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German Pages 332 Year 1993
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 643
Verfassungsrechtliche Schutzgebote zum Wohl des Kindes und staatliche Interventionspflichten aus der Garantienorm des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG Von
Bernd Jeand‘Heur
Duncker & Humblot · Berlin
BERND JEAND'HEUR
Verfassungsrechtliche Schutzgebote zum Wohl des Kindes und staatliche Interventionspflichten aus der Garantienorm des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 643
Verfassungsrechtliche Schutzgebote zum Wohl des Kindes und staatliche Interventionspflichten aus der Garantienorm des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG
Von Bernd Jeand'Heur
Duncker & Humblot * Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Jean d ' H e u r , Bernd:
Verfassungsrechtliche Schutzgebote zum Wohl des Kindes und staatliche Interventionspflichten aus der Garantienorm des Art. 6. Abs. 2 Satz 2 GG / von Bernd Jeand'Heur. - Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 643) Zugl.: Hamburg, Univ., Habil.-Schr., 1993 ISBN 3-428-07857-8 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-07857-8
Vorwort Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine verfassungsdogmatische Analyse von Art. 6 Abs. 2 GG. Sie konfrontiert die Aussagen des Grundgesetzes zum elterlichen Erziehungsrecht und zur Pflicht der staatlichen Gemeinschaft, über dessen Ausübung zu wachen, mit den in der modernen Industriegesellschaft auftretenden Veränderungen des traditionellen Wirklichkeitsbildes der Familie, der familialen Strukturen und des gesamtgesellschaftlichen Umfelds, das das Aufwachsen von Minderjährigen prägt. Angesichts des gegenwärtigen Wandels der Sozialisationsverhältnisse von Kindern und Jugendlichen, der nicht ohne Einfluß auf die Auslegung des Verfassungstextes bleiben kann, besteht das Ziel der Abhandlung darin, eine über das bislang vorherrschende restriktive Verständnis des staatlichen Wächteramtes hinausweisende garantienormrechtliche Neuinterpretation von Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG zu entwickeln, die zu einer leistungs- bzw. schutzpflichtrechtlichen Dimensionserweiterung des im Normprogramm enthaltenen Verfassungsauftrags fuhrt. Die Arbeit wurde im Sommersemester 1993 vom Fachbereich Rechtswissenschaft Π der Universität Hamburg als Habilitationsschrift angenommen. Mein Dank gilt den Mitgliedern des Fachbereichs fur die freundliche Aufnahme, welche mir und meinem Projekt dort zuteil wurde. Stellvertretend für viele andere, die durch Kritik und Anregungen den Verlauf und das Ergebnis der Untersuchung mitbeeinflußt haben, möchte ich hier nur die Herren Professoren Dr. Hans-Joachim Koch und Dr. Gerhard Igl, der im übrigen auch das Zweitgutachten anfertigte, nennen. Zu danken habe ich ferner besonders Herrn Prof. Dr. Ingo Richter, der nicht nur das Erstgutachten erstattete, sondern von Beginn an das Vorhaben vorzüglich betreute. Wesentlichen Anteil an dessen Fertigstellung hatte schließlich Herr Prof. Dr. Hermann Avenarius, Leiter der Abteilung Recht und Verwaltung am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt am Main. Ihm schulde ich Dank fur die großzügigen Freiräume und Rahmenbedingungen, die er mir während der Anfertigung der Schrift gewährte. In unseren gemeinsamen Gesprächen fand ich zudem die Aufmunterung und Ermutigung, ohne die eine solche Arbeit nicht zustande kommen kann. Unterstützung und Förderung habe ich - wie stets - durch meinen Freund und Lehrer, Herrn Prof. Dr. Friedrich Müller (Heidelberg), erfahren. Sein Rat war mir ebenso willkommen wie die geduldige Mitarbeit von Frau Isolde Baumbusch (Frank-
6
Vorwort
fürt), der ich fur die Übertragung des Manuskripts in die Druckvorlage danken möchte. Den Zugang zu vielen rechtspolitischen Fragestellungen erleichterten der Kinderbeauftragte der Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen, Herr Dr. Reinald Eichholz, sowie der Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe, Herr Peter Marquard. Beide sind schon Ende der achtziger Jahre mit der Bitte an mich herangetreten, den Kindeswohl-Begriff aus verfassungsrechtlicher Sicht zu untersuchen. Die im damaligen Zusammenhang bestrittenen Diskussionen erweckten in mir das weiterführende Interesse, den vorliegenden Themenkomplex einer umfassenden Analyse zu unterziehen. Die Studie wurde Anfang 1993 abgeschlossen. Spätere Literatur konnte nicht mehr berücksichtigt werden.
Frankfurt am Main, Juni 1993
Bernd Jeand'Heur
Inhaltsverzeichnis I.
Einleitung und Problemstellung
13
Erster Teil
II.
Entwicklung der Garantienormkonzeption
17
Der Kindeswohl-Begriff zwischen Elternrecht und staatlichem Wächteramt - zum Stand der Auslegung des Art. 6 Abs. 2 Sätze 1 und 2 GG ....
17
1.
III.
IV.
V.
Die Einordnung des Kindeswohl-Begriffs in das verfassungsrechtliche Normtextgefüge
17
2.
Kindeswohl und elterliches Erziehungsrecht - die dogmatische Ausgestaltung in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG
19
3.
Kindeswohl und staatliches Wächteramt - die Kontrollfunktion von Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG
22
Rechtsnormtheoretische und -methodische Vorüberlegungen zum Umgang mit Wirklichkeitselementen bei der Gesetzesauslegung
26
1.
Das Sachproblem aus herkömmlicher Sicht
26
2.
Der Neuansatz der Strukturierenden Rechtslehre
29
Welche Wirklichkeitselemente sind bei der Interpretation von Art. 6 Abs. 2 GG normativ relevant?
34
1.
Abgrenzung der sachlichen Reichweite zu Art. 7 Abs. 1 GG
34
2.
Rechtssystematisches Verhältnis zu Art. 6 Abs. 1 GG
35
Die Analyse des Normbereichs von Art. 6 Abs. 2 GG 1.
Ausgangslage bei Verabschiedung des Grundgesetzes und Verständnis des Verfassunggebers
2.
Historisch-gesellschaftliche Veränderungen im Normbereich von Art. 6 Abs. 2 GG (unter Berücksichtigung von Realentwicklungen im Wirklichkeitsbereich von Art. 6 Abs. 1 GG) 2.1 "Familie" und "Elternschaft" als sozialhistorische Phänomene . 2.2 Modifikationen familiärer Lebensformen und gewandelte Sozialisationsbedingungen Heranwachsender 2.3 SpezieU: Der Einfluß ökonomischer Faktoren auf die Rahmenbedingungen für Erziehung
39 39
42 42 44 53
8
Inhaltsverzeichnis
3.
4. VI.
VII.
VIII.
Ursachen und Erklärungsmodelle für den Wandel im Wirklichkeitsbereich Ehe, Familie, Pflege und Erziehung von Kindern und Jugendlichen 3.1 Vorbemerkung 3.2 Normativ-wertende Erklärungsmuster 3.3 Analytisch-deskriptive Ansätze
55 55 56 58
Zusammenfassung
66
Zulässigkeit und Grenze eines Norm- bzw. Verfassungswandels
68
1.
Zur Problemumschreibung
68
2.
Abriß der bisherigen Problembehandlung
69
3.
Die rechtsnormtheoretische Neuformulierung der Fragestellung ....
75
4.
Übertragung: Normwandel des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG
78
Der Normcharakter des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG
84
1.
Grundrechte als Leistungsrechte
86
2.
Grundrechte als Schutzpflichtnormen
90
3.
Die bereichsspezifische Konkretisierung des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG 3.1 Leistungsrechtliche Dimensionen im Normbereich einer Freiheitsgewährleistung (am Beispiel von BVerfGE 75, 40ff.) 3.2 Grammatische und grammatisch-systematische Auslegungsaspekte 3.3 Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG als atypische Garantienorm 3.3.1 Zum Begriff 3.3.2 Zur besonderen Normstruktur des Art. 6 Abs. 2 Sätze 1 und 2 GG 3.3.3 Weitere Konkretisierung: staatliche Garantenstellung und Interventionsgarantie 3.3.4 Eintrittsvoraussetzungen für den Interventionsfall
95
Einwände gegen die Garantienormkonzeption des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG 1. 2.
97 99 99 101 103 106
111
Verknüpfung von Interventionsgarantie mit Elternverhalten als Ursache für den Gefahrdungstatbestand?
111
Zum Verhältnis zwischen objektiv-öffentlicher Pflicht und subjektivrechtlich einklagbarem Anspruch
114
Zweiter
Teil
Rechtsfolgen und Operationalisierbarkeit der Garantienormkonzeption de lege lata IX.
95
Das neue Kinder- und Jugendhüfegesetz (KJHG) im Lichte der Neuinterpretation von Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG
120
120
Inhaltsverzeichnis
1.
2. 3.
X.
135 142
Die Frage nach dem anspruchsberechtigten Subjekt im Rahmen des KJHG
144
Probleme der Finanzierung von Leistungsangeboten aus dem KJHG 3.1 Erster Ansatzpunkt: Vertikaler Finanzausgleich, insbesondere Neufestsetzung der Umsatzsteueranteile, Art. 106 Abs. 3, Abs. 4 Satz 1 GG 3.2 Zweiter Ansatzpunkt: Mehrbelastungsausgleich gemäß Art. 106 Abs. 4 Satz 2 GG 3.3 Dritter Ansatzpunkt: Finanzielle Beteiligungsmöglichkeiten des Bundes im Rahmen von Art. 104a Abs. 3 GG (Geldleistungsgesetz) 3.4 Vierter Ansatzpunkt: Finanzhilfen des Bundes nach Art. 104a Abs. 4 GG 3.5 Gesamtergebnis
126 127 129 130 134
149
156 161
163 164 168
Die Auswirkungen des Garantienormkonzepts auf die Rechtsstellung von Kindern sowie auf die jugendhilferelevanten Vorschriften im neuen Ausländergesetz 169 1. 2. 3.
XI.
Die Neuinterpretation von § 1 Abs. 1 KJHG auf Grundlage der garantienormrechtlichen Verfassungsvorgaben des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG 1.1 Zur Einklagbarkeit des Rechts auf Erziehung - der bisherige Meinungsstand 1.2 Der Neuansatz des Garantienormkonzepts 1.2.1 Folgen für die Einklagbarkeitsproblematik 1.2.2 Zur Unterscheidung zwischen "muß"-, "soll"- und "kann"-Vorschriften 1.2.3 Zum Verhältnis von § 1 Abs. 1 KJHG und den Einzelnormen im Zweiten Kapitel 1.2.4 Einwände aus dem genetischen Auslegungsaspekt
Der Ausweisungsgrund des § 46 Nr. 7 AuslG im Lichte von Art. 6 Abs. 2 GG
170
Zur Auslegung der Datenübermittlungsvorschrifiten gemäß § 76 AuslG
176
Zu den Kindernachzugsregelungen im Ausländergesetz
178
Das "Übereinkommen über die Rechte des Kindes" der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 - seine deutsche Anwendung unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 6 Abs. 2 GG
182
1.
Bedeutung des Vertragswerks
182
2.
Die Konzeption der Kinderkonvention
185
3.
Konvergenz zum Garantienormkonzept
186
4.
Normative Verbindlichkeit und verfahrensrechtliche Geltendmachung der Rechte aus dem Übereinkommen
188
10
Inhaltsverzeichnis
Dritter
XII.
XIII.
Rechtsfolgen und Operationalisierbarkeit der Garantienormkonzeption de lege ferenda
195
Einleitende Bemerkungen zur Frage subjektiv-rechtlicher Ansprüche auf den Erlaß von Leistungs- und Schutzpflichtnormen aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG
195
Der Kindeswohl-Begriff im Konflikt mit Grundrechtspositionen Dritter diskutiert am Beispiel von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG (Forschungs- und Wissenschaftsfreiheit)
205
1.
Einführung in die Problemstellung
205
2.
Grundrechtsdogmatische Ausgangslage
208
3.
Zur Übertragbarkeit des Garantienormkonzepts auf die grundrechtsdogmatische Ausgangs- bzw. Kollisionslage
214
4.
5.
XIV.
Teil
Die verfassungsimmanente Schranke des Kindeswohl-Begriffs in ihrer Begrenzungsfunktion gegenüber Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG 4.1 Schutzbereich und Schrankenbestimmung der Forschungsfreiheit 4.2 Lösungsansätze zur Kollisionsproblematik Kindeswohl Forschungsfreiheit 4.3 Bestätigung des Lösungsansatzes durch eine vergleichende Betrachtung zur Vorbehaltsdogmatik im Rahmen der Kunstfreiheit Schritte zur Operationalisierung der garantienormrechtlichen Vorrangstellung von Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG: Informationspflicht des Forschers und Umkehr der Argumentationslast 5.1 Folgen der typologischen VorrangsteUung - Einführung in das Sachproblem 5.2 Informationsrecht - Informationspflicht 5.3 Umkehr der Argumentationslast und die verfahrensrechtliche Schutzpflichtdimension der Grundrechte
216 216 221
224
229 229 233 236
Institutionelle Schutzeinrichtungen zur Gefahrdungsabwehr im Kindeswohl-Bereich und Bestrebungen für eine kinderfreundlichere Politikgestaltung
244
1.
Problemstellung
244
2.
Bestehende Institutionen zur Wahrnehmung einer am Kindeswohl orientierten Interessenvertretung 2.1 Bundesebene 2.2. Länderebene 2.3 Kommunalebene
245 245 247 247
Fehlende Befugnisse und rechtliche Defizite der bestehenden Institutionen
249
3.
Inhaltsverzeichnis
3.1 Rechtliche Absicherung und Parlamentsvorbehalt 3.2 Mangelnde Kompetenzen und Rechtsdefizite der Kinderkommission 4.
XV.
Eigener Vorschlag: Der Kinderbeauftragte auf Bundes- und Länderebene mit erweiterten Rechtsbefugnissen und Kompetenzen 4.1 Die Rechtsstellung des Kinderbeauftragten 4.1.1 Der Kinderbeauftragte in der Staatsfunktionenordnung .. 4.1.2 Die Zuordnung des Kinderbeauftragten zur Legislative oder Exekutive 4.1.3 Zur Frage der Rechtsgrundlage für die Berufung des Kinderbeauftragten sowie für die Ausgestaltung seiner Kompetenzen und Befugnisse 4.2 Aufgaben, rechtliche Befugnisse und Kompetenzen des Bundesbeauftragten für die Belange von Kindern 4.2.1 Befugnisse des Bundeskinderbeauftragten gegenüber der Legislative 4.2.2 Befugnisse des Bundeskinderbeauftragten gegenüber der Exekutive - der Regierung sowie der Verwaltung insgesamt 4.2.3 Befugnisse des Bundeskinderbeauftragten gegenüber der Gerichtsbarkeit 4.3 Handeln des Kinderbeauftragten aufgrund eigener Entscheidung bzw. auf Weisung 4.4 Der Kinderbeauftragte als Petitionsinstanz 4.5 Das Berichterstattungsrecht des Kinderbeauftragten 4.6 Das Verhältnis des Kinderbeauftragten zur Kinderkommission des Bundestages 4.7 Die Rechtsstellung des Bundeskinderbeauftragten im einzelnen 4.7.1 Öffentlich-rechtliches Amtsverhältnis 4.7.2 Wahl des Kinderbeauftragen, Begründung und Beendigung des Amtsverhältnisses 4.7.3 Persönliche und sachliche Voraussetzungen zur Ausübung des Amtsverhältnisses 4.8 Ergänzender Exkurs zum Landeskinderbeauftragten
Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
250 253 258 261 261 262
267 272 274
277 281 283 284 285 287 289 289 290 290 291 296 310
I . Einleitung und Problemstellung Obgleich der Kindeswohl-Begriff keinen Eingang in den Wortlaut des Grundgesetzes gefunden hat, verkörpert er einen der Fixpunkte, deren Licht auf weite Teile des privaten Lebens, des Gemeinwesens sowie der Rechtsordnung insgesamt fallt. Der Stellenwert der Generalklausel "Kindeswohl11, etwa in der Rechtsprechung der Familiengerichte, läßt sich aus der Kommentarliteratur zu den einschlägigen BGB-Vorschriften (z.B. §§ 1634 AbSatz 2, Abs. 3, 1666, 1671 Abs. 2, Abs. 3, 1672, 1696 Abs. 2) ersehen. Der insofern gewachsenen Auslegungstradition und der durch die kritische Begleitung des Schrifttums 1 dazu entwickelten Begriffsgeschichte ist an dieser Stelle nichts hinzuzufügen. Es soll nachfolgend vielmehr das Interesse auf die verfassungsrechtliche Ausstrahlungskraft des Kindeswohl-Gedankens auf gesellschaftliche Spannungsverhältnisse, welche das Recht ordnen, wenn möglich auflösen sollte, gelenkt werden. Die Studie setzt mithin an den aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG abgeleiteten Obliegenheiten der staatlichen Gemeinschaft an und versucht, im Wege der Ausdifferenzierung der verfassungsrechtlichen Dimensionen des Kindeswohl-Begriffs einen Beitrag zu einem aktualisierten Verständnis des staatlichen Wächteramtes zu leisten. In ihrem ersten Teil stellt sie die herkömmliche Interpretation des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG in Relation zu den seit Verabschiedung des Verfassungstextes veränderten Realverhältnissen von Familie, Erziehung und der Sozialisation Mindeijähriger. Der Verfassunggeber hatte das Leitbild der traditionellen " Normal familie" vor Augen, innerhalb der den Eltern Pflege und Erziehung der Kinder als "natürliches Recht" und "zuvörderst ihnen obliegende Pflicht" anvertraut wird. Das Wächteramt der staatlichen Gemeinschaft fungiert in diesem Sinne gewissermaßen nur als subsidiäre Eingriffsermächtigung, die - ausnahmsweise und abweichend vom Regelfall - den Staat zu Schutzmaßnahmen zum Wohl des Kindes verpflichtet, wenn die Eltern ihrer Erziehungsverantwortung nicht gerecht werden. Sozialwissenschaftliche, insbesondere familiensoziologische Untersuchungen zeigen, daß sich das Wirklichkeitsbild
1 Aus dem umfangreichen Angebot sticht das Standardwerk von Coester, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff, 1983 besonders hervor. Nennen könnte man ferner Finger, Gefahrdung des Kindeswohls - Ein Bericht zur Entwicklung des elterlichen Sorgerechts, in: RdJB 1988, 177ff.; Moritz, Die (zivil)rechtliche Stellung der Minderjährigen und Heranwachsenden innerhalb und außerhalb der Familie, 1989, S. 186f., 191ff. oder Münder, Wohl des Kindes und Kindesrechte, in: RdJB 1985, 212ff.
14
I. Einleitung
familiärer Lebensformen in den vergangenen zwei Jahrzehnten tiefgreifend verändert hat. Der dem Normtext von Art. 6 Abs. 2 GG ehemals zugrunde liegende Idealtypus der Kleinfamilie, in welcher das Kind im Rahmen stabiler ökonomischer und geschlechtsspezifischer Rollenzuteilungen behütet heranwächst, stimmt nicht mehr mit der gegenwärtig zu beobachtenden Pluralisierung von Lebensentwürfen und der zunehmenden Attraktivität ungebundener alternativer Modelle des Zusammen- und Alleinlebens überein. Die (vor allem) sozioökonomischen Ursachen dieser Entwicklung beeinflussen die Rahmenbedingungen für die Sozialisation Mindeijähriger, so daß in gleichem Maße, wie die Vereinzelung von Eltern und Kindern zu- sowie die Einbindung in familiäre Netze abnimmt, die gesellschaftliche Verantwortung für originär und früher ganz selbstverständlich von den Familien wahrgenommene Aufgaben künftig faktisch aktueller wird. Die Frage geht deshalb dahin, inwieweit der Normtext des Art. 6 Abs. 2 GG Spielraum für den Einbezug der skizzierten sozialwissenschaftlichen Analyse und deren Schlußfolgerung läßt. Eine Antwort hierauf muß sich zunehmend Rechenschaft darüber verschaffen, welcher Stellenwert dem sozialwissenschaftlichen Datenmaterial bei der Auslegung der genannten Verfassungsvorschrift zukommt. Die vorliegende Studie knüpft in diesem Kontext an neuere rechtsnormtheoretische Auffassungen an, wonach sich eine Gesetzesbestimmung nicht ausschließlich aus sprachlichen Bestandteilen, sondern ebenso aus den Sachelementen des Normbereichs zusammensetzt, auf den das sog. Normprogramm referiert. Der normative Regelungsgehalt ist somit nicht abstrakt vorgegeben, vielmehr stets erst situationsabhängig zu kreieren. Veränderungen im Normbereich einer Grundrechtsvorschrift können demgemäß - wie das Bundesverfassungsgericht zu Recht annimmt - dazu konforme Modifikationen des Bedeutungsumfangs der Norm bewirken. Dies berücksichtigend, erörtert die Arbeit das Problem eines mittlerweile eingetretenen Verfassungswandels im Hinblick auf Art. 6 Abs. 2 GG, der im Ergebnis zu einer den veränderten Realverhältnisssen angepaßten Neuinterpretation der Aufgaben aus dem staatlichen Wächteramt führen muß. Hierbei darf gleichwohl nicht die Normprogrammgrenze überschritten und etwa die Außerkraftsetzung des elterlichen Erziehungsprimats betrieben werden. Statt dessen sollen, unterhalb dieser normativ verbindlichen Markierung, Wege eröffnet werden, die ein stärkeres gesellschaftliches Engagement bei der Abwendung von Kindeswohlgefährdungen erlauben, und zwar nicht in Konkurrenz zur Freiheitsgarantie des Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG, sondern als deren Ergänzung, letztlich als Ermöglichungsbedingung zur effektiven Ausübung der El tern Verantwortung. In Abkehr von der bislang vorherrschenden restriktiven Interpretationsvariante von Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG wird vorliegend die These entwickelt, dieser Verfassungsauftrag enthalte eine atypische Garantienorm, die aufgrund ihrer Normprogrammatik den Staat nicht nur zum Unterlassen ungerechtfertigter
I. Einleitung
Eingriffe in den Schutzbereich, sondern darüber hinaus zur Vornahme positiver Handlungen verpflichtet, wenn andernfalls die Ausübung der grundrechtlichen Freiheit selbst gefährdet oder gar verunmöglicht wäre und dadurch das Wohl des Kindes Schaden nehmen würde. Aus dem grundrechtssystematischen Zusammenhang des Wächteramtes mit Art. 6 Abs. 2 Satz 1, Art. 6 Abs. 1 und Abs. 5 GG wird ferner die Frage aufgeworfen, ob den Staat jedenfalls dann eine pointierte Handlungspflicht trifft, falls er durch ihm zurechenbare Maßnahmen oder Unterlassungen eine solche Gefahr (mit)hervorruft. Die Untersuchung überprüft dementsprechend, inwiefern die Gesellschaft infolge der Inkaufnahme mitzuverantwortender Negativeinwirkungen auf die Sozialisationsbedingungen Heranwachsender eine Kompensationspflicht zur Rekonstruktion der Grundrechtsposition der Eltern erfüllen muß. Im zweiten Teil wird der Versuch unternommen, das Garantienormkonzept des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG rechtspraktisch zu operationalisieren. Im Rahmen der Ausstrahlungswirkung der Neuinterpretation dieser Verfassungsnorm auf das einfache Gesetzesrecht soll anhand von drei ausgewählten Rechtsgebieten die Relevanz des Neuansatzes de lege lata erprobt werden. Hierfür bietet sich vornehmlich das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) an, das sich selbst als eine einfachrechtliche Konkretisierung der Verfassungsbestimmung des Art. 6 Abs. 2 GG definiert. In diesem Zusammenhang ist in erster Linie das Problem der subjektiv-rechtlichen Einklagbarkeit der im KJHG gewährten Leistungsansprüche diskussionswürdig. An zweiter Stelle sind einige kinder-, zum Teil auch jugendhilferelevanten Vorschriften des reformierten Ausländerrechts von Interesse. Schließlich erfordern auch die in der UN-Konvention über die Rechte des Kindes verankerten Anspruchsnormen eine nähere Auseinandersetzung mit deren Status, Transformierung in nationales Recht sowie den Chancen ihrer Realisierung. Die Tauglichkeit der Garantienormkonzeption wird sich hauptsächlich im Hinblick auf die Erörterung dieser Problemstellungen beweisen müssen. Der dritte Teil befaßt sich mit der Erarbeitung von Konfliktlösungsmodellen für Kollisionsfälle zwischen Kindeswohl-Belangen einerseits und Grundrechtspositionen Dritter andererseits. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, welche staatlichen Handlungs- und Schutzaufträge aus dem Wächteramt gem. Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG erwachsen und wie diese zur Lösung solcher Spannungslagen beitragen können. Als exemplarische Diskussionsgrundlage wird das Konfliktfeld von Kindeswohl und Forschungsfreiheit gewählt, das bereits im Gesetzgebungsverfahren zum Embryonenschutzgesetz Anlaß zu Kontroversen bot. Angesichts der auch künftig auf diesem Gebiet zu erwartenden Rechtsgüterkollisionen und eingedenk der vorbehaltlosen Gewährleistung des Art. 5 Abs. 3 GG dürften sich die im Rahmen eines derart zugespitzten Widerstreits gewonnenen Einsichten hinsichtlich eventuell bestehender Defizite beim Rechtsschutz von Kindesinteressen besonders gut für eine Übertragung auch
16
I. Einleitung
auf andere Bereiche eignen. Das Ziel der Arbeit besteht darin, verallgemeinerbare Maßstabe fur eine, dem Schutzgedanken aus dem Wächteramt genügende, verfahrensrechtliche Absicherung des Kindeswohls de lege ferenda zu finden. Sie plädiert fur den Einbau zwingender Kontrollmechanismen, mit deren Hilfe die garantienormrechtliche Ausrichtung des Wächteramtes bei der Losung solcher Konfliktsituationen besser zur Geltung gelangt, so daß der verfassungsrechtliche Stellenwert des Kindeswohl-Kriteriums mehr als bisher aktualisiert werden kann. In Ergänzung zu den, meist auf kommunaler Ebene bestehenden Kontrolleinrichtungen und Vertretungen fur Kinderinteressen, die in der Regel nur völlig unzulängliche Befugnisse besitzen, häufig sogar lediglich eine Alibifunktion ausüben, schlägt die Abhandlung die Berufung eines Beauftragten für die Wahrnehmung von Kinderbelangen auf Bundesebene (ähnlich ebenso in den Ländern) vor. In Anlehnung an die Rechtsstellung und Einordnung des Wehrbeauftragten des Bundestages in das Staatsgefüge stellt sie die Einrichtung einer vergleichbaren Institution und deren Aufnahme in den Verfassungstext zur Debatte.
Erster Teil
Entwicklung der Garantienormkonzeption I I . Der Kindeswohl-Begriff zwischen Elternrecht und staatlichem Wächteramt - zum Stand der Auslegung des Art. 6 Abs. 2 Sätze 1 und 2 GG 1. Die Einordnung des Kindeswohl-Begriffs verfassungsrechtliche Normtextgeßge
in das
Wie eingangs erwähnt, wird das Wohl des Kindes - anders als in einigen BGB-Vorschriften - im Wortlaut des Grundgesetzes als Rechtsbegriff nicht explizit aufgeführt. Die Verfassung verhält sich dazu gleichwohl keinesfalls indifferent. Einzelne, den "Schutz der Jugend" bzw. "gefährdeter Jugendlicher" bezweckende Bestimmungen enthalten nämlich Art. 5 Abs. 2 sowie Art. 13 Abs. 3 GG, wobei diese speziellen Vorbehaltsregelungen und staatlichen Eingriffsermächtigungen in ihrer Verwendung des Oberbegriffs "Jugend" bzw. "Jugendlicher" den engeren Ausdruck "Kind" mit einschließen. Zu nennen wäre ferner Art. 6 Abs. 5 GG als besondere, auf die Gleichstellung von nichtehelichen Kindern abzielende, Norm. Anknüpfungspunkt für das Kindeswohl ist aber zunächst - von der defizitären, einen staatlichen Eingriff legitimierenden, Seite - Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG. Von der positiven, die Ermöglichungsbedingungen einer kindgerechten Entwicklung umschreibenden, Seite wären weiter der Menschenwürdegrundsatz (Art. 1 Abs. 1 GG), das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) sowie, wie noch zu erläutern sein wird, das Elternrecht in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG aufzuzählen. Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG verpflichtet die staatliche Gemeinschaft, über die in Satz 1 garantierte Ausübung des Elternrechts, also die Pflege und Erziehung der Kinder, zu wachen. Hierbei hat das Bundesverfassungsgericht den Kindeswohl-Begriff zum zentralen "Richtpunkt für den Auftrag des Staates gemäß Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG" erklärt 1. Da "das Kind (...) ein Wesen mit eigener Menschenwürde und eigenem Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit im
1
BVerfGE 24, 119, 144.
2 Jeand' Heur
18
Π. Kindeswohl zwischen Elternrecht und Wächteramt
Sinne der Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG" ist, sich aber gegen Gefahrdungen seiner Persönlichkeitsentwicklung regelmäßig nicht selbst zu wehren vermag, sieht das Gericht die Funktion und Berechtigung des in Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG positivierten staatlichen Wächteramtes darin, das Kind "notfalls (...) davor (zu) bewahren, daß seine Entwicklung durch einen Mißbrauch der elterlichen Rechte oder eine Vernachlässigung Schaden leidet"2. Indem das Kindeswohl zum Maßstab staatlichen Handelns wird bzw. dessen Gefährdung zur Eingriffsverpflichtung des Staates fuhrt, erhält es in der Auslegungspraxis des Bundesverfassungsgerichts als ein in Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG implizit enthaltenes Rechtsgut Verfassungsrang zugesprochen. Hinsichtlich aller weiteren Folgerungen aus der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Argumentationslinie ist schließlich eine genaue Grenzziehung wichtig: der Kindeswohl-Begriff darf nicht mit einem "zwischen den Zeilen" von Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 GG herauszulesenden "speziellen Grundrecht des Kindes", einem sogenannten 1,1 Menschwerdungsgrundrecht' des Kindes" gleichgesetzt werden3. Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG begründet kein originäres Freiheitsrecht des Kindes, sondern eine an dessen Wohl orientierte staatliche Eingriffslegitimation zur Kontrolle der grundrechtlich garantierten Elternbefugnisse in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. Die Aufsichts- und Wächterfunktion der staatlichen Gemeinschaft hat vom Begünstigten, dem Kind, aus betrachtet - läßt man die speziellen, bestimmte (Gefahrdungs-)Tatbestände im Auge habenden Regelungen in Art. 5 Abs. 2, Art. 13 Abs. 3 bzw. Art. 6 Abs. 5 GG einmal beiseite - ihre grundrechtsdogmatische Rückbindung in Art. 1 Abs. 1 bzw. Art. 2 Abs. 1 GG. Will man das spezifische Recht des Kindes auf Menschwerdung oder Persönlichkeitswerdung her2 BVerfGE 24, 119, 144 mit Verweis auf BVerfGE 10, 69, 84. Ebenso BVerfG NJW 1989, 519ff., 520. Einen guten Überblick über die jüngere Entwicklung der Verfassungsrechtsprechung zum Kindeswohl-Begriff in unterschiedlichen Problembereichen gibt Salgo , Das Kindeswohl in der neueren Rechtsprechung des BVerfG, in: Du Bois (Hrsg.), Praxis und Umfeld der Kinderund Jugendpsychiatrie. Der Dialog mit Pädiatrie, Justiz, Sozial- und Verhaltenswissenschaften, 1989, S. 158ff.; siehe dort die Nachweise im einzelnen. Noch nicht enthalten ist die Entscheidung des BVerfG vom 7. Mai 1991, durch die der Ausschluß eines gemeinsamen Sorgerechts nicht verheirateter Eltern im gegenwärtigen Familienrecht für verfassungswidrig erklärt wurde. Die Entscheidung ist abgedruckt z.B. in: NJW 1991, 1994ff.; EuGRZ 1991, 244ff.; RdJB 1991, 477ff. Vgl. dazu etwa Bosch, Zur Rechtsstellung der mit beiden Eltern zusammenlebenden nichtehelichen Kinder, in: FamRZ 1991, 1121ff.; Dickmeis, Familienrecht im Wandel - Zur Aufwertung der Elternrechtsposition gegenüber dem Staat, in: Der Amtsvorstand 1991, 706ff.; Horn, Die Einheit von Ehe und Familie? - Ende einer normativen Idealität - Anmerkungen zum Beschluß des BVerfG vom 7. Mai 1991 -, in: DÖV 1991, 830ff. oder v. Renesse, Sorgerecht bei nicht-ehelicher Elternschaft, in: RdJB 1991, 407ff. 3
So aber Ditzen, Das Menschwerdungsgrundrecht des Kindes - zugleich Anmerkung zu BVerfG NJW 1989, 519ff., in: NJW 1989, 2519f. In der Tendenz ähnlich Rummel, Kindeswohl Ein Gebot von Verfassungsrang in neuen und alten Spannungsfeldern: Leihmutterschaft, Embryonenschutz und Jugendhilfe. Die Ablösung von § 1666 BGB, in: RdJB 1989, 394ff., der die Bezeichnung " Persönl ich keits werdungsgnind recht" vorzieht. S. zur Thematik insgesamt Frenzel, Der verfassungsrechtliche Anspruch Minderjähriger und Heranwachsender auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Rechts- und sozialwissenschaftliche Aspekte der Jugendhilfe, Diss. Wuppertal, 1988.
2. Kindeswohl und Elternrecht
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vorheben, so bleibt dafür im Anschluß an das Bundesverfassungsgericht verfassungsdogmatisch nur der Weg über die beiden zuletzt genannten Vorschriften4. Als Grundrecht ist eine solche Garantie primär staatsgerichtet, kann aber auch in Kollision zu Grundrechtsposition Dritter treten. Welche Rolle hierbei, also bei Überschneidungen von Kindesrechten aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG einerseits und Freiheitsrechten dritter Grundrechtsträger andererseits, dem staatlichen Wächteramt gemäß Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG zukommt, ist besonders von grundrechtstheoretischem Interesse, da die dort enthaltene Pflichtenzuweisung nicht mit den Kategorien der herkömmlichen Grundrechtsdogmatik (Freiheitsrechte als gegen den Staat gerichtete Abwehrrechte) zu fassen ist, sondern darüber hinauszuweisen scheint. Bevor aber auf die damit zusammenhängenden Fragen eingegangen werden soll, ist zunächst noch etwas ausführlicher die Relation Kindeswohl-Elternrecht-Wächteramt zu diskutieren.
2. Kindeswohl und elterliches Erziehungsrecht die dogmatische Ausgestaltung in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG gewährleistet den Eltern das "natürliche Recht"5 auf Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Die Vorschrift ist als klassisches Abwehrrecht gegenüber unberechtigten staatlichen Eingriffen in ihren Schutzbereich konzipiert 6. Diese Stoßrichtung des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG als Grundrecht der Eltern gegen staatliche Einflüsse und Fremdbestimmungen, das sich den Staat als Adressaten wählt, enthält keine Abweichung im Vergleich zu anderen Frei4 BVerfGE 24, 119, 144; siehe z.B. auch BVerfG NJW 1981, 217, 218, wo das Gericht nochmals explizit die Verbindung von Art. 6 Abs. 2 S. 2 zu Art. 2 Abs. 1 bzw. Art. 1 Abs. 1 GG zieht. Auf diese spezifische Verknüpfung weist Zeidler, Ehe und Familie, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrecht, 1983, S. 555ff., 572ff. besonders hin. Siehe auch Lamprecht, Zur Menschenwürde des Kindes, in: Fürst/Herzog/Umbach (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Zeidler, 1987, S. 857ff., 861. Vgl. schließlich Erichsen, Elternrecht Kindeswohl - Staatsgewalt, 1985, S. 49: "Das staatliche Wächteramt bezieht seinen Sinn und Zweck aus dem Persönlichkeitsrecht des Kindes, wie es in Art. 1 Abs. 1 S. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG festgelegt ist, und das zu achten und zu schützen gem. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist." 5 Zur Kontroverse, ob diese Formulierung den Schluß auf eine präpositiv verwurzelte Rechtsposition, mithin die Gleichsetzung von "natürlich" mit "naturrechtlich" zulasse, vgl. SchmittKammler, Elternrecht und schulisches Erziehungsrecht nach dem Grundgesetz, 1983, S. 14ff. (ablehnend) oder Ossenbühl, Das elterliche Erziehungsrecht im Sinne des Grundgesetzes, 1981, S. 45ff. (differenzierend), jeweils m.w.N. 6
S. zu den historisch-genetischen Beweg- bzw. Entstehungsgründen des elterlichen Erziehungsrechts im Sinne einer Verfassungsgarantie z.B. Böckenförde, Elternrecht - Recht des Kindes - Recht des Staates - Zur Theorie des verfassungsrechtlichen Elternrechts und seine Auswirkung auf Erziehung und Schule, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, 1980, S. 54ff., 56ff. sowie Ossenbühl (Anm. 5), S. 40f. Eine empfehlenswerte Darstellung des geschichtlichen Gesamtrahmens bietet bereits Stein, Die rechtsphilosophischen und positivrechtlichen Grundlagen des Elternrechts, in: ders./Joest/Dombois (Hrsg.), Elternrecht - Studien zu seiner rechtsphilosophischen und evangelisch-theologischen Grundlegung, 1958, S. 5ff.
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Π. Kindeswohl zwischen Elternrecht und Wächteramt
heitsrechten. Die Eigenart von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG liegt vielmehr in seiner besonderen Struktur, mehrere Rechtspositionen miteinander zu verbinden mit der Intention, sie inhaltlich gleichzusetzen; neben den Eltern, welche im Rahmen der Außenseite von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG den staatsgerichteten Abwehrgehalt geltend machen können, wird auf der Innenseite der Vorschrift ein weiterer Grundrechtsträger angesprochen - das Kind als Objekt bzw. Begünstigtes der elterlichen Erziehungsbefugnis 7. Zwar steht es den Eltern zu, willkürliche Eingriffe des Staates in ihre von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG geschützte Rechtsposition abzuwehren, doch können sie sich auf das Abwehrrecht nur berufen, solange sie ihrer Elternverantwortung genügen, indem sie die ihnen normativ übertragenen Aufgaben (Pflege und Erziehung) zugunsten des Kindes erfüllen8. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG beschreibt damit den "im Grundgesetz einzigartigen Fall, daß ein Grundrecht und eine Grundpflicht einander unmittelbar entsprechen"9. Zieht man die aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Menschenwürdegrundsatz abgeleiteten Kindesgrundrechte (Menschwerdung/Persönlichkeitswerdung) in die Überlegung mit ein, könnte man ganz untechnisch formulieren, daß letztere in der elterlichen Pflege- und Erziehungsbefugnis ihre familienpraktischen Realisierungsmöglichkeiten finden. Das Elternrecht in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG zielt darauf ab, die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes zu fördern, mithin die Bedingungen dafür zu schaffen, daß das Kind seine Rechte aus Art. 2 Abs. 1 GG und den anderen Freiheitsgarantien des Grundrechtskatalogs wahrzunehmen lernt. Das Bundesverfassungsgericht erwähnt in einer neueren Entscheidung nochmals die besondere Struktur des Elternrechts, das "wesentlich ein Recht im Interesse des Kindes" ist, da bereits der Normtext (Pflege und Erziehung des Kindes) "das Kindesinteresse in das Elternrecht einfügt" 10. Es wäre daher verfehlt, das Verhältnis Kindesrechte-Elternrechte als Beispielsfall einer typischen Grundrechtskollisionslage zu charakterisieren 11. Ein derartiger Die terminologische Unterscheidung zwischen Außenseite und Innenseite des elterlichen Erziehungsrechts ist bei Ossenbühl (Anm. 5), S. 50 nachzulesen. 8 BVerfGE 24, 119, 143: "In Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG sind Rechte und Pflichten von vornherein unlöslich miteinander verbunden; die Pflicht ist nicht eine das Recht begrenzende Schranke, sondern ein wesensbestimmender Bestandteil dieses 'Elternrechts', das insoweit treffender als 'Elternverantwortung' bezeichnet werden kann." 9
So Zacher, Elternrecht, in: Isenseee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band V I , 1989, S. 265ff., 267; ähnlich Böckenförde (Anm. 6), S. 60; Ossenbühl (Anm. 5), S. 50 und zuletzt wieder BVerfG RdJB 1991, 477, 479 - dazu von v. Renesse (Anm. 2), S. 409. 10 11
BVerfG NJW 1988, 125 ff., 126.
Dahingehend der Ansatz von Hildegard Krüger, in: dies./Breetzke/Nowack, Kommentar zum Gleichberechtigungsgesetz, 1958, Einl. Nr. 278 - 305. Tendenziell ebenso Derleder, Verfassungsentwicklung und Familienwandel, in: Lampe (Hrsg.), Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie - Persönlichkeit, Familie, Eigentum - Grundrechte aus Sicht der Sozial- und Verhaltenswissenschaften, 1987, S. 162 ff., 171. Leicht mißverständlich auch Münder, Das Verhältnis Mindeijähriger/Eltern/Jugendhilfe, in: ZfJ 1990, 488ff., 491; vgl. gegen Krüger die Kri-
2. Kindeswohl und Elternrecht
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Blickwinkel würde den im Normprogramm von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG deutlich zum Ausdruck kommenden spezifischen Pflichtgehalt des elterlichen Erziehungsrechts sowie die vom Verfassunggeber vorausgesetzte Identität von Elternverantwortung und Kindesinteressen verkennen. Aus dem Normativgehalt von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG kann deshalb zunächst die Verpflichtung entnommen werden, das Grundrecht tatsächlich auszuüben. Die andernorts gestellte Frage nach der Zulässigkeit eines sogenannten Grundrechtsverzichts 12, läßt sich für Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG klar beantworten. Das elterliche Erziehungsrecht muß ausgeübt werden. Es muß ferner - eine weitere grundrechtstheoretische Besonderheit - zugunsten des Kindes zielgerichtet auf dessen Pflege und Erziehung wahrgenommen werden. Das Normprogramm von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG legt sich zwar nicht auf die je denkbaren Erziehungsmethoden im einzelnen fest 13, sondern räumt den Eltern einen Interpretationsprimat hinsichtlich der Begriffe Pflege und Erziehung ein, doch darf das Elternrecht nicht beliebig ausgeübt werden. In der Konkretisierung durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erfährt das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG somit eine funktionale Ausrichtung 14; die Ausübung des Elternrechts soll in der Absicht erfolgen, das Kind "zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu erziehen, wie sie dem Menschenbild des Grundgesetzes entspricht" 15.
tik bei Düng, in: Anm. 1.
Maunz/ders./Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Art. 2 Abs. 1 Rn 59,
12 Vgl. dazu z.B. die Darstellung bei v. Münch, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 3. Aufl. 1985, Art. 1 - 1 9 Vorbemerkung, Rn. 62 sowie bei Donner/Simon, Genomanalyse und Verfassung, in: DÖV 1990, 907ff., 915ff. (dort mit sehr aktuellen Problemstellungen). 13 Dazu Böckenförde (Anm. 6), S. 65ff. sowie Ossenbühl (Anm. 5), S. 49f. S. auch Miehe, Erziehung unter dem Grundgesetz, in: Mußgnug (Hrsg.), Rechtsentwicklung unter dem Grundgesetz - Ringvorlesung der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg aus Anlaß der 40. Wiederkehr des Inkrafttretens des Bonner Grundgesetzes, 1990, S. 249ff., 252, der auf die diesbezügliche Zurückhaltung der Verfassung hinweist: "Wenn das Grundgesetz gleichwohl in den Bestimmungen des Art. 6, aber auch an anderer Stelle, jede Äußerung zu Erziehungszielen vermeidet, so kann man dieses Schweigen nur als beredtes Schweigen verstehen." (Hervorhebung i. Orig.). 14 Die hier gewählte Bezeichnung "funktionale Ausrichtung" ist nicht unter den Vorzeichen einer demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie zu lesen, welche dazu neigt, Freiheitsrechte generell der freien Verfugungsmacht des Bürgers zu entziehen bzw., die deren Wahrnehmung auf die Konstituierung des politischen Gesamtprozesses ausrichten will. Vgl. dazu die Darstellung und Kritik bei Böckenforde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: NJW 1974, 1529ff., 1534f. 15 BVerfGE 24, 119, 144 mit Verweis auf BVerfGE 7, 198, 205 bzw. auf die Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes vom 21.11.1959.
Π. Kindeswohl zwischen Elternrecht und Wächteramt
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3. Kindeswohl und staatliches Wächteramt die Kontrollfiinktion von Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG In Rechtsprechung und Schrifttum besteht im wesentlichen Übereinkunft über Zweck und Ausübungsmodalitäten des dem Schutz des Kindeswohls verpflichteten staatlichen Wächteramtes. Zusammenfassend darf man hierzu folgendes festhalten: Begründet wird die Konstituierung der Kontrollfunktion gegenüber dem Elternrecht nicht mit einem gesellschaftlichen oder staatlichen Eigeninteresse, sondern in erster Linie mit der Schutzverpflichtung der staatlichen Gemeinschaft gegenüber dem Kind als Grundrechtsträger 16. Diese tritt in Kraft, wenn das Kind vernachlässigt wird, die Eltern ihrer Erziehungsverantwortung (verschuldet oder nicht) nicht nachkommen und dadurch (oder aus einem anderen Grund) das Wohl des Kindes gefährdet wird 1 7 . Da die Pflege und Erziehung der Kinder "zuvörderst" in den Rechtskreis der Eltern fallt (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG), ist der Staat jedoch gehalten, von seinen Eingriffsbefugnissen vorsichtig und restriktiv Gebrauch zu machen. Aus dem Erziehungsprimat der Eltern wird ersichtlich, daß "das staatliche Wächteramt nicht konkurrierenden, sondern subsidiären Charakter" hat 18 . Daher darf die staatliche Gemeinschaft erst, und auch dann nur unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgebots, in die Freiheitsgarantie der Eltern eingreifen, wenn der Gefährdungstatbestand erfüllt ist bzw. das Wohl des Kindes schon Schaden genommen hat 19 . Im Einzelfall besteht nun aber zumeist, da der Gefahrenbegriff nicht generell fixierbar ist, die Schwierigkeit, den Nachweis für das Vorliegen einer Be-
1 6
S. nur Böckenförde (Anm. 6), S. 73 bzw. BVerfGE 24, 119, 144. Nach Coester (Kap. I, Anm. 1), S. 135ff. enthält der Kindeswohl-Begriff insoweit die staatliche Eingriffslegitimation, die bei Eintritt des Gefahrdungstatbestandes eine Intervention in Elternechte zu rechtfertigen vermag. Ebenso Erichsen (Anm. 4), S. 47ff. oder Götz, Die Verwirklichung der Grundrechte durch die Gerichte im Zivilrecht, in: Heyde/Stark (Hrsg.), Vierzig Jahre Grundrechte in ihrer Verwirklichung durch die Gerichte, 1990, S. 35ff., 55. 1 7 Vgl. zu den Einzelheiten Ossenbühl (Anm. 5), S. 68f. Zur Gesamtproblematik die länderüberschreitende Monographie von C. Harms, Die Funktion des elterlichen Fehlverhaltens als Voraussetzung für Eingriffe in das Personensorgerecht. Eine rechtsvergleichende Untersuchung der Kinderschutznormen im deutschen, französischen und englischen Recht, Diss. Freiburg/Br., 1988. 18 1 9
Böckenförde
(Anm. 6), S. 76 (Hervorhebung dort).
Plastisch formuliert Böckenförde (Anm. 6), S. 76: "Einmischung oder Eingriffe des Staates in die elterliche Erziehung sind immer dann ausgeschlossen, soweit und solange Fragen von 'gut' oder 'besser' zur Entscheidung stehen (...). Das staatliche Wächteramt hat nicht die beste oder optimale Erziehung für das Kind zu gewährleisten - dann wäre der Staat der eigentliche Erziehungsträger und die Eltern seine Delegatare-, sondern er hat das Kind vor Schaden zu bewahren" (Hervorhebung i. Orig.).
3. Kindeswohl und staatliches Wächteramt
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drohung von Kindesbelangen zu erbringen 20. Üblich ist in diesem Zusammenhang der Versuch, durch Auflistung positiver wie negativer Standards den Gefahrdungstatbestand begrifflich näher auszugestalten21. Neben der näheren Ausbalancierung des Gefahrdungs- bzw. Kindeswohl-Begriffs ist häufig ebenfalls umstritten, welche Erziehungsmaßnahmen oder -leistungen der Staat überhaupt anbieten kann, ohne das elterliche Erziehungsrecht zu verletzen. Eine allgemein verbindliche Antwort erscheint schwer möglich, je nach Sachverhaltslage können seine Befugnisse unterschiedlich weit reichen. Im Normalfall ist er auf helfende Maßnahmen beschränkt, die zur Wiederherstellung eines verantwortungsbewußten Verhaltens der Eltern führen bzw. diese in die Lage versetzen, ihre Aufgaben aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG künftig wahrzunehmen. "Wenn solche Maßnahmen nicht genügen", ist die staatliche Gemeinschaft in Extremsituationen aber auch berechtigt, und hier baut die Verfassungsrechtsprechung die Brücke zu Art. 6 Abs. 3 GG, "den Eltern die Erziehungs- und Pflegerechte vorübergehend und sogar dauernd (zu) entziehen; in diesen Fällen muß er (der Staat; d.V.) zugleich die Lebensbedingungen für ein gesundes Aufwachsen des Kindes schaffen" 22. Obgleich diese Formulierung zeigt, daß der Schutzgedanke nicht von vorneherein auf ausschließlich defensive Maßnahmen eingegrenzt werden kann, unterliegen staatliche Eingriffe aus dem Wächteramt doch dem Subsidiaritätsgrundsatz, der seinerseits vom Normalfall im großen und ganzen intakter Familienverhältnisse ausgeht, innerhalb der die Eltern regelmäßig bereit und in der Lage sind, den Erziehungsauftrag zu erfüllen. In der Diskussion um die kürzlich erfolgte Reform des Kinder- und Jugendhilferechts wurde dagegen verschiedentlich vorgetragen, eine stringente Beschränkung staatlicher Erziehungsangebote und damit verbundener sonstiger Leistungen auf (der elterlichen Erziehung nachgeordnete) bloße Unterstützungsmaßnahmen entspreche nicht mehr dem veränderten Wirklichkeitsbild
2 0 S. hierzu die umfangreiche Kasuistik zu § 1666 Abs. 1 BGB z.B. bei Diederichsen, Palandt, BGB-Kommentar, 50. Aufl. 1991, § 1666, Anm. 2ff.
in:
2 1 Gernhuber, Kindeswohl und Elternwille, in: FamRZ 1973, 229ff., 232. Einen positiven Merkmalskatalog, welche Maßnahmen, Realumstände usw. dem Wohl des Kindes jedenfalls forderlich sein sollen, bietet Becker, Neues elterliches Sorgerecht, in: ZfJ 1978, 300 ff., 302. Anders Erichsen (Anm. 4), S. 53: "Die Markierung dessen, was sicherlich nicht mehr dem Wohl des Kindes entspricht, hat sich (...) an dem Maßstab zu orientieren, der 'als sicheres Gedankengut in der allgemeinen Überzeugung Anerkennung gefunden' hat. Es handelt sich um 'negative Standards', um von einem allgemeinen Konsens getragene Mindestanforderungen an die Umstände, in denen das Kind aufwächst. D.h. nur solche Umstände, die im Hinblick auf die Verwirklichung eines (überindividuellen) Kindeswohls als nicht mehr tragbar, nicht mehr vertretbar erscheinen, dürfen zum Kriterium eines staatlichen Eingriffs in das Elternrecht gemacht werden". Zu den Versuchen einer Begriffseingrenzung mittels positiver bzw. negativer Merkmalsumschreibungen s. ferner die ausfuhrliche Darstellung bei Moritz (Kap. I, Anm. 1), S. 195ff. und 204ff. 2 2
BVerfGE 24, 119, 145.
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Π. Kindeswohl zwischen Elternrecht und Wächteramt
der Familie. Richtig sei es zwar auch weiterhin, daß sich der Staat "unterhalb der Schwelle des § 1666 BGB nicht in die elterliche Erziehung einzumischen habe"; andererseits sei aber zu bedenken, "daß der gesellschaftliche Wandel und die Bedingungen des Aufwachsens sich derart verändert haben, daß nicht mehr davon ausgegangen werden kann, daß hinsichtlich der Voraussetzungen, die notwendig sind, damit sich Kinder und Jugendliche zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten entwickeln, allein die Eltern bzw. die Schule rechtlich verantwortlich zu machen sind" 23 . Diese Stellungnahme kennzeichnet eine in weiten gesellschaftlichen Bereichen, insbesondere innerhalb der Jugendhilfe, gegenwärtig anzutreffende Grundstimmung; sie impliziert ein offensives Verständnis von staatlicher Leistungsverwaltung bzw. Aufgabenerfüllung im Sinne eines unabdingbaren Beitrags zu den Sozialisationsbedingungen junger Menschen. Die Argumentationsstruktur derartiger Aussagen verläuft dabei zumeist in den Bahnen eines pragmatischen Kausalitätsschemas: Wenn bzw. da - was unterstellt wird - sich die gesellschaftlichen Verhältnisse der Erziehung von Kindern und Jugendlichen ändern oder bereits gewandelt haben, die Familien/Eltern aber diesen oft negativen Realentwicklungen immer weniger gegensteuern können, ist die staatliche Gemeinschaft gleichsam als Reflex hierauf zur Erweiterung ihrer Hilfeleistungen und -angebote angehalten. Eine solche, auf den ersten Anschein, möglicherweise einleuchtende Ursache-Folge-Verkettung enthält in den Augen des Juristen einige Prämissen bezüglich des Referenzverhältnisses von Recht und Wirklichkeit, die - bevor Analyse und Folgebetrachtung anhand der geltenden Rechtslage überprüft werden können - zunächst erläuterungsbedürftig sind. Hierbei wird u.a. der als problemlos vorausgesetzte Kausalzusammenhang von Sachdaten und Rechtsregeln zu hinterfragen sein. Der Einbezug der Sozialwissenschaften in juristische Handlungsabläufe, das Verhältnis von Wirklichkeitselementen aus dem Realbereich einer Vorschrift zu deren Normtext ist in diesem Kontext ebenso von Interesse. Auf die vorliegende Fallfrage konkretisiert: Verfassunggeber und h . M . 2 4 verstehen Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG als Kontrollnorm des Elternrechts, wobei sie von den tatsächlich vorhandenen Wahrnehmungsmöglichkeiten der Freiheitsgarantie ausgehen. Was aber, wenn diese Annahme, wie die Analyse des Wirklichkeitsbereichs "Erziehung und Familie" zeigen könnte, in dieser Unbedingtheit nicht mehr zutrifft? Welchen Einfluß haben dann Veränderungen der Realdaten im Normbereich einer Vorschrift auf deren Auslegung? Angesprochen ist mithin das Problem des sog. Norm- oder Bedeutungswandels,
2 3
Exemplarisch Rummel (Anm. 3), S. 404.
2 4
S. nur Ossenbühl (Anm. 5), S. 68; Coester (Anm. 16), S. 135fT. m.w.N.
3. Kindeswohl und staatliches Wächteramt
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das, bezogen auf die hier zu erörtende Eingriffsermächtigung des Staates in Elternrechte, möglicherweise im Zuge eines Verfassungswandels zu einer leistungs- bzw. schutzpflichtrechtlichen Dimensionserweiterung von Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG fuhren könnte. Eine Vielzahl von Fragestellungen, die nunmehr der Reihe nach beantwortet werden sollen.
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ΠΙ. Wirklichkeitselemente bei der Gesetzesauslegung
I I I . Rechtsnormtheoretische und -methodische Vorüberlegungen zum Umgang mit Wirklichkeitselementen bei der Gesetzesauslegung 7. Das Sachproblem aus herkömmlicher Sicht Gewöhnlich wird vorgetragen, der Kindeswohl-Begriff, sei es auf Verfassungsebene, sei es im Rahmen seiner einfachrechtlichen Konkretisierung innerhalb der einschlägigen BGB-Vorschriften, verweise auf außerrechtliche Werte und Gesichtspunkte, allgemein auf Sachdaten aus den von den Bestimmungen jeweils intendierten Wirklichkeitsbereichen, die bei seiner Auslegung mit berücksichtigt werden müßten1. Unbestritten kann demnach der Rechtsbegriff Kindeswohl überhaupt nur "mit Leben gefüllt", d.h. für den Rechtsanwender praktikabel gemacht werden, wenn er von diesem mit Blick auf den im Einzelfall vom Normtext der zu interpretierenden Regelung angepeilten Normbereich konkretisiert wird. Diese in Rechtsprechung wie im Schrifttum zum Kindeswohl-Begriff nicht problematisierte, sondern vielmehr zwanglos eingespielte Praxis wäre nicht weiter erwähnenswert - zumal Rechtsprechung wie überhaupt jedes juristische Handeln ohne Verweis auf Wirklichkeitselemente und deren Verarbeitung schlechterdings kaum nachweisbar sein dürfte -, wenn sich damit auch das Sachproblem gleichsam von selbst erledigen würde. Das ist jedoch nicht der Fall, denn der bloß faktische theoretisch nicht reflektierte Einbezug von Realdaten bei der Auslegung von Rechtsnormen läßt die zuvor aufgeworfenen Fragen nach den Voraussetzungen und Grenzen eines - in Folge veränderter Realverhältnisse - behaupteten bzw. angestrebten Normwandels unbeantwortet. Die Kritik an den verschiedenen Spielarten des Gesetzes- oder Rechtsanwendungspositivismus war und ist zu einem Gutteil von der Suche nach einer adäquaten Beschreibung des Wirklichkeitsbezugs von Recht getragen2. Diskus1 Statt anderer Coester (Kap. I., Anm. 1), S. 162 m.w.N., der den Kindeswohl-Begriff als Öffnungsklausel für die mit ihm "in bezug genommenen Sachgebiete" versteht. 2 Dagegen konnte es sich der klassische Gesetzespositivismus aufgrund seines nahezu naturwissenschaftlichen Methodenideals - der darauf beruhenden Trennung von Sein und Sollen, von Recht und Wirklichkeit -, leisten, gesellschaftliche oder soziale Zusammenhänge auszuklammern. Deren Existenz wurde zwar nicht geleugnet, gleichwohl aber fur die Rechtswissenschaft als nicht interessierend verdrängt. Namentlich Kelsen - obgleich politisch engagiert und ein Verteidiger des Rechtsstaates auch in den sogenannten schwierigen Zeiten - interessierte sich wenig fur solche vermeintlich außeijuristischen Komponenten: "Da die Reine Rechtslehre nur eine Erkenntnis des gegebenen positiven Rechts, nicht aber eine Vorschrift für seine richtige Erzeugung ist, will sie weder eine Anweisung dafür geben, wie man gute Gesetze macht, noch auch Ratschläge erteilen, wie man aufgrund der oder im Rahmen der Gesetze gute Entscheidungen und Verfugungen treffen kann" (Juristischer Formalismus und reine Rechtslehre, in: JW 1929, 1723ff., 1726). Vgl. zu Kelsen aus dem neueren Schrifttum bspw. H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 2. Aufl., 1990; speziell zur .demokratisch-rechtsstaatlichen
1. Das Sachproblem aus herkömmlicher Sicht
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sionsgegenstand ist mittlerweile nicht mehr die Relevanz von Sachdaten bei der Gesetzesauslegung, sondern deren methodenrationale und somit nachvollziehbare Einordnung in den Entscheidungsfindungsprozeß 3. Da, wo Realdaten primär erst bei der Rechtsfolgebetrachtung ins Blickfeld des Juristen geraten, also vornehmlich im Rahmen des sog. teleologischen Auslegungsaspekts und der Erörterung von Sinn und Zweck der jeweils zu interpretierenden Vorschrift, verbleibt der zu regelnde Wirklichkeitsbereich auch in den antipositivistischen Denkansätzen im eigentlichen Sinne außeijuristisch. Passen Normtext und Sachverhaltwirklichkeit nicht (mehr) zueinander, weil das zu Ordnende über die Regelungsabsicht hinausgewachsen ist, weil - wie für Art. 6 Abs. 2 GG behauptet - der Normtext, zumindest in der bisherigen Interpretationsvariante wegen eines Normbereichswandels leerzulaufen droht, dann scheint in solchen Konstellationen der latent vorhandene Antagonismus von Recht und Wirklichkeit offen auszubrechen. Der Normtext-Sachverhalt-Dualismus 4 verliert dort seine - analytische, bei der rechtsmethodologischen Bearbeitung von Sprach- und Realdaten durchaus sinnvolle - Berechtigung, wo er auf der rechtsnormtheoretischen Ebene zu einer Aufrechterhaltung der oft ontologisierenden Sichtweise "des" Rechts und seines angeblichen Widerparts "der" Wirklichkeit beiträgt. Sicher ist hierin einer der Gründe zu sehen, die es bislang schwer machen, zu einem produktiven Miteinander von Rechts- und Sozialwissenschaften zu gelangen5. Das ist umso bedauerlicher, als gerade im Wege einer solchen Zusammenarbeit die
Tradition in Kelsens Denken: Günther, Hans Kelsen (1881 - 1973). Das nüchterne Pathos der Demokratie, in: Kritische Justiz - Redaktion (Hrsg.), Streitbare Juristen, 1988, S. 367ff. Einen guten Überblick zum Positivismus der Normbehandlung, insbesondere im Staatsrecht gibt der Reader von H.J. Koch (Hrsg.), Seminar: Die juristische Methode im Staatsrecht - Über Grenzen von Verfassungs- und Gesetzesbindung, 1977, v.a. S. 6Iff., 8Iff.; zur legitimistischen Dimension des Positivismus sei verwiesen auf Blühdorn/Ritter (Hrsg.), Positivismus im 19. Jahrhundert, 1971 oder auf v. Oertzen, Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus, 1974. Eine Einfuhrung zum Begriff und den verschiedenen Bedeutungsvarianten findet sich bei F. Müller, Art. Positivismus, in: Achterberg (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts, 1986 m.w.N. auf weiterfuhrende sachspezifische Literatur. 3 Statt vieler Gusy, "Wirklichkeit" in der Rechtsdogmatik, in: JZ 1991, 213ff., 214: "Im Streit ist zwar nicht das 'ob', wohl aber das 'wie' jener Einbeziehung von Wirklichkeit". 4 S. dazu Jeand'Heur, keit, 1989, S. 18ff., 85ff.
Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätig-
5 Die in den vergangenen Jahren verstärkt geführte Diskussion ist in letzter Zeit etwas verstummt. Vgl. hierzu etwa Büllesbach, Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft, in: Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einfuhrung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 5. Aufl. 1989, S. 392ff.; Hofimann-Riem, Sozialwissenschaftlich orientierte Rechtsanwendung in öffentlich-rechtlichen Übungs- und Prüfungsarbeiten. Vorüberlegungen und praktische Hinweise, in: ders. (Hrsg.), Sozialwissenschaften im Öffentlichen Recht, 1981, S.3ff.; Hopt, Was ist von den Sozialwissenschaften für die Rechtsanwendung zu erwarten?, in: JZ 1975, 341ff.; H.-W. Schünemann, Sozialwissenschaften und Jurisprudenz, 1976.
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ΠΙ. Wirklichkeitselemente bei der Gesetzesauslegung
Anforderungen an ein soziale Realitäten angemessener berücksichtigendes Rechtshandeln benannt werden könnten6. Während die Rechtspolitik auf gewandelte Realverhältnisse prinzipiell adäquat durch Änderung/Anpassung der Gesetzeslage zu reagieren vermag 7, ist de lege lata im Rahmen des geltenden Rechts eine derart vergleichbar einfache Lösung nicht möglich. Schon der Einbezug des unter Zuhilfenahme der Sozialwissenschaften gewonnenen empirischen Datenmaterials muß (unabhängig, ob damit ein Normwandel nachgewiesen werden kann/soll oder nicht) dem aus dem Rechtsstaatprinzip folgenden Rationalitäts- und Transparenzgebot juristischen Handelns genügen, eine strukturierte Aufnahme innerhalb des Entscheidungsprozesses finden, da nur so "ein Gewinn an analytischer Erkenntnis und entscheidungsorientierten Lösungsansätzen (...) zu erwarten (ist)". Andernfalls "wäre der Zugriff auf Sozialwissenschaften folgenlos oder doch wissenschaftlich unverantwortlich, wenn es nur um das Aufsuchen von 1 Versatzstücken' der Argumentation ginge"8, die möglicherweise sogar gegen andere, aus z.B. der Bearbeitung des Normtextes abgeleitete, Ergebnisse vorschnell stark gemacht werden. Solange Daten aus dem Wirklichkeitsbereich der Vorschrift den Normprogrammvorgaben nicht entgegenstehen, mag deren unstrukturierter Einbezug in den Auslegungsvorgang folgenlos bleiben; widersprechen sich jedoch, aus welchen Gründen auch immer, Normgehalt und Sachverhaltswirklichkeit, wird die Frage nach Stellenwert wie Rangverhältnis der jeweiligen Konkretisierungselemente zueinander höchst aktuell. Die Relation Rechtswissenschaft-Sozialwissenschaften verlagert sich dann auf die rechtsmethodische Problemschiene der korrekten Zuordnung von Sprach- und Realdaten bei der
6 S. z.B. zur Ersetzbarkeit und Nutzbarmachung von Sachdaten bei der Rechtsauslegung: Hoffmann-Riem (Anm. 5), S. 18, 21 u.ö.; Hopt (Anm. 5), S. 342ff. oder Büllesbach (Anm. 5), S. 394, 399. Diese Problematik wird besonders dann aktuell, wenn normative Zielvorgaben mit veränderten Realitätsbedingungen konfrontiert werden, wie Hoffmann-Riem, ebd., S. 35ff. und H.-W.Schünemann (Anm. 5), S. 122ff. zeigen. Zu den unberechtigten Befürchtungen, der Einbezug von Sozialwissenschaften könnte die Entscheidungskompetenz des Juristen auf nicht Berufene verlagern: H.-W. Sc hünemann, ebd., S. 134ff. 7 Hier kommt der Rechtstatsachenforschung eine wichtige Aufklärungsfunktion zu. Vgl. zur Begriffsgeschichte von "Rechtstatsachenforschung" sowie zu einigen Beispielen vor allem aus dem Zivilrecht: S trempe l, Empirische Rechtsforschung, Entwicklung und Beitrag für die Rechtspolitik, in: Brado u.a. (Hrsg.), Festschrift für Wassermann, 1985, S. 223ff.: "Im Rahmen der Gesetzgebung ist ein Minimum an Ergebnissen empirischer Rechtsforschung, insbesondere bei der Gesetzesvorbereitung, aber auch bei der Gesetzesnachbereitung, interessant: - Zur Feststellung der sozialen Wirklichkeit als Regelungshintergrund eines Gesetzentwurfs (Orientierungs- und Informationsforschung), - Zur Kontrolle des Vollzugs des erlassenen Gesetzes (Wirkungs- oder Evaluationsforschung)". Zur Vielfalt der Aufgabenstellungen insgesamt vgl. etwa die Einzelbeiträge in: W. Heinz (Hrsg.), Rechtstatsachenforschung heute, 1986. 8 Hoffmann-Riem (Anm. 5), S. 15; s. dort (S. 2Iff.) auch die Hinweise zum im Einzelfall problemangemessenen Umgang mit unterschiedlichen, z.T. durch konträre sozialwissenschaftliche Herangehensweisen produzierte Daten.
2. Der Neuansatz der Strukturierenden Rechtslehre
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Gesetzesinterpretation. Darauf soll nachfolgend etwas genauer eingegangen werden, da die oben erwähnte Kritik an der herkömmlichen Auslegungspraxis des Art. 6 Abs. 2 GG ein Mißverhältnis von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit bemängelt.
2. Der Neuansatz der Strukturierenden
Rechtslehre
Im Unterschied zu dieser Auffassung, die die Rechtsnorm des Art. 6 Abs. 2 GG mit ihrem Normtext gleich- und infolgedessen den von ihr herangezogenen Sachdaten aus dem Wirklichkeitsbereich entgegensetzt, weicht die vorliegende Studie von diesem gängigen Denkmuster ab und versucht, das Verhältnis von Recht und Wirklichkeit auf eine neue Grundlage zu stellen, welche es erlaubt, Realitätsausschnitte zu Bestandteilen der Rechtsnorm selbst zu machen. Die Arbeit folgt insoweit den in der juristischen Diskussion unter dem Begriff Strukturierende Rechtslehre geführten Theorieansätzen in der Hoffnung, damit zu einem realitätskonformeren, gleichwohl methodisch wie rechtsnormtheoretisch vertretbaren Verständnis des Normativgehaltes von Art. 6 Abs. 2 GG zu gelangen9. Zu diesem Zweck ist es notwendig, die Kernsätze der Strukturierenden Rechtslehre zu skizzieren, wobei mit der Drehung des Blickwinkels auf den Untersuchungsgegenstand "Recht, rechtliches Handeln, Gesetzesauslegung" begonnen werden darf: nicht mehr die Rechtsnorm, welche rechtspositivistisch dem Juristen als quasi anwendungsbereit vorgegeben gedacht war, tritt in den Mittelpunkt des Interesses, sondern der Entscheidungsträger selbst, der normtextorientiert arbeitende Jurist, der Recht und Normativität durch sein Handeln 9 Das ursprünglich von F. Müller erarbeitete Normkonzept der Strukturierenden Rechtslehre und die darauf basierende Methodik der Entscheidungsfindung, blickt auf eine nunmehr gut zwanzigjährige Analyse der Verfassungsrechtsprechung zurück; vgl. dazu F. Müller, Normstruktur und Normativität, 1966; dens., Strukturierende Rechtslehre, 1984, S. 114ff.; s. ferner Christensen, Art. Strukturierende Rechtslehre, in: Achterberg (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts, 1987 oder Jeand'Heur, Gemeinsame Probleme der Sprach- und Rechtswissenschaft aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre, in: F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 17ff. Zur Diskussion vgl. z.B. die zahlreichen Literaturnachweise bei F. Müller, Juristische Methodik, 4. Aufl. 1990, S. 141 F N 250. Eine Auseinandersetzung mit einzelnen Gegenpositionen kann hier nicht erfolgen; s. aber zur Kritik Schlink, Juristische Methodik zwischen Verfassungstheorie und Wissenschaftstheorie, in: Rechtstheorie 1976, 94ff.; Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 63 ff.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, § 17, 2b sowie jüngst, vor allem zu den rechtslinguistischen Erweiterungen der Strukturierenden Rechtslehre: Koch, Neues aus der Müller-Schule, in: ARSP 1991, 547ff. Die Strukturierende Rechtslehre bietet ein Erklärungsmodell rechtspraktischer Entscheidungsabläufe an, das nicht mit einem Ausschließlichkeits- bzw. Absolutheitsanspruch hochgehalten werden sollte. Es ist so ergänzungsbedürftig und verbesserungswürdig wie jedes andere, weil und insoweit es sich immer erst in praxi bewähren muß. Die Entscheidung für die eine oder andere Sichtweise auf rechtliches Handeln trägt daher stets auch voluntative Züge. Das einzugestehen fördert nicht den Relativismus, sondern allenfalls die Redlichkeit im Rechtsdiskurs.
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überhaupt erst erzeugt. Betrachtet man hierbei die entscheidungstragende Rolle, die Wirklichkeitselemente innerhalb der Verfassungsrechtsprechung jeweils einnehmen10, so stellt sich rechtliches Handeln wesentlich komplizierter dar, als es die Identifizierung der Norm mit ihrem Normtext vermuten läßt. Der Normtext fungiert für Müller in erster Linie als sprachliches Eingangsdatum des Entscheidungsvorgangs. Er hat nur Zeichenwert, enthält keine fertigen, gleichsam anwendungsbereiten juristischen Begriffe, sondern vielmehr Sprachdaten, die auf ihre jeweilige Gebrauchsweise hin untersucht werden müssen. Aus deren methodischer Verarbeitung, z.B. unter Zuhilfenahme der klassischen Auslegungskanones, entwirft der Jurist das Normprogramm (den normativen Gehalt, die Regelungsabsicht der Vorschrift), mit dessen Hilfe er die Teilmenge der empirischen Fakten auswählt, welche den Normbereich bilden als Ausschnitt deijenigen Realdaten, denen normative Bedeutung zukommt11. Erst auf dieser Stufe des Konkretisierungsvorgangs kann der juristische Entscheidungsträger die Rechtsnorm, bestehend aus Normprogramm und Normbereich, erzeugen; erst jetzt kann im Wege der sogenannten Subsumtion die individualisierte Entscheidungsnorm aus der Rechtsnorm entwickelt und damit der Fall gelöst werden. Auf den Punkt gebracht: die Rechtsnorm ist dem Juristen nicht schon zur Anwendung vorgegeben, begrifflich abgesteckt, sondern wird durch ihn erst hergestellt 12. Der Gesetzgeber verkündet demnach keine Rechts10 s. die Nachweise bei F. Müller 1984 (Anm. 9), S. 114ff. sowie dems. 1990, (Anm. 9), S. 40ff. Danach verwendet die Grundrechtsjudikatur in hohem Maße auch solche Auslegungselemente, die nicht ausschließlich aus der Normtextbehandlung, also unter alleiniger Zuhilfenahme der klassischen Interpretationsmethoden rekrutiert werden, sondern unter Rückgriff auf, von einem strengen Gesetzespositivismus eigentlich als "außeijuristisch" apostrophierte, Sachgesichtspunkte aus dem zu regelnden Wirklichkeitsbereich. Die Rechtsprechung behandelt Grundrechte in diesem Sinne als Vorschriften mit besonders stark sachbestimmtem Charakter, so daß der die Grundrechtsnorm fundierende Realbereich (unbewußt) als Teil der Norm selbst behandelt wird. 11
F. Müller 1984 (Anm. 9), S. 230ff., dort auch zur Terminologie von "Normprogramm" (S. 184ff., 370f.) und "Normbereich" (S. 184ff., 323ff.). 1 2 Diese schöpferische Komponente des juristischen Entscheidungsvorgangs (dazu gleich im Text) wird von Alexy (Anm. 9), S. 68 nicht hinreichend gewürdigt, wenn er Müller entgegenhält, "dem Ideal der Rechtsstaatlichkeit dürfte eine klare Trennung zwischen dem, was ein Gesetzgeber als Norm gesetzt hat (!) und dem, was ein Interpret an Gründen für eine bestimmte Interpretation vorträgt, mehr dienen als eine durch eine Definition des Begriffs der Norm hergestellte Gesetzestreue". Alexys Kritik richtet sich im wesentlichen "gegen den Vorschlag, Argumente deshalb, weil sie für die Entscheidungsbegründung notwendig sind, in den Begriff der Norm aufzunehmen" (S. 66), denn es gelte nämlich nicht, "daß alles, was normativ bedeutsam ist, eine Rechtsnorm oder deren Teil ist" (S. 67). Dieser Vorhalt geht am Problemkern vorbei, insofern er das Müller'sehe Rechtsnormkonzept unter Zugrundelegung traditioneller Denkmuster angreift: zunächst wird eine vorhandene, von der Legislative verabschiedete Norm vorausgesetzt, woraufhin gefragt werden kann, welche Bestandteile ihr zugeschrieben werden sollen bzw. zu deren argumentativen Legitimierung herangezogen werden dürfen. Streng genommen vermischt diese Aufgabenstellung Probleme der Rechtsnormtheorie mit Fragen der rechtsmethodischen Anbindung und Rückführbarkeit von Konkretisierungsgesichtspunkten auf den den Einzelfall "regierenden" jeweiligen Normtext. Alexy beschäftigt sich vor allem mit der normativen Qualität bzw. Relevanz von Argumentationsmustern und/oder Einzelaspekten im Vorgang der Entscheidungsfindung, speziell deren Relation und Nähe zum Normtext. Mit dieser Problematik setzt sich auch
2. Der Neuansatz der Strukturierenden Rechtslehre
31
normen, er verabschiedet "lediglich" Gesetzestexte, die der praktisch tätige Jurist, z.B. der Richter, aufgreift, indem er sie zu einer Rechtsregel konkretisiert. Normtexte einerseits und Sachverhaltstatsachen andererseits bilden demnach die starting points des Entscheidungsprozesses. Beide Elemente stehen sich nicht wie "Recht" und "Wirklichkeit" unüberbrückbar gegenüber, sondern verkörpern als normative Anordnung bzw. als das zu Ordnende zwei gleichgewichtige Teilbereiche der Norm, die im Entscheidungsvorgang zwar relativ selbständige, nebeneinander wirksame Elemente darstellen, welche jedoch als Normbestandteile im Konkretisierungsergebnis zusammenfinden. Was nämlich "rechtlich normativ wirkt, ergibt sich im Einzelfall durch ein nicht erst nachträgliches, sondern von Anfang an sachlich unvermeidliches Zusammenspiel von Gesichtspunkten, die in der herkömmlichen Rechtstheorie als abstrakte Größen mit Ausdrücken wie 'Norm' und 'Tatsachen1, isoliert und erst anschließend in ein dann ebenfalls abstraktes Verhältnis gesetzt werden" 13. Statt dessen zeigt der Vorgang der tatsächlichen Konkretisierungsleistung des Juri* sten, daß das, was mit dem Terminus Rechtsnorm bezeichnet wird, nicht länger auf die im Gesetz enthaltenen Sprachzeichen reduziert werden kann, sondern eher charakterisiert werden mag, als "verbindliches Modell sachlich be* stimmter, in dieser Bestimmtheit aber nicht aufgehende(r) Ordnung, als sachgeprägtes Ordnungsmodell ". Dieses muß jeweils dechiffriert und methodisch verarbeitet werden, um auf solche Weise zu einer rationalen nachprüfbaren Entscheidung zu gelangen. Bei den solcherart in die Entscheidungskonstitution einbezogenen Sprachund Realdaten handelt es sich nicht um fertige vorfindbare Größen, da zum einen der Normtext nicht schon eine abstrakte normative Anweisung beinhaltet, der Normbereich zum andern nicht einfach dem Juristen vorgegeben ist. Es ist statt dessen die konstruktive Leistung des Recht Sprechenden, der den Normtext bearbeitet und unter Ausnutzung verschiedener Konkretisierungselemente das Normprogramm entwirft sowie aus dem Sach- bzw. Fallbereich der möglichen Realdaten diejenigen Fakten auswählt, die normativ relevant werden sollen und aus denen er den vom Normprogramm zu regelnden Normbereich konstruiert; es ist also die Leistung des Juristen selbst, die letztendlich jede Fallentscheidung ermöglicht. Er stößt dabei nicht - wie häufig unterstellt wird - auf "die" (außerrechtliche) Wirklichkeit, die als mehr oder minder diffuse Totalität bei der Rechtsanwendung "in eine nachträgliche Beziehung zur Müller auseinander; jedoch erst an zweiter Stelle im Rahmen rechtsmethodischer Studien. Ausgangspunkt, weil rechtsnormtheoretische Basis jener entscheidungspraktischen Überlegungen ist allerdings die Nicht-Identitat von Norm und Normtext sowie die daraus folgenden (im Anschluß zu erläuternden) Implikationen der von Müller so betitelten Rechtserzeugungslehre. 13 F. Müller 1984 (Anm. 9), S. 230f.; dort auch das folgende Zitat. S. dazu ferner dens., 'Richterrecht', Elemente einer Verfassungstheorie I V , 1986, S. 44f.
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ΠΙ. Wirklichkeitselemente bei der Gesetzesauslegung
(realitätslos, nur als Normtext gesehenen) Norm gesetzt" werden soll 14 . Genauso wie die Sprachdaten des Normtextes nämlich interpretiert werden müssen, muß die Wirklichkeit erst zum Sachverhalt entworfen und damit entscheidungspraktisch handhabbar gemacht werden. Die dem Juristen in der Anfangsphase des Entscheidungsvorganges zur Verfügung stehenden Sachdaten sind nicht abrufbar vorgegeben, einfach in die Konkretisierungstätigkeit einfügbar, sondern selbst jeweils nur Produkt unterschiedlicher Fallerzählungen, Wertungen etc., kurz: sie müssen zunächst auf ihre Tauglichkeit zur Sachverhaltskonstruktion untersucht werden 15. Hierbei stellt sich nun wieder, allerdings auf normtheoretisch und rechtsmethodisch neuer Weise, die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen des* Einbezugs von Wirklichkeitselementen bei der Rechtsfindung und damit das Problem des Eintritts der Sozialwissenschaften in juristische Diskurszusammenhänge. Welche Realdaten können wie die Entscheidungsnorm mittragen? Rechtliches Handeln zeichnet sich gegenüber anderem sozialen Verhalten durch die Orientierung an spezifischen rechtsstaatlich gewünschten wie verbindlichen Spielregeln, besonders des Verfassungsrechts 16, aus. Unsere Rechtsordnung räumt beispielsweise Normtexten eine besondere, anderen Texten (der Literatur, Wissenschaft usw.) nicht eigene, Autorität ein, da jeder Rechtsakt in nachvollziehbarer Weise auf Normtexte rückführbar sein muß. Relevant für die Entscheidungsfindung und Bestandteil der Rechtsnorm können demnach lediglich solche Wirklichkeitselemente werden, die im Normtext entweder direkt angesprochen sind oder bei der Bildung des Normprogramms aus den jeweiligen Sprachdaten hervorgehen, indem sie Referenzobjekte im Normbereich bezeichnen17. Hervorzuheben, und auch in vorliegendem Zusam14 So die Kritik bei F. Müller 1984 (Anm. 9), S. 39, der zu Recht feststellt, es gehe hierbei bestenfalls darum, "auch 'die' Realität zu berücksichtigen". Gusy (Anm. 3), S. 214 kritisiert ebenfalls die im Rechtsdenken latent vorhandene "Diffusität derjenigen Phänomene, welche unter dem Stichwort 'Wirklichkeit' zusammengefaßt werden können". 15 Vgl. zum Begriff der Sachverhaltenkonstruktion auch Hassemer, Tatbestand und Typus, 1968, S. 103f.: "Wie ein Lebensvorgang zu einem Sachverhalt wird, wie sich Sachverhaltsteile aufzeigen lassen, wie diese Sachverhaltsteile zu Sachverhaltsmerkmalen werden, richtet sich nur nach dem Tatbestand und seinen Merkmalen. Erst wenn eine Norm gefunden ist, welche auf einen Lebensvorgang angewendet werden soll, kann der Auslegende darpri gehen, den Sachverhalt zu konstruieren". Siehe zur in diesem Kontext diskutierten Problematik der "Konstitution eines Rechtsfalles" und evtl. hierbei zu berücksichtigender Wirklichkeitsmodelle: Rottleuthner, Hermeneutik und Jurisprudenz, in: H.J. Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 1976, S. 7ff., 43 oder Kallmeyer, Mündliche Kommunikation vor Gericht, in: Recht und Sprache (hrsg. von der Bundeszentrale für Politische Bildung), 1983, S. 139ff., 146ff. 1 6 1 7
Dazu Jeand'Heur
(Anm. 4), S. 12ff.
Nach F. Müller 1984 (Anm. 9), S. 251ff., 255ff. lassen sich die einzelnen zu diesem Ergebnis führenden Konkretisierungsschritte wie folgt darstellen: Anknüpfungspunkte und Arbeitsmaterialien juristischer Funktionsträger sind - das wurde bereits ausgeführt - zu Beginn des Auslegungsvorgangs Realdaten aus der zum Sachverhalt formulierten Fallerzählung sowie die dazu möglicherweise einschlägigen Normtexte. Die "Einschlägigkeit" dieser Normtexte bemißt sich jeweils danach, ob deren "Sachbereich" als "die Menge aller Sachaspekte (Realdaten), die nach
2. Der Neuansatz der Strukturierenden Rechtslehre
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menhang wichtig, ist insbesondere, daß der durch Realdaten konstituierte Normbereich als Bestandteil der Rechtsnorm erst durch das sprachlich vermittelte Normprogramm seine Konturen und damit eine (rechts) kommunikative Relevanz erhält. Vor dem Hintergrund dieses normstrukturierenden Ansatzes können der Einbezug, Stellenwert und die Auswertung empirischer Daten bei der Interpretation von Art. 6 Abs. 2 GG und den daraus folgenden Aufgaben wie Befugnissen aus dem staatlichen Wächteramt besser beantwortet werden. Während ansonsten häufig die Gefahr besteht, Realdaten unreflektiert, beliebig je nach (rechts)politischem Standpunkt, Zweckmäßigkeitserwägungen, Folgeprognosen oder vermeintlichen Vernünftigkeitsaspekten der Textinterpretation unterzuschieben, verspricht das strukturierende Norm- bzw. Methodenmodell einen differenzierteren Umgang mit Wirklichkeitselementen, was vor allem bei der Lösung von Problemen des Norm-/Verfassungswandels erkennbar werden dürfte (s.u. Kap. VI.). Nach diesen rechtsnormtheoretischen und -methodischen Vorabklärungen ist es nunmehr möglich, den weiteren Gang der Untersuchung zu ordnen. An erster Stelle sind die im Rahmen von Art. 6 Abs. 2 GG normativ relevanten Sachdaten im Wege einer Normbereichsanalyse zu ermitteln. Nur falls der oben geltend gemachte soziale Wandel Sozialisationsbedingungen Mindeijähriger, nämlich Normbereichselemente von Art. 6 Abs. 2 GG betrifft, wäre im Anschluß daran zu fragen, inwieweit Veränderungen im Realbereich Auswirkungen auf das Normprogramm, also den normativen Gehalt der Vorschrift, haben können. Dagegen dürfen alle übrigen Sachdaten, weil nicht Bestandteil der Rechtsnorm, unberücksichtigt bleiben.
Kenntnis und Meinung des entscheidenden Juristen" mit den als relevant unterstellten Rechtsnormen in Beziehung stehen können, zumindest im Sinne einer ersten Materialsammlung entscheidungserheblich werden kann. Da die Sachbereiche jedoch gewöhnlich zu umfassend sind und über den zu regelnden Sachverhalt hinausreichen, wählt der Jurist in einem zweiten Schritt diejenigen Fakten aus dem Sachbereich aus, die er aufgrund der anstehenden Sachverhaltsfragen und im Sinne eines ersten Vorverständnisses der Verwendungsweise der im Normtext enthaltenen Sprachausdrücke für besonders relevant hält. Ähnlich übrigens auch Gusy (Anm. 3), S. 220, der betont "die Bestimmung des maßgeblichen Realitätsausschnitts" habe "vom Recht her" zu erfolgen. Müller unterscheidet weiter zwischen Sach- und Fallbereich der bearbeiteten Vorschrift, wobei der letztere aus dem ersteren abgeleitet wird. Der Fallbereich "bildet gegenüber der größeren und unbestimmteren Faktenmenge aus dem Sachbereich den fallbezogenen Filter, der eine sonst übergroße Komplexität auf arbeitstechnisch wünschenswerte Art einschränkt" (S. 256). Aus dem Fallbereich wird schließlich mit Hilfe des aus der Bearbeitung des Normtextes gewonnenen Normprogramms der Normbereich, schließlich die Rechtsnorm sowie die individuelle Entscheidungsnorm entwickelt. 3 Jeand' Heur
I V . Relevante Realdaten in bezug auf Art. 6 Abs. 2 GG
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I V . Welche Wirklichkeitselemente sind bei der Interpretation von Art. 6 Abs. 2 GG normativ relevant? Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG überträgt die Kontrollkompetenz hinsichtlich der gem. Satz 1 der Vorschrift gewährleisteten Freiheitsgarantie auf die staatliche Gemeinschaft. Der Staat soll über eine pflichtgemäße Ausübung des Elternrechts wachen. Das Normprogramm von Art. 6 Abs. 2 S. 1 und 2 GG erklärt in diesem Sinne die "Pflege und Erziehung der Kinder" zum zentralen Rechtsgut der Gesamtregelung, wobei den Eltern zwar im Wege des Abwehrrechts gegen staatliche Zugriffe eine Vorzugstellung eingeräumt wird - sie sind "zuvörderst" berechtigt, aber auch verpflichtet -, der Staat jedoch zum Wohle des Kindes bzw. zur Abwehr von Gefahrdungen tätig werden darf und muß. Bevor über die der staatlichen Gemeinschaft hierbei zustehenden Einzelbefugnisse eine Aussage getroffen werden kann, muß vorab die sachliche Reichweite der Normtextvorgaben, deren Referenzpotential im Wirklichkeitsbereich der Vorschrift bestimmt werden. Legt man dabei den oben skizzierten Vorschlag der Differenzierung zwischen normativ relevanten bzw. irrelevanten Realdaten zugrunde, könnte man etwa folgendermaßen argumentieren: Erste, noch unspezifische Überlegungen würden alle mit den Sprachdaten "Pflege- und Erziehung von Kindern" im weitesten Sinne korrespondierenden Sachelemente in Verbindung bringen. Einem derart vorläufigen Verständnis der im Normtext verwendeten Begriffe unterfallen alle - wie das Bundesverfassungsgericht erläutert 1 Sachgegebenheiten, die Einfluß auf das Kind als "ein(em) Wesen mit eigener Menschenwürde und dem eigenen Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit" haben, also sämtliche denkbaren Realbedingungen, die auf die Persönlichkeitsentwicklung einzuwirken vermögen. Um der Komplexität dieser weiten Begriffsbeschreibung entgegenzuwirken, ist eine fallbezogene Eingrenzung vorzunehmen. 1. Abgrenzung der sachlichen Reichweite zu Art. 7 Abs. 1 GG Der Normtext von Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG deutet bereits auf eine arbeitstechnische Einschränkung hin, indem er lediglich das elterliche Erziehungsrecht zum Regelungsobjekt erwählt. Demnach können bei der Konkretisierung von Art. 6 Abs. 2 GG, das zeigt der systematische Vergleich zu Art. 7 GG, die für die Erziehung sowie Entwicklung von Kindern zweifellos ebenfalls wichtigen Realdaten aus dem Wirklichkeitsbereich Schule unberücksichtigt bleiben. Obgleich der für das Schulwesen verantwortliche Staat2 elterliche 1 2
Z.B. BVerfGE 24, 119, 144
Auf die Bestimmungen zum Privatschulrecht, nach denen im übrigen der Staat nur in sehr eingeschränktem und modifiziertem Umfang berechtigt und verpflichtet ist, Aufsichtsfunktionen wahrzunehmen, muß vorliegend nicht eingegangen werden.
2. Rechtssystematisches Verhältnis zu Art. 6 Abs. 1 GG
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Mitwirkungsbefugnisse bzw. Beteiligungsrechte nicht nur dulden, sondern normativ ausgestalten muß3, das elterliche Erziehungsrecht vor dem Schulhof eben nicht haltmacht4, vielmehr in gewisser Weise in das Klassenzimmer hineinwirkt, wird es dort von der schulischen Erziehungsverantwortung begrenzt5. Art. 7 Abs. 1 GG enthält insofern keine staatliche Eingriffslegitimation in das Elternrecht, sondern ist Ausdruck der von der Verfassung dem Staat übertragenen Hoheitsrechte im Bereich der schulischen Ausbildung. Hier und nur auf diesem Sektor nimmt der Staat eigene Befugnisse in der Sozialisation Jugendlicher wahr, welche ihm in anderen (primär familiären) Bereichen versagt sind. Anders formuliert: die Einräumung des staatlichen Wächteramtes macht nur hinsichtlich der Kontrollfunktion elterlicher Erziehungsrechte Sinn, während die staatliche Gemeinschaft auf dem Schulsektor davon verschiedene, nämlich weitergehende Pflichten und Kompetenzen auszuüben hat. Hier erwächst dem Staat qua Schulhoheit neben, aber anders als in Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG, ein eigenständiger Erziehungsauftrag, der "in seinem Bereich dem elterlichen Erziehungsrecht nicht nach - sondern gleichgeordnet ist"6. Mithin nehmen die Normprogramme von Art. 6 Abs. 2 bzw. Art. 7 Abs. 1 GG auf jeweils unterschiedliche Normbereiche Bezug. Sachdaten aus dem Wirklichkeitsbereich Schule können demnach im vorliegenden Zusammenhang unberücksichtigt bleiben, es sei denn sie betreffen Fragen des teilweise in die staatliche Schulhoheit hineinwirkenden elterlichen Erziehungsrechts, so daß im Einzelfall eine Überschneidung der grundsätzlich spezifischen Regelungsbereiche feststellbar wäre.
2. Rechtssystematisches
Verhältnis
zu Art. 6 Abs. 1 GG
Die in Relation zur Gesamtnorm des Art. 6 GG vorzunehmende grammatisch-systematische Interpretation von Art. 6 Abs. 2 GG ermöglicht schließlich eine weitere normprogrammatische Herauskristallisierung der im Rahmen von Abs. 2 normativ relevanten Realdaten. Abs. 1 der Vorschrift stellt "Ehe und 3
S. z.B. Heckel/Avenarius,
Schulrechtskunde, 6. Aufl., 1986, S. 92ff.
4
Vgl. nur Fehnemann, Das elterliche Erziehungsrecht in der Schule - Reichweite und Abgrenzungsproblematik, in: Hepp (Hrsg.), Eltern als Partner und Mit-Erzieher in der Schule Wege und Möglichkeiten einer pädagogischen Kooperation, 1990, S. 20ff.. Zur (damit zusammenhängend) viel diskutierten Problematik des Sexualkundeunterrichts: BVerfGE 47, 46ff.; BVerwGE 47, 194ff.; 57, 360ff. Evers, Die Befugnis des Staates zur Festlegung von Erziehungszielen in der pluralistischen Gesellschaft, 1979, S. 115ff. bzw. v. Martial , Sexualerziehung in der Schule und Elternrecht, 1990. 5 Im einzelnen Fehnemann (Anm. 4), S. 26ff; zur Gesamtproblematik Schlie, Elterliches Erziehungsrecht und staatliche Schulaufsicht im Grundgesetz. Ein Beitrag zum Verhältnis elterlicher und staatlicher Verwantwortung für das Kind und die Gemeinschaft, 1986. 6 BVerfGE 34, 165, 183 - hess. Förderstufe; s. zur Problematik Heckel/Avenarius S. 303 mit zahlreichen Nachweisen auf Rechtsprechung und Schrifttum.
(Anm. 3),
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I V . Relevante Realdaten in bezug auf Art. 6 Abs. 2 GG
Familie" unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Abgesehen von den aus dieser Garantie fließenden, zumeist einfachrechtlich (beispielsweise im Familien-, Renten- oder Steuerrecht, oder aber auch im strafprozessualen Zeugnisverweigerungsrecht) konkretisierten Schutz- und Vorzugsrechten, überspannt Abs. 1 sozusagen als Grund- oder Eingangsnorm des Art. 6 GG dessen Gesamtregelung und prägt die Auslegung der jeweiligen Einzelbestimmungen in den Absätzen 2 bis 5 7 . Der Verfassunggeber hatte bei Abfassung von Abs. 2 den "normalen" Fall des innerhalb einer Familie, genauer: der ehelichen Gemeinschaft aufwachsenden Kindes vor Augen8. Das zeigt zum einen die später eingefügte Spezialvorschrift des Abs. 5, welche den nichtehelichen Kindern die Gleichstellung mit ihren ehelichen Altersgenossen garantiert. Das zeigt ferner Abs. 3, wonach die bei elterlichem Erziehungsversagen eventuell gebotene Trennung gefährdeter Kinder von der "Familie" begründet ist. Ehe und Familie sind nach allem nicht nur in der sozialen Realität, sondern auch innerhalb der Normtexte der vorgegebenen Verfassungsordnung die Orte, in welchen das Elternrecht bzw. die Erziehung Mindeijähriger in den Augen des Verfassunggebers hauptsächlich stattfinden und ausgeübt werden soll9. Alle Renate, Individualisierung und Pluralisierung familialer Lebensformen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte - Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Β 13/1988, S. 14ff. Bertram, H&ns/Darmenbeck, G., Zur Theorie und Empirie regionaler Disparitäten Pluralisierung von Lebenslagen und Individualisierung von Lebensführungen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Berger, P.L./Hradiel, S. (Hrsg.), Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile, Sonderband 7 der "Sozialen Welt", 1990 Birk, Kommentierung zu Art. 104a und 106, in: AK-Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl. 1989 Blankenagel, Alexander, Wissenschaft und Forschung zwischen Freiheit und Verantwortung: Gentechnologie und Wissenschaftsfreiheit, in: Däubler-Gmelin/Adlerstein (Hrsg.), Menschengerecht - Arbeitswelt - Genforschung - Neue Technik - Lebensformen - Staatsgewalt - 6. Rechtspolitischer Kongreß der SPD vom 20.- 22. Juni 1986 in Essen, 1986, S. 122ff. Blühdorn, Jürgen/Ritter,
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