung behinderter Personen, soll dies nur aus zwingendem Grund verfassungsrechtlich zulässig sein. Die Rechtsetzung hat daher faktische benachteiligende Wirkungen rechtlicher Differenzierungen nicht nur zu beachten, sondern auch zu vermeiden, was gegenläufige Maßnahmen zur Kompensation der faktischen Nachteile erfordern kann. Wenn ein staatliches Unterlassen der Beseitigung faktischer Benachteiligungen wegen einer Behinderung aber zur Verfassungswidrigkeit rechtlicher Differenzierungen führt, verliert das subjektive Recht aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG den Charakter eines reinen Abwehrrechts und rückt in die Nähe eines (originären) Leistungsrechtes aus dem positiven Status.

2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht befasste sich erstmals fast zwei Jahre nach der Einführung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG mit einem Fall aus dem Schulrecht, zu dem es zwei aufeinanderfolgende Entscheidungen traf 2 8 3 . Im Jahre 1999 erging dann eine weitere bemerkenswerte Entscheidung zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des Ausschlusses behinderter Personen von der Testiermöglichkeit im Zivilrecht 284 .

a) Die Grundsatzentscheidungen

zum Schulrecht

Gegenstand der ersten Verfassungsgerichtsentscheidung zu Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG war der Fall einer Schwerbehinderten Schülerin, die sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung einer Schulbehörde im Land Niedersachsen zu ihrer Uberweisung von einer allgemeinen (Regel-)Schule an eine Schule für Körperbehinderte (Sonderschule) wandte. Die Beschwerdeführerin besuchte zunächst mit sonderpädagogischer Förderung eine Regelgrundschule und wechselte dann in den 5. Schuljahrgang einer integrierten Gesamtschule. Ein im Laufe des Schuljahres erstelltes Gutachten stellte einen 282 Für den Maßstab des zwingenden Grundes für mittelbare Differenzierungen: A. Jürgens, DVB1. 1997, S. 413. 2 83 Beschluss vom 30. 07. 1996 - 1 BvR 1308/96 - (=JZ 1996, S. 1074 mit Anmerkung Dietze) und Beschluss vom 8. 10. 1997 - 1 BvR 9/97 - (BVerfGE 96, 288 ff.); beide vom Ersten Senat. 2 *4 Beschluss des Ersten Senats vom 19. 01. 1999 - 1 BVR 2161 /94 (BVerfGE 99,341 ff.).

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

sonderpädagogischen Förderbedarf bei der Klägerin fest, woraufhin die Schulbehörde unter Hinweis auf dieses Gutachten die Uberweisung auf die Sonderschule verfügte 285 . Das Verfassungsgericht hob zunächst im Jahre 1996 die im vorläufigen Rechtsschutz ergangene letztinstanzliche Entscheidung des Oberverwaltungsgericht mit der Begründung auf, diese lasse nicht erkennen, dass die Ausstrahlungswirkung von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ausreichend berücksichtigt worden sei. Schon aus den einschlägigen landesrechtlichen Schulgesetzen ergebe sich ein Regel-Ausnahme-Verhältnis zugunsten einer Regelbeschulung behinderter Kinder. Insofern ergäbe sich „im Lichte" des verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbots eine „erhöhte Begründungspflicht" für den Rechtsanwender, wenn es darum gehe, vom Regelfall in Richtung Sonderschuleinweisung abzuweichen286. Bemerkenswert an dieser Entscheidung ist bereits, dass eine Benachteiligung im Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG angenommen wurde, obschon sich die Verfügung der Schulbehörde lediglich auf einen erhöhten Förderbedarf stützte, also nicht unmittelbar an die Behinderung als solche anknüpfte. Ausschlaggebend für die Annahme einer behinderungsspezifischen Ungleichbehandlung durch das Verfassungsgericht könnte dabei jedoch der Umstand gewesen sein, dass es sich hier um die Uberweisung auf eine Schule speziell für Körperbehinderte handelte, die spezifischen Vergleichsgruppen der behinderten und der nichtbehinderten Schüler in diesem Fall also förmlich auf der Hand lagen. Das Oberverwaltungsgericht, zu dem die Sache zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen war, kam jedoch auch im Lichte des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zu keinem anderen Ergebnis als in seinem ersten Beschluss287. Das Bundesverfassungsgericht nutzte die nachfolgende erneute Verfassungsbeschwerde, die allerdings keinen Erfolg hatte, im Jahre 1997 zu einer grundlegenden Entscheidung zum verfassungsrechtlichen Benachteiligungsverbot 288. So setzte es sich zunächst mit dem verfassungsrechtlichen Behinderungsbegriff auseinander und orientierte sich dabei unter Hinweis auf das gebräuchliche Begriffsverständnis zur Zeit der Verfassungsänderung an dem sozialrechtlichen Behinderungsbegriff i. S. d. alten § 3 Abs. 1 SchwbG 289 . Zudem sah es das Merkmal einer Behinderung als „persönliche Eigenschaft" an, definierte also die Behinderung nicht sozialorientiert als von außen kommende Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung, sondern am Defekt orientiert als eine Eigenschaft, „die die Lebensführung fir den Betroffe285

Die behinderte Schülerin wurde 1984 mit einer Fehlbildung des Rückenmarks (spina bifida) geboren und ist an Beinen, Blase und Mastdarm gelähmt. Das Gutachten bescheinigte einen Förderbedarf insbesondere im Fach Mathematik sowie die Notwendigkeit einer sog. . Stützkraft zum Besuch der Regelschule. 28 6 BVerfG, JZ 1996, S. 1073. 287 Beschluss des OVG Lüneburg vom 20. 11. 1996 - 13 M 4539/96 - = NJW 1997, S. 1062 ff. = JuS 1997, S. 748 ff. 288 Beschluss vom 8. 10. 1997 - 1 BvR 9/97 - (BVerfGE 96, 288 ff.) = NJW 1998, S. 131 ff. 28 9 BVerfGE 96, 288 ff. [301].

C. Die subjektiv-rechtliche Dimension des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

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neu im Verhältnis zum Nichtbehinderten (... ) grundsätzlich schwieriger macht. " 2 9 0 Gleichzeitig ließ das Gericht jedoch ausdrücklich offen, ob das Merkmal der Behinderung damit abschließend bestimmt sei und betonte somit die Offenheit seiner Begriffsinterpretation 291. Sodann wandte sich das Gericht der Frage der Benachteiligung i.S. von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zu und stellte in Bezug auf dessen bewusste Anlehnung an die Formulierung des früheren Art. 3 Abs. 3 GG a.F. fest, dass die Behinderung nicht als Anknüpfungspunkt für eine - benachteiligende - Ungleichbehandlung dienen darf 292 . Jedoch erkannte das Gericht dem Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gleichzeitig eine eigenständige, über den Gehalt des Satz 1 hinausgehende Bedeutung zu, wobei es sich auf die besondere Situation behinderter Menschen bezog, die nach dem Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers weder zu gesellschaftlichen noch zu rechtlichen Ausgrenzungen führen sollte 293 . Daraus folgerte das Verfassungsgericht: „Eine Benachteiligung liegt vor diesem Hintergrund nicht nur bei Regelungen und Maßnahmen vor, die die Situation des Behinderten wegen seiner Behinderung verschlechtern, indem ihm etwa der tatsächlich mögliche Zutritt zu öffentlichen Einrichtungen verwehrt wird oder Leistungen, die grundsätzlich jedermann zustehen, verweigert werden. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch bei einem Ausschluß von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt gegeben sein, wenn dieser nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Förderungsmaßnahme hinlänglich kompensiert wird. " 2 9 4 Wann eine staatliche Regelung oder Maßnahme in diesem Sinne eine nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verbotene Benachteiligung wegen einer Behinderung darstellt, lässt sich nach Ansicht des Verfassungsgerichts allerdings nicht generell und abstrakt, sondern nur anhand einer Gesamtwürdigung aller Umstände im konkreten Einzelfall bestimmen. Für die Feststellung einer verbotenen Benachteiligung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG stellte das Bundesverfassungsgericht in diesem Fall aus dem Schulrecht insofern auf einen Vergleich der Lage der Betroffenen mit derjenigen von Nichtbetroffenen ab 2 9 5 . Eine (verbotene) Benachteiligung liegt danach vor, wenn sich die Lage des Betroffenen aufgrund einer bestimmten staatlichen Handlung als qualitativ schlechter darstellt als die des Nichtbetroffenen, wobei jedoch nicht nur auf rein rechtliche „Gleichwertigkeit", sondern ebenso auf faktische Umstände abgestellt wird, insbesondere auch Kompensationsmöglichkeiten in die Bewertung miteinbezogen wer290 BVerfGE 96, 288 ff. [302]. 291 BVerfGE 96, 288 ff. [301]. Da die Behinderteneigenschaft der Beschwerdeführerin hier auch völlig unstreitig vorlag, bestand für das BVerfG ohnehin keine Not, sich mit den Grenzen des verfassungsrechtlichen Behinderungsbegriffs auseinander zu setzen. 292 BVerfGE 96, 288 ff. [302]. Ausdrücklich bezieht sich das BVerfG dabei auf seine Entscheidung zum Nachtarbeitsverbot (BVerfGE 85, S. 191 [206]). 293 Vgl. BT-Drs. 12/8165, S. 28 f. 294 BVerfGE 96, 288 ff. [303]. 295 Diesen Ansatz vertritt auch Sachs, HBdStR, Bd. V, S. 1040.

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

den 296 . Was das Gericht bei diesem Situationsvergleich aufgreift, ist der Maßstab der „Vergleichbarkeit", wie ihn die frühere Rechtsprechung in Bezug auf die Geschlechtergleichheit entwickelt hatte 297 . Ähnlich wie danach eine Ungleichbehandlung nicht vorliegt, wenn die zu regelnden Lebenssachverhalte wegen biologischer Unterschiede zwischen den Geschlechtern unvergleichbar sind, soll das Vorliegen einer (benachteiligenden) Ungleichbehandlung wegen einer Behinderung abzulehnen sein, wenn die zu regelnden Sachverhalte wegen behinderungsspezifischer faktischer Unterschiede unvergleichbar sind. Im Falle des Benachteiligungsverbotes sind dabei jedoch die Möglichkeiten zur Kompensation faktischer Nachteile aufgrund der Behinderung bei der Beurteilung der Vergleichbarkeit zu beachten.

b) Die Entscheidung zur Testierfreiheit In einer weiteren Verfassungsbeschwerde aus dem Jahre 1999, die sich zumindest mittelbar gegen ein förmliches Gesetz richtete298, ging es um die Frage der Vereinbarkeit eines generellen Ausschlusses schreib- und sprechunfähiger Personen von den Testiermöglichkeiten der §§ 2232, 2233 BGB i.V.m. § 31 BeurkG mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG 2 9 9 . Das Zivilrecht kennt nach § 2231 BGB mit dem handschriftlichen und dem notariellen Testament zwei ordentliche Formen von Testamenten und lässt bestimmte außerordentliche Testamentsformen nur in bestimmten Ausnahmefällen zu 3 0 0 . Für Personen, die mangels Schulbildung oder aufgrund von körperlichen Gebrechen nicht schreiben können, besteht lediglich die Möglichkeit zur Erstellung eines notariellen Testaments nach §§ 2232, 2233 BGB. Diese Vorschriften verlangen im Grundsatz die mündliche Erklärung vor dem Notar, wobei jedoch § 31 BeurkG eine Ausnahmeregelung für Stumme vorsieht. Diese können die mündliche Erklärung vor dem Notar durch die Übergabe einer Schrift sowie einer eigenhändigen schriftlichen Erklärung, dass die übergebene Schrift ihren letzten Willen enthalte, 296 Erwähnt sei in diesem Zusammenhang, dass der Sonderschulabschluss i.d.R. mit dem Regelschulabschluss formal gleichgestellt ist (im Fall der behinderten Schülerin vgl.: § 14 Abs. 2 S. 2 NdsSchulG), also ein rechtlicher Nachteil in qualitativer Hinsicht eigentlich nicht besteht. Jedoch ist für den Betroffenen der Besuch der Sonderschule regelmäßig mit zahlreichen faktischen Nachteilen verbunden wie Ausgrenzung und der Gefahr der Desintegration, bis hin zu einem in der Arbeitswelt faktisch geringerwertigem Sonderschulabschluss; hiezu: Füssel, RdJB 1996, S. 188 ff.; ders., RdJB 1998, S. 250 ff. 297 Siehe hierzu oben: I, 2, b), (1). 298

Unmittelbarer Beschwerdegegenstand war ein Urteil des OLG Hamm vom 13.10.1994 ( - 10 U 81 /93 -), das vor Inkrafttreten des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zugestellt wurde, weshalb das BVerfG das Benachteiligungsverbot nicht als (unmittelbaren) Kontrollmaßstab heranzog (vgl. die Entscheidungsgründe unter Punkt B.). 299 Beschluss des Ersten Senats vom 19. 01. 1999 - 1 BVR 2161/94 - (BVerfGE 99, 341 ff.). 300 Vgl. die Regelungen zu den sog. Nottestamenten in § 2249 ff. BGB

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ersetzen. In dieser Konstellation muss also eine sprechunfähige Person entweder stets schreiben können oder umgekehrt eine schreibunfähige Person stets sprechen können, um nicht von den Testiermöglichkeiten im Zivilrecht gänzlich ausgeschlossen zu sein. Das Bundesverfassungsgericht, das den generellen Ausschluss schreib- und sprechunfähiger Menschen von der Testiermöglichkeit u. a. auch am Maßstab des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG auf seine verfassungsrechtliche Zulässigkeit hin beurteilte, stellte zunächst fest, dass die Auswirkungen dieses Testierausschlusses zum größten Teil behinderte Menschen betreffen, da der Mangel dieser Fähigkeiten häufig auch Folge einer Behinderung sei 3 0 1 . Das Gericht sieht es damit für eine Anwendung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG als ausreichend an, wenn von den Folgen eines Rechtsetzungsaktes ganz überwiegend, aber nicht ausschließlich Menschen mit Behinderungen erfasst werden; in diesem Sinne überprüft es letztlich eine mittelbar-faktische Ungleichbehandlung behinderter Menschen an dem Verbot wegen seiner Behinderung benachteiligt zu werden. Hinsichtlich der verbotenen Benachteiligung bezog sich der Erste Senat auf seine Entscheidung zum Schulrecht zurück und führte an, behinderte Menschen würden „zum Beispiel benachteiligt, wenn ihre Lebenssituation im Vergleich zu derjenigen nicht behinderter Menschen durch gesetzliche Regelungen verschlechtert wird, die ihnen Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten, welchen anderen offenstehen. " 302 Da die gesetzlichen Formerfordernisse an die Erstellung eines Testaments faktisch dazu führen, dass schreib- und sprechunfähige Menschen keine Möglichkeit zur Erstellung eines Testaments haben, liegt nach Ansicht des Verfassungsgerichts eine nachteilige Ungleichbehandlung im Sinne einer Verschlechterung der Lebenssituation Behinderter im Vergleich zur Lebenssituation Nichtbehinderter vor. Mit der Feststellung einer im Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG relevanten - nachteiligen - Ungleichbehandlung beendete das Gericht die Prüfung des Benachteiligungsverbotes allerdings nicht, sondern stellte in seinen Entscheidungsgründen weiter fest, dass diese Ungleichbehandlung im vorliegenden Fall verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt sei. Damit legte der Erste Senat hier erstmals wieder ein Regel-Ausnahme-Konzept zugrunde und erkannte gleichzeitig die Notwendigkeit einer Begrenzung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Als zulässige Ausnahmen von dem Verbot benachteiligender Ungleichbehandlungen, die einen Ausschluss behinderter Menschen von der Testierfreiheit verfassungsrechtlich rechtfertigen können, bezog sich das Gericht dann auf das Fehlen solcher geistiger und körperlicher Fähigkeiten, die unerlässliche Voraussetzungen für die Wahrnehmung eines Rechts sind 303 . Insofern lässt das Gericht gewisse faktische Unterschiede zwischen behinderten und nichtbehinderten Personen im Hinblick auf unterschied301 BVerfGE 99, 341 [356 f.]. 302 BVerfGE 99, 341 [357] mit Bezug auf BVerfGE 96, 288 [302 f.]. 303 BVerfGE 99, 341 [357].

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

liehe körperliche oder geistige Funktionen als Rechtfertigungsgrund für eine benachteiligende Ungleichbehandlung zu.

3. Zusammenfassende Stellungnahme Die mittlerweile wohl g.h.M. in Literatur und Rechtsprechung gesteht dem Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG eine eigenständige Bedeutung im Rahmen der Gleichheitssätze zu. Die Verfassungsnorm ist damit nicht lediglich bloßer Programmsatz oder Staatszielbestimmung, sondern hat echte Grundrechtsqualität. In seiner Funktion als subjektives Recht des Einzelnen gegenüber dem Staat reicht die Palette möglicher Aufgaben des Benachteiligungsverbots vom subjektiven Leistungsgrundrecht bis hin zum reinen Abwehrgrundrecht des negativen Status. Ein subjektives Leistungsrecht korrespondiert mit dem Abwehrgrundrecht notwendigerweise dann, wenn man den Anwendungsbereich des Benachteiligungsverbots sehr weit fasst und gleichzeitig das Erfordernis eines zwingenden Grundes für Differenzierungen strikt anwendet. Ist nämlich jede rechtliche Differenzierung, deren rechtliche oder faktische Folgen überwiegend Menschen mit Behinderungen belasten, nur aus zwingendem Grund verfassungsrechtlich zulässig, muss die Rechtsordnung die dadurch entstehende Verschlechterung der Lebensverhältnisse behinderter Menschen kompensieren. Denn nur wenn sich faktische Unterschiede nicht beseitigen lassen, besteht ein zwingender Grund für eine rechtliche Regelung, die faktischen Unterschieden zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen in zulässiger Weise Rechnung trägt. Durch das Erfordernis des zwingenden Grundes für zulässige Differenzierungen wird jedoch auch erkennbar, dass Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nicht ohne jegliche Begrenzung wirkt; das Benachteiligungsverbot kann schließlich vom Staat nichts Unmögliches verlangen. In Literatur und Rechtsprechung finden sich überdies noch weitergehende Bestrebungen für eine Begrenzung des Benachteiligungsverbotes, wofür grundsätzlich zwei Alternativen bestehen: Zunächst könnte man dessen Anwendungsbereich auf die spezifische Anknüpfung rechtlicher Differenzierungen an das Merkmal der Behinderung beschränken, wie es von Teilen der Literatur vorgeschlagen wird. Der strikten Rechtsfolge einer generellen Verfassungswidrigkeit - benachteiligender - Ungleichbehandlungen wegen einer Behinderung entspräche dann auf „Tatbestandsebene" des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG eine Beschränkung auf die offene unmittelbare bzw. direkte Anknüpfung benachteiligender Rechtsfolgen an das Merkmal der Behinderung. Auch solche rechtlichen Benachteiligungen, die ganz überwiegend behinderte Menschen treffen, könnten dann als nur mittelbar-faktische Differenzierungen keine im Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG relevante Ungleichbehandlungen darstellen.

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Eine weitere Alternative bei einer Ausdehnung seines Anwendungsbereichs auf mittelbare Benachteiligungen behinderter Menschen ist die Begrenzung der Rechtsfolge des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, indem man weitergehende Ausnahmen vom strikten Benachteiligungsverbot zulässt. Dies deutet sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an, wenn es gewisse Zulässigkeitsanforderungen für die im Anwendungsbereich der Verfassungsnorm relevanten Differenzierungen aufstellt. In diesem Sinne fragte das Verfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Schulrecht nicht nach zwingenden Gründen für eine Benachteiligung behinderter Schüler, sondern traf seine Entscheidung aufgrund einer Gesamtbetrachtung aller widerstreitenden Interessen und Umstände; es orientierte sich also letztlich mit dieser Abwägung aller (einfachen) Gründe am Maßstab der Verhältnismäßigkeit. Demgegenüber stellte das Gericht bei seiner Entscheidung zur Testierfreiheit auf den strikten Maßstab des zwingenden Grundes ab. Für die Frage, ob ein rechtlicher Ausschluss schreibunfähiger Stummer von einer Betätigungsmöglichkeit, die anderen offen steht, verfassungsrechtlich zulässig ist, spielte dabei gewiss der Umstand eine bedeutende Rolle, dass eben jene Betätigungsmöglichkeit insbesondere auch vom Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG erfasst wird. Die zivilrechtlichen Vorschriften schließen den betroffenen Personenkreis nämlich von der grundrechtlich geschützten Möglichkeit gewillkürter Erbeinsetzung aus. Die Beschränkung eines durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Rechtes für einen von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG erfassten Personenkreis ist nach Ansicht des Gerichts verfassungsrechtlich nur aus zwingendem Grund zulässig. Der Erste Senat scheint also hinsichtlich des Maßstabes für die Zulässigkeit von - benachteiligenden - Ungleichbehandlungen gewisse Abstufungen nach Art und Intensität der Benachteiligung zulassen zu wollen. Soweit sich dies aus den genannten Entscheidungen entnehmen lässt, reichen die Anforderungen an die Zulässigkeit von Differenzierungen wegen einer Behinderung von der Verhältnismäßigkeit bis hin zum strikten Erfordernis des zwingenden Grundes.

I I I . Die dogmatische Struktur des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 G G als subjektives Recht Kritik und eigener Ansatz 1. Der besondere Gleichheitssatz als Sitz eines „Anknüpfungsverbotes für benachteiligende Ungleichbehandlungen"? Im Zusammenhang mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG wird bereits seit der Verfassungsreform von 1994 immer wieder von einem „Anknüpfungsverbot für benachteiligende Ungleichbehandlungen' 4 behinderter Menschen gesprochen. Ob dem Konzept eines Anknüpfungsverbotes überhaupt eine schlüssige Dogmatik entnom-

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

men werden kann, die auf diesen Gleichheitssatz passt, ist allerdings fraglich und soll im Folgenden einer genaueren Betrachtung unterzogen werden.

a) Das herkömmliche Modell eines Anknüpfungsverbotes auf Grundlage eines kategorischen Verbotes rechtlicher Differenzierungen Seit jeher wird das Verbot jeder Bevorzugung und Benachteiligung wegen eines in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG genannten Merkmals als Verbot der rechtlichen Differenzierung interpretiert 304. Innerhalb einer notwendig differenzierenden Rechtsordnung folgt aus diesem Postulat strikter Rechtsetzungsgleichheit, dass der staatlichen Gewalt bei ihrer Rechtsetzung der Gestaltungsspielraum für Differenzierungen auf der Grundlage verbotener Merkmale von Verfassungs wegen entzogen ist. Aus Sicht des Anknüpfungsverbots überschreitet die rechtsetzende Gewalt ihren Spielraum für rechtliche Differenzierungen immer dann, wenn innerhalb eines Aktes der Rechtsetzung das verbotene Merkmal als notwendige Voraussetzung für den Eintritt einer Rechtsfolge verwendet wird. Dies ist der Fall, wenn zwischen verbotenem Merkmal und Rechtsfolge ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht, das jeweilige Merkmal also notwendige Bedingung (conditio sine qua non) für den Eintritt einer rechtlichen Folge wird. Dann knüpft dieser Akt der Rechtsetzung unmittelbar an ein verbotenes Merkmal des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG an, was nach der Dogmatik des Anknüpfungsmodells ausnahmslos dessen Verfassungswidrigkeit zur Folge haben müsste. Denn nach seiner absoluten Formulierung lässt Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG streng dogmatisch betrachtet eigentlich keine Ausnahmen innerhalb der Rechtsetzungsgleichheit zu, weil der besondere Gleichheitssatz im Unterschied zu vielen Freiheitsrechten keinen Schrankenvorbehalt kennt 305 . Das Anknüpfungsverbot präsentiert sich somit dem ersten Anschein nach als ein Modell, das rechtliche Differenzierungen auf der Grundlage verbotener Merkmale ungeachtet tatsächlicher Unterschiede zwischen den Trägern dieser Merkmale strikt und kategorisch untersagt.

b) Die Problematik bei der Interpretation des Art. 3 Abs. 3 GG nach dem herkömmlichen Anknüpfungsmodell Zwar konnte sich in Literatur und Rechtsprechung das Anknüpfungsverbot im Sinne eines strikten Verbotes objektiver Differenzierungen im Recht weitgehend durchsetzen. Gleichzeitig zeigte sich jedoch die Unzulänglichkeit seiner dogmatischen Struktur als strikte „Wenn-dann-Formel" zur Beurteilung von Verstößen gegen den speziellen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG. 304 Hierzu oben: Teil A, V, 4. 305 Vgl. oben: Teil A, IV, 3.

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Eine Schwäche dieses Lösungskonzeptes zeigt sich nämlich bereits darin, dass auf Grundlage der verbotenen Anknüpfung in ein und demselben Fall unterschiedliche Ergebnisse in Bezug auf die Verfassungswidrigkeit eines Rechtsetzungsaktes möglich sind. Ein Beispiel aus dem Bereich der rechtlichen Differenzierung nach dem verbotenen Merkmal des Geschlechtes soll dies verdeutlichen: Stellt ein A k t der Rechtsetzung für den Eintritt seiner Rechtsfolgen nicht unmittelbar auf das Merkmal „Frau" ab, sondern auf ein Merkmal wie „Schwangerschaft", ist dogmatisch unklar, ob es sich hierbei um eine unmittelbare Anknüpfung an das Geschlecht handelt 3 0 6 . Wegen einer verbotenen Anknüpfung an sog. spezifische Begleitmerkmale des Geschlechts ließe sich hier das Vorliegen einer verbotenen Unterscheidung zwischen Mann und Frau behaupten, weil ausschließlich Frauen von dieser Regelung betroffen sind und daher das Tatbestandsmerkmal der Schwangerschaft gewissermaßen synonym für das der Frau steht. Umgekehrt ließe sich aber mit dem Anknüpfungsmodell i m Sinne eines Verbotes rechtlicher Differenzierungen ebenso argumentieren, dass eine rechtliche Unterscheidung nach der Schwangerschaft gerade nicht kausal an das Geschlecht anknüpft, weil an sich j a beide Geschlechter gleichermaßen von einer solchen Regelung erfasst sind. Denn zumindest hypothetisch würde eine nach der Schwangerschaft differenzierende Regelung auch für „schwangere" Männer gelten; eine Hypothese, die angesichts des rasanten medizinischen Fortschritts nicht völlig von der Hand zu weisen ist und damit den notwendigen Kausalzusammenhang zwischen verbotenem Merkmal und Rechtsfolge unterbricht. Erklären lässt sich die Möglichkeit unterschiedlicher Ergebnisse, wenn man die kausale Anknüpfung an ein verbotenes Merkmal bezogen auf die damit verbundene Unterscheidung genauer betrachtet. Dann knüpft ein A k t der Rechtsetzung an ein verbotenes Merkmal an, wenn es möglich ist, zwei Fälle zu bilden, die bis auf das jeweilige Merkmal in allen wesentlichen Faktoren gleich sind und die dennoch in unterschiedlicher Weise rechtlich geregelt werden 3 0 7 . Es geht also letztlich darum, welche Faktoren für eine Unterscheidung wesentlich sind, i m vorgenannten Beispiel also um die Frage, ob nun das Geschlecht das wesentliche Kriterium für eine Ungleichbehandlung darstellt oder ein bestimmter Lebenssachverhalt, also hier der Umstand einer Schwangerschaft. Wie die verschiedenen Auffassungen in dem vorgenannten Beispiel zeigen, sind über die Frage der „Wesentlichkeit" unterschiedliche Ansichten möglich. Das Beispiel macht daher deutlich, dass es sich bei dem Anknüpfungsverbot nicht um eine einfache strikte Formel handeln kann, sondern dass auch dieses Modell auf einem wertenden Vergleich beruht. Eine weitere Unstimmigkeit des strikt formelhaften Anknüpfungsmodells ergibt sich daraus, dass nach der Dogmatik eines rein rechtlichen Differenzierungsverbotes faktische Unterschiede zwischen den Trägern eines verbotenen Merkmals 306 Dafür: Sachs, Grenzen, S. 459; ders., in: HBdStR, Bd. V, S. 1031; dagegen: Ebsen, in: HBdVerfR, S. 277; Rüfner, FS Friauf, S. 332; vgl. hierzu oben unter I, 2, a), (1). 307 Ebsen, in: HBdVerfR, S. 277.

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schlichtweg keine Rolle spielen (dürften). Das Anknüpfungsmodell gebietet daher zunächst aller staatlichen Gewalt, die in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG angesprochenen faktischen Unterschiede bei ihrer Rechtsetzung zu ignorieren. Ein solch definitives Verfassungsgebot, das alleine auf rechtliche Gleichbehandlung zielt, lässt sich aber aus dem speziellen Gleichheitssatz nicht begründen, zumal die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz ja nicht nur ein Postulat der rechtlichen, sondern auch der faktischen Gleichheit beinhaltet 308 . Überdies findet jedes definitive rechtliche Gebot seine Grenze im Faktischen, weil auch das strikteste Gebot von seinem Adressaten nichts (faktisch) Unmögliches verlangen kann. Der Staat kann als Adressat des Unterscheidungsverbotes nicht zur rechtlichen Gleichbehandlung gezwungen werden, wenn diese faktisch unmöglich ist. Mit anderen Worten können also faktische Unterschiede eine Ungleichbehandlung jedenfalls dann zwingend erfordern, wenn eine Gleichbehandlung unmöglich ist. In dogmatischer Hinsicht wäre damit bewiesen, dass das rechtliche Gleichbehandlungsgebot seine äußerste Grenze in dem faktisch Möglichen findet und faktische Unterschiede im Rahmen des UnterscheidungsVerbotes jedenfalls dann nicht unberücksichtigt bleiben können, wenn sie einen zwingenden Grund für eine Differenzierung darstellen. Damit ist klargestellt, dass faktisch zwingende Gründe wie die Unmöglichkeit der Gleichbehandlung eine Ungleichbehandlung erfordern können. Allerdings ist damit nicht gesagt, dass eine Abweichung von der rechtlichen Gleichheit nur dann zwingend erforderlich sein kann, wenn eine Gleichbehandlung unmöglich ist. Das Erfordernis eines zwingenden Grundes für eine Ungleichbehandlung kann auch gegeben sein, wenn eine Gleichbehandlung zwar faktisch möglich, jedoch vollkommen unsachlich, unvernünftig oder gar willkürlich wäre 309 . Wie oben bereits erwähnt wurde, ist das ursprüngliche Konzept eines Anknüpfungsverbotes also nicht so einfach, wie es gerne dargestellt wird. Überdies verleiht es als dogmatische Konstruktion dem besonderen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG letztlich nur sehr bedingt die strikte Rechtsatzwirkung eines kategorischen Verbotes rein rechtlicher Differenzierungen. Vielmehr beinhaltet auch dieses Konzept die Frage nach der relativen Vergleichbarkeit als das Grundthema der rechtlichen Gleichheit und muss auch faktische Gegebenheiten in einen notwendig zu vollziehenden (wertenden) Vergleich mit einbeziehen. Dabei sollen faktische Ungleichheiten nach dem Ansatz des herkömmlichen Anknüpfungsmodells zwar eine Abweichung vom Gleichheitspostulat des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG erfordern können; umgekehrt soll dieser Verfassungssatz jedoch nicht zur Anwendung kommen, wenn es um die Herstellung faktischer Gleichheit geht.

308 Vgl. oben: Teil A, III, 2. 309 in diesem Sinne hält Dürig (in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 3 Abs. 2, Rn. 2) eine Differenzierung für erlaubt, wenn eine Ignorierung des Merkmals Geschlecht willkürlich wäre.

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c) Die Erweiterung des herkömmlichen Anknüpfungsmodells in Literatur und Rechtsprechung Dass die tatsächliche Wirkung von Rechtsetzungsakten auf die Lebenswirklichkeit nach dem herkömmlichen Ansatz völlig unberücksichtigt bleibt, wurde in Literatur und Rechtsprechung besonders in Bezug auf die Gleichheit der Geschlechter seit längerem als unzureichend empfunden. So entwickelte sich eine Auslegung zu Art. 3 Abs. 3 GG, welche zwar das Modell eines AnknüpfungsVerbotes zum Ausgangspunkt nimmt, im Unterschied dazu jedoch auch faktische Ungleichbehandlungen der Rechtsetzung dadurch in den Anwendungsbereich des besonderen Gleichheitssatzes mit einbezieht, dass die „mittelbare" Anknüpfung an ein Merkmal des Art. 3 Abs. 3 GG erfasst werden soll. Auch dieser Ansatz versteht sich als „Anknüpfungsmodell", allerdings im Sinne eines Verbotes mittelbar-faktischer Differenzierungen auf der Grundlage verbotener Merkmale. Genau betrachtet entspricht dieser neue Ansatz dem herkömmlichen Anknüpfungsmodell nur dem Namen nach, weist diesem gegenüber allerdings eine unterschiedliche Vorgehensweise auf. Zunächst kommt es danach für die Anwendbarkeit des besonderen Gleichheitssatzes nämlich gerade nicht auf eine kausale Verknüpfung von Merkmal und Rechtsfolge an, sondern unabhängig davon auf die tatsächliche Wirkung der (Rechts-)Folge eines Rechtsetzungsaktes für die Träger eines verbotenen Merkmals. Ein weiterer Unterschied zum herkömmlichen Ansatz besteht darin, dass dieses neue Konzept dem besonderen Gleichheitssatz keine ähnlich strikte Rechtsfolge verleiht. Der starre Maßstab eines kategorischen Differenzierungsverbotes passt nämlich nicht für die Fälle einer mittelbar-faktischen Differenzierung, so dass vielmehr auf einen dynamischen Maßstab zurückgegriffen werden muss.

d) Kritik am Konzept des Anknüpfungsverbotes Das Modell des Anknüpfungsverbotes basiert heute auf zwei verschiedenen Ansichten zum Gehalt des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, die innerhalb dieses Modells nicht konfliktfrei nebeneinander stehen und im Schrifttum heftig umstritten sind. Zur Grundlage für die Interpretation des Verfassungssatzes als Anknüpfungsverbot werden insofern ein striktes Verbot rein rechtlicher Differenzierungen auf der einen und ein Verbot mittelbar-faktischer Differenzierungen auf der anderen Seite, also zwei unterschiedliche Ansätze. Insbesondere die herkömmliche Auslegung des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG als striktes Verbot rein rechtlicher Differenzierungen steht vor dem methodischen Dilemma, dass die in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG genannten faktischen Unterschiede zwischen den Menschen innerhalb der Rechtsordnung einerseits nicht berücksichtigt werden dürfen, andererseits nicht immer unberücksichtigt bleiben können. Damit zeigt sich, dass auch dieser Ansatz das Postulat faktischer Gleichheit nicht aus seinem dogmatischen Lösungskonzept eliminieren 15 Straßmair

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kann. Andererseits löst dieser Ansatz das Spannungsverhältnis zwischen rechtlicher und faktischer Gleichheit nur sehr unzureichend. Danach kann nämlich das Postulat rechtlicher Gleichheit durch faktische Ungleichheiten zwischen den Menschen negativ begrenzt werden, gleichzeitig besteht jedoch die Gefahr einer unbeschränkten Vertiefung dieser faktischen Ungleichheiten, da das Postulat faktischer Gleichheit vom Anwendungsbereich des besonderen Gleichheitssatzes eben nicht positiv erfasst wird. Dieser Mangel des herkömmlichen dogmatischen Ansatzes wurde auch zum Ansatzpunkt für eine erweiternde Auslegung des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG im Sinne eines Verbotes mittelbar-faktischer Differenzierungen. Dabei wird aber gleichfalls von einem „Anknüpfungsverbot" gesprochen, weil sich dieser Ansatz an die herkömmliche Technik zur Feststellung einer Ungleichbehandlung durch „Anknüpfung" an ein verbotenes Merkmal anlehnt, was letztlich zu zahlreichen Irritationen im Umgang mit den unterschiedlichen Lösungsansätzen führt. Ubersehen wird nämlich zunächst oftmals, dass es im Rahmen des herkömmlichen dogmatischen Ansatzes eines rein rechtlichen Differenzierungsverbotes letztlich um eine kausale Verknüpfung zwischen Merkmal und Rechtsfolge geht. Der erweiternde Ansatz eines mittelbar-faktischen Differenzierungsverbotes verzichtet hingegen auf streng formale Kausalitätserfordernisse. Danach beurteilt sich die Verknüpfung zwischen dem jeweiligen Rechtsetzungsakt und dem verbotenen Merkmal anhand der tatsächlichen Wirkungen für die Träger eines verbotenen Merkmals; ein Vorgang, der weitaus komplizierter ist als die schlicht formale Feststellung von Kausalität und eine Abwägung nicht nur rechtlicher, sondern gerade auch tatsächlicher Umstände erfordert. Irritationen stellen sich oft auch bezüglich des im konkreten Anwendungsfall maßgeblichen Prüfungsmaßstabes ein. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass es einem rein rechtlichen Differenzierungsverbot lediglich um das Postulat rechtlicher Gleichheit geht. Da dieses Postulat der Gleichheitssätze mit anderen Verfassungsweiten nicht in Konflikt geraten kann, ist es mit dem herkömmlichen Lösungskonzept möglich, dem besonderen Gleichheitssatz eine starre und strikte Rechtsfolge zugrunde zu legen, die ihre äußersten Grenzen theoretisch nur in der faktischen Unmöglichkeit findet. Bezieht man allerdings mit dem erweiternden Ansatz auch das Postulat faktischer Gleichheit in die Rechtsatzwirkung des besonderen Gleichheitssatzes ein, wird der Konflikt zwischen faktischer Gleichheit und Freiheit virulent. Dies muss jedoch unweigerlich Einfluss auf den Prüfungsmaßstab des besonderen Gleichheitssatzes haben. Auch wenn es zutreffen mag, dass faktische Differenzierungen in ihrer tatsächlichen Wirkung auf die Betroffenen vielfach sogar noch gravierender sein können als rein rechtliche, ist dies noch kein Argument, den starren Prüfungsmaßstab eines rechtlichen Unterscheidungsverbotes stets auch für diese Differenzierungen heranzuziehen. Immer muss das Spannungsverhältnis zwischen faktischer Gleichheit und Freiheit berücksichtigt werden. Andernfalls würde die starre Rechtsfolge der Verfassungswidrigkeit für alle Fälle einer mittelbar-faktischen Differenzierung konsequent auf die uneinge-

C. Die subjektiv-rechtliche Dimension des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

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schränkte Herstellung von Ergebnisgleichheit hinauslaufen, also auf eine dem freiheitlich verfassten Rechtsstaat nicht entsprechende staatliche „Gleichmacherei".

e) Strukturelle Unterschiede zwischen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 GG Im Hinblick auf die Rechtsatzwirkung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ist zweifelhaft, ob das Modell eines Anknüpfungsverbotes, wie es der herkömmlichen Interpretation des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG im Sinne eines strikten Verbotes rechtlicher Differenzierungen zugrunde liegt, auch für das Benachteiligungsvérbot wegen einer Behinderung brauchbar ist. Genau betrachtet bestehen nämlich zwischen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG und dem neuen Satz 2 gewichtige Unterschiede hinsichtlich ihrer Struktur. Der wichtigste Unterschied zwischen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 GG folgt aus ihrer unterschiedlichen Verbotsrichtung. Während ersterer jegliche Bevorzugung sowie Benachteiligung wegen eines dort genannten Merkmals verbietet, bezieht sich Satz 2 lediglich auf ein Verbot der Benachteiligung. Im Rahmen der Rechtsetzungsgleichheit folgt aus der zweiseitigen Verbotsrichtung des Satz 1, dass der staatlichen Gewalt jegliche Unterscheidung zwischen Trägern verbotener Merkmale untersagt ist. Nach dem eindeutigen Wortlaut des Satz 2 sowie seinem Sinn und Zweck sollen aber Unterscheidungen zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen gerade nicht von dessen Rechtsatzwirkung erfasst werden, sofern sie sich lediglich als Bevorzugung behinderter Menschen darstellen. In diesem Sinne untersagt der besondere Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG der rechtsetzenden Gewalt eben nicht, auf Grundlage der Behinderung rechtlich zu differenzieren, so dass diesem Verfassungssatz bereits die Grundlage für das herkömmliche Anknüpfungskonzept, nämlich die Struktur eines strikten Unterscheidungsverbotes fehlt. Weitere Abweichungen zwischen beiden Gleichheitssätzen betreffen das in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG genannte Merkmal der Behinderung. Der Begriff der Behinderung umfasst im Unterschied zu den in Satz 1 genannten Begriffen zunächst kein Merkmal, das in irgendeiner Weise bei allen Menschen konkret verwirklicht ist, sondern bezeichnet an sich schon eine abgrenzbare Gruppe von Personen, die von den (Rechts-)Folgen einer Differenzierung nach dem Unterscheidungskriterium der Behinderung betroffen sein kann. Wegen der mit Satz 1 gleichlautenden Formulierung „seiner" Behinderung, müsste die Behinderung nach der Dogmatik eines Unterscheidungsverbotes aber ebenso wie dort als Kategorie und als „tertium comparationis" betrachtet werden, womit also die Unterscheidung zwischen konkreten Verwirklichungsformen einer Behinderung untersagt wäre. Damit wäre allerdings nur die Ungleichbehandlung von behinderten Menschen untereinander und eben nicht diejenige zwischen behinderten und nichtbehinderten Personen von 1*

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

der Rechtssatzwirkung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG erfasst, was dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift widerspricht. Zudem offenbaren sich die Probleme, die bereits nach dem herkömmlichen Anknüpfungsmodell im Hinblick auf die Feststellung einer unmittelbaren Anknüpfung an ein verbotenes Merkmal des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG bestehen, in Bezug auf das Merkmal der Behinderung in Satz 2 als geradezu unüberwindbar. Denn für das gruppenspezifische Merkmal der Behinderung ist die Feststellung einer unmittelbaren behindertenspezifischen Ungleichbehandlung nach der Dogmatik des ursprünglichen Anknüpfungsverbotes immer dann undurchführbar, sofern der Begriff der Behinderung nicht direkt im Tatbestand des Rechtsetzungsaktes genannt ist. Seine Ursache hat dies in dem offenen Verfassungsbegriff der Behinderung, der sich an einem dreigliedrigen Aufbau orientiert. Ein Abstellen auf einzelne Elemente des dreigliedrigen Behindertenbegriffs im Tatbestand einer Norm kann aber noch keine behindertenspezifische Ungleichbehandlung darstellen. Jedes Element des Begriffs kann nämlich für sich genommen auch einen Personenkreis kennzeichnen, der nicht unter den des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG fällt. Beispielsweise kennzeichnet ein isoliertes Abstellen auf einen regelwidrigen Gesundheitszustand im Tatbestand einer Norm auch den von der Verfassungsvorschrift nicht erfassten Personenkreis der Kranken. Ebenso spezifiziert eine Funktionsbeeinträchtigung den Kreis behinderter Menschen nur, wenn diese dauerhaft ist und nicht auf einen (alters-)typischen Gesundheitszustand zurückzuführen ist. Die Feststellung einer im Anwendungsbereich der Verfassungsnorm relevanten Ungleichbehandlung durch unmittelbare Anknüpfung an das Merkmal der Behinderung wäre also auf Fälle einer sog. offenen unmittelbaren bzw. direkten rechtlichen Differenzierung beschränkt. Sofern Rechtsetzungsakte diesen Anforderungen überhaupt entsprechen, werden dies in den allermeisten Fällen solche aus dem weiteren Bereich des Sozialrechtes sein. Normen aus diesem Bereich, die sich ausdrücklich auf den Begriff der Behinderung in ihrem Tatbestand beziehen, sind dabei entweder rein deklaratorischer Natur oder lediglich auf einen rechtlichen Vorteil für behinderte Personen gerichtet, was zu dem bereits angesprochenen Problem der Feststellung eines „objektiven" Nachteils führt 310 . Überträgt man also die herkömmliche Interpretation des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG als Anknüpfungsverbot im Sinne eines strikten Unterscheidungsverbotes auf den neuen Satz 2, wird sein Anwendungsbereich letztlich gegen Null gehen. Aufgrund der festgestellten strukturellen Unterschiede zwischen beiden Gleichheitssätzen lässt sich also bezweifeln, ob die Dogmatik eines Anknüpfungsverbotes im Sinne eines strikten Unterscheidungsverbotes für die Interpretation des Benachteiligungsverbotes wegen einer Behinderung ernsthaft in Betracht gezogen werden kann.

310 Siehe oben: Teil Β, II, 1.

C. Die subjektiv-rechtliche Dimension des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

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f) Fazit Spricht man heute im Zusammenhang mit den besonderen Gleichheitssätzen aus Art. 3 Abs. 3 GG von einem „Anknüpfungsverbot", muss man sich verdeutlichen, dass hinter diesem Begriff zwei unterschiedliche dogmatische Ansätze stehen. Dem herkömmlichen Ansatz liegt ein Verständnis zugrunde, nach dem Art. 3 Abs. 3 GG ausschließlich ein Verbot rechtlicher Differenzierungen enthält und insofern nur das Postulat rechtlicher Gleichheit zum Gegenstand hat. Ein erweiternder Ansatz, der sich besonders im Zusammenhang mit Problemen der Gleichberechtigung der Geschlechter entwickelt hat, sieht in dem besonderen Gleichheitssatz ebenso ein Verbot von mittelbar-faktischen Differenzierungen enthalten, versteht also den Gleichheitssatz gleichsam als Ausdruck faktischer Gleichheit. In Bezug auf das Verbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, wegen seiner Behinderung benachteiligt zu werden, muss allerdings festgestellt werden, dass sich der ursprüngliche Ansatz eines Anknüpfungsverbotes strukturell nicht auf diesen Verfassungssatz übertragen lässt. Hierfür mangelt es dem einseitigen Benachteiligungsverbot bereits an einer Wirkung als Unterscheidungsverbot. In Betracht kommt daher lediglich der Ansatz eines mittelbar-faktischen Differenzierungsverbotes, wonach die Verfassungsmäßigkeit der staatlichen Rechtsetzung anhand ihrer faktischen Wirkungen in der Lebenswirklichkeit zu beurteilen ist. Dabei kann man sich auf deutliche Parallelen zwischen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 und Satz 1 GG in Bezug auf das dort genannte Merkmal des Geschlechts stützen. Nicht nur in entstehungsgeschichtlicher Hinsicht besteht zwischen beiden Merkmalen eine enge Beziehung, sondern auch in Bezug auf den Sinn und Zweck dieser Merkmale als Gegenstand der Rechtsgleichheit. Beiden Gleichheitssätzen ist somit ein Schutzzweck dahingehend zu entnehmen, dass faktische Ungleichheiten, aufgrund derer die Träger dieser Merkmale in der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit schlechter gestellt sind, mit der staatlichen Rechtsetzung jedenfalls nicht vergrößert werden.

2. Das Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG als Verbot der Diskriminierung behinderter Menschen Überträgt man den dogmatischen Ansatz eines Verbotes mittelbar-faktischer Differenzierungen auf das Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, ist es ratsam, in diesem Zusammenhang nicht von einem „Anknüpfungsverbot" zu sprechen. Wie soeben dargestellt, entstammt dieser Terminus einem Konzept, das die Anwendung der besonderen Gleichheitssätze aus Art. 3 Abs. 3 GG auf rein rechtliche Differenzierungen beschränken will, letztlich aber nicht auf dessen Satz 2 passt. Um eben jene Irritationen und Unklarheiten zu vermeiden, die den Streit um die Anforderungen an die Verfassungsmäßigkeit der Rechtsetzung bei Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG prägen, soll nachfolgend von einem Diskriminierungsver-

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

bot die Rede sein. Auf die Struktur eines solchen Diskriminierungsverbotes aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG soll nun genauer eingegangen werden. a) Diskriminierung

und Differenzierung

Vorweg ist allerdings nochmals auf die Bedeutung des Begriffes der Diskriminierung im Zusammenhang mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG einzugehen, zumal auch dieser Terminus für das Verbot aus Satz 1 gebraucht wird 3 1 1 . Der Begriff der Diskriminierung wird im allgemeinen sowie rechtlichen Sprachgebrauch zunächst im Sinne einer Schlechterstellung und Herabsetzung verwendet 3 1 2 . Im Zusammenhang der besonderen Gleichheitssätze meint er die Schlechterstellung durch nachteilige staatliche Ungleichbehandlung. Nach der wohl herrschenden Meinung zu Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ist eine solche nachteilige Ungleichbehandlung bereits in jeder Unterscheidung zu sehen, also in jeder Differenzierung im Tatbestand eines Rechtsetzungsaktes. Genaugenommen folgt aber die ungleiche Behandlung immer erst aus den (Rechts-)Folgen einer Norm. Der Begriff der Diskriminierung stellt nun auf die Folgen eines Rechtsetzungsaktes ab. Dabei geht es also im Unterschied zur Differenzierung nicht um die reine Unterscheidung auf der Grundlage eines verbotenen Merkmals im Tatbestand einer Norm, sondern um die nachteilige Wirkung der Folgen dieser Unterscheidung. Mit anderen Worten ist eine Differenzierung der Diskriminierung gewissermaßen vorgelagert, muss letztere also stets auf eine Differenzierung zurückzuführen sein, stellt aber umgekehrt nicht jede Differenzierung eine Diskriminierung dar; denn erst aufgrund der Folgen einer Differenzierung kann beurteilt werden, ob eine Diskriminierung oder gar eine Privilegierung der Betroffenen vorliegt. Im Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG wirkt sich dieser feine Unterschied zwischen Differenzierung und Diskriminierung allerdings praktisch nicht aus 313 . Dort kann eine Diskriminierung nämlich immer schon dann angenommen werden, wenn die staatliche Rechtsetzung nach dem genannten Merkmal differenziert. Auf eine privilegierende oder diskriminierende Wirkung der Differenzierung kommt es dort nicht an, weil wechselseitig jede Privilegierung der einen Vergleichsgruppe zugleich als Diskriminierung der anderen zu betrachten ist. Zumal aber auch niemand ein Abwehrrecht gegen die eigene Privilegierung geltend machen wird, enthält Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG neben einem Differenzierungsverbot stets ein Diskriminierungsverbot 314. Im Unterschied zu Satz 2 behandelt der Staat 311 Vgl. Sachs, der in seiner Monographie „Grenzen des Diskriminierungsverbotes" (Lit.) die Begriffe Unterscheidung und Diskriminierung synonym verwendet. 312 Vgl. bereits: Creifelds, Rechtswörterbuch, S. 292; Duden, 22. Aufl., 2000, S. 296. 313

Rüfner, in: Bonner Kommentar, Art. 3, Rn. 553. * Rüfner (in: Bonner Kommentar, Art. 3, Rn. 552) behauptet weitergehend sogar, dass Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG gar kein Differenzierungsverbot, sondern ein Diskriminierungsverbot enthält. 3 4

C. Die subjektiv-rechtliche Dimension des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

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im Anwendungsbereich des Satzes 1 deshalb bereits ungleich, wenn er eine Unterscheidung aufgrund des genannten Merkmals trifft, also im Rahmen seiner Rechtsetzung anhand des verbotenen Merkmals differenziert. Es kommt also nicht auf die Wirkungen, sondern nur auf das tatsächliche Vorliegen einer Differenzierung an. Im Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG genügt die reine Differenzierung allerdings nicht, sofern von dieser keine nachteilige Wirkung für die Vergleichsgruppe behinderter Menschen ausgeht. Während also gerade die Differenzierung wegen eines verpönten Merkmals für Satz 1 das maßgebliche Kriterium für die Feststellung einer Ungleichbehandlung durch den Staat darstellt, ist es bei Satz 2 nur die Schlechterstellung durch eine nachteilig wirkende Differenzierung, also die eigentliche Diskriminierung wegen einer Behinderung. Eine Unterscheidung zwischen Differenzierung und Diskriminierung wird daher letztlich nur im Anwendungsbereich des neuen Benachteiligungsverbotes relevant.

b) Die Struktur des Diskriminierungsverbots aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG Aus dem eben aufgezeigten Unterschied zwischen Differenzierung und Diskriminierung folgt auch eine unterschiedliche Struktur des Diskriminierungsverbotes aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG.

(1) Die Ermittlung einer - benachteiligenden - Ungleichbehandlung durch Vergleich Während mit dem herkömmlichen Anknüpfungsverbot als striktes Differenzierungsverbot ein Verstoß gegen den besonderen Gleichheitssatz immer dann relativ einfach und formal festzustellen sein soll, wenn das jeweilige Merkmal kausal für eine rechtliche Unterscheidung wird, ist die Feststellung eines Verstoßes gegen ein Diskriminierungsverbot weitaus schwieriger 315. Bei einem Diskriminierungsverbot wie dem aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG geht es nämlich um die Bewertung der (Rechts-)Folgen einer staatlichen Handlung als Benachteiligung des von ihm geschützten Personenkreises. Im Anwendungsbereich besonderer Gleichheitssätze wird für diese Beurteilung stets auf das Mittel des Vergleichs zurückzugreifen sein. Im Unterschied zu Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, bei dem die Ermittlung des konkreten Vergleichspaares Probleme bereiten kann 316 , geht das Vergleichspaar behinderte 315 Es sei allerdings nochmals daraufhingewiesen, dass auch das Anknüpfungsmodell nur für die Fälle einer ausdrücklichen und offenen Differenzierung ein einfaches Lösungskonzept beinhaltet; siehe hierzu die Kritik an diesem Konzept, oben: I, 2, c). 316 Jedenfalls dann wenn es sich nicht um das in Art. 3 Abs. 2 GG genannte Vergleichspaar Männer und Frauen handelt, hierzu oben: I, 2, c).

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

und nichtbehinderte Menschen relativ eindeutig aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG im Wege der Auslegung hervor 317 . Zentralelement für das Diskriminierungsverbot aus dem besonderen Gleichheitssatz ist also ein Vergleich zwischen Menschen mit Behinderungen und Menschen ohne Behinderungen. Mit dem Erfordernis eines Vergleichs als Grundlage für jede Anwendung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG stellt sich die Frage nach den Maßstäben dieses Vergleichs. Nach dem Diskriminierungsverbot sind im Unterschied zum Differenzierungsverbot nicht nur alle rechtlichen, sondern auch alle faktischen Wirkungen der staatlichen Rechtsetzung für die Träger des Merkmals der Behinderung in den Vergleich mit einzubeziehen. In diesem Sinne hat auch das Bundesverfassungsgericht zutreffend festgestellt, dass hierfür zunächst von einem Lagevergleich zwischen der Lebenssituation behinderter und nichtbehinderter Personen auszugehen ist, also gerade nicht nur die rechtliche Situation zu beurteilen ist 3 1 8 . Die Verfassungsmäßigkeit des jeweiligen Rechtsetzungsaktes hängt dann davon ab, ob dieser Vergleich ergibt, dass die Lebenssituation behinderter Menschen im Vergleich zu nichtbehinderten Menschen durch diese Regelung verschlechtert wird.

(2) Die Prüfungskonzepte für einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot Auf Grundlage eines Vergleichs hat das Bundesverfassungsgericht zwei Konzepte zur Prüfung eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG entwickelt, die letztlich auf verschiedenen Ausgangspunkten für den Vergleich beruhen und grundsätzlich auch für die Prüfung des Diskriminierungsverbotes aus Satz 2 herangezogen werden können. Damit kann zunächst auch die Frage nach einer verbotenen staatlichen Diskriminierung im Sinne der früheren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Geschlechtergleichheit mit dem einstufigen Konzept auf Grundlage der Vergleichbarkeit beantwortet werden. Dieses Konzept geht für den Vergleich von der tatsächlichen Verschiedenheit aller Menschen aus und basiert auf dem Verbot der Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem. Eine Diskriminierung behinderter Personen durch die nachteiligen Folgen einer staatlichen Regelung oder Maßnahme ist danach zulässig, wenn die durch einen staatlichen Rechtsetzungsakt geregelten Lebenssachverhalte wegen tatsächlicher Unterschiede zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen unvergleichbar sind. Dann diskriminiert nämlich eine nach dem Merkmal der Behinderung (rechtlich oder faktisch) differenzierende Regelung die Betroffenen schon deshalb nicht, weil sie wesentlich Ungleiches in zulässiger Weise ungleich behandelt. Mit anderen Worten würde also eine für behinderte Menschen nachteilig wirkende Regelung nicht gegen das Diskriminie317 Siehe oben: Teil Β, II, 4. 318 BVerfGE 99, 341 [357].

C. Die subjektiv-rechtliche Dimension des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

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rungsverbot verstoßen, wenn sie lediglich den tatsächlichen Unterschieden zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen Rechnung trägt. Wann dies der Fall ist, wird sich allerdings nur anhand einer Abwägung aller widerstreitenden Interessen und Gründe der Regelung beurteilen lassen. Für die Prüfung von Gleichheitsverstoßen hat sich mittlerweile jedoch ein zweistufiges Regel-Ausnahme-Konzept in Rechtsprechung und Literatur weitgehend durchgesetzt, das auch im Rahmen dieser Untersuchung bevorzugt wird, obschon es sich stark am Schema für Eingriffe in Freiheitsgrundrechte orientiert. Dieses Konzept geht für den Vergleich von der Gleichheit aller Menschen aus und prüft die Verfassungsmäßigkeit einer Vorschrift anhand zulässiger Ausnahmen vom Postulat der Gleichheit. Ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG liegt damit nicht vor, wenn die nachteilige Abweichung von der Gleichheit gerechtfertigt werden kann. Gegenüber dem einstufigen Konzept der Vergleichbarkeit hat dieses Regel-Ausnahme-Modell den Vorteil, dass Anwendungsbereich und Grenzen des Benachteiligungsverbots nicht auf „Tatbestandsebene" des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG in einen umfassend wertenden Vergleich eingestellt werden müssen. Vielmehr lässt sich die Feststellung einer Ungleichbehandlung durch Vergleich der Folgen eines Rechtsetzungsaktes und die Beurteilung seiner verfassungsrechtlichen Zulässigkeit auf der Rechtfertigungsebene damit einfacher handhaben. Das Wertungselement des Vergleichs vollzieht sich dabei allerdings auf Rechtfertigungsebene der Prüfung. Damit ist auch die Frage der eigentlichen Benachteiligung ebenso auf dieser Ebene zu stellen, denn die Beurteilung der Folgen einer Norm setzt stets eine Abwägung voraus.

3. Die Wirkung des Diskriminierungsverbotes Bei dem Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG kann die Verfassungsmäßigkeit einer staatlichen Regelung oder Maßnahme damit wie bei Satz 1 in zwei Schritten geprüft werden. Es ist also zunächst eine im Anwendungsbereich des besonderen Gleichheitssatzes relevante Ungleichbehandlung festzustellen und dann nach deren verfassungsrechtlicher Zulässigkeit zu fragen.

a) Die verfassungsrechtlich

relevanten Ungleichbehandlungen

Die im Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbotes relevanten Ungleichbehandlungen durch den Staat können in den oben bereits angesprochenen Formen auftreten 319. Im Hinblick auf eventuell unterschiedliche Rechtfertigungsanforderungen ist bei der Prüfung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zwischen den jeweiligen 319 Hierzu oben: Teil Β, II, 5.

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

Formen zu unterscheiden. Die Frage nach der nachteiligen Wirkung der jeweiligen staatlichen Ungleichbehandlung für behinderte Menschen kann dabei zunächst offen bleiben und stellt sich erst im Zusammenhang mit der Rechtfertigung einer solchen Ungleichbehandlung. Eine unmittelbar-rechtliche Ungleichbehandlung liegt vor, wenn gewissermaßen im Tatbestand eines Rechtsetzungsaktes unmittelbar nach dem Kriterium der Behinderung differenziert wird und behinderte Menschen im Vergleich zu Nichtbehinderten durch dessen Rechtsfolgen ungleich behandelt werden. Die Annahme einer mittelbar-faktischen Ungleichbehandlung kommt hingegen in Betracht, wenn zwar das Merkmal der Behinderung selbst nicht ausdrücklich zum tatbestandlichen Differenzierungskriterium wird, behinderte Menschen im Vergleich zu Nichtbehinderten jedoch durch die rechtlichen oder faktischen Folgen des Rechtsetzungsaktes ungleich behandelt werden. Fraglich ist allerdings, ob die sog. strukturelle Benachteiligung behinderter Menschen eine verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung darstellen kann. Sofern diese auf die Folgen einer rechtsetzenden Handlung des Staates zurückzuführen ist, wäre durchaus eine Ungleichbehandlung anzunehmen. Da das staatliche Handeln dabei aber regelmäßig in Form des Unterlassens relevant wird, stellt sich für die sog. strukturelle Benachteiligung die Frage nach einer staatlichen Handlungspflicht zu deren Beseitigung. Eine solche könnte sich zwar im Rahmen der objektiv-rechtlichen Aufträge aus dem Sozialstaatsprinzip und seiner Konkretisierung durch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ergeben, was noch genauer zu untersuchen sein wird. Jedoch besteht diese Pflicht dann im Hinblick auf die gesamte Gruppe behinderter Menschen und ist daher bezogen auf den Einzelfall nicht konkret genug, um subjektive Rechte der einzelnen Betroffenen auszulösen. Im Rahmen der subjektiv-rechtlichen Dimension des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG wird diese Form der Ungleichbehandlung also nicht relevant.

b) Die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung im Rahmen des Diskriminierungsverbotes Die Zulässigkeit einer staatlichen Regelung oder Maßnahme hängt davon ab, ob durch die jeweilige staatliche Ungleichbehandlung die Lebenssituation behinderter Menschen im Vergleich zu Nichtbehinderten verschlechtert wird. Im Rahmen eines Diskriminierungsverbotes geht es dabei nicht um eine Differenzierung durch einen staatlichen Rechtsetzungsakt, sondern um die diskriminierende Wirkung dieser Differenzierung. Im Einzelfall wird sich die diskriminierende Wirkung einer staatlichen Ungleichbehandlung jedoch nur durch eine Gesamtwürdigung aller betroffenen Interessen sowie der Differenzierungsgründe und -zwecke beurteilen lassen. Dabei ist zunächst auf die mit der staatlichen Ungleichbehandlung verbundenen Nachteile

C. Die subjektiv-rechtliche Dimension des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

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für den Betroffenen abzustellen. Nachteile rechtlicher, tatsächlicher, emotionaler oder sonstiger Art sind zwar alle in die Beurteilung einzubeziehen. Die Art und besonders die Intensität des jeweiligen Nachteils spielt jedoch im Hinblick auf die jeweiligen Rechtfertigungsanforderungen eine Rolle. Je gewichtiger sich ein Nachteil für den Betroffen darstellt, ζ. B. bei einer Betroffenheit bedeutender rechtlich oder grundrechtlich geschützter Interessen des Einzelnen, desto höher sind auch die Anforderungen an die Gründe für eine staatliche Ungleichbehandlung. Auf Seiten der staatlichen Gewalt ist zunächst eine notwendige Verknüpfung zwischen Merkmal und Benachteiligung zu ermitteln. Im Unterschied zum reinen Differenzierungsverbot geht es im Rahmen des Diskriminierungsverbotes dabei nicht um reine Kausalität, sondern um die Frage, ob und inwieweit die genannten Nachteile auf die staatliche Rechtsetzung zurückzuführen und dem Staat zuzurechnen sind. Den strengsten Anforderungen unterliegt die Rechtfertigung einer unmittelbarrechtlichen Ungleichbehandlung durch den Staat. Dies gilt im Hinblick auf den Eintritt rechtlicher Nachteile für den Betroffenen, da die rechtlichen Folgen einer staatlichen Regelung oder Maßnahme stets dem Rechtsetzungsorgan ohne weiteres zurechenbar sind. Sofern sich eine staatliche Ungleichbehandlung für den Betroffenen rechtlich nachteilig auswirkt, kommt nach der Rechtsprechung zu Art. 3 Abs. 3 GG das Erfordernis eines zwingenden Grundes für die Zulässigkeit einer solchen Regelung oder Maßnahme in Betracht. In diesem Zusammenhang ließe sich dann von einem strikten Verbot der unmittelbar-rechtlichen Diskriminierung behinderter Menschen sprechen. Diese kategorische Verbotswirkung dürfte jedoch nicht den Hauptanwendungsfall des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG darstellen; es wurde bereits darauf hingewiesen, dass unmittelbar nach dem Merkmal der Behinderung differenzierende Regelungen in den allermeisten Fällen lediglich auf rechtliche Vorteile für behinderte Personen gerichtet sind 320 . Im Bereich der mittelbar-faktischen Ungleichbehandlung sind die Anforderungen an die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer staatlichen Regelung oder Maßnahme weniger streng, da faktische Differenzierungen oder der Eintritt faktischer Nachteile dem Staat nur in geringerem Maße zurechenbar sind als solche rechtlicher Art. Hierunter fallen zunächst die Fälle, bei denen durch eine unmittelbare Differenzierung nach dem Merkmal der Behinderung kein rechtliches, sondern ein tatsächliches, emotionales oder sonstiges Interesse des Einzelnen betroffen wird. Man könnte in diesem Zusammenhang auch von einem Verbot unmittelbar-faktischer Diskriminierungen sprechen. Umgekehrt sind diesem Bereich auch die Fälle zuzurechnen, bei denen nicht unmittelbar nach dem Merkmal der Behinderung im Tatbestand einer Norm differenziert wird, die rechtlichen Nachteile jedoch ganz überwiegend behinderte Personen betreffen. Und schließlich sind auch die Fälle mit einzubeziehen, bei denen durch eine mittelbar differenzierende Regelung zwar keine rechtlichen, jedoch sonstige Nachteile für behinderte Personen

320 Hierzu bereits oben unter 1, e).

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4. Kap.: Gehalt und Bedeutung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG

eintreten. Es geht also um ein Verbot mittelbar-rechtlicher scher Diskriminierungen.

sowie mittelbar-fakti-

Ob eine Regelung oder Maßnahme einer dieser drei Verbotswirkungen des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG unterfällt, hängt davon ab, ob diese ausreichend gerechtfertigt werden kann. Die Anforderungen, die an die Rechtfertigung einer solchen Regelung zu stellen sind, werden wiederum im Einzelfall nach der Art und Intensität des jeweiligen Nachteils sowie der Verantwortlichkeit des Staates für den Eintritt dieser Nachteile zu beurteilen sein. So wurde das Erfordernis eines zwingenden Grundes vom Bundesverfassungsgericht im Fall zur Testierfreiheit in Betracht gezogen, wobei es um die Wirkung eines mittelbar-rechtlichen Diskriminierungsverbotes ging. Dort betraf der Ausschluss von der zivilrechtlichen Testiermöglichkeit nämlich nicht ausschließlich, sondern überwiegend behinderte Personen, lag also eine mittelbare Differenzierung nach dem Kriterium der Behinderung vor. Die eingetretenen Nachteile für diese Menschen sind rein rechtlicher Art, da letztlich trotz der faktischen Möglichkeit dieser Personen zur Abgabe einer Willenserklärung die rechtliche Gestaltungsmöglichkeit zur Erstellung eines Testaments aufgrund der strengen zivilrechtlichen Formvorschriften nicht eröffnet war. Vor dem Hintergrund der grundrechtlich geschützten Verfügungsmöglichkeit über das Eigentum im Wege gewillkürter Erbeinsetzung (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG) ist dieser rechtliche Nachteil für den Betroffenen von sehr hoher Intensität. Zwar nicht vom Erfordernis eines zwingenden Grundes, jedoch gleichwohl von strengen Zulässigkeitsanforderungen ging das Verfassungsgericht im Fall zum Schulrecht aus, wobei es um das Verbot einer unmittelbar-faktischen Diskriminierung ging. Da es sich dort nämlich um eine Überweisung an eine Förderschule für körperbehinderte Schüler handelte, wurde zwar unmittelbar nach dem Kriterium der Behinderung differenziert. Wegen der rechtlichen Gleichstellung beider Schulformen traten auf Seiten der Betroffenen jedoch keine rechtlichen, sondern faktische Nachteile ein. Der Eintritt dieser faktischen Nachteile ist dem Staat im Schulrecht in hohem Maße zurechenbar, trägt der Schulgesetzgeber doch eine besondere Verantwortung für eine sachgerechte Beschulung nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, die durch die zumindest faktische Monopolstellung der öffentlichen Schulen besonders betont wird 3 2 1 . In Verbindung mit dem Gebot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nicht nur zur rechtlichen, sondern auch faktischen Gleichbehandlung behinderter Menschen nimmt das Verfassungsgericht im Schulrecht sogar eine Pflicht des Staates an faktische Ungleichheiten, die einer integrativen Beschulung entgegenstehen, mit kompensatorischen Maßnahmen zu begegnen322. Eine Ungleichbehandlung, die den tatsächlichen Unterschieden zwischen behinderten und nichtbehinderten Personen Rechnung tragen soll, ist damit verfassungsrechtlich unzulässig, wenn der Staat eine Verpflichtung hat, diese tatsächlichen Unter321 BVerfGE 96, S. 288 [304]. 322 BVerfGE 96, S. 288 [303].

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schiede zu kompensieren, um damit die Gleichbehandlung zu ermöglichen. Damit ist eine staatliche Ungleichbehandlung jedenfalls nicht durch solche Differenzierungsgründe zu rechtfertigen, die auf Umständen beruhen, deren Auswirkungen im Verantwortungsbereich des Staates liegen und durch staatliche Handlung beseitigt werden können.

c) Schlussfolgerung Die Gründe, aus denen eine staatliche Ungleichbehandlung gerechtfertigt werden kann, lassen sich nicht einheitlich und abstrakt festlegen, sondern ergeben sich im Einzelfall aus der Art und Intensität der eingetretenen Nachteile für den Betroffenen sowie der Verantwortung des Staates für die rechtliche und faktische Gleichbehandlung behinderter und nichtbehinderter Menschen. Wie für den allgemeinen Gleichheitssatz mittlerweile weitgehend anerkannt ist und sich auch für den besonderen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG abzeichnet, ist auch dem Verbot, wegen seiner Behinderung benachteiligt zu werden, ein dynamisches Prüfungskonzept zugrunde zu legen. Die Anforderungen an die verfassungsrechtliche Zulässigkeit sind im Hinblick auf die Bedeutung eines besonderen Gleichheitssatzes sicherlich höher anzusetzen, als dies beim allgemeinen Gleichheitssatz der Fall ist. Sie reichen im Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbotes aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG vom Erfordernis eines gewichtigen bis hin zu dem eines zwingenden Differenzierungsgrundes. Dabei kann auch im Bereich der mittelbar-faktischen Ungleichbehandlung durchaus das Erfordernis eines zwingenden Differenzierungsgrundes bestehen, sofern die eingetretenen Nachteile rechtlicher Art sind und die Differenzierung im Verantwortlichkeitsbereich des Staates liegt. Versucht man die dynamischen Rechtfertigungsanforderungen des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG in ein dogmatisches Lösungsschema einzustellen, bietet sich der Rückgriff auf einen Ansatz an, der im Bereich der Geschlechterdiskriminierung bereits Ende der 1980er Jahre von Peter Hanau und Ulrich Preis vorgeschlagen wurde 323 . Dieses Konzept einer „schiefen Ebene " scheint dem einseitigen Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG am besten zu entsprechen, da nach ihm abgestufte Anforderungen an die Gründe einer staatlichen Ungleichbehandlung gestellt werden. Damit ließe sich für das Diskriminierungsverbot formulieren: Je mehr die rechtlichen und tatsächlichen Folgen einer staatlichen Regelung oder Maßnahme dem staatlichen Verantwortungsbereich zugerechnet werden können und je gewichtiger diese Folgen im Hinblick auf Art und Intensität der eintretenden Nachteile für den Betroffenen sind, umso gewichtiger müssen die Gründe sein, die diese Regelung rechtfertigen.

323 Hanau/Preis,

ZÌA 1988, S. 192 f.

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IV. Ergebnis In Bezug auf staatliche Regelungen und Maßnahmen, die mit Blick auf das Diskriminierungsverbot verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen sind, lassen sich innerhalb der subjektiv-rechtlichen Dimension des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG individuell einklagbare Rechte herleiten, die zwei unterschiedlichen Status des Einzelnen entstammen. Zunächst kann ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG ein individuelles Recht des Betroffenen auf Abwehr der staatlichen Ungleichbehandlung begründen. Dieses Abwehrrecht des negativen Status ist unmittelbar auf ein Unterlassen der jeweiligen Ungleichbehandlung durch den staatlichen Akt der Rechtsetzung gerichtet. Gewissermaßen als ein „Hilfsrecht" zum Abwehrrecht kann auch ein Leistungsrecht des positiven Status entstehen. Das Entstehen eines Abwehrrechts gegen einen Akt staatlicher Rechtsetzung hängt nämlich davon ab, ob dieser durch hinreichend gewichtige Gründe gerechtfertigt ist. Dies ist jedoch immer dann nicht der Fall, wenn die Gründe für eine Ungleichbehandlung auf solche tatsächliche Unterschiede zwischen den Vergleichsgruppen zurückgeführt werden, deren Beseitigung im Verantwortungsbereich des Staates liegt. Trifft den Staat mit anderen Worten eine Verantwortung, faktische Ungleichheiten zwischen den Vergleichsgruppen, die an sich eine Ungleichbehandlung erfordern, durch Leistung auszugleichen, entsteht bei einem Unterlassen dieses Ausgleichs ein Recht auf Abwehr der (vermeintlich erforderlichen) Ungleichbehandlung. Dieses Leistungsrecht ist jedoch niemals originärer Natur, sondern aufgrund des akzessorischen Charakters des Gleichheitssatzes stets ein derivatives, weil von vorausgehendem staatlichen Handeln abhängiges Leistungsrecht. Eröffnet der Staat, insbesondere in grundrechtlich geschützten Bereichen, eine Handlungs- oder Gestaltungsmöglichkeit für den Bürger, so fordert das Leistungsrecht aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, dass diese Möglichkeit nicht nur in rechtlicher, sondern auch in tatsächlicher Hinsicht behinderten Menschen in gleicher Weise offen steht.

D. Die objektiv-rechtliche Dimension des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG I. Die Bedeutung des besonderen Gleichheitssatzes im Wertesystem der Grundrechte - Aspekte aus Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie Eine schwierige Problematik tut sich auf, wenn es darum geht, dem Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG eine Wertentscheidung im Sinne eines objektiv-rechtli-

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chen Verfassungsprinzips zu entnehmen. Ausgangspunkt muss die typische Akzessorietät des Gleichheitssatzes sowie in diesem Zusammenhang insbesondere dessen Nähe zur Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG sein, die im Nachfolgenden einer Untersuchung unter rechtsphilosophischen und -soziologischen Gesichtspunkten unterzogen werden soll.

1. Die Grundlagen einer Werteordnung im Grundgesetz a) Menschenwürde und Recht auf Leben Auf den engen Zusammenhang zwischen der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG und dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG wurde an anderer Stelle bereits eingegangen 324 . Es sei nochmals an die inhaltlichen Kernaussagen erinnert: Der Garantie der Menschenwürde liegen zwei zentrale Aspekte zugrunde. Zunächst spiegelt sich in Art. 1 Abs. 1 GG die Überzeugung vom Eigenwert menschlichen Lebens wider, der als soziologisches Tabu und überpositiver Rechtswert jeglicher Disposition durch den Menschen entzogen ist. Sein originärer unbedingter Eigenwert macht den Menschen zum Rechtssubjekt und verbietet strikt jedes Urteil über „Wert" oder „Unwert" seines Lebens. Das Grundrecht auf Leben unterstreicht diesen Eigenwert menschlichen Lebens und stellt den Menschen bereits vor seiner Geburt unter den besonderen Schutz des Staates. Daneben trägt die Menschenwürde einen starken Bezug zur Persönlichkeit des Menschen in sich, der von der sog. Leistungstheorie aufgegriffen wird. Dem entspricht im Grundgesetz ein Bild vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen 325 . Sein Leistungsvermögen zur Identitätsbildung sowie seine Fähigkeit, das Leben kraft Vernunftbegabung und eigener Einsicht selbstgestaltend zu verwirklichen, stellt somit als weiteres zentrales Element der Menschenwürde klar, dass letztlich immer das einzelne menschliche Individuum selbst bestimmt, was seine Würde ausmacht.

b) Freiheit und Gleichheit Betrachtet man vor dem Hintergrund dieser beiden Zentralelemente der Menschenwürdegarantie den nachfolgenden Grundrechtskatalog als weitere Konkretisierung des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG, finden sich beide Aspekte im Grundgesetz in der Unterscheidung zwischen Freiheitsrechten und Gleichheitssätzen wieder.

324 Hierzu im 3. Kap., Teil Β, I. 325 Katz, Staatsrecht, Rn. 699.

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Die Freiräume, die für das menschliche Wesen zur Leistung seiner Identitätsbildung unabdingbar sind, werden in umfassender Hinsicht durch die Gewährleistung der allgemeinen Handlungsfreiheit verfassungsrechtlich abgesichert. Die Schutzbereiche weiterer konkreter Freiheitsrechte widmen sich bedeutsamen, aus der historischen Erfahrung heraus besonders gefährdeten Verhaltensweisen des Menschen. Demgegenüber wird der Eigenwert menschlichen Lebens zum obersten Bezugspunkt des allgemeinen Gleichheitssatzes. Da unbezweifelbar die „gleiche" Würde das tertium comparationis für den Gleichheitssatz abgibt, müssen nämlich alle Menschen unter diesem Merkmal vergleichbar sein 326 . Die Identität und Persönlichkeit ist aber bei jedem menschlichen Individuum verschieden; „gleich" ist nur der abstrakte Wert des Menschen. Es ist also dieser Wert menschlichen Lebens, der letztlich die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz begründet und jedem Einzelnen einen Geltungsanspruch verleiht, der unabhängig von jeder individuellen Leistung besteht und in der Verfassung als unantastbar vorausgesetzt wird. Diesem Geltungsanspruch als Grundthema der rechtlichen Gleichheit widmen sich auch die speziellen Gleichheitssätze im Grundgesetz. Die historische Erfahrung hat gezeigt, dass bestimmte tatsächliche Verschiedenheiten zwischen den Menschen zur Begründung unterschiedlicher Geltungs- und Wertansprüche aufgegriffen wurden. Insofern stellen besonders die in Art. 3 Abs. 3 GG aufgeführten Merkmale verfassungsrechtlich klar, dass die dort genannten Verschiedenheiten keinen Anlass für (rechtliche) Differenzierungen bieten können, mithin die Gleichheit der Menschen durch diese Verschiedenheiten nicht beeinflusst werden darf.

c) Fazit Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland setzt Eigenwert und Personalität des Menschen als die beiden zentralen Komponenten der Menschenwürde notwendig voraus und macht sie zum Grundthema einer anthropozentrischen Verfassungsordnung. Der Eigenwert menschlichen Lebens kommt besonders in dem Schutz- und Achtungsanspruch nach Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG zum Ausdruck und setzt sich in einem gleichen Wert- und Geltungsanspruch jedes Menschen fort, der von den Gleichheitssätzen aufgegriffen und weiter konkretisiert wird. Die Gleichheitssätze gehen dabei jedoch von einem Gleichheitsverständnis aus, das die Verschiedenheit der Menschen impliziert. Diese wird zum Thema der Freiheitsrechte, die jedem Einzelnen ausreichend Freiraum zur selbstbestimmten Entfaltung seiner eigenen Persönlichkeit gewährleisten sollen. Letztlich lässt sich daher in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes auf keine der beiden Basiswerte verzichten, die der Menschenwürdegarantie zugrunde liegen.

326 Zur Menschenwürde als tertium comparationis des Gleichheitssatzes vgl.: Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 3 I, Rn. 3.

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2. Die Verfassungswirklichkeit a) Die Diskrepanz zwischen Seins- und Sollensordnung Während das Grundgesetz von einem gleichen Wert- und Geltungsanspruch aller Menschen ausgeht, zeichnet die Realität ein anderes Bild. Im Hinblick auf den Wert behinderten Lebens sei in diesem Zusammenhang wiederum auf das oben bereits Gesagte hingewiesen327: Im gesellschaftlichen Leben wird Menschen mit Behinderungen keineswegs der gleiche Wert- und Achtungsanspruch wie nichtbehinderten Menschen zuerkannt. Dies kommt nicht nur im öffentlichen Sprachgebrauch und Umgang mit behinderten Personen zum Ausdruck, sondern wird auch durch die verschiedensten Formen von Gewalt gegen behinderte Menschen deutlich. Die Anwesenheit behinderter Menschen in der Nachbarschaft 328 oder am Urlaubsort wird vielfach als Störung empfunden; bedenkenlos wird das Recht auf eine „behindertenfreie" Umgebung unter Berufung auf negatorische Ansprüche oder Gewährleistungsrechte auf dem Zivilrechtsweg eingeklagt. Eine ablehnende Grundhaltung gegenüber Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft wirkt wiederum auf die Rechtsordnung zurück, wenn besagte Kläger vor den Zivilgerichten „Recht" bekommen. Beispiele aus der Rechtsprechung belegen, dass sich eine Minderbewertung behinderten Lebens allzu oft in der Auslegung des einfachen Rechts manifestiert. In diesem Zusammenhang wurde die umstrittene Rechtsprechung zum Reisevertragsrecht bereits angesprochen, nach der alleine der bloße Anblick behinderter Menschen am Urlaubsort einen Schadensersatzanspruch des Reisenden gegen den Reiseveranstalter auslösen kann 329 . Zu denken ist aber auch an die extrem problematische und bis hin zum Bundesverfassungsgericht äußerst umstrittene „Kind-als-Schaden"-Rechtsprechung, auf die hier nur hingewiesen werden kann 330 . Es geht dabei um die von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes festgestellte zivilrechtliche Einstandspflicht von Ärzten für den Unterhalt eines Kindes, das nach fehlgeschlagener Sterilisation oder Abtreibung geboren wird 3 3 1 . Die Zivilgerichte nehmen allerdings unter Bezugnahme 327

Zum Nachfolgenden vgl. oben im 3. Kap., Teil B, 2. In diesem Zusammenhang ist auf eine Entscheidung des OLG Köln vom 8. 1. 1998 zum Nachbarrecht hinzuweisen. Danach hat ein Grundstückseigentümer einen zivilrechtlichen Abwehranspruch gem. §§ 906, 1004 BGB gegen behindertentypische „Lärmbelästigungen", die durch Schreien, Stöhnen, Kreischen und sonstige Laute von geistig behinderten Menschen auf dem Nachbargrundstück ausgehen (abgedruckt in: NJW 1998, S. 763 = Jus 1998, S. 106 mit Anm. Sachs = ArbuR 1998, S. 289 mit Anm. Dietrich). 329 Hierzu oben: 3. Kap., Teil B, III, 1. 328

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Eine ausführliche Darstellung der zivilrechtlichen Problemlage sowie der unterschiedlichen Auffassungen des BVerfG findet sich bei: Losch /Radau, Die „Kind als Schaden" Diskussion, in: NJW 1999, S. 821 ff. 33 1 St. Rspr. seit Β GHZ 76, 249 = NJW 1980, S. 1450. 16 Straßmair

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auf schadensrechtliche Kausalitätserwägungen auch eine Einstandpflicht des Arztes an, der eine genetische Untersuchung des Fötus im Hinblick auf eine mögliche Behinderung unterlässt 332. Dabei wird letztlich davon ausgegangen, dass bereits eine mögliche Behinderung des Fötus logisch zwingend einen Schwangerschaftsabbruch nach sich zieht, denn Eltern wollen (selbstverständlich) ein „solches geschädigtes Kind überhaupt nicht zur Welt bringen" 333 . Im Zusammenhang mit dieser Rechtsprechung steht auch eine Unterscheidung zwischen behindertem und nichtbehindertem Leben, die der Gesetzgeber hinsichtlich der Schutzgewährleistung in den §§ 218 ff. StGB getroffen hat. Wenn eine zu erwartende Behinderung des Kindes in der Fallkonstellation der sog. embryopathischen Indikation einen strafrechtlichen Rechtfertigungsgrund für dessen Tötung darstellt, wird nur allzu deutlich, dass behindertem Leben im einfachen Recht tatsächlich nicht der „gleiche" Schutz aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zukommt wie nichtbehindertem Leben 334 . Der Kreis schließt sich, wenn man die rechtspolitischen Diskussionen im Vorfeld von Gesetzesinitiativen betrachtet. Der öffentliche Diskurs um den sog. Sozialabbau in Zeiten knapper öffentlicher Kassen und hoher Arbeitslosigkeit wirkt auf die Grundhaltung in der Gesellschaft zurück. Ein rauer werdender Verdrängungswettbewerb gegen sozial schwache Gruppen sowie die Ausgrenzung sog. „Sozialschmarotzer" sind die Folge. Schließlich bringt der Fortschritt in Naturwissenschaft und Technik dringend regelungsbedürftige, aber auch ethisch hoch brisante Sachverhalte hervor, die in einem zusammenwachsenden Europa kaum mehr von einem Staat alleine rechtlich zu regeln sind. Ethisch-moralischen Bedenken, die den extensiven „Gebrauch" menschlichen Lebens in der Wissenschaft untersagen, steht die Befürchtung von massiven Wettbewerbsnachteilen des „Standortes Deutschland" gegenüber. Der hohe Wertstandard des Grundgesetzes, die soziologische Tabugrenze aus der Menschenwürdegarantie und der umfassende Schutz menschlichen Lebens droht zu verfallen; er verliert sich allmählich gerade auch im Bereich der Europäischen Gemeinschaft im Minimalkonsens mit Staaten, die aufgrund einer utilitaristisch geprägten Staatsphilosophie, banal gesprochen, „die Sache mit den ethisch-moralischen Standards und dem Lebensschutz nicht so genau nehmen".

332 BGH, NJW 1984, S. 658; kritisch hierzu: Köhler, SdL 1996, S. 406 ff. 333 BGH, NJW 1984, S. 660. 334 Zwar wurde die embryopathische Indikation aus „ethischen Gründen" durch die letzte Neuregelung der Abtreibungsgesetzgebung im Jahre 1995 (Gesetz vom 21. 08. 1995, BGBl. I, S. 1050) „formal" gestrichen, de facto gibt es sie innerhalb der sog. medizinischen Indikation jedoch nach wie vor; vgl. Tröndle /Fischer, StGB, § 218a, Rn. 21.

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b) Der Wert- und Geltungsanspruch menschlichen Lebens im rechtsphilosophischen Konflikt Die Uberzeugung vom Eigenwert des Menschen, der als Grundbedingung der Menschenwürde als unabhängig, unbedingt und unabdingbar vorausgesetzt werden muss, lässt sich in einer säkularisierten und zunehmend agnostizistischen Gesellschafts- und Rechtsordnung nur schwer begründen. Kann man diesen Wert nämlich nicht als definitives Gebot außerhalb der weltlichen Ordnung verankern, ist seine Existenzberechtigung ethisch-philosophischen Zweifeln und Angriffen ausgesetzt. So wird der menschliche Eigenwert insbesondere von (sozial-)utilitaristischen Geisteshaltungen in der Rechts- und Staatsphilosophie in Abhängigkeit zur menschlichen Identitätsbildung gesetzt 335 . Er wird von diesen nicht als unabhängig und unabdingbar vorausgesetzt, sondern begründet sich aus den Anlagen und Fähigkeiten des menschlichen Individuums zur Entfaltung seiner Individualität. Sofern und solange diese „Leistungsfähigkeit" nicht besteht - also insbesondere im embryonalen Entwicklungsstadium, aber auch bei (schwerst-)behindertem Leben, soll danach das menschliche Leben kein plausibler Wertträger sein. Diese Abhängigkeit des Wertes menschlichen Lebens von der Fähigkeit zur Persönlichkeitsbildung führt damit zur Ungleichwertigkeit und Ungleichheit der Menschen. Die Eigenschaften und Fähigkeiten des konkreten Individuums begründen und beeinflussen auf diese Weise seinen Wert- und Geltungsanspruch. Die Konsequenz einer Verrechtlichung dieser Geisteshaltung ist die rechtliche Klassifizierung der Menschen nach einem konkreten Wert und Nutzen für die Gesellschaft bis hin zur Etablierung selektiver Kategorien nach dem „Wert" oder „Unwert" menschlichen Lebens. In Deutschland sind die möglichen Folgen dieser Geisteshaltung nach der Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus Geschichte. Die Überwindung utilitaristischer Einflüsse in der deutschen Rechtsordnung führte jedoch nicht zur Aufgabe dieser Geisteshaltung an sich. Besonders in der angelsächsischen Rechtstheorie nimmt ein utilitaristisch geprägter Rechtspositivismus seit dem 19. Jahrhundert einen festen Platz ein 3 3 6 . In der modernen Philosophie des 20. Jahrhunderts befindet sich jedoch eine konträre Position zum Utilitarismus im Vordringen, deren Einfluss auf die Rechts- und Staatsphilosophie von Alexy mit dem Begriff des „Epochenwechsels" in Verbindung gebracht wird 3 3 7 . Mit dieser ethisch-philosophischen Position ist der Name 335 Namentlich von Peter Singer (ders., Praktische Ethik, 2. Aufl., 1994); hierzu oben: 3. Kap., Teil B, 3. 33 6 Der Einfluss des Utilitarismus im angelsächsischen Rechtssystem geht maßgeblich auf Jeremy Bentham (1748-1832) zurück, dessen Hauptwerk „Introduction to the Principles of Morals and Legislation" zunächst die Verwaltungsreform in England im 19. Jahrhundert prägte, später auch die Entwicklung des englischen Straf- und Zivilrechtes mitbestimmte; hierzu: Höffe, Einführung in die utilitaristische Ethik, S. 55 ff. 337 Alexy, in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, S. 177; Alexy bezieht sich auf den Zusammenhang zwischen der kontra-utilitaristischen Philosophie Rawls' und der gegen den Rechts-

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des Amerikaners John Rawls untrennbar verbunden, an dessen Theorie der Gerechtigkeit 338 sich auch zahlreiche rechtsphilosophische Debatten entzündeten339. Ausgangspunkt für Rawls' Philosophie ist ein hypothetisch zwischen freien und gleichen Individuen geschlossener Vertrag, der als rationale Grundlage der institutionellen gesellschaftlichen Ordnung fundamentale normative Gültigkeit beansprucht 340 . Dabei werden nach dem sog. Fairnessprinzip die Grundsätze der Gerechtigkeit hinter einem Schleier des Nichtwissens („veil of ignorance") festgelegt, was gewährleisten soll, dass dabei niemand durch die Zufälligkeiten der Natur oder der gesellschaftlichen Umstände bevorzugt oder benachteiligt wird. Da sich alle in der gleichen Lage befinden, kann sich also niemand Grundsätze ausdenken, die ihn aufgrund seiner besonderen Verhältnisse bevorzugen 341. Im Unterschied zum Utilitarismus ist es nach dem Fairnessprinzip nicht möglich, selektive Kategorien über Wert oder Unweit menschlichen Lebens als Gegenstand einer gemeinschaftlichen Übereinkunft aufzustellen. Das utilitaristische Argument des größtmöglichen Glücks der größtmöglichen Zahl, das letztlich die starken Mitglieder einer Gemeinschaft zu Lasten der schwachen bevorzugt 342 , kann nämlich nur denjenigen überzeugen, der sich selbst seiner Stellung auf Seiten der Starken gewiss ist. Eine gerechte und faire Gemeinschaftsverfassung muss also jedem einzelnen Menschen als festem Teil der Gesamtheit unabhängig von seinen persönlichen Eigenschaften und seinem konkreten Nutzen für die Gemeinschaft einen abstrakten Wert als gegeben zuerkennen.

positivismus gerichteten Theorie von Ronald Dworkin (vgl. ders., Bürgerrechte ernstgenommen [Lit.]). Hieraus leitet sich auch das oben bereits dargestellte Prinzipienmodell ab, das in der deutschen Grundrechtsdogmatik außerordentliche Beachtung gefunden hat; vgl.: Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 77 (Fn. 27); ders., Recht, Vernunft, Diskurs, S. 177; Bleckmann, Die Struktur, S. V. 338 Rawls (geb. 1921), von 1962 bis 1991 o. Professor für Philosophie an der Harvard University, schrieb sein Hauptwerk „A Theory of Justice" im Jahre 1971; vgl. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1975; hierzu: Kersting, John Rawls zur Einführung, Hamburg 1993. 339 Mit Bezug auf Rawls vertritt auch der renommierte Radbruch-Schüler Arthur Kaufmann eine Gegenposition zum herkömmlichen (positiven) Utilitarismus, nämlich den sog. negativen Utilitarismus (Kaufmann, Negativer Utilitarismus, München 1993; ders., Rechtsphilosophie, S. 176). Hierauf basiert auch der von Kaufmann formulierte sog. kategorische Imperativ der Toleranz: „Handle so, dass die Folgen deiner Handlung verträglich sind mit der größtmöglichen Vermeidung oder Verminderung menschlichen Elends". 3 40 Kersting, S. 25. 341 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 28 ff. 342

Kaufmann (ders., Negativer Utilitarismus, S. 19) weist zutreffend darauf hin, dass es letztlich nicht auf die zahlenmäßige Mehrheit der betreffenden Gruppe ankommt, sondern darauf, dass diese in ihrem Einfluss dominierend ist.

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c) Schlussfolgerung Das Vordringen des Rawlsschen Fairnessprinzips in der Rechts- und Staatsphilosophie am Ende des 20. Jahrhunderts gegenüber einer (sozial-)utilitaristischen Geisteshaltung im 19. Jahrhundert erscheint angesichts des eben grob skizzierten Bildes der Verfassungswirklichkeit nur allzu theoretisch. Während das Grundgesetz mit der Anerkennung des menschlichen Eigenwertes durchaus auf der gerechten Gemeinschaftsverfassung im Sinne von Rawls basiert, zeigt sich in der Verfassungswirklichkeit offenbar eine Dominanz utilitaristisch geprägter Verhaltensweisen und Handlungsmaximen innerhalb der Gesellschafts- und Rechtsordnung. Fragt man vom Standpunkt der Rechtsphilosophie nach der Ursache zunehmend utilitaristischer Tendenzen in der Verfassungswirklichkeit, liegt die Schlussfolgerung nahe, dass der Utilitarismus eine gegenüber dem Fairnessprinzip dominierende Entität darstellt, wobei ein Vergleich mit sog. Memen nahe liegt 3 4 3 . Das in der Rechtsphilosophie noch junge Forschungsgebiet der Memetik steht in engem Zusammenhang mit der naturwissenschaftlichen Genetik und untersucht bestimmte Formen menschlichen Verhaltens, die ähnlich wie bestimmte Gene ganz besonders durchsetzungsfähig sind 344 . In diesem Sinne lässt sich vielleicht auch die Dominanz (sozial-)utilitaristischer Handlungsmaximen auf der Grundlage des bekannten Gefangenendilemmas aus der Spieltheorie erklären, für das sich in der heutigen globalisierten Zivilisation beliebige Beispiele wie das nachfolgende finden lassen 345 : Im Kaspischen Meer drohen die Störe auszusterben, da sie wegen ihres hochgeschätzten Rogens, dem wertvollen Kaviar, jahrzehntelang „überfischt" wurden. Nun könnten die Fischer Fangquoten vereinbaren, damit sich der Bestand wieder erholen kann. Davon könnten alle profitieren, wenn auch nicht so viel wie derjenige, dem es gelänge, den noch vorhandenen Fischbestand alleine zu fangen. Für die Gesamtheit wäre dies auf lange Sicht die beste Strategie, allerdings mit dem für

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Der Begriff geht zurück auf den britischen Genetiker Richard Dawkins, der in seinem Buch (