Der Alt-Bundestag: Die Rechte des Bundestages in dem Zeitraum zwischen Wahl und Zusammentritt des neugewählten Bundestages [1 ed.] 9783428507351, 9783428107353

Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet die Auseinandersetzung um die Rechtsstellung des sog. Alt-Bundestages, insbeso

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German Pages 211 Year 2002

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Der Alt-Bundestag: Die Rechte des Bundestages in dem Zeitraum zwischen Wahl und Zusammentritt des neugewählten Bundestages [1 ed.]
 9783428507351, 9783428107353

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Beiträge zum Parlamentsrecht

Band 54

Der Alt-Bundestag Die Rechte des Bundestages in dem Zeitraum zwischen Wahl und Zusammentritt des neugewählten Bundestages Von

Albrecht Kochsiek

Duncker & Humblot · Berlin

ALB RECHT KOCHSlEK

Der Alt-Bundestag

Beiträge zum Parlamentsrecht Herausgegeben von Ulrich Karpen, Heinrich Oberreuter, Wolfgang Zeh in Verbindung mit Peter Badura, Wolfgang Heyde, Joachim Linck Georg-Bemdt Oschatz, Hans-Peter Schneider UweThaysen

Band 54

Der Alt-Bundestag Die Rechte des Bundestages in dem Zeitraum zwischen Wahl und Zusammentritt des neugewählten Bundestages

Von

Albrecht Kochsiek

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Kochsiek, Albrecht: Der Alt-Bundestag: die Rechte des Bundestages in dem Zeitraum zwischen Wahl und Zusammentritt des neugewählten Bundestages I Albrecht Kochsiek. - Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Beiträge zum Parlamentsrecht ; Bd. 54) Zug\.: Kiel, Univ., Diss., 2001 ISBN 3-428-10735-7

Alle Rechte vorbehalten

© 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6674 ISBN 3-428-10735-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2001 von der Juristischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Dissertation angenommen. Sie befindet sich auf dem Stand vom Januar 2001. Das Thema geht auf einen Vorschlag von Herrn Bundesjustizminister a. D. Professor Dr. Edzard Schmidt-Jortzig MdB zurück. Ihm möchte ich nicht nur für die wissenschaftliche Betreuung sondern vor allem dafür danken, daß er trotz der Arbeitsbelastung auf Grund seiner Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag das Erstgutachten in außerordentlich kurzer Zeit erstellt hat. Mein Dank gilt ferner Herrn Professor Dr. Dr. Rainer Hofmann für das ebenfalls rasch erstellte Zweitgutachten und den Herausgebern für die Aufnahme in diese Schriftenreihe. Dem Deutschen Bundestag danke ich für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Ohne die Großzügigkeit meiner Eltern und die Unterstützung von Herrn Ministerialdirigent a. D. Dr. Winfried Roth sowie die konstruktive Diskussion mit Herrn Dr. Peter Pougin, der das Entstehen der Arbeit freundschaftlich und wissenschaftlich begleitet hat, wäre das Buch nicht in der vorliegenden Form fertiggestellt worden. Ihnen allen sei auch an dieser Stelle Dank gesagt. Frankfurt a. M., im August 2001

Albrecht Kochsiek

Inhaltsübersicht Einleitung A. Thematische Einführung.................. ............................................ B. Gang der Untersuchung...............................................................

19 19 24

Erstes Kapitel

über die Einrichtung von Zwischenausschüssen und deren Abschaffung in Folge des Wegfalls parlamentsloser Zeiten A. Historischer Ausgangspunkt .......................................................... B. Die Neigung zur Schaffung von Zwischenausschüssen im Kaiserreich und das Entstehen von Zwischenausschüssen in den deutschen Ländern......................... C. Die Zwischenausschüsse in der Weimarer Republik... .. .. ... .. .. . .. .. .. . .. . .. . . . .. .. D. Die Abschaffung parlamentsloser Zeiten unter dem Grundgesetz. . . .. . .. . . . ... . . .. . . E. Zusammenfassung ....................................................................

26 26 28 37 46 58

Zweites Kapitel

Die rechtliche Ausgestaltung des übergangs vom alten zum neuen Bundestag

60

A. Der Verfahrensablauf ab der Festlegung des Wahltages bis zur Konstituierung des neuen Bundestages ....................................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 B. Der Tätigkeitszeitraum des Alt-Bundestages ......................................... 64 Drittes Kapitel

Die rechtlichen Rahmenbedingungen bei der vorzeitigen Auflösung des Bundestages nach Art. 39 Abs.l S.4 GG

67

10

Inhaltsübersicht Viertes Kapitel

Die Funktionen des Bundestages unter Berücksichtigung einer möglichen Wahrnehmung durch den Alt-Bundestag A. Einführung ..................................................•......................... B. Die Funktionen des Bundestages ..................................................... c. Zusammenfassung ................... . ............ . .... . ............ . .................

71 71 72 93

Fünftes Kapitel

Die materielle Zuständigkeit des Alt-Bundestages

96

A. Die demokratische Legitimation des Alt-Bundestages ............................... 97 B. Kein Vorliegen eines Rechtsmißbrauchs beim Tätigwerden des Alt-Bundestages .... 168 Sechstes Kapitel

Der Alt-Bundestag in der Verfassungswirklichkeit

170

A. Der Alt-Bundestag als Legitimationsmittler, Kontroll- und Leitungsorgan . .. . . . . .. .. 170 B. Die Befürwortung eines Tätigwerdens des Alt-Bundestages ......................... 174 Siebtes Kapitel

Die materielle Zuständigkeit des Bundestages nach seiner Auflösung gemäß Art. 39 Abs. 1 S. 4 GG

178

Schlußthesen .............................................................................. 180 Anhang ................................................................................... 186 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 190 Stichwortverzeichnis ..................................................................... 209

Inhaltsverzeichnis Einleitung A. Thematische Einführung ............................................................ B. Gang der Untersuchung ............................................... , . . .. . .. . . . . . .

19 19 24

Erstes Kapitel Über die Einrichtung von Zwischenausschüssen und deren Abschaffung in Folge des Wegfalls parlamentsloser Zeiten A. Historischer Ausgangspunkt ........................................................ B. Die Neigung zur Schaffung von Zwischenausschüssen im Kaiserreich und das Entstehen von Zwischenausschüssen in den deutschen Ländern ... , '" ... .. .. . . . I. Die Stellung des Reichstags im Verfassungs gefüge des Kaiserreichs ........... H. Die Periodizität des Reichstags .................................................. III. Der erweiterte Zuständigkeitsbereich des Reichshaushaltsausschusses ......... IV. Der Hilfsdienstausschuß ......................................................... V. Überblick über die Kommissionen in den Ländern .............................. C. Die Zwischenausschüsse in der Weimarer Republik.............................. I. Die Stellung des Reichstags im Verfassungsgefüge der Weimarer Republik. . . . H. Die Periodizität des Reichstags .................................................. III. Die Zwischenausschüsse der Weimarer Republik ............................... D. Die Abschaffung parlamentsloser Zeiten unter dem Grundgesetz ............... I. Der Bundestag und seine Zwischenausschüsse bis zur Grundgesetzänderung im Jahre 1976 ....................................................................... 1. Die rechtliche Ausgestaltung der Wahlperiode und der parlamentslosen Zeit 2. Der ständige Ausschuß ....................................................... 3 .. Die Möglichkeit des Zusammentritts des Alt-Bundestages.. .. ... .. . . .. . . .. . . n. Der Wegfall parlamentsloser Zeiten seit der Neugestaltung von Art. 39 Abs. 1 und 2 GG im Jahre 1976 ... ...................................................... III. Die Änderung des Art. 39 Abs. 1 GG im Jahre 1998 ............................ E. Zusammenfassung...................................................................

26 26 28 28 29 32 33 34 37 37 38 40 46 46 46 47 52 53 57 58

Zweites Kapitel Die rechtliche Ausgestaltung des Übergangs vom alten zum neuen Bundestag

60

12

Inhaltsverzeichnis

A. Der Verfahrensablauf ab der FestIegung des Wahltages bis zur Konstituierung des neuen Bundestages .............................................................. 60 B. Der Tätigkeitszeitraum des Alt-Bundestages ...................................... 64 Drittes Kapitel

Die rechtlichen Rahmenbedingungen bei der vorzeitigen Auflösung des Bundestages nach Art. 39 Abs. 1 S.4 GG

67

Viertes Kapitel

Die Funktionen des Bundestages unter Berücksichtigung einer möglichen Wahrnehmung durch den Alt-Bundestag A. Einfilhrung.............................................. ............................. B. Die Funktionen des Bundestages ................................................... I. Die Gesetzgebungsfunktion ..................................................... 1. Die maßgebliche Stellung des Bundestages im Staatsgefüge auf Grund seiner Gesetzgebungsfunktion ....................................................... 2. Der Grundsatz der Diskontinuität.. .. .... .. .. .. . . .. .. .. ....... . .. .. . .. .. . . . .. . 3. Die Möglichkeit des Zustandekommens eines Gesetzes im Zeitraum des Bestehens des Alt-Bundestages.................................................. H. Die Kreationsfunktion ........................................................... 1. Die Wahl des Bundespräsidenten ............................................. 2. Die Wahl bzw. "Abwahl" des Bundeskanzlers ............................... III. Die Funktion der Regierungskontrolle . . . . . .. .. .. . .. . .. .. .. .. . . . . .. .. . . . .. . . .. . . . IV. Die Öffentlichkeitsfunktion .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. . .... . .. ... . .. .. . . . .. . C. Zusammenfassung...................................................................

71 71 72 73 73 74 77 81 82 85 88 91 93

Fünftes Kapitel

Die materielle Zuständigkeit des Alt-Bundestages A. Die demokratische Legitimation des Alt-Bundestages ............................ I. Der Begriff der demokratischen Legitimation ................................... 1. Das sozialwissenschaftliche Verständnis von Legitimität und Legitimation. 2. Das rechtswissenschaftliche Verständnis von Legitimität und Legitimation . a) Die Begriffsentwicklung ................................................. b) Die Bedeutung der Legitimität ........................................... c) Die Bedeutung der Legitimation ......................................... 3. Die Legitimation im Sinne des Grundgesetzes ...............................

96 97 98 99 101 101 102 103 105

Inhaltsverzeichnis 11. Art. 20 GO als verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt der demokratischen Legitimation .......................................................................... III. Die Anforderungen an die demokratische Legitimation des Alt-Bundestages .. 1. Die demokratische Repräsentation ........................................... a) Die Bedeutung der Repräsentation ....................................... aa) Die:idealistischen Vorstellungen von Repräsentation ................ bb) Repräsentation als dynamischer Prozeß ............................. cc) Repräsentation und politischer Grundkonsens ....................... b) Die Voraussetzungen für die Verwirklichung der Repräsentation des Volkes im Bundestag .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. aa) Der Abgeordnete als Amtsinhaber und seine Gemeinwohlverpflichtung .................................................................. bb) Die Bedeutung des freien Mandats in der repräsentativen Demokratie .................................................................... (1) Keine rechtliche Bindung des Abgeordneten ................... (2) Das parteibezogene, nicht aber parteigebundene Mandat ....... (3) Die Funktionen des freien Mandats ............................. (4) Die Möglichkeit der Einwirkung auf die Abgeordneten ........ (5) Individual- oder Kollektivrepräsentation ................... .. . .. (6) Die Gewissensunterworfenheit des Abgeordneten .............. cc) Zusammenfassung ................................................... c) Wirkt sich die Wahl als Ausdruck des Volkswillens auf die Repräsentationsstellung des Alt-Bundestages aus? .................................. aa) Die Funktion der Wahl . . . .. . . . . .. .. .. . .. . .. . . . . . . .. . . . . . .. . . .... .. . .. bb) Gibt es bei der Wahl einen über die Entscheidung für Mandatsbewerber und Parteien hinausgehenden, erkennbaren Volkswillen? ....... (1) Die personalen und sachinhaltlichen Elemente der Wahl ....... (2) Gibt es Erkennungsmerkmale des Volks willens in bezug auf die personalen und sachinhaltlichen Elemente? .................... (3) Ist der Wählerwille dadurch faßbar, daß er stets mit dem Willen der von ihm gewählten Partei gleichzusetzen ist? ............... (4) Ist der Wählerwille in bezug auf einzelne personale und sachinhaltliche Elemente der Wahl faßbar? ............................ (5) Die Wahl als sich unmittelbar auswirkender Kontrollakt der Wähler: Kann aus dem Wahlergebnis eine Absage an die von der bisherigen Mehrheit betriebenen Politik herausgelesen werden? ............................................................. cc) Besteht zwischen den Wählern und Gewählten eine reine Vertrauensbeziehung? ........................................................... dd) Zusammenfassung ................................................... d) Die formale und inhaltliche Repräsentation beim Alt-Bundestag ........ 2. Die Auswirkungen des fehlenden Wahlaktes am Ende des Tätigkeitszeitraums des Alt-Bundestages auf seine Kontrolle durch das Volk......... ..... a) Die Kontrolle des Alt-Bundestages durch das Volk als mittelbare Wirkung der Wahl ............................................................ aa) Die Aufrechterhaltung der Kontrolle und Durchsetzungsfähigkeit des empirischen Volkswillens vermittels der Parteien...............

13 106 107 108 108 112 115 119 121 122 125 125 127 128 130 131 133 135 135 135 136 137 139 140 142

144 149 152 152 154 156 156

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Inhaltsverzeichnis

bb) Keine grundgesetzliche Regelung zum Wahlakt als Mittel zur Stärkung der Durchsetzungsfahigkeit des empirischen VolkswiIIens .... b) Keine grundgesetzliche Regelung zur Funktion der Wahl als unmittelbarer Kontrollakt des Volkes ................................................ 3. Das Vorliegen der demokratischen Legitimation beim Alt-Bundestag ....... a) Die demokratische Legitimation der Staatsorgane und ihrer Amtswalter b) Die Mindestanforderungen an die Legitimation des Bundestages ....... B. Kein Vorliegen eines Rechtsmißbrauchs beim Tätigwerden des Alt-Bundestages ....................................................................................

158 160 162 162 165 168

Sechstes Kapitel Der Alt-Bundestag in der Verfassungswirklichkeit A. Der Alt-Bundestag als Legitimationsmittler, Kontroll- und Leitungsorgan B. Die Befürwortung eines Tätigwerdens des Alt-Bundestages. ... . ... ... ... ... . . ... I. Die Vorzüge der Möglichkeit eines Tätigwerdens gegenüber einem Nichttätigwerden ........................................................................... 11. Keine Einscliränkung seines Handlungsspielraums .............................

170 170 174 174 176

Siebtes Kapitel Die materielle Zuständigkeit des Bundestages nach seiner Auflösung gemäß Art. 39 Abs. 1 S. 4 GG

178

Schlußthesen .............................................................................. 180 Anhang ................................................................................... 186 Literaturverzeichnis ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 190 Stichwortverzeichnis ..................................................................... 209

Abkürzungverzeichnis a.A. a.E. a.F. AbgG Abs. Abt. AK Alt. Anh. AöR APuZ ARD ARSP Art. Az. Bd. BGB BGBI. BGH Bonner Komm. BPräsWG BR BR-Drs. BT BT-Drs. BVerfGE BVerfGG BWG bzw. CDU CSU d.h. DJZ DÖV

anderer Ansicht am Ende alte Fassung Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages (Abgeordnetengesetz) Absatz Abteilung Kommentar aus der Reihe der Alternativkommentare Alternative Anhang Archiv des öffentlichen Rechts Aus Politik und Zeitgeschichte (Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung) Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel Aktenzeichen Band Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Kommentar zum Bonner Grundgesetz. Bonner Kommentar (Loseblattsarnmlung) Gesetz über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversamrn1ung Bundesrat Drucksachen des Deutschen Bundesrates Deutscher Bundestag Drucksachen des Deutschen Bundestages Bundesverfassungsgerichtsentscheid Gesetz über das Bundesverfassungsgericht Bundeswahlgesetz beziehungsweise Christlich-Demokratische Union Christlich-Soziale Union das heißt Deutsche Juristen-Zeitung Zeitschrift für öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaft

16 DRiZ Drs. DVBl. Erl. F.D.P. Fn. FRV GBl. GeschOBT GeschVA

GG GORT GVBl. h.M. Hdb. Hrsg./hrsg. insb. i.S.v. i.Y.m. JA Jg. JöR JZ Lfg. Mitw. m.w.N. n.F. NGO NJW OVG PDS PVS RV

Rz.

S. Sp. SPD SJZ Sten.Ber. StGH u.a.

Abkürzungverzeichnis Deutsche Richterzeitung Drucksache(n) Deutsches Verwaltungsblatt Erläuterungen Freie Demokratische Partei Fußnote Frankfurter Reichsverfassung (Verfassung des Deutschen Reichs vom 28. März 1849) Gesetzblatt Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages Gemeinsame Geschäftsordnung des Bundestages und des Bundesrates für den Ausschuß nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) Grundgesetz Geschäftsordnung für den Reichstag vom 12. Dezember 1922/31. März 1931. Gesetzes- und Verordnungsblatt herrschende(r) Meinung Handbuch Herausgeber/herausgegeben insbesondere im Sinne von in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter Jahrgang Jahrbuch des öffentlichen Rechts Juristen Zeitung Lieferung Mitwirkung mit weiteren Nachweisen neue Fassung Niedersächsische Gemeindeordnung Neue Juristische Wochenschrift Oberverwaltungsgericht Partei des demokratischen Sozialismus Politische Vierteljahresschrift (Zeitschrift der Deutschen Vereinigung für politisch Wissenschaft) Reichsverfassung (Gesetz betreffend die Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871) Randziffer(n) Satz, Seite Spalte Sozialdemokratische Partei Deutschlands Schweizerische Juristen-Zeitung Steno graphische Berichte Staatsgerichtshof unter anderem

Abkürzungverzeichnis usw. u.U. v. v.H. VerfR VG vgl. Vorb. VVDStRL WRV z.B. zit. ZDF ZParl ZRP

2 Kochsiek

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und so weiter unter Umständen vorn/von von Hundert Verfassungsrecht Verwaltungs gericht vergleiche Vorbemerkungen Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Weimarer Reichsverfassung (Die Verfassung des Deutschen Reichs vorn 11. August 1919) zum Beispiel zitiert Zweites Deutsches Fernsehen Zeitschrift für Parlamentsfragen Zeitschrift für Rechtspolitik

Einleitung

A. Thematische Einführung Unter dem Alt-Bundestag ist - vereinfacht dargestellt - der Bundestag zu verstehen, der nach der Wahl des neuen Bundestages bis zu dessen Zusammentritt noch fortbesteht. Damit unterscheidet sich der Alt-Bundestag nur begrifflich, nicht aber personell vom Bundestag, der vor der Wahl existiert. Der Alt-Bundestag überbrückt gewissermaßen die Zeit zwischen der Wahl und dem ersten Zusammentritt des neuen Bundestages. Im juristischen Schrifttum ist der Alt-Bundestag bis heute weitestgehend unbeachtet geblieben. I Zum einen dürfte das an dem kurzen Zeitraum des Bestehens des Alt-Bundestages liegen; der neue Bundestag tritt nämlich nach Art. 39 Abs.2 GG spätestens am dreißigsten Tag nach der Wahl zusammen. Der Alt-Bundestag hat also wenig Zeit zum Handeln. Zum anderen dürfte das geringe Interesse an ihm darauf zurückzuführen sein, daß es bisher kaum einen Anlaß gegeben hat, sich mit seiner Rechtsstellung zu befassen. Er ist erst ein einziges Mal tätig geworden. Gerade diese Sitzung des 13. Bundestages am 16. Oktober 1998 2 macht jedoch die Aktualität der Auseinandersetzung mit seiner Rechtsstellung deutlich. Denn die damalige Einberufung des Alt-Bundestages war unter den Abgeordneten und in der Presse nicht ganz unumstritten. So hieß es beispielsweise in der Berliner Tageszeitung, der Entschluß zum Tätigwerden des Alt-Bundestages entspräche zwar "den Buchstaben des Grundgesetzes, würde aber den Geist der Verfassung grob verletzen." Für einen Beschluß des neuen Bundestages spreche "ein elementarer Verfassungsgrundsatz, der der Volkssouveränität". Der erneuerte Wählerwille verkörpere sich im neuen Bundestag. 3 Anlaß für die Sitzung war die Beratung eines Antrags der Bundesregierung über eine "Deutsche Beteiligung an den von der NATO geplanten begrenzten und in Phasen durchzuführenden Luftoperationen zur Abwendung einer humanitären Katastrophe im Kosovo-Konflikt". 4 Nach einer Erklärung der Bundesregierung und einer I Zu den Stellungnahmen in der Literatur siehe E. KleinlGiegerich, AöR 112 (1987), S. 544, 568 f. Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit dem Alt-Bundestag bisher noch nicht beschäftigt. 2 Siehe Stert. Ber. 13. BT 248. Sitzung, S.23127ff. 3 Vgl. Semmler, die tageszeitung v.13. Oktober 1998, S.l; vgl. Kister, Süddeutsche Zeitung v. 13. Oktober 1998, S. 4, und v. Marschall, Tagesspiegel v. 13. Oktober 1998, S. 8. 4 Antrag der Bundesregierung v. 12. Oktober 1998, BT-Drs. 13/11469. Wie der damalige Außenminister Kinkel in seiner Rede vor dem Bundestag hervorhob, ging "es entsprechend



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Einleitung

Aussprache über dieses Thema stimmten die Abgeordneten mit großer Mehrheit dem Antrag der Bundesregierung zu. s Fast alle Redner betonten die gute Zusammenarbeit der alten und der neuen Mehrheit im Bundestag sowie der alten und der neuen Regierung. 6 In Hinblick auf die Einberufung des Alt-Bundestages anstatt des neugewählten Bundestages sprachen die meisten Redner von verfassungspolitischen, nicht aber verfassungsrechtlichen Problemen. 7 Vereinzelt wurde jedoch auch die Rechtmäßigkeit der Sitzung bezweifelt. Der damalige Vize-Präsident des Bundestages Hirsch (F. D. P.) hielt in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung die Einberufung für verfassungswidrig. Der alte Bundestag sei "weder verfassungsrechtlich noch politisch legitimiert".8 In der Aussprache im Alt-Bundestag am 16. Oktober 1998 äußerte er sich dazu folgendermaßen: "Ich bin der Auffassung, daß der 13. Deutsche Bundestag angesichts der weitreichenden Bedeutung die ihm vorgelegte Entscheidung nicht mehr selbst treffen sollte und treffen kann."9 Zur Begründung führte er aus: "Die Verfassung hat zwar für die Konstituierung des 14. Bundestages eine maximale Frist von 30 Tagen bestimmt, um eine bundestagsfreie Zeit mit Sicherheit auszuschließen. Aber wenn der Bundestag nach Art. 39 Abs. 3 des Grundgesetzes vorher zusammengerufen werden muss, dann kann man zumindest nach der amtlidem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts um die konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages zu der Entscheidung des Bundeskabinetts"; siehe Sten.Ber. 13. BT 248. Sitzung, S.23128 (A). Damit bezog er sich auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts v. 12. Juli 1994, BVerfGE 90, S. 286,381 ff., in dem es auf S. 286 in Leitsatz 3. a) heißt: "Das Grundgesetz verpflichtet die Bundesregierung, für einen Einsatz bewaffneter Streitkräfte die - grundsätzlich vorherige - konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages einzuholen." S Von den 580 abgegebenen Stimmen waren 500 Ja-Stimmen, 62 Nein-Stimmen und 18 Enthaltungen, Sten.Ber. 13. BT 248. Sitzung, S.23161 (B). 6 V gl. dazu die Äußerungen des damaligen Bundesministers des Auswärtigen Kinkel (ED.P.), Sten.Ber. 13. BT 248. Sitzung, S. 23128 (A), des damaligen Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses Hornhues (CDU), Sten.Ber. 13. BT 248. Sitzung, S. 23131 (D), des damaligen Berichterstatters des Auswärtigen Ausschusses Voigt (SPD), Steno Ber. 13. BT 248. Sitzung, S. 23132 (D), des damaligen Verteidigungsministers Rühe (CDU), Steno Ber. 13. BT 248. Sitzung, S. 23134 (C), des damaligen Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen und designierten Bundeskanzlers Schröder (SPD), Sten.Ber. 13. BT 248. Sitzung, S. 23 136 (D), des damaligen Vorsitzenden der Fraktion der CDU/CSU Schäuble, Steno Ber. 13. BT 248. Sitzung, S. 23139 (B) und des damaligen Sprechers von Bündnis 90/Die Grünen und designierten Außenministers Fischer, Steno Ber. 13. BT 248. Sitzung, S. 23141 (A). 7 Vgl. die Äußerungen des damaligen Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen und designierten Bundeskanzlers Schröder (SPD), Sten.Ber. 13. BT 248. Sitzung, S.23137 (D) und des Abgeordneten Gysi (PDS), Sten.Ber. 13. BT 248. Sitzung, S.23145 (A). 8 Siehe Hirsch, Süddeutsche Zeitung v. 14. Oktober 1998; vgl. auch den Artikel "Streit über die Sondersitzung", Süddeutsche Zeitung v.16. Oktober 1998; siehe dazu die Äußerung von Hirsch in der Bundestagssitzung v. 16. Oktober 1998, Steno Ber. 13. BT 248. Sitzung, S. 23159 (C), in der er sich bei der Präsidentin des Bundestages Süßmuth dafür entschuldigt, daß eine Meinungsverschiedenheit über die Einberufung der Sitzung in einer Weise veröffentlicht worden sei, die er ,,nicht gewollt, aber verursacht habe". 9 Sten.Ber. 13. BT 248. Sitzung, S.23159 (C).

A. Thematische Einführung

21

chen Feststellung des Wahlergebnisses nicht an der Tatsache vorbeigehen, daß der 13. Bundestag nicht mehr dem Wählerwillen entspricht und daß die Mitglieder des 14. Deutschen Bundestages auch unabhängig von jeder anderen Verabredung das Recht hätten, sich unverzüglich selbst zu konstituieren. Ich bin der Auffassung, daß die Abgeordneten des 14. Bundestages zumindest hätten gefragt werden müssen, ob sie angesichts des außergewöhnlichen Sachverhaltes die Wahl unverzüglich annehmen und zusammentreten."IO Die damalige Präsidentin des Bundestages Süßmuth (CDU) gab dazu in der Debatte keine Erklärung ab, jedoch berichtete die Süddeutsche Zeitung, daß sie die Ansicht vertreten habe, solange sich der neue Bundestag nicht konstituiert habe, sei der bisherige mit allen Rechten und Pflichten in Funktion. 11 Anlaß für die vorliegende Arbeit war indes nicht die Sitzung des Alt-Bundestages am 16. Oktober 1998, sondern die unzureichende Auseinandersetzung in der Rechtswissenschaft mit dem Alt-Bundestag sowie ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein vom 29. September 1987,12 dem folgender Sachverhalt zugrundelag: Die Mitglieder des Verwaltungsausschusses der Stadt Goslar verständigten sich vor der Neuwahl des Rates, noch eine Sitzung des alten Rates nach der Wahl und vor der Konstituierung des neuen Rates stattfinden zu lassen, um den Oberstadtdirektor nach § 61 Abs. 1 NG0 13 zu wählen. Dieser sollte ungefähr ein Jahr später sein Amt antreten. Überraschenderweise verlor die bis dahin stärkste Partei bei den Wahlen des Stadtrates ihre absolute Mehrheit. Drei Tage vor dem gesetzlich festgelegten Ende der Wahlperiode l4 berief die Oberbürgermeisterin, wie im Verwaltungsrat abgesprochen, den alten Rat ein. Nachdem zu Anfang der Sitzung des ,,Alt-Rates" ein Antrag, die Wahl des Oberstadtdirektors von der Tagesordnung herunterzunehmen, abgelehnt worden war, wurde der Kandidat der bisherigen Mehrheitsfraktion für zwölf Jahre zum Oberstadtdirektor gewählt. Daraufhin erhob eine Fraktion des Rates vor dem Verwaltungsgericht Braunschweig Klage mit dem Antrag, den Wahlbeschluß aufzuheben. Nachdem das Verwaltungsgericht die Klage als unzulässig abgewiesen hatte,IS legte die Fraktion gegen dieses Urteil Berufung vor dem Oberverwaltungsgericht für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein ein. Für das Oberverwaltungsgericht war die Klage zulässig und begründet. Antragsgemäß stellte es fest, daß die Wahl des Oberstadtdirektors unwirksam sei. Es begründete seine Entscheidung unter anderem damit, Steno Ber. 13. BT 248. Sitzung, S. 23159 (C-D). Siehe dazu den Artikel "Streit über die Sondersitzung", Süddeutsche Zeitung v.16. Oktober 1998. 12 AZ.2 OVG A 42/87 (unveröffentlicht). 13 § 61 NGO i. d. F. v.22. Juni 1982 (Nds. GVBl. S.229, 243). 14 Nach §33 S. 3 NGO i.d.F. v.22. Juni 1982 (Nds.GVBl. S.229, 236) beginnt die Wahlperiode am 1. November jedes fünften auf das Jahr 1976 folgenden Jahres. 15 Urteil v.22. Dezember 1986, Az. 1 VG A 175/86. 10

11

22

Einleitung

daß die Festsetzung des Wahlzeitpunktes das Recht der Kläger als Ratsmitglieder "auf eine das Demokratiegebot beachtende Wahl"16 verletzt habe. Zwar sei der Rat auch nach der Kommunalwahl bis zum Ablauf der Wahlperiode grundsätzlich noch entscheidungs- und beschlußfähig gewesen, indessen habe ihm in der besonderen Situation, die im Zeitpunkt der Ratssitzung bestanden habe, "die Legitimation zur Wahl eines Oberstadtdirektors, dessen Amtszeit mehr als elf Monate später beginnen sollte" 17 gefehlt. Für das Oberverwaltungsgericht ergibt sich die Einschränkung des Handlungsspielraums aus der Rücksicht auf das Gemeinwohl und "aus dem Prinzip der repräsentativen Demokratie, nach dem die durch die Volkswahl vermittelte Vertretungsmacht grundsätzlich auf die der Wahlperiode zuzuordnenden Entscheidungen beschränkt" 18 sei. Dieser Grundsatz gebiete "in bestimmten Fällen eine Selbstbeschränkung des alten Rates mit Rücksicht auf die größere Nähe der anstehenden Sachfrage zur Wahlperiode des neuen Rates". 19 Längerfristig bindende Entscheidungen, die nicht vordringlich getroffen werden müßten, seien grundsätzlich "einer neu zu wählenden Volksvertretung zu überlassen, die über eine der Bindungszeit nähere demokratische Legitimation"20 verfüge. Der Senat sieht in dem Verhalten des alten Rates einen "Mißbrauch des befristeten Mandats", da der einzig erkennbare Zweck der Entscheidungsfällung gewesen sei, "der bisherigen, vom Wahler nicht mehr getragenen Mehrheit aufgrund der formal noch bestehenden Kompetenz die Gelegenheit zu verschaffen, auf die künftige Entwicklung der Stadtverwaltung personalpolitischen Einfluß zu nehmen".21 Zwar handelte es sich hierbei um einen Rechtsstreit auf kommunaler Ebene, doch machen die unterschiedlichen Entscheidungen von Verwaltungs- und Oberverwaltungsgericht ebenso wie die verschiedenen Äußerungen zur Einberufung des Alt-Bundestages am 16. Oktober 1998 die Umstrittenheit der Handlungsbefugnis eines gewählten Repräsentationsorgans 22 nach der Wahl des Nachfolgeorgans deutlich. Außerhalb Deutschlands sind die Erfahrungen mit einem Alt-Parlament zum Teil größer. Als Beispiel seien die Vereinigten Staaten von Amerika mit dem aus Repräsentantenhaus und Senat zusammengesetzten Kongreß genannt. Für die Dauer des Zusammentritts des alten Kongresses nach der Neuwahl des Repräsentantenhauses sowie eines Teils des Senats - alle zwei Jahre wird ein Drittel der Senatoren zur sel16 2 OVG A 42/87, S. 15. 1720VG A 42/87, S.16. 18 2 OVG A 42/87, S.16. 19 2 OVG A 42/87, S.16. 20 2 OVG A 42/87, S. 21. 21 2 OVG A 42/87, S.24. 22 Die Gemeindevertretung, meist Gemeinderat genannt, ist zwar Repräsentationsorgan, nicht aber nach herrschender Meinung Parlament; siehe BVerfGE 65, S. 283, 289; 78, S. 344, 348; Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, S.551; Schmidt-Jortzig, Kommunale Organisationshoheit, S.154 m. w.N.; ders., Kommunalrecht, Rz. 71; WolfflBachof, S.I02; Schröder, Grundlagen, S.37ff.; Schmidt-Aßmann, in: ders.(Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Rz.59.

A. Thematische Einführung

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ben Zeit wie das Repräsentantenhaus neu gewählt - hat sich ein eigener Begriff herausgebildet: "lame duck" session. In dem ungefähr zweimonatigen Zeitabschnitt zwischen der Wahl Anfang November eines jeden zahlenmäßig geraden Jahres und dem ersten Zusammentritt des Kongresses Anfang Januar eines jeden zahlenmäßig ungeraden Jahres wird ein wiederzusammentretender Kongreß mit einer lame duck,23 also einer lahmen Ente, die nicht mehr fähig ist zu fliegen, verglichen. 24 Denn der Kongreß besteht in dieser Zeit aus vielen Abgeordneten, die nicht wiedergewählt worden sind und daher als lame ducks 2S bezeichnet werden. Darüber hinaus wird der Begriff larne duck auch noch für einen Präsidenten verwandt, der sich in seiner zweiten Amtszeit - insbesondere in den letzten zwei Jahren der vierjährigen Amtszeit - befindet26 und damit nicht wieder gewählt werden kann. 27 Seine politische Macht sieht man als begrenzt an,28 da er nicht mehr durch eine Wiederwahl große öffentliche Unterstützung erhalten kann. In der heutigen Zeit sind "lame duck" sessions eher die Ausnahme, wenn sie auch häufig mit dem Fällen wichtiger Entscheidungen verbunden sind. 29 Dagegen fanden in den ersten 140 Jahren seit Inkrafttreten der arnerikanischen Verfassung "larne duck" sessions regelmäßig statt, da stets vier Monate zwischen Wahl und Amtsantritt der Abgeordneten vergingen. Nachdem durch eine Änderung der amerikanischen Verfassung Anfang der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts der Zeitraum zwischen Wahl und Zusammentritt des neuen Kongresses verkürzt worden ist,30 karn es in den letzten Jahrzehnten zu dreizehn "larne duck" sessions. Grundsätzlich stellt 23 Zur Herkunft des Wortes siehe DicksonlClancy, The Congress dictionary, S. 19Of.; Smock, in: Bacon/Davidson/Keller, The encycIopedia of the United States Congress, Volurne 3, S.1244. 24 Auch beim Zusammentritt von nur einer Kammer des Kongresses spricht man von einer "larne duck" session des Kongresses; vgl. BethlSachs, Larne Duck Sessions, 74th-l04th Congress (1935-1996), S. 7; Congressional Quarterly's guide to Congress, S.121-A. 2!i V gl. Smock, in: Bacon/Davidson/Keller, The encycIopedia of the United States Congress, Volume 3, S. 1244; Interview mit Jones, Brookings Institutions, v. 1. Dezember 1994, 1994 West Law 11220082; BethlSachs, Larne Duck Sessions, 74th-l04th Congress (1935-1996), S.1. 26 Siehe Wayne, in: Bacon/Davidson/Keller, The encycIopedia of the United States Congress, Volume 3, S. 941; Dunn, Constitutional democracy in America, S.464. 27 Gemäß 22. Zusatzartikel (22th Amendment) der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika darf ein Präsident nur zweimal vier Jahre zum Präsidenten gewählt werden; vgl. DiClerico, in: Bacon/Davidson/Keller, The encycIopedia of the United States Congress, Volurne 4, S.I996f. 28 Vgl. Wayne, in: Bacon/Davidson/Keller, The encycIopedia of the United States Congress, Volume 3, S. 940 mit einer Darstellung der Auswirkungen der nicht möglichen Wiederwahl auf die Politik des Präsidenten. 29 Siehe dazu Congressional Quarterly's guide to Congress, S.54. 30 Der sogenannte larne duck Zusatzartikel (20th Amendment) der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika wurde - nach sechs Anläufen im Kongreß - schließlich arn 23. Januar 1933 ratifiziert; ausführlich zur Entstehungsgeschichte siehe Congressional Quarterly's guide to Congress, S. 55, 100, 333, 9-A; Lowitt, in: Bacon/Davidson/Keller, The encyclopedia of the United States Congress, Volume 4, S.1994f.

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Einleitung

der Kongreß seine Sitzungstätigkeit vor der Wahl ein,31 doch kamen die Abgeordneten zu einer "Iame duck" session wieder zusammen, wenn einige bereits zuvor eingeleitete Gesetzesvorhaben noch zum Abschluß gebracht werden sollten. Darüber hinaus waren außergewöhnliche Anlässe wie der Zweite Weltkrieg, die Nachwirkungen der Watergate-Affäre,32 die erforderliche Zustimmung des Kongresses zu einem neuen GAIT 33 -Abkommen 34 und die Vorbereitungen eines Amtsenthebungsverfahrens gegen Präsident Clinton 35 für eine Zusammenkunft ausschlaggebend. 36 Dabei wurde die Einberufung des jeweiligen alten Kongresses politisch, nicht aber rechtlich in Frage gestellt. 37 Auch wenn sich das System der Demokratie in den Vereinigten Staaten Von dem in Deutschland unterscheidet, verdeutlichen die Gründe für die "Iame duck" sessions und die damit gemachten Erfahrungen, daß es auch in Deutschland zukünftig immer mal wieder einen Anlaß für die Einberufung des Alt-Bundestages geben könnte. Damit dürfte es auch zu einer stärkeren Befassung mit seiner Funktion und seinen Rechten kommen. Für eine umfassende rechtliche Auseinandersetzung mit dem Alt-Bundestag verfolgt die Arbeit im wesentlichen drei Ziele. Sie zeigt die geschichtliche Entwicklung der sitzungsfreien Zeiten des Parlaments und der Übergänge vom alten zum neuen Parlament in Deutschland auf. Des weiteren verdeutlicht sie die rechtliche Ausgestaltung des Übergangs vom alten - wie auch aufgelösten - Bundestag zum nachfolgenden Bundestag. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt jedoch in der Befassung mit den parlamanentarischen Funktionen und ihrer Wahrnehmung durch den Alt-Bundestag. Dabei steht die rechtliche Würdigung der materiellen Zuständigkeit des Alt-Bundestages, also die Ausübung der parlamentarischen Befugnisse durch den Alt-Bundestag, im Mittelpunkt des Interesses. Es wird aber auch Wert auf die Betrachtung des Alt-Bundestages in der Verfassungswirklichkeit gelegt.

B. Gang der Untersuchung An den Zielen der Arbeit richtet sich auch das Vorgehen der Untersuchung aus. Sie zeigt zunächst auf, wie ausgehend vom Konstitutionalismus in den deutschen 31 Zum Verfahren bei Einberufung des "alten" Kongresses nach der Wahl siehe Gold/Hugo/ Murray/RobinsoniSingleton, The Book on Congress, S. 32. 32 Zu den einzelnen Anlässen für "lame duck" sessions zwischen 1940 und 1994 siehe DicksoniClancy, The Congress dictionary, S. 190; vgl. auch Congressional Quarterly's guide to Congress, S. 121-A; BethiSachs, Lame Duck Sessions, 74th-l04th Congress (1935-1996), S.1 ff. 33 General Agreement on Tariffs and Trade (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen). 34 Siehe BethiSachs, Lame Duck Sessions, 74ili-I04th Congress (1935-1996), S.lO. 35 Zustimmung des Repräsentantenhauses zur Vorbereitung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen Präsident Clinton am 19. Dezember 1998. 36 Letzte ,,lame duck" session siehe Sitzung des 106. Kongresses am 21. Dezember 2000. 37 Zur Kritik an ,,lame duck" sessions siehe Smock, in: Bacon/Davidson/Keller, The encyclopedia of the United States Congress, Volume 3, S. 1245.

B. Gang der Untersuchung

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Staaten und ab 1871 im Deutschen Reich "parlamentarische" Zwischenausschüsse, die bestimmte Rechte der Volksvertretung außerhalb seiner Sitzungszeiten wahrnahmen, entstanden sind. Dabei wird auch auf das Entstehen von Zwischenausschüssen in den deutschen Ländern bis zum Ende des Kaiserreichs eingegangen, da diese Ausschüsse zum Teil maßgebenden Einfluß auf die Entwicklung der Ausschüsse auf Reichsebene hatten. Am Ende der geschichtlichen Rückschau wird dargestellt, wie es unter dem Grundgesetz zu einer Abschaffung der parlamentslosen Zeiten und der damit zusammenhängenden Zwischenausschüsse gekommen ist. Das anschließende Kapitel widmet sich dem Verfahrensablauf ab der Festlegung des Wahltages bis zum Zusammentritt des neuen Bundestages und betrachtet dabei den Tatigkeitszeitraum des Alt-Bundestages. Darauf aufsetzend werden im folgenden Kapitel die Rahmenbedingungen bei der vorzeitigen Auflösung des Bundestages veranschaulicht. Das vierte Kapitel befaßt sich mit den parlamentarischen Funktionen im Lichte einer möglichen Wahrnehmung durch den Alt-Bundestag. Dafür wird nach vier Funktionsbereichen unterschieden: der Gesetzgebungsfunktion, der Kreationsfunktion, der Regierungskontrolle und der Öffentlichkeitsfunktion. Dabei wird auf die möglichen Gründe für eine Wahrnehmung der Funktionen durch den AltBundestag und die Schwierigkeiten eingegangen, die in der Praxis bei der Ausübung der verschiedenen Rechte auftreten könnten. Die Arbeit mündet im fünften Kapitel schließlich in der Erörterung der Frage, ob der Alt-Bundestag handlungsbefugt ist und welche Rechte ihm zustehen. Ausgangspunkt für die Beantwortung dieser Frage ist die Betrachtung der demokratischen Legitimation des Alt-Bundestages unter schwerpunktmäßiger Auseinandersetzung mit den Begriffen Repräsentation und Volkssouveränität. Hinsichtlich der Repräsentationsstellung des Alt-Bundestages wird rechtlich gewürdigt, ob die Wahl zum neuen Bundestag mit dem darin zum Vorschein kommenden Volkswillen zu einem Repräsentationsverlust bzw. zu einer verminderten Repräsentationsfähigkeit des Alt-Bundestages führt. Bezüglich des Vorliegens der Volkssouveränität wird der Frage nachgegangen, ob der Alt-Bundestag im Sinne des Demokratieprinzips einer genügenden Kontrolle ausgesetzt ist, da die Zeit seines Bestehens nicht mit einem der Kontrolle dienenden Wahlakt des Volkes abschließt. Daran anknüpfend wird zur Frage eines mißbräuchlichen HandeIns des Alt-Bundestages Stellung genommen. Im sechsten Kapitel wird der Alt-Bundestag in der Verfassungswirklichkeit beleuchtet und abgewogen, ob ein Tätigwerden des Alt-Bundestages grundsätzlich zu befürworten oder abzulehnen ist. Im abschließenden siebten Kapitel werden die gewonnenen Ergebnisse auf die RechtssteIlung des aufgelösten Bundestages übertragen. Die Untersuchung endet mit einer Zusammenfassung in Thesen.

Erstes Kapitel

Über die Einrichtung von Zwischenausschüssen und deren Abschaffung in Folge des Wegfalls parlamentsloser Zeiten Historische Vorläufer in Form von Alt-Parlamenten, anhand derer sich etwas für die Aufgaben und Rechte des Alt-Bundestages ableiten ließe, gibt es in der deutschen Verfassungsgeschichte nicht. Jedoch könnten sich aus der Betrachtung und Untersuchung der Funktionen der Zwischenausschüsse Rückschlüsse auf den Tätigkeitsbereich des Alt-Bundestages ziehen lassen. Diese Zwischenausschüsse waren vorwiegend in den sogenannten parlamentslosen Zeiten tätig - also bei Vertagung, Schließung oder Auflösung des Parlaments. Brauchbare Erkenntnisse können jedoch erst die Verfassungen des Konstitutionalismus liefern. Denn diese räumten dem Parlament erstmals eine selbstständige Funktion gegenüber dem Monarchen ein, nämlich Mitentscheidungsrechte etwa bei der Gesetzgebungs- und Budgetgewalt. 1

A. Historischer Ausgangspunkt Ab 1814 entstanden in vielen deutschen Staaten geschriebene Verfassungen, nicht selten nach französischem Vorbild. Maßgeblichen Anteil an der Entstehung dieser Verfassungen hatte Artikel 13 der Deutschen Bundesakte vom 8. Juni 1815, der die Einführung landständischer Verfassungen vorschrieb, und Art. 57 der Wiener Schlußakte vom 15. Mai 1820, der das monarchische Prinzip2 zum "gemeindeutschen Verfassungsgrundsatz" erhob. 3 Zwischen 1814 und 1824, also zur Zeit des deutschen Frühkonstitutionalismus, brachten 15 Staaten neue Verfassungen hervor. 4 Die 1818/19 in Kraft getretenen süddeutschen5 und die nach 1830 entstandeVgl. E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd.I1I, S.19. Zum monarchischen Prinzips siehe Wahl, in: Hdb. des Staatsrechts, § 1 Rz. 13 mit zahlreichen Verweisen auf Literatur zum monarchischen Prinzip in Fn. 35. J V gl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. I1I, S. 7; zu jenem Zeitpunkt hatten erst die wenigsten deutschen Staaten konstitutionelle Verfassungen. Die meisten deutschen Staaten, vor allem Österreich und Preußen, steckten, wie E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. I1I, S. 7, ausführt, ,,noch fest im vorkonstitutionellen Verfassungszustand" . 4 Den Anfang machte Nassau mit seiner Verfassung v.1.fl. September 1814; vgl. E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd.I, S.317. I

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A. Historischer Ausgangspunkt

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nen mitteldeutschen Verfassungen zielten ebenso wie die preußische Verfassung von 1850 auf die Schaffung einer repräsentativ ausgestalteten Volksvertretung. 6 Dieser Repräsentativcharakter, 7 der auch im Grundgesetz für den Bundestag prägend ist, läßt es sinnvoll erscheinen, den historischen Rückblick mit einer Betrachtung der Rechte und Pflichten der Zwischenausschüsse aus jener Zeit zu beginnen. Jedoch ist in diesem Zusammenhang stets im Auge zu behalten, daß der konstitutionelle Staat immer noch im wesentlichen "Militär- und Beamtenstaat, nicht Parteienstaat" war. 8 Ausgangspunkt für die Betrachtung der Rechte der Zwischenausschüsse sind im folgenden die konstitutionellen Länderverfassungen, wie sie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts herausgebildet haben, und die Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871. 9 S Am nachhaltigsten wirkten sich für die weitere Entwicklung die drei süddeutschen Verfassungen, nämlich Bayerns von 1818, Badens von 1818 und Württernbergs von 1819, aus; so Wahl, in: Hdb. des Staaatsrechts, § 1 Rz.12. 6 V gl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungs geschichte, Bd. III, S. 20. Der Grund dafür, daß zu dieser Zeit die gesellschaftliche Mitwirkung an der Herrschaft durch Repräsentanten eingeführt wurde und damit einhergehend Verfassungsstaaten geschaffen wurden, besteht nach Obenhaus, in: Vogel, Preußische Refonnen 1807-1820, S. 244,250, darin, daß sich viele Staaten zu dieser Zeit in einer schwierigen Finanzlage befanden und ein Staatskredit, "wenn man ihn als eine Folge der Sicherung von Gläubigeransprüchen, als Folge des Vertrauens zwischen Staatsregierung und Gesellschaft verstand, nicht in einzelnen Gesten, sondern nur durch die umfassende Zusicherung von Mitwirkungs- und Kontrollrechten an einer Repräsentation zu erreichen" war. E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd.I, S. 315ff., sieht die Einführung der Repräsentativverfassungen im Zusammenhang mit der Staatsintegration. ,.Die administrative Integration wurde", so E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. I, S. 317, ..durch die parlamentarisch-repräsentative Integration ergänzt"; vgl. zum Ganzen auch Wahl, in: Hdb. des Staatsrechts, § 1 Rz. 11 ff. 7 Dazu Wahl, in: Hdb. des Staatsrechts, § 1 Rz.15: "In ihrer internen Arbeitsweise wiesen die Ständeversammlungen dagegen mit dem Mehrheitsprinzip, der Verpflichtung auf das allgemeine Wohl und dem Verbot von Weisungen Merkmale der modernen Repräsentativ-Verfassungen

auf'.

8 So E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd.III, S.15, für den darin der Wesensunterschied von Konstitutionalismus und Parlamentarismus besteht. 9 In der Verfassung des Deutschen Reiches v.28. März 1849 (auch Paulskirchen-Verfassung oder Frankfurter Verfassung genannt) war für die parlamentslosen Zeiten des Reichstags, der sich aus dem Staatenhaus und dem Volkshaus zusammensetzen sollte, die Einrichtung eines Zwischenausschusses nicht vorgesehen. Für das Reichsoberhaupt bestand die Möglichkeit, das Volkshaus, das aus allgemeinen, gleichen, geheimen und unmittelbaren Wahlen (zu den Gründen, weshalb die Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl nicht ausdrücklich genannt werden, siehe H. Meyer, Wahlsystem und Verfassungsordnung, S. 85ff.) hervorgehen sollte (siehe Reichswahlgesetz v.12. April 1849, Text bei E.R. Huber, Dokumente, Bd. 1, Nr. 108 a), nach § 106 Abs.1 FRV (Text bei E.R. Huber, Dokumente, Bd.1, Nr.108) aufzulösenodernach § 109 Abs. 1 FRV zu vertagen; eine Vertagung durch den Reichstag selbst war nach § 109 Abs. 2 FRV ebenfalls möglich. Durch das Reichsoberhaupt hätte es also zu ..parlamentslosen Zeiten" kommen können (siehe dazu auch § 104, S. 2 FRV). Allerdings bestand nach § 109 Abs. 1 FRV für das Volkshaus die Möglichkeit, zumindest eine längere Vertagung durch das Reichsoberhaupt zu verhindern. Im übrigen war für das Zweite der beiden Häuser des Reichstags, das Staatenhaus, in dem nach § 86 FRV die Vertreter der deutschen Staaten saßen, eine Regelung für die Verlängerung

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Kap. 1: Einrichtung von ZwischenausschUssen und deren Abschaffung

B. Die Neigung zur Schaffung von Zwischenausschüssen im Kaiserreich und das Entstehen von Zwischenausschüssen in den deutschen Ländern I. Die Stellung des Reichstags im Verfassungsgefüge des Kaiserreichs

Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 sah zwar eine Aufteilung der Staatsgewalt vor, aber das konstitutionelle Regierungssystem 10 gestand dem Monarchen eine Fülle von wesentlichen und entscheidenden Befugnissen zu. 11 Neben der Tatsache, daß der Monarch Anteil an der "Regierung" hatte, räumte ihm die Verfassung Vorrechte bzw. Vorbehaltsrechte in der Auswärtigen Gewalt, der Kommandogewalt und der Kolonialgewalt ein. 12 Trotzdem hatte der Reichstag einen nicht zu unterschätzenden verfassungsrechtlichen Anteil an der Machtausübung im Reich. Neben dem Bundesrat als Ländervertretung war ausschließlich der Reichstag, der nach Art. 20 RV aus allgemeinen, gleichen,13 direkten und geheimen Wahlen hervorging, an der gesetzgebenden Gewalt des Reiches gemäß Art. 5 RV beteiligt. 14 Auch der Kaiser konnte, wenn auch nur mittelbar, Einfluß auf den Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens nehmen. Der Reichstag war vom Kaiser nämlich insofern abhängig, als es allein dem Kaiser gemäß Art. 12 RV zustand, den Reichstag zu beder Wahlperiode der ausscheidenden Mitglieder getroffen worden. Auch diese Regelung wirkte "parlamentslosen Zeiten" entgegen. In § 92 FRV heißt es dazu: Absatz 1: Die Mitglieder des Staatenhauses werden auf sechs I ahre gewählt. Sie werden alle drei Iahre zur Hälfte erneuert. Absatz 3: Wird nach Ablauf dieser drei Iahre und vor Vollendung der neuen Wahlen für das Staatenhaus ein außerordentlicher Reichstag berufen, so treten, so weit die neuen Wahlen noch nicht stattgefunden haben, die fruheren Mitglieder ein. 10 Nach E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. III, S. 15, vollzog sich erst im Ersten Weltkrieg "der Übergang vorn konstitutionellen zum parlamentarischen System"; vgl. aber auch ders., in: Hdb. des Staatsrechts, § 2 Rz. 26 ff. 11 Zur Bewertung dieser Rechte und zur Gewichtung des monarchischen Prinzips siehe E. R. Huber, in: Hdb. des Staatsrechts, § 2 Rz. 26ff.; vgl. dazu Wahl, in: Hdb. des Staatsrechts, § 1 Rz.27f. 12 Außerdem bestanden für die Exekutive noch einige Rechte in bestimmten Ausnahmefällen; vgl. Art. 11, 19 und 68 RV, auf die E.R. Huber, in: Hdb. des Staatsrechts, §2 Rz.27 Fn.52, hinweist. 13 Art. 20 RV enthält zwar keinen Hinweis auf den Grundsatz der Gleichheit der Wahl, dieser ist aber im Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl mitenthalten; zu den Gründen, weshalb die Gleicheit der Wahl in Art. 20 RV nicht ausdrücklich genannt wird, siehe H. Meyer, Wahlsystem und Verfassungsordnung, S. 88 ff. 14 Es ist umstritten, ob man trotz der legislativen Befugnisse des Bundesrates von einem Zweikammersystem im montesquieuschen Sinn sprechen kann; vgl. E. R. Huber, in: Hdb. des Staatsrechts, § 2 RZ.33 und 34; Jekewitz, Grundsatz der Diskontinuität, S. 115, insb. Fn.86.

B. Zwischen ausschüsse im Kaiserreich und in den deutschen Ländern

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rufen, zu eröffnen, zu vertagen IS und zu schließen. Eine völlige Ausschaltung des Reichstags durch das Unterlassen der Einberufung war jedoch verfassungsrechtlich nicht möglich, da der Kaiser nach Art. 13 RV zur jährlichen Einberufung des Reichstags gezwungen war. Obwohl der Reichstag vom Kaiser nicht unabhängig war und ihm ein Mitentscheidungsrecht bei der Regierungsbildung und ein unmittelbar wirkendes Instrument der Regierungskontrolle 16 fehlte, hatte er als Gesetzgebungsorgan wegen des fehlenden Vetorechts des Kaisers bei der Gesetzgebung - nur der Bundesrat hatte ebenfalls legislative Befugnisse - doch eine nicht unerhebliche Stellung im Staatsgefüge. Besonders das Budgetrecht nach Art. 69 bis 72 RV ermöglichte ihm die Kontrolle der Exekutive insbesondere bei der Finanzplanung und damit vor allem bei der Entscheidung, welche Aufgaben der Staat zukünftig wahrnehmen sollte. 17 11. Die Periodizität des Reichstags Im Kaiserreich betrug die Legislaturperiode des Reichstags nach Art. 24 der Reichsverfassung zunächst drei Jahre und wurde im Jahre 1888 durch Verfassungsänderung auf fünf Jahre verlängert. 18 Für die Zeit zwischen den Legislaturperioden war auf Reichsebene kein Zwischenausschuß vorgesehen, so daß es Zeiten gab, in denen der Reichstag als Organ nicht handlungsfähig war. 19 Die Legislaturperioden endeten entweder durch Zeitablaufo oder durch Auflösung des Reichstags durch den Kaiser. Auch während der Legislaturperiode war der Reichstag nicht ununterbrochen imstande zu handeln. 21 Eine Unterbrechung der Tätigkeit des Reichstags konnte durch Vertagung oder Schließung herbeigeführt werden, wobei nach Art. 12 RV allein dem Kaiser dieses Recht - und auch die Befugnis zur Berufung und Eröffnung - zustand. Im übrigen wurde der Begriff Vertagung - unabhängig vom verfassungsrechtlichen Gebrauch - auch für die Fälle verwandt, in denen der Reichstag selbst eine einzelne IS Beachte aber Art. 26 RV, der das Recht des Kaisers, den Reichstag zu vertagen, dahingehend einschränkte, daß ohne Zustimmung des Reichstags "die Vertagung desselben die Frist von 30 Tagen nicht übersteigen und während derselben Session nicht wiederholt werden" durfte. 16 Eine Regelung, die ein Mißtrauensvotum zum Inhalt hat, war in der Verfassung des Kaiserreichs nicht enthalten. 17 V gl. E. R. Huber, in: Hdb. des Staatsrechts, § 2 Rz.45 und 46. 18 Verfassungsänderndes Reichsgesetz v.19. März 1888 (RGBl. S.llO). 19 Sogenannte absolut unterbrochene Legislaturperioden; siehe dazu Sandtner, in: Kremer, Parlamentsautlösung, S. 63. 20 Beginn und damit Ende einer Legislaturperiode waren umstritten, da Streit darüber bestand, ob die Legislaturperiode mit dem Tag der Wahl oder der ersten Einberufung beginnt; siehe dazu Herrfurth, DJZ 3 (1898), S. 1 ff.; lAband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd.1, S. 340 Fn.1; A. Arndt, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, S.133f.; G. MeyerlAnschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, § 130, S.509. 21 Vgl. lekewitz, Grundsatz der Diskontinuität, S.109.

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Kap. 1: Einrichtung von Zwischenausschüssen und deren Abschaffung

Sitzung vor völliger Erledigung der Tagesordnung abbrach oder die nächste Sitzung um einige Tage hinausschob. 22 Im Gegensatz zur Schließung unterbrach die Vertagung durch den Kaiser das Fortführen der Reichstagsgeschäfte nicht, sondern sie bewirkte lediglich ein Ruhen der Reichstagstätigkeit. 23 Bei Schließung galt dagegen der Grundsatz der Diskontinuität. 24 Nach der anschließenden "Neukonstituierung"2S mußte daher der Reichstag alle in der letzten Sitzung nicht zum Abschluß gekommenen Geschäfte des Reichstags wieder von neuem aufgreifen. 26 Die Schließung des Reichstags bewirkte also das Ende eines Arbeitsabschnitts innerhalb einer Legislaturperiode,27 nämlich das Ende einer Sitzungsperiode bzw. Session. 28 22 So Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd.l, S. 343, der darauf hinweist, daß es sich dabei um eine Verwendung des Ausdrucks "Vertagung" im nicht technischen Sinne handelt. 23 V gl. Pereis, Das autonome Reichstagsrecht, S. 105; siehe in diesem Zusammenhang auch Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, S. 343, Fn.2, der auf die Problematik einging, ob die Reichstagskommissionen während derZeit der Vertagung durch den Kaiser Sitzungen abhalten dürfen; ebenfalls dazu Pereis, Das autonome Reichstagsrecht, S.1 05, Fn.585, der die Meinung vertrat, daß beim Vertagen durch den Kaiser wie beim "Sich Vertagen" (durch den Reichstag selbst) die Kommissionen ihre Tatigkeit in der Zwischenzeit fortsetzen könnten. Er wies darauf hin, daß ersteres aber umstritten sei; a. A. etwa Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, Erster Teil, S. 246. In der Praxis begannen Kommissionen während einer vom Kaiser festgesetzten Vertagung bereits zu tagen, bevor der Reichstag zusammentrat. In diesen Fällen war nach Giese, Annalen des Deutschen Reichs 1917, S. 316 f., die Einholung des Einverständnisses der Regierung nötig; siehe dazu die Äußerungen des Abgeordneten Giesberts v. 3. Dezember 1908, Steno Ber. über die Verhandlungen des Reichstags, XII. Legislaturperiode, 175. Sitzung der 1. Session, Bd.233, S.5975 (B). Im Verlauf der Reichstagssitzung v. 28. Juni 1890, als es um die Beratungen der VllI. Kommission für die Novelle zur Gewerbeordnung ging, wurde darüber debattiert, ob eine Kommission überhaupt tagen darf, wenn der Reichstag noch vertagt ist. Letztlich ermächtigte der Reichstag die VllI. Kommission zum Zusammentritt vor dem Ende der Vertagung des Reichstags; siehe Steno Ber. über die Verhandlungen des Reichstags, VIII. Legislaturperiode, 29. Sitzung der 1. Session, Bd.114, S.654ff. Bei Selbstvertagung ("Sich Vertagen") des Reichstags war nach Giese, Annalen des Deutschen Reichs 1917, S. 316f., eine Unterbrechung der Kommissionsarbeiten an sich nicht geboten, aber aus praktischen Gründen üblich. 24 So Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd.l, S. 342; v.Roenne, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. I, S.261. 2!i Diese ,,Neukonstituierung" fand auch bei personenidentischer Zusammensetzung des Reichstags statt. 26 Ausführlich dazu v. Roenne, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. I, S. 261. 27 Vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, Art. 24 WRVAnrn.4. 28 Die Reichsverfassung v.16. April 1871 verwandte die Begriffe "Session" und "Sitzungsperiode" gleichbedeutend nebeneinander; siehe Art. 26 und 31 RV. Der Begriff "Tagung" wurde dagegen zur Untergliederung der Sitzungsperioden herangezogen, wobei die offiziellen stenographischen Berichte stets nur den Begriff "Sitzung" und nicht "Tagung" verwandten. Dagegen unterschied die Weimarer Reichsverfassung die beiden Begriffe Tagung und Sitzungsperiode nicht mehr, was anfänglich zu Interpretationsschwierigkeiten führte, aber schließlich durch die Einfügung des Art. 40 a WRV in die Weimarer Verfassung durch Gesetz v.22. Mai 1926 (RGBl. S.243) klargestellt wurde, indem dort zum Wort "Tagung" jedesmal der Begriff "Sitzungsperiode" in Klammem hinzugefügt wurde; siehe Jekewitz, Grundsatz der

B. Zwischenausschüsse im Kaiserreich und in den deutschen Ländern

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Auch für die Zeit zwischen diesen Sitzungsperioden war kein Zwischenausschuß vorgesehen. Wenn eine Kommission des Reichstags über den Schluß der Sitzungsperiode hinaus als sogenannte Zwischenkommission tagen sollte, dann bedurfte es dafür einer besonderen gesetzlichen Ermächtigung. 29 Die Verlängerung der Tätigkeit einzelner Ausschüsse über das Ende einer Sitzungsperiode hinaus ist wiederholt auch vollzogen worden. So wurde durch Gesetz vom 1. Februar 1876 30 bestimmt, daß der Ausschuß zur Vorberatung der Entwürfe von Justizgesetzen und -verordnungen (Gerichtverfassungsgesetz, Strafprozeßordung, Zivilprozeßordnung usw.) seine Verhandlungen nach dem Schluß der dritten Session des Reichstags bis zum Beginn der folgenden Session desselben 3l fortsetzen dürfe. 32

Diskontinuität, S. 17, Fn. II mit Verweis auf Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, Art. 24 WRV Anm.4, und H. Weber, Der reichsrechtliche Tagungsbegriff, S. 2ff. Der Kaiser konnte über die Dauer der Sessionen völlig frei entscheiden, so daß er von der Aufteilung der Legislaturperiode in Sessionen auch ganz absehen konnte. In der Praxis waren die Sessionen dann auch tatsächlich unterschiedlich lang: Zum Beispiel dauerte die 4. Session der V. Legislaturperiode vom 6. März bis 28. Juni 1884 (insgesamt 45 Sitzungen) und die 3. Session der VII. Legislaturperiode nur zwei Tage vom 25. bis 26. Juni 1888, während die 2. Session der XII. Legislaturperiode sich vom 30. November 1909 bis zum 5. Dezember 1911 (insgesamt 217 Sitzungen), also über einen Zeitraum von über zwei Jahren, erstreckte. 29 Vgl. Giese, Annalen des Deutschen Reichs 1917, S.316, 317. 30 RGBl. S. 15. 31 Ebenso wurde diese Kommission bereits durch Gesetz v. 23. Dezember 1874 (RGBl. S. 194 f.) ermächtigt. Ähnlich wurde auch mit der Zolltaritkommission durch Gesetz v. 20. Juni 1902 (RGBl. S. 235) verfahren; siehe dazu Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. I, S. 343. In all den von Sandtner, in: Kremer, Parlamentsauflösung, S. 64f., genannten Gesetzen zur Ermächtigung der Kommissionen zur Weitertagung findet sich kein Hinweis auf die Richtigkeit seiner Aussage, daß sich die Kontinuität der Beratungen auch auf die folgende Legislaturperiode erstrecken sollte. Vielmehr werden die Kommissionen immer nur ermächtigt, bis zum Beginn der nächsten Session zu verhandeln. Eine Ausweitung der Ermächtigung auf die nächste Legislaturperiode war gerade nicht vorgesehen, wie aus dem fast gleichlautenden § 4 der einschlägigen Gesetze v. 23. Dezember 1874 (RGBl. S. 194f.) und 1. und 20. Februar 1876 (RGBl. S.15f. und 23) zu entnehmen ist. So lautet etwa §4 des Gesetzes v.23. Dezember 1874 (RGBl. S. 195): "In einer der folgenden Sessionen der gegenwärtigen Legislaturperiode tritt der Reichstag in die weitere Berathung der im § 1 bezeichneten Gesetz-Entwürfe ein." Auch das von Sandtner erwähnte Gesetz v. 20. Juni 1902 (RGBl. S.235) enthält keine Ausweitung der Ermächtigung auf die nächste Leglislaturperiode; darin geht es nur um Sitzungen der Kommission "während der Unterbrechung der Plenar-Verhandlungen des Reichstags". 32 Nach A. Arndt, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, S.133, waren sowohl für die Verlängerung der Tätigkeiten von Kommissionen nach dem Ende einer Legislaturperiode als auch nach dem Ende einer Session verfassungsändemde Gesetze nötig. Denn zum einen beruhte die Dauer der Legislaturperiode auf einer Verfassungsvorschrift (Art. 24 S. 1 RV) und zum anderen sollte am Ende einer Session mit der Schließung des Reichstags die Beendigung der gesamten Tätigkeit des Reichstags bewirkt werden.

32

Kap. 1: Einrichtung von Zwischenausschüssen und deren Abschaffung

III. Der erweiterte Zuständigkeitsbereich des Reichshaushaltsausschusses Während des Ersten Weltkrieges erweiterte sich wegen der besonderen Umstände der Zuständigkeitsbereich des Ausschusses für den Reichshaushalt. Er entwickelte sich zu einem "außerordentlichen"33 Vertretungs organ, das außerhalb einer Tagung des Reichstags auf Grund einer besonderen kaiserlichen Ermächtigung34 zusammentraes und kurz "Hauptausschuß" genannt wurde. 36 Die Regierung setzte den Hauptausschuß regelmäßig über wichtige völkerrechtliche Maßnahmen in Kenntnis. Er durfte jedoch weder selbst Beweiserhebungen vornehmen noch von Behörden im Wege der Amtshilfe diese durchführen lassen, wie dies dem späteren Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten 37 in der Weimarer Zeit möglich war; ebenso hatte er kein "Recht zu direktem Verkehr mit den Behörden, vor allem nicht das Recht auf Aktenvorlage" .38 Er besaß allerdings Rechte, die dem Reichstag selbst zustanden. Dazu gehörte die "Besprechung" auswärtiger Angelegenheiten und der allgemeinen Kriegspolitik. Der Reichstag ließ diese Rechte, auch während der Tagung, nur durch diesen Ausschuß ausüben. 39 33 Nach Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 548, gibt es normale und außerordentliche Organe; letztere sind solche, die nur in Ausnahmefällen tätig werden, wie beispielsweise "die mit der höchsten Gewalt während eines Interregnums betrauten Personen, die Regenten in den Monarchien, provisorische Leiter der Regierung in Republiken". 34 Hatschek, Deutsches und Preußisches Staatsrecht, Bd. 1, S. 621 Nr. 1, gab für eine solche Ermächtigung des Hauptausschusses ein Beispiel: "Wir, Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen usw. verordnen auf Grund der Art. 12 und 26 der Verfassung mit Zustimmung des Reichstags, im Namen des Reichs, was folgt: § I. Der Reichstag wird bis zum 13. Februar 1917 mit der Maßgabe vertagt, daß der Ausschuß für den Reichshaushalt ermächtigt wird, zur Besprechung auswärtiger und sonstiger mit dem Krieg in Zusammenhang stehender politischer Fragen während der Zeit der Vertagung zusammenzutreten. § 2. Der Reichskanzler wird mit der Ausführung dieser Verordnung beauftragt. Urkundlich unter Unserer Höchsteigenhändigen Unterschrift und beigedrucktem Kaiserlichen Insiegel. Gegeben Großes Hauptquartier, den 4. November 1916, (gez.) Wilhelm I. R. (Gegengez.) Dr. Helfferich." 3S Abicht, Die Rechte des Überwachungsausschusses, S. 8, vertrat die Ansicht, daß der Hauptausschuß nur insofern ein außerordentliches Vertretungsorgan der Volksvertretung gewesen sei, als er auf Grund kaiserlicher Ermächtigung außerhalb - und nicht während - der Tagung des Reichstags zusammentrat. 36 Vgl. Abicht, Die Rechte des Überwachungsausschusses, S.8. Der Haushaltsausschuß wurde nach E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. V, S.I04, im Laufe des Ersten Weltkrieges als "Hauptausschuß" bezeichnet, weil er in wesentlichen Bereichen bestimmend für die Arbeit des Parlaments war. 37 Siehe Art. 35 Abs. 1 WRV. Text von Art. 35 WRV siehe Anhang Nr.4. 38 Hatschek, Deutsches und Preußisches Staatsrecht, Bd.l, S.621 Nr.l und 2. 39 So Abicht, Die Rechte des Überwachungsausschusses, S. 8 Fn. 11. Der Abgeordnete Katzenstein merkte in den Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung von 1919, Protokolle S.267, zum Hauptausschuß an, daß dieser eine Art Überwachung der Regierung (durch das Parlament) ausübte, so, wie er sich das auch für den (zukünftigen) "Überwachungsausschuß" (Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten) nach Art. 35 Abs.2 WRV vorstellte; ähnliche Äußerungen machte der Abgeordnete Bader an selbiger Stelle.

B. Zwischenausschüsse im Kaiserreich und in den deutschen Ländern

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IV. Der Hilfsdienstausschuß Am 5. Dezember 1916 trat das Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst, kurz Hilfsdienstgesetz, 40 in Kraft, das in § 19 die Einsetzung des sogenannten Hilfsdienstausschusses bestimmte. 41 Auch dieser Ausschuß entstand im Laufe des Ersten Weltkrieges. 42 Er war mit dem Recht ausgestattet, während der "Unterbrechung" der Verhandlungen des Reichstags zusammenzutreten, wobei unter Unterbrechung die Vertagung durch den Kaiser und die Schließung des Reichstags zu verstehen war. 43 Die Verabschiedung des Gesetzes war wegen der übermäßigen Rüstungssteigerung auf Grund der Materialschlachten notwendig geworden; durch das Gesetz sollte "die Freistellung von industriellen Facharbeitern vom Wehrdienst, die Umsetzung von Arbeitern aus weniger wichtigen Wirtschaftszweigen in die Rüstungsbetriebe sowie die Mobilisation noch ungenutzter Arbeitsreserven für die Rüstungswirtschaft" ermöglicht werden. 44 Der Hilfsdienstausschuß wies zwar eine organisatorische Verbindung zum Reichstag auf, funktionell arbeitete er aber mit den Regierungsstellen, nämlich dem Bundesrat und dem Kriegsamt, zusammen. 45 Er übte auf der einen Seite eine "legislative Funktion gegenüber bzw. in Gemeinschaft mit dem Bundsrat" aus und nahm auf der anderen Seite "beratende und kontrollierende Funktionen" gegenüber dem Kriegsamt wahr. 46 Letztlich handelte es sich bei ihm um ein Ausnahmeorgan. Denn er übte nicht die Rechte des Reichstags aus, sondern er nahm ihm allein zustehende Rechte wahr. Dies war der wesentliche rechtliche Unterschied zum Hauptausschuß, der lediglich Rechte des Reichstags ausübte und insofern Vertretungsorgan war. 47 Zwar stellte der Hilfsdienstausschuß eine Neubildung des Reichsstaatsrechts, nicht RGBI. 1916, S.1333ff. Text von § 19 des Gesetzes über den vaterländischen Hilfdienst siehe Anhang Nr. 1. 42 E. R. Huber, Dokumente, Bd. 2, S.463, weist daraufhin, daß das Hilfsdienstgesetz ein wesentlicher Schritt in Richtung Sozialstaat war, da "das Reich die staatliche Anerkennung der Gewerkschaften dadurch zum Ausdruck brachte, daß es sie als berufene Vertreter der Arbeitnehmer zur Durchführung dieses Gesetzes heranzog." 43 Vgl. Giese, Annalen des Deutschen Reichs 1917, S. 316f., der der Ansicht war, daß die Vertagung durch den Reichstag selbst nicht eine "Unterbrechung" i. S. d. § 19 Abs.3 des Gesetzes über den vaterländischen Hilfsdienst sei. 44 E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. V, S.101. Die Vorberatung dieses Gesetzes verdeutlicht im übrigen auch die Rolle des Hauptausschusses als außerordentliches Vertretungsorgan des Reichstags: Der Reichstag war seit dem 4. September 1916 durch kaiserliche Verordnung vertagt worden, so daß die Vorgespräche für das Hilfsdienstgesetz im Haushaltsausschuß geführt wurden und dort die parlamentarische Vorentscheidung getroffen wurde. Anschließend wurde es im Plenum des Reichstags, der auf Grund der am 22. November 1916 vom Kaiser verfügten Einberufung ab dem 25. November zusammentreten konnte, in dreimaliger Lesung vom 25. November bis 2. Dezember beraten und schließlich verabschiedet; vgl. E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. V, S.I04ff. • 5 Vgl. Giese, Annalen des Deutschen Reichs 1917, S.316, 318. 46 So Giese, Annalen des Deutschen Reichs 1917, S.318, 325. 47 V gl. Abicht, Die Rechte des Überwachungsausschusses, S. 8. 40

4\

3 Kochsiek

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Kap. 1: Einrichtung von Zwischenausschüssen und deren Abschaffung

aber eine des allgemeinen deutschen Verfassungsrechts dar,48 wie die Betrachtung der Funktionen verschiedener Parlamentsausschüsse in den Einzelstaaten zeigt. 49

v.

Überblick über die Kommissionen in den Ländern

Beinahe jede einzelstaatliche konstitutionelle Verfassung sah die Einrichtung einer "außerordentlichen" Volksvertretung in Fonn eines Landtagsausschusses vor. 50 Diese meist als "Ständische Ausschüsse" oder "Landständische Ausschüsse" bezeichneten Kommissionen tagten vorwiegend zwischen den Sitzungen des Parlaments und dienten dazu, daß in den Zeiträumen, in denen das Parlament nicht versammelt war, eine Vertretung des Parlaments vorhanden war. 51 Nur im größten Bundesstaat Preußen gab es eine solche Einrichtung nicht. 52 Die Landtagsausschüsse hatten zumeist Befugnisse im Bereich "der Legislative, der Kontrolle der Finanzverwaltung und der Kontrolle der Staatsverwaltung im ganzen":S3 Legislative Funktionen übernahmen die Ausschüsse beispielsweise insofern, als sie vom Landtag mit Zustimmung der Landesregierung für einzelne bestimmte Falle Vgl. Giese, Annalen des Deutschen Reichs 1917, S.316, 326. Der Hilfsdienstausschuß wurde zu einer Zeit eingerichtet, als der Kaiser den Reichstag nach Art. 12 und 26 der RV bereits auf den 17. Februar 1917 vertagt hatte; siehe dazu das Verlesen der Verordnung des Kaisers v. 4. November 1916 durch den Saatssekretär des Innem Helfferich im Reichstag am 4. November 1916, Steno Ber. über die Verhandlungen des Reichstags, XIII. Legislaturperiode, 74. Sitzung der 11. Session, Bd. 308, S. 2147 (C-D). Die Legislaturperiode sollte demnach über die in Art. 24 RV vorgeschriebene Dauer von fünf Jahren ausgedehnt werden, da die XIII. Legislaturperiode am 17. Februar 1917 bereits zu Ende gewesen wäre. Zwar bestand im Kaiserreich Streit darüber, wann genau die Legislaturperiode beginnt und demgemäß endet, aber wegen der Einberufung des Reichstags zur XIII. Legislaturperiode am 7. Februar 1912 hätte diese spätestens fünf Jahre später Anfang Februar 1917 enden müssen. Diese Legislaturperiode ist formell nie beendet worden. Allerdings verweigerte die Regierung nach der Revolution im November 1918 entgegen dem Verlangen des letzten Reichstagspräsidenten die Einberufung des Reichstags. Dagegen durfte der Bundesrat gemäß einer Verordnung der Volksbeauftragten v.14. November 1918 (RGBI. 1918, S.1311) die ihm bis dahin zustehenden Verwaltungsbefugnisse (nicht aber die Gesetzgebungsbefugnisse) weiterhin ausüben; siehe dazu G. Meyer/Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, Nachtrag S.1036. ~ Vgl. Abicht, Die Rechte des Überwachungsausschußes, S.8. 51 In dieser Weise äußerte sich der Reichsminister des Innem Preuß in den Vehandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung von 1919, Protokolle S.267, über die Aufgaben dieser Ausschüsse. Er fügte des weiteren bezüglich der landständischen Ausschüsse hinzu: ,,Diese Einrichtung ist in der Jugend des Konstitutionalismus entstanden, zu einer Zeit, als Parlament und Regierung sich vollkommen selbständig und einigermaßen feindlich gegenüberstanden. Die Landstände wollten die Regierung auch nicht vier Wochen ohne Aufsicht lassen". 52 Vgl. Giese, Annalen des Deutschen Reichs 1917, S.316, 318. 53 So die Einteilung von Giese, Annalen des Deutschen Reichs 1917, S. 316, 324 f., auf dessen Ausführungen für die folgende Darstellung generell hingewiesen sei. 48

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B. Zwischenausschüsse im Kaiserreich und in den deutschen Ländern

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alle Landtagsrechte übertragen bekamen. Dazu konnte auch das Recht zur Zustimmung von Landesgesetzen zählen, wobei diese Befugnis meist begrenzt war. 54 Die legislativen Befugnisse waren nicht selten mit besonderen gesetzesberatenden Funktionen verbunden. 55 Das Kontrollrecht gegenüber der Finanzverwaltung zeigte sich vor allem in mitentscheidenden und beratenden Tätigkeiten sowie in der Wahrnehmung der Aufsicht. Häufig wurden Ausschußangehörige als Mitglieder zu staatlichen Finanzbehörden, Finanzkommissionen, Bankbehörden und Kassenbehörden abgeordnet. Ebenso wirkten sie bei einzelnen Akten der Finanzverwaltung mit, wie z. B. durch Mitunterzeichnung von Schuldverschreibungen. 56 Das Kontrollrecht gegenüber der Staatsverwaltung im ganzen hatte ganz verschiedene Ausprägungen. Die Ausschüsse wachten über die Einhaltung der Verfassung und andere gesetzliche Regelungen, insbesondere darüber, daß die Rechte des 54 Vgl. Giese, Annalen des Deutschen Reichs 1917, S.316, 324. In der Neuen Landschaftsordnung für das Herzogthum Braunschweig v.12. Oktober 1832 war zum Beispiel in § 120 für den "Ständischen Ausschuß" bestimmt (Text bei Zachariä, Die deutschen Verfassungsgesetze der Gegenwart, S. 710; vgl. Giese, Annalen des Deutschen Reichs 1917, S.316, 320): Gebietet das Staatswohl dringende Eile, oder würde der vorübergehende Zweck des Gesetzes durch Verzögerung vereitelt, so können zwischen den Landtagen die das Landes-, Finanzund Steuerwesen, sowie die Militairpflicht und die Aushebung der Mannschaften betreffenden Gesetze mit Zustimmung des Ausschusses erlassen werden. Und im folgenden § 121 heißt es ferner: Einzelne, das bürgerliche und Strafrecht, den bürgerlichen und Strafprozeß betreffende Gesetze ... können zwischen den Landtagen mit Zustimmung des Ausschusses erlassen werden. Jedoch beschränkte § 122 diese recht weitgehenden Gesetzgebungsbefugnisse: Durch die mit Zustimmung des Ausschusses erlassenen Gesetze kann indeß nie dieses Landes grundgesetz oder ein mit demselben publiciertes Gesetz ergänzt, erläutert oder abgeändert, oder eine organische Einrichtung getroffen oder verändert werden. ss Z. B. sah die Neue Landschaftsordnung für das Herzogthum Braunschweig v. 12. Oktober 1832 in § 123 vor (Text bei Zachariä, Die deutschen Verfassungsgesetze der Gegenwart, S.71O): Alle Gesetze, bei welchen das Gutachten und der Rath der Stände gehört werden muß, können zwischen den Landtagen mit dem Gutachten und Rath des Ausschusses erlassen werden, mit Ausnahme einer allgemeinen Polizeiordnung. S6 So Giese, Annalen des Deutschen Reichs 1917, S. 316,324. Beispielsweise gab es in Württemberg, Sachsen, Baden und Braunschweig Mitwirkungsund Aufsichtsrechte für die Ausschüsse in bezug auf die Finanzverwaltung. In Baden reichte unter bestimmten Umständen die Zustimmung der Mehrheit des "Ständischen Ausschusses" zur Bewilligung einer Geldaufnahme des Staates, ohne daß die Stände nochmals zustimmen mußten. Wenn der Großherzog im Kriegsfalle Anleihen aufnahm oder Kriegssteuem erhob, durfte der Ausschuß ein Mitglied zum Finanzministerium und einen Kommissar zur Kriegskasse entsenden, um darüber zu wachen, daß die Kriegsgelder ihrem Zwecke entsprechend verwendet wurden. Ebenso war es ihm möglich, Mitglieder zu besonderen Kriegskommissionen und Provinzialbehörden abzuordnen; vgl. §§ 57 Abs.2 und 63 der Verfassungsurkunde für das Großherzogtum Baden v. 22. August 1818 (Text bei E.R. Huber,. Dokumente, Bd.l, Nr.54, S.179ff.).

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Kap. 1: Einrichtung von Zwischenausschüssen und deren Abschaffung

Landtags und die Vereinbarungen zwischen Landesherrn und Landtag beachtet wurden. Sahen die Ausschüsse in einem bestimmten Verhalten einen Verstoß gegen gesetzliche Regelungen, standen ihnen verschiedene Mittel zur Verfügung, darauf aufmerksam zu machen. Beispielsweise konnten sie Beschwerden, Vorstellungen, Anträge und Bitten dem Landesherrn oder einem Ministerium vorlegen, jedoch durften die Ausschüsse nur in seltenen Fällen den Landtag selbst einberufen. 57 Im Gegensatz zur Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871 kannten also fast alle konstitutionellen Länderverfassungen für die Zeiten, in denen die Ständeversammlungen bzw. Landtage nicht tagten, eine Vertretung bzw. ein Organ, meist in Form von Ständischen Ausschüssen. Zum Teil nahmen aber auch Landtagskommissare und Landtagsdeputierte diese Rolle wahr. 58 Damit übernahmen die VerSo Giese, Annalen des Deutschen Reichs 1917, S. 316, 324f. In Braunschweig hatte der "Ständische Ausschuß" nach §§ 113, 125 der Neuen Landschaftsordnung für das Herzogthum Braunschweig v. 12. Okober 1832 das Recht, die Ständeversammlung einzuberufen. In der Regel hatten die Ausschüsse aber lediglich nur ein Antragsrecht für die Einberufung eines außerordentlichen Landtags wie etwa der "Ständige LandtagsAusschuß" in Oldenburg; siehe Art. I 66ff., insb. Art. 173 § I Nr.4 des Revidierten Staatsgrundgesetzes für das Großherzogthum Oldenburg v.22. November 1852 (Text bei Zachariä, Die deutschen Verfassungsgesetze der Gegenwart, S. 928 ff.). In Hamburg war der "Bürgerausschuß" nach Art. 60 Nr. 5 der Verfassung der freien und Hansestadt Hamburg v. 13. Oktober 1879 (Text bei Stoerldv. Rauchhaupt, Handbuch der Deutschen Verfassungen, S. 179) verpflichtet, die Einhaltung der Verfassung und der auf das öffentliche Recht bezüglichen Gesetze zu überwachen" und etwaige Verletzungen derselben, sofern "Reklamationen" beim Senat "eine befriedigende Erledigung nicht herbeigeführt haben sollten", "der Bürgerschaft zur Erwägung" und eventuell zur Beschließung von "Maßregeln" vorzulegen; vgl. Giese, Annalen des Deutschen Reichs 1917, S.316, 320ff. 58 Sie hatten zumeist Aufgaben in bezug auf die Finanzverwaltung. Beispielsweise sah die Verfassung für das Königreich Bayern v.26. Mai 1818 im Titel VII, §§ 14, 15 (Text bei E. R. Huber, Dokumente, Bd.l, Nr. 53, S.167) die Einsetzung von zwei Landtagskommissären vor. Diese Landtagskommissäre sollten die ständige Aufsicht über die Tätigkeit der Staatsschuldenverwaltung wahrnehmen, waren auch nach dem Ablauf der Wahlperiode und der Auflösung der Abgeordnetenkammer im Amt und sollten in "außerordentlichen Fällen" tätig werden; vgl. dazu Giese, Annalen des Deutschen Reichs 1917, S. 316, 318f. In Sachsen-Meiningen übernahm dagegen der Landtagspräsident (,,Landmarschall") solche bzw. ähnliche Aufgaben; er konnte nach § 56 a des Grundgesetzes für die vereinigte landschaftliche Verfassung des Herzogthurns Sachsen-Meiningen v. 23. August 1829 (Text bei Zachariä, Die deutschen Verfassungsgesetze der Gegenwart, S.536ff.) "an den Sitzungen des Steuersenats der Landesregierung und der Schuldentilgungscommission" teilnehmen und die sogenannten "Vorsteher" mußten ihm ,,regelmäßige Kenntnis über die Operationen der Schuldentilgungscasse und die Verwaltung der Landescasse" geben. Wenn es ihm erforderlich erschien, konnte er unter Angabe seiner Grunde die ,,Berufung eines außerordentlichen Landtags" beantragen. In Sachsen-Altenburg war nach §§ 249 ff. des Grundgesetzes für das Herzogthurn SachsenAltenburg v.29. April 1831 (Text bei Zachariä, Die deutschen Verfassungsgesetze der Gegenwart, S.574ff.) bzw. nach den Vorschriften verschiedener Gesetze, auf die Giese, Annalen des Deutschen Reichs 1917, S. 316, 321, verweist, die Einsetzung von Landesdeputierten vorgesehen, die sich über die Wichtigsten Angelegenheiten der Finanzverwaltung ständig in Kenntnis setzen lassen konnten und u. a. im Verwaltungsrat der herzoglichen Landesbank saßen. 57

c.

Die Zwischenausschüsse in der Weimarer Republik

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fassungen der einzelnen Länder, insbesondere die von Süd- und Mitteldeutschland, in dieser Hinsicht eine Vorreiterrolle für die Schaffung der Weimarer Reichsverfassung. S9

C. Die Zwischenausschüsse in der Weimarer Republik I. Die Stellung des Reichstags im Verfassungsgefüge der Weimarer Republik Für die Stellung des Reichstags in der Weimarer Republik waren die Grundsätze der konstitutionellen Ära bestimmend. 6O Der Reichstag wurde ebenso wie der Reichspräsident direkt vom Volk gewählt. 61 Zu seinen wesentlichen Aufgaben 62 zählte die Ausübung der einfachen und verfassungsändernden Gesetzgebung (Art. 18, 68, 73 WRV) und die Entscheidung über den Haushaltsplan und Kreditaufnahmen (Art. 85, 86, 87 WRV).63 Eine Neuerung im Vergleich zur Verfassung des Kaiserreichs stellten die Kontrollrechte des Reichstags gegenüber der Reichsregierung dar. Das folgenreichste war das Mißtrauensvotum nach Art. 54 WRV. Entzog der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß dem Reichskanzler oder auch einem Reichsminister sein Vertrauen, dann mußte jeder von ihnen zurücktreten. Im parlamentarischen Regierungssystem der Weimarer Republik kam es durch die außergewöhnliche Inanspruchnahme der Kontrollrechte des Reichstags immer wieder zur "Herrschaft des Parlaments über die Regierung". Einige Kabinette konnten nur aus einer geschwächten Position heraus regieren oder mußten im Extremfall bereits kurze Zeit nach ihrer Bildung wieder zurücktreten. 64 Außerdem wurde der Verfassungsgrundsatz der Trennung von Legislative und Exekutive immer wieder durchbrochen. Der Reichstag erteilte der Exekutive durch zahlreiche "Ermächtigungsgesetze" die Blankoermächtigung, die Gesetzgebungsgewalt für gewisse Bereiche und in einem bestimmten zeitlichen Rahmen im VerVgl. Hatschek, Deutsches und Preußisches Staatsrecht, Bd.l, S.622. Darauf weist E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. VI, S.365, hin. 61 Der Reichstag ging nach Art. 22 WRV aus unmittelbaren, gleichen, allgemeinen und geheimen Wahlen hervor. 62 Zum Zuständigkeitsbereich des Reichstags siehe E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. VI, S. 360 f. 63 Des weiteren standen ihm Rechte gegenüber dem Reichspräsidenten zu (Art. 42, 43 WRV), konnte er Klage gegen den Reichspräsidenten, Reichskanzler und die Reichsminister erheben (Art. 59 WRV), nahm er an der Ausübung der auswärtigen Gewalt teil (Art. 45, Abs. 2 und 3 WRV), kontrollierte er die Ausübung der Ausnahmegewalt (Art. 48 WRV), organisierte sich selbst (Art. 24 Abs. 2,26,29,34-39 WRV) und wählte Mitglieder für das Wahlprtifungsgericht (Art.31 Abs.2 WRV). 64 V gl. H. Schneider, in: Hdb. des Staatsrechts, § 3 Rz.52. 59 60

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Kap. 1: Einrichtung von Zwischenausschüssen und deren Abschaffung

ordnungsweg auszuüben. 65 Die Verordnungen hatten zum Teil Gesetzeskraft und konnten daher geltende Gesetze ändern. 66 Eine Verlagerung der Rechtsetzung auf die Exekutive ohne Ennächtigung durch das Parlament stellte der Rückgriff auf Art. 48 Abs. 2 WRV dar, auf dessen Grundlage der Reichspräsident zahlreiche Rechtsvorschriften erließ. Damit verfügte der Reichspräsident in Ausnahmefällen über "diktatorische"67 Gewalten,68 da die auf Grund von Art. 48 Abs. 2 WRV erlassenen Verordnungen Gesetze ersetzten und die in Art. 48 Abs. 2 WRV genannten Grundrechte außer Kraft setzen konnten. 69 Insbesondere durch diese "Maßnahme-Rechte" des Reichspräsidenten nach Art.48 Abs. 2 GG war das Parlament in seiner Funktion als Gesetzgebungsorgan eingeschränkt. 70

11. Die Periodizität des Reichstags Die Wahlperiode des Reichstags betrug nach Art. 23 WRV vier Jahre, doch wurde die Amtszeit aller acht Reichstage der Weimarer Republik durch vorzeitige Auflö65 Siehe E.R. Huber, Dokumente, Bd. 3, S.185. Zwischen 1919 und 1923 traten sieben Ermächtigungsgesetze und am 23. März 1933 das achte und letzte in Kraft (Text aller acht Gesetze bei E.R. Huber, Dokumente, Bd.3, S.185ff., Nr.177-183 und S.604, Nr.526). Von 1919 bis Ende 1925 sind auf Grund der verschiedenen Ermächtigungsgesetze etwa 420 gesetzvertretende Verordnungen ergangen, wodurch nach H. Schneider, in: Hdb. des Staatsrechts, § 3 Rz. 54, die Wirtschaft und die Finanzen stabilisiert werden konnten. 66 V gl. H. Schneider, in: Hdb. des Staatsrechts, § 3 Rz. 53, der darauf hinweist, daß die beschlossenen Gesetze sogar von den Grundrechten der Reichsverfassung abweichen durften und deswegen die Ermächtigungesetze als verfassungsdurchbrechende mit qualifizierten Mehrheiten beschlossen wurden. 67 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art.48 Anrn.6. 68 Art. 48 Abs.2 S. 1 WRV bestimmte u. a., daß der Reichspräsident die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen "Maßnahmen" treffen kann, wenn die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird. Ob sich aus dem Begriff Maßnahmen tatsächlich ein präsidiales Notverordnungsrecht im Weg der Verfassungsauslegung ableiten ließ, war in der staatsrechtlichen Literatur der Weimarer Republik umstritten. Gegen die Zulässigkeit gesetzvertretender Diktaturverordnungen wandte sich insbesondere Heckel, AöR n. F. 22 (1932) S.257, 332ff. C. Schmitt, VVDStRL 1 (1924), S. 63,97, war anfangs auch gegen ein gesetzvertretendes Notverordnungsrecht, trat jedoch später für die Verfassungsmäßigkeit finanzgesetzvertretender Notverordnungen des Reichspräsidenten ein (siehe ders., Der Hüter der Verfassung, S. 128 ff.), wie es auch die Mehrzahl der Staatsrechtslehrer tat; siehe dazu AnschützlJellinek, Reichskredite und Diktatur, Zwei Rechtsgutachten. 69 In den Jahren 1930 bis 1932 sind auf Grund von Art. 48 Abs. 2 WRV nach H. Schneider, in: Hdb. des Staatsrechts, § 3 Rz.55, insgesamt 109 Verordnungen erlassen worden. Darunter befanden sich mehrere, die zur Kreditaufnahme ermächtigten (z. B. die Verordnung des Reichspräsidenten v.26. Juli 1931 [RGBl.I, S. 311]) und auch zwei Notverordnungen, die die Haushaltsführung regelten (Verordnungen des Reichspräsidenten v.29. März 1932 [RGBl. 11, S.97] und v.30. Juni 1932 [RGBl. 11, S. 153]). 70 Nach E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. VI, S.689, waren von den rund vierzehn Jahren der Weimarer Republik mehr als neun Jahre vom Ausnahmerecht des Art. 48 WRV betroffen.

C. Die Zwischenausschüsse in der Weimarer Republik

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sung beendet. Zwar sollte Art. 25 Abs. 1 WRV eine willkürliche Anwendung des Auflösungsrechts verhindern, indem dieser bestimmte, daß dem Reichspräsidenten das Recht, den Reichstag aufzulösen, "nur einmal aus dem gleichen Anlaß" zusteht. 71 Aber faktisch konnte der Reichspräsident allein nach seinen politischen Vorstellungen eine Auflösung herbeiführen. 72 Denn es war für die Exekutive nicht schwer, einen neuen Anlaß für die Auflösung zu finden,73 selbst wenn eigentlich der gleiche Anlaß für die Auflösung ausschlaggebend gewesen war. 74 Die Auflösungen in den zwölf Jahren zwischen der Wahl des ersten Reichstags am 6. Juni 1920 und der Auflösung des siebenten (vorletzten) Reichstags am 1. Februar 1933 führten zu insgesamt sechs parlamentslosen Zeiträumen mit einer Dauer von zusammen ungefähr elf Monaten. An die jeweiligen parlamentslosen Zeiten schlossen sich noch die ein- bis eineinhalb Monate dauernden Perioden an, die zwischen Wahl und Zusammentreten des neuen Reichstags lagen. In der gesamten Zeit konnten die trotz Auflösung des Reichstags noch fortbestehenden Regierungen vollendete Tatsachen für den neuen Reichstag schaffen und auch Kabinettsumbildungen herbeiführen. 7s 71 Dabei handelte es sich nach E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. VI, S. 356, um eine Ermessensentscheidung des Reichspräsidenten und des gegenzeichnenden Reichskanzlers, sofern die Aufösung nicht aus dem gleichen Anlaß stattfand. 72 E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. VI, S. 356, Fn. 22, führt dazu aus, "daß die Auflösung nicht dazu bestimmt war, rechtswidrige Akte des Reichstags zu verhindern, sondern daß sie ein politischer Akt war, der gerade auch gegen kompetenzgemäße Akte des Parlaments eingesetzt werden konnte, wenn der Reichspräsident sie als mit dem Reichsinteresse nicht vereinbar ansah". 73 E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. VI, S. 356, Fn. 21, weist daraufhin, daß der Reichstag nur durch eine beim Staatsgerichtshof zu erhebende Anklage wegen Verfassungsbruchs gegen den Reichspräsidenten oder den Reichskanzler die Verfassungswidrigkeit einer Auflösung aus dem gleichen Anlaß hätte feststellen lassen können; fUr den Beschluß der Anklageerhebung wäre jedoch nach Art. 59 S.2 WRV eine Zweidrittelmehrheit erforderlich gewesen. 14 Über die Frage, ob der Reichspräsident in einem bestimmten Fall den Reichstag aus dem gleichen oder einem anderen Anlaß wie beim vorherigen Mal auflöste, ließ sich immer wieder streiten. Zur umstrittenen Auslegung des Art. 25 WRV siehe C. Schmitt, AöR n. F. 8 (1925), S.162ff.; Heilbrunn, AöR n.F.22 (1932), S.239ff; eine Auflistung der Anlässe aller acht Auflösungen des Reichstags siehe Anhang Nr. 2. 1S Vgl. E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. VI, S.357. Die Auflösung wurde auch dazu genutzt, bereits angelaufene parlamentarische Verfahren auf einmal zu stoppen, etwa bei der Auflösung des 6. Reichstags am 12. September 1932; siehe Reichstagssitzung v. 12. September 1932, Steno Ber. über die Verhandlungen des Reichstags, VI. Wahlperiode, 2. Sitzung, Bd.447, S.15. Im amtlichen Stenogramm wurden aber einige wesentliche Ereignisse der Sitzung nicht vermerkt; sieheE.R. Huber, DJZ 37 (1932), S.1186ff.: ,,Nachdem der Reichstagspräsident (Göring) bereits die Abstimmung über einen Antrag der KPD mit dem Zweck, der Reichsregierung das Vertrauen des Reichstags zu entziehen und die Aufhebung der Notverordnungen v.4. September 1932 zu verlangen, bereits eröffnet hatte, die ersten Abstimmungskarten aber noch nicht abgegeben waren, legte der Reichskanzler eine Ausfertigung des am selben Tag vorn Reichspräsidenten unterzeichneten Erlasses zur Auflösung des Reichstags dem Reichstagspräsidenten vor. Obwohl letzterer die Annahme verweigerte und der Antrag der

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Kap. 1: Einrichtung von Zwischenausschüssen und deren Abschaffung

Die dahingehende Entwicklung, daß der Reichstag immer häufiger ausgeschaltet wurde, gipfelte schließlich in der völligen Auflösung des am 5. März 1933 gewählten Reichstags durch Verordnung des Reichspräsidenten vom 14. Oktober 1933. 76

III. Die Zwischenausschüsse der Weimarer Republik Im Gegensatz zur Verfassung des Kaiserreichs sah die Weimarer Reichsverfassung die Einrichtung von zwei "ständigen" Ausschüssen des Reichstags nach Art. 35 WRV für die Zeit "außerhalb der Tagung des Reichstags" vor. Diese Ausschüsse sollten auch "nach Beendigung einer Wahlperiode oder der Auflösung des Reichstags bis zum Zusammentritt des neuen Reichstags" tätig werden. 77 Beide wurden als ,,Zwischenausschüsse" bezeichnet. 78 Abs. 1 des Art. 35 WRV legte die Tätigkeit des auswärtigen Ausschusses fest und Abs. 2 regelte die Zuständigkeit des sogenannten Überwachungsausschusses, der die "Rechte der Volksvertretung gegenüber der Reichsregierung" in den genannten Zeiträumen wahren sollte. 79 Der Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten 80 hatte nur sehr eingeschränkte Aufgaben - nämlich auf dem Gebiet der Außenpolitik - und war an und für sich eine "Unterart des Überwachungsausschusses". S\ KPD vom Reichstag angenommen wurde, galt das Parlament zur Zeit der Abstimmung trotz fehlender Verkündung der Auflösung im Reichsgesetzblatt als aufgelöst, so daß die Regierung nicht zurücktreten mußte und ihre Notverordnungen aufrechterhalten konnte"; siehe dazu auch Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Nachträge, S. 777f., mit zahlreichen Verweisen auf Literatur zur Reichstagsauflösung v. 12. September 1932. 16 Der Wortlaut der Verordnung siehe Anhang Nr. 3. 11 Während dieses parlaments losen Zeitraums war nach Art. 27 WRV auch das weiterbestehende Präsidium des aufgelösten Reichstags mit begrenzten Befugnissen ausgestattet. Im übrigen durfte ausnahmsweise einmal ein weiterer Ausschuß über das Ende der Wahlperiode hinaus tagen. Dieser zur Durchführung des landwirtschaftlichen Notprogramms gebildete Ausschuß wurde durch Gesetz v. 31. März 1928 (RGBI I, S. 137) ermächtigt, auch nach der Auflösung des dritten Reichstags bis zum Zusammentritt des neu zu wählenden nächsten Reichstags tätig zu werden; siehe auch Steno Ber. über die Verhandlungen des Reichstags, Bd. 422, Anlage Nr. 4179; Reichstagssitzung v.28. März 1928, III. Wahlperiode, 412. Sitzung, Bd. 395, S. 13868 (c). 18 Vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 35 Anm.2; Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Art. 35 Anm. 1; Poetzsch-HeJfter, Handkommentar der Reichsverfassung, Art. 40 a Anm. 1. 79 Text von Art. 35 WRV siehe Anhang Nr.4. 80 Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Art. 35 Anm.2, hielt diesen Ausschuß für den Erben des in Art. 8 Abs. 3 RV vorgesehenen Bundesratsausschusses für auswärtige Angelegenheiten. 8\ So Abicht, Die Rechte des Überwachungsausschusses, S.II, der dazu ausführte: "Denn auch die Vorbereitung der dem Reichstag auf dem Gebiete der auswärtigen Angelegenheiten verfasssungsmäßig zustehenden Entschließungen ist eine Art vorbeugender Überwachung der Reichsregierung". Abicht wies in Fn.29 ferner darauf hin, daß anfangs geplant war, nur einen Ausschuß die Aufgaben beider Ausschüsse erfüllen zu lassen, und schließlich auf Antrag des Abgeordneten Naumann dieser Ausschuß in zwei Ausschüsse aufgeteilt worden ist; siehe dazu

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Die Zwischenausschtisse in der Weimarer Republik

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Der Überwachungsausschuß nach Art. 35 Abs. 2 WRV konnte also sowohl innerhalb einer Wahlperiode als auch nach dem Ende der Wahlperiode bzw. nach der Auflösung des Reichstags, die das vorzeitige Ende der Wahlperiode bedeutete,82 zusammentreten. Deshalb hielt man ihn zum einen für ein Vertretungsorgan des Reichstags, nämlich während der Wahlperiode zwischen den Tagungen des Reichstags, und zum anderen für ein Ersatzorgan des nicht mehr bzw. noch nicht bestehenden Reichstags, nämlich nach dem Ende der Wahlperiode. 83 Zwar befaßte sich die damalige staatsrechtliche Literatur mit der Frage, welche Rechte der Überwachungsausschuß zwischen zwei Tagungen wahrnehmen sollte. Doch war die Auseinandersetzung mit diesem Aufgabenbereich des Überwachungsausschusses letztlich überflüssig, da von der rechtlichen Möglichkeit der Unterteilung der Wahlperiode in Tagungen (Sitzungsperioden) in der Praxis kein Gebrauch gemacht wurde. Es gab also pro Wahlperiode immer nur eine einzige Tagung; sie begann mit der ersten Sitzung zu Beginn der Wahlperiode und endete mit dem Ablauf der Wahlperiode. Folglich gab es auch keinen Zeitraum zwischen zwei Tagungen, in denen der Überwachungsausschuß hätte zusammentreten können. 84 Von tatsächlichem Interesse war daher allein die Befassung mit der rechtlichen Stellung des Überwachungsausschusses nach dem - vorzeitigen 85 - Ende der Wahlperiode. Nach dem Ende der Wahlperiode konnte der Überwachungsausschuß bis zur Konstituierung des neuen Reichstags zusammentreten. 86 Damit reichte der Tätigkeitszeitraum des Überwachungsausschusses in die neue Wahlperiode hinüber, da nach h. M. der Beginn der Wahlperiode der Wahltag war. 87 Dementsprechend wurde die 25. Sitzung des 8. Ausschusses tiber den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs v. 25. April 1919, Mtindlicher Bericht, S.268. 82 Vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 25 Anm.l. 8) Vgl. Abicht, Die Rechte des Überwachungsausschusses, S.24. 84 V gl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 24 Anm. 7; Jekewitz, Grundsatz der Diskontinuität, S. 2ooff., der auch auf die rein theoretischen Erörterungen der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik tiber die Möglichkeit der ..Vertagung" und der ..Selbstschließung" eingeht. 85 Wie bereits im ersten Kapitel BIldargesteIlt, endete keine Wahlperiode des Reichstags durch ,,normalen" Zeitablauf. 86 Vgl. dazu Abicht, Die Rechte des Überwachungsausschusses, S. 13; Poetzsch-HeJfter, Handkommentar der Reichsverfassung, Art. 40 a Anm. 3. Die Verfassung des Freistaates Preußen v. 30. November 1920 war bei der Bestimmung des Tätigkeitszeitraums ihres .. Überwachungsausschusses" wesentlich genauer. In Art. 26 hieß es ...für die Zeit ... zwischen der Beendigung einer Wahlperiode oder der Auflösung des Landtags und dem Zusammentritte des neuen Landtags" (fext bei Ruthenberg, Verfassungsgesetze des Deutschen Reichs und der deutschen Länder, S. 181). 87 Die h. M. stützte ihre Ansicht auf den Wortlaut des Art. 23 Abs. 1 S. 1 WRV .. wird auf vier Jahre gewählt"; so beispielsweise Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 23 WRV Anm.l; Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Art. 23 Anm.l; wohl auch Finger, Das Staatsrecht des Deutschen Reichs, S. 265; a. A.: Hatschek, Deutsches und Preußisches Staatsrecht, Bd.l, S.414ff., für den die Wahlperiode erst mit dem Tag des ersten Zusammen-

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Kap. 1: Einrichtung von Zwischenausschüssen und deren Abschaffung

der Überwachungsausschuß in seiner Funktion als Ersatzorgan weder für einen "Ausschuß des alten noch des neuen Reichstags"88, sondern für "ein unmittelbar auf der Verfassung beruhendes Reichsorgan"89 gehalten. Ferner wurde die Meinung vertreten, daß trotz der Verwendung des Wortes "Ausschuß" in Art. 35 Abs. 2, 3 WRV der Überwachungs ausschuß nicht als Ausschuß im "technischen" Sinne angesehen werden könne, da das für einen Ausschuß erforderliche einsetzende Plenum - also der Reichstag - nach der Wahlperiode nicht mehr bestand. 90 Der Überwachungsausschuß hatte auf Grund der Formulierung in Art. 35 Abs. 2 WRV "Wahrung der Rechte der Volksvertretung gegenüber der Reichsregierung"91 nur sehr begrenzte Befugnisse. Insbesondere stand ihm nicht das Recht zur Gesetzgebung zu. 92 Damit war er im wesentlichen Kontrollorgan gegenüber der Reichsregierung. Unzweifelhaft standen ihm das sogenannte Resolutionsrecht zu, das sich aus der allgemeinen Beschlußfähigkeit einer Körperschaft ergibt,93 wozu nach § 64 a RTG0 94 das Recht zählt, Petitionen an die Regierung zu überweisen, das Interpellationsrecht nach § 55 GORT und die in Art. 35 Abs. 3 WRV erwähnten Rechte der Untersuchungsausschüsse. Ebenso gehörten gemäß dem nachträglich in die Verfassung eingefügten Art. 40 a Abs. 3 WRV 9s die Mitwirkungsrechte des Reichstags bei Strafverfolgung oder Verhaftung von Mitgliedern bestimmter Organe dazu. Dagegen durfte er nicht das Recht der Haushaltsgenehmigung (Art. 85 Abs. 2 WRV)96, da dies eines formellen Gesetzgebungsverfahrens bedurfte, das Recht der Entlastung der Regierung wegen der Reichshaushaltsrechnung (Art. 86 Abs.l, § 108 Abs. 1 S.2 tritts nach der Neuwahl begann, da es andernfalls im Falle der Neuwahl während des Bestehens des alten Reichstags seiner Ansicht nach dazu hätte kommen können, daß zwei Reichstage bis zum Zusammentritt des neuen Reichstags gleichzeitig vorhanden gewesen wären. 88 Vgl. Abicht, Die Rechte des Überwachungsausschusses, S.14. 89 V gl. Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Art. 35 Anm.3. 90 Vgl. Abicht, Die Rechte des Überwachungsausschusses, S. 14f., für den der Überwachungsausschuß nur "ein nach den Ausschußgrundsätzen zusammengesetzter Auszug aus dem Parlament" war. 91 Ursprünglich war statt der Worte "zur Wahrung der Rechte der Volksvertretung gegenüber der Reichsregierung" die Wendung ,,zur Überwachung der Tätigkeit der Reichsregierung" vorgesehen; vgl. den Antrag Nr. 152 der Abgeordneten Bader und Genossen, den der Abgeordnete Schulz als Berichterstatter vortrug; siehe 25. Sitzung des 8. Ausschusses über den Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs v. 25. April 1919, Mündlicher Bericht, S. 267. Der Abgeordnete Katzenstein führte zu diesem Antrag aus: "Der Antrag 152 bezweckt, die Überwachung der Regierung durch das Parlament sicherzustellen, namentlich auch die Ständigkeit der Überwachung festzulegen". 92 Vgl. E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. VII, S.1040; Abicht, Die Rechte des Überwachungsausschusses, S.18. 93 Vgl. Abicht, Die Rechte des Überwachungsausschusses, S.17, 26f. 94 Geschäftsordnung für den Reichstag v. 12. Dezember 1922 (RGBI. 192311, S. 101)/ 31. März 1931 (RGBI. 11, S.221). 9' Text von Art.40a Abs.3 WRV siehe Anhang Nr.5. 96 A. A. Poetzsch-HejJter, Handkommentar der Reichsverfassung, Vorb. zu Art. 34 und 35, Anm.2.

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der Reichshaushaltsordnung 97) und das Recht der Ministeranklage (Art. 59 WRV) wahrnehmen. 98 Zwar war man sich in der Staatsrechtslehre der Weimarer Zeit darüber einig, daß der Überwachungsausschuß die Kontrolle der Reichsregierung ausüben sollte. Aber wegen des Fehlens von Hinweisen im Verfassungstext zu der Frage, welche Maßnahmen der Überwachungsausschuß ergreifen muß, wenn die Reichsregierung die Rechte der Volksvertretung nicht wahrt, gab es keine einheitliche Meinung darüber, welche Rechte dem Überwachungsausschuß insgesamt zustehen. 99 Zu den Kontrollrechten des Überwachungsausschusses bestanden im wesentlichen zwei Ansichten im Schrifttum. Die herrschende Lehre beurteilte den Umfang der Rechte praktisch anhand des Ausschußcharakters des Überwachungsausschusses. 100 Sie sah ihn als "Hilfsorgan des Reichstags" 101 und gewährte ihm nur die allgemeinen Rechte von Reichstagsausschüssen 102 bzw. die Kompetenzen der Untersuchungsausschüsse. 103 Er sollte die Handlungen des Reichstags nur vorbereiten. 104 Die Gegenansicht sah in dem Überwachungsausschuß mehr einen ,,kleinen Reichstag"IOS oder ein "Neben97 Reichshaushaltsordnung v. 31. Dezember1922 (RGBI. 192311, S.17 ff., 32)/8. März 1930 (RGBI. 11, S. 693 ff.). 98 Vgl. Abicht, Die Rechte des Überwachungsausschusses, S.18, 37. 99 Abicht wies zu Recht darauf hin, daß der Überwachungsausschuß nicht ausschließlich die Rechte von Untersuchungsausschüssen haben sollte. Art. 35 Abs. 3 WRV ergänzte insofern nur die Rechte aus Art. 35 Abs. 2 WRV; siehe Abicht, Die Rechte des Überwachungsausschusses, S.22f. 100 Vgl. Abicht, Die Rechte des Überwachungssausschusses, S.21. 101 Siehe dazu die Ausführungen von Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Art. 35 Anm. 1; Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 35 Anm.4; Finger, Das Staatsrecht des Deutschen Reichs, S. 264. 102 Siehe Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 35 Anm.4. 103 So etwa Finger, Das Staatsrecht des Deutschen Reichs, S. 264: ,,Eine über die Zuständigkeit der Untersuchungsausschüsse hinausgehende Macht steht diesen ständigen Ausschüssen nicht zu, sie haben insbesondere nicht das Recht, Regierungshandlungen vorzunehmen, unmittelbar in die Verwaltung einzugreifen, venneintliche Schäden selbst zu beseitigen usw.". 104 Siehe dazu Giese, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Art. 35 Anm. I, der zu den Zwischenausschüssen des Art. 35 WRV anmerkte: "Sie sind nur vorbereitende Hilfsorgane des Reichstags" . 105 Waldecker, Die Verfassung des Freistaates Preußen vom 30. November 1920, Art. 26 Anm. 2, bezeichnete den ständigen Ausschuß des Preußischen Landtags als ,,kleinen Landtag". Im damals geltenden Landesstaatsrecht fanden sich in § 30 Abs. 3 Satz 2, Abs. 4 der Verfassungsurkunde des Freistaates Bayern v. 14. August 1919, in Art. 30 der Verfassung des Freistaates Braunschweig v. 6. Januar 1922, in § 20 des Landesgrundgesetzes von MecklenburgStre1itz v.29. Januar 1919/24. Mai 1923 und in Art. 26 der Verfassung des Freistaates Preußen v. 30. November 1920 zum Teil wörtlich gleichlautende Verfassungsbestimmungen wie in Art. 35 Abs.2, 3 WRV (Texte bei Ruthenberg, Verfassungsgesetze des Deutschen Reichs und der deutschen Länder, S. 70,87, 158, 181). Daher kann die Literatur über diese vier Überwachungsausschüsse mit verwandt werden, da diese vier Ausschüsse inhaltlich die gleiche Einrichtung darstellten wie der Überwachungsauschuß des Art. 35 WRV und das zugrunde liegende Regierungssystem nahezu das gleiche war. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß es in anderen Staaten inhaltlich von Art. 35 WRV abweichende Verfassungsbestim-

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Kap. 1:. Einrichtung von Zwischenausschüssen und deren Abschaffung

parlament". Für sie kam im Zusammentritt des Überwachungsausschusses "die Kontinuität des Organs Parlament" 106 zum Ausdruck, nicht zuletzt zwischen zwei Wahlperioden. Daher geWährte sie dem Überwachungsausschuß nahezu alle Kontrollrechte des Parlaments gegenüber der Regierung. 107 Die Auseinandersetzung um die Kompetenzen des Überwachungsausschusses gipfelte in der Frage, ob "zur Wahrung der Rechte der Volksvertretung gegenüber der Reichsregierung" gemäß Art. 35 Abs. 2 WRV auch das Recht gehört, nach Art. 54 S. 2 WRV dem Reichskanzler oder den Reichsministern das Vertrauen zu entziehen. Zwar würde der Wortlaut des Art. 35 Abs. 2 WRV grundsätzlich eine solche Auslegung zulassen. Denn wenn der Überwachungsausschuß die Rechte der Volksvertretung gegenüber der Reichsregierung wahren soll, müßte ihm dazu auch das wichtigste Kontrollmittel, die Entziehung des Vertrauens nach Art. 54 WRV, zur Verfügung stehen. Dagegen läßt sich jedoch mit Abicht 108 anführen, daß das Recht zur Auflösung des Reichstags durch den Reichspräsidenten nach Art. 25 WRV nur noch einen geringen Wert hätte, wenn der Überwachungsausschuß die Regierung durch ein Mißtrauensvotum stürzen könnte. Zumindest in der Praxis bezweckte nämlich der Reichspräsident mit der Auflösung des Reichstags, die Regierung (zumindest zeitweise) zu stabilisieren. Dies wäre ihm im Falle eines möglichen Mißtrauensvotums durch den Überwachungsausschuß verwehrt gewesen. Dem Reichspräsidenten hätte kein Gegenmittel gegen einen "Parlamentsabsolutismus" zur Verfügung gestanden. Der Überwachungs ausschuß hätte mit einem Regierungssturz die Arbeit der gesamten Exekutive weitestgehend zum Stillstand bringen können, da auch der Reichspräsident auf Grund des Erfordernisses der Gegenzeichnung von Anordnungen und Verfügungen nach Art. 50 WRV auf die Regierung angewiesen war. 109 Im übrigen lehnt Abicht llO die Ausübung des Mißtrauensvotums durch den Überwachungsausschuß auch deshalb ab, weil seiner Ansicht nach andernfalls der Übermungen über überwachungsausschußähnliche Organe gab: Art. 23 der Verfassung des Freistaates Sachsen v. 1. November 1920 sah einen Zwischenausschuß nur bei Vertagung vor, während zwischen zwei Wahlperioden der Landtagspräsident und seine Stellvertreter die Geschäfte nach Art. 11 der sächsischen Verfassung fortführen sollten (Text bei Ruthenberg, Verfassungsgesetze des Deutschen Reichs und der deutschen Länder, S. 191 f.). In Baden gab es nach § 47 des Gesetzes betreffend der badischen Verfassung v. 21. März 1919 einen Landständischen Ausschuß, der aber bei Auflösung des Landtags ebenfalls aufgelöst wurde (Texte bei Ruthenberg, Verfassungsgesetze des Deutschen Reichs und der deutschen Länder, S. 60); siehe dazu auch Abicht, Die Rechte des Überwachungsausschusses, S. 10. 106 Abicht, Die Rechte des Überwachungsausschusses, S.23. 107 Vgl. Abicht, Die Rechte des Überwachungsausschusses, S.21 ff. m. w. N. lOS Siehe Abicht, Die Rechte des Überwachungsausschusses, S. 31 ff.; Poetzsch-HefJter, Handkommentar der Reichsverfassung, Art. 35 Anm. 3, wandte sich auch ausdrücklich gegen die Geltendmachung des Mißtrauensvotums durch den Überwachungsausschuß. 109 V gl. Abicht, Die Rechte des Überwachungsausschusses, S. 34. 110 Siehe Abicht, Die Rechte des Überwachungsausschusses, S. 35.

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wachungssausschuß "eine stärkere Rechtsstellung als das von ihm zu ersetzende Organ", nämlich der Reichstag, innehabe. Art. 54 WRV, also das Recht des Reichstags, der Regierung das Vertrauen zu entziehen, und Art. 25 WRV, also das Recht des Reichspräsidenten zur Auflösung des Reichstags, würden sich gegenseitig bedingen. Während der Reichstag nach Art. 25 WRV aufgelöst werden könne, sei dies beim Überwachungsausschuß nicht möglich. Wenn der Überwachungsausschuß einen Mißtrauensantrag stellen könne und damit ein "Existenzvernichtungsrecht" gegenüber der Regierung innehabe, ohne daß er selbst aufgelöst werden könne, dann würde er nach Art. 35 Abs. 2 WRV nicht "gewisse "Rechte des Reichstags" wahren", sondern, "soweit das Recht des Art. 54 WRV durch die Befreiung von dem es bedingenden Art. 25 WRV verstärkt würde, würde dieses Recht ein eigenes Recht des Überwachungsausschusses sein, nicht ein Recht des Reichstags". Der Überwachungsausschuß dürfe jedoch keine eigenen Rechte, sondern nach Art. 35 WRV nur fremde Rechte, nämlich die des Reichstags, wahrnehmen. 111 In der Praxis verhielt sich der Überwachungsausschuß bei der Wahrnehmung von Rechten unterschiedlich. Mal sah er sich befugt zu handeln, mal übte er sich in Selbstzurückhaltung. Letzteres trat im August 1930 ein. Nachdem der Reichstag am 18. Juli 1930 beschlossen hatte, vom Reichspräsidenten v. Hindenburg zu verlangen, daß die auf Grund von Artikel 48 WRV erlassenen Verordnungen vom 16. Juli 1930 außer Kraft gesetzt werden, löste v. Hindenburg diesen nach Art. 25 WRV auf. ll2 Am 6. August 1930 erklärte sich der Überwachungsausschuß für unzustän-' dig, die Außerkraftsetzung einer Ausnahmeverordnung des Reichspräsidenten vom 16. Juli 1930 zu verlangen. ll3 Anders verhielt sich der Überwachungs ausschuß dagegen nach der Reichstagsauflösung vom 4. Juni 1932 bei seinem Zusammentritt am 25. Juli 1932, an dem die Vertreter der rechten Parteien nicht teilnahmen, weil sie dem Ausschuß das Recht absprachen, sich mit den auf der Tagesordnung stehenden Anträgen zu befassen. Dieser Ausschuß verlangte, die Notverordnungen vom 14. und 18. Juni 1932 außer Kraft zu setzen. Allerdings mißachtete die Regierung diesen Beschluß, indem sie dem Ausschuß vorhielt, für solche Beschlüsse nicht zuständig zu sein. 114 Diese Ereignisse machen deutlich, daß dem Überwachungsausschuß für die verfassungsrechtliche Aufgabe, die Rechte der Volksvertretung gegenüber der Regierung zu wahren, in der Praxis - worauf Finger llS hinweist - die hierzu erforderliche Macht gefehlt haben dürfte. Vgl. Abicht, Die Rechte des Überwachungsausschusses, S.35. Verordnung des Reichspräsidenten über die Auflösung des Reichstags v. 18. Juli 1930; siehe Verhandlungen des Reichstags, IV. Wahlperiode, Band 443, Anlage 2429. 113 Vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 35 Anm.4. 114 Siehe dazu E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. VII, S. 1041, der die damaligen Vorgänge ausführlich darstellt; siehe zu den Sitzungen des "Überwachungsausschusses" v.13. und 14. September 1932 E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. VII, S. 1l04ff., und zu den Sitzungen v. 22. bis 27. September 1932 E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. VII, S. 1111 f. llS Vgl. Finger, Das Staatsrecht des Deutschen Reichs, S.264. III

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Kap. 1: Einrichtung von Zwischenausschilssen und deren Abschaffung

D. Die Abschaffung parlamentsloser Zeiten unter dem Grundgesetz I. Der Bundestag und seine Zwischenausschüsse bis zur Grundgesetzänderung im Jahre 1976 1. Die rechtliche Ausgestaltung der Wahlperiode und der parlamentslosen Zeit

Das Grundgesetz hat die von der Weimarer Reichsverfassung her bekannten Einteilungen der Wahlperiode des Parlaments in Sitzungsperioden bzw. Tagungen aufgegeben und verwendet in Artikel 39 GG nur noch die Begriffe Sitzung und Wahlperiode. 116 Damit gilt seit 1949 der Grundsatz der ununterbrochenen Tagung des Parlaments während der Wahlperiode. 117 Den möglichen Eintritt eines parlamentslosen Zustandes schloß das Grundgesetz jedoch zunächst noch nicht aus, obwohl die damit verbundenen Schwierigkeiten wie beispielsweise der Wegfall der Immunität der Abgeordneten von den Verfassungsvätern gesehen wurden. 118 In Anlehnung an die Regelungen der Weimarer Reichsverfassung entschied sich der Parlamentarische Rat, bestimmte parlamentarische Aufgaben im parlamentslosen Zeitraum von einem Ausschuß wahrnehmen zu lassen. 119 Später kamen zusätzliche überbrückende Ausschüsse hinzu. Die maßgeblichen Bestimmungen zur parlamentslosen Zeit befanden sich in Art. 39 und 45 GG. Art. 39 Abs.l und 2 GG in der Fassung bis 1976 120 enthielt - wie der geltende Art. 39 Abs. 1 und 2 GG - Regelungen zur Wahlperiode und zum Zusammentritt des Bundestages. Für die parlamentslose Zeit, also für die Zeit nach dem Ende der vierjährigen Wahlperiode oder nach der vorzeitigen Auflösung des Bundestages, war nach Art.45 GG in der Fassung bis 1976 121 der sogenannte stän116 Der Begriff Wahlperiode umschreibt den Zeitraum, in dem die Abgeordneten ihr Mandat innehaben, während mit Sitzung der Zeitraum gemeint ist, in dem der Bundestag tatsächlich versammelt ist; vg!. MaunzIH.H. Klein, in: Maunz/Dilrig, 00, Art. 39 Rz.l, 3. 117 Vg!. Füsslein, in: v. Doemming/Filsslein/Matz,löR 1 (1951), S. 356. 118 Siehe die Diskussion in der 2. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates v.ll. November 1948, Sten.Ber. S.11 f., zum damaligen Art. 49. Der Abgeordnete Renner wies dabei auf das Problem des Wegfalls der Immunität der Abgeordneten hin. 119 Sandtner, in: Kremer, Parlamentsauflösung, S. 63 f., bezeichnet diesen Zustand als relativ unterbrochene parlamentarische Tlitigkeit, da zwischen den Wahlperioden trotz fehlenden Parlaments die parlamentarische Tlitigkeit nicht vollkommen ruht - anderenfalls läge eine absolut unterbrochene parlamentarische Tlitigkeit vor -, sondern in gewisser Weise aufrechterhalten wird. 120 Text von Art. 39 Abs. 1 und 2 00 in der Fassung bis 1976 siehe Anhang Nr.6. Art. 39 Abs. 1 und 2 00 wurde geändert durch das 33. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v.23. August 1976 (BGB!. I, S. 2381). Absatz 3 von Art. 39 GG blieb unverändert. Im folgenden wird Art. 39 00 in der Fassung bis 1976 als Art. 39 GG a. F. bezeichnet. 121 Text von Art. 45 00 in der Fassung bis 1976 siehe Anhang Nr. 7. Art.45 00 wurde durch das 33. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v.23. August 1976 (BGB!. I, S. 2381) aufgehoben. Im folgenden wird Art.45 GG in der Fassung bis 1976 als Art. 45 GG a. F. bezeichnet.

D. Die Abschaffung parlamentsloser Zeiten unter dem Grundgesetz

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dige Ausschuß vorgesehen, der dem sogenannten Überwachungsausschuß der Weimarer Reichsverfassung nachempfunden war 122 und ebenfalls in jeder Wahlperiode vom Parlament gebildet werden mußte. Anders als die Weimarer Verfassung enthielt das Grundgesetz im Jahre 1949 nur eine Regelung über diesen ständigen Ausschuß und verzichtete zunächst auf die Einrichtung eines Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten. Die Bestimmung über die Ausschüsse für auswärtige Angelegenheiten und für Verteidigung (Art. 45 a GG) wurde erst im Jahre 1956 im Rahmen der Wehrnovelle in die Verfassung eingefügt. 123 Art. 45 a Abs. 1 Satz 2 GG sah vor, daß die beiden Ausschüsse auch zwischen zwei Wahlperioden tätig werden und folglich ständig vorhanden sein sollten. Dieser Artikel wurde im Rahmen der Neufassung des Art. 39 GG im Jahr 1976 aufgehoben. 124 Ebenso wurde der Gemeinsame Ausschuß, l2.'l der sich zu zwei Dritteln aus Abgeordneten des Bundestages und zu einem Drittel aus Mitgliedern des Bundesrates zusammensetzt, erst nachträglich, nämlich im Jahre 1968, als Teil der Notstandsverfassung in Art. 53 a ins Grundgesetz aufgenommen. 126 Trotz fehlender verfassungsrechtlicher Regelung sollte er, wie sich aus seiner Entstehungsgeschichte und den Gründen für seine Einrichtung entnehmen läßt,127 im Verteidigungsfalle gemäß Art. 115 e GG auch zwischen zwei Wahlperioden tätig werden. 128

2. Der ständige Ausschuß Der Tätigkeitszeitraum des ständigen Ausschusses endete nach Art. 45 Abs. 1 S.l GG a. F. mit dem Beginn der neuen Wahlperiode. Während es in der Weimarer Reichsverfassung noch keine eindeutigen Hinweise zum Beginn der Wahlperiode gab, waren die entsprechenden Bestimmungen des Grundgesetzes deutlicher. Dementsprechend war in der Staatsrechtslehre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes die Meinung fast einhellig, daß die Wahlperiode erst mit dem ersten Zusammentritt des Bundestages und nicht schon mit der Neuwahl beginnt. Dafür sprach der Wortlaut 122 Vgl. v.Mangoldt/F. Klein, GG, 2. Aufl., Art. 45 a. F. Erl. 11 1. 123 Eingefügt durch das 7. Gesetz zu Änderung des Grundgesetzes v. 19. März 1956 (BGBI. I, S. 111). 124 Art. 45 a GG wurde durch das 33. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v.23. August 1976 (BGBl.I, S.2381) aufgehoben. 12.5 Der F. D. P.-Entwurfv.2. Oktober 1967 (BT-Drs. V/2130, S.6f.) bezeichnete ihn als Notparlament. 126 Eingefügt durch das 17. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes v. 24. Juni 1968 (BGBI. I, S.709). 127 Siehe Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 53 a Rz. 10 Fn. 1. 128 Vgl. Sandtner, in: Kremer, Parlamentsauflösung, S. 77; Busch, in: Kremer, Parlamentsauflösung, S. 86. Sandtner, in: Kremer, Parlamentsauflösung, S. 77, weist außerdem daraufhin, daß zwischen den Wahlperioden der ständige Ausschuß im Verteidigungsfall vom Gemeinsamen Ausschuß verdrängt werde.

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Kap. 1: Einrichtung von Zwischenausschüssen und deren Abschaffung

des Art. 39 Abs. 1 S.2 GG in der Fassung bis 1976: " ... endet vier Jahre nach dem ersten Zusammentritt". 129 Da demnach das Ende der Wahlperiode vier Jahre nach der Konstituierung und nicht nach der Wahl sein sollte, mußte die Wahlperiode des nach Art. 39 Abs. 1 S. 1 GG auf vier Jahre gewählten Bundestages dementsprechend mit dem ersten Zusammentritt beginnen. Für den ständigen Ausschuß bedeutete dies, daß seine Tätigkeit stets mit dem Zusammentritt des neuen Bundestages endete. Sein gesamter Handlungszeitraum erstreckte sich also vom Ende der Wahlperiode des alten Bundestages bis zur Konstituierung, auch wenn dazwischen gegebenenfalls der Wahl tag lag. Wegen des Mandatsverlustes, der durch das Ende der Wahlperiode eintrat, 130 verlängerte Art. 49 GG für die Mitglieder des Ausschusses den Abgeordnetenschutz. 131 Er bestimmte bis zu seiner Aufhebung im Jahre 1976, daß für die Mitglieder des ständigen Ausschusses die besonderen Abgeordnetenrechte wie die Indemnität und Immunität nach Art. 46 GG, das Zeugnisverweigerungsrecht nach Art. 47 GG, die Freiheit der Mandatsübernahme nach Art. 48 Abs. 2 GG sowie der Entschädigungsanspruch und die freie Benutzung der staatlichen Verkehrsmittel nach Art. 48 Abs. 3 GG vom Ende der Wahlperiode bis zum Beginn der folgenden Wahlperiode fortbestanden. 132 Der Zweck des ständigen Ausschusses bestand darin, den parlamentslosen Zeitraum zu überbrücken. Es sollte vor allem sichergestellt werden, daß die Regierung zwischen zwei Wahlperioden des Bundestages der parlamentarischen Kontrolle ausgesetzt ist. 133 Ähnlich wie beim Überwachungsausschuß der Weimarer Reichsverfassung bereitete jedoch die verfassungsrechtliche Stellung des ständigen Aus129 H. M.: R. Schneider, in: Bonner Komm. (Erstbearbeitung), GG, Art. 39 a. F. Erl. 11, 2; Versteyl, in: v.Münch, GG, l.Aufl., Art. 39 a. F. Rz. 9; a.A. zum Art. 39 GG a.F.: v.Mangoldt, GG, 1. Aufl., Art. 39 a. F. Erl. 2, für den die Wahlperiode zwar vier Jahre nach dem Zusammentritt des Bundestages (oder mit seiner Auflösung) endet, aber trotzdem nicht ..erst mit dem ersten Zusammentritt beginnt". 130 Auch die Abgeordneten, die als Mitglieder oder Stellvertreter der in Art. 49 GG genannten Gremien die Abgeordnetenprivilegien des Art. 46, 47 Abs. 2 und 3 und Art.48 GG zwischen den Wahlperioden genossen, verloren ihr Mandat; vgl. Trossmann, Parlamentsrecht und Praxis des Deutschen Bundestages, S.288. m Art. 49 GG bestimmte nicht nur für die Mitglieder des ständigen Ausschusses sondern auch für die des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten, des Ausschusses für Verteidigung und des Präsidiums des Bundestages sowie ihre ersten Stellvertreter die Verlängerung des Abgeordnetenschutzes. 132 Zur Besonderheit der Regelung der Indemnität und des Zeugnisverweigerungsrechts in Art. 49 GG siehe Maunz, in: ders./Dürig (1960), GG, Art. 49 Rz.4. 133 Vgl. v.MangoldtlF. Klein, GG, 2. Aufl., Art. 45 a. F. Erl. 112; Versteyl, in: v. Münch, GG, 1. Aufl., Art. 45 a. F. Rz. 1. Der ständige Ausschuß sollte die Ständigkeit des Parlaments als Institution sichern helfen; so Sandtner, in: Kremer, Parlamentsauflösung, S. 68. (bei Sandtner finden sich auf S. 67 ff. auch Ausführungen zur Bezeichnung des Gremiums als ständiger Ausschuß). Art. 45 GG a. F. war nach DennewitzlR. Schneider, in: Bonner Komm. (Erstbearbeitung), GG, Art.45 a. F. Erl. 11 I, gewissermaßen das Pendant zu Art. 69 Abs. 3 GG, der die Überbrückung von regierungslosen Zeiträumen regelt.

D. Die Abschaffung parlamentsloser Zeiten unter dem Grundgesetz

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schusses Schwierigkeiten. Weitestgehend einig war sich die Staatsrechtslehre darüber, daß er kein den Bundestag ersetzendes (Notstands-)Organ und kein "Neben-" oder "Ersatzparlament", sondern ein parlamentarisches Hilfsorgan war. 134 Dabei ist zu berücksichtigen, daß der ständige Ausschuß weder Sachwalter des vergangenen noch des kommenden Bundestages war, da beide konkret nicht existierten, sondern als "Sachwalter des Parlamentarismus"135 schlechthin tätig sein sollte. 136 Obwohl über die Kompetenzen des ständigen Ausschusses in den verschiedenen Ausschüssen des Parlamentarischen Rates Klarheit zu herrschen schien, 137 bereitete dem Schrifttum die genaue Abgrenzung der Befugnisse trotzdem nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Dies lag daran, daß es in Art. 45 Abs. 1 GG a. F. zum einen hieß, der ständige Ausschuß nehme die Rechte des Bundestages gegenüber der Bundesregierung wahr und habe auch die Rechte eines Untersuchungsausschusses, zum anderen dies aber in Abs. 2 dahingehend eingeschränkt wurde, daß ihm weitergehende Befugnisse wie das Recht der Gesetzgebung, der Wahl des Bundeskanzlers und der Anklage des Bundespräsidenten nicht zustehen. Mit dieser unvollständigen Eingrenzung konnte eine genaue Bestimmung der Befugnisse nicht vorgenommen werden, da Abs. 2 nur davon sprach, daß er "insbesondere" die drei aufgezählten Rechte nicht habe, ihm also noch weitere, nicht in Art. 45 Abs. 2 GG a. F. genannte Rechte des Bundestages ebenfalls nicht zustanden. 138 Zur genaueren Bestimmung der Befugnisse wurde aus Abs. 2 des Art. 45 GG a. F. unter anderem abgeleitet, daß der ständige Ausschuß keine Maßnahmen treffen sollte, die nicht mehr rückgängig gemacht werden könnten und damit endgültigen Charakter hätten. Er sollte nur den Status des Bundestages wahren und den "der anderen 134 Siehe etwa Giese/Schunck, GG, Art. 45 Er!. 11, 3; v. Mangoldt/F. Klein, GG, 2. Aufl., Art. 45 a. F. Er!. III 2; Nawiasky, Grundgedanken des Grundgesetzes, S. 91; Maunz, in: ders./ Dürig (1960), GG, Art. 45 a.F. Rz.4. l3S So Maunz, in: ders./Dürig (1960), GG, Art.45 a.F. Rz.5; a.A. wohl Versteyl, in: v.Münch, GG, 1. Aufl., Art. 45 a. F. Rz. 5. 136 Ausführlich zu der Frage, inwiefern der ständige Ausschuß ein Organ des Parlaments war, siehe Klemm, Der Zwischenausschuß nach dem Grundgesetz und der Bayerischen Verfassung, S. 38 ff. Für Jekewitz, Grundsatz der Diskontinuität, S. 261, war der ständige Ausschuß ,,kein eigentliches Organ des Parlaments", aber ,,mittelbar doch ein Organ des alten Parlaments". 137 Vg!. Füsslein, in: v. Doemming/Füsslein/Matz, JöR I (1951), S.370, Fn. 5, der auf die Äußerung des Vorsitzenden Schmid in der zweiten Lesung des Hauptausschusses, 48. Sitzung v. 9. Februar 1949, S. 632 verweist: ,,Es besteht Klarheit darüber, daß dieser ständige Ausschuß nichts anderes zu tun hat, als die Rechte des Parlaments der Bundesregierung gegenüber wahrzunehmen. Dazu hat er die Rechte eines Untersuchungsausschusses. Darüber hinaus kann ich mir nicht gut irgendwe1che Befugnisse vorstellen; es sei denn, daß das Grundgesetz ihm weiche geben wollte." 138 Kremer, in: ders., Parlamentsauflösung, S.36; a. A.: Sandtner, in: Kremer, Parlamentsauflösung, S. 76f. Er beschreibt die Rechte des ständigen Ausschusses damit, daß dieser die Rechte eines Ausschusses, die Rechte eines Untersuchungsausschusses und die Rechte des Bundestages gegenüber der Bundesregierung lediglich vermindert um die in Art. 45 Abs. 2 GG a. F. genannten Befugnisse habe.

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obersten Bundesorgane nicht antasten". 139 Der Allgemeine Redaktionsausschuß des Parlamentarischen Rates war daher der Auffassung, daß der ständige Ausschuß beispielsweise nicht das Recht haben sollte, im Falle des Todes oder Rücktritts des Bundespräsidenten dessen Nachfolger zu wählen oder über die Aufhebung der Immunität eines Abgeordenten zu beschließen oder darüber zu entscheiden, ob ein Abgeordneter seine Mitgliedschaft zum Bundestag verloren hat. 140 Infolgedessen umfaßten die Einschränkungen des Abs. 2 insgesamt folgende Rechte: 141 - Zum in Abs. 2 genannten Recht der Gesetzgebung gehörten auch das Haushaltsgesetz nach Art. 110 GG, die Kreditbewilligung nach Art. 115 GG und u. U. auch die Gesetze im Bereich der Außenpolitik nach Art. 59 Abs. 2 GG. Die Vorbereitung VOn Gesetzen sollte ihm dagegen zustehen. - Das Recht zur Wahl des Bundeskanzlers beinhaltete auch, daß er nicht gemäß Art. 67 GG das Recht hatte, dem Bundeskanzler das Mißtrauen auszusprechen. Auch für die Vertrauensfrage i. S. v. Art. 68 GG war er nicht zuständig. - Das Recht der Anklageerhebung gegen den Bundespräsidenten nach Art. 61 GG. Durch diesen Ausschluß VOn Rechten verengten sich seine Befugnisse auf solche, die die Bundesregierung nicht banden bzw. die Entscheidungen des kommenden Bundestages lediglich vorbereiteten. 142 Der Grundsatz der Diskontinuität konnte aber auch durch den ständigen Ausschuß nicht durchbrochen werden,143 so daß Gesetzesvorlagen in der folgenden Wahlperiode neu eingebracht werden mußten. l44 Im einzelnen wurden ihm folgende Befugnisse zuerkannt: 145 - die Rechte, die die Bundestagsausschüsse allgemein innehaben, wie die Vorbereitung und Vorberatung VOn Gesetzen, 146 139

Maunz, in: ders./Dürig (1960), 00, Art.45 a. F. Rz. 10.

140 Siehe dazu die Anmerkung zur Stellungnahme des Allgemeinen Redaktionsausschusses

zur in zweiter Lesung vom Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates beschlossenen Fassung des damaligen Art. 5800 (später Art.45 GG) v. 25. Januar 1949, Drs. 543. 141 Siehe dazu auch Maunz, in: ders./Dürig (1960), GG, Art. 45 a.F. Rz.9, 10; v.Mangoldt/ F. Klein, GG, 2. Aufl., Art. 45 a.F. Erl.III4d; Versteyl, in: v.Münch, GG, 1. Aufl., Art. 45 a.F. RZ.13. 142 Vgl. v.Mangoldt/F. Klein, GG, 2. Aufl., Art. 45 a.F. Erl.III4. 143 Ausführlich zur Diskontinuität beim ständigen Ausschuß und seinen Mitgliedern Jekewitz, Grundsatz der Diskontinuität, S.259ff. 144 Siehe dazu Sandtner, in: Kremer, Parlamentsauflösung, S. 75. 14S Vgl. v.Mangoldt/F. Klein, GG, 2. Aufl., Art. 45 a. F. Erl. III4b.; Dennewitz R. Schneider, in: Bonner Komm. (Erstbearbeitung), GG, Art.45 a. F. Erl. 11 1; Versteyl, in: v. Münch, GG, 1. Aufl., Art. 45 a. F. Rz.lO; Maunz, in: ders./Dürig (1960), GG, Art. 45 a.F. Rz. 12; Sandtner, in: Kremer, Parlamentsauflösung, S. 71 f. 146 Der ständige Ausschuß durfte aber keine Beschlüsse mit Rechtswirkung für das Gesetzgebungsverfahren fassen; vgl. v. Mangoldt/F. Klein, GG, 2. Aufl., Art.45 a. F. Erl. III 4 a; Dennewitz/R. Schneider, in: Bonner Komm. (Erstbearbeitung), GG, Art. 45 a. F. Erl. 11 1 d; Versteyl, in: v.Münch, 00, 1. Aufl., Art. 45 a.F. RZ.13.

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- nach Art. 45 Abs. 1 Satz 2 GG a. F. die Rechte eines Untersuchungsausschusses, - das Zitierrecht nach Art. 43 GG, - das Interpellationsrecht im Sinne der §§ 105 ff. GeschO BT, - das Petitionsüberweisungsrecht, d. h. das Recht, Petitionen, die nach Art. 17 GG an den Bundestag gerichtet wurden, an die Bundesregierung weiterzuleiten, - nach Art. 46 Abs. 2 und 3 GG das Recht, die Festnahme, Strafverfolgung und sonstige Beschränkung der persönlichen Freiheit von Abgeordneten zu verlangen, - die Befugnis, mit der Bundesregierung oder den Ministerien zu verhandeln und Erklärungen abzugeben, - das Recht, gemäß Art. 93 Abs. 1 Satz 1 GG Organstreitigkeiten vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig zu machen, 147 - die Fragerechte nach § 75 GeschO BT a. F. wie Große Anfragen nach §§ 105 GeschO BT a. F., Kleine Anfragen nach § 110 GeschO BT a. F. und Mündliche Anfragen nach § 111 GeschO BT a. F. 148 Über die wohl eher theoretische Frage, ob der ständige Ausschuß seinerseits das Recht hatte, neben Fachausschüssen auch einen Untersuchungsausschuß einzusetzen, obwohl er bereits selbst die Rechte eines Untersuchungsausschusses nach Art. 45 Abs. 1 Satz 2 GG a. F. hatte, bestand in der Literatur Streit. Die Tatsache, daß der ständige Ausschuß die besonderen Rechte eines Untersuchungsausschusses hat,149 sei kein hinreichender Grund dafür, daß "der Ausschuß nicht sein Recht auf einen eigens aus seinen Reihen gebildeten (Sonder-)Ausschuß übertragen" können soll. 150 Im übrigen wurde noch davon ausgegangen, daß er die Eidesleistung des Bundespräsidenten nach Art. 56 GG und von Regierungsmitgliedern nach Art. 64 Abs. 2 GG entgegennehmen und gegenüber dem gewählten Wehrbeauftragten das dem Bundestag eingeräumte Weisungs- und Zitierungsrecht aus § 2, I, 16 WBeauftrG a. F. ausüben dürfe. Das Recht zur Wahl und Abberufung des Wehrbeauftragten nach §§ 13, 15 Abs.4 WBeauftrG wurde ihm aber verwehrt. 151 Im Schrifttum wurde dagegen nicht erörtert, ob die Wahl des neuen Bundestages die Rechte des ständigen Ausschusses eingeschränkt oder Auswirkungen auf seine 147 Seine Parteifähigkeit für ein Organstreitverfahren nach § 13 Nr.5 BVerfGG ergab sich aus § 63 BVerfGG. 148 Zwischen der 6. und 7. Wahlperiode wurden drei Anfragen von der Bundesregierung beantwortet; siehe BT-Drs. 6. Wahlperiode, Bd. 167, Drs. des Ständigen Ausschusses VI/VII-l v.20. Oktober 1972, VI/VII-2 v. 31. Oktober 1972, VI/VII-3 v. 31. Oktober 1972. 149 Dies ist der Grund, weshalb nach Maunz, in: ders./Dürig (1960), GG, Art. 45 a.F. Rz.12, der ständige Ausschuß nicht das Recht hat, einen Untersuchungsausschuß einzusetzen. 150 So Versteyl, in: v. Münch, GG, 1. Aufl., Art. 45 a. F. Rz. 10; widersprüchliche Ansichten vertritt Sandtner, in: Kremer, Parlamentsauflösung, S. 75 f. 151 V gl. Versteyl, in: v. Münch, GG, 1. Aufl., Art. 45 a. F. Rz. 13. 4*

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Kap. 1: Einrichtung von Zwischenausschüssen und deren Abschaffung

Aufgaben hatte. Die fehlende Auseinandersetzung mit dieser Frage dürfte u. a. darauf zurückzuführen sein, daß der ständige Ausschuß nur im organisatorischen Sinne als Organ der gesetzgebenden Gewalt angesehen wurde. Er hatte nicht im funktionalen Sinne die Stellung eines Organs der politischen Willensbildung, sondern nur die eines Trägers bestimmter besonderer Rechte. 152 Daher wurde kein Zusammenhang zwischen der Wahl und dem ständigen Ausschuß hergestellt. Der VoIkswille stand in keiner direkten Beziehung zum ständigen Ausschuß, der auf Grund seiner Befugnisse bei weitem nicht die Stellung einer Volksvertretung hatte und auch vom konkret vergangenen und kommendenden Bundestag abstrahiert wurde. 153 Praktische Erfahrungen mit dem ständigen Ausschuß gab es kaum. Er trat nur ein einziges Mal zusammen. Nachdem Bundeskanzler Brandt am 20. September 1972 die Vertrauensfrage gemäß Art. 68 GG gestellt und der Bundestag ihm 48 Stunden später nicht das Vertrauen ausgesprochen hatte, kam es zum ersten Mal zur vorzeitigen Beendigung der Wahlperiode und damit zu einer 81 Tage währenden parlamentslosen Phase. In dieser Zeit trat der ständige Ausschuß am 30. Oktober 1972 für achteinhalb Stunden zusammen. 154 Da er nicht einmal eine eigene Geschäftsordnung hatte,155 wurde die Geschäftsordnung des Bundestages entsprechend angewandt. 156 Ansonsten kam es zu keiner Sitzung des ständigen Ausschusses. Dies lag vor allem daran, daß die parlamentslosen Zeiten zwischen den Wahlperioden in der Regel sehr kurz waren 157 und daher kein Grund für eine Einberufung bestand.

3. Die Möglichkeit des Zusammentritts des Alt-Bundestages Wenn die Wahl innerhalb der Wahlperiode des alten Bundestages stattfand, wie dies außer bei der vorzeitigen Auflösung im Jahre 1972 immer der Fall war, hatte es theoretisch auch die Möglichkeit gegeben, daß nach der Wahl der Alt-Bundestag 152 v. MangoldtlF. Klein, GG, 2. Aufl., Art.45 a. F. Er!. III2; HamannlLenz, GG, Art. 45 a. F. Er!.; a. A. wohl Sandtner, in: Kremer, Parlamentsauflösung, S. 70f. 153 Siehe Maunz, in: ders./Dürig (1960), GG, Art. 45 a. F. Rz.5. 154 Siehe Sten.Ber. nach 6. BT, S. 11841, Steno Ber. der 1. Sitzung des ständigen Ausschusses, S. 1 ff. Das Ergebnis der Sitzung bezeichnete der damalige Bundestagspräsident und Ausschußvorsitzende von Hassel in einem Interview mit dem Deutschlandfunk v. 7. November 1972 "als nicht gerade beeindruckend" (zit. nach Sandtner, in: Kremer, Parlamentsauflösung, S. 67), obwohl sich der Ausschuß aus führenden Politikern der Fraktionen - u. a. den Abgeordneten Barzel, Wehner und Mischnick - zusammensetzte; vg!. Versteyl, in: v. Münch, GG, 1. Aufl., Art. 45 a. F. Rz. 8; siehe auch Blischke, Der Staat 12 (1973), S. 65, 83f. ISS Der ständige Ausschuß wurde nur in § 131 Abs.2 GeschO BT erwähnt, der ebenfalls im Jahre 1976 im Zuge der Änderung des Art. 39 GG a. F. gestrichen wurde. 156 Siehe Steno Ber. nach 6. BT, S. 11841, Steno Ber. der 1. Sitzung des ständigen Ausschusses, S.l. 157 Die parlamentslosen Zeiten betrugen 1953 28 Tage, 1957 acht Tage, 1961 und 1965 einen Tag und schließlich 1969 null Tage; die Wahl zum 7. Deutschen Bundestag fand am 19. November 1972 statt.

D. Die Abschaffung parlamentsloser Zeiten unter dem Grundgesetz

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noch einmal zusammentritt. 158 Davon wurde jedoch nicht Gebrauch gemacht. Auch das Schrifttum ging auf die Aufgaben und Rechte des Alt-Bundestages so gut wie gar nicht ein. Lediglich bei v. Mangoldt/F. Klein 159 findet sich dazu eine Stellungnahme: "Bis zur Beendigung seiner Wahlperiode darf der Bundestag selbst dann noch rechtswirksam handeln (insbesondere gemäß Art. 77 Abs.l Satz 1), wenn sich zufolge der Wahl des "neuen Bundestages" die Mehrheitsverhältnisse grundlegend geändert haben." Zeh l60 vertrat die Meinung, daß hinsichtlich der Handlungsfähigkeit eines nach der Wahl noch bestehenden Bundestages Bedenken "verfassungspolitischer Natur" beständen, weil die Zusammensetzung des neuen Bundestages bereits bekannt sei. Insbesondere bei wechselnden Mehrheitsverhältnissen könne der noch bestehende Bundestag "seine Legitimation als politisch-faktisch abgelaufen empfinden", so daß ein "politisch unfruchtbarer Schwebezustand" entstehen könne. Eine weitergehende Auseinandersetzung mit dieser Frage fand im Schrifttum angesichts fehlender Anlässe dazu nicht statt.

11. Der Wegfall parlamentsloser Zeiten seit der Neugestaltung von Art. 39 Abs. 1 und 2 GG im Jahre 1976 Die vorzeitige Auflösung des 6. Bundestages am 22. September 1972 führte zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zu einer intensiven Auseinandersetzung über die Auswirkungen einer längeren bundestagslosen Zeit l61 158 Art. 39 Abs. 2 GG a. F. ließ im übrigen ein Zusammentreten des neuen Bundestages vor Ablauf der Wahlperiode des letzten Bundestages nicht zu. Ferner kann nach § 45 Abs. 1 S. 1 BWG ein gewählter Bewerber nicht vor Ablauf der Wahlperiode des letzten Bundestages die Mitgliedschaft im Bundestag erwerben. 159 v.Mangoldt/F. Klein, GG, 2. Aufl., Art. 39 a.F. Er!. III5 a. 160 Zeh, ZPari 7 (1976), S. 353, 362, setzte sich im Jahre 1976 mit der Frage der Beeinträchtigung der Aktionsfähigkeit des Alt-Bundestages auseinander, weil der 7. Bundestag nach der Wahl des 8. Bundestages am 3. Oktober 1976 noch 72 Tage lang bestand. 161 Mit dem Problem einer parlamentslosen Zeit hatte man sich schon zuvor in Niedersachsen befaßt. Auch dort gab es zur Überbrückung der parlamentslosen Zeit ursprünglich nur einen ständigen Ausschuß nach Art. 12 der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung, aber es wurde nachträglich das Recht der Selbstauflösung verbunden mit einem vorläufigen Fortbestehen des Landtages eingeführt. Das achte Gesetz zur Änderung der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung v.20. April 1970 (GVB!. S. 125) ergänzte den Art. 6 der Vorläufigen Niedersächsischen Verfassung v.13. April 1951 (GVB!. S.103) folgendermaßen: Beschließt der Landtag seine Auflösung, so endet die Wahlperiode bereits sechzig Tage nach dem Beschluß. Einen Tag nach der Änderung, also am 21. April 1972, beschloß der Landtag seine Selbstauflösung, die bis dahin einzige Selbstauüösung eines Landtages in der Bundesrepublik Deutschland; zur Geschichte dieser Verfassungsänderung in Niedersachsen siehe Wettig-Danielmeier, ZParil (1970), S. 269ff. In den Bundesländern gab es zu dieser Zeit im wesentlichen zwei Regelungen für die parlamentslose Zeit. Entweder richtete man Zwischenausschüsse ein, so in der Verfassung von Baden-Württemberg nach Art. 36, Bayern nach Art. 26, Berlin nach Art. 39 Abs. 3, Hessen nach Art. 93, Nordrhein-Westfalen nach Art. 40, Rheinland-Pfalz

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in der Presse 162 und Wissenschaft l63 , da der Bundestag 81 Tage lang personell nicht vorhanden war. Die Überbrückung des parlamentslosen Zeitraums durch den ständigen Ausschuß wurde als unbefriedigend empfunden. l64 Zuvor waren die parlamentslosen Zeiträume dadurch möglichst kurz gehalten worden, daß die Neuwahlen rechtzeitig vor dem Ende der vierjährigen Wahlperiode des noch bestehenden Bundestages durchgeführt wurden. 165 Deshalb war dieser Zeitraum bis dahin nicht von Interesse gewesen, und seine Auswirkungen auf die Abgeordneten und das System der parlamentarisch repräsentativen Demokratie kaum untersucht worden. Die im Jahre 1972 entstandene Diskussion beschäftigte sich vor allem mit den Problemen einer Parlamentsauflösung und der Frage, ob parlamentslose Zeiten überhaupt sinnvoll seien. 166 Neben der fehlenden Möglichkeit des Bundestages zur Selbstauflösung 167 war insbesondere auf Kritik gestoßen, daß im parlamentslosen nach Art. 92 und Schleswig-Holstein nach Art. 18, oder man traf für diese Zeit gar keine Regelungen wie in Bremen und Hamburg. Im Saarland wurde in Art. 72 Abs. 3 der Verfassung lediglich bestimmt, daß das Präsidium des Landtages bis zum Zusammentritt eines neuen Landtages die Geschäfte fortführt; eine Zusammenstellung der einschlägigen Artikel der Landesverfassungen auf dem Stand vom März 1974 findet sich in Kremer, Parlamentsauflösung, Anhang C, S.165ff. 162 Siehe etwa das Gespräch mit dem Vorsitzenden der Enquete-Kommission Verfassungsreform Schäfer, Süddeutsche Zeitung v. 28. Juli 1972; Fromme, Wenn die Bundesrepublik kein Parlament hat, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 6. September 1972; vgl. die Zusammenfassung von Pressestimmen im Parlamentsreport v. 16. August 1972 (herausgegeben von den Wissenschaftlichen Diensten des Deutschen Bundestages, Referat Pressedokumentation). 163 Siehe dazu insbesondere die Beiträge der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages aus dem Jahre 1972, die in dem von Kremer herausgegebenen Sammelband "Parlamentsauflösung. Praxis - Theorie - Ausblick" zusammengefaßt sind; dort findet sich auch ein Gutachten von Herzog zur Stellung der Parlamentarischen Staatssekretäre im Falle der Bundestagsauflösung. 164 V gl. Schäfer, der sich in einem Gespräch in der Süddeutschen Zeitung v. 28. Juli 1972 dafür aussprach, daß das Parlament kontinuierlich handlungsfahig sein mUsse; siehe auch Kommissionsdrucksache Nr.052 v. 31. Juli 1972 im Zwischenbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform v.21. September 1972, BT-Drs. VI/3829, S. 91. 163 Am längsten war die bundestagslose Zeit, wie bereits erwähnt, 1953 mit 28 Tagen. 166 Zu den ersten Änderungsvorschlägen zum Art. 39 GG im Jahre 1972 siehe Busch, ZParl 4 (1973), S. 213,240. 167 Die ersten Reformvorschläge für eine Änderung des Art. 39 GG a. F. sahen daher auch das Recht zur Selbstauflösung des Bundestages vor. Der Vorschlag von dem Vorsitzenden der Enquete-Kommission Verfassungsreform Schäfer, in: Zwischenbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform v. 21. September 1972, BT-Drs. VI/3829, S. 89ff., enthielt in Abs.2 von Art. 39 GG die Regelung, daß der Bundespräsident nach seinem Ermessen den Bundestag auflösen könne, wenn ein Drittel der Mitglieder des Bundestages die vorzeitige Beendigung der Wahlperiode verlange, und in Abs. 3, daß er ihn auflösen müsse, wenn zwei Drittel dies forderten. Dieses Selbstauflösungsrecht des Parlaments fand sich bis dahin bereits in fast allen deutschen Landesverfassungen mit Ausnahme der Verfassung des Landes Baden-Württemberg v.l1. November 1953 (GBI. S.173) Ld. F. v.19. Oktober 1971 (GBI. S.425) und der Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen v.2. Dezember 1946 (GBI. S.333) Ld.F. v.15. Juni 1970 (GBI. S. 239). Einen gewissen Sonderfall stellte die Regelung in der schleswig-holstei-

D. Die Abschaffung parlarnentsloser Zeiten unter dem Grundgesetz

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Zeitraum die Abgeordneten ihr Mandat und damit auch ihre Immunität verlören, und daß das Parlament längere Zeit nicht handlungsfahig sei. 168 Außerdem trat die Frage auf, welche rechtliche Stellung die Parlamentarischen Staatssekretäre in dieser Zeit hätten. 169 Die Möglichkeit parlamentsloser Zeiten wurde nicht mehr als zeitgemäß angesehen; die Auflösung des Parlaments mit der Wirkung, daß die Regierung in der parlamentslosen Zeit ohne Behinderung durch das Parlament politische Entscheidungen treffen konnte, empfand man als ein Relikt aus der Zeit der konstitutionellen Monarchie. 170 Das parlamentarische Regierungssystem hielt man nur mit einem ständigen "Gegenüber und Miteinander von Regierung und Parlament" 171 für funktionsfähig. Dementsprechend wurde die zeitweilige Nichtverfügbarkeit des Bundestages wegen der möglichen ungünstigen Auswirkungen auf die Machtbalance und die Zusammenarbeit der beiden Organe in Frage gestellt. 172 Der Vorsitzende der Enquete-Kommission Verfassungsreform Schäfer legte im Sommer 1972 kurz vor der Auflösung des 6. Bundestages den ersten Entwurf für eine Änderung des Art. 39 GG vor. Darin war bereits ein lückenloser Übergang von einer auf die nächste Wahlperiode, auch im Falle einer vorzeitigen Auflösung, vorgesehen. 173 Bis zur endgültigen Änderung des Art. 39 GG vergingen aber noch vier Jahre, weil sich die in der 7. Wahlperiode wiedereingesetzte Kommission zuerst anderen Teilen der Verfassungsreform zuwandte und außerdem Streit über Einzelheinischen Verfassung dar. Nach Art. 31 Abs.2 der Landessatzung v. 13. Dezember 1949 (GVBI. 1950, S. 3) i. d. F. v. 15. März 1962 (GVBI. S. 123) konnte nicht das Parlament selbst, sondern nur der Ministerpräsident einen Antrag auf Auflösung des Parlaments stellen, der dann der Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl des Landtags bedurfte; zur Darstellung des Selbstauflösungsrechts in den Bundesländern siehe Kretschmer, in: Kremer, Parlamentsauflösung, S.8 mit Verweis auf Anhang C. 168 Vgl. Zwischenbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform v. 21. September 1972, BT-Drs. VI/3829, S.90f. 169 Dieses Problem beschäftigte auch den 6. Bundestag in seiner letzten Fragestunde am 22. September 1972, siehe BT-Drs. VI/3783, V1/3812; Steno Ber. 6. BT 199. Sitzung, S. 11725 ff., und den ständigen Ausschuß in seiner Sitzung am 30. Oktober 1972, Steno Ber. nach 6. BT, S. 11841, Steno Ber. der 1. Sitzung des ständigen Ausschusses, S. 62 ff.; zu dieser Fragestellung siehe das Gutachten von Herzog, in: Kremer, Parlamentsauflösung, S. 113ff. 170 Siehe dazu die Äußerung des Bundestagsabgeordneten Schrnitt-Vockenhausen in einem Interview in der ARD v.28. Juni 1972, aus dem Reiter, in: Kremer, Parlamentsauflösung, S. 96, zitiert; vgl. auch Böckenförde, Überlegungen und Empfehlungen der Enquete-Kommission Verfassungsreform im Hinblick auf die demokratisch-parlamentarische Verfassungsorganisation, S.40f. 171 Busch, ZParl4 (1973), S.213, 225. 172 Vgl. Busch, ZParl4 (1973), S.213, 225; Kommissionsdrucksache Nr.052 v.31. Juli 1972 im Zwischenbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform v.21. September 1972, BTDrs. V1/3829, S.91. 173 Siehe Kommissionsdrucksache Nr. 052 v. 31. Juli 1972 im Zwischenbericht der EnqueteKommission Verfassungsreform v.21. September 1972, BT-Drs. VIß829, S.89. Text des Vorschlags zur Neugestaltung des Art. 39 Abs. 1 GG a. F. siehe Anhang Nr.8.

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Kap. 1: Einrichtung von Zwischenausschüssen und deren Abschaffung

ten des neuen Art. 39 GG entstand. Insbesondere gab es Meinungsunterschiede über den Ablauf des letzen Vierteljahres einer Wahlperiode. In diesem sollte die Wahl des neuen Bundestages stattfinden und der neugewählte Bundestag sollte unabhängig vom Ende der vierjährigen Wahlperiode des alten Bundestages zusammentreten können. Darüber hinaus wollte man zum alten Rhythmus der Wahlen, wie er bis zur Auflösung des Bundestages im Jahr 1972 bestand, zurückkehren, nämlich wieder in den Monaten September oder Oktober des letzten Jahres einer Wahlperiode die Bundestagswahl stattfinden lassen. Diese Monate versprachen erfahrungsgemäß eine hohe Wahlbeteiligung. 174 Wäre der Wahltermin bei der folgenden Wahl zum 8. Bundestag im Jahre 1976 aber auf die Monate September oder Oktober gelegt worden, hätte dies dazu geführt, daß der bestehende 7. Bundestag seine bis zum 12. Dezember 1976 dauernde Wahlperiode vorzeitig hätte beenden müssen. Denn der 8. Bundestag, der wegen der oben genannten günstigen Wahlbedingungen spätestens Ende Oktober 1976 hätte gewählt werden sollen, wäre bis spätestens Ende November 1976 zum Zusammentritt gezwungen gewesen, da nach Art. 39 Abs. 2 GG a. E und n. E jeder Bundestag innerhalb von 30 Tagen nach seiner Wahl zusammentreten muß. Bei den Mitgliedern der ebenfalls mit dieser Frage beschäftigten Parlamentsreform-Kommission des Ältestenrates traf der Vorschlag, die laufende Wahlperiode zu verkürzen, überwiegend auf Ablehnung. 17s Es wurde schließlich beschlossen, daß die Wahlperiode des 7. Bundestages nicht angetastet werden und erst die Wahlperiode des 8. Bundestages verkürzt werden sollte. 176 Die Voraussetzungen für eine Verkürzung der 8. Wahlperiode schuf man dadurch, daß man das Inkrafttreten des geänderten Art. 39 GG mit dem Tag der Konstituierung des 8. Bundestages verband 177 und die Sperre des Art. 39 Abs. 2 GG a. E, wonach der Bundestag nicht vor dem Ende der Wahlperiode des letzten Bundestages zusammentreten darf, beseitigte. Mit der Änderung

174 Vgl. Zeh, ZParl7 (1976), S.362. Die Gutachtergruppe der Abteilung ,,Parlament" der Bundestagsverwaltung schlug sogar vor, diese Monate in den Art. 39 GG aufzunehmen. Text des Entwurfs v. 5. November 1975 zur Neugestaltung des Art. 39 Abs. 1 und 2 GG a. F. siehe Anhang Nr. 9. m Siehe Zeh, ZParl 7 (1976), S. 353,362. U. a. war umstritten, ob der Bundestag die Dauer der Wahlperiode bereits mit Wirkung für die laufende Wahlperiode verkürzen könne; zu den damaligen Argumenten für und gegen eine Verkürzung der Wahlperiode siehe Kretschmer, in: Bonner Kom., GG, Art. 39 Rz. 14. 176 Die Bundestagswahl fand am 3. Oktober 1976 und die Konstituierung am 14. Dezember 1976 statt, so daß der alte Bundestag nach der Wahl noch 72 Tage weiter bestand und der neue Bundestag bereits in "Wartestellung" war; vgl. Zeh, ZParl 7 (1976), S. 353,362. Die Meinungsunterschiede von SPD und CDU/CSU über die Abkürzung der Wahlperiode des 7. Bundestages wurden in der Haushaltsdebatte (zum Einzelplan 02) am 11. Mai 1976 in den Redebeiträgen der Abgeordneten Lenz und Schäfer deutlich; siehe Steno Ber. 7. BT 240. Sitzung, S.16920ff. 177 Zur Entwicklung der einzelnen Reformvorschläge siehe Zeh, ZParl 7 (1976), S. 353, 363ff.

D. Die Abschaffung parlamentsloser Zeiten unter dem Grundgesetz

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des Art. 39 GG 178 ging die Streichung der überflüssig gewordenen Art. 45, 45 a Abs. 1 Satz 2, 49 GG einher. 179 Mit der Regelung eines lückenlosen Übergangs von einer Wahlperiode zur nächsten wollte die Kommission nach dem demokratisch-parlamentarischen Prinzip die Stellung des Parlaments als zentrales staatliches Organ festigen. 180 Die Kommission vertrat die Ansicht, daß die Existenz des Parlaments nicht unterbrochen werden könne, ohne daß dadurch der gesamte organisatorische Staatsbau demokratisch ohne Legitimation bliebe. Ein demokratischer Staat ohne ein stets verfügbares Verfassungsorgan Parlament wäre nicht vollgültig verfaßt. Der Bundestag bekomme daher durch die Grundgesetzänderung, ungeachtet der Diskontinuität zwischen den einzelnen Wahlperioden, die Stellung eines "ständig präsenten und handlungsfähigen Verfassungsorgans".181

III. Die Änderung des Art. 39 Abs.l GG im Jahre 1998 Durch die Neugestaltung des Art. 39 Abs. 1 S. 1 und 3 GG im Jahre 1998 182 verschiebt sich der Zeitraum der Wahl ab der 14. Wahlperiode 183 vom 45. bis 47. Monat auf den 46. bis 48. Monat nach Beginn der Wahlperiode. Am nahtlosen Übergang der Wahlperioden hat sich dadurch nichts geändert. Aufgrund dieser Neuregelung des Art. 39 Abs.l S.3 GG kann die Länge der Wahlperiode aber länger als vier Jahre sein. Dies ist dann möglich, wenn die Wahl gegen Ende der 48 Monate stattfindet, da der neue Bundestag nach Art. 39 Abs. 2 GG bis zu 30 Tage nach der Wahl erstmals zusammenzutreten kann. Wegen der möglichen Verlängerung der Wahlperiode über die in Art. 39 Abs. I S. 1 GG genannte Dauer der Wahlperiode von vier Jahren hinaus ist die Formulierung "vorbehaltlich der nachfolgenden Bestimmungen" für den Fall der Überschreitung des Vierjahreszeitraums in Satz 1 eingefügt worden. 178 Text des geänderten Art. 39 Abs. 1 und 2 GG siehe Anhang Nr. 10. Mit dem 33. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v.23. August 1976 (BGBL I, S. 2381) folgte der Bundestag jedoch nicht dem Änderungsvorschlag der Enquete-Kommission Verfassungsreform. Dieser sah nämlich noch ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages vor; siehe den Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform v. 9. Dezember 1976, BT-Drs. 7/5924, S.257; Text des vorgeschlagenen Art. 39 GG siehe Anhang Nr. 11. 179 Das 33. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 23. August 1976 (BGBL I, S. 2381) trat in bezug auf die Änderung des Art. 39 GG a. F. und die Streichungen der damit im Zusammenhang stehenden Art.45, 45 a Abs.l Satz 2 und Art.49 GG am 14. Dezember 1976 in Kraft; am Tag zuvor war die Wahlperiode des 7. Bundestages zu Ende gegangen. 180 Siehe dazu den Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform v.9. Dezember 1976, BT-Drs. 7/5924, S. 34ff. 181 Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform v. 9. Dezember 1976, BTDrs. 7/5924, S.34. 182 46. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v.16. Juli 1998 (BGBL I, S.1822). 183 Das Gesetz ist am 27. Oktober 1998, also erst mit Wirkung für die 14. Wahlperiode, in Kraft getreten.

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Kap. 1: Einrichtung von Zwischenausschüssen und deren Abschaffung

Zur Sicherstellung einer möglichst breiten Wahlbeteiligung war die Änderung des Art. 39 Abs. 1 GG erforderlich geworden. Hätte man die alte Regelung des Art. 39 Abs. 1 S. 3 GG beibehalten, wäre der Wahltermin zeitlich immer näher an die Sommerferien herangerückt. Nach der alten Regelung des Art. 39 GG hätte zwar bei vollständiger Ausschöpfung des rechtlichen Zeitraums für die Wahl des Bundestages (47 Monate nach Beginn der Wahlperiode) und für den Zusammentritt des neuen Bundestages (30 Tage nach der Wahl) ein Vorrücken des Wahltermins theoretisch vermieden werden können. Aber in der Praxis stand dem bereits entgegen, daß die Wahl nach § 16 S. 2 BWahlG stets an einem Sonn- oder (bundesweit) gesetzlichen Feiertag stattzufinden hat. Allein deshalb wäre langfristig ein langsames Vorrücken des Wahltermins unvermeidbar gewesen. Auch andere Umstände wie eine Verkürzung des Zeitraums zwischen Wahl und erstem Zusammentritt hätten zu einem Vorrücken des Wahltermins geführt. Durch die Neuregelung, die einen zeitlichen Rahmen von drei Monaten für die Wahl und die Konstituierung des Parlaments beläßt, ist eine flexible Gestaltung des Wahl termins unter Vermeidung einer Kollision mit den Sommer- oder auch Herbstferien möglich. Das Hinausschieben des Zeitraums, innerhalb dessen die Neuwahl stattfinden muß, um einen Monat macht es möglich, daß die in Betracht kommenden Wahltermine in Zukunft - von dem Fall einer Auflösung des Bundestages abgesehen - in den Monaten September bis November liegen werden. 184

E. Zusammenfassung Bei der Bestimmung der Dauer, des Beginns und des Endes der Wahlperiode zeigt das Grundgesetz deutliche Übereinstimmungen zu älteren deutschen Verfassungen, insbesondere der Weimarer Reichsverfassung. Es sind noch, wie Morlok es ausdrückt, "deutliche Züge der Formierungsepoche" erkennbar. 185 Aber schon beim Inkrafttreten des Grundgesetzes wurden Unterschiede, auch zur Weimarer Zeit, sichtbar. Im Gegensatz zu Art. 23 WRV ließ Art. 39 GG a. F. praktisch keinen Zweifel daran, daß der Beginn der Wahlperiode nicht der Wahltag, sondern der erste Zusammentritt des Bundestages ist. Ferner wurde eine Unterteilung der Wahlperiode in Sitzungsperioden aufgegeben. Die Verfassungsväter trugen damit dem Umstand Rechnung, daß schon in der Weimarer Republik das Parlament im Gegensatz zum Kaiserreich permanent tagte, obwohl die Weimarer Reichsverfassung noch Sitzungsperioden vorgesehen hatte. Ganz den älteren verfassungsrechtlichen Vorstellungen verhaftet, ließ der Parlamentarische Rat zunächst noch parlamentslose Zeiten zu. Sie wurden durch die Ein184 Zu den Motiven der Grundgesetzänderung siehe die Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetztes (Artikel 39) v. 10. Dezember 1997, BT-Drs. 13/9393, sowie die Beschlußempfehlung und den Bericht des Rechtsausschusses v. 5. Mai 1998, BTDrs. 13/10590. ISS Siehe Morlok, in: Dreier, GG, Art. 39 Rz. 1.

E. Zusanunenfassung

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richtung von Zwischenausschüssen überbrückt. Nach den unbefriedigenden Erfahrungen mit dem ständigen Ausschuß im Jahre 1972 änderte der verfassungsändernde Gesetzgeber im Jahre 1976 das Grundgesetz, mit dem er einen nahtlosen Übergang der Wahlperioden sicherstellen wollte. Im Vergleich dazu führte die neue Festlegung des Wahlzeitraums im Jahre 1998 nur zu einer unwesentlichen Neugestaltung des Übergangs vom alten zum neuen Bundestag. Die Verfassungsänderung hatte allein den Zweck, daß auch in Zukunft zu einem - hinsichtlich einer hohen Wahlbeteiligung - möglichst günstigen Zeitpunkt die Bundestagswahl stattfinden kann. Für die Beantwortung der Frage, ob ein Alt-Parlament nach der Wahl des neuen Parlaments materiell für die Ausübung der parlamentarischen Rechte zuständig ist, können aus der Entstehungsgeschichte des Übergangs von einem alten auf ein neues Parlament direkt keine Rückschlüsse gezogen werden. Eine ausführliche Befassung mit der Frage der Zuständigkeit eines Alt-Parlaments blieb nämlich aus. Die ehemaligen Zwischenausschüsse können jedoch mit ihrem Aufgabenbereich und ihren Befugnissen Anhaltspunkte für den Zuständigkeitsbereich des Alt-Bundestages liefern. Dies gilt insbesondere für den ständigen Ausschuß. Übereinstimmungen zwischen dem Alt-Bundestag und dem ständigen Ausschuß sind insofern vorhanden, als bei beiden ein Tätigwerden nach der Wahl des neuen Parlaments formell möglich ist, und beide ein "Überbleibsel des alten Bundestages"186 sind. Unterschiede zwischen ihnen bestehen aber darin, daß der ständige Ausschuß nicht als ein Organ der gesetzgebenden Gewalt oder der politischen Willensbildung, sondern in Anlehnung an den Überwachungsausschuß der Weimarer Republik lediglich als ein Organ eingerichtet wurde, das die Rechte des Bundestages gegenüber der Regierung wahrt. Damit standen ihm viele Befugnisse von vornherein nicht zu, die der Alt-Bundestag als gewählte, grundsätzlich mit allen parlamentarischen Rechten ausgestattete Volksvertretung durchaus wahrnehmen könnte. Daher können die Rechte des ständigen Ausschusses allenfalls Richtschnur, keinesfalls aber Maßstab für die Befugnisse des Alt-Bundestages sein.

186 Maunz, in: ders./Dürig (1960), 00, Art. 45 a. F. Rz.6, verwendet den Ausdruck "Überbleibsel" in bezug auf den ständigen Ausschuß.

Zweites Kapitel

Die rechtliche Ausgestaltung des Übergangs vom alten zum neuen Bundestag Um den Tätigkeitszeitraum des Alt-Bundestages genau erfassen zu können, richtet sich im folgenden der Blick auf den Verfahrensablauf von der Festlegung des Wahlzeitpunktes bis zum Zusammentritt des neuen Bundestages. Es solI deutlich gemacht werden, wann genau und unter weIchen rechtlichen Rahmenbedingungen der Alt-Bundestag tätig werden kann.

A. Der Verfahrensablauf ab der Festlegung des Wahl tages bis zur Konstituierung des neuen Bundestages Für die Festlegung des Wahltages sind die Fristen des Art. 39 Abs. 1 S.3 GG 1 zugrundezulegen. Danach kann die Wahl nur in einem Zeitraum von zwei Monaten stattfinden, nämlich frühestens 46 und spätestens 48 Monate nach Beginn der Wahlperiode. 2 Da die Wahlperiode nicht schon mit Beginn des Tages anfangt, an dem sich der Bundestag konstituiert, sondern erst, wenn beim ersten Zusammentritt die Eröffnung der Sitzung erklärt wird, 3 richtet sich die Berechnung des Zeitraums der 46 Monate - wie im übrigen auch der der vierjährigen Wahlperiode - nach §§ 187 Abs.l, 188 Abs.2 Alt. 1 BGB. 4 Folglich wird der Tag der Konstituierung bei der Berechnung nicht mit einbezogen, so daß die Wahl erst am Tag nach den 46 Monaten erstmals stattfinden darf. s Die Frist für die zwei Monate, in denen gewählt werden Hier und im folgenden ist Art. 39 GG in der geänderten Fassung von 1998 gemeint. Die meisten im folgenden genannten Autoren haben für ihre Fristberechnungen den damals noch geltenden Art. 39 Abs. 1 GG in der Fassung bis 1998 zugrundege1egt. Ihre Berechnungen sind jedoch auf den neugeschaffenen Art. 39 GG, der den zur Verfügung stehenden Wahlzeitraum mit der anschließenden Periode des Alt-Bundestages lediglich um einen Monat nach hinten verschiebt, weitestgehend übertragbar. 3 So bereits v.MangoldtlF. Klein, GG, 2. Autl., Art. 39 a. F. Anm.III3 a; vgl. Schreiber, Hdb. des Wahlrechts, § 16 Rz. 3; E. KleinlGiegerich, AöR 112 (1987), S.544, 546; Fuchs-Wissemann, DÖV 1990, S. 694,696; Kretschmer, in: Bonner Komm., GG, Art. 39 Rz. 17, 27; a. A. Versteyl, in: Schneider/Zeh, § 14 Rz. 12, für den - mit unklarer Begründung - die Wahlperiode um 0.00 Uhr des Tages der Konstituierung beginnt. 4 Zur Anwendung der fristenrechtlichen Vorschriften der §§ 186ff. BGB im öffentlichen Recht siehe BGHZ 59, S. 396, 397; Heinrichs, in: Palandt, BGB, § 186 Rz. 2. S Vgl. Fuchs-Wissemann, DÖV 1990, S.694, 696f.; Schreiber, Hdb. des Wahlrechts, § 16 Rz.3; WeideslKremke, NJW 1990, S.1888f.; a.A.E. KleinlGiegerich, AöR 112 (1987), S.544, 1

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A. Der Verfahrensablauf ab der Festlegung des Wahltages bis zur Konstituierung

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darf, fangt zu Beginn dieses Tages an, so daß der Zweimonatszeitraum nach §§ 187 Abs.2, 188 Abs. 2 Alt. 2 BGB berechnet wird. Der letzte mögliche Wahltag ist dann der Tag, der datumsmäßig dem Tag des Zusammentritts des alten Bundestages zuzüglich 48 Monate entspricht. 6 Der Bundespräsident bestimmt nach § 16 S.1 BWahlG den Wahltag. Es darf nach § 16 S. 2 BWahlG nur ein Sonntag oder gesetzlicher Feiertag sein. Eine verfrühte Wahl ist ungültig, während eine verspätete Wahl trotz Verstoßes gegen Art. 39 Abs. 1 S. 3 GG - bzw. bei vorzeitiger Auflösung des Bundestages trotz Verstoßes gegen Art. 39 Abs. 1 S.4 GG - als gültig gewertet werden muß,1 da jede darauffolgende Neuwahl des Bundestages ihrerseits auch verspätet wäre. Nach der Wahl erwirbt ein gewählter Bewerber nach § 45 S. 1 BWahlG die Mitgliedschaft im Bundestag mit dem Eingang seiner Annahmeerklärung beim zuständigen Wahlleiter, jedoch nicht vor Ablauf der Wahlperiode des vorherigen Bundestages;8 die Annahmeerklärung - wie auch eine Ablehnungserklärung - kann nach § 45 S. 4 BWahlG nicht widerrufen werden. Der gewählte Bewerber hat also vor dem Zusammentritt des Bundestages noch kein Mandat inne, ist auch noch nicht Mitglied des Bundestages 9 und darf sich dementsprechend auch nicht als solches bezeichnen. 10 Die gegenteilige Ansicht von Versteylll, daß mit der Annahme der Wahl durch den gewählten Bewerber im Normalfall 12 das Mandat "rechts wirksam und un546, für die der Beginn des Tages der konstituierenden Sitzung für die Fristberechnug bestimmend ist, so daß sie die Frist nach § 187 Abs. 2 BGB berechnen und deshalb den Zweimonatszeitraum einen Tag früher als bei Zugrundelegung des § 187 Abs. 1 BGB beginnen lassen. Ohne weitere Begründung beziehen sie sich auf Kretschmer, in: Bonner Komm., GG, Art. 39 Rz. 17, dessen auf die vierjährige Wahlperiode bezogene Berechnungsweise sich mit der aktuellen Fassung des Art. 39 Abs.1 GG, mit dem die genaue Einhaltung der vier Jahre aufgegeben worden ist, nicht mehr begründen läßt. 6 Zur Verdeutlichung sei folgendes Beispiel genannt: Der Zusammentritt des 14. Bundestages fand am 26.10.1998 statt. Der frühestmögliche Wahlzeitpunkt für den folgenden Bundestag ist der 27. August 2002 und der spätestmögliche der 26. Oktober 2002. 1 Darüber besteht im Schrifttum Einigkeit; vgl. Fuchs-Wissemann, DÖV 1990, S. 694, 697; Schreiber, Hdb. des Wahlrechts, § 16 Rz. 3; Maunz/H.H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 39 Rz. 39; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 39 Rz. 6; Magiera, in: Sachs, GG, Art. 39 Rz.19. 8 § 45 BWahlG besteht noch in derselben Fassung wie vor der Änderung des Art. 39 GG im Jahre 1976. Zur besseren Verständlichkeit müßte es im Gleichklang mit der Neufassung des Art. 39 Abs.1 S.2 GG in §45 S.l BWahlG heißen, daß der Erwerb der Mitgliedschaft nicht vor dem Zusammentritt des neuen Bundestages erfolgt. 9 So auch Maunz/H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 39 Rz. 18; nichts anderes meint auch H.-P. Schneider, in: AK-GG, Art. 39 Rz.12, wenn er die Ansicht vertritt, daß die neugewählten Abgeordneten bis zum Zusammentritt des Bundestages zunächst nur eine Mandatsanwartschaft erwerben. 10 Vgl. Kretschmer, in: Bonner Komm., GG, Art. 39 Rz.35. 11 Versteyl, in: SchneiderfZeh, § 14 Rz. 22; ähnlich Kretschmer, in: Bonner Komm., GG, Art. 39 Rz. 34; Schreiber, Hdb. des Wahlrechts, § 45 Rz. 1. 12 Denkbare Sonderfälle sind für Versteyl, in: SchneiderfZeh, § 14 Rz. 22, Fälle der Ineligibilität und Inkompatibilität.

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Kap. 2: Die rechtliche Ausgestaltung des Übergangs zum neuen Bundestag

widerruflich erworben worden ist", entbehrt der gesetzlichen Grundlage. 13 Denn die Annahmeerklärung, die nach § 45 S. 2 BWahlG auch konkludent abgegeben werden kann, ist nach § 45 S. 1 BWahlG lediglich die Voraussetzung dafür, daß mit dem Ende der Wahlperiode des alten Bundestages der gewählte Bewerber das Mandat erwirbt. Es kommt also nicht dazu, daß "sowohl der bisherige als auch der neugewählte Abgeordnete übergangsweise gleichzeitig Abgeordneteneigenschaft haben".14 Der gewählte Bewerber hat aber schon nach §§ 11, 12, 16, 27, 28 und 32 AbgG Ansprüche auf bestimmte Leistungen wie Entschädigung, Amtsausstattung usw. Eine von dem Mandatserhalt zu trennende Frage ist die des Zeitpunkts der Erlangung der Statusrechte. Ab der Annahme der Wahl bestehen für den gewählten Bewerber die Immunität nach Art. 46 Abs. 2 GG und das Zeugnisverweigerungsrecht nach Art. 47 GG. IS Die prozentuale Verteilung der Bundestagssitze auf die verschiedenen Parteien steht dann nämlich fest und die Verhaftung oder Strafverfolgung auch nur eines gewählten Bewerbers vor der Konstituierung könnte zu einer nicht unerheblichen Veränderung von Abstimmungsergebnissen im Bundestag führen. 16 Dagegen entfaltet die Indemnität nach Art. 46 Abs. 1 GG ihre Wirkung erst ab dem ersten Zusammentritt des Bundestages. Denn zu einer die Indemnität betreffenden Abstimmung und Äußerung des Abgeordneten im Bundestag kommt es erst ab dem Zusammentritt der Parlamentarier. 17 Der Präsident des alten Bundestages beruft den neugewählten Bundestag ein, obwohl sich im Grundgesetz zu dieser Verfahrensweise keine Regelung findet. Zwar ist die Bestimmung in § 1 Abs. 1 GeschO BT enthalten, aber ein Parlament kann nachfolgende Parlamente nicht durch parlaments interne Regelungen binden. Das Diskontinuitätsprinzip steht dem entgegen. 18 Das Einberufen des Bundestages durch den Präsidenten des alten Bundestages wird, was jedoch nicht weiter zu erörtern ist, teilweise als alter parlamentarischer Brauch l9 und teilweise als Gewohnheitsrecht 20 bzw. Verfassungsgewohnheitsrecht 21 angesehen. 22 1) Auch nach Versteyl, in: Schneider/Zeh, § 14 Rz. 28, darf sich der gewählte Bewerber nach Annahme des Mandats aber noch nicht als Mitglied des Bundestages bezeichnen. 14 So aber noch Maunz, in: ders./Dürig (1982), GG, Art. 39 Rz.4, mit der Begründung, daß der Neugewählte bereits mit der Annahme der Wahl Abgeordneter sei. 15 Vgl. Versteyl, in: Schneiderrzeh, § 14 Rz. 28; Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 46 Rz. 9; unklar Schreiber, Hdb. des Wahlrechts, § 45 Rz. 7. 16 Siehe Versteyl, in: Schneider/Zeh, § 14 Rz. 28. 17 So auch im Ergebnis Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 46 Rz. 9. 18 Vgl. BVerfGE 1, S. 144, 148; AchterberglSchulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 39 Rz. 23; Ritzel/Bücker, GeschO BT, § 1 Anm. 11 c; a. A. Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, S. 96, mit nicht überzeugender Begründung; ausführlich zum Diskontinuitätsprinzip siehe viertes Kapitel BI 2. 19 Vgl. Kretschmer, in: Bonner Komm., GG, Art. 39 Rz. 21; H.-P. Schneider, in: AK-GG, Art. 39 Rz.18; Versteyl, in: v.Münch/Kunig, GG, Art. 39 Rz.34. Nach Magiera, in: Sachs, GG, Art. 39 Rz. 21, obliegt die Einberufung dem Präsidenten des alten Bundestages traditionell. Für die Meinung von Ritzel/Bücker, GeschO BT, § 1 Anm. I b, es bestehe eine "verfassungsmäßige Verpflichtung des bisherigen Präsidenten, den Bundestag einzuberufen", finden sich im Grundgesetz keine ausdrücklichen Anhaltspunkte.

A. Der Verfahrensablauf ab der Festlegung des Wahl tages bis zur Konstituierung

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Der Bundeskanzler oder der Bundespräsident haben kein Recht, die Einberufung des Bundestages zu einem bestimmten Zeitpunkt durch den Präsidenten des alten Bundestages bindend zu verlangen. 23 Zwar ließe sich eine solche Befugnis24 - in entsprechender Anwendung des Art. 39 Abs. 3 S. 3 GG - damit begründen, daß der neue Bundestag selbst noch keine handlungsfähigen Organe hat. Aber dieses Recht würde in die Parlamentsautonomie, die nur in den ausdrücklich festgelegten Fällen des Art. 63 Abs.4 S. 3 und Art. 68 GG eingeschränkt ist, in unzulässiger Weise eingreifen, indern der Bundeskanzler oder Bundespräsident auf die Beendigung der Wahlperiode des alten und den Beginn der Wahlperiode des neuen Bundestages Einfluß nehmen könnten. 25 Die konstituierende Sitzung eröffnet und leitet der Alterspräsident, also das an Jahren älteste oder, wenn es ablehnt, das nächstälteste Mitglied, bis der neugewählte Präsident oder einer seiner Stellvertreter den Vorsitz übernimmt. Auch dies ist nicht ausdrücklich im Grundgesetz, sondern in § 1 Abs.2 GeschO BT geregelt. Das Eröffnen und Leiten der ersten Sitzung durch den ältesten Abgeordneten wird, was jedoch nicht weiter zu behandeln ist, teilweise für einen parlamentarischen Brauch 26 und teilweise für Gewohnheitsrecht 27 bzw. Verfassungsgewohnheitsrecht2s gehalten. 29 Zwar beginnt die Wahlperiode mit der Eröffnung der Sitzung, die Konstituierung ist im Regelfall aber erst vollständig vollzogen, wenn beschlossen worden ist, 20 So etwa Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 39 Rz.23; Morlok, in: Dreier, GG, Art. 39 Rz. 25. 2\ So etwa Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 39 Rz. 4a; Maunz/H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 39 Rz. 42. 22 Der dargestellte Meinungsstreit kann offen bleiben, da er für den weiteren Gang der Untersuchung keine Bedeutung hat. 23 Nicht in Betracht kommt die von Maunz/H.H. Klein, in: Maunz!Dürig, GG, Art. 39 Rz.43, dargestellte Möglichkeit, daß ein Drittel der Mitglieder des neuen Bundestages die Einberufung verlangt, da die gewählten Bewerber bis zum Zusammentritt des Bundestages noch gar nicht Mitglieder des neuen Bundestages sind. 24 Für eine solche Befugnis der beiden Organe tritt Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/ Klein, GG, Art. 39 Rz.4a, unter Bezugnahme auf Maunz, in: ders./Dürig (1977), GG, Art. 39 Rz.14, ein. 25 So auch Kretschmer, in: Bonner Komm., GG , Art. 39 Rz.22, auf den sich Maunz/H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 39 Rz.43, ausdrücklich beziehen; Stern, Staatsrecht II, § 26III5 a; Versteyl, in: v.Münch{Kunig, GG, Art. 39 Rz. 34; Magiera, in: Sachs, GG, Art. 39 Rz. 21; Morlok, in: Dreier, GG, Art. 39 Rz. 25. 26 Vgl. Maunz/H.H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 39 Rz.44; RitzellBücker, GeschOBT, § 1 Anm. Ha; Versteyl, in: v.Münch{Kunig, GG, Art. 39 Rz.34. Nach Trossmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, § 1 GeschO BT Rz. 6, beruht die Eröffnung der ersten Sitzung durch den Alterspräsidenten auf einer interfraktionellen Verständigung. 27 So etwa Kretschmer, in: Bonner Komm., GG, Art. 39 Rz. 24. 28 So etwa Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, S. 95; vgl. Klopp, Das Amt des Alterspräsidenten im Deutschen Bundestag, 5.104 ff. 29 Dieser Meinungsstreit kann offen bleiben, da er für den weiteren Gang der Untersuchung bedeutungslos ist; ausführlich zum ganzen Klopp, Das Amt des Alterspräsidenten im Deutschen Bundestag, S. 62 ff.

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Kap. 2: Die rechtliche Ausgestaltung des Übergangs zum neuen Bundestag

welche Verfahrensregeln - zumindest vorläufig - gelten sollen und der Bundestagspräsident, sein(e) Stellvertreter und die Schriftführer gewählt sind. 30 Da die Wahlperiode nicht um 0.00 Uhr des Tages der Konstituierung anfängt, sondern zur Stunde des ersten Zusammentritts, ist es möglich, daß am Tage der konstituierenden Sitzung des neuen Bundestages zuvor noch der Alt-Bundestag zusammentritt. 3 )

B. Der Tätigkeitszeitraum des Alt-Bundestages Nach der Darstellung der rechtlichen Rahmenbedingungen für den Alt-Bundestag wird im folgenden die Länge seines Tätigkeitszeitraums betrachtet. Dieser beträgt nach Art. 39 Abs. 2 00 grundsätzlich höchstens 30 Tage. Die Dauer der Wahlperiode des alten Bundestages wie auch Beginn und Ende des Alt-Bundestages richten sich nach dem Zeitpunkt der Wahl und der anschließenden Konstituierung des neuen Bundestages. Zu einer Verkürzung der vierjährigen Wahlperiode kann es durch eine Wahl kommen, die kurz nach dem 46. Monat nach dem Zusammentritt des alten Bundestages stattfindet. Wird zum spätestmöglichen Zeitpunkt gewählt, also genau 48 Monate nach dem ersten Zusammentritt des alten Bundestages, so kann sich die an sich vierjährige Wahlperiode auf 48 Monate und 30 Tage ausdehnen. 32 Diese Frist von 30 Tagen, in der der neue Bundestag mit der Vorbereitung seiner Konstituierung befaßt ist und der Alt-Bundestag tätig werden kann, wird unter Anwendung von § 188 Abs. I BOB berechnet. 33 Sie erlaubt dem Alt-Bundestag, sich auch noch am 30. Tag zu versammeln. Sollte es innerhalb dieser 30 Tage nicht zu einem Zusammentritt des Alt-Bundestages kommen, so stellt sich die Frage, ob dieser 30. Tag nach den 48 Monaten für den alten Bundestag in jedem Fall die letzte Möglichkeit für ein Tätigwerden darstellt. Damit einher geht die Frage, ob der Alt-Bundestag tatsächlich immer nur höchstens 30 Tage bestehen darf und danach keine Existenzberechtigung mehr hat. Eine Verlängerung seines Tatigkeitszeitraums wie auch eine Ausdehnung der Wahlperiode kann beispielsweise dadurch zustande kommen, daß die im neuen Bundestag vertretenen Parteien ihre Koalitionsverhandlungen nicht rechtzeitig ab30 V gl. § 1 Abs. 2 und 3 GeschO BT und dazu Trossmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, § 1 GeschOBT Rz.l1.2, 11.3; Kretschmer, in: Bonner Korn., GG, Art. 39 Rz.17. 3) Siehe Kretschmer, in: Bonner Komm., GG, Art. 39 Rz. 17; a. A. Versteyl, in: Schneidert Zeh, § 14 Rz.12, mit der Begründung, daß die Wahlperiode des neuen Bundestages arn Tag der Konstituierung um 0.00 Uhr (ex tune) begänne. 32 Insofern ist die Ansicht von Morlok, in: Dreier, GG, Art. 39 Rz.12, 15, daß sich die Wahlperiode auf 49 Monate verlängern könne, nicht ganz richtig. Fände die Wahl nämlich beispielsweise an einern 31. Juli (48 Monate nach der letzten Wahl) statt, könnte der neue Bundestag nach Meinung von Morlok gegebenenfalls arn 31. August zusammentreten, nach Art. 39 Abs. 2 GG muß er dies aber schon arn 30. August. 33 Vgl. Fuchs-Wissemann, DÖV 1990, S.694, 697f; Versteyl, in: v. Münch!Kunig, GG, Art. 39 Rz. 33; Morlok, in: Dreier, GG, Art. 39 RZ.25.

B. Der Tätigkeitszeitraum des Alt-Bundestages

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schließen und daher der Bundestag verfassungswidrig 34 nicht rechtzeitig zusammentritt. Bis zur Änderung des Art. 39 Abs. 1 GG im Jahre 1998 wurde der Vierjahreszeitraum als Höchstgrenze angesehen und die Zulässigkeit einer Überschreitung dieses Zeitraums - außer im Verteidigungsfall gemäß Art. 115 h Abs. 1 Satz 1 GG 3S - verneint. 36 Seit der Neufassung des Art. 39 GG im Jahre 1998, die eine Überschreitung der vier Jahre ausdrücklich gestattet, läßt sich diese Ansicht nicht mehr aufrechterhalten. Bei Zugrundelegung der Fristen des Art. 39 Abs. 1 S. 3 GG und Art. 39 Abs. 2 GG ließe sich nun die Meinung vertreten, die Höchstdauer der Wahlperiode betrage 48 Monate und 30 Tage. Dafür spricht vor allem die Erwägung, daß der Wähler in einer repräsentativen Demokratie bei der Wahl wissen muß, für welche Dauer er das Parlament im Regelfall wählt. 37 Damit wäre die Ansicht vertretbar, der Bundestag existiere im Falle eines nicht rechtzeitig erfolgten Zusammentritts des neuen Bundestages nach Überschreitung der 48 Monate und 30 Tage nicht mehr. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß nach Art. 39 Abs. 1 S.2 GG das Ende des Bundestages mit dem Zusammentritt des neuen Bundestages zusammenfällt. Mit der Änderung des Art. 39 GG im Jahre 1976 war beabsichtigt, daß es keine parlamentslosen Zeiten mehr gibt. 38 Wenn der neue Bundestag verspätet zusammentritt, muß auch in diesem Fall an dem Prinzip eines lückenlosen Übergangs der Wahlperioden festgehalten werden. 39 Art. 39 Abs. 1 S.2 GG verpflichtet den Alt-Bundestag geradezu, bestehen zu bleiben, bis sich der neue Bundestag konstituiert, zumal es auch einen Zwischenausschuß zur Überbrückung der parlamentslosen Zeit nicht mehr gibt. Dem Alt-Bundestag darf in diesem Fall auch nicht vorgehalten werden, seine eigene Wahlperiode eigenmächtig in unzulässiger Weise zu verIänSo auch Morlok, in: Dreier, GO, Art. 39 Rz.26. Nach Art. 115 h Abs. 1 Satz 1 GG endet die Wahlperiode während des Verteidigungsfalles überhaupt nicht, sondern erst sechs Monate nach Beendigung des Verteidigungsfalles. 36 Siehe insbesondere Fuchs-Wissemann, DÖV 1990, S.694f., 698. Von einer Höchstdauer von vier Jahren sprechen Maurer, DÖV 1982, S.I00I, 1003; Kretschmer, in: Bonner Komm., GG, Art. 39 Rz. 12. 37 Vgl. BVerfGE 18, S. 151, 154; H.-P. Schneider, in: AK-GO, Art. 39 Rz. 11; Magiera, in: Sachs, GO, Art. 39 RZ.3. 38 Siehe dazu den Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform v.9. Dezember 1976, BT-Drs. 7/5924, S. 36; Begründung zum Gesetzentwurf der Abgeordneten H. H. Klein, Lenz, Gerster und der Fraktion der CDU/CSU v.4. Juni 1976, BT-Drs. 7/5307, S. 3; Bericht des Rechtssausschusses v. 25. Juni 1976 (Bericht der Abgeordneten Amdt und H. H. Klein), BT-Drs. 7/5491, S.6. 39 So auch im Ergebnis Versteyl, in: SchneiderfZeh, § 14 Rz. 17, nach dem "der bisherige Bundestag gewissermaßen aus dem Gedanken eines übergesetzlichen Notstandes gleichermaßen contra constitutionem wie ratio constitutionis über die Frist des Art. 39 Abs. 1 GG hinaus als Organ bestehen" bleibt. Morlok, in: Dreier, GO, Art. 39 Rz. 26, meint, dem bisherigen Bundestag komme eine "Notkompetenz" zu. Nach H.-P. Schneider, in: AK-GG, Art. 39 Rz. 19, setzt zwar keine parlamentslose Zeit ein, der Bundestag sei aber gehindert, seine Funktionen weiterhin wahrzunehmen. 34 35

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Kap. 2: Die rechtliche Ausgestaltung des Übergangs zum neuen Bundestag

gern. 4O Denn die Abgeordneten verlängern ihr Mandat nicht selbst. Vielmehr sind sie von der Bereitschaft des neuen Bundestages abhängig zusammenzutreten. Die Verlängerung ihres Mandats ist bedingt durch Umstände, die sie nicht beeinflussen können. Im übrigen läßt die Formulierung in Art. 39 Abs. 1 S. 1 GG "vorbehaltlich der nachfolgenden Bestimmungen" nicht nur die Auslegung zu, daß die vierjährige Wahlperiode wegen einer recht spät stattgefundenen Wahl- z. B. 48 Monate nach dem Zusammentritt des alten Bundestages - auf bis zu 48 Monate und 30 Tage ausgedehnt werden darf. Es kann auch ein Bezug zu Art. 39 Abs. 1 S. 2 GG dahingehend hergestellt werden, daß die vierjährige Wahlperiode zum Zweck der Einhaltung eines nahtlosen Übergangs der Wahlperioden - aus welchen Gründen auch immer - noch länger überschritten werden darf. Textgeschichtlich mag dies nicht unbedingt nahe liegen, da die Regelung des Art. 39 Abs. I S.2 GG schon vor der Neufassung des Art. 39 Abs. 1 S. 1 GG bestand. Nach dem Sinn und Zweck des Art. 39 Abs. I S.2 GG ist eine solche Auslegung des Art. 39 Abs. 1 S. 1 GG aber keinesfalls ausgeschlossen. Wegen des Prinzips des nahtlosen Übergangs der Wahlperioden bleibt der AltBundestag also auch dann bestehen, wenn der neue Bundestag die Frist von 30 Tagen überschreitet. Dabei ist es unerheblich, ob es zu dieser Überschreitung innerhalb der 48 Monate und 30 Tage oder außerhalb dieser Zeit kommt. In jedem Fall besteht der Alt-Bundestag fort, da sich andernfalls eine parlamentslose Zeit nicht vermeiden ließe.

40 Vgl. dazu Maunz/H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 39 Rz. 22; Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 39 Rz. 4; Magiera, in: Sachs, GG, Art. 39 Rz. 4; Schreiber, Hdb. des Wahlrechts, § 16Rz.6. Siehe auch BVeifGE I, S.14, 33;BayVeifGEn.F.ll, S.I, 9.

Drittes Kapitel

Die rechtlichen Rahmenbedingungen bei der vorzeitigen Auflösung des Bundestages nach Art. 39 Abs. 1 S. 4 GG Der Alt-Bundestag ist nicht nur nach einer Wahl im Falle des regulären Ablaufs der Wahlperiode i. S. v. Art. 39 Abs. I S. 3 GG existent, sondern auch nach einer vorgezogenen Wahl, die auf Grund der Auflösung des Bundestages nach Art. 39 Abs. 1 S.4 GG stattfindet. Die Rahmenbedingungen, unter denen es nach der Auflösung des Bundestages schließlich zum Alt-Bundestag kommt, sind anders als im Falle des Endes der Wahlperiode durch Zeitablauf. Daher gilt es im folgenden, den Blick auf das Zustandekommen der vorzeitigen Auflösung des Bundestages und den Verfahrensablauf der Auflösung zu richten. Die Regelung des Art. 39 Abs. I S.4 GG, wonach im Falle einer Auflösung des Bundestages die Neuwahl innerhalb von 60 Tagen stattfindet, bezieht sich ausschließlich auf die beiden Möglichkeiten der Bundestagsauflösung nach Art. 63 Abs.4 S. 3 und 68 Abs. 1 GG. Demnach steht allein dem Bundespräsidenten ein Recht zur Auflösung des Bundestages unter den folgenden, tatbestandlieh engumgrenzten Voraussetzungen zu: Erhält ein Bewerber um das Amt des Bundeskanzlers nach Art. 63 Abs.4 S. 3 GG auch in der dritten Phase des Kanzlerwahlverfahrens nicht die Stimmen der Mehrheit der Abgeordneten des Bundestages, so kann der Bundespräsident innerhalb von sieben Tagen wählen, ob er diesen mit der relativen Stimmenmehrheit Gewählten zum Bundeskanzler ernennt oder den Bundestag auflöst. Auch im Laufe einer Wahlperiode steht ihm dieses Wahlrecht zu, falls bei einer Regierungsneubildung, also etwa nach dem Tod oder dem Rücktritt des Bundeskanzlers, der Bewerber im Bundestag nicht die Mehrheit der Stimmen erhält. l Ferner kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers gemäß Art. 68 Abs.l GG den Bundestag innerhalb von 21 Tagen auflösen, wenn der Bundestag bei einer Vertrauensfrage des Bundeskanzlers diesem nicht das Vertrauen ausspricht;2 löst der Bundespräsident den Bundestag nicht auf, kann es zur Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes i. S. v. Art. 81 GG kommen. 1 Vgl. Kretschmer, in: Kremer, Parlamentsauflösung, S. 3f.; Ley, ZParl 12 (1981), s. 367, 373 f.; Stern, Staatsrecht 11, § 26 III 3 a. 2 Nach BVerfGE 62, S. 1, 42, erschließt sich aus dem nonnativen Zusammenhang, daß Art. 68 GG als ungeschriebenes Tabestandsmerkmal erfordert, "daß der Bundeskanzler der stetigen parlamentarischen Unterstützung durch die Mehrheit des Bundestages nicht sicher sein kann".

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Kap. 3: Die Rahmenbedingungen bei der vorzeitigen Auflösung des Bundestages

Das Grundgesetz läßt nur in diesen wenigen Fällen eine Auflösung des Parlaments zu, um das politische System auch in Krisenzeiten durch den Zwang zur Mehrheitsbildung und -erhaltung zu stärken. 3 Auf ein Selbstauflösungsrecht wird verzichtet, damit sich das Parlament nicht zu schnell seiner Verantwortung für die Mehrheitsbildung entziehen kann. Die Aufiösungspraxis in der Weimarer Republik - jede Wahlperiode endete mit einer vorzeitigen Auflösung des Parlaments 4 - bildet dabei den verfassungsgeschichtlichen Hintergrund für die erhebliche Einschränkung der Auflösungsmöglichkeiten. S Das Grundgesetz räumt dem Bundestag aber nicht nur kein Selbstauflösungsrecht ein, sondern sieht auch von einer Auflösung durch Volksentscheid ab. 6 Es gab allerdings immer wieder Bestrebungen, dem Bundestag zumindest ein Selbstauflösungsrecht zu gewähren. 7 Ebenso wie im Falle der Beendigung der Wahlperiode durch Zeitablauf bestimmt der Bundespräsident bei der vorzeitigen Auflösung des Bundestages nach § 16 S. 1 BWahlG den Wahltag, der wiederum ein Sonn- oder Feiertag sein muß. Dieser muß innerhalb der 60-Tage-Frist des Art. 39 Abs.l S.4 GG liegen, die nach § 187 Abs.l, 188 Abs. 1 BGB berechnet wird. 8 Die Frist beginnt, wenn die Auflösungsanordnung, die nach Art. 59 S. 1 GG vom Bundeskanzler gegengezeichnet werden muß, dem Bundestag zugeht. 9 Zwar wurden bisher alle Auflösungsanordnungen im Bun3 Vgl. den Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform v. 9. Dezember 1976, BT-Drs. 7/5924, S.40, in dem darauf eingegangen wird, weshalb die Aufnahme eines Selbstauflösungsrechts ins Grundgesetz bis dahin stets abgelehnt wurde; H.-P. Schneider, in: AK-GG, Art. 39 Rz.16; MaunzIH.H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 39 RZ.82ff. 4 Zum Auflösungsrecht des Reichspräsidenten nach Art. 25 WRV siehe erstes Kapitel BIll. 5 Vgl. den Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform v. 9. Dezember 1976, BT-Drs. 7/5924, S.4O. 6 Siehe dazu v.Mangoldt, DÖV 1950, S.697, 699. Vgl. auch Stern, Staatsrecht 11, §26III3 b; H.-P. Schneider, in: AK-GG, Art. 39 Rz. 16; BVerJGE 62, S. I, 41. 7 Siehe v. MangoldtlF. Klein, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 39 Rz. 10. Im Unterschied zur Enquete-Kommission Verfassungsreform, die sich im Jahre 1976 in ihrem Schlußbericht v. 9. Dezember 1976, BT-Drs. 7/5924, S.257, für die Einführung eines Selbstauflösungsrechts des Bundestages einsetzte, sprach sich die Gemeinsame Verfassungskommission (GernVerfKom) von Bundestag und Bundesrat im Jahre 1993 gegen ein solches Recht aus, obwohl die meisten Sachverständigen in der 4. Sitzung der Gern VerfKom v. 10. September 1992 dies empfohlen hatten (siehe dazu Deutscher Bundestag, Materialien zur Verfassungsdiskussion und zur Grundgesetzänderung in der Folge der deutschen Einigung, Zur Sache 2/96, Bd. 2, S. 198 f. [Sachverständiger Degenhart], S. 204 [Sachverständiger Isensee], S. 207 f. [Sachverständiger Loschelder], S.211 [Sachverständiger Schneider], S.214 [Sachverständiger Thaysen]) und die SPD-Mitglieder in der GemVerfKom (Kommissionsdrucksache Nr.59, BT-Drs. 12/6000 v.5. November 1993, S.152f.) einen Antrag gestellt hatten, den Art. 39 GG durch einen Absatz 1 a mit dem Recht der Selbstauflösung zu ergänzen; zum Antrag der SPD und zur Begründung der Ablehnung des Antrags siehe den Bericht der GernVerfKom v. 5. November 1993, BT-Drs. 12/6000, S. 86ff. 8 Vgl. H.-P. Schneider, in: AK-GG, Art. 39 Rz.17; Fuchs-Wissemann, DÖV 1990, S.694, 698; Brockmeyer, in: Schrnidt-Bleibtreu/Klein, GG, Art. 39 Rz. 6. 9 Siehe v.MangoldtlF. Klein, GG, 2. Aufl., Art. 63 Anrn. VI3c; Kretschmer, in: Kremer, Parlamentsauflösung, S. 31; Stern, Staatsrecht 11, § 26 III 3 c.

Kap. 3: Die Rahmenbedingungen bei der vorzeitigen Auflösung des Bundestages

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desgesetzblatt veröffentlicht. 10 Diese Veröffentlichung ist aber zur Wirksamkeit der Auflösung nicht erforderlich, da es sich bei der Auflösungsanordnung weder um ein Gesetz noch um eine Rechtsverordnung, sondern um einen Staatsorganisationsakt handeltY Auch wenn das Wort "Auflösung" in Art. 39 Abs. 1 S.4 GG den Anschein erweckt, daß der Bundestag ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Auflösungsanordnung personell nicht mehr besteht, findet eine sofortige Auflösung des Bundestages auf Grund des lückenlosen Übergangs der Wahlperioden nach Art. 39 Abs. 1 S.2 GG nicht statt. Wegen dieser möglichen Mißverständlichkeit wurde daher vorgeschlagen, das Wort ,,Auflösung" durch Wendungen wie "Vorverlegung des Wahltermins"12, "Anordnung einer Neuwahl" 13 oder "vorzeitigen Beendigung der Wahlperiode"14 zu ersetzen. Jedoch setzten sich alle Änderungsvorschläge nicht durch, da andernfalls die Formulierungen "auflösen" und "Auflösung" in den Art. 63 Abs. 4 S.3 und 68 Abs. 1 GG nicht mehr verständlich gewesen wären. IS Nach dem Wirksamwerden der Auflösungsanordnung besteht also eine Art "Übergangsbundestag", der sich aus den Mitgliedern des Bundestages der noch laufenden Wahlperiode zusammensetzt. Entgegen den früheren, indes nunmehr aufgegebenen Ansichten von Stern und Maunz 16 behalten also die Abgeordneten ihr Mandat bis ein neugewählter Bundestag zusammentritt. 17 Die Enquete-Kommission Verfassungsreform hat in ihrem Schlußbericht zur Änderung des Art. 39 GG dazu ausgeführt 18: "Aus der bisherigen Auflösung des Parlaments wird die vorzeitige Beendigung der Wahlperiode. Die mit dem Institut der Auflösung verfolgte Wirkung, \0 Anordnung des Bundespräsidenten Heinemann über die Auflösung des 6. Bundestages v.22. September 1972 (BGBI. I, S. 1833); Anordnung des Bundespräsidenten Carstens über die Auflösung des 9. Deutschen Bundestages v.6. Januar 1983 (BGBl.I, S.I), wonach diese Anordnung erst am Tag nach ihrer Verkündung, also am 7. Januar 1983, in Kraft treten sollte. 11 So Kretschmer, in: Kremer, Parlamentsautlösung, S. 31; Stern, Staatsrecht 11, § 26 III 3 c; ihrer Ansicht nach steht einer Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt aber nichts entgegen. H.-P. Schneider, in: AK-GG, Art. 39 Rz. 17, und Fuchs-Wissemann, DÖV 1990, S.694, 698, sind ohne Begründung der Ansicht, die Frist beginne mit der Veröffentlichung der Auflösungsanordnung im Bundesgesetzblatt. 12 So der Vorsitzende der Enquete-Kommission Verfassungsreform Schäfer in der Bundestagssitzung V.I. Juli 1976, Steno Ber. 7. BT 256. Sitzung, S.18391 (c). 13 Trossmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, Vorb. zu § 1 GeschO BT. 14 Siehe den Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform V. 9. Dezember 1976, BT-Drs. 7/5924, S. 39 ff. 1S Vgl. Versteyl, in: v.Münch!Kunig, GG, Art. 39 Rz.13. 16 Stern, Staatsrecht 11, § 26 III 3 c (revidiert in Staatsrecht I, § 24 I 5 a); Maunz vertrat in: ders./Dürig (1977), GG, Art. 39 Rz. 30, noch die Ansicht, die Mitglieder des Bundestages verlören mit dem Wirksam werden der Auflösungsanordnung ihr Mandat (bereits revidiert in Maunz/Dürig (1982), GG, Art. 39 Rz. 30). 17 Vgl. H.-P. Schneider, in: AK-GG, Art. 39 Rz.15; Zeh, Der Staat 22 (1983), S.I; Versteyl, in: V. Münch!Kunig, GG, Art. 39 Rz. 32; Maunz/H.H. Klein, in: Maunz/Dürig, Art. 39 Rz. 88. 18 Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform V. 9. Dezember 1976, BTDrs. 7/5924, S.39.

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Kap. 3: Die Rahmenbedingungen bei der vorzeitigen Auflösung des Bundestages

die Arbeit und Existenz eines konkreten Parlaments vor Ablauf seiner Wahlperiode zu beenden, bleibt erhalten, nur tritt sie nicht unmittelbar mit der "Auflösung" ein, sondern erst mit dem Zusammentritt des neuen Parlaments. Dies ist die Folge daraus, daß das Parlament nunmehr als ständig vorhandenes Verfassungsorgan konzipiert und organisiert ist". Im Falle einer Auflösung des Bundestage gäbe es bei vollständiger Ausschöpfung der Fristen des Art. 39 Abs. 1 S.4 und Abs. 2 GG 60 Tage lang den "Übergangsbundestag" und anschließend 30 Tage lang den Alt-Bundestag, also insgesamt 90 Tage einen für aufgelöst erklärten Bundestag. Wenn die Wahl erst nach Ablauf von 60 Tagen stattfindet oder der neu gewählte Bundestag verspätet zusammentritt, muß dasselbe gelten wie beim Bundestag, dessen Wahl gemäß Art. 39 Abs. 1 S.3 GG stattfindet. Der für aufgelöst erklärte Bundestag muß auch in diesem Fall bestehen bleiben, bis der neu gewählte Bundestag zusammentritt. Auch in diesem Fall entfaltet das Prinzip des nahtlosen Übergangs der Wahlperioden im Sinne von Art. 39 Abs. 1 S.2 GG seine Wirkung. In der Praxis ist es nach der Änderung des Art. 39 GG im Jahre 1976 bisher nur einmal zu einer vorzeitigen Auflösung des Bundestages gekommen. Der 9. Bundestag bestand nach dem Wirksamwerden der Auflösungsanordnung gemäß Art. 68 GG am 7. Januar 1983 noch insgesamt 72 Tage fort, nämlich bis zum 29. März 1983. Davon lagen 23 Tage nach der Wahl des 10. Bundestages am 6. März 1983. 19 In der gesamten Zeit trat der Bundestag kein einziges Mal für einen parlamentarischen Meinungsaustausch oder eine Abstimmung zusammen. Lediglich am 20. Januar 1983 fand noch in Anwesenheit des französischen Präsidenten eine Sitzung zum Gedenken an den 20. Jahrestag der Unterzeichnung des Vertrages über die deutschfranzösische Zusammenarbeit statt. 20 Im übrigen wurde der 9. Bundestag schon nach der Sitzung am 17. Dezember 1982,21 in der dem Bundeskanzler nicht das Vertrauen ausgesprochen wurde, bis zur Auflösung des Bundestages am 7. Januar 1983 nicht mehr einberufen. 22

19 Zum Ablauf der Bundestagsauflösung im einzelnen siehe Bohnsack, ZParl 14 (1983), S.5ff.; BVerfGE 62, S.l, 4ff. 20 Siehe Steno Ber. 9. BT 142. Sitzung, S. 8977 ff. 21 Siehe Sten.Ber. 9. BT 141. Sitzung, S. 8937ff. 22 Dabei ist zu berücksichtigen, daß der Zeitraum rund um Weihnachten und Neujahr herum stets sitzungsfrei ist.

Viertes Kapitel

Die Funktionen des Bundestages unter Berücksichtigung einer möglichen Wahrnehmung durch den Alt-Bundestag A. Einführung Für eine Untersuchung der materiell-rechtlichen Zuständigkeit des Alt-Bundestages ist es zunächst erforderlich, sich zu vergegenwärtigen, welche Aufgaben mit den dazugehörigen Rechten der Bundestag allgemein wahrnimmt und worin die Besonderheiten und Schwierigkeiten bei einer möglichen Ausübung dieser Rechte durch den Alt-Bundestag bestehen könnten. Diese Betrachtung ist allein schon vor dem Hintergrund notwendig, daß es so gut wie keine praktischen Erfahrungen mit dem Alt-Bundestag gibt, da er bisher erst ein einziges Mal zusammengetreten ist. Für einen verständlichen Überblick über die Rechte werden die Funktionen des Bundestages dargestellt I und im Rahmen ihrer Betrachtung wird auf viele der zahlreichen Befugnisse und die möglichen Gründe für ihre Wahrnehmung durch den Alt-Bundestag eingegangen. Dabei finden zwei Gesichtspunkte besondere Berücksichtigung. Zum einen rücken solche Entscheidungen des Alt-Bundestages in den Mittelpunkt des Interesses, die der neue Bundestag nicht mehr oder nur noch schwer rückgängig machen kann. Denn ein möglicher Streit über die Zuständigkeit des AltBundestages wird sich sicherlich an solch politisch folgenreichen Beschlüssen entfachen. Zum anderen liegt der Schwerpunkt der Darstellung im wesentlichen auf der Betrachtung von Rechten, deren Ausübung in der Praxis mit Schwierigkeiten behaftet sein könnte. Dabei geht es auch um die Rahmenbedingungen, die gegeben sein müssen, damit diese Befugnisse erfolgreich wahrgenommen werden können. Damit fließen bei der folgenden Darstellung rechtliche und politisch-soziologische Erwägungen oder auch verfassungsrechtliche und verfassungspolitische 2 Überlegungen I Die dem Grundgesetz zu entnehmenden Aufgaben des Bundestages lassen sich nach Funktionen ordnen; vgl. Morlok, in: Dreier, GG, Art. 38 Rz. 28; Stern, Staatsrecht II, § 26 II I f.; Magiera, in: Sachs, GG, Art. 38 Rz. 21. Im Grundgesetz ist allerdings keine ausdrückliche Regelung über die Funktionen des Bundestages enthalten, sondern aus den einzelnen Bestimmungen über die Aufgaben und die zu ihrer Erfüllung notwendigen Befugnisse des Bundestages lassen sich die wesentlichen Funktionen des Bundestages herleiten. Die Funktionsbeschreibungen sind, worauf Morlok, in: Dreier, GG, Art. 38 Rz. 28, zu Recht hinweist "Hilfskonstruktionen' die sich immer am Verfassungstext rechtfertigen müssen, sich aber seit langem bewährt haben und das Verfassungsrechtsdenken anleiten können". 2 Zur Bedeutung des Begriffs "verfassungspolitisch" siehe Hesse, Grundzüge, Rz.48.

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Kap. 4: Die Funktionen des Bundestages und der"Alt-Bundestag

ineinander. Dies ist notwendig, um den Alt-Bundestag bei seiner Betrachtung unter rechtlichen Gesichtspunkten nicht fern von der Wirklichkeit zu erfassen.

B. Die Funktionen des Bundestages Das Grundgesetz enthält keine abschließende Zusammenstellung der Aufgaben wie auch der Befugnisse, die dem Bundestag zugewiesen sind. Sie sind, wie Stern 3 es ausdrückt, "über das Grundgesetz verteilt, teils in funktionellen Zuordnungen, teils in organschaftlichen Regelungen enthalten". Die Aufgaben des Bundestages und die zu ihrer Erfüllung notwendigen Befugnisse lassen sich daher am ehesten aus der Betrachtung der Stellung des Bundestages im Verfassungs- und Staats gefüge erschließen. Denn das vom Volk direkt gewählte Parlament befindet sich im Beziehungsgeflecht und Zusammenspiel verschiedener staatlicher Institutionen. Seine Aufgaben hängen mit denen der anderen obersten Bundesorgane, insbesondere der Bundesregierung und des Bundesrates, eng zusammen. Das Verhältnis dieser Organe zueinander ist geprägt vom Prinzip der Gewaltenteilung, 4 das jedoch im Grundgesetz nicht "rein verwirklicht"S ist. Vielmehr sieht der Grundsatz der Gewaltenteilung, wie er vom Grundgesetz realisiert wird, "Gewaltenverschränkungen und -balancierungen"6 vor. Die Gewalten sollen sich gegenseitig kontrollieren, hemmen und mäßigen. 7 Die Verfassung weist daher der Legislative und Exekutive nicht so eindeutig die rechtsetzende und vollziehende Gewalt zu, wie sie nach Art. 92 GG den Richtern die rechtsprechende Gewalt anvertraut. Einerseits kann die Regierung auf die rechtsetzende Gewalt einwirken, indem sie nach Art. 76 Abs. 1 GG Gesetze in den Bundestag einbringt und auf Grund von gesetzlichen Ermächtigungen nach Art. 80 Abs. 1 GG Verordnungen erläßt. Andererseits hat das Parlament gegenüber der Regierung - im weiteren noch genau zu erörternStern, Staatsrecht 11, § 2611 ! a. An welcher Stelle das Grundgesetz die Idee der Gewaltenteilung aufgreift, ist umstritten: Hesse, GrundzUge, Rz.477ff., vertritt die Ansicht, daß Art. 20 Abs. 2 S.2 GG nur auf die besonderen Organe und ihre unterschiedlichen Funktionen aber nicht ausdrücklich auf die Gewaltentrennung und Gewaltenbalancierung hinweise. Die - seines Erachtens - herrschende Meinung sehe in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG trotzdem die Gewaltenteilung als Uberpositives Dogma verwirklicht. Hesse widerspricht dieser Auffassung. FUr ihn ergibt sich das Gewaltenteilungsprinzip aus einer Vielzahl von verfassungsrechtlichen Bestimmungen; ähnlich Schmidt-Aßmann, in: Hdb. des Staatsrechts, §24 Rz.47. Nach Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 72, bekennt sich das Grundgesetz mit Art. 20 Abs. 2 S. 2, Abs. 3, Art.! Abs.3 GG und den Überschriften der Abschnitte VII. bis IX. ,,nach Ubereinstinunender Auffassung" zum Gewaltenteilungsprinzip. s BVerfGE 3, S. 225,247; 34, S. 52, 59. 6 BVerfGE 34, S.52, 59. 7 V gl. BVerfGE 34, S. 52, 59. Hesse, GrundzUge, Rz.482, wendet sich dagegen, in der Gewaltenteilung allein "ein Mittel der Mäßigung einer ursprunglich vorhandenen, einheitlichen Staatsgewalt" zu sehen; siehe dazu auch Schmidt-Aßmann, in: Hdb. des Staatsrechts, § 24 Rz.50. 3

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de - Kontrollrechte, durch die es die vollziehende Gewalt, die der Regierung zugewiesen ist, beeinflussen kann. 8 Diese "sich wechselseitig durchdringenden Aufgabenbereiche von Parlament und Regierung"9 wie auch die sonstigen Verknüpfungen zwischen dem Bundestag und anderen obersten Bundesorganen gilt es bei der Funktionenbetrachtung wegen der daraus entstehenden Abhängigkeiten stets im Auge zu behalten. Ausgehend von der sich aus dem Verfassungsgefüge ergebenden Feststellung, daß der Bundestag an der "Gesamtaufgabe demokratischer Gesamtleitung, Willensbildung und Kontrolle"l0 mitwirkt, lassen sich die Funktionen des Bundestages in einer Gesamtschau in vier, nur zum Teil positivrechtlich normierte Bereiche aufteilen, nämlich die Gesetzgebungsfunktion, die Kreationsfunktion, die Regierungskontrolle - mit der Staatsleitungsfunktion - und schließlich die ÖffenlichkeitsfunktionY I. Die Gesetzgebungsfunktion

1. Die maßgebliche Stellung des Bundestages im Staatsge/üge au/ Grund seiner Gesetzgebungs/unktion Der Bundestag erhält durch das Recht zur Gesetzgebung nach Art. 77 Abs.1 S.l GG eine zentrale Rolle bei der Willenskundgebung des Staates. 12 Daher könnte der Beschluß eines Gesetzes für den Alt-Bundestag von besonderem Interesse sein. Denn der Bundestag bindet durch ein Gesetz die Rechtsprechung und vollziehende Gewalt gemäß Art. 20 Abs. 3 GG, sofern dieses von ihm - im Zusammenspiel mit dem Bundesrat - erlassene Gesetz verfassungsgemäß ist. Auf die Bundesregierung kann er damit sowohl rechtlich als auch faktisch einwirken, weil die Bundesregierung zur Durchsetzung ihrer Gesetzesvorhaben die Mehrheit der Stimmen des Bundestages benötigt und damit auf den "Willen" des Bundestages Rücksicht nehmen muß. Diese Abhängigkeit zeigt sich vor allem beim Gesetz zur Feststellung des Haushalts nach Art. 110 Abs. 2 S.l GG, ohne dessen Annahme durch den Bundestag die Bundesregierung in ihrer Handlungsfähigkeit stark eingeschränkt ist, da sie auf das Haushaltsgesetz mit dem Haushaltsplan nach § 3 Abs. 1 HGRG und § 3 Abs. 1 8 Die Mitwirkung des Bundesrates an der Gesetzgebung und der Verwaltung des Bundes nach Art. 50 GG tritt im übrigen hinzu. 9 H. H. Klein, in: Hdb. des Staatsrechts, § 40 Rz. 8. 10 Hesse, Grundzüge, Rz.572. 11 Angelehnt an die Aufgabeneinteilung des Parlaments bei H.-P. Schneider, AöR 105 (1980), S.4, 16; H.H. Klein, in: Hdb. des Staatsrechts, §40 Rz.13; Rausch, Parlamentsfunktionen, S. 358, 359 f.; vgl. auch Magiera, in: Sachs, GG, Art. 38 Rz.23. Hinzu tritt noch das Recht zur Regelung der eigenen Angelegenheiten, das sich vor allem in der freien Gestaltung der Geschäftsordnung verwirklicht, aber hier nicht weiter von Interesse ist. 12 Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, S.68, bezeichnete das Gesetz als "die rechtlich stärkste Art von Staatswillen" .

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BHO als Ermächtigung angewiesen ist, um Ausgaben leisten und Verpflichtungen eingehen zu können. 13 Auch für die Aufnahme von Krediten nach Art. 115 Abs. 1 S. 1 GG ist eine Ermächtigung durch Bundesgesetz erforderlich. 14 Darüber hinaus weist H. H. Klein darauf hin, daß im demokratischen und sozialen Rechtsstaat "das Gesetz nicht mehr nur - nicht einmal mehr vorzugsweise - Mittel zur Gestaltung einer dauerhaften Ordnung, sondern in erster Linie Instrument zur Durchsetzung politischer Zielvorstellungen" 15 ist. Der Bundestag hat zwar durch seine Gesetzgebungsbefugnisse einen erheblichen Einfluß auf die Gestaltung der Innen- und Außenpolitik, aber die Handlungsfreiheit des Bundestages stößt insbesondere dann auf ihre Grenzen, wenn der Bundesrat l6 das Zustandekommen eines Gesetzes verhindern will. Bei Betrachtung des AltBundestages in seiner Funktion als Gesetzgebungsorgan ist dies insbesondere wegen des im folgenden zu erörternden Diskontinuitätsgrundsatzes stets zu berücksichtigen.

2. Der Grundsatz der Diskontinuität Will der Alt-Bundestag gesetzgeberisch tätig werden, so muß er zur Sicherstellung eines erfolgreichen Abschlusses eines Gesetzesvorhabens den Grundsatz der Diskontinuität beachten. Dieser Grundsatz hat zum Inhalt, daß sämtliche eingebrachten und noch nicht zu Ende geführten Gesetzentwürfe wie auch andere Vorlagen 17 mit dem Ende der Wahlperiode 18 als erledigt gelten. 19 Erst der neue Bundestag kann diese Vorhaben zum Abschluß bringen, aber nur, wenn sie den Formerfordernissen entsprechend neu eingebracht werden. 20 Der Grundsatz der Diskontinuität bringt im Grunde genommen zwei Einschnitte zum Ausdruck, die sich aus dem Übergang von einer in die nächste Wahlperiode ergeben. Die Beendigung der Wahlperiode, also das "Ende" der "Wirkungseinheit"21 13 Zum Rechtscharakter und zu den Rechtswirkungen des Haushaltsgesetzes siehe v.Mutius, VVDStRL 42 (1983), S.147, 161 ff.; zur Funktion des Haushalts als Steuerungsinstrument siehe Stern, Staatsrecht 11, § 45 IV. 14 Ebenso ist die Bundesregierung auf dem Gebiet der auswärtigen Politik vom Einvernehmen des Bundestages abhängig, da dieser beispielsweise völkerrechtlichen Verträgen nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG zustimmen muß. 15 H.H. Klein, in: Hdb. des Staatsrechts, §40 Rz.17. 16 Zum Einfluß der Parteien auf das Verhalten der Ländervertreter im Bundesrat infolge zunehmender "sachlicher Unitarisierung" siehe Hesse, Grundzüge, Rz.614. 17 Der Begriff "Vorlage" ist in § 75 GeschO BT definiert. 18 Morlok, in: Dreier, GG, Art. 39 Rz. 20f. 19 Dies bringt auch § 125 GeschOBT zum Ausdruck. 20 Vgl. MaunzIH.H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 39 Rz.53; Morlok, in: Dreier, GG, Art. 39 Rz.22. 21 Der Begriff findet sich bei lekewitz, Grundsatz der Diskontinuität, S.331.

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Parlament - jedoch nicht als verfassungsrechtliche Institution bzw. abstrakt-institutionelles Organ 22 -, bewirkt zum einen, daß grundsätzlich die personelle Zusammensetzung des Parlaments nicht fortbesteht und die Tätigkeit seiner Organe und Organwalter endet (sogenannte formelle Diskontinuität)23 und zum anderen, daß, wie bereits erwähnt, die schon in Angriff genommenen Vorhaben nicht zu Ende geführt werden können, also die eingebrachten Vorlagen, Anträge und Anfragen als erledigt angesehen werden (sogenannte materielle Diskontinuität).24 Die eigentliche Bedeutung und die Rechtsgrundlage der Diskontinuität sind umstritten. Der Streit über die Geltungsgrundlage rührt daher, daß der Text des Grundgesetzes die Geltungsgrundlage nicht nennt. Für einen Teil der Literatur ist deshalb der Grundsatz der Diskontinuität Gewohnheitsrecht im Verfassungsrang. 2s Ein anderer Teil befürwortet zwar die gewohnheitsrechtliche Einordnung, lehnt jedoch deren Verfassungsrang ab. 26 Iekewitz sieht das Diskontinuitätsprinzip nicht als Gewohnheitsrecht an,27 sondern leitet es aus den Grundsätzen der Verfassung ab. Für ihn ist das Diskontinuitätsprinzip der Form nach ungeschriebenes materielles Ver22 Vgl. BVerfGE 4, S.I44, 152; v.Mangoldt/Klein, GG, 2. Aufl., Art. 39 Anm.1II4; Magiera, in: Sachs, GG, Art. 39 RZ.14. 23 Anders ist es dagegen beim vom Bundestag berufenen Wehrbeauftragten, dessen Amtsdauer nach Art. 45 b S. 1 GG fünf Jahre beträgt. 24 Siehe Achterberg, Parlamentsrecht, S.208; ders.lSchulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 39 Rz. 12ff., Art. 40 Rz. 31. Ferner werden auch die Begriffe personelle Diskontinuität, die sich auf die konkret-personelle Zusammensetzung des Parlaments bezieht und damit der formellen Diskontinuität entspricht, und sachliche Diskontinuität, die mit der materiellen bzw. materialen gleichzusetzen ist, verwendet; vgl. Maunz/H.H. Klein, in: Maunz/Dürig, GO, Art. 39 Rz. 48 ff. Außerdem werden in diesem Zusammenhang noch die Begriffe Organkontinuität und Organdiskontinuität gebraucht; siehe etwa v.Mangoldt/F. Klein, GG, 2. Aufl., Art. 39 Anm. III 5 c. Mit Organkontinuität ist gemeint, daß "die Identität einer gesetzgebenden Körperschaft durch die Neuwahl ihrer Mitglieder nicht berührt wird" (so BVerfGE 4, S. 144, 152, ohne allerdings den Begriff "Organkontinuität" zu nennen). Dies gilt für den Bundestag als abstraktinstitutionelles Organ und seine (Unter-)Organe, etwa die Ausschüsse, die von Verfassung wegen eingerichtet werden müssen (z. B. der Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten nach Art. 45 a GG) sowie die Gremien, die auf Grund der Verfassung durch Gesetz vorgeschrieben sind (z. B. der Wahlausschuß für die Richter des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 94 GO in Verbindung mit § 6 BVerfGO). Das Gegenteil, also die Organdiskontinuität, entfaltet ihre Geltung bei den übrigen Ausschüssen, also den sonstigen Fachausschüssen und Untersuchungsausschüssen des Bundestages, deren Einsetzung das Parlament in jeder Wahlperiode neu beschließt; weitere Ausführungen zu den betroffenen Ausschüssen und Gremien finden sich bei Jekewitz, JöR 27 (1978), S. 82f. 2S So bereits in der Weimarer Republik Hatschek, Deutsches und Preußisches Staatsrecht, § 2111, S.41O. Stern, Staatsrecht 11, § 26 III 4a; MaunzlH.H. Klein, in: Maunz/Dürig, GO, Art. 39 Rz.61; Ossenbühl, in: Hdb. des Staatsrechts, §63 Rz.41; Magiera, in: Sachs, GG, Art. 39 Rz. 16. 26 So für die Zeit der Weimarer Republik Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, Art. 24 Anm. 8. Wohl auch H. Schneider, Gesetzgebung, Rz. 136 Fn. 34; ähnlich Versteyl, in: v. Münch!Kunig, GO, Art. 39 Rz. 25. 27 Siehe Jekewitz, Grundsatz der Diskontinuität, S. 335, in Anlehnung an Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, S.31, 85.

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fassungsrecht. 28 Da sich aus dem Text des Grundgesetzes die materielle Diskontinuität - anders als die fonnelle - "nicht mit einer jeden Zweifel ausschließenden Überzeugungskraft ableiten"29 läßt, muß diesbezüglich von einem Gewohnheitsrecht ausgegangen werden, das wegen der grundgesetzlichen Vorgabe der zeitlich begrenzten Wahlperiode Verfassungsrang hat. 30 Die Bedeutung des Diskontinuitätsgrundsatzes ergibt sich aus zwei unterschiedlichen Erwägungen. Zum einen wird der Sinn der Diskontinuität darin gesehen, daß mit Beendigung der Wahlperiode für den Bundestag das Recht zur Gesetzgebung entfällt und er damit nicht auf den neuen Bundestag hinüberwirken kann. 31 Zum anderen wird darauf abgestellt, daß der neue Bundestag nicht mit Vorlagen des alten Bundestages belastet werden, sondern frei von Verpflichtungen zur Fortführung von schon in Gang gesetzten, aber unerledigten Vorhaben seine Arbeit aufnehmen können soll.32 Die Wirkung des Grundsatzes der Diskontinuität besteht also darin, "gleichzeitig Element der Beschränkung und Element der Freiheit"33 zu sein. Für die Betrachtung des Alt-Bundestages sind insbesondere die Auswirkungen der Diskontinuität auf den Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens beim Alt-Bundestag von Interesse. Wenn der Bundestag sich mit einer Gesetzesinitiative befaßt, aber darüber keinen Beschluß im Sinne von Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG gefaßt hat, wird das Vorhaben mit Ablauf der Wahlperiode hinfällig. Ist es jedoch zu einem Beschluß gekommen, dann kann das Gesetz auch noch nach dem Ablauf der Wahlperiode zustandekommen. Denn der Bundestag hat (zunächst einmal) seine Aufgabe als Gesetzgebungsorgan erfüllt und ist für das Gesetzesvorhaben nicht mehr zuständig. Das weitere Gesetzgebungsverfahren kann also ohne Beteiligung des Bundestages ablaufen. Erklärt der Bundesrat seine Zustimmung, bedarf es für ein Inkrafttreten des Gesetzes nur noch der in Art. 82 GG vorgeschriebenen Akte. Ruft der Bundesrat jedoch nach Beendigung der Wahlperiode den Venniulungsausschuß an, erhebt er Einspruch gegen das Gesetz oder stimmt er dem Gesetz (endgültig) nicht zu, dann ist das Gesetzesvorhaben gescheitert, da sich der neue Bundestag nach dem Grundsatz der Diskontinuität mit dem Gesetzentwurf des alten Bundestages nicht zu befassen hat. Erst die erneute Einbringung als Gesetzesvorlage gemäß Art. 76 Abs. 1 28 lekewitz, Grundsatz der Diskontinuität, S. 335ff.; ders., JöR 27 (1978), S. 151 ff, insb. S.155. 29 Stern, Staatsrecht 11, § 26 III 4 a. 30 So auch MaunzIH.H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 39 Rz.61. 31 Vgl. Schweiger, DÖV 1954, S.161, 162f.; Maassen, Zur Einschränkung des Grundsatzes der Diskontinuität, S. 74f.; lekewitz, Grundsatz der Diskontinuität, S. 331. 32 Leinemann, JZ 1973, S.618, 621, führt dazu aus, daß der neue Bundestag wegen seines selbständigen Auftrags durch die Wähler nicht Rechtsnachfolger des alten Bundestages sei; siehe auch Magiera, in: Sachs, GG, Art. 39 Rz. 15; Morlok, in: Dreier, GG, Art. 39 Rz.20. 33 lekewitz, Grundsatz der Diskontinuität, S. 331. Schweiger, DÖV 1954, S.161; Maunz, in: ders.!Dürig (1982), GG, Art. 39 Rz.18, sehen die Begründung für den Grundsatz der Diskontinuität vor allem darin, daß ein Gesetz nicht ,,zwei Väter", also zwei Bundestage, haben könne. Diese Ansicht ist jedoch dogmatisch fraglich; siehe dazu K. Müller, DÖV 1965, S. 505, 508.

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GG macht es dem neuen Bundestag möglich, den Gesetzentwurf aufzugreifen. 34 Auf die Tatigkeit des Alt-Bundestages hat der Grundsatz der Diskontinuität also erhebliche Auswirkungen. Wenn die Abgeordneten in der ihnen verbleibenden Zeit, also innerhalb von normalerweise längstens 30 Tagen nach der Wahl des neuen Bundestages, gewissermaßen im Eilverfahren noch ein Gesetz zustandebringen wollen, ist für den erfolgreichen Abschluß des Gesetzgebungsverfahrens zunächst einmal ein Gesetzesbeschluß im Sinne von Art. 77 Abs. I S. 1 GG hinreichend aber auch notwendig.

3. Die Möglichkeit des Zustandekommens eines Gesetzes im Zeitraum des Bestehens des Alt-Bundestages Ein Interesse am Zustandekommen eines Gesetzes könnte im Alt-Bundestages vor allem dann bestehen, wenn sich durch eine Wahl die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag ändern. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Vorgehens der Parteienmehrheit im Alt-Bundestag ist nicht deshalb auszuschließen, weil der neue Bundestag ein solches Gesetz durch einen Beschluß seinerseits leicht wieder aufheben könnte. Zwar kann der neue Bundestag durch ein eigenes Gesetz in vielen Fallen wieder die alten Rechtsverhältnisse herstellen, doch gilt dies nicht für alle Gesetze gleichermaßen. Zum einen gibt es nämlich Gesetze, deren durch sie hervorgerufene Veränderungen aus praktischen Gründen nicht mehr so einfach rückgängig zu machen sind. So können beispielsweise mit dem (Nachtrags-)Haushaltsgesetz, dem der Haushaltsplan beigefügt ist und das die Regierung zu Ausgaben ermächtigt, Haushaltsmittel fest verplant werden. 35 Zum anderen kann eine Mehrheitsbeschaffung im neuen Bundestag und vor allem im Bundesrat auf Schwierigkeiten stoßen. Hat der Alt-Bundestag ein zustimmungsbedürftiges Gesetz36 mit der erforderlichen Zustimmung des Bundesrates 37 beschlossen, so dürfte es kaum möglich sein, für dieses Ge34 In der Praxis werden Gesetzesentwürfe, die bereits vom alten Bundestag beraten, aber noch nicht als Gesetz beschlossen worden sind, nicht selten wieder in den neuen Bundestag eingebracht, wobei das Gesetzgebungsverfahren dann häufig beschleunigt wird; siehe die Beispiele bei H. Schneider, Gesetzgebung, Rz. 137ff.; lekewitz, Grundsatz der Diskontinuität, S. 321 ff. 35 Die Bundesregierung könnte auch im Schnellverfahren ein Nachtragshaushaltsgesetz mit im Haushaltsplan bewilligten Planstellen von der Mehrheit des Alt-Bundestages beschließen lassen. Auf Grund dieses Gesetzes, das dazu ermächtigt, Ausgaben zu leisten und Verpflichtungen einzugehen, könnte sie Aufträge an Dritte vergeben bzw. diesen Zuwendungen gewähren oder die neuen Planstellen mit Personen besetzen, die ihr politisch nahestehen. 36 Zu den Gesetzgebungsgegenständen, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, siehe lekewitz, in: AK-GO, Art. 77 Rz. 12; H. Schneider, Gesetzgebung, Rz. 143. Eine Übersicht über die Zustimmungsklauseln des Grundgesetzes befindet sich auch in SchindIer, Datenhandbuch 1949 bis 1983, S.849. 37 Der Bundesrat muß ausdrücklich seine Zustimmung erklären; siehe BVerfGE 8, S.274, 296; 28, S.66, 79. Ein Beschluß über das Gesetz muß nach Art.77 Abs. 2 a GO, der ins Grundgesetz neu eingefügt wurde (Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 27. Oktober 1994 [BGB!. I, S. 3146]), in angemessener Frist gefaßt werden.

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setz in dem in seiner politischen Struktur unveränderten Bundesrat die Zustimmung zur Rückgängigmachung des Gesetzes zu erhalten. Dies dürfte erst bei einer Änderung der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat Aussicht auf Erfolg haben. Noch hoffnungsloser stellt sich für den neuen Bundestag die Situation bei der Änderung des Grundgesetzes dar. Wenn nämlich zwei Drittel der Mitglieder des Alt-Bundestages und des Bundesrates nach Art. 79 Abs. 2 GG eine Verfassungsänderung beschlossen haben, dann müßte ein Begehren zur Rückgängigmachung der Verfassungsänderung zunächst die Hürde der Zweidrittelmehrheit im neuen Bundestag nehmen, dürfte aber im Falle des Gelingens spätestens im Bundesrat, dessen politische Verhältnisse gleich geblieben sind, zum Scheitern verurteilt sein. 38 Wenn auch die Durchführung eines Gesetzgebungsverfahrens durchaus möglich ist, darf nicht außer acht gelassen werden, daß auch der Alt-Bundestag bei der Gesetzgebung auf Schwierigkeiten stoßen kann, die sich nur bedingt beseitigen lassen und damit das Gesetz zum Scheitern bringen können. Vor allem die für ein Gesetzgebungsverfahren zur Verfügung stehende Zeit kann zu einem unüberwindbaren Hindernis werden. Selbst bei einem Einspruchsgesetz, dessen Zustandekommen normalerweise wegen der Möglichkeit der Zurückweisung des Einspruchs durch den Bundestag nicht gefährdet ist,39 kann der Alt-Bundestag durch das Verhalten des Bundesrates in Zeitnot geraten und ein Gesetzesvorhaben nicht zu Ende führen. Denn zum einen steht dem Alt-Bundestag wegen seines kurzen Bestehens für die Vorbereitung des Gesetzes und das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren, das notwendigerweise mit einem Beschluß i. S. v. Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG abgeschlossen werden muß, nicht viel Zeit zur Verfügung. Zum anderen kann der Bundesrat das Gesetzgebungsverfahren verzögern, indem er den Vermittlungsausschuß anruft bzw. nach erfolgloser Tätigkeit des Vermittlungsausschusses Einspruch erhebt. Zwar kann der Einspruch vom Bundestag zurückgewiesen werden und dadurch das Gesetz zustandekommen, doch benötigen die einzelnen Verfahrensschritte Zeit. Wenn der Bundesrat durch das Hinausschieben seiner Entscheidung bzw. durch das volle Ausschöpfen der in Art. 77 Abs. 2 S.l eingeräumten dreiwöchigen und in Abs. 3 S. 1 GG zweiwöchigen, also insgesamt fünfwöchigen, Frist das Gesetzgebungsverfahren verzögert, hat das Zustandekommmen des Einspruchsgesetzes innerhalb der Konstituierungsphase des neuen Bundestages keine Aussicht auf Erfolg. 40 Eine Zurückl8 Auch für den Alt-Bundestag dürfte es schwierig sein, eine Verfassungsänderung herbeizuführen, da es meistens nicht einfach ist, eine in der Regel parteiübergreifende Übereinstimmung herbeizuführen, damit es zu einer für eine Grundgesetzänderung erforderlichen qualifizierten Mehrheit im Bundestag und Bundesrat kommt. 39 Anders sieht es dagegen aus, wenn der Bundesrat mit zwei Dritteln seiner Stimmen den Einspruch beschlossen hat, da dann im Bundestag gemäß Art. 77 Abs.4 S. 2 GG zur Zurückweisung des Einspruches auch eine qualifizierte Mehrheit erforderlich ist, also eine Mehrheit von zwei Dritteln der gültig abgegebenen Stimmen, mindestens die Mehrheit der (gesetzlichen) Mitgliederzahl; andernfalls ist das Gesetz nicht zustande gekommen . .w Dagegen würde die Chance für das Zustandekommen des Gesetzes steigen, wenn der neue Bundestag verspätet zusammenträte.

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weisung des Gesetzes durch den Bundesrat in Form des Einspruchs nach dem Ende der Wahlperiode, würde das Gesetz endgültig zu Fall bringen, da der alte Bundestag nicht mehr besteht und der neue Bundestag, wie aufgezeigt, wegen des Grundsatzes der Diskontinuität nicht in dieses Gesetzgebungsverfahren eingebunden werden darf. Daher hat der Alt-Bundestag die besten Aussichten auf einen erfolgreichen Abschluß des Gesetzgebungsverfahrens, wenn er sich der Zustimmung des Bundesrates sicher sein kann oder schon vor der Wahl des neuen Bundestages das Gesetzgebungsverfahren eingeleitet wurde. 41 Ebenso treten für den Alt-Bundestag Schwierigkeiten auf, wenn er vom parlamentarischen Budgetrecht Gebrauch macht. Unter den Möglichkeiten, haushaltsrechtliche Vorhaben zu ergreifen, kommt letztlich nur der Beschluß über einen Nachtragshaushalt in Betracht, da damit der Bundestag im Zusammenspiel mit der Bundesregierung 42 trotz eines gewissen organisatorischen Aufwandes noch am ehesten in kurzer Zeit haushaltspolitische Veränderungen herbeiführen kann. 43 Zwar zählt das Nachtragshaushaltsgesetz zu den Einspruchsgesetzen, so daß eine Zustimmung des Bundesrates grundsätzlich nicht erforderlich ist. 44 Für dieses Gesetz gelten jedoch einige von Art. 76 ff. GG abweichende Besonderheiten. Wie sich aus Art. 110 Abs. 2 und 3 GG in Verbindung mit Art. 76 Abs. 2 GG ergibt, hat die Bundesregierung den Entwurf eines Haushaltsgesetzes in den Bundestag einzubringen. 45 Im Unterschied zu Art. 76 Abs. 2 S. 1 GG wird die Regierungsvorlage nicht zuerst dem Bundesrat zugeleitet, sondern die Zuleitung an den Bundesrat erfolgt aus Gründen der Zeitersparnis gleichzeitig mit der Einbringung in den Bundestag gemäß Art. 110 Abs. 3 GG. Der Bundestag kann dann zwar sofort mit der Beratung beginnen, er muß aber beim Nachtragshaushaltsgesetz erst die Stellungnahme oder den Ablauf der Frist von drei Wochen für die Stellungnahme des Bundesrates abwarten, bevor er das Gesetz verabschieden darf. 46 Wie Art. 110 GG im Zusammen41 Die Bundesregierung kann zur Beschleunigung eines Gesetzgebungsverfahrens einen von ihr beschlossenen Gesetzesentwurf durch Abgeordnete der sie stützenden Fraktion als Antrag "aus der Mitte des Bundestages" gemäß Art. 76 Abs.l GG in den Bundestag einbringen lassen. Dadurch kann sie die Zuleitung an den Bundesrat, die nach Art. 76 Abs. 2 GG im Falle der Einbringung eines Gesetzentwurfs durch die Regierung notwendig ist, umgehen und braucht nicht die Stellungnahme des Bundesrates innerhalb der Sechswochenfrist des Art. 76 Abs. 2 S. 2 GG abzuwarten. Zur Verfassungsmäßigkeit eines solchen Verfahrens siehe Kirn, ZRP 7 (1974), S.1 ff. 42 Bei lediglich über- oder außerplanmäßigen Ausgaben in dringenden Fällen kann die Regierung - nach Art. 112 S. 1 GG nur mit Zustimmung des Bundesministers der Finanzen - im übrigen auch Ausgaben tätigen, ohne daß diese durch das Parlament bewilligt werden müßten. 43 Die Verabschiedung des Haushaltsgesetzes nach Art. 110 Abs. 2 S. 1 GG läßt sich in dreißig Tagen kaum bewerkstelligen. 44 Vgl. Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. lW Rz.26, 68. 4S SO auch BVerfGE 45, S. 1, 46. 46 Siehe dazu § 95 Abs. 2 GeschO BT. Beim Haushaltsgesetz gilt nach Art. 110 Abs.2 GG und § 95 Abs. 2 GeschO BT eine Sechswochenfrist.

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hang mit Art. 76 GG zU entnehmen ist, muß die Stellungnahme des Bundesrates in die Haushaltsberatungen des Bundestages "einfließen" können. 47 Während des Gesetzgebungsverfahrens für den Nachtragshaushalt kann es also zu noch größeren Verzögerungen durch eine Verweigerungshaltung des Bundesrates kommen als bei Verfahren, die andere Einspruchsgesetze betreffen. Der Bundesrat hat nämlich drei Wochen Zeit für seine Stellungnahme nach Art. 110 Abs. 3 a. E. GG und ebenso viel Zeit gemäß Art. 77 Abs. 2 S. 1 GG für die Anrufung des Vermittlungsausschusses nach dem Beschluß des Gesetzes durch den Bundestag. Außerdem stehen ihm erneut zwei Wochen für einen Einspruch nach Beendigung des Vermittlungsverfahrens zur Verfügung. Also auch in diesem Fall ist das Zustandekommen des Gesetzes im wesentlichen davon abhängig, daß sich der Bundesrat nicht dem Gesetzesvorhaben entgegenstellt. Nicht viel anders sieht es beim Gesetzgebungsverfahren hinsichtlich eines zustimmungsbedürftigen Gesetzes aus. Dem Bundesrat steht nach Art. 77 Abs.2 S. 1 GG wieder drei Wochen lang das Recht zu, den Vermittlungsausschuß einzuberufen, wobei der Bundestag und die Bundesregierung diesen Zeitverlust verringern können, indem sie nach Art. 77 Abs. 2 S. 3 GG die Einberufung des Vermittlungsausschusses verlangen. Aber dies hilft dem Bundestag nicht weiter, solange der Bundesrat die erforderliche Zustimmung nicht erteilt. Beim zustimmungsbedürftigen Gesetz ist der Bundestag also ganz und gar vom Entgegenkommen, nämlich der Zustimmung, des Bundesrates abhängig. Die größten Probleme dürften schließlich bei einer Grundgesetzänderung auftreten. Sie läßt sich in der kurzen Zeit des Bestehens des Alt-Bundestages wohl kaum herbeiführen, da nach Art. 79 Abs. 2 GG die Zustimmung einer Zweidrittelmehrheit im Bundestag und Bundesrat erforderlich ist. Nur unter besonderen Umständen ist es denkbar, daß das Zustandekommen einer Grundgesetzänderung innerhalb eines so kurzen Zeitraums gelingt. Zusammenfassend läßt sich daher feststellen, daß der Alt-Bundestag in der ihm noch verbleibenden Zeit Einspruchs-, Nachtragshaushalts-, Zustimmungs- und verfassungsändernde Gesetze beschließen und ihr Zustandekommen unter der Beteiligung des Bundesrates grundsätzlich herbeiführen kann. Zwar beträgt die Dauer des Gesetzgebungsverfahrens von der Einbringung im Bundestag bis zur Verkündung im Bundesgesetzblatt in den meisten Wahlperioden durchschnittlich über 200 Tage,48 aber auch in der Praxis hat es im Verlauf einer Wahlperiode schon mehrmals Beispiele von zügig abgeschlossenen Gesetzgebungsverfahren gegeben. 49 Beispielsweise gab es in der 7. und 8. Wahlperiode zwei Gesetze, so für deren ZustandeSiehe Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 110 RZ.24. Siehe dazu die Tabelle in Schindier, Datenhandbuch 1983 bis 1991, S. 862f. 49 Die allgemeinen Gründe für die kürzere Beratungsdauer von Gesetzen in der 1. bis 11. Wahlperiode faßt Schindier, Datenhandbuch 1983 bis 1991, S. 875f., zusammen. so Siehe Schindier, Datenhandbuch 1983 bis 1991, S.87lf. 47

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kommen nur drei Tage erforderlich waren. 51 Ebenso gab es Nachtragshaushaltsgesetze, die innerhalb weniger Tage im Bundestag beraten wurden und kurz danach auch den Bundesrat ohne Anrufung des Vermittlungsausschusses passierten. 52 Selbst eine Änderung des Grundgesetzes benötigte von der Einbringung im Bundestag, über die Zustimmung des Bundesrates bis zur Verkündung lediglich 17 Tage. 53 Allerdings kann der Alt-Bundestag insbesondere auf Grund des kurzen, im Regelfall höchstens 30 Tage dauernden Zeitraums seines Bestehens in erhebliche Zeitnot geraten. Wenn nicht schon vor der Wahl des neuen Bundestages das Gesetzgebungsverfahren eingeleitet wird, dann ist das Zustandekommen eines Gesetzes gegen eine ablehnende Mehrheit im Bundesrat nicht mehr möglich. Denn der Bundesrat kann durch die volle Ausschöpfung des ihm grundgesetzlich eingeräumten Handlungszeitraums und durch die Ablehnung der Gesetzesvorlage nach dem Ende der Wahlperiode des alten Bundestages jedes Gesetzesvorhaben zu Fall bringen.

11. Die Kreationsfunktion Zum Aufgabenbereich des Parlaments gehört des weiteren die Kreationsfunktion, deren Wahrnehmung auch für den Alt-Bundestag in Betracht kommt. Unter dem Begriff Kreation ist die Bildung von Organen bzw. die Mitwirkung an der Bildung zu verstehen. Diese Funktion, die auch Wahlfunktion genannt wird,54 nimmt der Bundestag insbesondere dadurch war, daß er andere oberste Bundesorgane, seine eigenen und Hilfsorgane wählt. 55 Die Kreation anderer oberster Organe dient unter anderem zur Weiterleitung demokratischer Legitimation, während der Bundestag SI So zum Beispiel das Gesetz zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz v. 30. September 1977 (sogenanntes Kontaktsperregesetz), verkündet am 1. Oktober 1977 (BGBl. I, S. 1877). Entwicklung: Gesetzentwurf v. 28. September 1977, BT-Drs. 8/935; 1. Beratung am 28. September 1977, Steno Ber. 8. BT 43. Sitzung, S. 3272 (B); 2. und 3. Beratung am 29. September 1977, Sten.Ber. 8. BT 44. Sitzung, S. 3366 (C)ff.; Zustimmung des Bundesrates am 30. September 1977, Steno Ber. 449. Sitzung, S.225ff.; vgl. BR-Drs. 453/77. 52 Zwei Beispiele sind bei Schindier, Datenhandbuch 1983 bis 1991, S.868 und 872 zu finden. Von der Einbringung im Bundestag bis zur abschließenden Beratung im Bundesrat dauerte es lediglich 4 bis 5 Wochen. 53 Es handelte sich lediglich um eine Fristverlängerung (um ein Jahr). Siehe ,,zweites Gesetz zur Änderung des Artikels 107 des Grundgesetzes V. 25. Dezember 1954", verkündet am 30. Dezember 1954 (BGBl.I, S. 517). Entwicklung: Gesetzesentwurf V. 13. Dezember 1954, BT-Drs. 1078; 1.,2.,3. Beratung am 15. Dezember 1954, Sten.Ber. 2. BT 61. Sitzung, S.3165 «B)-(D»;Zustimmung des Bundesrates am 17. Dezember 1954, Steno Ber. 134. Sitzung, S.4OO «B)-(D»; vgl. BR-Drs. 434/54. 54 Vgl. H.-P. Schneider, AöR 105 (1980), S.4, 16; Thaysen, Parlamentarisches Regierungssystem, S.12, 17. 55 Die Entsendung von Bundestagsmitgliedem in verschiedene Gremien, wie Z. B. Rundfunkräte, und in Ausschüsse, wie beispielsweise den Vermittlungsausschuß, nach Art. 77 GG i. V. m. § § I, 3, 4 GO VA bleibt im folgenden außer Betracht.

6 Kochsiek

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Kap. 4: Die Funktionen des Bundestages und der Alt-Bundestag

bei der Wahl der eigenen Organe und Hilfsorgane seiner Organhoheit und Kontrollfunktion Ausdruck verleiht. S6 In bezug auf den Alt-Bundestag ist die Kreation anderer oberster Bundesorgane von besonderem Interesse, da der Alt-Bundestag durch sein Tätigwerden Einfluß auf den staatlichen Bereich außerhalb des Parlaments nehmen kann. Die Auswirkungen auf die Politik können beträchtlich sein. Dies gilt weniger für die Wahl der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 94 Abs.l S.2 GG S7 und die Berufung der Bundesrichter nach Art. 95 Abs. 2 GG, an der der Bundestag neben den zuständigen Ministern aus Bund und Ländern, also in der Regel dem Bundesjustizminister und den Landesjustizministern, beteiligt ist,S8 als vielmehr für die Wahl bzw. "Abwahl" des Bundeskanzlers und die Wahl des Bundespräsidenten, die im folgenden genauer betrachtet werden.

1. Die Wahl des Bundespräsidenten Der Alt-Bundestag wäre für den Fall der Wahl des Bundespräsidenten nicht das eigentliche Kreationsorgan. Denn grundsätzlich entsendet der Bundestag seine Mitglieder in ein eigenständiges Kreationsorgan, nämlich die Bundesversammlung. Der Bundestag nimmt also nicht als Organ an der Bildung der Bundesversammlung teil,59 sondern die Bundestagsmitglieder sind Mitglieder der Bundesversammlung nach Art. 54 Abs. 3 GG, deren andere Hälfte sich aus den von den Länderparlamenten bestimmten Mitgliedern zusammensetzt. Das Verfahren zur Wahl eines neuen Bundespräsidenten kann aber trotzdem vom Alt-Bundestag in Gang gesetzt werden, da nach § 1 des Gesetzes über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung (BPräsWG) der Präsident des Bundestages den Ort und die Zeit des Zusammentritts der Bundesversammlung bestimmt. Der Alt-Bundestag kann also durch seinen Präsidenten kurzfristig die Bundesversammlung einberufen. Jedoch benötigen die Landtage, nachdem die Bundesregierung die zu wählende Anzahl der Mitglieder nach § 2 Abs.l BPräsWG festgestellt hat, für die Entsendung ihrer Mitglieder zur Bundesversammlung genügend Zeit, da die Landtage eine nach den Bestimmungen des § 2 Abs. 2 BPräs WG vorzunehmende Wahl der zu entsendenden Mitglieder der Bundesversammlung durchführen müssen. Die erforderliche Wahl dieser Mitglieder schließt daher ein jederzeitiges Einberufen der Bundesversammlung aus. Sollten sich ein oder mehrere Landtage weigern, Mitglieder für die Bundesversammlung zu wählen, etwa weil diese mit der Wahl des Bundespräsidenten durch die Mitglieder des Alt-BundestaVgl. H.H. Klein, in: Hdb. des Staatsrechts, § 40 Rz. 29. Die Wahl nimmt der nach § 6 BVerfGG gebildete Wahimännerausschuß vor. 58 Vgl. dazu das Richterwahlgesetz v. 25. August 1950 (BGBI. I, S.368) in der Fassung v.30. Juli 1968 (BGBI.I, S. 873). 59 Siehe Achterberg, Pariamentsrecht, S. 527. S6 57

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ges statt des neuen Bundestages nicht einverstanden wären, hätte dies allerdings keine Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit der Bundesversammlung, da in diesem Fall die auf das Land entfallenden Sitze nach §2 Abs. 2 S.4 BPräsWG unbesetzt blieben. Die Gründe für den Entschluß der Mitglieder des Alt-Bundestages, die Wahl des Bundespräsidenten durchführen zu lassen, können höchst unterschiedlich sein. Zunächst einmal ist es möglich, daß das Ende der fünfjährigen Amtszeit des Bundespräsidenten zufällig auf das Ende der Wahlperiode des Bundestages fällt, so daß Handlungsbedarf besteht. Die Festlegung des Zeitpunktes der Wahl hat nämlich unter Beachtung einer zeitlichen Grenze zu erfolgen. Die Bundesversammlung muß nach Art. 54 Abs.4 S. 1 GG spätestens 30 Tage vor Ablauf der Amtszeit des Bundespräsidenten 60 zusammentreten - aber noch nicht wählen. Jedoch gibt es - anders als bei der Festsetzung des Wahlzeitpunktes des Bundestages - keine Bestimmung, die den frühestmöglichen Zeitpunkt der Wahl festlegt. Der Alt-Bundestag könnte also eine bald anstehende Wahl des Bundespräsidenten vorziehen, wobei der Bundestagspräsident den Wahlzeitpunkt natürlich auch schon vor der Wahl des neuen Bundestages auf einen Termin, der in den Zeitraum des Bestehens des Alt-Bundestages fällt, legen könnte. Als Grund für die Wahl des Bundespräsidenten unter Beteiligung des Alt-Bundestages käme ferner in Betracht, daß die Amtszeit des Bundespräsidenten aus irgendwelchen Gründen vorzeitig endet. Neben der Möglichkeit einer schweren Erkrankung, des plötzlichen Todes, des Entfallens der Voraussetzungen seiner Wählbarkeit und der Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, daß er nach Art. 61 Abs.2 S. 1 GG seines Amtes für verlustig erklärt wird, kann es dazu kommen, daß der Bundespräsident sein Amt niederlegt oder zurücktritt. 61 Im Falle des vorzeitigen Endes der Amtszeit wäre der Alt-Bundestag zum Handeln gezwungen, wenn andernfalls die Frist des Art. 54 Abs. 4 S. 1 GG, wonach die Bundesversammlung innerhalb von 30 Tagen nach der vorzeitigen Beendigung der Amtszeit des Bundespräsidenten zusammenzutreten hat, abzulaufen drohte. Im übrigen steht dem Zusammentritt der Bundesversammlung auch schon vor dem vorzeitigen Ende der Amtszeit des Bundespräsidenten nichts entgegen. 62 Unbeachtlich ist im Zusammenhang mit dem vorzeitigen Ende der Amtszeit die Bestimmung des Art. 54 Abs. 5 GG. Der in ihr geregelte Fall, daß, wenn die Amtszeit des Bundespräsidenten nach Ablauf der Wahlperiode endet bzw. sich erledigt, die Frist des Art. 54 Abs. 4 S. 1 GG 60 Zur Berechnung des genauen Zeitpunktes, in dem die Amtszeit des Bundespräsidenten endet, siehe Hemmrich, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 54 Rz. 14. 61 Diesen Fall erwähnt das Grundgesetz zwar nicht, er ergibt sich aber aus der Natur der Sache und wird auch in § 51 BVerfGG genannt. 62 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 54 Rz. 36, will einen früheren Zusammentritt jedoch nur gelten lassen, wenn das vorzeitige Ende des Amtes "absolut gewiß" ist. Nach Jülich, DÖV 1969, S.92, 96, genügt eine Absichtserklärung des amtierenden Präsidenten zurückzutreten noch nicht.

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Kap. 4: Die Funktionen des Bundestages und der Alt-Bundestag

erst mit dem Zusammentritt des neuen Bundestages beginnt, kann gar nicht mehr eintreten. Denn Art. 39 Abs.l S. 2 GG läßt eine parlaments lose Zeit wegen des nahtlosen Aneinanderreihens der Wahlperioden nicht mehr zu. Bei der Änderung des Art. 39 GG im Jahre 1976 ist die Streichung des Art. 54 Abs. 5 GG offensichtlich vergessen worden. 63 Der Präsident des Bundestages bzw. des Alt-Bundestages könnte also durchaus einen Anlaß haben, die Bundesversammlung für die Zeit des Bestehens des AltBundestages einzuberufen. Eine Einberufung dürfte allerdings auf das Mißfallen und den Widerstand der Mitglieder des neuen Bundestages stoßen, wenn ein Großteil von ihnen einen anderen Kandidaten bevorzugt als den, den die Bundesversammlung unter Einbeziehung des Alt-Bundestages zu wählen beabsichtigt. Gerade in diesem Fall, in dem im nachhinein am Wahlergebnis nichts mehr geändert werden kann, könnten die Mitglieder des neuen Bundestages, sofern bereits möglich, auf einen schnellen Zusammentritt des neuen Bundestages hinwirken, um so die Wahl des Bundespräsidenten selbst vornehmen zu können. Entscheidet sich der Präsident des Alt-Bundestages gleichwohl für die Einberufung, dann muß er, wie bereits erwähnt, bei der Festsetzung des Zeitpunkts für den Zusammentritt der Bundesversammlung berücksichtigen, daß die Wahl der von den Landtagen zu entsendenden Mitglieder der Bundesversammlung eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt, zumal die Landtage auch über Einsprüche, die gemäß § 5 BPräsWG innerhalb von zwei Tagen gegen die Wahl der Mitglieder einzulegen sind, entscheiden müssen. Daß die Wahl des Bundespräsidenten durchaus innerhalb kurzer Zeit vorgenommen werden kann, zeigt die Bestimmung des Art. 54 Abs. 4 S. 1 GG, die bei vorzeitiger Beendigung der Amtszeit des Bundespräsidenten den Zusammentritt der Bundesversammlung innerhalb von 30 Tagen vorsieht. Zu einem verkürzten Konstituierungsverfahren der Bundesversammlung kann es kommen, wenn während der Wahlperiode des Bundestages bereits eine Wahl des Bundespräsidenten, dessen Amtsdauer aus irgendwelchen Gründen vorzeitig zu Ende gegangen ist, stattgefunden hat. In einem solchen Fall kann die bereits einmal zusammengetretene Bundesversammlung nochmals einberufen werden. Zwar wird die Bundesversammlung, deren Aufgabe einzig die Wahl des Bundespräsidenten ist, grundsätzlich nicht auf Dauer gewählt, da normalerweise in jeder Wahlperiode des Bundestages höchstens eine Wahl des Bundespräsidenten stattfindet, aber Art. 54 GG schreibt nicht vor, daß bei einer erneuten Wahl des Bundespräsidenten innerhalb einer Wahlperiode die bereits einmal gewählte Bundesversammlung nicht noch einmal zusammentreten kann. 64

63 64

So auch Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 54 Rz.37; Stern, Staatsrecht 11, § 29 11 1. So auch Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 54 Rz. 29.

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2. Die Wahl bzw. "Abwahl" des Bundeskanzlers Neben der Beteiligung an der Wahl des Bundespräsidenten kommt für den AltBundestag grundsätzlich auch die Wahl oder "Abwahl" des Bundeskanzlers in Betracht, auch wenn dies auf den ersten Blick wegen der anstehenden Neuwahl des Bundeskanzlers durch den neuen Bundestag nicht unbedingt naheliegt. Die Wahl des Kanzlers hat für den Bundestag eine noch größere Bedeutung als die Bundespräsidentenwahl, da der Bundestag durch die Wahl des Bundeskanzlers Einfluß auf die Leitung des Staates nimmt. Sie wird vielfach als das "Herzstück des parlamentarischen Regierungssystems" bezeichnet,65 weil die Wahl des Kanzlers ausschließlich in der Hand des Parlaments liegt. In der Regel nimmt der Bundestag dieses Recht nach Art. 63 GG ausschließlich zu Beginn einer Wahlperiode war, da nach Art. 69 Abs. 2 GG die Amtszeit des Bundeskanzlers - und der Minister - mit der Konstituierung des Bundestages endet und daher die Wahl des Bundeskanzlers erforderlich ist. Daß der Alt-Bundestag einen neuen Kanzler wählt, ist dagegen nur denkbar, wenn die Amtszeit des Bundeskanzlers vorzeitig endet und aus Gründen der Stärkung der Regierung eine sofortige Wahl erforderlich ist z. B. bei Rücktritt, Tod oder Verlust seiner Amtsfähigkeit. 66 Im Falle des Rücktritts des Kanzlers würde der Bundespräsident den zurückgetretenen Kanzler aber wohl eher gemäß Art. 69 Abs. 3 GG auffordern, bis zur Wahl eines Nachfolgers, die regelmäßig kurz nach der - bereits absehbaren - Konstituierung des neuen Bundestages stattfindet, die Amtsgeschäfte weiter auszuüben. Auch beim Tod oder Verlust der Amtsfähigkeit des Bundeskanzlers dürfte es ebenfalls wohl nicht zu einer Neuwahl des Bundeskanzlers kommen, sondern der Bundespräsident würde wohl den Vertreter des Bundeskanzlers im Sinne des Art. 69 Abs. 1 GG, den sogenannten Vizekanzler, zur Fortführung der Geschäfte als "geschäftsführender Vertreter des Bundeskanzlers" bis. zur Kanzlerwahl durch den neuen Bundestag auffordern. 67 Zwar ist eine Kanzlerwahl durch den Alt-Bundestag nach Art. 63 GG unter besonderen Umständen durchaus vorstellbar, aber die Wahrnehmung dieses Rechts durch den Alt-Bundestag kann wohl eher als Ausnahmefall angesehen werden.

Der Blick ist daher mehr auf die Situation zu richten, daß der Bundeskanzler das Vertrauen des Bundestages, also das der parlamentarischen Mehrheit, verliert und dadurch die Regierung nicht mehr handlungsfähig ist. Zur Lösung einer solchen Krise läßt die Verfassung das Mißtrauensvotum nach Art. 67 GG oder die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG zu. 65 Stern, Staatsrecht I, § 22 III 2 vor a; Schräder, Jura 1982, S.449, 450. Diese Wahl durch das Parlament ist ein wesentlicher Unterschied zur Weimarer Reichsverfassung, nach der gemäß Art. 53 der Reichspräsident den Reichskanzler bestimmte und ernannte. Allerdings war der Reichskanzler hinsichtlich der Ausübung des Amtes vom Vertrauen des Reichstags abhängig. 66 Letzteres etwa durch Entmündigung. 67 Dazu im einzelnen Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 69 Rz.59.

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Kap. 4: Die Funktionen des Bundestages und der Alt-Bundestag

Bei der Vertrauensfrage muß sich der Kanzler in dem Fall, daß ihm der Bundestag nicht das Vertrauen ausspricht,68 entscheiden, ob er weiterregieren will oder den Bundespräsidenten ersucht, den Bundestag aufzulösen. Kommt es nicht zur Auflösung, ist auch die Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes durch den Bundespräsidenten unter den Voraussetzungen des Art. 81 GG mit der Folge möglich, daß gegen oder auch ohne einen Beschluß des Bundestages ein Gesetz zustandekommen kann. Das Verfahren nach Art. 81 GG stellt aber einen Sonderfall dar, der in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bisher noch nicht eingetreten ist. Sofern der Bundeskanzler mit dem Stellen der Vertrauensfrage nicht von vornherein eine Parlamentsauflösung mit anschließenden Neuwahlen bezweckt,69 wird er sich ihrer meist wohl nur bedienen,70 um "ein Auseinanderbrechen der ihn tragenden Mehrheit"71 abzuwenden und die Stellung seiner Regierung - insbesondere zur Durchsetzung seiner politischen Vorstellungen - zu stärken. 72 Der Alt-Bundeskanzler könnte die an den Alt-Bundestag gerichtete Vertrauensfrage sowohl ohne als auch mit einer Gesetzesvorlage - dieser Fall ist auch in Art. 81 Abs. 1 S.2 GG genannt -, einer anderen Sach- oder einer Personalfrage verbinden, um noch eine ihm wichtige Entscheidung zu erzwingen. In Anbetracht einer gerade stattgefundenen Bundestagswahl ist es jedoch ziemlich unwahrscheinlich, daß der Alt-Bundeskanzler zur Durchsetzung seiner Politik an die Abgeordneten des AltBundestages die Vertrauensfrage richtet - in welcher Form auch immer -, wenn diese wissen, daß wenige Tage später unabhängig davon, ob der Bundestag dem Kanzler sein Vertrauen ausspricht oder nicht, in jedem Fall sowohl die Regierung als auch der Bundestag wegen des Zusammentritts des neuen Bundestages nicht mehr besteZum Begriff "Vertrauen" siehe BVerfGE 62, S. I, 37. Dies war der Grund für die Vertrauensfrage von Bundeskanzler Brandt im September 1972 und von Bundeskanzler Kohl im Dezember 1982; vgl. Mager, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 68 RZ.3. 70 Es ist umstritten, ob der Bundestag den Bundeskanzler- rechtlich unverbindlich - auffordern darf, die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG zu stellen. Für die Möglichkeit eines solchen parlamentarischen Antrags sprechen sich - wegen der rechtlichen Unverbindlichkeit zu Recht - aus u. a. Trossmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, § 103 GeschO BT Rz. 3; Brandt, Die Bedeutung parlamentarischer Vertrauensregelungen, S. 85 ff.; Küchenhoff, DÖV 1967, S.116, 118; a. A. dagegen Sattler, DÖV 1967, S.765, 769; Stern, Staatsrecht I, §22III3a; Mager, in: v.Münch/Kunig, GO, Art. 68 Rz.5. 71 H.-P. Schneider, in: AK-GO, Art. 68 RZ.2. 72 Über die möglichen Gründe für die Frage des Bundeskanzlers an den Bundestag, ihm das Vertrauen auszusprechen, kann man ebenso wie über den Sinn des Art. 68 nur mutmaßen; vgl. dazu Herzog, in: Maunz/Dürig, GO, Art. 68 Rz. 13. Ein denkbarer Grund für einen solchen Schritt des Bundeskanzlers ist nach überwiegender Meinung des Schrifttums, daß er in einer politischen Krise seine Stellung festigen will; so Mager, in: v. Münch/Kunig, GO, Art. 68 Rz.2; Stern, Staatsrecht I, §22III3; H.-P. Schneider, in: AK-GO, Art. 68 Rz.2; Schröder, in: Hdb. des Staatsrechts, §51 Rz. 38; Schenke, in: Bonner Komm., GO, Art. 68 RZ.30. Dies war nach allgemeiner Meinung auch die Absicht, die hinter der Vertrauensfrage von Bundeskanzler Schmidt im Februar 1982 stand; vgl. Bohnsack, ZParl14 (1983), S.5, 9; Mager, in: v.Münch/ Kunig, GG, Art. 68 RZ.3. 68

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hen werden. Grundsätzlich eignet sich die Vertrauensfrage als Druckmittel zur Durchsetzung der vom Bundeskanzler ersonnenen Politik nämlich nur dann, wenn das Parlament bei Vemeinung der Vertrauensfrage damit rechnen muß, daß es aufgelöst bzw. bei Eintritt des Gesetzgebungsnotstandes nach Art. 81 GG zumindest zeitweise als das eigentliche Gesetzgebungsorgan übergangen wird. 73 Diese Androhung des Bundeskanzlers verliert angesichts des baldigen Endes der Wahlperiode jegliche Wirkung. Im übrigen dürfte die Hoffnung des Alt-Bundeskanzlers auf den Eintritt des Gesetzgebungsnotstandes nach Art. 81 GG ziemlich gering sein. Denn dazu bedarf es der Zustimmung des Bundesrates und der Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes durch den Bundespräsidenten, der ein politisches Ermessen hat, ob er den Gesetzgebungsnotstand erklärt oder nicht. 74 Wegen des nahenden Beginns der Wahlperiode dürften beide nur in außergewöhnlichen Fällen den Eintritt des Gesetzgebungsnotstandes befürworten. Die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG wird der Alt-Bundeskanzler daher aus den genannten Gründen wohl kaum stellen. 7s Möglich wäre aber gegebenenfalls ein Sturz des Alt-Bundeskanzlers durch ein konstruktives Mißtrauensvotum gemäß Art. 67 GG. Denn obwohl die Wahl des Bundeskanzlers für die folgende Wahlperiode bereits unmittelbar bevorsteht, ist ein konstruktives Mißtrauensvotum durch eine neue Mehrheit im Alt-Bundestag nicht ausgeschlossen. Denkbar wäre etwa, daß die schon absehbare Mehrheit im neuen Bundestag ihre Arbeit möglichst schnell, also noch vor dem ersten Zusammentritt des neuen Bundestages, aufnehmen will. Zwar ändert sich durch die Wahl des neuen Bundestages nicht der Stimmenanteil der einzelnen Parteien im Alt-Bundestag, aber es könnten sich trotzdem neue Mehrheiten bilden. Im Alt-Bundestag könnte praktisch im Vorgriff auf die neue Wahlperiode eine neue Mehrheit in Form eines neuen Bündnisses zustandekommen, das sich dann im folgenden Bundestag fortsetzte. 76 Insbesondere, wenn der Alt-Kanzler bzw. die Alt-Regierung nicht mehr handlungsfähig wäre oder eine Politik gegen die vermutlichen Interessen der neuen Regierung betriebe, käme ein solcher frühzeitiger Regierungswechsel in Betracht. 77 13 VgJ. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 68 Rz.7; H.-P. Schneider, in: AK-GG, Art. 68 Rz. 3; Schenke, in: Bonner Komm., GG, Art. 68 RZ.29. 14 Siehe dazu Stern, Staatsrecht 11, § 30 III 5 e und § 53 11 2 c. 1S Der Fall, daß die Vertrauensfrage nur gestellt wird, um die Auflösung des Bundestages und Neuwahlen herbeizuführen - die sogenannte "unechte Vertrauensfrage" (so die Antragsteller im Verfahren gegen die Anordnung des Bundespräsidenten v. Weizsäcker v. 6. Januar 1983 über die Auflösug des 9. Bundestages, siehe BVerfGE 62, S. I, 21) - kommt beim AltBundestag praktisch überhaupt nicht in Betracht. 16 Wenn etwa zwei Parteien, deren Fraktionen im Bundestag bisher koaliert haben, nach der Wahl nicht mehr über die Kanzlermehrheit verfügen und sich deshalb eine der Parteien für die Zusammenarbeit mit einer anderen entscheidet; beispielsweise könnte ein Bündnis aus SPD und F. D. P. eine Koalition aus CDU/CSU und F. D. P. ablösen. 11 Nicht ganz ausgeschlossen ist auch die Möglichkeit, daß die alten Mehrheiten im AltBundestag einen vorgezogenen Regierungswechsel unterstützen, weil die neue Regierung möglichst schnell zur Bewältigung einer Krise bereitstehen soll; in diesem besonderen Fall käme es dann aber wohl eher zu einem freiwilligen Rücktritt des Bundeskanzlers.

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Da nach Art. 67 Abs. 2 GG zwischen dem Stellen des Mißtrauensantrags 78 und der Wahl des neuen Bundeskanzlers nur 48 Stunden liegen müssen,79 ist ein Regierungswechsel also innerhalb weniger Tage möglich. Die Schwierigkeit, die beim Alt-Bundestag auftreten kann, besteht darin, daß sich in dem kurzen Zeitraum seines Bestehens eine neue Mehrheit finden muß. Kommt sie jedoch zustande, so kann der Alt-Bundestag über den Mißtrauensantrag innerhalb kurzer Zeit entscheiden. Denn eine Beteiligung anderer oberster Verfassungsorgane ist - sieht man einmal von der eher formalen Rolle des Bundespräsidenten ab 80 - nicht erforderlich. Diese schnelle Handlungsmöglichkeit begünstigt das Zustandekommen eines Regierungswechsels durch einen im Alt-Bundestag gestellten Mißtrauensantrag.

III. Die Funktion der RegierungskontroUe Die dem Alt-Bundestag zur Verfügung stehende Möglichkeit für ein Mißtrauensvotum ist auch Ausdruck seiner Kontrollfunktion. Das Mißtrauensvotum ist die "ultima ratio parlamentarischer Kontrolle". 81 Daneben stehen dem Alt-Bundestag auch noch andere weniger weitreichende Kontrollmittel zur Verfügung. Zu deren Erfassung ist jedoch erst einmal zu klären, was mit Kontrolle in diesem Zusammenhang gemeint ist. Denn bereits eine ganz allgemeine, also nicht staatsrechtliche Begriffsbestimmung der Kontrolle 82 läßt sich wegen der vielen unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes nicht vornehmen. 83 Ebenso ist der Begriff verfassungsrechtlich und damit auch auf den Bundestag bezogen kaum faßbar. 84 Denn außer in dem erst nach78 Siehe dazu § 97 GeschO BT, der die Regelung des Verfahrens des konstruktiven Mißtrauensvotums enthält. 79 In diesem Zusammenhang ist § 123 GeschO BT zu beachten; siehe dazu Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 67 Rz.27. 80 Nach Art. 67 Abs. 1 S.2 GG ist der Bundespräsident verpflichtet, den Bundeskanzler zu entlassen und den Neugewählten zum Bundeskanzler zu ernennen; nur in wenigen Ausnahmefällen kann sich der Bundespräsident auf Grund seines materiellen Prüfungsrechts weigern, dem Folge zu leisten; siehe dazu Herzog, in: Maunz/Dürig, 00, Art. 67 Rz. 34. 81 Stern, Staatsrecht I, § 22 III 3 a. 82 Zum allgemeinen Sprachgebrauch des Wortes "Kontrolle" siehe die allgemeinen Konversationslexika Brockhaus, 12. Bd. S. 337, und Meyers Enzyklopädisches Lexikon, 14. Bd. S. 185. 83 Vgl. dazu Gehrig, Parlament-Regierung-Opposition, S.ll: ,,Eine allgemeine inhaltliche Bestimmung des Begriffes Kontrolle, der für alle in den verschiedensten Lebensbereichen vorkommenden Kontrollen gelten könnte, ist nicht möglich"; siehe auch Steffani, in: Schneidert Zeh, § 49 Rz.2, 3. 84 Siehe Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S. 133; Meyn, Kontrolle, S.25. Vgl. auch die Auflistung der "verfassungspolitischen" Verwendungsweisen des Begriffs Kontrolle bei Steffani, in: Schneider/Zeh, § 49 Rz.4. Ferner sei auf die rechtswissenschaftlichen Werke folgender Autoren, die sich mit dem Thema Kontrolle aus staatsrechtlicher Sicht seit der Gründung der Bundesrepublik besonders ausführlich beschäftigt haben, verwiesen: Loewenstein, Verfassungslehre (1959), zuerst in englischer Sprache unter dem Titel ,,Political Power and the Govemmental Power" (1957) erschienen; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (1966); Scheuner, Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung (1970); ders., Die Kontrolle der

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träglich in die Verfassung eingefügten Art. 45 b GG erwähnt das Grundgesetz die Kontrollfunktion des Bundestages nicht. 85 Es trifft keine Aussage über das "Recht und die Pflicht parlamentarischer Kontrolle". 86 Trotzdem entfalten viele parlamentsbezogene Regelungen des Grundgesetzes eine Kontrollwirkung. Mit Kontrolle des Bundestages ist zunächst einmal ganz allgemein die parlamentarische Kontrolle der Regierung gemeint. Unter "Kontrolle" ist jedoch nicht nur eine nachträgliche, repressive Funktion in dem Sinne zu verstehen, daß das Parlament - vor allem die Opposition - die ordnungsgemäße Erfüllung der Regierungsaufgaben etwa im Rahmen des Interpellationsrechts nachprüft, sondern sie enthält auch präventive, voraus wirkende Seiten. 87 Bei letzterem handelt es sich um eine "Kontrolle durch Zusammenwirken"88 oder auch "dirigierende Kontrolle". 89 Diese voraus wirkende parlamentarische Kontrolle entfaltet sich unter anderem in der Gesetzgebung, vor allem im Budgetrecht. 90 Ferner verwirklicht sie sich bei der Tätigkeit der Ausschüsse, wie etwa dem Verteidigungs- und Haushaltsausschuß; diese werden häufig an wichtigen Entscheidungen der Exekutive im Vorfeld beteiligt. 91 Inbesondere kommt sie bei der - grundätzlich vorherigen - konstitutiven Zustimmung des Bundestages zu einem Einsatz bewaffneter Streitkräfte zum Vorschein. 92 Insofern dient die Kontrollfunktion dazu, das Parlament an der "Leitung" des Staates zu beteiligen. 93 Denn nur durch Zusammenarbeit von Regierung und Bundestag - gelegentlich auch noch des Bundesrates - kann in vielen Bereichen wirksam Politik betrieben werden, so daß nach Friesenhahn 94 die Staatsleitung Regierung und Parlament gewissermaßen "zur gesamten Hand" zusteht. Dabei gibt meistens die Regierung für ein Vorhaben den Anstoß, während der Bundestag "Inhaber des letzten Wortes"95 ist. Staatsmacht im demokratischen Staat (1977); Brunner, Kontrolle in Deutschland (1972); Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip (1982). Anstöße zur Diskussion über die Kontrolle gab insbesondere auch die Schweizer Lehre, nämlich Eichenberger, Die politische Verantwortlichkeit der Regierung im schweizerischen Staatsrecht (1961); Bäumlin, Die Kontrolle des Parlaments über Regierung und Verwaltung (1966). 8S In Art. 45 b GG heißt es auch lediglich, daß der Wehrbeauftragte ein .. Hilfsorgan des Bundestages bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrolle" ist. 86 Trossf1umn, JöR 28 (1979), S.I, 46. 87 Vgl. Achterberg, Parlamentsrecht, S.41O. 88 Bäumlin, Referate und Mitteilungen des Schweizerischen Juristenvereins 1966 (Jg. 1(0), S.165, 244; ähnlich Busch, Parlamentarische Kontrolle, S.I2f. 89 Eichenberger, SJZ 61 (1965), S. 269,270. 90 Siehe dazu Busch, Parlamentarische Kontrolle, S. 13. 91 Siehe dazu Scheuner, Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, S. 379,401 f.; ders, Kontrolle der Staatsmacht, S.49ff. Nach Eichenberger, SJZ 61 (1965), S. 269, 272, beinhaltet parlamentarische Kontrolle nicht nur negative Kritik, sondern sie hat auch bejahende Elemente, die die Leistungsfähigkeit der Regierung bestätigen. 92 Vgl. BVerfGE 90, S.286, 381 ff., insb. zum Kontrollgedanken S. 384 ff. 93 Siehe Stern, Staatsrecht I, § 221II 3 d. 94 Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), S.9, 39f. 9S Stern, Staatsrecht I, § 221II 6.

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Kap. 4: Die Funktionen des Bundestages und der Alt-Bundestag

Da der Bundestag durch die Kontrollmittel wesentlichen Einfluß auf die staatliche Willensbildung, insbesondere die der Regierung, gewinnen kann, könnte es für den Alt-Bundestag zahlreiche Gründe geben, von dem weitgefächerten Bereich der Kontrollrechte 96 Gebrauch zu machen. Durch die Ausübung der Kontrolle könnte der Alt-Bundestag ein Gegengewicht zur Regierung bilden, die ebenfalls nach der Wahl fortbesteht. Dafür bietet sich etwa das Interpellationsrecht97 im Sinne der §§ 105 ff. GeschO BT an. Dieses Kontrollrecht würde jedoch weniger vom Alt-Bundestag in seiner Gesamtheit, als vielmehr von einem Teil von ihm, nämlich der Opposition, wahrgenommen werden. Denn die Mehrheitspartei bzw. das Mehrheitsbündnis trägt die Regierung und unterstützt ihre Politik in aller Regel, während die Opposition beispielsweise durch Anfragen Druck auf die Regierung ausüben will, damit diese Rechenschaft für ihre Politik ablegt, so daß die Opposition Kritik an der Regierung und den Mehrheitsfraktionen üben und eine sachliche Alternative zur Politik der Regierung anbieten kann. 98 Die Wahrscheinlichkeit, daß sich der Alt-Bundestag eines Kontrollmittels bedient, ist jedoch nicht bei allen Kontrollrechten gleichermaßen groß und kann hier nur punktuell betrachtet werden. Beispielsweise dürfte der Alt-Bundestag wohl kaum einen Untersuchungsausschuß nach Art. 44 GG einsetzen, da dieser für seine Arbeit in der Regel mehrere Monate benötigt und die ihm verbleibende Zeit daher nicht für eine Aufdeckung möglicher Mißstände reicht; diesbezüglich würde sich der Alt-Bundestag wohl eher des Interpellationsrechts oder auch des Zitierrechts nach Art. 43 Abs. 1 GG 99 bedienen, zu dessen Ausübung jedoch ein Mehrheitsbeschluß im Bundestag erforderlich ist. 100 Der Alt-Bundestag könnte jedoch z. B. als eine Art "Mitregierung" in den Fällen tätig werden, in denen seine Beteiligung oder die einzelner Ausschüsse für die Durchführung bestimmter Vorhaben erforderlich ist. Wenn auch unaufschiebbarer Handlungsbedarf diesbezüglich eher selten sein % Siehe die Übersicht der Kontrollrechte des Bundestages bei Stern, Staatsrecht I, § 22 11 5; Thaysen, Parlamentarisches Regierungssystem, S. 54ff. 97 Siehe dazu Witte- Weg mann, Recht und Kontrollfunktion der Großen, Kleinen und Mündlichen Anfragen im Deutschen Bundestag, S.40ff.; Trossmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, Kommentierung zu §§ 105ff. GeschOBT. 98 Zu den Kontrollmöglichkeiten der Opposition gegenüber der Regierung und zur Wandlung der Kontrollfunktion des Parlaments siehe Leibholz, Die Kontrollfunktion des Parlaments, S. 299 ff.; Scheuner, Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, S. 379, 397 ff.; siehe auch Busch, Parlamentarische Kontrolle, S. 21 ff. 99 Während ein Teil des Schrifttums wie Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art.43 Rz. 1; Hesse, Grundzüge, Rz. 590, das Interpellationsrecht im Sinne der § § 105 ff. GeschO BT als Teil des Zitierrechts nach Art. 43 Abs. 1 GG ansieht, wird hier die Auffassung vertreten, daß Art. 43 Abs. 1 GG nur das Zitierrecht ohne das Interpellationsrecht regelt; ausführliche Begründung bei Schröder, in: Bonner Komm., GG, Art. 43 Rz. 6 ff; Witte-Weg mann, Recht und Kontrollfunktion der Großen, Kleinen und Mündlichen Anfragen im Deutschen Bundestag, S. 80 ff., K. F. Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S.112. 100 Die Kehrseite dieses Rechts, das Recht der Bundesregierung auf jederzeitiges rechtliches Gehör nach Art. 43 Abs.2 S. 2 GG, könnte im übrigen von der Bundesregierung wahrgenommen werden.

B. Die Funktionen des Bundestages

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dürfte und daher grundsätzlich auch der neue Bundestag diese Aufgabe wahrnehmen könnte, könnte es gleichwohl für den Alt-Bundestag bzw. die dortige Mehrheit politisch ratsam sein, die Zustimmung beispielsweise zu einem außenpolitischen Vertrag nach Art. 59 Abs. 2 GG zu erteilen,101 sofern dieser unter den Parteien äußerst umstritten ist und daher vom neuen Bundestag abgelehnt werden könnte. Insbesondere kommt ein Tätigwerden des Alt-Bundestages in Betracht, wenn ein plötzlicher Krisenfall den Einsatz bewaffneter Streitkräfte erfordert. 102 Denn dafür ist eine - grundsätzlich vorherige - parlamentarische Zustimmung erforderlich. 103

IV. Die Öffentlichkeitsfunktion Nach der hier vorgenommen Einteilung hat der Bundestag auch eine Öffentlichkeitsfunktion. Auch deren Wahrnehmung kommt für den Alt-Bundestag in Betracht. Der Umfang der Öffentlichkeitsfunktion ist - ähnlich wie der der Kontrollfunktion - vom Grundgesetz jedoch nicht klar vorgegeben. Daher bedarf es dazu einer klärenden Erläuterung. Als die wesentlichen Funktionen des Parlaments werden die bereits erörterte Gesetzgebungs-, Kontroll-, und Kreationsfunktion angesehen,I04 während die Öffentlichkeitsfunktion des Parlaments vielfach nicht für eine eigene Funktion gehalten wird. 105 Zum Teil wird sie auch mit den Begriffen Repräsentationsfunktion 106 oder Kommunikationsfunktion 107 umschrieben und inhaltlich enger oder weiter gefaßt. Sie spiegelt sich bei der klassischen Aufgabenbeschreibung des Parlaments durch Bagehot 108 aus dem Jahre 1867 in der "expressive function" und "informing functi on" wider lO9 und findet die Grundlage für ihre Ausübung in den Parlamentssitzungen, die nach Art. 42 Abs. 1 S. 1 GG üblicherweise öffentlich stattfinden, während Siehe dazu Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 23 Rz. 78 ff. und 98 ff. Ein solcher Einsatz bewaffneter Streitkräfte war der Grund für die bisher einzige Sitzung des Alt-Bundestages am 16. Oktober 1998, Steno Ber. 13. BT 248. Sitzung, S. 23127 ff. 103 Siehe BVerfGE 90, S. 286, 381 ff. 104 V gl. Schröder, Grundlagen, S. 206; Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.18ff. 105 Leibholz, Die Kontrollfunktion des Parlaments, S. 295, und Scheuner, Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, S. 397, unterscheiden nur die Gesetzgebungs- und Kontrollfunktion. 106 Siehe Stern, Staatsrecht I, § 22 III 5. 107 Vgl. Kißler, JöR 26 (1977), S. 39, 114ff. 108 Bagehot, The Englisch Constitution, S.115ff. 109 Unter expressive function versteht Bagehot, die Meinungen der Bevölkerung zum Ausdruck zu bringen, und die informing function ist für ihn die Berichterstattung über anliegende Probleme. Daneben hat für ihn das Parlament noch die "elective" und "teaching function" und die "function of legislation". Für Kißler, JöR 26 (1977), S.39, 118, kommt in der "teaching function", also der Aufgabe des Parlaments, auf das Volk belehrend einzuwirken, damit dieses sich zum besseren verändert, die Öffentlichkeitsfunktion des Parlaments zum Ausdruck. 101

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Kap. 4: Die Funktionen des Bundestages und der Alt-Bundestag

gemäß §§ 69, 69 a, 70 GeschO BT die Ausschußsitzungen 110 i. d. R. nichtöffentlich sind. 111 Im wesentlichen besteht die Öffentlichkeitsfunktion darin, "Politik öffentlich zu artikulieren, darzustellen und Kontroversen sowie Alternativen in der politischen Auseinandersetzung deutlich zu machen".112 Sie ist daher inhaltlich mit den anderen Funktionen, insbesondere der Kontrollfunktion verwoben, nimmt aber trotzdem eine eigene Rolle ein. 113 Auch der Alt-Bundestag könnte bestrebt sein, die Öffentlichkeitsfunktion wahrzunehmen. Neben Staatsakten, wie etwa Gedenkfeiern, bei denen das Parlament als Einheit auftritt und in denen das Volk in seiner Gesamtheit nach außen repräsentiert wird, 114 kommen auch Sitzungen wegen eines politisch umstrittenen Themas in Betracht. 115 Zwar erscheint ein Bedarf für die öffentliche Diskussion von politischen Themen durch den Alt-Bundestag außer bei einer anstehenden Abstimmung nicht mehr vorhanden. Denn die Abgeordneten, die nur noch auf Abruf im Amt sind, müssen nach dem gerade beendeten Wahlkampf nicht mehr miteinander um Wahlerstimmen kämpfen. Der Bürger benötigt nicht mehr die für die Stimmabgabe erforderlichen Informationen und es brauchen ihm die in Frage kommenden Alternativen nicht mehr vor Augen geführt zu werden. Wird aber in der Öffentlichkeitsfunktion des Bundestages auch die Aufgabe des Parlaments gesehen, wie es Hesse ausdrückt, "der Nation die Grundfragen ihres Lebens ins Bewußtsein zu rücken, Lösungen und Alternativen zu entwickeln, die Regierten von der Richtigkeit der eingeschlagenen politischen Gesamtrichtung und der getroffenen Entscheidungen zu überzeugen und auf diese Weise politische Anteilnahme, Zustimmung oder Kritik zu wecken, integrierend zu wirken", 116 dann wird der Bundestag durch seine Öffentlichkeitsarbeit zum "politischen Forum der Nation"117 und könnte daher auch zwischen Wahl und Konstituierung das Bestreben haben, die Öffentlichkeitsfunktion wahrzunehmen. Die Parteien und Fraktionen des Alt-Bundestages könnten insbesondere daran interessiert sein, die während des Bestehens des Alt-Bundestages häufig stattfinden110 Nur die Sitzungen der UntersuchungsausschUsse sind nach Art. 44 Abs. 1 GG grundsätzlich öffentlich. 111 Zur Kritik an der "Öffentlichkeitsarbeit" des Parlaments siehe H. H. Klein, in: Hdb. des Staatsrechs, § 40 Rz. 40ff.; Stern, Staatsrecht I, § 22III 5; Kißler, JöR 26 (1977), S. 39, 125 ff. 112 H.-P. Schneider, AöR 105 (1980), S.4, 16. 113 Das Parlament kommt seiner Öffentlichkeitsfunktion insbesondere auch durch die Einsetzung von Enquete-Kommissionen und das Abhalten von Hearings und aktuellen Stunden nach. 114 Diesen Bereich der Öffentlichkeitsfunktion, bei dem das Parlament geschlossen auftritt, nenntH. Meyer, VVDStRL 33 (1975), S.69, 98f., die Demonstrationsfunktion, wozu er auch die AusUbung des Zitierrechts nach Art. 43 Abs. 1 GG zählt. 11S H. Meyer, VVDStRL 33 (1975), S.69, 98 f., bezeichnet diesen Bereich der Öffentlichkeitsfunktion als die Kontakt- und Darlegungsfunktion. 116 Hesse, GrundzUge, Rz.573. 117 H.-P. Schneider, AöR 105 (1980), S.4, 17.

C. Zusammenfassung

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den Koalitionsverhandlungen zu beeinflussen, die Politik des neuen Bundestages bereits vorzubereiten und damit praktisch schon den Willensbildungsprozeß der folgenden Wahlperiode einzuleiten. Demzufolge hätte auch die Öffentlichkeit ein Interesse daran, eine Debatte im Alt-Bundestag zu verfolgen, weil diese Sitzungen sich bereits auf die neue Wahlperiode beziehen, an deren Ende das Wahl volk wieder zu einer Wahl des Bundestages aufgerufen ist.

c.

Zusammenfassung

Grundsätzlich kommt die Wahrnehmung aller grundgesetzlich eingeräumten Parlamentsfunktionen für den Alt-Bundestag in Betracht. Die Gründe für die Ausübung der Rechte können jedoch höchst unterschiedlich sein. Darüber hinaus kann die tatsächliche Wahrnehmung der Funktionen dem Alt-Bundestag erschwert bzw. verwehrt sein, so daß der Handlungsfreiraum des Alt-Bundestages in der Praxis eingeschränkt sein kann. Insofern besteht bei einigen Befugnissen eher eine theoretische als praktische Möglichkeit der Ausübung. Vor allem die knapp bemessene - in der Regel etwa dreißigtägige - Dauer seines Bestehens, die sich bei einer schnellen Konstituierung des neuen Bundestages erheblich verkürzen kann, engt den Handlungsspielraum des Alt-Bundestages beträchtlich ein. Insbesondere bei der Ausübung der Gesetzgebungsfunktion können erhebliche verfahrensbedingte Zeitprobleme auftreten. Zu ihnen kommt es vor allem dann, wenn ein Gesetzesvorhaben vom Vermittlungsausschuß beraten werden muß, weil der Bundesrat mit der Gesetzesvorlage nicht einverstanden ist. Der Bundesrat kann das Zustandebringen jedes Gesetzes, das erst nach der Wahl auf den Weg gebracht wurde, verhindern, indem er sämtliche grundgesetzlich eingeräumten Fristen ausschöpft und unter Ausnutzung des Diskontinuitätsprinzips nach der Konstituierung des neuen Bundestages ein Gesetzesvorhaben durch die endgültige Ablehnung des Gesetzes zu Fall bringt. Daher kann der Alt-Bundestag nur dann ein von ihm eingeleitetes Gesetzesvorhaben erfolgreich zu Ende bringen, wenn er sich der Zustimmung des Bundesrates gewiß sein kann. Die sich aus dem kurzen Zeitraum des Bestehens des Alt-Bundestages ergebenden Schwierigkeiten für einen erfolgreichen Abschluß des Gesetzgebungsverfahrens verringern sich jedoch, wenn das Gesetzgebungsverfahren bereits vor der Wahl in Gang gesetzt worden ist. Bei der Kreationsfunktion stellt sich das Bild für den Alt-Bundestag bezüglich der Wahl- bzw. der "Abwahl" - von obersten Staatsorganen, vor allem des Bundespräsidenten und des Bundeskanzlers, unterschiedlich dar. Zu einer Wahl des Bundespräsidenten während des Bestehens des Alt-Bundestages könnte es insbesondere wegen der Regelung des Art. 54 Abs. 4 S. 1 GG, wonach unter bestimmten Voraussetzungen eine Wahl des Bundespräsidenten innerhalb einer 30-Tage-Frist erforderlich ist, kommen. Der Alt-Bundestag könnte auf Grund des Einberufungsrechts des Bundestagspräsidenten nach § 1 BPräsG das Verfahren zwar in Gang setzen, wäre aber zur Rücksichtnahme auf die Länderparlamente wegen der von ihnen durchzu-

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Kap. 4: Die Funktionen des Bundestages und der Alt-Bundestag

führenden Wahlen der Mitglieder der Bundesversammlung gezwungen. Insofern könnten für den Alt-Bundestag zeitliche Engpässe hinsichtlich der Wahl des Bundespräsidenten auftreten, wobei ein rascher Zusammentritt der Bundesversammlung auch nach dem Grundgesetz durchaus möglich ist, da Art. 54 Abs.4 S. 1 GG einen Zusammentritt innerhalb von 30 Tagen vorsieht. Die Wahl des Bundespräsidenten unter Einbeziehung der Mitglieder des Alt-Bundestages könnte allerdings unter bestimmten Umständen auf das Mißfallen der meisten Abgeordneten des neuen Bundestages stoßen, da sie - zum großen Teil- an der Wahl nicht beteiligt werden und an dem Wahlergebnis im nachhinein nichts mehr ändern können. Gerade in einem solchen Fall könnten sie, sofern bereits möglich, auf einen schnellen Zusammentritt des neuen Bundestages hinwirken, um selbst den Bundespräsidenten wählen zu können. Zu einer Wahl eines Bundeskanzlers nach Art. 63 GG durch den Alt-Bundestag wie auch zur Vertrauensfrage durch den Alt-Kanzler nach Art. 68 GG wird es aus unterschiedlichen Gründen wohl kaum .kommen. Allerhöchstens könnte es im AltBundestag ein Mißtrauensvotum gegen den Kanzler nach Art. 67 GG geben. Jedoch müßten auch dafür außergewöhnliche Gründe vorliegen, da die Neuwahl des Kanzlers zu Beginn der neuen Wahlperiode nach Art. 69 Abs. 2 GG sowieso ansteht. Beim Mißtrauensvotum käme dem Alt-Bundestag zunutze, daß er ohne Beteiligung anderer Organe - sofern man die eher fonnale Rolle des Bundespräsidenten außer acht läßt - ein solches Verfahren durchführen könnte, so daß dieses zügig und, wenn sich eine neue Mehrheit findet, erfolgreich vonstatten gehen könnte. Die vom Alt-Bundestag wahrnehmbare Kontrollfunktion ennöglicht diesem verschiedene Handlungsmöglichkeiten, für die sehr unterschiedliche Verwirklichungschancen bestehen. Da hier unter Kontrolle nicht nur eine nachträgliche, repressive Funktion in dem Sinne verstanden wird, daß das Parlament - vor allem die Opposition - die ordnungsgemäße Erfüllung der Regierungsaufgaben etwa im Rahmen des Interpellationsrechts nachprüft, sondern die Kontrolle auch präventive, voraus wirkende Seiten enthält, lassen sich keine allgemein gültigen Aussagen über die Ausübung aller Kontrollrechte treffen. Jedenfalls kommt die Wahrnehmung der Kontrollrechte durch den Alt-Bundestag bereits deshalb in Betracht, weil auch die alte Regierung nach der Wahl fortbesteht. Vor allem die Opposition könnte geneigt sein, ein Gegengewicht zur Bundesregierung zu bilden. In diesem Zusammenhang ist es wegen des kurzen Fortbestehens des Bundestages jedoch so gut wie ausgeschlossen, daß der Alt-Bundestag noch einen Untersuchungsausschuß einsetzt. Dagegen könnte es auf Grund des geringeren organisatorischen und zeitlichen Aufwandes noch zur Ausübung des Interpellations- und Zitierrechts kommen. Ebenso wäre es im Rahmen der voraus wirkenden Kontrolle möglich, daß der Alt-Bundestag als eine Art "Mitregierung" in den Fällen tätig wird, in denen seine Beteiligung oder die einzelner Ausschüsse für die Durchführung bestimmter Vorhaben unverzichtbar ist. Insbesondere könnte er bei einem unaufschiebbaren Einsatz bewaffneter Streitkräfte tätig werden, um die - grundsätzlich vorherige - konstitutive Zustimmung zu einem solchen Einsatz rechtzeitig zu erteilen.

C. Zusammenfassung

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Die Wahrnehmung der Öffentlichkeitsfunktion könnte für den Alt-Bundestag trotz der gerade stattgefundenen Bundestagswahl durchaus in Betracht kommen. Dies gilt nicht nur für den Fall, daß ein Staatsakt in Form einer Gedenkfeier begangen wird oder eine Debatte einer parlamentarischen Abstimmung vorgeschaltet wird, sondern die Abgeordneten könnten auch versuchen, die in der Zeit des AltBundestages häufig stattfindenden Koalitionsverhandlungen zu beeinflussen und den Willensbildungsprozeß des neuen Bundestages einzuleiten. Das könnte das Interesse der Öffentlichkeit am Meinungsaustausch im Alt-Bundestag wecken, weil sich eine solche Sitzung bereits auf die neue Wahlperiode bezieht, an deren Ende die Wähler wieder aufgerufen sind, eine Wahlentscheidung zu treffen.

Fünftes Kapitel

Die materielle Zuständigkeit des Alt-Bundestages Die Betrachtung der formellen Handlungsmöglichkeiten des Alt-Bundestages führt zu der Frage, ob der Alt-Bundestag für die Ausübung dieser formell bestehenden Rechte auch materiell zuständig ist oder ihm in bestimmten Situationen sogar Ptichten zum Handeln erwachsen. Sieht man also von den beschriebenen - vor allem im Falle der Beteiligung des Bundesrates bzw. der Länderparlamente - zeitlichen Hindernissen ab, gilt es im folgenden zu klären, ob sich für den AltBundestag wegen der Wahl des neuen Bundestages materielle Zuständigkeitsschranken ergeben. Die Antwort auf die Frage der materiellen Zuständigkeit des Alt-Bundestages muß dabei nicht notwendigerweise dazu führen, daß dem Alt-Bundestag entweder alle parlamentarischen Befugnisse oder gar keine zustehen. Denkbar wären auch andere Formen der Zuständigkeit. Im wesentlichen sind folgende Möglichkeiten der Befugniswahrnehmung denkbar: - Der Alt-Bundestag übt alle parlamentarischen Befugnisse wie während der "normalen" Wahlperiode aus. Wegen des Fehlens grundgesetzlicher Grenzen der Zuständigkeit entscheidet er selbst darüber, ob er sein Handeln aus Gründen der Rücksichtnahme auf den neuen Bundestag bzw. den in der Wahl zum Vorschein gekommenen Wählerwillen beschränken will. - Der Alt-Bundestag hat lediglich geschäftsführende Funktionen in dem Sinne, wie es Art. 69 Abs. 3 GG für den Bundeskanzler und die Bundesminister bis zur Bestellung eines Nachfolgers vorsieht. Die Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten könnten daher eingeschränkt sein. - Dem Alt-Bundestag ist es untersagt, solche Entscheidungen zu treffen, von deren Auswirkungen der neue Bundestag in irgendeiner Hinsicht mehr betroffen ist als der Alt-Bundestag. Dazu könnte z. B. die Wahl des Bundespräsidenten, dessen Amtszeit im wesentlichen in die Wahlperiode des neuen Bundestages fällt, gehören. - Der Alt-Bundestag darf nur solche Entscheidungen fällen, die vom neuen Bundestag ohne Einschränkung ganz und gar wieder rückgängig gemacht werden können. Das könnte rechtlich so geregelt sein, daß gewisse Akte nur aufschiebend bedingt vollzogen werden dürften, wie etwa der Beschluß eines Nachtragshaushaltsgesetzes.

A. Die demokratische Legitimation des Alt-Bundestages

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- Der Alt-Bundestag darf nur Eilmaßnahmen vollziehen, d. h. nur noch das beschließen, was bis zum Zusammentritt des neuen Bundestages nicht mehr aufgeschoben werden kann. - Der Alt-Bundestag besteht nur noch institutionell und formal als Organ fort, darf jedoch entweder gar nicht oder zumindest nicht mehr als Beschluß- und Wahlorgan einberufen werden. Dem Bundestag ist also entweder jegliches Tätigwerden untersagt und es bestehen nur noch das Mandat und die Statusrechte der Abgeordneten, wie etwa die Immunität, fort oder der Alt-Bundestag - ebenso wie seine Ausschüsse - darf zwar zum Meinungsaustausch der Abgeordneten oder anläßlieh einer Gedenkfeier eine Sitzung abhalten, um die Öffentlichkeitsfunktion des Parlaments wahrzunehmen, doch ist es ihm verwehrt, rechtlich bindende Beschlüsse zu fällen. Gewiß lassen sich die wahrnehmbaren parlamentarischen Befugnisse noch anders abgrenzen. Die dargestellten möglichen Zuständigkeitsbereiche des Alt-Bundestages kommen aber am ehesten in Betracht. Natürlich wäre auch eine Einzelaufzählung der dem Alt-Bundestag zustehenden Rechte denkbar. Ebenso ließen sich alle Rechte zusammenstellen, die dem Alt-Bundestag nicht zustehen, wie es der Verfassungsgeber bis 1976 bei dem ehemaligen ständigen Ausschuß nach Art.45 Abs.2 GG a. F. getan hat. l Vor einer Betrachtung der einzelnen Rechte des Alt-Bundestages sollen jedoch die materiellen Zuständigkeitsgrenzen, aus denen sich möglicherweise Einschränkungen der Befugnisausübung herleiten lassen, erörtert werden. Erst wenn der rechtliche Rahmen der Zuständigkeit abgesteckt ist, ist eine umfassende Zusammenstellung der Rechte des Alt-Bundestages angezeigt.

A. Die demokratische Legitimation des Alt-Bundestages Die Antwort auf die Frage, ob der Alt-Bundestag nach der Wahl des neuen Bundestages bis zu dessen erstem Zusammentritt noch materiell für die Wahrnehmung der institutionellen Aufgaben des Bundestages zuständig ist bzw. seinem Handeln materielle Zuständigkeitsschranken entgegenstehen, ergibt sich daraus, ob der AltBundestag in dieser Zeit noch demokratisch legitimiert ist. Wie im folgenden noch genauer zu erörtern ist, setzt die Prüfung der materiellen Zuständigkeit des Alt-Bundestages bei der Frage an, ob sich sein Handeln auf einen Entscheidungsakt des Volkes, also in der repräsentativ ausgestalteten Herrschaftsordnung des Grundgesetzes auf den Wahlakt, zurückführen läßt. In diesem Zusammenhang ist besonders von Interesse, ob die Wahl zum neuen Bundestag eine legitimationszerstörende Wirkung für den Alt-Bundestag entfalten kann. Damit wird die rechtliche Stellung des AltBundestages im Zusammenhang mit dem Willensbildungsprozeß, wie er sich vom Volk zu den Staatsorganen vollzieht, betrachtet. I

Siehe dazu erstes Kapitel eI2.

7 Kochsiek

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Kap. 5: Die materielle Zuständigkeit des Alt-Bundestages

Die materielle Zuständigkeit des Alt-Bundestages gilt es daher im Lichte des Demokratieprinzips und nicht des Rechtsstaatsprinzips 2 zu erörtern. Zwar hat das Rechtsstaatsprinzip unter anderem auch die Organisation des Staates und die Bindung und Begrenzung seiner Herrschaft 3 zum Gegenstand. Aber es geht ihm um "Inhalt, Umfang und Verfahrensweise staatlicher Tätigkeit". 4 Natürlich darf der AltBundestag nicht gegen die grundgesetzlichen Ausgestaltungen des Rechtsstaatsprinzips verstoßen. Vor allem hat er gemäß Art. 1 Abs. 3 und 20 Abs. 3 GG die Grundrechte zu beachten und ist als Gesetzgeber an die Verfassung gebunden. 5 Diesen grundgesetzlichen Anforderungen ist aber die Frage nach der Zuständigkeit des Alt-Bundestages vorgelagert. Bei ihrer Beantwortung geht es um die Einhaltung einzelner Erfordernisse des Demokratieprinzips. Das "Ob des Handelndürfens" entscheidet sich "anhand des Maßstabes der demokratischen Legitimation"6 Deren Wesens gehalt gilt es im folgenden zu ergründen.

I. Der Begriff der demokratischen Legitimation Das Begriffspaar demokratische Legitimation als staatswissenschaftlicher Ausdruck hat in die Rechtswissenschaft und die Sozialwissenschaften Eingang gefunden. Die Bestimmung dessen, was demokratische Legitimation ist und unter welchen Voraussetzungen sie vorliegt, führt deshalb zu Schwierigkeiten, weil bereits die Bedeutung und der Inhalt der Demokratie und Legitimation - und des in diesem Zusammenhang häufig erörterten Begriffes der Legitimität, auf den hier genauer einzugehen ist - sowohl in den beiden Wissenschaftszweigen als auch untereinander umstritten sind. Die Weite der begrifflichen und inhaltlichen Bestimmung ergibt sich vor allem aus den unterschiedlichen besonderen Erkenntnisinteressen, den zugrundegelegten staats- und gesellschafts theoretischen Grundannahmen wie auch den angewandten Verfahren und Vorgehensweisen. Auch wenn es sich hier um eine rechtswissenschaftliche Darstellung des Alt-Bundestages handelt, ist zu klären, welche Bedeutung das sozialwissenschaftliche Verständnis von Legitimation und Legitimität für die Legitimation des Alt-Bundestages hat.' Denn die Staatswissen2 Aus der Unzahl der Veröffentlichungen zum Rechtsstaatsprinzip seien nur genannt Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip; Schmidl-Aßmann, in: Hdb. des Staatsrechts, § 24; neuestens Sobola, Das Prinzip Rechtsstaat. ) Nämlich zur Sicherung der Freiheit der Bürger. 4 Böckenförde, in: Hdb. des Staatsrechts, § 22 Rz. 83. 5 Die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Grundrechte und die Verfassungsbindung der Gesetzgebung machen einen Staat zum sogenannten ,,materiellen Rechtsstaat", da sie die inhaltliche Ausrichtung der Legislative an einer höheren Wertordnung sicherstellen. Dagegen sind die Bestandteile des "formellen Rechtsstaates" die "Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Gerichte, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Rechtsschutz gegen Akte öffentlicher Gewalt und eine öffentlich-rechtliche Entschädigung"; so Schmidt-Aßmann, in: Hdb. des Staatsrechts, §24 Rz.18ff. 6 Siehe Meyn, Kontrolle, S. 187.

A. Die demokratische Legitimation des Alt-Bundestages

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schaft hat stets auch empirische bzw. sozial wissenschaftliche Bezüge, 8 die es, soweit möglich und nötig, zu berücksichtigen gilt. 1. Das sozialwissenschaftliehe Verständnis von Legitimität und Legitimation

Auch wenn die Begriffe Legitimität und Legitimation nicht nur von den Rechtswissenschaften, sondern auch von den Sozialwissenschaften - insbesondere ausgehend von M. Weber 9 - in Beschlag genommen werden, ist aus mehreren Gründen ein sozialwissenschaftlicher Ansatz für die Untersuchung der demokratischen Legitimation des Alt-Bundestages, wie im folgenden deutlich wird, ungeeignet. Sofern im sozialwissenschaftlichen Bereich überhaupt zwischen den Begriffen Legitimität und Legitimation unterschieden wird, meint Legitimität eine Eigenschaft politischer Herrschaft, nämlich die Anerkennung oder "Anerkennungswürdigkeit einer politischen Ordnung",10 bei der es um die Loyalität der Bürger gegenüber der bestehenden Ordnung, also die Folgebereitschaft der Mitglieder eines politischen Systems, geht. ll Dagegen ist die Legitimation der Prozeß, "in dem Legiti7 Zum Teil lehnen sich die nachfolgenden Ausführungen zur Legitimität und Legitimation an Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, S. 26ff., an. 8 Vgl. dazu Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S.1 ff. 9 In der Geschichte der Sozialwissenschaften war M. Weber Anfang dieses Jahrhunderts einer der ersten, der durch soziologisch-deskriptive Methoden versuchte, den Begriff Legitimität empirisch zu erfassen, indem er ihn in die Theorie der politischen Systeme aufnahm und je nach Art der Ausübung der Herrschaft verschiedene Motivationen des Gehorchens der Gewaltunterworfenen und damit lYpen der Legitimität unterschied; vgl. ders., Wirtschaft und Gesellschaft, Erster Halbband, Erster Teil, Kapitel III. Dies führte unter anderem dazu, daß sich die Soziologie mit der Messung und dem Nachweis von Legitimität beschäftigte; vgl. etwa Schmidtchen, ZParl 8 (1977), S. 232 ff. Ende der sechziger Jahre letzten Jahrhunderts gaben die gesellschaftlichen Protestbewegungen der sozialwissenschaftlichen Diskussion neuen Stoff mit der Folge, daß seit dieser Zeit die Begriffe Legitimität und Legitimation vor allem unter den Stichwörtern ,,Legitimationskrise" und ,,Legitimitätsprobleme" (siehe dazu Mirbach, Überholte Legitimität?, S. 1 ff.) und im wesentlichen in bezug auf die westlichen Demokratien erörtert werden; siehe dazu die Beiträge zur Tagung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft in Duisburg im Herbst 1975, von denen sich ein Teil in Kielmansegg (Hrsg), PVS Sonderheft 7/1976, und in Ebbighausen (Hrsg.), Bürgerlicher Staat und politische Legitimation, finden. Vor allem folgende drei Autoren und ihre Werke haben in Deutschland Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre zur Diskussion über die Legitimation staatlicher Herrschaft beigetragen: Luhmann, Legitimation durch Verfahren; Offe, Strukturprobleme des kapitalistischen Staates; Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. 10 Habermas, PVS Sonderheft 7/1976, S.39. 11 Vgl. Habermas, PVS Sonderheft 7/1976, S.41. Für Kielmansegg, PVS 12 (1971), S.367, 369, ist Legitimität "soziale Geltung als rechtens", d. h. die Geltung eines sozialen Systems ergibt sich nicht aus der Anerkennung der Einzelnen, sondern aus der Geltung leitet sich die Anerkennung durch den Einzelnen ab; kritisch dazu Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, S. 17, Fn. 14. Ähnlich wie Kielmansegg Steffani, Parlamentarische und präsidentielle Demokratie, S. 113.

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Kap. 5: Die materielle Zuständigkeit des Alt-Bundestages

mität zustande kommt". 12 Während also die Legitimation das Verfahren zum Gegenstand hat, bedeutet die Legitimität der Zustand eines politischen Systems. 13 Die Sozialwissenschaften betrachten die Legitimität als die Rechtfertigung von Herrschaft und stellen die Frage, warum das Bestehende anerkannt wird. Hier fließen, worauf Kielmansegg hinweist, normative und empirische Bestandteile zusammen. 14 Empirisch wird sich mit der Legitimität dahingehend auseinandergesetzt, ob in der Wirklichkeit ein Staat anerkennungswürdig ist und damit faktisch als rechtens von den Bürgern anerkannt wird. Neben der Messung der Legitimität als tatsächliche Anerkennung des Bestehenden durch die Bürger wird immer wieder auch auf normative, also in gewissem Sinne wertende Kriterien zurückgegriffen. Die normative Fragestellung richtet sich darauf, ob die Verfassungsordnung - als Gegensatz zur politischen Praxis - eine von der Bevölkerung annehmbare Ordnung sei. Dabei werden die Bedingungen untersucht, unter denen politische Herrschaft anerkennungswürdig sei, und damit einhergehend wird erforscht, unter welchen Voraussetzungen der Geltungsanspruch des Staates für die Menschen nicht mehr begründet werden kann, sich der Staat also in der Krise befindet. Im übrigen wird der Legitimitätsbegriff nicht einheitlich auf die verschiedenen Gesellschaftssysteme angewandt. Aber selbst wenn man den Begriff Legitimität - und auch Legitimation - ausschließlich auf die Demokratie bezieht, wie es für diese auf die parlamentarische Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland ausgerichtete Arbeit allein sinnvoll ist, tritt die Frage auf, welche Werte grundlegend für den "westlichen" demokratischen Staat sind. Wollte man die Vielfalt von Demokratietheorien, beispielsweise die elitistisehe oder ökonomische,15 auch noch in die sozialwissenschaftliche Diskussion über den Legitimitätsbegriff mit einbeziehen, würde die Darstellung eines sozialwissenschaftlichen demokratischen Legitimitätsbegriffes ungeahnte Ausmaße annehmen. Bereits der fehlende einheitliche Demokratiebegriff spricht gegen einen sozialwissenschaftlichen Ansatz für die Untersuchung der demokratischen Legitimation des Alt-Bundestages. Darüber hinaus besteht das Problem, daß die Sozialwissenschaften nicht immer eindeutig zwischen Legitimität und Legitimation, um die es hier im wesentlichen geht, unterscheiden. 16 Außerdem führt die Tatsache, daß die Sozialwissenschaften den Begriff der Legitimität und auch der Legitimation nicht nur unter rein empirischen, sondern ebenso auch rechtlichen Gesichtspunkten beHennis, PVS Sonderheft 7/1976, S.9, 12. Vgl. Kevenhörster, in: Kielmansegg/Matz, S.61. 14 Siehe Kielmansegg, in: ders./Matz, S. 11 ff. 15 Zu den Demokratietheorien im einzelnen: Schumpeter, Eine andere Theorie der Demokratie; Narr/Naschold, Theorie der Demokratie; Grube/Richter, Demokratietheorien (Dieses Werk greift besonders anglo-amerikanische Theorien aut)o 16 Meist geht es in den Sozialwissenschaften sowieso nur um die Legitimität; anders jedoch Luhmann, ARSP Beiheft Nr.I5, S. 65,79, für den die Frage nach der Rechtfertigung des staatlichen Entscheidens weder mit dem faktischen Glauben in der Bevölkerung noch mit "geltenden (oder wenigstens: beglÜndbaren) Prinzipien" beantwortet werden kann. Für ihn kommt es auf die Legitimation - im Rahmen seiner "Theorie der selbstreferentiellen Konstitution des politischen Systems" - an; siehe dazu ders., Legitimation durch Verfahren. 12

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A. Die demokratische Legitimation des Alt-Bundestages

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handeln 17 , dazu, daß nicht genau zwischen sozialwissenschaftlicher und rechtswissenschaftlicher Bezeichnung unterschieden werden kann. Daher ist es angezeigt, für die Darstellung der demokratischen Legitimation des Alt-Bundestages einen rechtswissenschaftlichen, insbesondere staats- und verfassungsrechtlichen, Ansatz zu wählen. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß sich auch die Rechtswissenschaft bei der Auslegung von Rechtssätzen und ihrer Anwendung sozialwissenschaftlicher, vor allem soziologischer, sozialpsychologischer und politisch-ideologischer Begründungen bedient,18 wie es sich etwa bei dem Meinungsstreit über das Zustandekommen von Repräsentation - ausgehend von Art. 20 Abs.2 S. 2 GG zeigt. 19 Deshalb muß im folgenden beachtet und sich vergegenwärtigt werden, ob im Rahmen der Untersuchung der demokratischen Legitimation des Alt-Bundestages rein verfassungsrechtliche Betrachtungsweisen genügen oder auch sozialwissenschaftliche, insbesondere empirische zum Verständnis herangezogen werden müssen. Eine rein rechtspositivistische Sichtweise ist im übrigen weder wünschenswert, da sie die Gefahr in sich trägt, sich der politischen und sozialen Wirklichkeit zu verschließen, noch möglich, da das Staatsrecht dann wegen seiner Feme vom politischen Alltag seine ordnende und problemlösende Funktion in der Rechtswirklichkeit nicht erfüllen kann. Es gilt daher die juristische Methodik mit dem sozialwissenschaftlichen und politischen Hintergrund zu verbinden. 20 Vor der genauen Betrachtung der Legitimation des Alt-Bundestages ist jedoch zunächst eine begriffliche Abgrenzung der rechtswissenschaftlichen Verwendung von Legitimation und Legitimität erforderlich. Beide Begriffe werden nämlich gelegentlich' gleichbedeutend verwandt, obwohl sie einen unterschiedlichen Wesensgehalt haben.

2. Das rechtswissenschaftliehe Verständnis von Legitimität und Legitimation a) Die Begriffsentwicklung Legitimität und Legitimation, in deren Zusammenhang auch die Legalität gehört, sind Grundbegriffe der Rechtswissenschaft. Zum vollen Verständnis ihres Bedeutungsgehalts ist ein Blick in die Entwicklungsgeschichte der Begriffe Legitimität und Legitimation angebracht. 21 Beide leiten ihre Herkunft vom lateinischen Adjektiv "legitimus" ab, das wiederum im Zusammenhang mit dem Wort "lex", Gesetz, 17 Es findet nämlich vielfach auch eine Auseinandersetzung mit der Rechtsordnung eines Staates statt. 18 Siehe dazu Höberle, AöR 99 (1974), S.437ff., insb. S.457ff. 19 Siehe dazu fünftes Kapitel AIII 1 a). 20 Zur Verwobenheit von Staatsrecht, Politik und Politikwissenschaft siehe Böck.enjörde, Eigenart, S. 317 ff., insb. S. 32lf., 323 f. 21 Zum folgenden siehe vor allem die Werke von Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft; ders., Art. ,,Legitimität, Legalität"; Tsatsos, Von der Würde des Staates zur Glaubwürdigkeit der Politik.

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steht. 22 Im wesentlichen bezeichnete "legitimus" die Übereinstimmung mit dem Volksgesetz oder in bezug auf das ungeschriebene Recht das Rechtmäßige schlechthin. 23 Für die Entwicklung der Begriffe in staatsrechtlich-politischer Hinsicht war vor allem die Übernahme des Begriffes "legitimus" in die französische Sprache als "legitime" und später "legitimite" wesentlich. "Iegitimite" hatte zunächst ausschließlich eine zivilrechtliche Bedeutung 24 und wurde schließlich im allgemeinen Sprachgebrauch im Sinne von Gesetz- und Rechtmäßigkeit verwendet. 25 Das Adjektiv "legitime" bekam erst am Vorabend der französischen Revolution seinen staats theoretisch-politischen Gehalt, und an dieses Wort knüpfte sich die Diskussion um die Rechtmäßigkeit staatlicher Herrschaft. 26 Das deutsche staatstheoretisch-politische Schrifttum nahm die Wörter "legitim" und "Legitimität" schließlich Anfang des 19. Jahrhunderts ausgehend vom französischen und nicht vom lateinischen Gebrauch als Begriffe auf. 27 Zunächst bemächtigten sich aber noch die Anhänger der Restauration des Begriffes, indem sie damit die Monarchie zu rechtfertigen versuchten. Durch den Konstitutionalismus fiel jedoch in den Begriff der Legitimität auch demokratisches und nationalstaatliches Gedankengut ein, das schließlich den monarchisch geprägten Legitimitätsbegriff verdrängte. 28 b) Die Bedeutung der Legitimität In das deutsche Staatsrecht und die Staatstheorie fand erst einmal der Begriff der Legitimität Eingang, bevor der Terminus Legitimation, vor allem in seiner Ausgestaltung als demokratische Legitimation, aufkam. Um den Begriff Legitimation verständlich machen zu können, gilt es, im folgenden kurz den Wesensgehalt der Legitimität zu erörtern. Ohne daß hier auf die verschiedenen Deutungs- und Verwendungsweisen 29 im einzelnen eingegangen werden soll, ist hervorzuheben, daß auch der rechtswissenschaftliche Begriff der Legitimität häufig sozialwissenschaftliche, vor allem empirische Bezüge hat. Legitimität als Rechtsbegriff stellt das Urteil über Vgl. Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, S.24, 32. Siehe Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, S. 33 ff. 24 Es stand für Ehelichkeit; vgl. Würtenberger, Art. ,,Legitimität, Legalität", S.694 Fn. 82. 25 Siehe Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, S. 73; ders., Art. ,,Legitimität, Legalität", S.694f. 26 Vgl. Würtenberger, Art. ,,Legitimität, Legalität", S.695. Zur radikalen Ablehnung des Absolutismus durch Rousseau und zu seinem Einfluß auf den Begriffsinhalt der Legitimität siehe Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, S.101. 27 Siehe dazu im einzelnen Würtenberger, Art. ,,Legitimität, Legalität", S. 708 ff.; ders., Die Legitimität staatlicher Herrschaft, S. 162 ff. 28 Vgl. Quaritsch, Art. ,,Legalität, Legitimität", Sp.1990; Tsatsos, Von der Würde des Staates zur Glaubwürdigkeit der Politik, S. 17 f. 29 Siehe dazu Heller, Staatslehre, S. 107ff.; Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, S. 11 ff, 21; lellinek, Allgemeine Staatslehre, S.344.; Kelsen, Reine Rechtslehre, S.213ff.; c. Schmitt, Legalität und Legitimität, S. 264ff.; Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S.52ff., 107ff., 120. 22

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die richtige Staatsform und die richtige Ausübung staatlicher Herrschaft dar. 30 Grundlage für die Bestimmung der Richtigkeit sind entweder Rechtssätze oder faktische System- bzw. Herrschaftsverhältnisse. Der Begriff der Legitimität wird demnach vieIniltig, nämlich staatsrechtlich und, ohne daß darauf näher eingegangen werden soll, staatstheoretisch 31 verwendet. Unter Legitimität im staatsrechtlichen Schrifttum 32 wird sowohl die Übereinstimmung des tatsächlich bestehenden politischen Systems mit den geltenden Ordnungsvorstellungen, die vor allem der Verfassung entnommen werden,33 oder, ähnlich wie in den Sozialwissenschaften, die faktische Anerkennung eines politischen Herrschaftssystems durch die Regierten verstanden. 34 Im Rahmen der Untersuchung der demokratischen Legitimation auf dem Boden des Grundgesetzes ist eine rein empirische Verwendung des Legitimitätsbegriffes nicht weiter von Interesse. Die Bezugsgröße für die Legitimität ist also nicht die faktische Anerkennung, sondern allein die geltende Herrschaftsorganisation. 35 Der Wertungsmaßstab für die richtige Ausübung der Herrschaft ist demnach auch nicht dem positiven Recht übergeordnet,36 sondern ergibt sich aus dem Grundgesetz. Die Herrschaftsausübung ist also richtig, d. h. die Herrschaft ist legitim und gerechtfertigt, wenn ihre Ausübung mit der verfassungsrechtlichen Herrschaftsordnung übereinstimmt. 37 Die Legitimität innerhalb der staatlichen Ordnung des Grundgesetzes entspricht damit der Legalität. 38 Denn setzt man Legalität mit Gesetzmäßigkeit gleich, also mit der Übereinstimmung einer bestimmten Handlung oder Maßnahme (des Staates) mit dem geltenden Recht, dann ist Legitimität unter dem Grundgesetz nichts anderes als die verfassungsrechtliche Legalität. 39 c) Die Bedeutung der Legitimation Auch der Begriff der Legitimation wird nicht immer einheitlich und häufig ohne deutliche Unterscheidung zum Begriff der Legitimität verwandt. Erst durch die wissenschaftliche Befassung mit der Demokratie und dem Wahlakt als Ausdruck der Volkssouveränität hat er sich zu einem eigenständigen juristischen Begriff entwik30 Vgl. Quaritsch, Art. ,,Legalität, Legitimität", Sp.1990. 31 Rechtstheoretisch betrachten die Legitimität vor allem v. Simson, Zur Theorie der Legitimität, S.459ff., 465; Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung. 32 Zum folgenden siehe Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstver-

waltung, S. 30f. 33 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 213ff., C. Schmitt, Legalität und Legitimität, S.269. 34 V gl. lellinek, Allgemeine Staatslehre, S.285, 341 ff.; C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 87. 3S Es ist hier eine Entscheidung für eine der Gebrauchsformen der Legitimität zu treffen, da sonst unklar bleibt, was denn nun mit dem Begriff Legitimität gemeint ist. 36 Andernfalls befände man sich im Fahrwasser des Legitimitätsbegriffs der Staatstheorie. 37 Vgl. Quaritsch, Art. ,,Legalität, Legitimität", Sp. 1990. 38 Vgl. Quaritsch, Art. ,,Legalität, Legitimität", Sp. 1991; Quaritsch geht auch darauf ein, in welchen Fällen es zu einem Gegensatz von Legalität und Legitimität kommen kann. 39 Der Begriff Legalität ist insgesamt aber inhaltlich weiter als der der Legitimität, da er auch die Übereinstimmung privaten Handelns mit dem geltenden Recht bezeichnet.

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keIt. 40 Er tritt daher mittlerweile meist in der Wendung "demokratische Legitimation" auf. Legitimität und Legitimation haben gleichermaßen die Rechtfertigung von Herrschaft zum Gegenstand. Die Legitimität ist jedoch eine Eigenschaft der Herrschaft. Bei ihr geht es um die Beurteilung der Übereinstimmung der Herrschaftsausübung mit der geltenden (grundgesetzlichen) Ordnung. Dagegen meint Legitimation die verfahrensmäßige Herleitung der Herrschaftsberechtigung und -ausübung der Staatsorgane und ihrer Amtswalter. 41 Die Legitimation hat also den Vorgang bzw. das Verfahren 42 der Herstellung von Herrschaft zum Gegenstand. 43 Das Verfahren richtet sich dabei nach dem von der Herrschaftsordnung vorgeschriebenen Willensbildungsprozeß. Die Legitimation als Begriff für das Verfahren der Rechtfertigung von Herrschaft ist damit ein Teil der Legitimität, die die Übereinstimmung der Herrschaft mit dem geltenden Staatsrecht bezeichnet. 44 Die Anforderungen für das Vorliegen der Legitimität sind also höher als die der Legitimation. Wenn das Parlament oder die Regierung Herrschaft ausüben, können zwar - in der Demokratie ausgehend vom Wahlakt des Volkes - die verfahrensmäßigen Bestimmungen der Legitimition eingehalten worden und beide Organe damit handlungsberechtigt gewesen sein. Trotz deren Legitimition kann es sich aber um einen nicht legitimen Herrschaftsakt handeln, wenn er etwa gegen Verfassungsprinzipien wie die Beachtung der Grundrechte verstößt. Wer legitimierte Herrschaft ausübt, herrscht also nicht zwangsläufig legitim, dagegen ist die legitime Herrschaft stets legitimiert. 45 Für die materielle Zuständigkeit des Alt-Bundestages ist allein die verfahrensmäßige Herleitung der Herrschaftsberechtigung und -ausübung des Alt-Bundestages und damit das Vorliegen seiner Legitimation maßgebend. Die inhaltliche Rechtmäßigkeit seiner Entscheidungen, die für das Vorliegen der Legitimität noch zusätzlich erforderlich ist, ist dagegen von seiner materiellen Zuständigkeit zu trennen. Daher wird im folgenden die Legitimitation des Alt-Bundestages und nicht die darüber hinausgehende Legitimität betrachtet. Bevor sich der Blick auf die Erörterung des Vorliegens der Legitimation des Alt-Bundestages richtet, gilt es jedoch zunächst zu verdeutlichen, was Legitimation auf der Grundlage des Grundgesetzes bedeutet.

40 Siehe dazu Menzel, Legitimation staatlicher Herrschaft durch Partizipation Privater?, S.46. 4. Vgl. Meyn, Kontrolle, S.22. 42 So auch Hofmann, Legitmität und Rechtsgeltung, S.77; Schmidt-Aßmann, AöR 116 (1991), S.329, 330 Fn.l, der auf Hofmann Bezug nimmt. 43 Vgl. Meyn, Kontrolle, S.22; Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, S. 33 . .. Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, S. 32f., verdeutlicht das besonders gut . ., So Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, S. 33; vgl. auch W. Schmidt, VVDStRL 33 (1975), S.183, 212.

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3. Die Legitimation im Sinne des Grundgesetzes

Das Grundgesetz legt in Art. 20 Abs. 1 GG für die Bundesrepublik Deutschland als Staatsform die Demokratie fest. Damit ist die Erörterung des Vorliegens von Legitimation im Sinne des Grundgesetzes unter dem Stichwort der demokratischen Legitimation vorgezeichnet. Für die Erfassung der Wesensmerkmale der Demokratie muß wiederum das Grundgesetz der grundlegende Maßstab sein. Andernfalls wäre eine klare Eingrenzung der Demokratie nicht möglich. Denn "Erscheinungsformen der Demokratie gibt es so viele, als es Demokraten gibt".46 Die Demokratie muß hier deshalb unter staatsrechtlichen Gesichtspunkten betrachtet werden, da jeder andere Ansatz von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre. Alle Versuche einer allgemein verbindlichen Definition der Demokratie sind dementsprechend auch gescheitert. 47 Denn die Ausgestaltung der Demokratie kann höchst unterschiedlich sein. 48 Als Beispiel unterschiedlicher Erscheinungsformen seien allein die parlamentarische und die präsidentielle Demokratie genannt. Man könnte natürlich eine Unterscheidung von Demokratiemerkmalen in Betracht ziehen und diese dahingehend aufteilen, ob sie dem "Typuskern" der Demokratie angehören - wie etwa die Abhaltung von Wahlen - und damit unverzichtbar für die Demokratie sind oder ob sie lediglich zu den "Randzonen" zählen - wie etwa das Berufsbeamtenturn, das trotz personell und politisch veränderter Parlamente und Regierungen für eine gewisse Stetigkeit des Herrschaftsapparates sorgt. 49 Bei einer solchen Darstellung kann man sich jedoch in völliger Abstraktheit verlieren, was für die konkrete Erörterung verfassungsrechtlicher Problemstellungen wenig hilfreich ist, da diese eben im wesentlichen anhand der Verfassungsordnung beurteilt werden müssen. so Eine Untersuchung der demokratischen Legitimation des Alt-Bundestages muß sich daher von der Ausgestaltung des demokratischen Prinzips im Grundgesetz leiten lassen. Grundlage der Beurteilung sind also verfassungsrechtliche und nicht staatstheoretische Überlegungen. Letztere wie auch andere staatswissenschaftliche, etwa soziologische, Gesichtspunkte finden jedoch im Rahmen der juristischen Auslegung Berücksichtigung, da sich andernfalls das Verständnis des Grundgesetzes von der demokratischen Legitimation nicht ergründen läßt. SI Thoma, Wesen und Erscheinungsfonnen der modemen Demokratie, S.34. Siehe dazu Fromme, DÖV 1970, S. 518; Schnapp, in: v. Mtinch/Kunig, GG, Art. 20 Rz. 11. 48 Vgl. die Autlistung der Erscheinungsfonnen bei Stern, Staatsrecht I, § 1813, der allein 39 verschiedene Adjektive zur Bezeichnung der Demokratie und 20 substantivische Zusammenfügungen mit dem Wort Demokratie nennt. 49 Siehe dazu Isensee, Demokratie, S.49 (mit Verweis auf ders., Verwaltung zwischen Sachgesetzlichkeit und Parteipolitik, S. 67ff.), der die Verwaltungsstruktur nicht als Gegenstand, sondern Voraussetzung der Demokratie ansieht. so Vgl. Hesse, Grundzüge, Rz. 61 ff. und 127ff. (m. w.N. in Fn. 1); Stern, Staatsrecht I, § 1812, 117; Kriele, VVDStRL 29 (1971), S.47; Schnapp, in: v. Münch, GG, Art. 20 Rz. 3f., 11 f.; Maihofer, in: Hdb. des VerfR, § 12 Rz. 8f. SI Ähnlich Doehring, Staatsrecht, S. 126, der zur ,,Interpretationsrealität" des demokratischen Prinzips meint: "Der Begriff der Demokratie wird sinnvoll nur verwendbar nach Maß46

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11. Art. 20 GG als verfassungsrechtIicher Ausgangspunkt der demokratischen Legitimation Für die Frage der demokratischen Legitimation des Alt-Bundestages kommt es nicht auf eine Durchdringung aller Wesensmerkmale der Demokratie an, sondern es sind im wesentlichen die Prinzipien des Art. 20 Abs. 2 GG, die den Kern der demokratischen Herrschaftsherleitung darstellen, zu beleuchten. Dabei richtet sich der Blick auf die Beziehung des Volkes zur Volksvertretung, läßt also andere Bereiche der Herleitung der staatlichen Herrschaft wie etwa die vom Parlament ausgehende Berufung anderer Staatsorgane und ihrer Amtswalter außer Betracht. Im weiteren ist also nicht der gesamte staatsorganisatorische Bereich der Demokratie von Interesse, sondern es geht um die Herrschaftsrechtfertigung des Parlaments vom Volk her. In diesem Zusammenhang bedarf es zunächst einer Auseinandersetzung mit dem Begriff der Volkssouveränität - und im späteren mit dem Begriff der Repräsentation -, da beide bestimmend für die materielle Zuständigkeit des Alt-Bundestages und seine Legitimation sind. Der Begriff der Volkssouveränität hat zwei Wesensmerkmale: Zum einen enthält er die "Entscheidung für die verfassunggebende Gewalt des Volkes",52 die im Rahmen der Fragestellung dieser Arbeit nicht weiter von Bedeutung ist,53 zum anderen die Herleitung der Staatsgewalt vom Volk, nachdem es als "pouvoir constituant" die Verfassung geschaffen hat. Das Volk ist zwar nach der Hervorbringung der Verfassung noch Träger der Staatsgewalt, aber nicht mehr völlig souverän, sondern an die zustandegekommene Verfassung gebunden. Seine Herrschaftsausübung wird grundsätzlich auf bestimmte Akte, wie Wahlen und Abstimmungen, beschränkt. Im Grundgesetz beantwortet Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG die Frage, wer die Souveränität im Staat54 hat und damit Träger der Staatsgewalt, also der gesamten staatlichen Herrschaftsmacht, 55 ist. Auch wenn der Begriff dort nicht erwähnt wird, hat Art. 20 Abs.2 S. 1 GG die Volkssouveränität zum Inhalt. 56 Davon gingen im übrigen auch die Verfassungsväter aus. 57 Dabei handelt es sich wegen des in Art. 20 Abs. 1 GG gabe einer bestimmten Verfassung, wobei es durchaus möglich ist, daß diese konkrete Verfassung dann auf einen allgemeinen Begriff ruckverweist, wenn und soweit eine konkrete Ausgestaltung der Rechtsordnung nicht erfolgt ist." 52 Henke, Der Staat 7 (1968), S.165, 166. Im Grundgesetz wird darauf in der Präambel mit den Worten hingewiesen, daß ..sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben" hat. Zur Rolle des deutschen Volkes als verfassungsgebende Gewalt nach Art. 146 GG siehe P.M. Huber, in: Sachs, GG, Art. 146 Rz. 9ff. 53 Zur verfassungsgebenden Gewalt im allgemeinen siehe Stern, Staatsrecht I, § 5 I. S4 Diese unterscheidet sich von der Souveränität des Staates; siehe Geck, JZ 1980, S.73. 55 Nach Sachs, in: ders., GO, Art. 20 Rz. 29, zählen dazu im Verhältnis zum Bürger ..alle rechtsverbindlichen Entscheidungen der öffentlichen Gewalt (mit und ohne Außenwirkung)"; ähnlich BVerfGE 83, S. 60,73; siehe auch Böckenförde, in: Hdb. des Staatsrechts, § 22 Rz. 12f. 56 V gl. Sachs, in: ders., GG, Art. 20 Rz. 27 m. w. N.; ebenso BVerfGE 83, S. 60, 71. 57 Zwar fällt das Wort .. Volkssouveränität" in den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates nicht ausdrucklich, aber wie den Äußerungen des Abgeordneten Schmid in der 11. und

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festgelegten demokratischen Prinzips um demokratische Volkssouveränität. Dies ist eine Absage an die noch im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit vorherrschende Form der Volkssouveränität, nach der die Übertragung der Trägerschaft der Staatsgewalt durch das Volk auf den Monarchen sich nur fiktiv - nämlich nur zur Begründung des Machtanspruchs des Herrschers - beispielsweise als ein einmaliges, lange Zeit zurückliegendes Ereignis vollzogen hat, etwa in Form eines Herrschaftsvertrages. 58 Solchermaßen verstandene Volkssouveränität ließ es zu, daß der jeweilige Herrscher seine Herrschaftsgewalt nicht aus einem "konkreten Einsetzungsakt oder Wahlakt"59 bezieht. Dagegen verlangt demokratische Volkssouveränität, wie sie in Art. 20 Abs. 2 S. 1 in Verbindung mit Abs. 1 GG zum Ausdruck kommt, daß das Volk - immer wieder neu - konkret erfahren muß, daß von ihm die Staatsgewalt ausgeht. Das demokratische Prinzip wirkt also auf die Volkssouveränität dahingehend ein, daß das Volk die politische Herrschaftsgewalt auch aktuell innehaben und ausüben SOll.60 Art. 20 Abs. 2 S. 2, 1. Satzteil GG hat dieser Ausübung durch die Festlegung auf Wahlen und Abstimmungen Gestalt gegeben. III. Die Anforderungen an die demokratische Legitimation des Alt-Bundestages Nachdem Art. 20 GG als verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt der demokratischen Legitimation erfaßt und in seinen Grundzügen erörtert worden ist, wendet sich nun der Blick auf die demokratische Legitimation des Alt-Bundestages. Diese ist an den Anforderungen des Art. 20 GG und den entsprechenden "Ausführungsbestimmungen" zu messen. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, ob der Alt-Bundestag im Hinblick auf das grundgesetzlieh ausgestaltete Demokratieprinzip unter besonderer Berücksichtigung der Volkssouveränität und der im folgenden zu erörternden Repräsentation materiellrechtlich noch handlungsbefugt ist. In zweierlei Hinsicht könnte die materielle Zuständigkeit des Alt-Bundestages in Frage stehen. Zum einen könnte sich eine materielle Zuständigkeitsschranke aus der Tatsache ergeben, daß die Tätigkeit des Alt-Bundestages nicht mit einem Wahlakt des Volkes abschließt. Denn damit könnte seine Kontrolle durch das Volk eingeschränkt sein. Die Abgeordneten könnten zu willkürlichen Handlungen neigen. In diesem Zusammenhang muß besonders der Maßstab für das Vorliegen der grundgesetzlich geforderten Volkssouveränität beleuchtet werden. Zum anderen könnte die Wahl zum neuen 20. Sitzung des Grundsatzausschusses entnommen werden kann, sollte in der Fonnulierung, daß die Staatsgewalt vom Volke ausgeht, zum Ausdruck kommen, daß "die letzte irdische Quelle der Gewalt im Staate das konkrete lebende Volk, die Summe der jeweils lebenden einzelnen Deutschen" sei; siehe Matz, in: v. Doemming/FüssleinjMatz, JöR 1 (1951), S. 196, 198f. 58 Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 11 Rz. 34ff. 59 Herzog, in: MaunzJDürig, GG, Art. 2011 Rz.35. 60 Vgl. Herzog, in: MaunzJDürig, GG, Art. 20 11 Rz.36; Böckenförde, in: Hdb. des Staatsrechts, § 22 Rz. 8.

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Bundestag mit dem darin zum Vorschein kommenden Volkswillen einen Repräsentationsverlust bzw. eine verminderte Repräsentationsfähigkeit des Alt-Bundestages hervorrufen. Für den Alt-Bundestag könnte sich aufgrund der beiden genannten Gesichtspunkte keine oder nur eine eingeschränkte Zuständigkeit ergeben. Im folgenden wird zunächst der Frage nachgegangen, ob der Alt-Bundestag trotz der Wahl des neuen Bundestages das Volk repräsentieren kann. Zu diesem Zweck muß untersucht werden, was unter der Repräsentation des Volkes durch das Parlament nach dem Grundgesetz zu verstehen ist und weIche Regelungen es für das Zustandekommen der Repräsentation enthält.

1. Die demokratische Repräsentation a) Die Bedeutung der Repräsentation Durch die Formulierung des Art. 20 Abs. 2 S. 2, 2. Satzteil GG, daß die Staatsgewalt durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt wird, bekennt sich das Grundgesetz nicht nur zum Grundsatz der Gewaltenteilung,61 sondern auch zum Grundsatz der mittelbaren Demokratie. Art. 20 Abs. 2 GG trennt damit die Trägerschaft und mittelbare Ausübung der Staatsgewalt, die nach S. 1 beim Volk liegt, von der unmittelbaren Ausübung, die nach Satz 2 GG den besonderen Organen zusteht. Das Volk übt also stets die Staatsgewalt aus, außer bei Wahlen und Abstimmungen jedoch vermittels der Organe. 62 Damit wird nicht nur ein Gefüge von "Organschaften", sondern auch von Ämtern geschaffen. Der demokratische Staat ist nicht ein Gebilde vom Volk eingesetzter Einzelpersonen, sondern es handelt sich um die Einrichtung verfassungsrechtlich (und gesetzlich) festgelegter Ämter, die mit vom Volk berufenen Personen besetzt werden, weIche an das Interesse des Staates gebunden sind und sich nicht an ihrem Eigeninteresse ausrichten sollen. 63 Mit der Übertragung der Ausübung der Staatsgewalt auf Organe wird vom Grundgesetz anerkannt, daß Menschen über Menschen herrschen. Das Grundgesetz läßt daher eine identitäre Demokratie nicht zu, wie auch Hesse 64 hervorhebt: "Der Versuch, Identität von Herrschern und Beherrsch61 Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 I Rz.lO, 39.

62 Wenn unmittelbar die "besonderen Organe" tätig werden, übt das Volk die Staatsgewalt also nur mittelbar aus; so Sachs, in: ders., GG, Art. 28 Rz. 19, u. a. mit Verweis auf Böckenjörde, in: Hdb. des Staatsrechts, §22 Rz.ll; Vgl. auch Schmidt-Jortzig, APuZ B 38n9, S.10. Dagegen gehen Hesse, VVDStRL 17 (1959), S.l1, 20, und Kriele, VVDStRL 29 (1971), S.46, 60, davon aus, daß außerhalb der Wahlen nicht das Volk, sondern die Organe die Staatsgewalt ausüben. Aus diesen wohl eher sprachlichen Unterschieden ziehen beide aber keine anderen rechtlichen Folgerungen als die Vertreter der Ansicht, daß das Volk jederzeit die Herrschaft ausübe. Allerdings kommt in der Aussage, daß das Volk zwischen den Wahlen die Staatsgewalt noch mittelbar ausübt, klarer zum Ausdruck, daß es der alleinige Souverän ist und weiterhin Einfluß auf den staatlichen Willensbildungsprozeß hat. 63 V gl. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 255, 264; Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 102. 64 Hesse, Grundzüge, Rz.131.

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ten 6S ohne Vermittlung in die Wirklichkeit umzusetzen,66 kann nicht gelingen". Nicht eine identitär-unmittelbare,67 sondern nur eine mittelbare Demokratie ist daher nach Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG möglich, wobei Elemente einer unmittelbaren Demokratie wie Volksentscheide durchaus zulässig und, wie Art. 29, 118 und 118 a GG zeigen, auch im Grundgesetz aufgenommen worden sind. Trotz dieser plebiszitären Regelungen und obwohl Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG den Eindruck erweckt, mittelbare und unmittelbare Demokratie seien gleichermaßen Bestandteil der Demokratie des Grundgesetzes, zeigt das Gesamtgefüge des Grundgesetzes mit seinem geringen Anteil von plebiszitären Bestimmungen, daß vor allem die "besonderen Organe" die Staatsgewalt ausüben sollen, das Grundgesetz also der mittelbaren Demokratie den Vorzug vor der unmittelbaren gibt. 68 Während der Grundsatz der mittelbaren Demokratie nur die Einrichtung von Staatsorganen - wie sie in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG genannt sind - zum Inhalt hat, ohne daß eine Aussage zur Bindungswirkung des Volkswillens getroffen wird und insofern auch eine Rätedemokratie mit einer "festen Bindung" der Volksvertreter an den Volks willen zuläßt, zeichnet sich die repräsentative Demokratie durch eine Absage an eine Bindungswirkung des" wirklichen" bzw. "empirischen" Volkswillens aus. 69 Zu der Frage der Bindungswirkung und damit zu der Beziehung des Volkes zu den Staatsorganen bzw. ihren Organwaltern äußert sich im Grundgesetz Art. 38 Abs. 1 S.2 GG, wonach die Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen sind. Hervorhebung im Original. Hesse nimmt hier Bezug auf C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, S. 30ff.; ders., Verfassungslehre, S. 234 ff. C. Schmitt bezeichnet die Demokratie als "Identität von Herrscher und Beherrschten, Regierenden und Regierten, Befehlenden und Gehorchenden". Diese Definition ergibt sich nach C. Schmitt aus der "substanziellen Gleichheit" aller Bürger. Die Macht und Autorität der Regierenden dürfe nicht auf ,,irgendwelchen höheren, dem Volke unzugänglichen Qualitäten beruhen, sondern nur auf dem Willen, dem Auftrag und dem Vertrauen derer, die beherrscht oder regiert werden und die sich auf solche Weise in Wahrheit selbst regieren". Vg1. dazu auch die Auslegung dieser - vielfach kritisierten - Definition der Demokratie von C. Schmitt durch Böckenförde, in: Hdb. des Staatsrechts, § 22 RZ.49. Für Böckenförde kommt in der von C. Schmitt geäußerten Einheit von Herrschern und Beherrschten allein zum Ausdruck, daß es keine "qualitative" Verschiedenheit von Regierenden und Regierten gibt, sondern daß auf Grund demokratischer politischer Gleichberechtigung aller Bürger ein Regierender wieder zum Regierten werden und statt seiner jemand anderes regieren kann. 67 Zur Kritik des identitär-demokratischen Demokratieprinzips siehe Böckenförde, Mittelbare/repräsentative Demokratie als eigentliche Form der Demokratie, S.301, 306ff. 68 Nach Stern, Staatsrecht I, § 18115 am. w.N., sind Volksbegehren und Volksentscheide auf Bundesebene über die aufgezählten Fälle hinaus nur nach Verfassungsänderung zulässig; a. A. Bleckmann, JZ 1978, S. 217 ff; ausführlich zum Ganzen Bugiel, Volkswille und repräsentative Entscheidung. Die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat sprach sich in ihrem Bericht v. 5. November 1993, BT-Drs. 12/6000, S. 83 ff., gegen eine Erweiterung der unmittelbaren Demokratie im Grundgesetz aus. 69 Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 11 Rz.62; HaverlaJte, Verfassungslehre, S.355. 6S

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Aufbauend auf den in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG festgelegten staats organisatorischen Grundstrukturen macht also Art. 38 Abs. 1 S.2 GG mit der Bestimmung, der Abgeordnete sei nicht an Aufträge und Weisungen und damit nicht an einen fremden Willen gebunden, deutlich, daß das Grundgesetz von der repräsentativen Variante der mittelbaren Demokratie ausgeht, worauf im folgenden genauer einzugehen ist. 70 Hinsichtlich dieser repräsentativen Art der Demokratie kommt es für das Thema der vorliegenden Arbeit nur auf das Verhältnis des Volkes zu den von ihm gewählten Volksvertretern an. Ob sich darüber hinaus die Repräsentation auch auf andere Organe und ihre Organwalter bezieht, braucht daher nicht erörtert zu werden. 71 Die Vertretung des ganzen Volkes bedeutet nicht die Vertretung im Sinne des Privatrechts, die von einer individuellen Vollmacht für ein privates Rechtsgeschäft ausgeht,72 sondern hier findet allein die Repräsentation ihren Ausdruck. Dabei bezeichnet die Aussage, das Parlament "repräsentiere" das Volk, sei die "Volksvertretung", lediglich "einen politischen und nicht einen rechtlichen Sachverhalt"; 73 allerdings müssen für das Zustandekommen der Repräsentation gewisse, noch zu betrachtende grundgesetzlich vorgeschriebene Voraussetzungen vorliegen. Die Abgeordneten, die auftragsfrei, weisungsungebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen sind, handeln anstelle des Volkes. Der Bundestag ist selbständiges Organ. Beim Handeln des Parlaments besteht insofern kein Rechtsverhältnis zwischen dem Volk und dem Parlament, als daß der Bundestag nur den Staat, die Bundesrepublik Deutschland, rechtlich verpflichten kann,74 nicht dagegen das Volk. 75 Aber trotzdem ist das Ver70 Die Frage, ob erst Art. 38 Abs. 1 S.2 GG sich auf die repräsentative Demokratie festlegt oder dies bereits in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG zum Ausdruck kommt, wird in dieser Arbeit nicht erörtert, da es bei dieser Frage im wesentlichen darum geht, ob das repräsentative Prinzip der Unantastbarkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG, die lediglich Art. 20 GG, aber nicht Art. 38 GG erwähnt, unterfällt. Zum Meinungsstreit: Achterberg, Das rahmengebundene Mandat, S. 19, der allein in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG das repräsentative Prinzip verwirklicht sieht und daher das freie Mandat nicht an der Unabänderlichkeitsbestimmung des Art. 79 Abs. 3 GG teilhaben läßt; ebenso Meyn, Kontrolle, S.234, der sich u. a. auf Morstein Marx, AöR n.F.ll (1926), S.430, 442ff., beruft; a. A. dagegen etwa Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 II Rz. 63, der zwar repräsentative und mittelbare Demokratie unterscheidet, aber trotzdem in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG die repräsentative Demokratie verankert sieht. 71 Ob etwa auch die Regierung, der Bundespräsident usw. Repräsentanten des Volkes sind, wird unterschiedlich beurteilt. Für deren repräsentative Stellung spricht sich etwa Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 216f., 296, aus; ihm wohl zustimmend Stern, Staatsrecht I, §22II5 a; a. A. Meyn, Kontrolle, S. 236. Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 38 Rz. 5, hält den Bundestag für den einzigen Repräsentanten des Bundesvolkes, während der Bundesrat seiner Ansicht nach nur das Volk der Länder repräsentiert; vgl. auch Kriele, Einführung in die Staatslehre, S.241, der zwischen Repräsentation im engeren und weiteren Sinne unterscheidet. 72 V gl. Stern, Staatsrecht I, § 22 II 5 a; Schröder, Grundlagen, S. 234 ff. 73 Badura, in: Bonner Komm. (Zweitbearbeitung), GG, Art. 38 Rz. 23; siehe auch H.-P. Schneider, Repräsentation und Partizipation des Volkes als Problem demokratischer Legitimität, S. 245; ders., in: AK-GG, vor Art. 38 Rz. 1. 74 Vgl. H.-P. Schneider, in: AK-GG, Art. 38 Rz. 6; Magiera, in: Sachs, GG, Art. 38 Rz.9. 15 Da weder das Verhalten des Bundestages noch das der einzelnen Abgeordneten dem Volk selbst rechtlich zugeordnet wird, ist auch nicht vom Begriff der Vertretung, wie es aber H. Mey-

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hältnis des Bundestages zum Volk nicht beziehungslos. "Der Wille des Parlaments ist rechtlich dem Staat und nur ideologisch dem Volk zuzurechnen; denn das Parlament ist staatsrechtlich Organ des Staates, nicht Organ der staatsbürgerlichen Gesellschaft; das gleiche gilt für den Abgeordneten".76 Wenn auch sowohl Art. 20 Abs.2 S. 2 GG als auch Art. 38 Abs. 1 S.2 GG nicht den Begriff der Repräsentation nennen, wird der Begriff der Vertretung doch stets im Sinne der Repräsentation ausgelegt und erörtert. 77 Der Gehalt der Repräsentation läßt sich allein aus den grundgesetzlichen Vorschriften heraus nicht erfassen. In dem Begriff Repräsentation schwingt eine ideengeschichtliche Bedeutung mit, die es vor allem zum Verständnis des Art. 38 Abs. 1 S.2 GG zu ergründen gilt. Es darf allerdings wegen der grundgesetzlichen Ausgestaltung nicht von "apriorischen Begriffsgehalten"78 bei der Erschließung der demokratischen Repräsentation ausgegangen werden. Für das Verständnis der Repräsentation bringt eine Betrachtung der Herkunft des Begriffs noch keine weiterführenden Erkenntnisse hervor. Zwar leitet sich der Begriff der Repräsentation 79 von dem lateinischen Substantiv "repraesentatio" bzw. dem Verb "repraesentare" ab. Beide Begriffe lassen sich jedoch mit unterschiedlichen Bedeutungen übersetzen. Bereits die Vorsilbe "re" bietet Anlaß zur Interpretation. Ihr Sinngehalt kann zeitlich verstanden werden: "jetzt sogleich und nicht erst später irgendwann", aber ebenso räumlich: "hier Greifbares, Anwesenheit, Gegenwart" als Gegensatz zur Abwesenheit. 80 Für die Wörter repraesentare und repraesentatio findet sich als gemeinsame Bedeutung "Vergegenwärtigen, Wieder-Vergegenwärtigung oder Darstellung".8! Da es jedoch letztlich keinen gemeinsamen Begriffsinhalt für die beiden Ausdrücke im römischen Recht gab und sie auch nicht allein im rechtlichen Sinne verwandt wurden,82 läßt sich aus dieser Herkunft des Begriffs Repräsentation für seine heutige staatsrechtliche Bedeutung praktisch nichts gewinnen. er, in: Schneider/Zeh, §4 Rz. 9, tut, sondern vom Begriff der Repräsentation auszugehen. Denn bei der Vertretung im privatrechtlichen Sinne wird das Verhalten des Vertreters dem Vertretenen auch rechtlich zugerechnet. Zur Kritik an H. Meyers Ansicht siehe Demmler, Der Abgeordnete, S. 80f. 76 Badura, in: Bonner Komm. (Zweitbearbeitung), GG, Art. 38 RZ.33. 77 Vgl. dazu Magiera, in: Sachs, GG, Art. 38 Rz.5; Morlok, in: Dreier, GG, Art. 38 Rz.29, 122; Demmler, Der Abgeordnete, S. 72; v. Münch, in: ders./Kunig, GG, Art. 38 Rz.66; Pieroth, in: J arass./pieroth, GG, Art. 38 Rz. 24; Drath, Die Entwicklung der Volksrepräsentation, S. 261. 78 Schmidt-Jortzig, APuZ B 38(79, S. 8. 79 Zum folgenden Hofmann, Repräsentation, S. 38 ff; Rausch, Repräsentation und Repräsentativverfassung, S.103ff. 80 Hofmann, Repräsentation, S.45. 81 Hofmann, Repräsentation, S. 39. 82 Siehe die von Hofmann, Repräsentation, S. 38 Fn. 3, zitierten Übersetzungsmöglichkeiten der lateinischen Begriffe nach Georges, Ausührliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Sp.2082; vgl. auch die von Rausch, Repräsentation und Repräsentativverfassung, S. 118, in sieben Bedeutungsgruppen zusammengefaßten Verwendungen der beiden Begriffe im klassischen Latein der Antike; diese greift auch Kimme, Das Repräsentativsystem, S. 27 ff., auf.

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Zur heutigen Auslegung des Begriffs Repräsentation führen Hofmann und Dreier treffend aus, daß Repräsentation staatsrechtlich das Problem bezeichnet, "größere menschliche Verbände als Einheiten zu erleben, zu organisieren und zu begreifen."83 Die Repräsentation tritt also dann auf den Plan, wenn eine politische Gemeinschaft so viele Mitglieder hat, daß nicht mehr alle alles entscheiden können. Sie ist ein Bekenntnis dazu, daß es leitende und selbsthandelnde Organe für ein staatlich-politisches Gemeinwesen zu seiner Überlebensfähigkeit geben muß. 84 Repräsentation als staatsrechtlicher Begriff ist nicht an eine bestimmte Staatsform gebunden. Vor dem Aufkommen der klassischen Demokratie westlicher Prägung wurde der Monarch in der absoluten Monarchie als Repräsentant der Nation angesehen. Damit war der Repräsentant mit dem Souveränitätssubjekt identisch. 85 Dagegen ist in der repräsentativen Demokratie der Souverän, das Volk, von den Repräsentanten zu unterscheiden. Diese Art der Repräsentation wirft jedoch Fragen hinsichtlich ihrer Verwirklichung auf. Es kann nämlich nur eine politische Einheit repräsentiert werden. 86 Für die Beantwortung der Frage, wie die Vielfalt der Interessen bzw. die Gesamtheit der Einzelwillen zu einem einheitlichen Gemeinschaftswillen zusammengeschlossen werden kann, gibt es verschiedene Lösungsansätze. Die Theorien zur Einheit des Volkes, der Nation oder des Staates unterscheiden sich vor allem darin, ob sie die Einheit als etwas bereits Bestehendes ansehen, was nur noch entdeckt und deutlich gemacht werden muß, oder ob sie das Erzeugen von Einheit als einen fortwährenden Prozeß, in dem verschiedene miteinander wettstreitende Kräfte wirken, begreifen. 87 Dabei kann hier auf die Geschichte der Repräsentationsidee 88 in der Neuzeit nicht umfassend eingegangen, sondern es sollen neuere Entwicklungen von der Zeit der Weimarer Republik an kurz dargestellt werden. 89 aa) Die idealistischen Vorstellungen von Repräsentation

Hervorstechend war zunächst einmal die idealistische Vorstellung von C. Schmitt90 , der wiederum von M. Weber beeinflußt war. 91 C. Schmitt vertrat folgende Hofmann/Dreier, in: Schneider/Zeh, §5 Rz.l. Vgl. Böckenförde, in: Hdb. des Staatsrechts, § 30 Rz. 12. 85 Siehe Stern, Staatsrecht I, § 22115 a; vgl. auch Hofmann, Repräsentation, S. 392f. 86 Vgl. Kaiser, Art. "Repräsentation", Sp. 867. 87 Hofmann/Dreier, in: Schneider/Zeh, § 5 Rz.8. 88 Ausführlich dazu Hofmann, Repräsentation. 89 Siehe dazu Badura, in: Bonner Komm. (Zweitbearbeitung), GG, Art. 38 Rz. 23 ff.; Hofmann/Dreier, in: Schneider/Zeh, § 5 Rz. IOff.; Meyn, Kontrolle, S. 123ff.; Stern, Staatsrecht I, § 22115 a. 90 Hinweise zur Literatur über die Lehre C. Schmitts finden sich bei Kimme, Das Repräsentativsystem, S. 89 Fn. 61; zu der von Kimme genannten Literatur gehören Leibholz, Repräsentation, S.32, 39, 4lf., 46f. 62, 66f., 69, 73, 76, 79f., 91, 94, 103, 107, 119, 129, 139, 141, 147f., 151, 164, 169, 176, 178, 194, 197ff.; P. Schneider, Ausnahmezustand und Norm, S.74 83

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Ansicht: "Repräsentation ist kein nonnativer Vorgang, kein Verfahren und keine Prozedur, sondern etwas Existenzielles". 92 Für C. Schmitt ist Repräsentation etwas überempirisches, das unabhängig ist vom einzelnen Bürger und von Interessen. Eine "kraftvolle Repräsentation" läßt sich seines Erachtens nur "gegen das Parlament" verwirklichen, da das Parlament in der "heutigen"93 Demokratie zur Repräsentation gar nicht fähig sei. 94 Letztlich geht es e. Schmitt um eine Kritik an der von den Parteien beherrschten Demokratie. 95 Daher trennt er die Repräsentation vom natürlichen Volk. Es könne nur die politische Einheit des Volkes, nicht das Volk in seinem natürlichen Vorhandensein repräsentiert werden. 96 In der Demokratie brächten zwar Wahlen die Abgeordneten und das Parlament hervor, doch fehlte diesen Abgeordneten wegen der Existenz der Parteien die Fähigkeit zur Repräsentation. Die Abgeordneten seien nämlich nicht unabhängig, wie noch zu Zeiten des Liberalismus des 19. Jahrhunderts, als die Gewählten aristokratisch-elitäre Honoratioren gewesen seien, sondern sie seien von den Parteiorganisationen beherrscht und "abhängige und untergeordnete Angestellte der Wähler".97 Die Abgeordneten sind damit seiner Ansicht nach Bestandteile der unmittelbaren Demokratie. Es sei sehr ungenau, die repräsentative Demokratie als eine Unterart der Demokratie zu behandeln. Das Repräsentative enthalte nämlich gerade das Nichtdemokratische an der repräsentativen Demokratie. 98 An die repräsentationstheoretischen Thesen von C. Schmitt knüpft Leibholz an.

e. Schmitt erklärt: "Repräsentieren heißt, ein unsichtbares Sein durch ein öffentlich

anwesendes Sein sichtbar machen und vergegenwärtigen". 99 Dem sich anschließend stellt Leibholz die These auf: ,,zum Wesen der Repräsentation gehört, daß etwas, was nicht präsent ist, gegenwärtig gemacht wird. Ihre spezifisch dialektische Funktion besteht darin, daß etwas zugleich als abwesend und doch gegenwärtig vorgestellt wird." 1Il0 Das, was repräsentiert wird, muß noch einmal in der Wirklichkeit geschaffen werden. Diese "Duplizität der personellen Existenz" ist für Leibholz Ausdruck der Repräsentation als Gegenbegriff zur Identität, die die Einheit und nicht die bis 86; Hofmann, Repräsentation, S.15, 17f., 21ff, 37, 100f., 114, 119, 187,306,324,388, 414f., 436,446 und 456.; Mantl, Repräsentation und Identität, S.121 bis 149; C. Müller, Das imperative und freie Mandat, S.41 ff. 91 Vor allem von M. Webers Werk Wirtschaft und Gesellschaft, dort: Erster Halbband, Erster Teil, Kapitel III §§ 21,22; Zum Verhältnis von M. Webers und C. Schmitts Lehre siehe C. Müller, Das imperative und freie Mandat, S.41 ff. 92 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 209 (Hervorhebung im Original). 93 Damit meint C. Schmitt die "unmittelbare" Demokratie, wie sie seines Erachtens in der seinerzeitigen Weimarer Republik bestand; siehe ders., Verfassungslehre, S. 219, 318 ff. 94 Siehe C. Schmitt, Verfassungslehre, S.314f. 95 Vgl. C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. 96 Siehe C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 212. 97 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 219. 98 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 218. 99 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 209. 100 Leibholz, Art. ,,Repräsentation", Sp. 2986. 8 Kochsiek

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Zweiheit beinhaltet. 101 Repräsentation stellt für ihn einen geisteswissenschaftlichen Wesensbegriff dar, da nur ideelle Werte, aber nicht wirtschaftliche Interessen repräsentationsfahig seien. Daher könne "das Volk nur als politisch ideelle Einheit" repräsentiert werden. 102 Leibholz schließt sich der Kritik von C. Schmitt an dem Repräsentationscharakter der Parlamente an und betrachtete sie wegen des Einflusses der Parteien als "plebiszitäre Hilfsorganisationen" . 103 Der Abgeordnete sei nicht mehr Repräsentant, sondern "Exponent der politischen Partei". 104 Im Honoratiorenparlament des politischen Liberalismus dagegen habe der Abgeordnete noch die Qualitäten eines "Herren" besessen, der in seiner Entscheidung frei gewesen sei. lOS Die Lehre von Leibholz stand zwar im engen Zusammenhang mit anderen Repräsentationstheorien der Weimarer Zeit, wie vor allem der von Smend 106 und c. Schmitt, allerdings zog sie nicht die parlamentsfeindlichen Folgerungen,107 wie dies in C. Schmitts Lehre der Fall ist. 108 Leibholz setzte sich dementsprechend während der Weimarer Republik auch nicht für einen "Ausbau der antiparteienstaatlichen Kräfte" ein, zu denen er auch den Reichspräsidenten zählte, sondern er machte sich für eine Demokratisierung der Parteien stark. 109 Seine wertbezogene Repräsentationstheorie findet sich im übrigen auch in seinen verfassungstheoretischen Äußerungen unter dem Grundgesetz wieder. llO Die Theorien von C. Schmitt und Leibholz stellen sich in Teilen als "politischer Romantizismus"lll dar, da sie ein falsches Bild von den Verhältnissen im Parlament und der Stellung der Abgeordneten im Liberalismus, wie er im 19. Jahrhundert herrschte, geben. Gerade die von ihnen behauptete völlige Unabhängigkeit der Abgeordneten entsprach nicht der Wirklichkeit und hätte andernfalls wohl zu einer eingeschränkten Handlungsfahigkeit des Parlaments geführt, da auch schon damals zur Mehrheitsbildung "Fraktionsdisziplin" erforderlich war. ll2 Mag Leibholz die Be101 Siehe Leibholz, Art. ,,Repräsentation", Sp. 2986.

Vgl. Leibholz, Repräsentation, S. 32,46. Leibholz, Die Auflösung der liberalen Demokratie, S. 52. 104 Leibholz, Die Grundlagen des modemen Wahlrechts, S.29, nimmt mit dieser Wendung auf den damaligen preußischen Kultusminister Grimme Bezug. 105 Siehe Leibholz, Repräsentation, S. 73. 106 Leibholz, Repräsentation, S. 44 ff., insb. S. 46, bezieht sich ausdrücklich auf das 1928 erschienene Werk von Smerui "Verfassung und Verfassungsrecht" . 107 Siehe Leibholz, Repräsentation, S. 121 ff. 108 Vgl. diesbezüglich Wiegaruit, Norm und Wirklichkeit, S.166, mit Verweis auf Mantl, Repräsentation und Identität, S.152. 109 Siehe Leibholz, Die Grundlagen des modemen Wahlrechts, S. 34 ff. Siehe dazu Bullinger, PVS 2 (1961), S. 88 f. llO Wie sich bereits in der inhaltlich unveränderten, jedoch erweiterten Herausgabe des 1928 erschienen Werkes "Die Repräsentation in der Demokratie" in 2. (1960) und 3. Aufl. (1966) zeigt. III Wiegaruit, Norm und Wirklichkeit, S.153, mit Verweis aufC. Müller, Das imperative und freie Mandat, S. 21. 112 Siehe dazu Wiegandt, Norm und Wirklichkeit, S.152f.; C. Müller, Das imperative und freie Mandat, S.37. 102

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deutung des Repräsentationsprinzips für die "Entscheidungsfunktion" des Staates erkannt haben,1I3 so kann jedenfalls seine Vorstellung von der Identität oder auch "Identifizierung"114 des Parteienmehrheitswillens und des Volkswillens und seine Ansicht von der Rolle des Parlaments mit dem Grundgesetz nicht in Einklang gebracht werden." 5 Denn die Lehre von Leibholz - wie schon zuvor die von c. Schmitt - ist geprägt von politisch-soziologischen Schlußfolgerungen theoretischer Art und stellt nicht eine ausschließlich verfassungsrechtlich ausgerichtete Betrachtung der parlamentarischen Repräsentation in der parteienstaatlichen Demokratie dar. 116 Seine staatstheoretische Vorstellung von Repräsentation als etwas ideellem und die daraus gezogenen Folgerungen etwa hinsichtlich der Funktion des Parlaments konnten demzufolge für die Weimarer Verfassung und können für das Grundgesetz keine brauchbare Grundlage für die Erfassung der Repräsentation sein. 117

bb) Repräsentation als dynamischer Prozeß In der vom Grundgesetz geprägten Staatsrechtslehre hat sich dagegen ein Repräsentationsbegriff" 8 entwickelt, der die Repräsentation und die darauf bezogene politische Einheitsbildung als einen Prozeß der Entscheidungsfindung und als einen demokratischen Organisationsvorgang begreift." 9 Maßgeblich für das Zustandekommen der Repräsentation ist der Volkswille, durch den die Einheit der pluralistischen Gesellschaft zum Vorschein kommt. Er muß organisiert, fonnuliert und arti113 Wiegandt, Nonn und Wirklichkeit, S. 159, ist der Ansicht, Leibholz habe diese Funktion erkannt; a. A. etwa Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.169, 186. 114 Vgl. dazu Wiegandt, Nonn und Wirklichkeit, S.168f., der im übrigen die Meinung vertritt, daß das Identitätsprinzip von Leibholz zwar nicht widerlegbar, aber auch kaum jemandem verständlich zu machen sei. 115 Vgl. Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S. 168, 185. Für Leibholz, DVBI. 1951, S. I, 4, ist der Parteienstaat "eine rationalisierte Erscheinungsfonn der plebiszitären Demoktratie oder, wenn man so will, ein Surrogat der direkten Demokratie im modemen Flächenstaat" (ähnlichders., Repräsentation, S.226). ,,Das Parlament wird zu einer Stätte, an der sich gebundene Parteibeauftragte treffen, um anderweitig, z. B. in Ausschüssen, Fraktionen oder Parteikonferenzen, bereits getroffene Entscheidungen registrieren zu lassen" (ders., Repräsentation, S. 226); Hennis, Die Rolle des Parlaments und die Parteiendemokratie, S. 88 Fn. 32 (abgedruckt S. 168), äußert über Leibholz' Thesen: "An Leibholz' Lehre stimmt so ziemlich nichts". 116 Vgl. Hofmann, Parlamentarische Repräsentation in der parteienstaatlichen Demokratie, S.249,254f. 117 Ähnlich Wiegandt, Nonn und Wirklichkeit, S.159f. 118 Zu den von Hofmann/Dreier als "realistisch" bezeichneten Repräsentationskonzepten von Hamilton, Madison, Jay, Sieyes, Kelsen und Krüger siehe HofmannJDreier, in: Schneider/ Zeh, § 5 Rz. 12ff.; vgl. auch Badura, in: Bonner Komm. (Zweitbearbeitung), GG, Art. 38 Rz.2ff.; Hofmann, Repräsentation, insb. S.16ff., 406ff. 119 Vgl. Böckenförde, in: Hdb. des Staatsrechts, §30 Rz. 9ff.

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kuliert werden. 120 Dieser Volks wille als Bezugspunkt demokratischer Repräsentation steht damit im Gegensatz zu einer ideellen, wertbezogenen und nur sichtbar zu machenden Einheit, wie sie C. Schmitt und Leibholz vorschwebt. Repräsentation stellt sich daher als das Ergebnis eines umfangreichen außerparlamentarischen und parlamentarischen Gestaltungsprozesses dar. Für das Zustandekommen von Repräsentation genügt also nicht ein einmaliger punktueller Akt, bei dem die Bürger durch Abgabe ihrer Wahlstimme ihren Willen äußern. Beim Wahlakt zum Bundestag decken sich zwar der Volkswille und der Staatswille; das Volk übt insofern die Staatsgewalt als Staatsorgan aus. 121 Aber auch zwischen den Wahlen gibt es Verschränkungen zwischen dem organschaftlichen Staatswillensbildungsprozeß und der gesellschaftlich-politischen Willens bildung. Das Volk wirkt dann aber nicht rechtlich verbindlich auf den Willensbildungsprozeß des Parlaments ein. Diese öffentliche Meinungsbildung bzw. die "Vorformung der politischen Willensbildung des Volkes"122 vollzieht sich außerhalb des Wahlaktes mittels der Wahrnehmung der meinungsbildenden und -beeinflußenden Kommunikationsrechte 123 durch die interessenvertretenden Verbände und besonders durch die Parteien. 124 Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG gibt den Parteien nämlich den Auftrag, an der politischen Willensbildung mitzuwirken. l2.5 Das Ziel der Repräsentation durch das Parlament ist die Vergegenwärtigung und Darstellung des Volkswillens. Für die dafür erforderliche "Einheitsbildung" sind nach der Konzeption des Grundgesetzes zunächst einmal die periodisch wiederkehrenden, den Bundestag formal legitimierenden Wahlen die Grundlage. In diese sollen alle im Volk bestehenden Interessen der Wahlbürger einfließen, was vor allem durch das allgemeine und freie Wahlrecht abgesichert wird. Dieser "Autorisationsund Legitimationszusammenhang"126 zwischen Repräsentierten und Repräsentanten stellt die sogenannte formale Repräsentation des Volkes durch das Parlament dar. Für eine demokratische Autorisation des Bundestages ist aber auch die sogenannte inhaltliche (materielle) Repräsentation l27 erforderlich, damit es zwischen Siehe HofmannlDreier, in: SchneiderIZeh, §5 RZ.16. BVerfGE 8, S. 104, 113. 122 BVerfGE 8, S.I04, 113; 20, S.56, 98. Dieser vielfach verwendete Begriff geht auf Scheuner, Zeitschrift für evangelische Ethik 1 (1957), S.30, 34ff. zurück, der von der "Vorformung des politischen Willens" spricht. 123 Dazu gehören die Meinungs- (einschließlich der Presse- und Informationsfreiheit), Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit; so Schnapp, in: v.Münch/Kunig, 00, Art. 20 Rz.15, 23; Böclrenförde, in: Hdb. des Staatsrechts, § 22 Rz. 37. Ausführlich zu diesen Rechten die Beiträge im Hdb. des Staatsrechts von Schmitt Glaeser, § 31, Schmidt-Jortzig, § 141, Bullinger, § 142, Kloepfer, § 143, und Merten, § 144. 124 Vgl. Hofmann/Dreier, in: SchneiderIZeh, § 5 RZ.19. 125 Zur Rolle der Parteien im staatlichen und nichtstaatlichen Bereich siehe Hesse, VVDStRL 17 (1959), S.ll ff.; BVerjGE 20, S.56, 101. 126 Böclrenförde, in: Hdb. des Staatsrechts, § 30 Rz. 18. 127 Im folgenden wird hier die von Böckenförde geprägte Begriffsbildung der formellen und inhaltlichen Repräsentation aufgegriffen. Damit wird seine Lehre nicht in allen Einzelheiten 120

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den Wahlakten nicht zu einer Verselbständigung des Parlaments und damit zu einem Auseinanderfallen von Parlaments- und Volks willen kommt. 128 Ohne die inhaltliche Repräsentation wäre die Akzeptanz der politischen Entscheidungen durch das Volk in Frage gestellt. Der inhaltlichen Repräsentation geht es darum, daß "der Volkswille aktualisiert wird und zur Darstellung kommt". 129 Die Volkssouveränität kann sich nur durch die ständige Kommunikation des Parlaments mit dem Volk verwirklichen. Der Kontakt zwischen dem Parlament und dem Volk soll nicht abbrechen, damit der Volkswille im Handeln des Bundestages stets aktuell hervortritt. Dieser Dialog, der vor allem durch die Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Parteienfreiheit sichergestellt wird,130 soll dem Wahlbürger auch zu einer eigenständigen Wahlentscheidung verhelfen. Daher gehört zur inhaltlichen Repräsentation auch, daß die Abgeordneten die getroffenen Entscheidungen gegenüber dem Volk erklären, begründen und rechtfertigen. i3l Unerläßliche Grundlage für die Aufrechterhaltung des Meinungsaustausches zwischen dem Volk und dem Parlament ist dabei, daß die Sitzungen des Bundestages im Blickfeld der Öffentlichkeit stattfinden. 132 Erst dieser dargestellte gesellschaftlich-politische Willensbildungsprozeß führt dazu, "daß die einzelnen und die Bürger insgesamt (das Volk) in diesem Handeln sich wiederfinden können, in ihren unterschiedlichen Auffassungen ebenso wie in dem, was sie gemeinsam für richtig halten und wollen". 133 und schon gar nicht als die einzig vertretbare übernommen, sondern sie steht stellvertretend für andere Konzeptionen, die die Repräsentation als Prozeß begreifen. Diese Arbeit hat sich nicht zum Ziel gesetzt, sämtliche aktuellen Repräsentationslehren darzustellen und zu bewerten. Die Repräsentationsdiskussion ist so umfangreich, daß eine systematische Darstellung nicht in einem für diese Arbeit vernünftigen Ausmaß geleistet werden kann. Daher sei hier nur darauf hingewiesen, daß die deutsche Repräsentationsdiskussion in jüngerer Zeit - neben Böckenförde - insbesondere folgende Autoren geprägt haben, deren Theorien Kimme, Das Repräsentativsystem, S.114ff., kurz erläutert: Voegelin, Die neue Wissenschaft der Politik, S.57ff.; Höttich, Demokratie als Herrschaftsordnung, S. 37ff.; Sobolewski, Politische Repräsentation im modemen Staat der bürgerlichen Demokratie, S. 419 ff.; ders., The voters political opinions and elections, S. 345 ff.; Rausch, Repräsentation und Repräsentativverfassung, S. 246ff.; Greifeid, Volksentscheid durch Parlamente, S. 24 ff. Böckenförde hat seine Repräsentationslehre vor allem in den folgenden drei Arbeiten wiedergegeben: Mittelbare/repräsentative Demokratie als eigentliche Fonn der Demokratie; Demokratie und Repräsentation; Demokratische Willensbildung und Repräsentation. Diese Werke decken sich inhaltlich weitestgehend, so daß im folgenden im wesentlichen auf den aktuellsten Beitrag, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: Hdb. des Staatsrechts, § 30, Bezug genommen wird. 128 So auch Magiera, in: Sachs, GG, Art. 38 Rz. 10. 129 Böckenförde, in: Hdb. des Staatsrechts, § 30 Rz. 18. 130 V gl. Magiera, in: Sachs, GG, Art. 38 Rz. 10, 26. 131 Diese "Nachbereitung" von Parlamentsbeschlüssen als Teil der inhaltlichen Repräsentation hat nach Demmler, Der Abgeordnete, S. 75 Fn.11, bereits Bagehot, The Englisch Constitution, S. 115 ff., in seinem Funktionenkatalog für das Parlament mit der infonning, expressive und teaching function bedacht; siehe dazu viertes Kapitel B IV. 132 V gl. Magiera, in: Sachs, GG, Art. 38 Rz.26. 133 Böckenförde, in: Hdb. des Staatsrechts, § 30 Rz. 18; vgl. auch die Ausführungen von Drath, Die Entwicklung der Volksrepräsentation, S. 295 f., auf die sich auch Böckenförde be-

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Fonnale und inhaltliche Repräsentation unterscheiden sich nicht nur dadurch, daß für das Zustandekommen der fonnalen Repräsentation ein den Bundestag rechtlich bindendes Verfahren in Fonn der Wahl besteht, die inhaltliche Repräsentation jedoch ohne ein solches auskommen muß, sondern auch durch den Personenkreis, der jeweils seinen Willen zum Ausdruck bringen darf. Bei der Wahl als formalem Legitimationsakt und erste Stufe für das Zustandekommen der Repräsentation kommt lediglich der Wählerwille zum Vorschein. Es handelt sich um den Willen der sogenannten Aktivbürgerschaft, 134 der die Wahlberechtigten i. S. v. Art. 116 GG i.V. m. §§ 12, 13 BWahlG angehören. Dagegen artikuliert sich auf der zweiten Stufe der Wille des gesamten Volkes. Da dieser Volks wille stets die Entscheidungen des Repräsentanten begleitet und damit ständig gegenwärtig ist, wird er im folgenden als der empirische Volkswille bezeichnet. Bei der Artikulation des empirischen Volkwillens, der rechtlich unverbindlich ist, kommen auch andere Stimmen als die der Wähler zu Wort. Es können während der Wahlperiode alle Bürger, vor allem die politisch interessierten und engagierten, am Dialog mit den Repräsentanten teilnehmen. 135 Nichtwahlberechtigte wie Minderjährige und Ausländer sind also - anders als bei der Wahl - nicht von der politischen Auseinandersetzung ausgeschlossen. Außerdem gelten nicht die für die Wahlen bestimmenden Grundsätze, wie etwa die Gleichheit der Wahl, sondern im Konzert der Interessen können die besser Organisierten ihre Stimme durchaus lauter erheben. Es gibt zahlreiche Artikulationsformen auf dieser Ebene wie etwa Petitionen, Demonstrationen, Versammlungen und Streiks. Der Bürger stützt sich dabei insbesondere auf die Parteien, Verbände und Bürgerinitiativen. Dieses Zustandekommen inhaltlicher Repräsentation unterliegt zwar keinem gesetzlich festgeschriebenen Verfahren, aber es wird durch grundgesetzliche Vorkehrungen, vor allem durch die Meinungs-, Presse-, Informations-, Versammlungs- und Vereinsfreiheit, ennöglicht. Repräsentation läßt sich also erst verwirklichen, wenn zur Wahl der fortwährende Kommmunikationsprozeß zwischen Bürgern und Volksvertretern hinzukommt. Erst dann tritt der empirische Volks wille in Erscheinung, der für die Entscheidungsfindung der Repräsentanten unerläßlich ist. Ferner gehört zur Repräsentation, daß jeder Repräsentant im Rahmen des Dialogs mit dem Volk den durch ihn erkannten empirischen Volkswillen beachten und mit dem Gemeinwohl in Einklang bringen muß. 136 Erst auf dieser Grundlage kann er eine Entscheidung fallen. Dabei ist es durchaus möglich, daß er sich gegen den empirischen Volkswillen entscheidet, weil er ihn nicht für gemeinwohlverträglich hält. 137 zieht. Nach Drath, Die Entwicklung der Volksrepräsentation, S.296, macht der Repräsentationsprozeß es möglich, daß sich die ,,Beherrschten" mit den "Herrschern" identifizieren. 134 Vgl. Sachs, in: ders., GG, Art. 20 Rz.28; Stern, Staatsrecht 11, §25113; BVerfGE 68, S.I, 88. Nach BVerfGE 83, S. 37, fallen darunter nur die deutschen Staatsangehörigen. m Zum folgenden siehe Kimme, Das Repräsentativsystem, S.140ff. 136 Die Herleitung der Gemeinwohlverpflichtung des Abgeordneten, die sich insbesondere aus seiner Innehabung eines staatlichen Amtes ergibt, wird noch ausführlich im fünften Kapitel AIII I b)aa) und bb)(6) erörtert.

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Es läßt sich daher feststellen, daß für das Zustandekommen der Repräsentation die Wahl als Legitimationsakt, die Kommunikation von Repräsentanten und Repräsentierten und die durch die Abgeordneten vorzunehmende Prüfung, ob sich die zu treffende Entscheidung mit dem Gemeinwohl verträgt, erforderlich ist. Die Repräsentation hat also die Wahl und Annahme des Mandats durch die Volksvertreter zur Voraussetzung, tritt jedoch erst durch die Handlung und Entscheidung der Repräsentanten zutage. 138 Dabei muß der empirische Volks wille unter Einbeziehung des Gemeinwohls 139 in den Prozeß der Entscheidungsfindung der Abgeordneten einfließen, damit das Parlament den hypothetischen Volks willen 140 in seinen Entscheidungen hervorbringt. Dieser hypothetische Volkswille, der nichts anderes als der Parlamentswille ist, ist das Ergebnis des Repräsentationsprozesses. Der Vorgang der Repräsentation des Volkes mündet also an seinem Ende in einen konkreten parlamentarischen Entscheidungsakt, durch den die Gewählten den hypothetischen Volkswillen erzeugen. ce) Repräsentation und politischer Grundkonsens

Die bis hierhin erfolgte Auseinandersetzung mit dem Begriff der Repräsentation betraf ihre verfahrensmäßige Seite und stellte im wesentlichen dar, wie der Repräsentationsprozeß nach der Konzeption des Grundgesetzes vonstatten gehen soll. Darüber hinaus werden im Rahmen der Repräsentationslehren auch immer wieder Verbindungen zu außerhalb des Repräsentationsprozesses liegenden Voraussetzungen für das Zustandekommen der Repräsentation hergestellt. So weist etwa Böcken137 Dieser empirische Volks wille hat keine klare und eindeutige Form, sondern ist das ,,komplexe, noch unausgetragene Gesamtbild von politischen Meinungen, Argumenten, Wünschen, Befürchtungen und Kritik aus dem Volke"; so Schmidt-Jortzig, APuZ B 38{79, S. 10; siehe dazu auch BVerfGE 8, S. 104, 113. 138 Vgl. Kimme, Das Repräsentativsystem, S.142. 139 Was das Gemeinwohl ist, muß jeder Abgeordnete für sich ergründen, denn der Gemeinwohlbegriff ist, wie es Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, S. 51,70, ausdrückt, offen. In diese Richtung weist auch Scheuner, Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, S. 379, 392 Fn.45: "Bei der Pluralität der Ansichten ist das Gemeinwohl im politischen Sinne kein rechtlicher Standard, sondern seine Bestimmung selbst politische Aktion"; zum Gemeinwohl als ein Begriff, dessen Inhalt nicht vorgegebenen und nicht allgemeingültig ist, siehe auch v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, S.5ff. 140 Stern, Staatsrecht 11, § 26, I I b; H. H. Klein, in: Hdb. des Staatsrechts, §40 Rz.I, sprechen zutreffend vom hypothetischen Volkswillen. Der Volkswille, den das Parlament repräsentiert, kann nur hypothetisch sein, sprich auf einer Vermutung beruhen, da es zur Feststellung eines auf das Gemeinwohl gerichteten Volkswillens keinen allgemeingültigen Maßstab gibt. Der hypothetische Volkswille ist also nicht so zu verstehen, daß er ein vorgegebenes und objektiv feststellbares Gesamtinteresse hervorbringt (so aber Fraenkel, Verfassungsstaat, S. 113) und nicht im Sinne eines Freibriefes für die Abgeordneten, sich nicht mehr um den wirklichen Willen des Volkes kümmern zu müssen. In dieser Weise faßt aber H. Meyer, in: SchneiderfZeh, §4 Rz. 9f., das Begriffspaar ,,hypothetischer Volkswille" auf und lehnt es daher ab; ähnlich auch Kielmansegg, "Die Quadratur des Zirkels", S. 9,35; vgl. auch Demmler, Der Abgeordnete, S. 72.

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förde l41 darauf hin, daß zum Zustandekommen der Repräsentation ein "übergreifendes normatives Moment" und eine "Orientierung an einem übergreifenden, mit dem natürlichen Willen und den natürlichen Interessen nicht identischen Bezugspunkt" gehört. Für ihn besteht demnach ein letztlich doch außerjuristisches 142 Verhältnis zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, aber er legt diesem nicht bereits an sich bestehende und außerhalb des Volkes liegende Werte zugrunde. Das, was "von den Bürgern als verbindend Gemeinsames der Ordnung ihres Zusammenlebens gewußt und empfunden wird", 143 stellt der Repräsentant dar und aktualisiert es. letztlich geht es Böckenförde darum zu ergründen, worin trotz des bestehenden Pluralismus der für die Repräsentation notwendige, zugrunde\iegende Grundkonsens besteht. Ob dieses im Repräsentanten zum Vorschein kommende verbindend Gemeinsame aller Staatsbürger nun auf dem "eigenen Selbst des Volkes" 144 oder dem ,,zutrauen" des Repräsentierten zum Repräsentanten 145 beruht oder nach Kimme doch in bestimmten Werten, wie beispielsweise denen des christlichen Abendlandes, 146 zu finden ist, darüber läßt sich trefflich streiten. Diese Frage der Bildung und des Bestehens des Grundkonsenses in der Demokratie, die eng mit der Frage der Legitimität des politischen Systems zusammenhängt, findet ihre Antwort, wenn überhaupt,147 im außerkonstitutionellen, staats theoretischen Bereich und soll daher nicht 141 Böckenförde, Mittelbare/repräsentative Demokratie als eigentliche Form der Demokratie, S. 320; ders., Demokratie und Repräsentation, S. 21 f.; ders., in: Hdb. des Staatsrechts, § 30 RZ.19ff. 142 Böckenförde, in: Hdb. des Staatsrechts, §30 Rz.21, nimmt Bezug auf Hegel, für den Repräsentation eine außerjuristische Beziehung zwischen Repräsentant und Repräsentiertem voraussetzt, die aus Zutrauen des Repräsentierten in den Repräsentanten entspringt; vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, §§ 309 Zusatz, 311 Anmerkung. 143 Böckenförde, in: Hdb. des Staatsrechts, § 30 Rz. 19. 144 Nach Böckenförde, in: Hdb. des Staatsrechts, § 30 Rz. 21, wird in der seiner Ansicht nach eher theoretisch geprägten deutschen Diskussion über den Repräsentationsbegriff dieser Bezugspunkt "im eigenen Selbst des Volkes" gesehen. Nach Meinung von Böckeförde vertraten vor allem C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 212, 210, Kaufmann, Zur Problematik des Volkswillens, S. 7 ff., und Landshut, Der politische Begriff der Repräsentation, S. 492 ff., in der deutschen Diskussion eine derartige Richtung. 145 Böckenförde , in: Hdb. des Staatsrechts, § 30 Rz. 21, bezieht dieses Zutrauen - ausgehend von Hegel- auf die eher empirisch orientierte amerikanische Diskussion, die vom Begriff der Responsivität bzw. responsiveness beherrscht wird und darunter "Bedürfnisorientierung und -sensibilität" versteht; insofern verweist er u. a. auf Eulau/WahlkeIBuchananlFerguson, The Arnerican Political Science Review 53 (1959), S. 742ff. und Eulau/Karps, Legislative Studies Quaterly 2 (1977), S.233ff. 146 Kimme, Das Repräsentativsystem, S. 148, meint, daß der Grundkonsens "vornehmlich auf dem Erbe und der Hypothek des Gedankengutes des christlichen Abendlandes, aus weichem die Demokratien westlicher Prägung hervorgegangen sind", beruhe. 147 Zu den ,,Letztbegrundungen" von StaatsbegrUndung und -stabilität siehejakobs, Zur Stabilität von Konsens und zur Stabilisierung durch Konsens, S.23, 39: "der freiheitlich, säkularisierte Staat, kann, da er sich auf die Aufklärung eingelassen hat, seine Identität und sein Ziel nicht mehr absolut garantieren". Seiner Ansicht nach kann es daher "um letzte Gründe oder Garantien nicht mehr gehen". Er bezieht sich dabei auf Hennis, PVS Sonderheft 7/1976, S.22:

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weiter erörtert werden. 148 Deswegen sei nur angemerkt, daß sich politische Grundübereinstimmung auch "nicht durch Repräsentation erzeugen, sondern eben nur darstellen" läßt. 149 Für die Frage nach der demokratischen Repräsentation des Volkes durch den Alt-Bundestag ist allein entscheidend, wie das grundgesetzliche "Repräsentativsystem"150 ausgestaltet ist. Alle darüber hinausgehenden staatstheoretischen Vorstellungen, die sich mit der dogmatischen Begründung von demokratischer Repräsentation auseinandersetzen, sind vom grundgesetzlichen Verfahren der Erzeugung von Repräsentation zu trennen und bedürfen daher keiner weiteren Erörterung. Das Zustandekommen der Repräsentation durch den Bundestag ist also im weiteren allein unter verfahrens mäßigen Gesichtspunkten von Interesse. Maßstab ist dafür das Grundgesetz. Zusammenfassend läßt sich daher die demokratische Repräsentation im Sinne des Grundgesetzes mit Hofmann und Dreier verstehen als "die in einem rechtlich gesicherten Umfeld freier, also auch vielfältig organisierter politischer Kommunikation durch Wahlen nach demokratischen Grundsätzen begründete und ständig erneuerte Beziehung der Autorisierung und Anerkennung sowie der Kontrolle und Kritik zwischen dem durch die Wahlberechtigten verkörperten Staatsvolk und der aus den gewählten Abgeordneten als Grundlage und Zentrum des Regierungssystems gebildeten Volksvertretung". 151 b) Die Voraussetzungen für die Verwirklichung der Repräsentation des Volkes im Bundestag Die Repräsentation als dynamischer Prozeß läßt sich jedoch nur verwirklichen, wenn das Grundgesetz die dafür erforderlichen Voraussetzungen auch tatsächlich geschaffen hat. Denn der Bundestag, also die Gesamtheit der Abgeordneten, ist zur demokratischen Repräsentation nur fähig, wenn die Abgeordneten, die durch ihre Tätigkeit als Organwalter die Zuständigkeiten des Bundestages wahrnehmen, 152 auch wirklich als Repräsentanten des Volkes ihre Aufgaben ausüben können. Im folgenden gilt es daher zu klären, durch welche verfassungsrechtlichen Ausgestaltungen es den Abgeordneten ermöglicht wird, Repräsentanten des Volkes zu sein. Für die Untersuchung ist vor allem die Rechtsstellung des Abgeordneten von Bedeu"Es ist geradezu das Signum der legitimen Herrschaft der Neuzeit, daß sie sich ... nur auf "vorletzte Grunde" bezieht -legale Verfahren, bestimmte Herrschaftsmodi, ,Rechte' ". 148 Zur geschichtlichen Entwicklung des Konsensprinzips siehe Hattenhauer, Zur Geschichte von Konsens- und Mehrheitsprinzip, S. 1 ff. 149 Kimme, Das Repräsentativsystem, S. 147. ISO Der Begriff findet sich bei Kimme, Das Repräsentativsystem, S. 140, der auch die Wendung regulatives System verwendet. 151 Hofmann/Dreier, in: Schneider/Zeh, § 5 Rz.23; siehe auch Magiera, in: Sachs, GO, Art. 38 Rz.6; Badura, in: Hdb. des Staatsrechs, § 23 Rz.31. 152 Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S. 70f.; Bugiel, Volkswille und repräsentative Entscheidung, S.385.

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tung. 153 Diese Rechtsstellung des Abgeordneten wird besonders durch Art. 38 Abs. 1 S.2 GG, in dem der Verfassungsgeber das sogenannte freie Mandat verankert hat, und der damit in Beziehung stehenden Innehabung eines Amtes geprägt.

aa) Der Abgeordnete als Amtsinhaber und seine Gemeinwohlverpflichtung Der Abgeordnete ist nicht nur Mandatsträger, sondern auch Amtsinhaber. 154 Dafür spricht vor allem Art. 48 Abs. 2 S. 1 GG, in dem das Grundgesetz die Formulierung "das Amt eines Abgeordneten" verwendet. Das Amt des Abgeordneten ist die Mitgliedschaft im Bundestag. 155 Es wird als staatliches bzw. öffentliches Amt besonderer Art bezeichnet. 156 Die gegen den Amtscharakter des Abgeordnetenmandats vorgebrachte Begründung, daß ein Abgeordneter kein Beamter sei, weil er keine Weisungen erteilen könne,157 ist abzulehnen. Die Befürworter der Amtsträgerschaft des Abgeordneten heben zu Recht hervor, daß sich der Begriff des Amtes keinesfalls immer auf den Beamten beziehe. Abmeier weist darauf hin, daß auch vom Amt des Bundeskanzlers gesprochen werde, "obwohl, mit der Richtlinienkompetenz versehen, seine Andersartigkeit zum Amt eines Beamten ins Auge springt". 158 Außerdem spricht für den Amtscharakter, daß der Abgeordnete und das Parlament 153 Die Rechtsstellung des Abgeordneten wird häufig auch unter dem Begriff der Amtsträgerrechte oder Amtswalterrechte erörtert; vgl. etwaH.H. Klein, in: Hdb. des Staatsrechts, §41 Rz. 30 ff. Neben dem Begriff der Rechtsstellung des Abgeordneten gibt es noch den des Status des Abgeordneten, den auch das Bundesverfassungsgericht verwendet; vgl. BVerfGE 2, S. 143, 164; 60, S. 374,379. Diese Begriffe werden unterschiedlich voneinander abgegrenzt und ihnen werden nicht immer die gleichen Rechte zugeordnet; siehe etwa Badura, in: SchneiderIZeh, § 15 Rz. 58f.; Abmeier, Die parlamentarischen Befugnisse, S. 34ff, 44ff.; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 259. Wenn man unter den Statusrechten die Rechte versteht, die zwar die Steilung des Abgeordneten sichern, aber nicht selbst Befugnisse im Parlament begründen, wie etwa das Recht auf eine Entschädigung nach Art. 48 Abs.2 GG, das Recht auf Indemnität und Immunität nach Art. 46 GG und das Zeugnisverweigerungsrecht gemäß Art. 47 GG, dann können diese für die weitere Untersuchung der verfassungsrechtlichen Grundlagen der Repräsentation außer Betracht bleiben; zum Ganzen WolfflBachoff, Verwaltungsrecht 11, S. 34ff.; Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S. 71 ff.; Demmler, Der Abgeordnete, S.50. 154 Siehe BVerfGE 20, S.56, 103; 40, S.296, 314; 56, S.396, 405; Hennis, Amtsgedankeund Demokratiebegriff, S.51ff., 65; Wiese, AöR 101 (1976), S.548f.; H.H. Klein, in: Hdb. des Staatsrechts, § 41 Rz. 1; Abmeier, Die parlamentarischen Befugnisse, S. 37f. m. w. N.; a. A. Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, S. 503, 510; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 216; Schräder, Grundlagen, S. 280ff., vor allem 288 ff.; zum Streit, ob der Abgeordnete ein Amt innehat, siehe auch Bugiel, Volkswille und repräsentative Entscheidung, S. 379 ff. ISS Vgl. Stern, Staatsrecht I, § 2414. 156 Ausführlich zu den Meinungen über die Bezeichnung des Amtes des Abgeordneten Bugiel, Volkswille und repräsentative Entscheidung, S. 379f. m. w. N. 157 Vgl. etwa Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, S.503. 158 Abmeier, Die parlamentarischen Befugnisse, S. 38, wendet sich insofern gegen eine ,,Monopolisierung des Begriffs Amt für die Beamten".

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dem Staat zugeordnet sind 159 - im Gegensatz zu der Zeit des Konstitutionalismus, als es den Dualismus von Staat und Gesellschaft gab und man die Abgeordneten mehr dem gesellschaftlichen Bereich zurechnete. 160 Ferner erfüllt der Abgeordnete "eine öffentliche Aufgabe im Rahmen rechtlich geregelter Wahrnehmungszuständigkeiten".161 Versteht man daher in Anlehnung an das organisatorische und amtshaftungsrechtliche Verständnis von Amt unter einem Amtsträger jede mit hoheitlichen Aufgaben betraute Person l62 so steht der Feststellung, der Abgeordnete sei ein Amtsträger, nichts entgegen. 163 Denn er hat als Organwalter, der als tatsächlich Handelnder die konkreten Zuständigkeiten des Organs Bundestag wahrnimmt,l64 eine öffentliche Aufgabe mit rechtlich geregelten Wahrnehmungszuständigkeiten. Der Bundestag kann als Kollegialorgan nur durch die Amtswalter handeln. Deshalb sind deren Zuständigkeiten an die des Bundestages gebunden und durch diese bedingt. Zu den Amtszuständigkeiten, die teilweise in der Verfassung, besonders aber in der GeschO BT geregelt sind, zählen vor allem die Antrags-, Abstimmungs- und Interpellationszuständigkeiten. 165 Aus dem Amt, das unabhängig von der Person des Inhabers besteht, ergibt sich zunächst einmal, daß der Abgeordnete - wieder im Gegensatz zum konstitutionellen Obrigkeitsstaat - nicht nur Rechte sondern auch Pflichten hat und Verantwortung trägt. 166 Diese Rechte und Pflichten 167 beziehen sich auf die Ausübung der im Amt zusammengefaßten Zuständigkeiten. 168 Die Rechte des Abgeordneten als Amtswal159 Vgl. Dagtoglou, Ersatzpflicht des Staates bei legislativem Unrecht?, S. 35; Henke, Das Recht der Parteien, S.121; Rulami, Der Staat 14 (1975), S.457, 469; Bugiel, Volkswille und repräsentative Entscheidung, S. 381. 160 Siehe Wiese, AöR 101 (1976), S. 548,552; vgl. auch Demmler, Der Abgeordnete, S.48. 161 Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 110. 162 Vgl. dazu Rulami, Der Staat 14 (1975), S.457, 466; WolfflBachof, Verwaltungsrecht 11, S.29. 163 Schröder, Grundlagen, S. 289, weist zu Recht darauf hin, daß sich der Meinungsstreit über die Amtsträgerschaft des Abgeordneten vor allem um die Definition des Amtes dreht. 164 Vgl. Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.67f. 165 Vgl. Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.70. 166 Vgl. Wiese, AöR 101 (1976), S.548, 552; ebenso bereits schon Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 172. 167 Art. 38 Abs. 1 S.2 GG deutet die Pflichten der Abgeordneten lediglich mit der Formulierung an, daß sie Vertreter des ganzen Volkes sind; vgl. Hesse, Art. ,,Abgeordneter", Sp.18. Dagegen leitet Demmler, Der Abgeordnete, S. 53, die Pflichten aus allen drei Einzelaussagen des Art. 38 Abs. 1 S.2 GG ab. 168 Vgl. Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.74, der diese Rechte und Pflichten dem "Amtswalterverhältnis" zuordnet. Daneben bringt er auch mit dem "Statusverhältnis" Pflichten in Zusammenhang. Eine Pflicht im Sinne des "Statusverhältnisses" sei es etwa, bei Annahme der Wahl im Rahmen der Inkompatibilitätsvorschriften Ämter, Berufe usw. aufzugeben, um die Funktionstüchtigkeit der Staatsorgane aufrechtzuerhalten; siehe ders., Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S. 78.

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ter bestehen im wesentlichen darin, an der Beratung und Beschlußfassung der Volksvertretung mitwirken zu können. 169 Im Gegenzug gehört zu den sich aus dem Amtswalterverhältnis ergebenden Pflichten vordringlich, die Funktionen des Amtes tatsächlich wahrzunehmen. § 13 Abs. 2 S. 1 GeschO BT hebt diese verfassungsrechtlich bestehende Pflicht nochmals ausdrücklich mit den Worten hervor, daß die Mitglieder des Bundestages verpflichtet sind, "an den Arbeiten des Bundestages teilzunehmen". 170 Diese Pflicht, deren Nichtbefolgung aber keine rechtlichen Folgen wie etwa den Entzug des Mandats nach sich zieht,171 ist zum Funktionieren des Staatsorgans Bundestag unerläßlich. Denn die Pflicht zur Versehung der Amtsfunktionen gewährleistet, daß die dem Staat "im Außenverhältnis zu anderen Personen zustehenden Verpflichtungen und Berechtigungen durch konkretes menschliches Verhalten erfüllt bzw. durchgesetzt werden". 172 Damit wird auch sichergestellt, daß die Abgeordneten ihre Repräsentationsaufgabe wahrnehmen. Darüber hinaus ergibt sich aus diesem Amt die Gemeinwohlverpflichtung des Abgeordneten. Der Amtscharakter - aber auch Art. 38 Abs. 1 S.2 GG, worauf noch näher einzugehen ist 173 - hebt hervor, daß der Abgeordnete sein Mandat als Dienst für die Allgemeinheit 174 zu verstehen hat. Denn er wurde gewählt, weil die Bürger in ihn das Vertrauen gesteckt hatten, daß er sein Amt zum Wohle der Gemeinschaft ausübt. 17S Die Interessen seiner Auftraggeber und sein persönlicher Nutzen haben zurückzutreten. 176 Das Organwalterverhältnis als Amtswalterverhältnis ist also "ein fremdnütziges Rechtsverhältnis, und zwar zum Nutzen letzten Endes des Trägers Dazu im einzelnen Badura, in: SchneiderfZeh, § 15 Rz. 36 ff. Zur Nichteinhaltung bestimmter Pflichten siehe § 13 Abs.2 GeschO BT, der auf das Abgeordnetengesetz (§ 14) verweist. 171 Vgl. Eschenburg, Staat und Gesellschaft in Deutschland, S.51Of., der darauf hinweist, daß auch die Kürzung der Kostenpauschale (§ 14 AbgG) bei Verstoß gegen § 13 Abs.2 GeschO BT beispielsweise wegen Nichtbeteiligung an einer namentlichen Abstimmung nicht eine Strafe, sondern nur eine entsprechende Verminderung der Aufwandsentschädigung wegen geringeren Aufwandes ist; vgl. auch Köttgen, Das anvertraute öffentliche Amt, S.140; H.H. Klein, in: Hdb. des Staatsrechts, § 41 Rz.22; Kremer, Der Abgeordnete zwischen Entscheidungsfreiheit und Parteidisziplin, S.61. 172 WolfflBachof, Verwaltungsrecht 11, S. 38; daran anschließend Bugiel, Volkswille und repräsentative Entscheidung, S. 382. Auch Schröder, Grundlagen, S.290, geht von einer prinzipiellen Verpflichtung des Abgeordneten zur Mitwirkung an den Parlament~arbeiten aus, leitet diese jedoch aus der Einbindung in das kollegial verfaßte Parlament ab. 173 Siehe dazu fünftes Kapitel AIII 1 b)bb)(6). 174 Böckenförde, in: Hdb. des Staatsrechts, § 30 Rz. 27 Fn. 39, macht darauf aufmerksam, daß schon v. Stein, Die Verwaltungslehre Teil 1 Abt. I, S. 208, dem Amt eine besondere über den festgesetzten Aufgabenbereich hinausgehende Aufgabe zuschreibt - allerdings bezieht v. Stein dies auf den monarchisch-konstitutionellen Staat des 19. Jahrhunderts: ,,Das Amtswesen hat daher die ernste Aufgabe, die wahre und reine Staatsidee innerhalb des Staats gegen diejenigen Elemente zu vertreten, welche gleichfalls innerhalb des Staats die Gewalt und das Recht desselben für ihre Interessen ausbeuten wollen." m Vgl. Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, S.54ff. 176 Siehe H. H. Klein, in: Hdb. des Staatsrechts, §41 Rz.l; Böckenförde, in: Hdb. des Staatsrechts, § 30 Rz. 19. 169 170

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der juristischen Person, zu der das Amt gehört, für die Abgeordneten des Volkes". 177 Es enthält eine Ausrichtung an den Erfordernissen der Allgemeinheit, ist Dienst am Gemeinwohl. Dieses Gemeinwohl ist aber eben nicht vorgegeben, sondern entwikkelt sich aus einem politischen Gestaltungsprozeß heraus, an dem sich der Abgeordnete durch sein Tätigwerden beteiligt l78 und der wesentlich für das Zustandekommen der inhaltlichen Repräsentation ist.

bb) Die Bedeutung des freien Mandats in der repräsentativen Demokratie Die demokratisch-parlamentarische Repräsentation durch den Bundestag ist nur möglich, wenn der Volkswille als Einheit im Parlament hervortreten kann. Im Parlament spiegeln sich aber Meinungsunterschiede wider, die der Bildung dieser Einheit entgegenstehen. Daher müssen die Einzelwillen zu einem Gemeinwillen geformt werden. Ein Ausgleich der Interessen läßt sich meist nur durch ein Entgegenkommen und Abrücken von den eigenen politischen Ansichten herbeiführen. Diese Fähigkeit zur Übereinstimmung im Parlament ermöglicht das freie Mandat, das die Überwindung der Einzelinteressen zuläßt und damit eine wichtige Voraussetzung für die Gestaltung des Parlamentswillens darstellt. 179 (1) Keine rechtliche Bindung des Abgeordneten Art. 38 Abs. 1 S.2 GG nennt den Begriff des freien Mandats nicht. Die Bedeutung und der Inhalt dieser Vorschrift sind daher umstritten. Auf der einen Seite wird die Ansicht vertreten, aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ergebe sich, daß der Abgeordnete nicht ein gebundenes (imperatives) Mandat habe. Der Abgeordnete sei also nicht an einen bestimmten Auftrag und an Weisungen der Wähler oder der Partei, die ihn bei der Wahl aufgestellt habe, gebunden. 180 Auf der anderen Seite gibt es jedoch Stimmen in der Literatur, die sich de lege ferenda oder sogar auch de lege lata für eine irgendwie geartete Bindung der Abgeordneten - oder der Parteien - an vor der Wahl kundgegebene Äußerungen aussprechen. So setzt sich Leibholz für eine Bestimmung im Parteiengesetz mit dem Inhalt ein, daß die Parteien sich vor den Wahlen äußern müßten, mit wem sie im Bundestag die Regierung bilden wollten. Er will damit den "plebiszitären" Charakter der Wahlen deutlich machen. Dabei kommt es ihm aber nicht darauf an, gegen eine Partei Maßnahmen verhängen zu können, wenn diese 177

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Rz.l.

Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.76. V gl. Badura, in: Schneider/Zeh, § 15 Rz.59; H. H. Klein, in: Hdb. des Staatsrechts, § 41

Siehe Stern, Staatsrecht I, § 24 IV 2; HofmannIDreier, in: Schneider/Zeh, § 5 Rz. 25 f. So v. MangoldtlF. Klein, GG, 2. Aufl., Art. 38 Anm. IV 4c; Badura, in: Bonner Komm. (Zweitbearbeitung), GG, Art. 38 Rz. 33,72; Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 38 Rz. 1 f., lOff.; Stern, Staatsrecht I, § 24IV2; Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.184ff., 188ff.; Abmeier, Die parlamentarischen Befugnisse, S.48ff.; v.Münch, in: ders./Kunig, GG, Art. 38 Rz. 75,78. 179

180

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sich nicht an ihr Wahl versprechen hält, da er insofern auf eine "Bestrafung" durch die Wähler bei der nächsten Wahl vertraut. 181 Eine ähnliche Linie wie Leibholz vertritt Achterberg. Er hält ein sogenanntes "rahmen gebundenes" Mandat für möglich, da Art. 38 Abs. 1 S.2 GG Anhaltspunkte für die Zulässigkeit der Bindung der Abgeordneten an das Parteiprogramm enthalte bzw. der Zweck der Bestimmung nicht "schlechthin" ausschließe, daß der Abgeordnete an den vom Parteiprogramm abgesteckten Rahmen gebunden werde. 182 Diesem Gedanken folgt Meyn. Entgegen der Ansicht von Achterberg leitet er jedoch bereits aus der Verfassung ab, daß sich der Abgeordnete an das vor der Wahl festgelegte Parteiprogramm halten müsse, wobei allerdings ein Verstoß gegen das geforderte Verhalten nicht "justiziabel" sei. Der Abgeordnete sei Verbindungs glied zwischen den "Strukturebenen" des Parteiwesens und Parlamentarismus, da er als von der Partei aufgestellter Kandidat dem Parteiwesen entstamme und als Gewählter einen Teil des Parlaments bilde. Nach Meyn besteht also ein "rahmengebundenes Mandat" bereits de constitutio lata. 183 Oppermann dagegen zieht nicht so weitreichende Schlüsse. Seine Ansicht läßt sich unter den Begriff "Mandatstheorie" oder auch "Mandatsdoktrin" fassen. 184 Er tritt für die Einführung eines generellen Mandats nach englischem Vorbild ein. Nach seiner Meinung könnte man eine sogenannte Verfassungskonvention, d. h. eine dem Gewohnheitsrecht nahestehende verfassungsmäßige Übung, auf die deutschen Verhältnisse übertragen oder eine Bestimmung im Parteien- oder Abgeordnetengesetz einführen, wonach im Falle einer radikalen Änderung der Regierungspolitik im Vergleich zu dem Programm, das die Regierungspartei bei der letzten Wahl aufgestellt habe, ein neues Mandat eingeholt werden müsse. Dabei wäre eine strenge Handhabung dieser Vorschrift eher in der Innen- als in der unvorhersehbareren Außenpolitik vorstellbar. Außerdem müsse zur Einführung des generellen Mandats durch Änderung von Art. 39 GG die Selbstauflösung des Parlaments ermöglicht werden, damit bei einer Änderung des politischen Kurses es zu einer vorzeitigen Neuwahl des Bundestages kommen könne. 18S Eine wie auch immer rechtlich ausgestaltete Bindung an das Partei- und Wahlprogramm stößt jedoch bei der Umsetzung in die Staatspraxis auf erhebliche Schwierigkeiten und ist daher unter den gegebenen Umständen letztlich nicht verwirklichbar. Abgesehen von der Tatsache, daß Partei programme häufig sehr allgemein gehalten sind, kommt bereits wegen des derzeit fehlenden Selbstauflösungsrechts des Bundestages eine Bindung an inhaltliche Aussagen und Koalitionsfestlegungen 181 Siehe Leibholz, Zur Gestaltung des künftigen Bundeswahlrechts, S. 56; vgl. auch ders., Der Strukturwande1 der modemen Demokratie, S. 106f., mit Verweis auf das in England geltende generelle Mandat. 182 Siehe Achterberg, Das rahmengebundene Mandat, insb. S. 22 f., 33 f. 183 Vgl. Meyn, Kontrolle, S. 292ff.; siehe auch Preuß, in: AK-GG, Art.21 Abs. I, 3 Rz.57. Zur Kritik an den in sich widersprüchlichen Ausführungen von Meyn siehe Abmeier, Die parlamentarischen Befugnisse, S.56. 184 Vgl. dazu Meyn, Kontrolle, S. 286ff.; ders., JöR 25 (1976), S. 170f. 185 Siehe Oppermann, VVDStRL 33 (1975), S. 52 ff.

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nicht in Frage. Denn im Falle einer Bindung der Volksvertreter wären die Abgeordneten vier Jahre lang an eine einmal dem Wahlvolk gegebene Zusage gebunden. Diese hätte beispielsweise einen Wechsel des Koalitionspartners der FDp, nämlich von der SPD zur CDU/CSU, 1982 nicht zugelassen. Die Bindung der Abgeordneten würde bei bestimmten Fragen zu einem Stillstand in der Politik führen, da für einen erforderlichen Kurswechsel erst bei der nächsten Wahl das Mandat eingeholt werden könnte. (2) Das parteibezogene, nicht aber parteigebundene Mandat Mit Art. 38 Abs. 1 S.2 GG läßt sich also - zumindest unter den gegebenen verfassungsrechtlichen Bedingungen - ein Mandat, das an vor der Wahl getroffene Aussagen gebunden wäre, nicht vereinbaren. Trotzdem wird ein wirklich freies Mandat des Abgeordneten wegen des Einflusses der Parteien immer wieder in Frage gestellt. Beeinflußt durch die Ansicht von Leibholz, daß die "Strukturtypen" moderner Parteienstaat einerseits - zugrundegelegt in Art. 21 GG - und repräsentativ-parlamentarische Demokratie andererseits - zugrundegelegt in Art. 38 Abs. 1 GG - grundsätzlich unvereinbar wären, 186 wird die Meinung 187 vertreten, die grundgesetzliehe Verankerung der Parteien und ihre in Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG vorgesehene Beteiligung am politischen Willensbildungsprozeß lasse eine Unabhängigkeit des Abgeordneten nicht oder kaum zu. Zwar hält auch das Bundesverfassungsgericht, in dessen Rechtsprechung die diesbezüglichen Grundgedanken des langjährigen Bundesverfassungsrichters Leibholz eingeflossen sind, 188 Art. 38 und 21 GG "prinzipiell" für unvereinbar und seiner Ansicht nach wird in beiden Artikeln das "Spannungsverhältnis" erkennbar, "das in der DoppelsteIlung des Abgeordneten als Vertreters des gesamten Volkes und zugleich als Exponenten einer konkreten Parteiorganisation liegt". Es sieht die Auflösung dieser Spannungslage darin, "daß ermittelt wird, welches Prinzip bei der Entscheidung einer konkreten verfassungsrechtlichen Frage jeweils das höhere Gewicht hat". 189 Das Bundesverfassungsgericht hat aber auch darauf hingewiesen, daß die modeme parteienstaatliche Demokratie nicht dazu führe, daß der repräsentative verfassungsrechtliche Status des Abgeordneten aufgehoben werde. 186 Vgl. Leibholz, Repräsentation, S. 235 ff. Nach Leibholz, Repräsentation, S. 237, besteht der Sinn von Art. 38 GG darin, "die Selbständigkeit der Fraktion gegenüber der Partei, nicht aber die Unabhängigkeit des Abgeordneten gegenüber der Fraktion zu sichern". Zur Kritik an der von Leibholz vertretenen Ansicht zur Funktion des freien Mandats und seiner Überlegung, daß das freie Mandat eine Erscheinung des liberalen Bürgertums sei, siehe C. Müller, Das imperative und freie Mandat, S.16, 206ff. 187 Vgl. etwa Röhrich, NIW 1981, S. 2674ff.; siehe auch Hesselberger, 00, Art. 38 Rz.13. 188 Siehe BVerfGE 2, S.l, 72f.; siehe dazu Badura, in: Bonner Korrun. (Zweitbearbeitung), GG, Art. 38 Rz.6. 189 BVerfGE 2, S.l, 72f. In BVerfGE 5, S. 85ff., 233, spricht es aber nur noch von einem "gewissen Spannungsverhältnis" .

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Zutreffend lehnt ein Großteil der Literatur eine grundsätzliche Unvereinbarkeit von Art. 38 Abs. 1 S.2 GG und Art. 21 GG ab; vielmehr ergänzen sich beide Vorschriften. Geht man von der Einheit der Verfassung aus, dann darf nicht ein Rechtssatz unter Aufgabe eines anderen zur Geltung kommen, sondern jeder muß im Wege "praktischer Konkordanz" so weit wie möglich verwirklicht werden. 190 Der Abgeordnete wird durch das freie Mandat gegenüber der Partei und der Fraktion gestärkt, indem er sich unabhängig verhalten und entscheiden kann, ohne einem Fraktionszwang 191 und rechtlich verbindlichen Parteisanktionen zu unterliegen. Das freie Mandat verhindert, daß das Mandat "gewissermaßen als ein der Partei durch die Wähler zugewiesener Besitz verstanden wird". 192 Zwar ist das Mandat des Abgeordneten parteibezogen, aber Art. 38 Abs. 1 S.2 GG bewirkt, daß es nicht parteigebunden ist. 193 Ebenso begrenzt es die Bindung des Abgeordneten an die Fraktion. Es ermöglicht also eine freie Meinungs- und Willens bildung in der Fraktion und Partei und läßt den Abgeordneten auch im parlamentarischen Verfahren eine eigenständige Rolle einnehmen. Dabei ist stets im Auge zu behalten, daß das Grundgesetz die Existenz der Parteien im Rahmen des Art. 21 GG zwar sicherstellt, diese aber lediglich Bestandteil des gesellschaftlichen Willensbildungsprozesses, nicht jedoch in den Staaatswillensbildungsprozeß institutionell eingebunden sind. 194 (3) Die Funktionen des freien Mandats

Das freie Mandat ist also in der in der parteienstaatlichen Demokratie nicht sinnentleert und gegenstandslos, sondern von großer Wichtigkeit. Zur Erfassung seiner umfassenden Bedeutung als "Schlüsselbegriff'19S der repräsentativen Demokratie bedarf es jedoch einer genaueren Untersuchung, weIch tragende Rolle ihm diesbezüglich zukommt. Diese erschließt sich über die Betrachtung der Funktionen des 190 So Hesse, Grundzüge, Rz. 71 f.; Kasten, Ausschußorganisation und Ausschußrückruf, S. 115 f.; Demmler, Der Abgeordnete, S.66. 191 H.-P. Schneider, in: Hdb. des VerfR, § 13 Rz. 53, weist darauf hin, daß die meist vorgenommene Unterscheidung von unzulässigem Fraktionszwang und erlaubter Fraktionsdisziplin kaum möglich ist; ebenso Sendler, NJW 1985, S.1425, 1427. 192 Badura, in: SchneiderfZeh, § 15 Rz.17. 193 Siehe Badura, in: Schneider{Zeh, § 15 Rz.18; H.-P. Schneider, in: Hdb. des VerfR, § 13 Rz.51. 194 Vgl. Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S. 194 Fn.45. Nach BVerfGE 4, S.27, 30, nehmen die Parteien die "Funktion eines Verfassungsorgans" wahr, wenn sie bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. Zwar ordnete BVerfGE 20, S.56, 98ff. (unter Bezugnahme auf BVerfGE 8, S.I04, 113), die Parteien dem gesellschaftlichen Bereich zu (Nach BVerfGE 56, S. 98, handelt das Grundgesetz "in Art.21 Abs. 1 GG von der Willensbildung des Volkes, in Art. 20 Abs. 2 GG von der Bildung des Staatswillens"), aber BVerfGE 44, S.125, 145f., geht davon aus, daß die Parteien sich an der Willensbildung in den Staatsorganen beteiligen; ausführlich zum Standort der Parteien im Verfassungsgefüge aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts Grimm, in: Hdb. des VerfR, § 14 Rz.24ff. 195 Stern, Staatsrecht I, § 24 IV 2.

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freien Mandats, die im folgenden dargestellt werden und teilweise auch schon angeklungen sind: 196 Durch die verfassungsrechtliche Ablehnung des imperativen Mandats wird das parlamentarische Verfahren von einem Mittel der Obstruktion freigehalten. 197 Das freie Mandat begünstigt eine Entscheidungshervorbringung des Parlaments, da die Abgeordneten sich nicht darauf berufen können, sie hätten keine Vollmacht ihrer Wähler für die Zustimmung zu einem Beschluß. Es hält also den Entscheidungsfindungsprozeß des Parlaments offen. Trotz der verschiedenen Abhängigkeiten der einzelnen Abgeordneten von Interessengruppen, Wählern und Parteien können auf Grund des freien Mandats Kompromisse eingegangen werden. Das freie Mandat ermöglicht nicht nur das Einbringen aktueller und situations gemäßer Meinungen in den staatlichen Willensbildungsprozeß, sondern auch das Abweichen und den Ausgleich von politischen Standpunkten. Dadurch erhält die Handlungsfreiheit der Abgeordneten auch eine "integrative Funktion". 198 Wie bereits ausgeführt, 199 bewahrt das freie Mandat den Abgeordneten auch vor rechtlichen Zwängen der Partei und der Fraktion. Es macht ihn als gewählten Volksvertreter selbständig und unangreifbar. 2OO Obwohl der Abgeordnete einer gewissen Fraktionsdisziplin ausgesetzt ist, ermöglicht diese rechtlich abgesicherte Ungebundenheit des Abgeordneten innerparteiliche und innerfraktionelle Demokratie. Der Abgeordnete kann folglich auch Minderheitspositionen vertreten. Dies führt dazu, daß die Parteien gezwungen sind, sich auch mit abweichenden Meinungen unter ihren Abgeordneten auseinanderzusetzen, da sich die Abgeordneten andernfalls den politischen Vorstellungen ihrer Parteien und deren Fraktionsspitzen bei den Abstimmungen nicht anschließen. 201 Damit wird einer einseitigen Meinungsvorgabe von oben nach unten innerhalb einer Partei und somit auch innerhalb einer Fraktion zumindest rechtlich - Einhalt geboten. Aufgrund des freien Mandats haben sich die Volksvertreter auch immer wieder für ihr Verhalten gegenüber den Wählern zu rechtfertigen, da sie an Aufträge und Weisungen nicht gebunden sind und folglich eigenständig handeln und abstimmen dürfen. 202 Diese Verantwortlichkeit 203 der Abgeordneten gegenüber dem Wahl volk 196 Zum folgenden siehe Hofmann/Dreier, in: Schneider/Zeh, § 5 Rz. 41 ff.; Demmler, Der Abgeordnete, S. 67 ff.; Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S. 184ff. 197 Zur Rolle des imperativen Mandats als Obstruktionsmittel der Generalstände in Frankreich bis zu seiner Vernichtung durch die Revolution siehe C. Müller, Das imperative und freie Mandat, S.181 ff. 198 Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform v. 9. Dezember 1976, BTDrs. 7/5924, S.24. 199 Siehe dazu fünftes Kapitel AIII 1 b)bb)(2). 200 Vgl. Badura, in: Schneider/Zeh, § 15 Rz.19. 201 Dies stellt vor allem Demmler, Der Abgeordnete, S. 68, heraus. 202 Vgl. Siegfried,ZRP 4(1971), S.9, 11; Grimm, in: Hdb. des VerfR, § 12Rz.28;Hojmann/ Dreier, in: Schneider/Zeh, §5 Rz.44.

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zwingt die Abgeordneten zur Darlegung ihrer Politik in der Öffentlichkeie04 und zur Auseinandersetzung mit der öffentlichen Meinung, da sie andernfalls Gefahr laufen, bei der nächsten Wahl nicht wiedergewählt zu werden. Das freie Mandat fördert damit den Meinungsaustausch der Abgeordneten mit dem Volk und trägt damit zum Zustandekommen der inhaltlichen Repräsentation bei. Das freie Mandat hat also mehrere Funktionen und strahlt in verschiedene Richtungen aus. Im wesentlichen erfüllt es drei Aufgaben: Das Offenhalten des staatlichen Willensbildungsprozesses, die Sicherung der innerparteilichen und innerfraktionellen Demokratie und das Erzeugen persönlicher Verantwortung verbunden mit der Förderung der Kommunikation zwischen Wählern und Gewählten. (4) Die Möglichkeit der Einwirkung auf die Abgeordneten Wenn auch die Abgeordneten keinen rechtlich verbindlichen Weisungen ihrer Wähler und ihrer Partei unterliegen, so schließt das natürlich nicht die Möglichkeit aus, daß auf sie zur Herbeiführung eines bestimmten Verhaltens Druck ausgeübt wird. Es gibt zahlreiche Mittel, sie zu einer bestimmten Handlungsweise zu bewegen. Zwar haben die Partei und Fraktion keine unmittelbaren rechtlichen Sanktionsmöglichkeiten gegen einen von den Partei- und Fraktionsvorgaben abweichenden Abgeordneten, sie können aber faktisch doch auf ihn einwirken. Die Partei kann damit drohen, den Abgeordneten bei der nächsten Wahl nicht wieder aufzustellen,205 und die Fraktion kann die Drohung aussprechen, ohne daß es sich um einen unzulässigen Fraktionszwang handeln würde, den Abgeordneten aus der Fraktion auszuschließen 206 oder die Mitgliedschaft in einem bestimmten Bundestagsausschuß zu entziehen. 207 Auf den Abgeordneten kann also trotz des freien Mandats in vielfältiger Weise Einfluß genommen werden. 208 Wenn er sich im Parlament dem Abstim203 Es handelt sich dabei aber nicht um eine rechtlich verbindliche Verantwortung der Abgeordneten gegenüber dem Wahl volk. 204 Demmler, Der Abgeordnete, S.69, ist der Ansicht, daß besonders in der Regelung des § 52 GeschO BT, der die Möglichkeit der namentlichen Abstimmung im Bundestag eröffnet, zum Vorschein komme, daß der Abgeordnete für sein Entscheidungsverhalten im Bundestag einstehen müsse. Im Anhang zum Protokoll der jeweiligen Plenarsitzung seien nämlich die Namen der einzelnen Abgeordneten und ihr Abstimmungsverhalten verzeichnet. 205 Vgl. C. Arndt, in: Schneider/Zeh, §21 Rz.24; H.H. Klein, in: Hdb. des Staatsrechts, §41 Rz. 17; v. Münch, in: ders./Kunig, GO, Art. 38 Rz. 78; Magiera, in: Sachs, GG, § 38 Rz.51. 206 Vgl. Stern, Staatsrecht I, § 24IV3 b; C. Arndt, in: Schneider/Zeh, §21 Rz.24; v.Münch, in:·ders./Kunig, GO, Art. 38 Rz. 78; Magiera, in: Sachs, GG, § 38 Rz.51; H.-P. Schneider, in: AK-GO, Art. 38 Rz. 36; StGH Bremen, DÖV 1970, S.639, 640; differenzierend Henke, Das Recht der Parteien, S. 154f. 207 Vgl. Stern., Staatsrecht 11, §26IV2m; Magiera, in: Sachs, GG, § 38 Rz.51; a.A. Kasten, AusschuBorganisation und Ausschußrtickruf, S.183ff.; H.H. Klein, in: Hdb. des Staatsrechts, § 41 Rz. 17; siehe auch BVerfGE 80, S. 188, 233 f. 208 Nach herrschender Meinung, so Demmler, Der Abgeordnete, S. 97 ff. m. w. N., werden nicht nur alle Weisungen und Aufträge an Abgeordnete für rechtlich unverbindlich, sondern sogar für unzulässig gehalten; siehe dazu auch Silberkuhl, in: Seifert/Hömig, GO, Art. 38 Rz. 13.

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mungsverhalten seiner Fraktion anschließt, kann dies sowohl deshalb geschehen, weil er von der Richtigkeit des Fraktionsbeschlusses überzeugt ist, als auch aus dem Grund, "daß er sich der Mehrheitsentscheidung der Fraktion fügt, daß er dem fachkundigen Urteil anderer Abgeordneter vertraut oder daß er die Solidarität der Fraktion nicht gefährden will". 209 Das freie Mandat eröffnet dem Abgeordneten also grundsätzlich eine flexible Handlungsweise im parlamentarischen Verfahren und ermöglicht ihm, Weisungen aus jeder Richtung abzuwehren, aber auch Interessen wahrzunehmen, die weder im Wahlkampf angeklungen sind noch nachdrücklich von irgendeiner Gruppe vertreten werden. 210 Die Gründe für die Zustimmung oder Ablehnung eines Abgeordneten bei einer Abstimmung im Bundestag können also unterschiedlichster Natur sein und so weit gehen, daß sich der Abgeordnete auch einem faktischen Druck beugt bzw. dem Einfluß von Interessengruppen - nicht selten von Verbandsfunktionären oder Lobbyisten sonstiger Art - nachgibt, ohne daß es sich deswegen um einen Verstoß gegen das freie Mandat handelt. (5) Individual- oder Kollektivrepräsentation Aus dem Vorhandensein dieser Interessen und dem Eintritt vieler Abgeordneter für diese ziehen die Vertreter der sogenannten Kollektivrepräsentation 211 - im Gegensatz zu den Vertretern der sogenannten Individualrepräsentation 212 - den Schluß, daß von einem Ausgleich aller Interessen in jedem einzelnen Abgeordneten nicht ausgegangen werden könne und dieser daher auch nicht gefordert sei. Der Ausgleich finde vielmehr erst im Parlament statt. Nur die Gesamtheit der Abgeordneten und nicht schon der einzelne Gewählte sei der Repräsentant des Volkes. 213 Darüber hinaus leiten die meisten Befürworter der Kollektivrepräsentation aus der Vertretung von Sonderinteressen durch den einzelnen Abgeordneten ab, daß man von ihm nicht verlangen könne, für das Gemeinwohl einzutreten. 214 Würde man dieser Ansicht2 1s folgen, dann müßte sich der Abgeordnete bei seinem EntscheidungsfinHesse, Grundzüge, Rz.6OO. Vgl. Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.190. 211 Die Begriffsbildung stammt wohl von Achterberg, Das rahmengebundene Mandat, S.26. 212 Siehe Badura, in: Bonner Komm. (Zweitbearbeitung), GG, Art. 38 Rz.49; Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 38 Rz. 11; Schäfer, Der Bundestag, S. 161; Bethge, Art. "Abgeordneter", Sp.lO; Demmler, Der Abgeordnete, S.84ff. 2J3 Nach Magiera, Parlament und Staatsleitung, S.145, spricht für diese Ansicht, daß Art. 38 Abs. 1 S.2 GG das Wort Abgeordneter in der Mehrzahl und nicht in der Einzahl verwendet. 214 Nach HofmannIDreier, in: SchneiderfZeh, § 5 Rz. 26f. kann vom Abgeordneten nicht verlangt werden, daß er "einzig und allein dem (von wem definierten?) Gemeinwohl" diene; siehe auch Dreier, AöR 113 (1988), S. 450, 464 f. 215 Die Vertreter der Kollektivrepräsentation sind Meyn, Kontrolle, S. 266 Fn. 308; Isensee, Demokratie, S.43, 47; Preuß, in: AK-GG, Art. 21 Abs.l, 3 Rz.56f., der die Meinung vertritt , daß "die Abgeordneten an die durch Beschlüsse der zuständigen Parteiorgane festgelegte Politik ihrer Partei gebunden" seien. Allerdings ergänzt Preuß, in: AK-GG, Art. 21 Abs. 1, 3 209 210

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dungsprozeß also gar nicht mehr mit dem Gemeinwohl auseinandersetzen. Dies könnte Auswirkungen auf den Repräsentationsprozeß haben, so daß im folgenden die Frage zu beantworten ist, ob das Grundgesetz von der sogenannten Kollektivrepräsentation und den sich daraus ergebenden Folgen ausgeht. Aus dem Wortlaut des Art. 38 Abs. 1 S.2 GG ergibt sich ein Argument weder für noch gegen die Kollektivrepräsentation. Denn mit "die Abgeordneten" kann die Gesamtheit der Abgeordneten oder können auch die einzelnen Abgeordneten gemeint sein. 216 Die Kollektivrepräsentation läßt sich jedoch mit dem Sinn der Vorschrift im Verfassungsgefüge nicht in Einklang bringen. 217 Denn die Verwirklichung der Repräsentation des ganzen Volkes durch das Organ Bundestag ist keineswegs gesichert, wenn man, wie es die Befürworter der Kollektivrepräsentation tun, den einzelnen Abgeordnete nicht für einen Repräsentanten des gesamten Volkes, sondern in erster Linie für einen Vertreter von Sonderinteressen hält. Denn das Einbringen und Aufeinandertreffen aller von den Abgeordneten vertretenen Wähler- bzw. Parteiinteressen führt nicht aus sich heraus zwangsläufig - gleichsam "naturwüchsig"218 - dazu, daß das Organ Parlament eine gemeinwohl orientierte Entscheidung trifft. 219 Außerdem hätten bei einer Ausrichtung des Abgeordneten auf die Vertretung der Wünsche seiner Wähler oder seiner Partei die Interessen und Ansichten vieler Bürger kaum eine Chance, im Parlament zur Sprache zu kommen. Dies beträfe etwa die Interessen der nichtwahlberechtigten Bürger oder auch derjenigen, die einer an der SperrklauseI gescheiterten Partei ihre Stimme gegeben haben oder der Wahl ferngeblieben sind. 22O Dadurch bestünde die Gefahr, daß viele Bürger sich Rz. 57, daß diese Parteigebundenheit durch die Bindung an das Gewissen eingeschränkt sei und sich der Abgeordnete nicht Einzelweisungen der Partei beugen müsse.; H. P. Schneider, in: AK-GG, Art. 38 Rz. 18, der trotz der Befürwortung der Kollektivrepräsentation von der Bindung des Abgeordneten an das Gemeinwohl ausgeht; H. Meyer, VVDStRL 33 (1975), S.69, 93 f.; Magiera, in: Sachs, GO, Art. 38 RZ.45. Das Bundesverfassungsgericht, BVerfGE 44, S.308, 316; 56, S.396, 405; 80, S.188, 218; 84, S.304, 321, neigt wohl auch zur Kollektivrepräsentation (anders noch BVerfGE 2, S. I, 72). Das Bundesverfassungsgericht meint jedoch mit der Feststellung, der einzelne Abgeordnete könne das Volk nur gemeinsam mit den anderen Parlamentsmitgliedem repräsentieren, daß nur das Parlament und nicht ein einzelner Abgeordneter oder wenige Abgeordnete verbindliche parlamentarische Entscheidungen treffen können; siehe dazu die ausführlichen Erläuterungen von Kimme, Das Repräsentativsystem, S.174ff.; Demmler, Der Abgeordnete, S. 89ff. 216 Darauf weisen Bruha/Möller, JA 1985, S.13, 16, hin. 217 Zum folgenden Abmeier, Die parlamentarischen Befugnisse, S.59, und ausführlich Demmler, Der Abgeordnete, S. 85 ff. (zur Entstehungsgeschichte des freien Mandats insbesondereS.88f.). 218 Dieser Begriff stammt von Patzelt, Abgeordnete und Repräsentation, Amtsverständnis und Wahlkreisarbeit, S.32. 219 Der Bundestag ist auch nicht ein Honoratiorenparlament, das in der Debatte durch Austausch vernünftiger Argumente eine "politisch richtige Entscheidung" hervorbringt; so Demmler, Der Abgeordnete, S. 86, der damit einen Gedanken von Dreier, AöR 113 (1988), S.450, 466, aufgreift. 220 Vgl. Demmler, Der Abgeordnete, S.87. Auch Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 145, der ein Vertreter der Kollektivrepräsentation ist, tritt dafür ein, daß die Abgeordneten

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durch den Bundestag nicht mehr repräsentiert fühlten. Dies könnte sich nachteilig auf die Akzeptanz seiner Entscheidungen beim Volk und damit auf das Zustandekommen der inhaltlichen Repräsentation auswirken. 221 Die Vorstellung von der Kollektivrepräsentation ist daher abzulehnen. Vielmehr muß der einzelne Abgeordnete die von ihm vertretenen Interessen mit dem Gemeinwohl abstimmen, mithin Vertreter des gesamten Volkes sein. Wenn sich ein Verstoß auch wohl kaum rechtlich überprüfen oder sanktionieren läßt und es für den Abgeordneten unter den ihn treffenden Sachzwängen nicht einfach ist, Vertreter des ganzen Volkes zu sein, so dient diese Verpflichtung dem einzelnen Abgeordneten zumindest als verfassungsrechtlich bindende Richtschnur dafür, welche Anforderungen Art. 38 Abs. I S.2 GG an die Ausübung seiner Tätigkeit als Mitglied des Parlamentes stellt. Keinesfalls rechtfertigen die Schwierigkeiten der praktischen Durchführbarkeit, Repräsentant der Gesamtheit zu sein, von dem einzelnen Abgeordneten erst gar nicht ein dem Gemeinwohl verpflichtetes Verhalten zu fordern, sondern lediglich davon auszugehen, er vertrete eine bestimmte politische Richtung, nämlich Partei- und Wählerinteressen. Die Formulierung "Vertreter des ganzen Volkes" bezieht sich daher sowohl auf den einzelnen Abgeordneten als auch auf ihre Gesamtheit, also das Organ Bundestag. (6) Die Gewissensunterworfenheit des Abgeordneten Diese Ausgerichtetheit jedes einzelnen Abgeordneten auf das Gemeinwohl unterstreicht vor allem auch der letzte Halbsatz des Art. 38 Abs. 1 S.2 GG mit der Wendung "nur ihrem Gewissen unterworfen". 222 Mit dieser Gewissensunterworfenheit ist nicht gemeint, daß der Abgeordnete nur bei "Gewissensentscheidungen" seiner freien Überzeugung folgen dürfte. 223 Vielmehr liegt die Betonung auf dem Wort "nur". Das bedeutet, daß bei allen Entscheidungen und Verhaltensweisen für den Abgeordneten die alleinige Richtschnur sein Gewissen ist und er eigenverantwortliche Entscheidungen treffen soll.224 Seine Gewissensentscheidungen müssen von "seinem sittlichen Bewußtsein" getragen werden, er muß sie stets vor sich selbst weiterhin über ihren Gruppenhorizont hinausblicken müßten. Auch er erkennt, daß wenn die Abgeordneten nur die Wählerinteressen verträten, es notwendigerweise nicht zu einer Vertretung aller im Volk bestehenden Interessen durch die Gesamtheit der Abgeordneten käme, da die Anzahl der Interessen im Volk die der Abgeordneten übersteige. 221 Auf diesen Punkt macht Demmler, Der Abgeordnete, S. 87 f., aufmerksam. 222 Heyen, DÖV 1985, S. 772,773, weist daraufhin, daß die "Gewissensformel" in Art. 21 WRV, die der des Grundgesetzes entspricht und ihr Vorläufer ist, auf Anregung des USDP-Abgeordneten Cohn - um die Audrucksweise ,,kerniger" und "volkstümlicher" zu gestalten - vom Verfassungsausschuß der Nationalversammlung vorgeschlagen worden ist; siehe auch der vom Hauptausschuß angenommene Ersatzvorschlag für die klassische Gewissensformel des Abgeordneten Süsterhenn, 2. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates v. 11. November 1948, Sten.Ber. S.l1f. 223 V gl. H. H. Klein, in: Hdb. des Staatsrechts, § 41 Rz.3. 2204 Siehe Badura, in: Bonner Komm. (Zweitbearbeitung), GG, Art. 38 Rz.50; H.-P. Schneider, in: AK-GG, Art. 38 Rz.30; a. A. Achterberg, Das rahmengebundene Mandat, S.22 Fn. 38.

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rechtfertigen können. 225 Freilich hat er sich dabei auch an die Verfassung, die übrigen Gesetze und die Gerichtsentscheidungen zu halten. Eine Gewissensentscheidung ist aber nicht überprütbar, da das Gewissen nicht objektivierbar ist. 226 Der Abgeordnete muß seine Entscheidung nicht an allgemein anerkannten sittlichen Grundsätzen messen. 227 Die Bindung an das Gewissen stellt also keine Fremdbestimmung dar, sondern erteilt ihr eine Absage,228 verlangt aber eben, daß der Abgeordnete bei seinen Entscheidungen das Allgemeinwohl zu berücksichtigen hat, wie es sich auch schon aus dem Amtscharakter des Mandats ergibt. Bezieht man die Gewissensunterworfenheit des Abgeordneten auf seine gesamte Mandatsausübung und nicht nur auf außergewöhnliche sittlich-ethische Fragen, ist Gewissen im Sinne des Art. 38 Abs. 1 S.2 GG dahingehend zu verstehen, daß der Abgeordnete bei all seinen Entscheidungen von seinem Handeln persönlich überzeugt sein muß. Wenn man dann noch berücksichtigt, daß der Abgeordnete unter anderem auf Grund seiner AmtsträgersteIlung zu gemeinwohlbezogenem Handeln verpflichtet ist, bedeutet die Unterwerfung unter das Gewissen die persönliche bzw. subjektive Überzeugung des Abgeordneten davon, was dem Gemeinwohl nützt. 229 Der Zweck der Gewissensformel besteht demnach vor allem darin zu verdeutlichen, daß der Abgeordnete bei jeder parlamentarischen Frage und nicht nur bei moralisch schwierigen Entscheidungen verpflichtet ist, das Gemeinwohl eigenverantwortlich zu bestimmen. Auch hier führt der Umstand, daß diese Pflicht unüberprütbar und damit nicht rechtlich erzwingbar ist, nicht dazu, die Gewissensunterworfenheit nur für sittlich, nicht aber rechtlich bindend zu halten. 23o Denn dadurch, daß jeder Abgeordnete zu dieser subjektiven gemeinwohl bezogenen Entscheidung verpflichtet ist, besteht eine größere Wahrscheinlichkeit dafür, daß durch die vielen Repräsentanten, die das Gemeinwohl unterschiedlich subjektiv beurteilen, am Ende des parlamentarischen Prozesses sich das Gesamtergebnis an das letztlich unbestimmbare Gemeinwohl größtmöglichst annähert und damit der hypothetische Volkswille zum Vorschein kommt. 231 225 So Schmidt-Jortzig, Die Pflicht zur Geschlossenheit der kollegialen Regierung (Regierungszwang), S. 39. 226 Vgl. v.Münch, in: ders./Kunig, GG, Art. 38 RZ.76. 227 So aber Maunz, in: ders./Dürig, GG, Art. 38 Rz. 17; ihm sich anschließend Wiese, AöR 101 (1976), S.548, 561. 228 H.H. Klein, in: Hdb. des Staatsrechts, §41 Rz. 3; Stern, Staatsrecht I, § 24IV2. 229 Dies veranschaulicht Demmler, Der Abgeordnete, S. 122 ff., 124, 129 ff.; ähnlich Badura, in: Schneider/Zeh, § 15 Rz. 11. Demmler, Der Abgeordnete, S. 122ff., stellt auch den Meinungsstreit zwischen den Autoren dar, die den Gewissensbegriff nach Art. 4 GG und den nach Art. 38 Abs. 1 S.2 GG gleichstellen und damit eine Gewissensentscheidung der Abgeordneten nur in Ausnahmefällen, etwa bei sittlich-ethischen Grundfragen, für erforderlich halten, und denen, die die Gewissensunterworfenheit des Art. 38 Abs. 1 S.2 GG als eine politische Überzeugung des Abgeordneten ansehen, die bei allen zu treffenden parlamentarischen Entscheidungen ihre Wirkung entfaltet. 230 Dies betont StGHE Bremen 1, S.34, 37 f. 231 Vgl. Kimme, Das Repräsentativsystem, S.142; Demmler, Der Abgeordnete, S. 92.

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ce) Zusammenfassung Zusammenfassend läßt sich daher feststellen, daß das Grundgesetz die erforderlichen Voraussetzungen für die Verwirklichung der Repräsentation als dynamischen Prozeß geschaffen hat. Sowohl der einzelne Abgeordnete als Organwalter und Amtsinhaber als auch die Gesamtheit der Abgeordneten, also der Bundestag, ist zur Repräsentation des Volkes fähig. Ermöglicht wird dies vor allem durch das freie Mandat, das sich sowohl auf die Entscheidungsfindung des einzelnen Abgeordneten, als auch auf die der Gesamtheit der Abgeordneten, sprich des Parlaments als Staatsorgan, auswirkt. Letztendlich findet die durch das freie Mandat geschaffene Unabhängigkeit des Abgeordeten, wie es Steiger232 ausdrückt, "ihre eigentliche Funktion in der Unabhängigkeit des Bundestages zur Erfüllung der Entscheidungsfunktion, zur politischen Führung im Rahmen seiner Zuständigkeiten". Der Bundestag soll unabhängig von äußeren Einflüssen Abstimmungen durchführen und Beschlüsse fassen können. Die Bindungen an religiöse, regionale, wirtschaftliche, konfessionelle, partei politische und anderweitige Interessen sollen überwunden werden, damit ein Ausgleich und Konsens gefunden und demokratische Repräsentation verwirklicht werden kann. c) Wirkt sich die Wahl als Ausdruck des Volkswillens auf die Repräsentationsstellung des Alt-Bundestages aus? Nach der Darstellung des vom Grundgesetz vorgesehenen Repräsentationsprozesses gilt es im folgenden zu untersuchen, ob der Alt-Bundestag diese Anforderungen an das Zustandekommen von Repräsentation erfüllt. Es ist zu klären, ob sich die Wahl zum neuen Bundestag auf die Repräsentationsstellung des Alt-Bundestages dahingehend auswirkt, daß seine materielle Zuständigkeit eingeschränkt ist. Dafür ist die Funktion der Wahl und der im Wahlakt zum Vorschein kommende Volks wille zu betrachten.

aa) Die Funktion der Wahl Für die parlamentarische Demokratie ist die Wahl der entscheidende Akt der Willenskundgebung des Volkes. "Die Wahl ist jener Teil des gegliederten Verfahrens der repräsentativen Demokratie, in welchem der Bürger als Souverän unmittelbar handelnd bildlich beobachtbar ist". 233 Sie ist der konstituierende Staatsakt in Form einer Abstimmung,234 bei der eine oder mehrere Personen aus einem größeren Per232 Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.192; vgl. auch Stern, Staatsrecht I, § 24 IV 2. 233 Greifeid, Volksentscheid durch Parlamente, S.93. 234 Der Begriff Abstimmung ist hier nicht rechtstechnisch im Sinne des Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG gemeint.

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sonenkreis zur Bildung einer Repräsentation bestimmt werden. 235 Verfassungsrechtlich verschafft damit die Wahl der Zusammensetzung des Parlaments Geltung. Das Volk übt dabei seine Herrschaftsgewalt aus. Die Wahl hat aber nicht nur eine Kreationsfunktion, sondern damit einhergehend bringt das Volk "seinen politischen Willen" zum Ausdruck. 236 Der ständige Prozeß der Meinungs- und Willensbildung des Volkes mündet nämlich in der Wahl der Volksvertretung, des Bundestages. Sie ist für den Bürger der wichtigste demokratische Mitwirkungsakt am Staats leben. Wenn das Volk als Verfassungs- oder Kreationsorgan durch Wahlen und Abstimmungen die Staatsgewalt gemäß Art. 20 Abs. 2 S.2 GG selbst ausübt, fällt zwar die Äußerung des Volks willens mit der Bildung des Staatswillens zusammen. 237 Dies ist aber so zu verstehen, daß letztlich die Wahlen "nicht ein Vorgang der Staatswillensbildung, sondern der für die Willensbildung des Staates eine Voraussetzung bildende Akt"238 sind. Erst durch die Tätigkeit der Staatsorgane, also etwa des vom Volk "verfaßten" Bundestages, wird der staatliche Wille gebildet. Meinungs- und Willens bildung des Volkes und die Bildung des Staatswillens durch die Organe sind also zu unterscheiden. 239 Formal betrachtet stellen die Wahlen eine Berufung bzw. Abberufung 240 von Repräsentanten dar. Der Wähler schenkt dabei dem Mandatsbewerber bzw. der Partei, die ihn aufgestellt hat, sein Vertrauen, indem er ihn im Falle der Wiederwahl bestätigt oder ihn im Falle der Neuwahl einen Vertrauensvorschuß gewährt. Wenn er ihn nicht bzw. nicht wieder wählt, schenkt der Wähler dem Abgeordneten bzw. der Partei kein Vertrauen bzw. entzieht das bei der vorherigen Wahl geschenkte Vertrauen. 241 Funktional sind die Wahlen eine "Methode der Machtverteilung" .242 Diese Macht, um die bei der Wahl in der parteienstaatlichen Demokratie die Parteien ringen, spiegelt sich in der Zahl der errungenen Bundestagssitze wieder.

bb) Gibt es bei der Wahl einen über die Entscheidung tür Mandatsbewerber und Parteien hinausgehenden, erkennbaren Volkswillen? Mit Blick auf die materielle Zuständigkeit des Alt-Bundestages stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob der Wahl eine über die Entscheidung für Personen bzw. Parteien hinausgehende Bedeutung zukommt, anband derer Rückschlüsse Vgl. BVerjGE 47, S.253, 276; Schreiber, Hdb. des Wahlrechts, Einführung, Rz.4. Siehe BVerfGE 20, S.56, 98. 231 V gl. BVerjGE 20, S.56, 98. 238 Badura, in: Bonner Komm. (Zweitbearbeitung), GG, Art. 38 Rz. 35; so auch Schreiber, in: Schneider/Zeh, § 12 Rz.l. 239 Siehe BVerjGE 20, S. 56, 98. 240 Strenggnommen bedeutet die Abberufung lediglich eine Nichtwiederwahl. 24\ Vgl. Schreiber, Hdb. des Wahlrechts, Einführung, Rz.5. 242 Wildenmann, Partei und Fraktion, S.119; siehe auch Badura, in: Bonner Komm. (Zweitbearbeitung), 00, Art. 38 Rz.39. 235

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für das Handeln des neuen Bundestages gezogen werden können. Oder anders gefragt: Kann der alte Bundestag überhaupt noch das Volk repräsentieren, wenn doch am Wahltag der neue Volkswille hervorgetreten ist? Im folgenden wird daher darauf eingegangen, ob der Wahl über die Entscheidung für bestimmte Mandatsbewerber und Parteien hinaus verschiedene Aussagewerte innewohnen, die wiederum Auswirkungen auf die Wahrnehmung der parlamentarischen Rechte und Funktionen durch den Alt-Bundestag haben könnten. Dafür sind zunächst in einem ersten Schritt die Elemente der Wahl, die ausschlaggebend für die Entscheidung bzw. Willensäußerung des Wählers sind, zu betrachten. In einem zweiten Schritt ist zu klären, ob und inwiefern der Wille des Wählers hinsichtlich dieser Elemente bei der Wahl zum Vorschein kommt. (l) Die personalen und sachinhaltlichen Elemente der Wahl

Eine Wahl enthält neben dem sogenannten personalen Element, also der Entscheidung zugunsten von Mandatsbewerbern, ebenfalls ein sachinhaltliches Element. 243 Denn die Wahl stellt auch eine Stimmabgabe zugunsten einer Partei dar. Der Bürger wählt die Herrschenden und zwar unmittelbar die Parlamentarier nach seiner "Vorstellung von der sachgerechten Lösung der gesellschaftlichen Aufgaben" aus. 244 Er richtet sein Wahlverhalten vor allem an den Wahl- und Parteiprogrammen, 245 aber auch an den bisher erbrachten Leistungen der Partei aus. Die Parteien ihrerseits nehmen beim Wahlkampf, der eines ihrer wesentlichen Handlungsfelder ist, ihre Vermittlungsrolle zwischen der Gesellschaft und dem Staat246 im Sinne von Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG, wonach die Parteien an der politischen Willensbildung mitwirken, wahr. 247 Sie greifen Meinungen und Interessen aus dem Volk auf, 243 Vgl. Magiera, Parlament und Staatsleitung, S.105. Statt der Begriffe personal und sachinhaltlich werden auch die Ausdrücke personal- und realplebiszitär verwendet; vgl. etwa Badura, in: Bonner Komm. (Zweitbearbeitung), GG, Art. 38 Rz.40, 46. 244 Siehe dazu Badura, in: Bonner Komm. (Zweitbearbeitung), GG, Art. 38 Rz.40. Badura spricht den Wahlen daher insbesondere auch wegen der Orientierung des Wählers an Parteiprogrammen einen realplebiszitären Charakter zu. Dagegen verweist Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 251, im Hinblick auf den Sinn der Wahl auf Äußerungen in der Literatur, wonach es dem Wähler obliege, "einen besseren Mann zu wählen, als er es selbst" sei. Mit diesem alleinigen Hinweis auf das personale Element verschleiert er jedoch die sachinhaltlichen Elemente der Wahl, wie sie in den Partei- und Wahlprogrammen zum Vorschein kommen; vgl. dazu Meyn, Kontrolle, S. 239 Fn.205. 245 Zur Wirkung von Wahlprogrammen und Grundsatzreden aus wahlsoziologischer Sicht siehe die auf die Bundestagswahl von 1976 bezogene Analyse von Schönbach, PVS 18 (1977), S. 36Off. In diesem 18. Band der PVS finden sich zahlreiche wahlsoziologische Beiträge, die sich zwar auf die schon länger zurückliegende Bundestagswahl von 1976 beziehen, jedoch trotzdem für die Analyse des Wählerverhaltens aufschlußreich sind. 246 So Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S.174. 247 Zur Mitwirkung der Parteien an der politischen Willensbildung ausführlich Henke, in: Bonner Komm., GG, Art. 21 Rz.65ff., 195; vgl. auch § 1 PartG.

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gleichen sie untereinander aus und bieten auch ihrerseits gerichtet auf das Gemeinwesen Lösungsansätze für Problemstellungen an. 248 Diese Tlitigkeit der Parteien verdeutlicht § 1 Abs.3 PartG, wonach die Parteien ihre Ziele in politischen Programmen niederlegen. 249 "Erst die Bündelung und Ausrichtung der Meinungsvielfalt in unterschiedlichen Parteien ermöglicht eine personale Wahl, die eine sachinhaltliche Parallelität zwischen Wahlern und Gewählten vermittelt". 250 Die Wahl einer bestimmten Partei ist also neben der Zustimmung zu Personen, nämlich den von der Partei aufgestellten Kandidaten, auch eine Stellungnahme zu Sachfragen. Auch das sogenannte personale Element einer Wahl beinhaltet nicht einfach eine Entscheidung zugunsten von Mandatsbewerbern, sondern umfaßt mehr. Denn beim personalen Element der Wahl ist für den Wähler die persönliche Geeignetheit aller Mandatsbewerber einer Partei nicht gleichermaßen ausschlaggebend. Der Spitzenkandidat einer Partei bzw. deren Parteiführer 251 hat nämlich eine so herausgehobene Stellung, daß das Bild seiner Person das der anderen Bewerber der Partei überlagert bzw. zumindest mit prägt. Das gilt auch in bezug auf die Wahlkreiskandidaten. 252 Die Wahl des Bundestages beinhaltet daher neben der Entscheidung über die parteiVgl. Ehmke, "Staat" und "Gesellschaft" als verfassungstheoretisches Problem, S.47. Nach Henke, in: Bonner Komm., GG, Art. 21 Rz. 60, unter Bezugnahme auf Seifert, Die politischen Parteien im Recht der Bundesrepublik Deutschland, S. 85, 97, sind die in § 1 PartG enthaltenen Rechte jedoch keine Aufgaben, geschweige denn Pflichten der Parteien. 250 Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 105. 251 Die Wichtigkeit des Parteiführers heben vor allem Badura, in: Bonner Komm. (Zweitbearbeitung), GG, Art. 38 Rz. 47 und Achterberg, Das rahmengebundene Mandat, S. 12f., hervor. Meyn, Kontrolle, S. 293 Fn. 396, betont dagegen, daß zwar in der sozialwissenschaftlichen Literatur, wie bei M. Müller, Fraktionswechsel im Parteienstaat, S. 75, immer wieder die Auffassung vertreten werde, daß der Wähler sich am Image der Spitzenpolitiker orientiere, dies aber von der soziologischen Forschung nicht bestätigt werden würde; vgl. dazu Schönbach, PVS 18 (1977), S. 360,380, der herausstellt, daß die CDU im Wahlkampf 1976 weder besonders mit ihrem Kanzlerkandidaten Kohl noch mit Leistungen anderer Politiker der CDU geworben habe, und Kaltefleiter, Vorspiel zum Wechsel, S. 201, der in seiner Analyse der Bundestagswahl von 1976 auf den prozentualen Unterschied von 6 1/2 Prozent zwischen dem Stimmenanteil der SPD und der "plebiszitären" Zustimmung zu H. Schmidt verweist. 252 Zwar erweitert die Erststimme den Gestaltungsraum des Wählers dahingehend, daß er seine Stimme nicht nur einer unveränderbaren Landesliste einer Partei geben, sondern auch eine einzelne Person als Wahlkreisabgeordneten wählen kann. Das geltende "personalisierte Verhältniswahlrecht" ändert aber nichts daran, daß es bei der Wahl letztlich nicht auf die Person des Wahlkreisbewerbers, sondern auf seine Parteizugehörigkeit und den Spitzenkandidaten der Partei ankommt; vgl. Schreiber, Hdb. des Wahlrechts, § 4 Rz. 1; Reese, APuZ B 38n6, S. 7; Rausch, Der Abgeordnete, S. 68 f. Inwiefern überhaupt viele Wähler sich des Unterschiedes von Erst- und Zweitstimme bewußt sind, soll hier im übrigen nicht erörtert werden. Bei einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im September 1972 antworteten auf die Frage: "Gibt es im Bundestag einen Abgeordneten, der speziell den hiesigen Wahlkreis vertritt?" 54 Prozent mit "Ja", 7 Prozent mit "Nein" und 39 Prozent mit "Weiß nicht"; siehe Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1968-1973 (Hrsg. v. Noelle/Neumann), S.250; zur Unkenntnis vieler Wahlbürger über die Bedeutung der beiden Stimmen, insbesondere der Zweitstimme siehe Fuchs-Wissemann, DRiZ 1981, S. 325 f.; zur Kritik am Zweistimmensystem siehe Schreiber, Hdb. des Wahlrechts, § 4 Rz. 1 Fn. 1 m. w. N. 248 249

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mäßige, durch Abgeordnete verkörperte Zusammensetzung des Parlaments vor allem die Bestimmung des Bundeskanzlers und der von ihm gebildeten Bundesregierung. Insofern kann man von "Kanzlerwahlen"2S3 sprechen. Dabei ist jedoch für die Entscheidung des Wählers nicht ausschließlich die persönliche Qualität des Kanzlerkandidaten maßgeblich, sondern der Kanzlerkandidat steht in den Augen des Wählers für seine Partei und den von ihr vertretenen Standpunkten zu Sachfragen. Das Kanzlerelement der Wahl entfaltet seine Wirkung nicht nur bei den großen Volksparteien CDU/CSU und SPD, die derzeit allein eine wirkliche Chance haben, den Kanzler zu stellen, sondern kommt auch bei den kleineren Parteien dadurch zum Tragen, daß sie vor der Wahl (meist) eine Koalitionsaussage treffen. Der Wähler dieser Parteien wählt also einen Kanzler der großen Partei, in dessen Politik aber die Vorstellungen der kleinen Partei verwirklicht werden sollen. 254 Dementsprechend richtet der einzelne Mandatsbewerber seinen Wahlkampf nicht selten an den politischen Aussagen des Spitzenkandidaten aus. (2) Gibt es Erkennungsmerkmale des Volkswillens in bezug auf die personalen und sachinhaltlichen Elemente? In Anbetracht der Tatsache, daß es diese für die Entscheidung des Wählers ausschlaggebenden personalen und sachinhaltlichen Gesichtspunkte bei der Wahl gibt, richtet sich der Blick im folgenden darauf, ob diese unterschiedlichen Merkmale, genauer gesagt die einzelnen Motive und Willen der Wähler, so klar hervortreten können, daß es bei einer Wahl einen diesbezüglichen empirischen faßbaren Volksbzw. Wählerwillen gibt. Es stellt sich die Frage, ob die Wahl als solche in himeichendem Maße und deutlich genug ausgeprägt einen entsprechenden politischen Aussagewert enthält. Nur wenn diese Frage der Aussagefähigkeit der Wahl bejaht werden sollte, wäre im Anschluß daran zu untersuchen, welche verfassungsrechtlichen oder quasiverfassungsrechtlichen - etwa in Fonn einer Konventionalregel - Folgerungen sich aus der Erkennbarkeit eines solchen Wählerwillens für den Handlungsspielraum des Alt-Bundestages ergeben. Für die Beantwortung der Frage, ob das Ergebnis der Wahl einen klaren Volkswillen in bezug auf die personalen und sachinhaltlichen Elemente zum Vorschein kommen läßt, ist zuvor aber deutlich zu machen, was unter dem Begriff Volkswille zu verstehen ist. Spricht man im Zusammenhang mit der Wahl vom Volkswillen, wird darunter genaugenommen der Wille der Wähler verstanden. Denn nicht das gesamte Volk, sondern nur ein Ausschnitt, eben das Wahlvolk, dem beispielsweise alle Minderjährigen nicht angehören, darf an der Wahl teilnehmen. Von allen bei der Wahl abgegebenen Stimmen, sprich geäußerten Willen, ist letztlich natürlich nur der Wille we253 Jarass, Politik und Bürokratie als Elemente der Gewaltenteilung, S. 66. Nach Yogel/Nohlen/Schultze, Wahlen in Deutschland, S. 239, sind Bundestagswahlen vor allem ,.Kanzlerwahlen". 254 Y gl. Jarass, Politik und Bürokratie als Elemente der Gewaltenteilung, S. 66 f.

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sentlich, der die Mehrheit der Stimmen der Wähler hinter sich hat. Nur von diesem Willen kann man wegen der Geltung des Mehrheitsprinzips überhaupt sagen, daß er eine wirkliche Chance hat, in Anbetracht der Mehrheitsverhältnisse im neuen Bundestag zum Vorschein zu kommen und "sich durchzusetzen". Im Grunde genommen ist also der Wille der Mehrheit der Wähler oder - vereinfacht ausgedrückt - der Mehrheitswählerwille mit seinen politischen Zielvorstellungen das entscheidende Erkennungszeichen für einen bei der Wahl hervortretenden Volkswillen. 25S Dieser Mehrheitswählerwille läßt sich, wenn überhaupt, jedoch nur anhand der auf die Parteien verteilten Anteile von Wählerstimmen erkennen. Denn nur die von einer Mehrheit gewählte Partei bzw. Parteienkoalition und die dazu gehörenden Abgeordneten werden wegen ihres mehrheitlichen Stimmenanteils im Bundestag über die Macht verfügen und in die Lage versetzt, den bei der Wahl geäußerten Volkswillen zum erkennbaren Staatswillen, beispielsweise in Form eines Gesetzes, zu machen. Der Mehrheitswählerwille im Zeitpunkt der Wahl müßte daher in einer direkten Beziehung zum "Willen" der Mehrheitsparteien stehen, damit bereits das Ergebnis der Bundestagswahl einen feststellbaren politischen Aussagewert hat. Bei einer Deckungsgleichheit des Willens der Wähler und des Willens der von ihnen gewählten Parteien wäre der Wählerwille unmittelbar in Form des Parteiwillens erkennbar. Es stellt sich daher die Frage, ob allein der "Wille" der Mehrheitsparteien 2S6 , wie er etwa in deren Parteiprogrammen und in den Äußerungen zu zentralen Wahlkampfthemen zum Vorschein kommt, bereits als Mehrheitswählerwille angesehen werden kann oder ob nicht zwischen dem "Willen" der Parteien, die die Stimmenmehrheit errungen haben, und dem Willen ihrer Wähler unterschieden werden muß. (3) Ist der Wählerwille dadurch faßbar, daß er stets mit dem Willen der von ihm gewählten Partei gleichzusetzen ist? Meyn 257 vertritt die Ansicht, der Wähler wolle zwar seinen eigenen politischen Willen durch die Wahl zum Ausdruck bringen, dies aber ausschließlich über die Wahl einer Partei tun. Daher wolle er nicht den eigenen, sondern den Willen der Partei repräsentiert wissen, sprich, er wolle das, was die von ihm gewählte Partei will. Die Repräsentanten könnten nämlich den Volkswillen verfassungstheoretisch nur dadurch repräsentieren, daß die Parteien die Vielzahl der Einzelwillen bündelten. Diese Bündelung und die Schaffung einer "legitimationsfähigen Verbindung" zwischen "der Vielheit der individuellen politischen Willen der Staatsbürger und dem 255 Vgl. Scheuner, Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, S. 380f. 256 Im folgenden wird der Einfachheit halber davon ausgegangen, daß nicht eine, sondern mehrere Parteien zusammen (im Bundestag) über die Mehrheit verfUgen. Grundsäztlich kann natürlich auch eine Partei allein die absolute Mehrheit der Bundestagssitze erringen; dies ist jedoch erst einmal, nämlich bei den Bundestagswahlen 1957 den Unionsparteien CDU/CSU, gelungen. 257 Meyn, Kontrolle, S. 29lf., insb. Fn.393 und 394.

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Willen der Entscheidungsträger" ließe sich nicht ohne Annahmen bewältigen, "die die Vielfalt der sozialen Wirklichkeit einebnen und damit Fiktionen darstellen".258 Wenn Meyn der Auffassung ist: "Die Aufgabe der Verfassungstheorie besteht aber darin, das Ausmaß dieser Fikton in annehmbaren Grenzen zu halten,,,259 dann ist er dieser Aufgabe nicht gerecht geworden, sondern hat die Grenzen der Fiktion überschritten. Zumindest ist diese fiktive Annahme für eine einigermaßen wirklichkeitsnahe Betrachtung des Wählerwillens unbrauchbar. Auch wenn die Ansicht, der Wähler wolle den eigenen und nicht den Willen der Partei repräsentiert sehen, das Problem in sich birgt, daß der einzelne Wählerwille schwerer als der Wille der von ihm gewählten Partei feststellbar ist, kann dies nicht jenseits der Wirklichkeit zu dem Schluß führen, der Wähler wolle nur den Willen der Partei repräsentiert wissen. Zwar läßt sich dadurch methodisch leichter der bei der Darstellung der Repräsentation auftretende "Widerspruch zwischen der Vielheit der individuellen politischen Willen der Staatsbürger und dem Willen der Entscheidungsträger"260 auflösen, aber mit dieser Annahme übergeht man den tatsächlichen Willen des Wählers. Bei der Wahl kann der Bürger seinen Willen nur dahingehend äußern, ob er für die eine Partei - genaugenommen Liste einer Partei 261 - oder für eine andere Partei ist. 262 Aber deshalb macht er sich den "Gesamtwillen" der Partei mit ihrem Parteiprogramm noch lange nicht zu eigen. Insofern ist Achterberg zuzustimmen, der die Ansicht vertritt, man könne nicht von einer steten Übereinstimmung zwischen dem Willen des Staatsbürgers und demjenigen der von ihm gewählten Partei und Abgeordneten ausgehen. 263 Der Staatsbürger wolle in Wahrheit nicht den Willen der Partei, sondern seinen eigenen repräsentiert sehen. Daher ist die Fiktion einer steten Übereinstimmung von Wählerund Parteiwillen wirklichkeitsfremd und somit abzulehnen. Der Wählerwille ist also nicht dadurch faßbar, daß er stets mit dem Willen der von ihm gewählten Partei gleichzusetzen ist.

Meyn, Kontrolle, S. 292. Meyn, Kontrolle, S. 292. 260 Meyn, Kontrolle, S.292. 261 Die Erststimme bleibt hier außer Betracht. 262 Natürlich kann er auch bewußt einen leeren oder ungültigen Stimmzettel abgeben. 263 Siehe Achterberg, DVBl. 1974, S. 693, 702: "Da der Wille des Staatsbürgers bis zu seiner Umsetzung in denjenigen des Staats doppelt mediatisiert ist, besteht vielmehr die doppelte Möglichkeit mangelnder Koinzidenz. Der Wille des Wählers und derjenige der von ihm gewählten Partei können ebenso divergieren wie der Wille der Partei und derjenige des Parlaments"; vgl. auch AchterberglSchulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 38 Rz. 38. 258

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(4) Ist der Wählerwille in bezug auf einzelne personale und sachinhaltliche Elemente der Wahl faßbar? Gleichwohl ist es nicht ausgeschlossen, daß der Mehrheitswählerwille bezüglich einzelner, ganz konkreter personaler oder sachinhaltlicher Elemente der Wahl zum Vorschein kommen könnte. Bei der Feststellung des diesbezüglichen Wählerwillens ergeben sich jedoch Schwierigkeiten auf Grund der Komplexität vieler Themen und der Allgemeinheit und Unbestimmtheit von Wahlkampfäußerungen und Aussagen in Partei programmen. Ebenso wie die Stellungnahmen der Parteien im Wahlkampf enthält das Parteiprogramm - "aus wahltaktischen, aber auch aus anderen Gründen, wie der mangelnden Zukunftserkennbarkeit, der Weite des Wählerspektrums oder innerparteilichen Kompromißbildung -lediglich Grund- und Rahmenaussagen" .264 Die Wahl einer Partei ist aus Sicht des Wählers in vielen Punkten häufig also nicht mehr als eine Richtungswahl. Nimmt eine Partei zu einem Thema überhaupt nicht Stellung, läßt sich diesbezüglich nicht einmal von einer Richtungswahl sprechen. Bei sehr komplexen Fragen läßt sich ein einheitlicher Wille der Wähler praktisch gar nicht bestimmen. Beispielsweise gibt es im Bereich des Steuer- und Sozialrechts viele Themen, die sehr vielschichtig und schwer durchschaubar sind, und bei denen der Wähler nur sehr allgemein eine Vorstellung von der Lösung eines Problems und der zu treffenden Entscheidung hat. Hier könnte sich höchstens eine sehr allgemeine Stellungnahme der Wähler aus dem Wahlergebnis ableiten lassen. Es gibt aber auch zu klärende Fragen, die vom Wähler bei der Wahl mit Ja oder Nein "beantwortet" werden können. Ihre "Beantwortung" hat plebiszitären Charakter und ergibt sich sozusagen im Rahmen einer Frage-Antwort-Beziehung. 265 Die Wahl könnte man dann als vom Wähler zu äußernde Zustimmung oder Ablehnung der Haltung einer Partei zu einem Thema betrachten. Eine Partei vertritt einen Standpunkt zu einem Thema und fragt den Wähler, ob er ihre Haltung zu diesem Thema bejaht. Es handelt sich dabei fast immer um Fragen, bei denen eine Grundsatzentscheidung zu treffen ist, wie etwa die Befürwortung oder Ablehnung des Nato-Doppelbeschlusses, der zivilen Nutzung der Kernkraft oder der Einführung des Euro verbunden mit der Abschaffung der Deutschen Mark. 266 Eine Zustimmung zu einer solchen Änderung kann in den meisten Fällen wohl nicht mehr als eine Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 105. Böckenförde, in: Hdb. des Staatsrechts, § 30 Rz. 4, weist darauf hin, daß jeder sich bestimmt artikulierende Volkswille notwendigerweise Antwortcharakter hat. Er nimmt den Gedanken von Kaufmann, Zur Problematik des Volkswillens, S. 12, auf, wonach das Volk aus sich heraus keine Inhalte schaffen kann - auch nicht bei Volksabstimmungen, sondern nur fähig ist, auf gestellte Fragen mit Ja und Nein zu antworten. 266 Dieses plebiszitäre Element der Wahl wird immer wieder für die erste Bundestagswahl v. 14. August 1949 fruchtbar gemacht. Das deutsche Volk - bzw. die Wählerschaft - habe das Grundgesetz angenommen und damit legitimiert, indem es zu über 50 Prozent den Parteien seine Stimme gegeben habe, die das Grundgesetz befürworteten; vgl. etwa Mußgnug, in: Hdb. des Staatsrechts, § 6 Rz. l00ff.; a. A. P. M. Huber, in: Sachs, GG, Präambel, Rz. 17 und Art. 144 Rz.4. 264

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recht allgemein gehaltene richtungs weisende Befürwortung verstanden werden, während es sich bei einer Ablehnung wohl meistens um eine klare Absage handeln dürfte, die keiner weiteren Auslegung bedarf. Folglich ließe sich damit aus der Entscheidung des Wahlers für eine bestimmte Partei und die von ihr aufgestellten Kandidaten auf seine Haltung zu einem Sachthema rückschließen. Der Wähler könnte also seinen Willen kundgetan haben, wie über eine bestimmte Frage in Zukunft entschieden werden soll. Doch stellt sich auch hier die Frage, anhand welcher Merkmale die Stellungnahme der Wahler zu dem zu "beantwortenden" Thema aus dem Wahlergebnis herausgelesen werden kann. Jede Sachfrage - wie auch beispielsweise die Frage, welchen Kandidaten die Mitglieder des Bundestages zum Kanzler wählen sollen -liegt dem Wähler ja nicht ausdrücklich zur Beantwortung bzw. zur Entscheidung vor. Auf dem Stimmzettel finden sich ja nur die Namen der Parteien und ihrer Kandidaten. Mit der Stimmabgabe für eine Partei geht aber nicht einher, daß der Wähler auch alle Standpunkte der Partei befürwortet oder sich zumindest ihrer Haltung zu einem bestimmten Sachthema, selbst wenn es den Wahlkampf ganz und gar beherrscht hat, anschließt. Der Wähler kann einer Partei aus ganz verschiedenen Gründen seine Stimme geben. Im äußersten und sicherlich nicht seltenen Fall hat ein Wähler zu einem bestimmten Thema überhaupt gar keine Meinung und ist damit in dieser Hinsicht willenlos. Häufig ist für die Wähler einfach nur das allgemeine Erscheinungsbild einer Partei wichtig oder ihnen hat allein der Spitzenkandidat gefallen. Denn viele Wähler finden ihre politischen Ansichten nicht in den Parteiprogrammen und Wahlkampfausagen wieder, sondern stimmen meist nur mit Teilen eines Programms überein. Bei der Wahl einer Partei gehen daher die Wähler immer auch einen Komprorniß ein. Wer also eine Partei bzw. dessen Kandidaten wählt, sieht seine Interessen nur teilweise vertreten. Aufschluß über die Gründe für die Wahlentscheidung könnte allenfalls noch eine demoskopische Analyse des Wählerverhaltens geben. Doch auch diese wird den Wählerwillen nicht zutage fördern können. Zum einen können systemimmanente Probleme von Umfragen, wie die Art der Fragestellung, zu einer Verfalschung der tatsächlichen Meinung der Befragten und damit zu einem unbrauchbaren Ergebnis der Umfrage führen. 267 Zum anderen ist es möglich, daß der Wahlerwille in der Wahlkabine und der bei einer anschließenden Befragung kundgetane Wille auseinanderfallen. Denn eine Wahl trägt auch emotionale Elemente in sich. 268 Wenn also der Wähler sich für eine Partei entscheidet, kann dies aus Gründen des momentanen Empfindens geschehen, ohne daß er eine klare Meinung zu dieser Partei oder einem Sachthema, zu dem auch die Partei Stellung genommen hat, hätte. Genauso ist es möglich, daß sich seine Meinung zu einem bestimmten Thema immer wieder än1h7 Zur politischen Meinungsforschung allgemein, insbesondere zur Manipulation der Demoskopie für politische Zwecke siehe Oberndörfer, Politische Meinungsforschung und Politik, S. 13 ff. 1h8 Siehe dazu die Auswertung von Umfragen bei Hirsch-Weber/Schütz, Wähler und Gewählte, S. 338 ff.

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dert. 269 Die Wahlhandlung ist also ein punktueller Akt, bei dem sich der konkrete Wäh\erwille allein in dem einzigen Augenblick der Wahlhandlung, also des Kreuzsetzens, äußert. Jede Abfrage des Wählerwillens vor oder nach der Wahl muß nicht mit dem Wählerwillen im Zeitpunkt der Wahl übereinstimmen. Daher läßt sich auch ein konkreter Mehrheitswählerwille bezogen auf ein bestimmtes Sachthema nicht aus der Wahl ableiten, da der Wille der einzelnen Wähler nicht feststellbar ist. Das gleiche Ergebnis ergibt sich natürlich auch in bezug auf jede vom Bundestag vorzunehmende Personenwahl. Auch wenn der Wähler eine bestimmte Partei wählt, steht damit noch nicht fest, daß er in einem bestimmten Amt die von der Partei dafür vorgeschlagene Person sehen will. Das Wahlergebnis läßt daher überhaupt gar keine Rückschlüsse auf den Willen der einzelnen Wähler hinsichtlich einzelner Themen - wie auch der Bildung der Regierung - zu, da die Beweggründe der Wähler nicht erkennbar sind. Es enthält also keine konkreten Aussagen, anhand deren der Alt-Bundestag inhaltlich seine Politik ausrichten könnte. Denn ein diesbezüglicher Wählerwille ist nicht feststellbar. (5) Die Wahl als sich unmittelbar auswirkender Kontrollakt der Wähler: Kann aus dem Wahlergebnis eine Absage an die von der bisherigen Mehrheit betriebenen Politik herausgelesen werden? Die Wahl könnte jedoch ausschlaggebend dafür sein, ob der Alt-Bundestag überhaupt noch tätig werden darf. Ginge man davon aus, daß die Wahl die Funktion einer sich unmittelbar auswirkenden Kontrolle der Tätigkeit des Bundestages durch die Wählerschaft beinhaltet, dann ließe sich aus der Wahl folgende Wirkung ableiten: Behält die bisherige Parteienmehrheit ihren Stimmenvorsprung bei, dann darf auch der Alt-Bundestag weiter tätig sein. Verliert sie ihr Mehrheit, dann hat das Volk deutlich gemacht, daß es die Fortsetzung der von der bisherigen Mehrheit betriebenen Politik nicht wünscht und der Alt-Bundestag müßte seine Tätigkeit einstellen. Nur wenn der Wahl eine Ablehnung der durch die bisherige Mehrheit betriebenen Politik entnommen werden kann, könnte dies für den Alt-Bundestag die wie auch immer rechtlich einzuordnende Wirkung haben, daß er die ihm formell zustehenden Rechte nicht wahrnehmen darf. Im Hinblick auf die Tätigkeit des Alt-Bundestages ist daher der Frage nachzugehen, ob die Wahl eine sich unmittelbar auswirkende Kontrolle beinhaltet, der ein Aussagewert für das Recht des Alt-Bundestages zum Handeln innewohnt. Zur Erörterung dieser Frage muß aber zunächst einmal klargestellt werden, was der Begriff der Kon269 Wollte man vor einem Wahllokal eine Umfrage zu den Gründen für die Wahlentscheidung der Wähler durchfUhren, kann ein nur seiner Stimmung folgender Wähler bereits bei Verlassen des Wahllokals seine Meinung bezüglich eines Sachthemas oder der von ihm gewählten Partei wieder geändert haben. Zu den wahlsoziologischen Methoden und Schwierigkeiten der Suche nach den GrUnden des Wahlverhaltens siehe v. Winter, Politische Orientierungen und Sozialstruktur, S. 41 ff.

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trolle in diesem Zusammenhang bedeutet. 270 Schreibt man der Wahl die Funktion der Kontrolle politischer Herrschaft zu, genügt es nicht, in der Kontrolle ganz allgemein einen "Bestimmungsakt über Herrschaftsausübung"271 zu sehen. Der Begriff der Kontrolle muß enger gefaßt werden, damit er sich "in irgendeiner Weise von der politischen Inhaltsbestimmung durch Entscheidung" abhebt. 272 Wenn man mit Scheuner unter Kontrolle "die Überprüfung des Handeins selbständig entscheidender Instanzen durch eine andere Stelle" versteht, "der gegenüber der Träger der Entscheidung Rechenschaft schuldet",273 dann könnte man in der Wahl eine Kontrolle der Politik des Bundestages und damit auch der Politik der aus dem Parlament hervorgehenden Regierung durch die Aktivbürgerschaft sehen: Die Abgeordneten und Parteien legen im Vorfeld der Wahl Rechenschaft über ihre Leistungen ab und der Wähler fällt bei der Wahl sein Urteil darüber. 274 Denn das Parlament steht zum Volk in einer Verantwortlichkeitsbeziehung, aus der heraus dem Volk durch die periodisch wiederkehrende Wahl ein demokratisches Kontrollmittel zur Verfügung steht. Verantwortung und Kontrolle sind insofern das "Gegengewicht jedes im demokratischen Staate erteilten Mandates zum Handeln für die Gesamtheit". 275 Kontrolle ist als eine Art "Gegenmacht"276 anzusehen, die nötig ist als Ersatz für die eigentlich wünschenswerte, aber utopische 277 unmittelbare Selbstentscheidung des Volkes. 278 270 Wie bereits im vierten Kapitel BIll dargestellt, gibt es keinen einheitlichen Gebrauch des Wortes Kontrolle. Frenkel, Institutionen der Verwaltungskontrolle, Einleitung Rz.6, verweist auf folgende sinngemäße Verwendungsarten des Kontrollbegriffs: Herrschaft, Leitung, eine Situation in der Hand haben, Lenkung, Aufsicht, Überwachung, Inspektion und Prüfung. Daher kann es hier nur darum gehen aufzuzeigen, mit welcher Bedeutung der Kontrollbegriff im vorliegenden Zusammenhang verwendet wird. 271 Meyn, Kontrolle, S.271. 272 Vgl. Meyn, Kontrolle, S.271. 273 Scheuner, Kontrolle der Staatsrnacht, S. 26, der jedoch diese Umschreibung von Kontrolle lediglich auf das Verhältnis der drei staatlichen Gewalten zueinander bezieht; siehe Scheuner, Kontrolle der Staatsrnacht, S. 28 ff.; kritisch dazu Meyn, Kontrolle, S. 284 ff. Scheuner hatte sich im übrigen schon zuvor mit dem Kontrollbegriff auseinandergesetzt; siehe Scheuner, Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, S. 379 ff. 274 BVerfGE 24, S. 300, 348, weist insofern auch darauf hin, daß in einer parteienstaatlichen Demokratie in den Wahlen eine eindeutige politische Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung auch über die bisherige Politik herbeigeführt werden soll. Daher gehöre es zur Funktion der politischen Parteien, "schon in den Jahren vor der Wahl der Abktivbürgerschaft Rechenschaft über die geleistete politische Arbeit in der Vergangenheit" zu geben. 275 Scheuner, Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, S.384. 276 Vor allem Loewenstein, Verfassungslehre, S. 3 ff., 47 f., hebt auf den Machtgedanken bei der Kontrolle ab. 271 Vgl. dazu Böckenförde, in: Hdb. des Staatsrechts, § 30 Rz. 3ff., insb. Rz.12, der begründet, weshalb die Demokratie in ihrer identitär-demokratischen Form untauglich ist, so daß leitende, selbsthandelnde und insofern repräsentative Organe für jedes staatlich-politische Gemeinwesen und daher auch für die Demokratie unabdingbar sind. 278 Für Meyn, Kontrolle, S.198ff., 204, ist "Kontrolle eine notwendige Folge der Realisierung von Demokratie als mittelbarer und repräsentativer Demokratie, indem Kontrolle an die Stelle von eigentlich geforderter Selbstentscheidung tritt".

10 Kochsiek

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Mit der Kontrolle ist also eine Rückschau, Prüfung und Bewertung des Handeins der Abgeordneten - und der Regierung - durch die Wähler gemeint. Der Begriff der Kontrolle könnte auf das Handeln des Alt-Bundestages bezogen dementsprechend nur die Aussage enthalten, daß der Wähler entweder die bisher vom Bundestag betriebene Politik ablehnt, was zur Folge haben könnte, daß der Alt-Bundestag nicht mehr handeln dürfte, da dieser diese Politik zu verantworten hat, oder daß der Wähler die bisherige Politik gutheißt, so daß der Alt-Bundestag tätig sein dürfte. Diese unmittelbare Kontrolle würde dann aber voraussetzen, daß aus dem Wahlergebnis eine Absage an die von der bisherigen Mehrheit betriebenen Politik oder ihre Befürwortung herausgelesen werden kann. Auch die Wahrnehmung der Kontrolle könnte, wenn überhaupt, nur an der prozentualen Veränderung der Stimmenanteile der Parteien im Bundestag festgestellt werden. Ein anderer Maßstab steht nicht zur Verfügung. Falls also die Parteienmehrheit im bisherigen Bundestag zur Minderheit im neuen Bundestag wird, könnte man daraus möglicherweise die Aussage ableiten, daß der Wähler eine Fortsetzung der bisherigen Politik nicht wünscht, so daß die bisherigen Abgeordneten eventuell nicht mehr tätig werden dürften. Je stärker sich die Mehrheitsverhältnisse ändern, desto deutlicher wäre die im Rahmen der Ausübung der Kontrolle ausgedrückte Unzufriedenheit. Davon läßt sich jedoch nur dann ausgehen, wenn eine Änderung der Mehrheitsverhältnisse in jedem Fall als Ausdruck der Wahrnehmung der Kontrolle und damit als eine Ablehnung der bisher betriebenen Politik verstanden werden kann. Bereits in dem wohl naheliegensten Fall eines Mehrheitswechsels, nämlich dem, daß die bisherige Parteienmehrheit im Bundestag Stimmenverluste hinnehmen muß und andere Parteien die Mehrheit der Sitze erringen, kommen Zweifel an der Aussage auf, der Wähler habe die Wahl als Kontrollmittel genutzt und infolgedessen der Politik der bisherigen Mehrheit eine Absage erteilt. Es tritt nämlich wieder das unlösbare Problem auf, einen Bewertungsmaßstab für die Erkennbarkeit des dargestellten KontrollwiIIens der Wähler zu finden. Auch für das Kontrollelement der Wahl gilt nichts anderes als für die bereits erörterte, in der Wahl enthaltene inhaltliche Entscheidung des Wählers über die zukünftige Politik. Es kann viele, empirisch nicht feststell bare Motive der Wähler bei der Stimmabgabe geben, die zur Entstehung einer neuen Mehrheit führen. Beispielsweise kann ein Wähler mit der bisherigen Politik zufrieden sein, aber für die Zukunft gefällt ihm das Programm einer anderen Partei besser, so daß er diese wählt. Ebenso ist es durchaus möglich, daß ein Wähler mit der bisherigen Politik einer Partei unzufrieden ist und insofern die bisherige Mehrheit im Sinne der Wahrnehmung der Kontrolle eigentlich abwählen müßte, jedoch wegen des neuen Wahlprogramms auf Besserung hofft und sich deshalb gegen die Abwahl entscheidet. Deshalb kann bei einem Wahlkampf, in dem die bisherige Parteienmehrheit nicht mit erbrachten Leistungen, sondern mit auf die Zukunft gerichteten Wahlkampfthemen, und in dem die bisherige Minderheit bzw. Opposition ebenfalls nicht mit ihren nicht verwirklichten politischen Alternativen der

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Vergangenheit wirbt,279 die Wahl schlechterdings nicht mehr als Kontrolle, also als Bewertung der bisherigen Politik angesehen werden. Der Wähler wird in diesem Fall seinen Blick, beeinflußt durch den Wahlkampf, vorwiegend oder allein der zukünftigen Politik zuwenden, insbesondere wenn eine grundlegende politische Entscheidung ansteht. Vor allem wenn die Parteien mit neuen Spitzenkandidaten in den Wahlkampf ziehen, wird der Wähler seine Wahlentscheidung vermutlich nicht an der Politik des alten Bundestages bzw. der alten Regierung ausrichten, sondern sich an den neuen Spitzenkandidaten und ihren Wahlkampfaussagen orientieren. Findet die Wahl unter solchen Verhältnissen statt, zeigt es sich besonders deutlich, daß die Änderung von Mehrheiten nicht im direkten Zusammenhang mit der Ablehnung der bisherigen Politik der Parteienmehrheit stehen muß. Zwar wählt der Bürger bei der Bundestagswahl nicht den Bundeskanzler, aber die durch den Bundestag vorzunehmende Wahl des Bundeskanzlers bestimmt nicht unerheblich oder sogar maßgeblich die Entscheidung des Wählers zugunsten einer Partei. Geht man einmal davon aus, daß für ziemlich viele Wähler der Kanzlerkandidat ausschlaggebend für die Entscheidung zugunsten einer Partei ist, dann wäre im Falle eines Mehrheitswechsels nicht verständlich, warum der Alt-Bundestag seine Tätigkeit einstellen sollte, wenn es ihm doch gar nicht obliegt und gegebenenfalls auch nicht möglich ist,280 die Wahl des neuen Bundeskanzlers durchzuführen. Zwar machen die Wähler auch in diesem Fall deutlich, daß sie die Fortsetzung der alten Politik nicht wünschen, aber dies bezieht sich vornehmlich auf die Tätigkeit der Bundesregierung bzw. des Bundeskanzlers, nicht aber des alten Bundestages. Natürlich könnte man die genauen, äußerlich nicht erkennbaren Beweggründe für das Wählerverhalten einfach außer acht lassen, und eine Änderung der Mehrheitsverhältnisse grundsätzlich so auslegen, daß die Wähler jedenfalls eine Fortschreibung der Politik durch die bisherige Mehrheit nicht wollen, sondern es ihnen um eine neue Politik geht, nämlich eine Politik, die sich eben nur im neuen Bundestag mit den neuen Mehrheiten verwirklichen läßt - und sei es auch lediglich eine neue Politik, die im wesentlichen .durch die Wahl eines neuen Bundeskanzlers realisiert wird. Für den Alt-Bundestag würde das bedeuten, daß er seine Tätigkeit bei jedem Mehrheitswechsel einzustellen hätte und dem neuen Bundestag die Aufgabenwahrnehmung überlassen müßte, weil sich nur in ihm die neue Politik verwirklichen läßt. Aber bei einer solchen Auslegung der Änderung von Mehrheitsverhältnissen mit der Folge, daß der Alt-Bundestag zum Nichttätigwerden gezwungen wäre, könnte es zu einem Auseinanderfallen des -letztlich willkürlich - angenommenen Wählerwillens und des tatsächlichen Wählerwillens kommen. Denn wie sich aus der fol279 Beispielsweise stelltSchönbach, PVS 18 (1977), S.360, 391, fest, daß die CDU/CSU im Wahlkampf 1976 nicht auf die Gesetze, die sie eingebracht, verändert oder verhindert hat, hingewiesen habe, sondern ihr Blick eindeutig nach vom auf die Zukunft gerichtet gewesen sei. 280 Beispielsweise weil der Spitzenkandidat der neuen Mehrheit gar nicht Mitglied des AltBundestages ist. 10*

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genden Überlegung ergibt, läßt sich aus einer Änderung von Mehrheitsverhältnissen nicht in jedem Fall der Schluß ziehen, daß der Wähler eine neue durch andere Mehrheiten zu realisierende Politik wünscht. Wenn alle Parteien ungefähr die gleichen Prozentanteile wie bei der letzten Wahl erhalten und insofern die "alten" Mehrheitsverhältnisse sich mehr oder minder nicht geändert haben, kann es trotz gleichbleibender Stimmenverteilung zu neuen Koalitionen und damit letztlich doch zu einer Änderung der Mehrheitsverhältnisse kommen. Haben die Parteien die neue Koalition schon vor der Wahl angekündigt, darf man noch davon ausgehen, daß der Wähler diese Aussagen in seine Wahlentscheidung einbezogen und sie gutgeheißen hat. Können sich dagegen die bisherigen Koalitionsparteien erst nach der Wahl auf eine gemeinsame Politik nicht einigen und kommt es deshalb zum Koalitionswechsel, dann ist es so gut wie ausgeschlossen, daß der Wähler eine durch den Mehrheitswechsel herbeigeführte neue Politik in seinen Willen aufgenommen hat. Denn vor der Wahl wußte er nichts von einem anstehenden Koalitionswechsel und daher konnte der Mehrheitswechsel seinen Willen gar nicht umfassen. In diesem Fall von einer Ablehnung der bisherigen Politik durch den Wähler mit den aufgezeigten Folgen für den Alt-Bundestag auszugehen, würde bedeuten, den tatsächlichen, wohl eher entgegengesetzten Wählerwillen bewußt außer acht zu lassen und zu übergehen. Darum kann nicht grundsätzlich ein Mehrheitswechsel als Ausdruck einer Ablehnung der bisherigen Politik verstanden werden und er darf folglich auch nicht zum Nichttätigwerden des AltBundestages führen. 281 Würde man im übrigen bei jedem Mehrheitswechsel ein Tätigwerden des AltBundestages mit der Begründung verbieten, der Mehrheitswählerwille sei gegen die Fortsetzung der bisherigen Politik, dann müßte es im Sinne einer allgemein gültigen Regel bei einem im Bundestag auftretenden Mehrheitswechsel grundsätzlich immer zu einer Beendigung der Tätigkeit des Bundestages kommen. Der Bundestag müßte also konsequenterweise auch während der Wahlperiode 282 seine Tätigkeit einstellen, sobald sich eine neue Koalition bildet, sprich sich die Mehrheitsverhältnisse ändern, da auch ein solcher Mehrheitswechsel nicht dem ursprünglichen Wählerwillen entspräche. Dem ist aber gerade nicht so. Art. 67 GG läßt nämlich einen "Mehrheitswechsel" , der im Rahmen des konstruktiven Mißtrauensvotums in der Wahl eines neuen Bundeskanzlers sichtbar wird, während der Wahlperiode ausdrücklich zu, ohne daß dies Folgen für die Tätigkeit des Bundestages hätte. 281 Ein objektiv betrachtet eindeutiger Mehrheitswechsel auf Grund der Wahl wäre der Fall, daß eine Partei ihre absolute Mehrheit verliert und eine andere diese eningt. Wollte man für diesen Fall dem Alt-Bundestag ein Tatigwerden untersagen, aber- wie dargestellt - nicht dann, wenn trotz Gleichbleibens der prozentualen Verhältnisse im Bundestag sich die Mehrheiten wegen eines Koalitionswechsels ändern, käme man zu einern in sich nicht schlüssigen Ergebnis. Denn trotz Mehrheitswechsels in beiden Fällen ergäben sich unterschiedliche Folgen für den Alt-Bundestag. 282 Also schon in den fast vier Jahren vor der Wahl zum neuen Bundestag.

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Daher enthält das Ergebnis der Bundestagswahl keine Bewertungsgrundlage, aus der sich ergibt, daß der Mehrheitswählerwille gegen eine Fortsetzung der alten Politik sei, so daß der Alt-Bundestag an einem Tatigwerden gehindert wäre. Zum einen läßt sich die Wahl nicht als eine Entscheidung über die Leistungen der bisherigen Mehrheit oder die alternativ angebotene Politik der Minderheit begreifen. Zwar fließt unbestrittenermaßen die von der bisherigen Mehrheit betriebene Politik ebenso in die Wahlentscheidung vieler Wähler ein wie die davon abweichende, jedoch nicht zum Zuge gekommene Politik der Minderheit bzw. die Politik von bisher nicht im Bundestag vertretenen Parteien. Aber es kann dem Wahlergebnis nicht entnommen werden, ob für die Entscheidung jedes einzelnen Wählers das Bild, das eine Partei im Wahlkampf hinsichtlich ihrer zukünftigen Politik abgibt, ausschlaggebend ist oder ob er allein eine Leistungsbewertung im Sinne einer Kontrolle vornimmt oder ob er - was wohl am naheliegensten ist - beides zusammen bei der Stimmabgabe in seinen Willen einfließen läßt. Insofern läßt sich die Wahl gar nicht in einen auf die Zukunft gerichteten Entscheidungs- und einen davon zu trennenden Kontrollakt, der die Bewertung der bisherigen Politik umfaßt, aufteilen. 283 Zum anderen kann man auch nicht ausschließlich anhand von äußeren, objektiven Kriterien, nämlich einem Mehrheitswechsel, darauf schließen, die Mehrheit der Wähler wolle zumindest eine Änderung der Politik, so daß der Alt-Bundestag nicht mehr handeln dürfte. Denn ein Mehrheitswechsel und damit eine personelle und inhaltliche Neuausrichtung der Politik können sich auch vollziehen, ohne daß sie vom Willen des Wählers mitumfaßt wären. Daher steht auch bei einer Änderung der Parteienmehrheitsverhältnisse einem Tätigwerden des Alt-Bundestages nichts im Wege. Insgesamt betrachtet führt dies zu dem Ergebnis, daß es bei der Wahl keinen über die Entscheidung für Mandatsbewerber und Parteien hinausgehende~, erkennbaren Volkswillen gibt. cc) Besteht zwischen den Wählern und Gewählten eine reine Vertrauensbeziehung ?

Aufgrund der gewonnen Erkenntnisse hinsichtlich der Erkennbarkeit des Wählerwillens spricht viel für die in der Literatur geäußerte Meinung, die das Verhältnis der Wählerschaft zu den Regierenden weniger für eine Willens- als vielmehr für eine Vertrauensbeziehung hält. Vor allem Hennis lehnt es ab, das Zustandekommen der demokratischen Repräsentation - und die Bestimmung der Staatsformen - an der Art und Weise der Willensbildung festzumachen. Für ihn ist der Schlüsselbegriff in der repräsentativen Demokratie nicht der Begriff der Volkssouveränität, nicht der Wille, sondern das Amt. 284 Hennis steht unter dem Einfluß des angelsächsischen So auch Meyn, Kontrolle, S. 278ff. Siehe Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, S. 51,54; ähnlich und sich Hennis anschließend Kriele, Einführung in die Staatslehre, S.241; siehe auch Kielmansegg, "Die Quadratur des Zirkels", S.9, 21 ff.; Hättich, Demokratie als Herrschaftsordnung, S.48f. Kritisch zur Anwendbarkeit des Amtsbegriffs auf die Rechtsstellung des Abgeordneten äußert sich neben Badura, in: Bonner Komm. (Zweitbearbeitung), GG, Art. 38 Rz. 27, Isensee, Demokratie, 283

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Staatsrechts und der angelsächsischen politischen Wissenschaft,28S in denen der Gedanke des trust, also des "anvertrauten Amtes", von großer Bedeutung ist. 286 Er hält das Amt für eine "anvertraute Aufgabe",287 die in der Verwirklichung der "Zwecke des Gemeinwesens" bestehe. 288 In der repräsentativen Amtsdemokratie spiele das Vertrauen die maßgebliche Rolle, so daß im Wahlkampf alle Amtsbewerber um das Vertrauen des Wählers rängen. Die Wähler gäben mit ihrer Stimme einem Kandidaten ihr Vertrauen,289 wobei dafür ganz unterschiedliche Gründe maßgeblich sein könnten. Die meisten Bürger würden einen Parteinamen und damit die dahinter stehenden Bewerber wählen, selbst wenn sie diese gar nicht kennen würden, da sie grundsätzlich von deren Qualifiziertheit und Vertrauenswürdigkeit ausgingen. 290 S. 46 ff., der aber letztlich die Qualifikation des Mandats als Amt für sachgerecht hält, wenn er auch darauf hinweist, daß sich im Parlament zwei gegensätzliche Modelle überlagern, nämlich die Amts- und Konkurrenzdemokratie; mit letzterem meint er den Wettkampf der Parteien um die Macht, der sich mit dem Amtsprinzip und der Ausrichtung der Abgeordneten auf das Gemeinwohl seines Erachtens jedoch insofern in Einklang bringen läßt, daß die Wendung des Art. 38 Abs. 1 S.2 GG ..Vertreter des ganzen Volkes" nur ein ethischer Appell sei. 285 Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, S.61, beschreibt die Bedeutung des Amtes in England und den USA. Außerdem verweist er auf die Ausführungen dazu bei Burke, Bristol Adress von 1774, in Works III, S. 19 ff.; Mill, Consideration on representative Government, chapter XII; Bagehot, The English Constitution, insb. No. VIII am Anfang; siehe Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, S. 56. Im übrigen hebt er in diesem Zusammenhang HamiltonlMadisonlJay, The Federalist Nr. 76, hervor: ..The institution of de1egated power implies that there is a portion of virtue and honour among mankind, which may be a reasonable foundation of confidence; and experience justifies the theory". Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, S. 56, führt dazu aus: ..Nur wo diese Theorie in aller Regel von der Erfahrung bestätigt wird, ist repräsentative Demokratie möglich". 286 Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, S.54f., ist der Auffassung, daß .. auf dem Kontinent als Folge des Absolutismus das Willensprinzip den Trustgedanken stärker als in der angelsächsischen Welt zurückgedrängt" habe. Auf Deutschland bezogen fügt er an: ..... die Enge unseres Demokratiebegriffs, der für den Amtsgedanken keinen Raum läßt, scheint nicht zuletzt darin zu liegen, daß der monarchische Obrigkeitsstaat die Kategorie des Amtes für sich allein in Anspruch nehmen konnte"; siehe Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, S.63. Besonders Locke, Two Treatises of Govemment, Part 11, § 156, hat sich mit dem Trustgedanken auseinandergesetzt, allerdings bezogen auf das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive, vgl. dazu Gough, John Locke's Political Philosophy, S.154ff.; Laslett, in: Locke, Two Treatises ofGovemment, S.112ff. 287 Für Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, S.54, ist diese anvertraute Aufgabe bzw. dieses anvertraute Amt Ausdruck für das abendländische Verständnis aller Herrschaft ..als einer der Gerechtigkeit und dem Gemeinwohl verpflichteten Aufgabe". Er zitiert diesbezüglich Burke, Works V, S. 227 f.: .. All persons possessing any portion of power ought to be strongly and awfully impressed with the idea that they act in trust; and that they are to account in that trust to the one great master, author and founder of society". 288 Siehe Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, S. 54. 289 In ähnlicher Weise versteht Sternberger, Grund und Abgrund der Macht, S.185, unter der Wahl "die Bekundung des Zutrauens" und einen ,,Akt der Anvertrauung" . 290 Ähnlich Hofmann, Parlamentarische Repräsentation in der parteienstaatlichen Demokratie, S. 257, der in der Wahl ..ein Vertrauensvotum für die gewählte Vereinigung und ihre Führungsmannschaft" sieht.

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Die mit den Kandidaten verbundene Ideologie spiele nur eine untergeordnete Rolle. 291 Für einen verantwortungsbewußten Politiker bedeute dies, daß er sich gegenüber seinen Wählern vor der Wahl nicht mit den Worten äußern könne: "Ich will Euren Willen tun"; er könne den Willen nämlich gar nicht kennen. Vielmehr könne er nur sagen: "Ich will Euer Vertrauen nicht mißbrauchen". 292 Alle politischen Auseinandersetzungen in der repräsentativen Demokratie seien "weniger Kampf um Willen und Macht als um Vertrauen". 293 Die Volkssouveränität äußere sich dadurch, daß man zur Ausübung der Staatsgewalt des Vertrauens und der Zustimmung der Beherrschten bedürfe, aber sich auch verantworten müsse. Dabei sei Verantwortlichkeit gegenüber dem Wähler nur durch die Einrichtung eines Amtes, das die Pflichten des Amtsträgers festlege, möglich. 294 Die Verantwortlichkeit komme dadurch zum Tragen, daß man sich ständiger Kontrolle und der Kritik für die Amtsführung stelle und gegebenenfalls die Folgen durch Nichtwiederwahl oder Entlassung tragen müsse. 295 Läßt man einmal außer Betracht, daß Hennis den Kommunikationsprozeß während der Wahlperiode unerwähnt läßt und es daher fraglich ist, ob er Repräsentation als einen demokratischen politischen Prozeß versteht,296 verdeutlicht die von Hennis vertretene Ansicht von der demokratischen Amtsrepräsentation, daß sich aus der Wahl kein bestimmter, erkennbarer Volks wille und das bedeutet keine verbindliche Erkenntnis für die zukünftig zu betreibende Politik ableiten läßt. Denn nach seiner Ansicht läßt sich der Wahl nicht mehr als das Vertrauen des Wählers gegenüber bestimmten Amtsbewerbern entnehmen, da eben zwischen Repräsentant und Repräsentiertem lediglich eine Vertrauens- und nicht eine Willens beziehung bestehe. Die Auffassung von Hennis zeichnet insofern ein recht treffendes Bild von dem Verhältnis der Wähler zu den Gewählten und verdeutlicht, daß aus dem Wahl ergebnis für das Handeln des Alt-Bundestages nichts Erkennbares herausgelesen werden kann. Die Ansicht von Hennis betont allerdings zu wenig, daß der Wähler eine Partei auch wegen ihrer inhaltlichen Aussagen wählt, und daher die Wahl auch eine sich insbesondere in den Parteiprogrammen widerspiegelnde Stellungnahme der Wähler zu Sachfragen darstellt, wenn auch diese Stellungnahme nach außen nicht in einzelnen Punkten erkennbar ist. Die inhaltliche Beziehung kommt unter anderem in den vor der Wahl gegebenen, sogenannten "Wahlversprechen" der Parteien zum Ausdruck, die für diese zwar nicht rechtlich verbindlich sind, um deren Erfüllung sich aber die Parteien nach der Wahl in der Regel weitestgehend bemühen, um nicht der Siehe Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, S.68. Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, S.57. 293 Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, S.56. 294 Nach Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, S.58, besteht ebenso eine Verantwortlichkeitsbeziehung zwischen dem Bundeskanzler und dem Parlament. 295 Siehe Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, S.61. 296 Vgl. dazu auch die diesbezügliche kritische Anmerkung von Böcken/örde, in: Hdb. des Staatrechts, § 30 Rz.20 Fn. 30. 291

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Wahllüge bezichtigt zu werden. Ebenso dringen die verschiedenen Interessengruppen auf die Einhaltung der im Wahlkampf versprochenen Politik. Eine reine Vertrauensbeziehung ohne inhaltliche Bezüge besteht also zwischen dem Wahlvolk und den Repräsentanten nicht. 297 dd) Zusammenfassung

Zusammenfassend läßt sich daher feststellen, daß sich die Wahl als Ausdruck des Volkswillens auf die Repräsentationsstellung des Alt-Bundestages nicht auswirkt. Denn es kann aus dem Wahlergebnis kein eindeutiger Rückschluß auf den Willen der einzelnen Wähler gezogen werden. Nur die tatsächlich in Erscheinung tretende, also wirklich sichtbare Wahlentscheidung kann als Wähler- und Volks willen bezeichnet werden, nämlich die Berufung, Bestätigung, Ablehnung oder Abberufung von Abgeordneten, die zugleich eine Entscheidung für eine Partei und gegen andere Parteien ist. 298 Hinter dieser Personen- und Partei wahl verbirgt sich zwar insbesondere auch eine Stellungnahme zu Sachfragen sowie eine "Kanzler- und Regierungswahl". Damit einhergehend stellt die Wahl auch fast immer eine Leistungsbewertung der bisher betriebenen bzw. alternativ angebotenen Politik dar. Die vielen Einzelwillen der Wähler sind aber über die Entscheidung für eine Partei und einzelne Kandidaten hinaus nicht erkennbar, da eine Unzahl von politischen Themen den Wahlkampf beherrscht und es insofern auch eine nicht auszumachende Menge von verschiedenen Beweggründen für die Stimmabgabe zugunsten einer Partei geben kann. Dies kann soweit gehen, daß praktisch alle in Betracht kommenden personalen und inhaltlichen Elemente für das Votum eines Wählers eine Rolle spielen, es ist aber genauso möglich, daß für ihn emotionale, nicht feststell bare Gründe ausschlaggebend sind. Am ehesten läßt sich noch vertreten, die Wahl über das Votum für die Kandidaten und die Partei hinaus als eine Entscheidung zugunsten des allgemeinen Kurses einer Partei anzusehen. 299 Ein konkreter auf Einzelfragen gerichteter Wille der Wähler, insbesondere ein diesbezüglicher Mehrheitswählerwille, läßt sich daraus aber nicht ableiten. d) Die formale und inhaltliche Repräsentation beim Alt-Bundestag Beim Alt-Bundestag liegen daher trotz der Wahl des neuen Bundestages die Voraussetzungen für das Zustandekommen der Repräsentation vor. Formale Repräsentation ist bei ihm nach wie vor dadurch gegeben, daß er in einer - vier Jahre zurückliegenden - Wahl vom Volk gewählt wurde. Inhaltliche Repräsentation ergibt sich Vgl. dazu Kielmansegg, ,,Die Quadratur des Zirkels", S. 9,31 f. Vgl. Kielmansegg, "Die Quadratur des Zirkels", S. 9,36. 299 So auch W. Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, S.54; Badura, in: Bonner Komm. (Zweitbearbeitung), GO, Art. 38 Rz. 47. 297 298

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bei ihm aus dem Dialog mit dem Voll