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German Pages 257 Year 1978
Schriften zum Bürgerlichen Recht Band 43
Das Verhältnis von privatem und öffentlichem Nachbarrecht Von
Jan Schapp
Duncker & Humblot · Berlin
JAN SCHAPP
Das Verhältnis von privatem und öffentlichem Nachbarrecht
S c h r i f t e n z u m B ü r g e r l i c h e n Recht Band 43
Das Verhältnis von privatem und öffentlichem Nachbarrecht
Von Dr. Jan Schapp Privatdozent an der Universität Münster
DUNCKER
& HUMBLOT
/ B E R L I N
Gedruckt auf Empfehlung des Fachbereichs Hechtswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster m i t Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Alle Rechte vorbehalten © 1978 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1978 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 04041 4
Vorwort Die Arbeit wurde i m Sommersemester 1977 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Habilitationsschrift angenommen. Besonderen Dank schulde ich Herrn Prof. Harry Westermann. Er bestärkte mich nachhaltig i n meinem Bemühen, für den nachbarrechtlichen Problemkreis neue Lösungen zu gewinnen. Die Arbeit selbst hat er durch Rat und Anregung i n vielfältiger Weise gefördert. Herrn Prof. Werner Hoppe danke ich für eine Reihe von wichtigen Hinweisen zu öffentlich-rechtlichen Fragen. Münster, i m Oktober 1977 Jan Schapp
Inhaltsverzeichnis Einleitung: Problemstellung
13 Erstes
Kapitel
Das Verhältnis von privatem und öffentlichem Nachbarrecht im Bereich der Anlagengenehmigung nach §§ 4 ff. BImSchG I. Problemstellung
17 17
I I . Wie werden die privatrechtlichen Nachbarrechte i m Genehmigungsverfahren nach §§ 4 ff. BImSchG berücksichtigt? 1. Rechtslage nach GewO u n d BImSchG
21 21
a) Die Rechtslage nach der Gewerbeordnung
21
b) Die Rechtslage nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz
24
2. Die Unterscheidung zwischen einem durch das öffentliche Recht u n d einem durch das Privatrecht entschiedenen K o n f l i k t als Grundlage einer Lösung
30
a) Die Unterscheidung von Konflikten als methodischer Ansatz
30
b) Abgrenzung der durch § 906 B G B u n d der durch BBauG u n d BImSchG geregelten Konflikte 34 3. Die Stellung der privaten Nachbarrechte i m verfahren nach BImSchG I I I . Folgerungen BImSchG
für
die
Aufopferungskonzeption
Genehmigungs-
des § 14 Satz 1
37
47
1. Der Grundgedanke der Aufopferungskonzeption
47
2. Dieser Grundgedanke ist nicht m i t der auch f ü r die Genehmigung nach BImSchG maßgebenden Konzeption des Bauplaungsrechtes vereinbar
48
3. Rechtshistorischer H i n t e r g r u n d einer Auswechslung der beiden Konzeptionen
50
4. Das Verhältnis von planungsrechtlichem Abwägungsergebnis, Schädlichkeitsgrenze nach §6 Ziffer 1 BImSchG u n d Grenze nach § 906 B G B
52
8
Inhaltsverzeichnis 5. Der Gesetzeswortlaut des § 14 Satz 1 BImSchG ist m i t der neuen Konzeption vereinbar. L i t e r a t u r m i t vergleichbarem Lösungsansatz 55 I V . Die modifizierte Konzeption des Schadensersatzanspruchs aus § 14 Satz 2 BImSchG
60
1. K r i t i k an der überkommenen Konzeption des § 14 Satz 2 BImSchG auf der Grundlage des bisherigen Ergebnisses. Problemstellung f ü r die weitere Untersuchung
60
2. Das „System" des Reichsgerichts zu § 26 GewO
62
a) R G Gruch 55, 105 (Eisenhüttenwerk-Thale-Entscheidung) b) RGZ 154, 161 (zweite Gutehoffnungshütten-Entscheidung)
63 ..
c) Zusammenfassung zum „System" des R G
69 74
3. Die Auslegung des § 14 Satz 2 BImSchG ist m i t dem Gesetzesw o r t l a u t vereinbar
75
4. Die Bedeutung grundlegender Prinzipien (Aufopferungsprinzip, Treu u n d Glauben) f ü r unsere Lösung, entwickelt anhand v o n Hans J. Wolffs u n d Mengers Lehre von den Rechtsgrundsätzen
75
a) Einleitung
75
b) Überblick über die Lehre Hans J. Wolffs u n d Mengers
76
c) Die Bedeutung der Prinzipien
78
V. Ausschluß der öffentlich-rechtlichen Abwehrrechte bei Unanfechtbarkeit der Genehmigung nach BImSchG u n d Schadensersatzanspruch aus § 14 Satz 2 BImSchG V I . Zusammenfassung der Ergebnisse des 1. Kapitels
Zweites
86 91
Kapitel
Das Verhältnis von privatem und öffentlichem Nachbarrecht in den Fällen des lebenswichtigen Betriebes
97
I. Problemstellung u n d Lösung auf der Grundlage der i m 1. K a p i t e l entwickelten Konzeption 99 1. Überblick über das Aufopferungssystem i n den Fällen des sog. lebenswichtigen Betriebes
99
2. K r i t i k i n der L i t e r a t u r u n d Entwicklungen i n der Rechtsprechung zur Duldungspflicht 102 3. Eigene Lösung auf der Grundlage der i m 1. K a p i t e l erarbeiteten Konzeption 108
Inhaltsverzeichnis a) Der eigene Lösungsansatz. Stellungnahme zur L i t e r a t u r
108
b) Das Verhältnis von privaten u n d öffentlichen nachbarlichen Interessen i n den Fällen des lebenswichtigen Betriebes, entwickelt anhand der Fachplanung 115 c) Die Immissionen öffentlicher Betriebe ohne planungsrechtliche Grundlage 121
I I . Aufopferungs-, Ausgleichs- u n d Enteignungsanspruch bei I m m i s sionen durch Straßenverkehr 123 1. Überblick u n d Problemstellung
123
2. Der Aufopferungsanspruch wegen Überschreitung der ortsüblichen Nutzung durch den Straßenverkehr 125 3. Die Voraussetzungen des Ausgleichsanspruchs. T r i t t an seine Stelle ein Enteignungsanspruch? 131 a) Überblick über Rechtsprechung u n d L i t e r a t u r
131
b) Stellungnahme
138
aa) Vorbemerkung
138
bb) Entwicklung der „Wertungsproblematik" Würdigung der Rechtsprechung
anhand einer
cc) Die Voraussetzungen des nachbarrechtlichen Anspruchs auf den M i n d e r w e r t bei Verkehrsimmissionen α) Anwendbarkeit des „Anspruchsrahmens" aus RGZ 154, 161. Abgrenzung zur Enteignung ß) Voraussetzungen i m einzelnen: Wertminderung u n d Überschreiten der Zumutbarkeitsgrenze γ) Ist eine Überschreitung der Grenzwerte nach § 43 I Ziffer 1 BImSchG Voraussetzung der „weitergehenden Entschädigung" nach § 42 I I 2 BImSchG?
I I I . Zusammenfassung der Ergebnisse des 2. Kapitels
Drittes
140 147 147 152 157
158
Kapitel
Das Verhältnis von privatem und öffentlichem Nachbarrecht im Bereich des Baurechts
162
I. Das Problem der „privatrechtsgestaltenden W i r k u n g " der Baugenehmigung. Die eigene Lösung 162 1. Die praktische Bedeutung der Problematik der „privatrechtsgestaltenden W i r k u n g " der Baugenehmigung 162 2. Die eigene Lösung
164
10
Inhaltsverzeichnis 3. Stellungnahme zur Argumentation der herrschenden „Zweigleisigkeitstheorie" 165 4. Die Bedeutung der subjektiven öffentlichen Nachbarrechte für unsere Lösung 167 5. Das Verhältnis zur Untersuchung i m 1. K a p i t e l
168
6. Der weitere Gang der Untersuchung
169
I I . Die Konzeptionen der zivilistischen u n d der öffentlich-rechtlichen Nachbarrechtstheorie. Verhältnis zu unserem Ansatz 170 1. Problemstellung
170
2. Uberblick über die Konzeptionen der zivilistischen u n d der öffentlich-rechtlichen Nachbarrechtstheorie 171 a) Die zivilistische Nachbarrechtstheorie
171
b) Die öffentlich-rechtliche Nachbarrechtstheorie
173
3. Auseinandersetzung m i t diesen Verhältnis zu unserem Ansatz
theoretischen
Konzeptionen.
174
a) W a r u m w i r d über einen K o n f l i k t Privater öffentlich-rechtlich entschieden? 174 b) Verhältnis zur Konzeption des Bauplanungsrechts auf der Grundlage der Baufreiheit 178 I I I . Erfordert die restriktive Bestimmung des öffentlich-rechtlichen Rechtsschutzes i m Nachbarrecht eine Kompensation durch Gewährung privatrechtlichen Rechtsschutzes? 184 1. Problemstellung
184
2. Uberblick über die Motive der Rechtsprechung zum subjektiven öffentlichen Nachbarrecht. Die die Restriktion ablehnende L i t e raturmeinung 187 a) Die Motive der Rechtsprechung
187
b) Die die Restriktion ablehnende Literaturmeinung
190
3. Stellungnahme
191
a) Der von der Rechtsprechung gewährte öffentlich-rechtliche Rechtsschutz entspricht dem Charakter des Raumentwicklungskonfliktes u n d seiner Entscheidung 191 b) Läßt sich der Rechtsschutz aus A r t . 14 GG ableiten?
195
c) Lassen sich die Voraussetzungen des subjektiven öffentlichen Nachbarrechts aufgrund der sog. Betroffenheitsbetrachtung des subjektiven öffentlichen Rechts bestimmen? 198
Inhaltsverzeichnis I V . Konkurrieren privatrechtliche Ansprüche m i t einem durch das Baurecht bestimmten I n h a l t bei wirksamer Baugenehmigung m i t den subjektiven öffentlichen Nachbarrechten? 200 1. Problemstellung
200
2. Die Ansprüche aus §§ 1004 u n d 823 I B G B
203
3. Der Anspruch aus § 823 I I B G B i n Verbindung m i t einer nachbarschützenden N o r m des öffentlichen Baurechts als Schutzgesetz 209 4. Der Anspruch aufgrund des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses 213
V. Latenter Störer u n d Anspruch des Nachbarn aus §§ 1004, 906 B G B 215 1. Problemstellung
215
2. Lösung auf der Grundlage unserer Konzeption
217
a) Herausarbeitung der problematischen Fallgruppe
217
b) Überblick über die öffentlich-rechtlichen Lösungsmöglichkeiten 219 c) F ü h r t der Anspruch aus §§ 1004, 906 B G B zu einer sachgerechten Lösung des Konfliktes? 222 3. Stellungnahme zur Lösung Gieslers
225
V I . Hat der Nachbar i n den Fällen mangelnder Baugenehmigung (insbesondere beim „Schwarzbau" u n d bei der ungenehmigten N u t zungsänderung) privatrechtliche Abwehrrechte? 228 1. Problemstellung
228
2. Überblick über die öffentlich-rechtliche Konfliktslösung
229
3. Wie w i r d der nachbarliche K o n f l i k t bei mangelnder Baugenehmigung sachgerecht entschieden? 234
V I I . Der privatrechtliche Unterlassungsanspruch bei wirtschaftlich zumutbarer Verhinderbarkeit von Immissionen gemäß §§ 1004, 906 I I 1 B G B i n den Baurechtsfällen 241
V I I I . Zusammenfassung der Ergebnisse des 3. Kapitels
244
Literaturverzeichnis
249
Einleitung: Problemstellung Das Nachbarrecht ist heute i n einen privatrechtlichen und einen öffentlich-rechtlichen Teil aufgespalten 1 . Das Verhältnis der beiden Rechtskomplexe zueinander ist noch immer systematisch ungeklärt, ja man hat gesagt, daß sich hier die allgemeine Problematik des Verhältnisses von öffentlichem Recht und Privatrecht exemplifiziert 2 . Entsprechend weitreichend und tiefgründig sind dann zum Teil auch die Lösungsversuche. Bullinger hat i n seinem umfassend angelegten Versuch die Zweiteilung des Rechts überhaupt verworfen und w i l l den Rechtsstoff i n Richtung auf ein differenziertes Gemeinrecht umdenken, das durch die Funktionalität und den Sachbegriff gekennzeichnet ist 3 . Das hat besonders Folgerungen für das Nachbarrecht, das von den Fesseln der Zweiteilungslehre zu befreien ist 4 . Gegen die Auffassung, das Baunachbarrecht sei dem Grunde nach doch nur Privatrecht 5 , w i r d von Bartlsperger die Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers angeführt, die wesentlichen Fragen des baulichen Nachbarrechts i m öffentlichen Recht zu regeln®. Die systematische Unklarheit ist m i t der Grund für eine Reihe praktisch bedeutsamer rechtlicher Zweifelsfragen. I m Zentrum steht die Frage nach dem Verhältnis der privaten Nachbarrechte aus §§ 1004, 906, 907 BGB zu den öffentlich-rechtlichen Abwehrrechten. Es ist nicht geklärt, ob sie wahlweise geltend gemacht werden können oder sich gegenseitig ausschließen, etwa w e i l der Baugenehmigung eine Ausschlußwirkung beizumessen ist 7 . Z i v i l - und Verwaltungsgerichte lassen allgemein sowohl den zivil- als auch den verwaltungsrechtlichen Rechtsschutz zu 8 . Bei der privatrechtlichen Anwendung des § 906 BGB ergibt sich die Frage, ob die „ortsübliche Nutzung" nach dem Inhalt von Bebauungsplänen zu bestimmen ist oder welche Wirkung den Bebauungsplänen bei der Auslegung dieses Begriffs sonst zukommen mag. 1
Vgl. dazu Bartlsperger, V e r w A r c h 1969, 36. Bartlsperger, V e r w A r c h 1969, 37. 3 Vgl. Bullinger, Öffentliches Recht u n d Privatrecht, S. 106,112,115 f. 4 Bullinger, S. 99 f. Eindrucksvoll gegen das Trennungsdenken auch Baur t J Z 1962, 73 ff. (78) u n d J Z 1963, 41 ff. (47). 5 Vgl. Redeker, N J W 1959, 749 ff.; Kniestedt, D Ö V 1962, 89 ff. (90); Rüfner, DVB1 1963, 609 ff. (609); Sellmann, DVB1 1963, 273 ff. (281). 6 So Bartlsperger, V e r w A r c h 1969, 62. 7 Vgl. etwa Schrödter, § 31 B B a u G Rdz. 21. 8 Vgl. Schrödter, §31 B B a u G Rdz. 2 1 - 24 m i t Rechtsprechungsnachweisen. 2
14
Einleitung: Problemstellung
Die vorliegende Arbeit möchte einen Beitrag zur Lösung des Problemkomplexes „Verhältnis von privatem und öffentlichem Nachbarrecht" leisten, indem sie eine ganz bestimmte Frage i n den Mittelpunkt der Untersuchung stellt: die nach der privatrechtsgestaltenden Wirkung der öffentlich-rechtlichen Genehmigungen, die i m Nachbarrecht Bedeutung haben, also vor allem der Genehmigung nach §§ 4 ff. BImSchG und der Baugenehmigung 9 . Von dieser Ausgangsfrage aus soll die gegenseitige Abgrenzung, aber auch Verzahnung von privatem und öffentlichem Nachbarrecht erarbeitet werden. Thematisch soll dabei eine Beschränkung auf den Bereich des Immissionsschutzes erfolgen. Dieser ist der einzige Regelungsgegenstand der §§ 1004, 906 BGB und der §§ 4 ff. BImSchG als nachbarschützender Normen, so daß für das Verhältnis dieser Bestimmungen die Beschränkung auf diesen Bereich vorgegeben ist. Auch i m Baunachbarrecht ist, was das Verhältnis zum privaten Nachbarrecht angeht, vor allem das Verhältnis von baurechtlichem I m missionsschutz zu den §§ 1004, 906 BGB problematisch 10 , so daß sich auch i n diesem Bereich diese Beschränkung anbietet. Welche weitere Klärung für den beschriebenen Problemkomplex ist nun von der Frage nach der privatrechtsgestaltenden Wirkung insbesondere der Genehmigung nach §§ 4 ff. BImSchG und der Baugenehmigung zu erwarten? Die privatrechtsgestaltende Wirkung der Anlagengenehmigung nach §§ 4 ff. BImSchG scheint aufgrund der ausdrücklichen gesetzlichen Bestimmung des § 14 Satz 1 BImSchG unzweifelhaft, während die Annahme einer solchen Wirkung der Baugenehmigung angesichts des Grundsatzes, daß diese unbeschadet privater Rechte Dritter ergeht, zumindest als problematisch erscheint. W i r wenden uns zunächst der Untersuchung der Privatrechtsgestaltung durch die Anlagengenehmigung zu, die angesichts der besonderen Bestimmung des § 14 BImSchG den gesetzlich geregelten Fall einer Privatrechtsgestaltung darstellt. Der Gedanke liegt nahe, daß sich hier das Modell einer Privatrechtsgestaltung durch öffentlich-rechtliche Genehmigung überhaupt entwickeln läßt, das dann auch zur Lösung der entsprechenden Problematik des Baurechts mit herangezogen werden kann. Bereits i m Hinblick auf diesen „Modellfall" kommen w i r dann allerdings zu einer von der überkommenen Auffassung doch abweichenden Deutung dieser „Privatrechtsgestaltung". Herkömmlicherweise w i r d das Verhältnis der §§ 1004, 906 BGB zu § 14 BImSchG als Versagung eines an sich gegebenen Abwehranspruchs durch öffentlich-rechtliche Genehmigung gesehen. Diese überkommene Aufopferungskonzeption w i r d 9 Z u weiteren öffentlich-rechtlichen Genehmigungen m i t privatrechtsgestaltender W i r k u n g vgl. die noch folgenden Bemerkungen i n dieser Einleitung. 10 Das ergibt sich zum Beispiel auch aus der Problemdarstellung bei Schrödter, §31 B B a u G Rdz. 2 1 - 2 4 , wo diese Frage i m M i t t e l p u n k t steht.
Einleitung: Problemstellung
von uns i n Zweifel gezogen, w e i l sie das Verhältnis von privatem und öffentlichem Nachbarrecht jedenfalls heute nicht mehr richtig wiedergibt. A u f ihrer Grundlage sind auch eine Reihe praktischer Zweifelsfragen nicht befriedigend zu lösen. Die Ausarbeitung einer neuen Konzeption anstelle dieser überkommenen „Aufopferungskonzeption" ist das zentrale Anliegen i m 1. Kapitel. Für die privatrechtsgestaltende Wirkung der atomrechtlichen Genehmigung und der luftverkehrsrechtlichen Genehmigung gelten die i m 1. Kapitel erarbeiteten Ergebnisse entsprechend, wie sich aus der entsprechenden Anwendbarkeit des § 14 BImSchG auf die atomrechtlich genehmigte Anlage nach § 7 V Atomgesetz und auf Flughäfen nach § 11 L u f t V G ergibt. Die Problematik einer Privatrechtsgestaltung durch § 11 W H G i m Hinblick auf die Ansprüche wegen nachteiliger Wirkungen einer bewilligten Wassernutzung unterscheidet sich zu sehr von der Problematik der Privatrechtsgestaltung i m Immissionsschutzrecht, als daß eine Einbeziehung i n die Untersuchung sinnvoll wäre. Nach Entwicklung unserer grundlegenden Konzeption i m 1. Kapitel gehen w i r i m 2. Kapitel auf die Rechtsprechung zum lebenswichtigen Betrieb i m Rahmen des § 906 BGB näher ein. Es handelt sich dabei heute zwar nicht ausschließlich, aber doch dem Schwerpunkt nach vor allem um die Fälle der Fachplanung, für die § 14 BImSchG nicht entsprechend gilt. Der praktisch bedeutsamste Fall ist der der Immissionen durch den Straßenverkehr, dessen Entschädigungsproblematik eingehend untersucht werden soll. Systematisch ist dieser Bereich bisher auf der Grundlage des Aufopferungsgedankens i n § 26 GewO/14 BImSchG konzipiert worden. Die Komplikationen der Aufopferungskonzeption treten hier aber noch deutlicher hervor. Eine weitere Komplizierung liegt darin, daß das Emmissionsinteresse des einen Nachbarn ein öffentliches Interesse ist und damit die Uberführung des ganzen Anspruchsschemas ins Enteignungsrecht erforderlich zu sein scheint. Die i m 1. Kapitel für §§ 4 ff., 14 BImSchG entwickelte Lösung ermöglicht i n diesem Bereich des lebenswichtigen Betriebes ein einfacheres Anspruchsschema und eine befriedigende Abgrenzung von nachbarlichem Ausgleichsanspruch aus § 906 I I 2 BGB und Anspruch aufgrund Enteignung. I m 3. Kapitel machen w i r dann das Modell der Privatrechtsgestaltung, welches i m 1. Kapitel für den Bereich der Anlagengenehmigung entwikkelt wurde, für den Bereich der Baugenehmigung nutzbar. I m Baurecht fehlt der scharfe Trennungsstrich zum privaten Nachbarrecht, den §§ 26 GewO/14 BImSchG zu ziehen scheinen. Wenn aber § 14 Satz 1 BImSchG nur als Feststellung gedeutet wird, daß private Nachbarrechte bereits ihrem Sinne nach nicht gegen diese Genehmigung gerichtet werden können, so könnte sich diese Sicht des Verhältnisses von privaten Rechten und öffentlich-rechtlicher Genehmigung auch für das Baurecht
16
Einleitung: Problemstellung
fruchtbar machen lassen. Auch i m baurechtlichen Bereich bewährt sich die vorgelegte Konzeption der „Privatrechtsgestaltung" bei der Lösung praktischer Zweifelsfragen, wie die Untersuchung i m einzelnen ergeben wird. Die genaue Problemstellung w i r d jeweils am Anfang der einzelnen Kapitel entwickelt. Hier kam es nur darauf an, eine erste Orientierung zur A r t der Fragestellung überhaupt und zu dem Zusammenhang der drei Kapitel zu geben.
Erstes
Kapitel
Das Verhältnis von privatem und öffentlichem Nachbarrecht i m Bereich der Anlagengenehmigung nach §§ 4 ff. BImSchG I. Problemstellung Beyer hat darauf hingewiesen, daß § 26 GewO, der Vorgänger des heutigen § 14 BImSchG, der für die industrielle Entwicklung Deutschlands eine überragende Bedeutung erlangte, auch rechtsdogmatisch zum Eckpfeiler eines ganzen Systems geworden ist 1 . Zugleich weist Beyer auf die vielen Auslegungsschwierigkeiten hin, die sich nach seiner A u f fassung daraus ergeben, daß diese Vorschrift nur ungenügend i n die sonstigen Vorschriften über das gewerberechtliche Genehmigungsverfahren eingepaßt ist. Diesem Widerspruch soll i m vorliegenden Kapitel nachgegangen werden, wobei die Absicht zunächst darauf gerichtet ist, die Problematik des „Systems" selbst zu untersuchen, indem w i r die Frage nach der privatrechtsgestaltenden Natur der Genehmigung stellen, und dann auf der Grundlage eines modifizierten „Systems" auch eine Lösung der praktischen Schwierigkeiten zu versuchen. Worin liegt das „System" und was sind die praktischen Schwierigkeiten? Die grundlegende Konzeption, die man i n dieser Vorschrift zum Ausdruck gebracht sieht, läßt sich dahin beschreiben, daß ein an sich gegebener Abwehranspruch aus §§ 1004, 906 BGB durch besonderen Hoheitsakt, die Genehmigung, versagt wird, und daß an Stelle des versagten Anspruchs auf Unterlassung ein solcher auf Schadloshaltung (§ 26 GewO) bzw. heute auf Schadensersatz (§14 BImSchG) t r i t t 2 . Wegen dieser Ersetzung des einen Anspruchs durch den anderen spricht man allgemein von einer bürgerlichrechtlichen Aufopferung 3 . W i r schließen uns diesem Sprachgebrauch an und sprechen i n dieser Arbeit i m H i n 1 Beyer, Die Rechtsstellung des Nachbarn bei der gewerberechtlichen Genehmigung lästiger Anlagen, S. 12. — Dies steht zu der Flüchtigkeit der Berat u n g dieser Vorschrift, auf die auch Beyer i n diesem Zusammenhang hinweist, i n einem gewissen Widerspruch. 2 So RG, 17. 10. 1928, RGZ 122, 134, 137; 15. 12. 1938, RGZ 159, 68, 72; BGH, 28. 2. 1955, B G H Z 16, 366; Westermann, Maßnahmen, S. 18; Kleindienst, Der privatrechtliche Immissionsschutz nach § 906 BGB, S. 44 u n d 54; Schulte, Eigentum u n d öffentliches Interesse, S. 149; Konzen, Aufopferung i m Z i v i l recht, S. 33 ff.; Soergel / Baur, § 906 B G B Rdz. 62; RGRK-Pritsch, § 906 B G B A n m . 27. 3 Vgl. statt vieler etwa Konzen, S. 33 ff.
2 Schapp
18
1. Kap.: Privates u n d öffentl. Nachbarrecht i m Bereich des BImSchG
blick auf dieses „System" von Aufopferungskonzeption. Allerdings ist dabei zu beachten, daß der Begriff der Aufopferung für sich genommen nicht sehr aussagefähig ist. I n der Literatur ist dieser „AufOpferungstatbestand" einerseits als Ausdruck einer spezifisch nachbarrechtlichen Regelung aufgefaßt worden, die aufgrund eines „abstrakten Interesses an sinnvoller Raumnutzung" erfolgt ist 4 , andererseits w i r d auch der nach herrschender Lehre von der „Aufopferungskonzeption" des § 26 GewO abweichende Anspruch aus § 906 I I 2 ζ. T. als bürgerlich-rechtlicher A u f opferungstatbestand bezeichnet 5 . Das überkommene dogmatische System des § 26 GewO w i r d also m i t dem möglicherweise auch auf andere Tatbestände anwendbaren Begriff der Aufopferung nicht genügend scharf bezeichnet 6 . Es liegt für uns i n dem Gedanken, daß an sich ein Abwehranspruch nach §§ 1004 BGB gegeben ist, der aber aus besonderen Gründen versagt und durch einen Entschädigungsanspruch ersetzt wird. Gerade durch diese Konzeption werden die Abwehrgrenze des § 906 BGB (Ortsüblichkeit), die öffentlich-rechtliche Genehmigung und der Entschädigungsanspruch i n eine feste und unverwechselbare Beziehung zueinander gebracht. Es handelt sich hier nur darum, ob diese Beziehung, i n der das „System" des § 26 GewO liegt, haltbar ist. Diese Frage kann geprüft werden, ohne daß der Begriff der bürgerlich-rechtlichen Aufopferung problematisiert wird. Worin liegen die praktischen Schwierigkeiten, zu denen die Anwendung der Bestimmung des § 26 GewO führte? Zunächst ist nie überzeugend geklärt worden, welche Auswirkungen die Geltendmachung der privaten Nachbarrechte i m Genehmigungsverfahren nach der Vorstellung des Gesetzgebers haben sollte. War die Genehmigung abzulehnen, wenn private Nachbarrechte dem Tatbestand nach vorlagen, oder konnte sie dennoch erteilt werden und welche Bedeutung konnte die Möglichkeit einer Geltendmachung haben, wenn die Behörde sie übergehen konnte 7 ? Zweitens: Welche Natur und vor allem welchen Umfang hatte der gewährte Entschädigungsanspruch? Brachte der Begriff der Schadloshaltung zum Ausdruck, daß nach Enteignungsgrundsätzen zu entschädigen sei, war voller Schadensersatz nach § 249 BGB zu leisten, oder handelte 4
So Schulte, S. 123,159 u n d durchgängig. Baur, Sachenrecht, §25 I V 2 d; Hemsen, S. 141; Hubmann, JZ 1958, 491; Kleindienst, S. 44; Pley er, J Z 1959, 307; Staudinger ! Seujert, §906 B G B Rdnr. 49. Dagegen sehen Westermann i n Erman / Westermann, § 906 B G B A n m . 16, Westermann, Sachenrecht, § 63 I 2, Meisner / Stern / Hodes, Nachbarrecht, § 38 I 1, Mühl, N J W 1960, 1132 u n d N J W 1960, 2324 den Anspruch als unmittelbare Folge des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses an. β Vgl. zum Begriff der Aufopferung insgesamt eingehender unter I V 4 i n diesem Kapitel. 7 Vgl. Rechtsprechung u n d L i t e r a t u r dazu i m folgenden unter I I . 5
I . Problemstellung
19
es sich um eine Billigkeitsentschädigung, für die die Grundsätze der Enteignungsentschädigung entsprechend herangezogen werden konnten 8 ? M i t dieser Frage hing zusammen, daß das Verhältnis zu dem auf der Reform des § 906 BGB beruhenden Anspruch aus § 906 I I 2 BGB unklar blieb. Kleindienst hatte den allgemein als Vorgänger des Anspruchs aus § 906 I I 2 BGB gewerteten Anspruch, den das RG i n seinem Urteil vom 10. 3. 1937 (zweites Gutehoffnungshüttenurteil) 9 gab 1 0 , nicht als Richterrecht, sondern als Anspruch aus § 26 GewO gewertet 1 1 . Uberwiegend werden beide Ansprüche unterschieden 12 , jedoch w i r d vielfach betont, daß die Ansprüche aus §§ 906 I I 2 BGB und § 26 GewO sich i m wirtschaftlichen Ergebnis deckten 13 . Wolff / Raiser legen strukturelle Gleichwertigkeit des vom RG gewährten Anspruchs und des Anspruchs aus § 26 GewO zugrunde 14 , während Kleindienst sich schließlich i n die Behauptung flüchtet, daß man das Verhältnis der beiden Ansprüche zueinander so genau gar nicht wissen wolle 1 5 . Immerhin muß doch nachdenklich stimmen, daß die m i t Recht als so grundlegend gewertete Entscheidung des RG vom 10. 3. 1937 zum Verhältnis von Industrie und L a n d w i r t schaft 16 nur undeutlich auf § 26 GewO Bezug nimmt, der doch nach allgemeiner Auffassung gerade die grundlegende Bestimmung zur Regelung dieses Verhältnisses sein sollte. Es ist zwar leicht erklärt, warum diese Bestimmung i n den entschiedenen Fällen nicht paßt (die Industrie war ortsüblich), aber schwer zu erklären, für welche Fälle diese Bestimmung bei dieser Auslegung denn überhaupt noch anwendbar sein soll. Materiell scheint sich der Schwerpunkt der Entschädigungsregelung nach § 906 I I 2 BGB zu verlagern. Die Neufassung des § 26 GewO durch § 14 BImSchG hat für diesen Fragenkreis durch die Ersetzung von „Schadloshaltung" durch „Schadensersatz" zwar einen Beitrag zu einer Klärung geleistet, die Problematik aber umfassend auch nicht aufhellen können. 8 Diese Qualifizierungen unterscheidet der B G H i n seinem U r t e i l v o m 31. 5. 1974, N J W 1974, 1869, 1872, bei einer Untersuchung des Anspruchs aus § 906 I I 2 BGB, der als Billigkeitsentschädigung aufgefaßt w i r d . 9 RGZ 154,161. 10 W i r sprechen hier u n d i m folgenden davon, daß eine richterliche E n t scheidung einen Anspruch gibt, w e n n es sich u m Richterrecht handelt. Die Redeweise w i r k t vielleicht etwas antiquiert, kennzeichnet aber den Sachverhalt der „richterrechtlichen" Entscheidung zutreffend. 11 Kleindienst, S. 26 ff. 12 Die Unterscheidung w i r d prägnant v o r allem von Baur, Sachenrecht, § 25 I V 2 e cc herausgearbeitet. 18 Soergel / Baur, §906 B G B Rdz. 72; Beyer, S. 97; Bender / Dohle, Rdz. 124, S. 57: „praktisch inhaltsgleich"; deutlich unterscheidend dagegen Benderl Dohle, Rdz. 390, S. 152. 14 Wolff / Raiser, Sachenrecht, S. 191. 15 Kleindienst, S. 40. 16 RGZ 154,161.
2*
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1. Kap. : Privates u n d öffentl. Nachbarrecht i m Bereich des BImSchG
Ein dritter Problemkreis w i r d nur wenig behandelt, er w i r d aber bei weiterer Ausarbeitung des öffentlichen Nachbarrechts zunehmend an Bedeutung gewinnen: Durch die Unanfechtbarkeit der Genehmigung nach § 14 BImSchG werden nicht nur private Nachbarrechte versagt, sondern gerade auch die Geltendmachung öffentlich-rechtlicher Nachbarrechte abgeschnitten. K a n n für deren Versagung Entschädigung verlangt weden, gegebenenfalls aufgrund Enteignungsrechtes, nach § 14 BImSchG oder nach § 906 I I 2 BGB? Wenn diese öffentlich-rechtlichen Abwehrrechte einen anderen Umfang haben sollten als die privaten Nachbarrechte, wie verhalten sich die wegen der Versagung beider zu gewährenden Ansprüche ihrem Umfange nach zueinander? I n der Literatur hat vor allem Schrödter auf die Problematik der Entschädigungsansprüche wegen nicht durchgesetzter öffentlich-rechtlicher Nachbarrechte hingewiesen, allerdings i n baurechtlichem Zusammenhang 17 . Eine Konzeption des § 14 BImSchG, welche den öffentlich-rechtlichen Nachbarschutz nicht einzubeziehen vermag, müßte problematisch bleiben. Die Aufopferungskonzeption der §§ 26 GewO /14 BImSchG i n dem beschriebenen Sinne soll nun überprüft werden anhand einer Auseinandersetzung mit dem ersten vorstehend skizzierten Problemkomplex, d. h. der Frage, welche Bedeutung die privaten Nachbarrechte i m Genehmigungsverfahren selbst haben. Die Ausgangsthese des vorliegenden K a pitels läßt sich etwa wie folgt formulieren: Ob ein Abwehranspruch aus §§ 1004, 906, 907 BGB gegen Errichtung oder Betrieb einer nach B I m SchG genehmigungsbedürftigen Anlage „an sich" gegeben ist und ob er demzufolge auch durch die Genehmigung „versagt" w i r d (Aufopferungskonzeption i m eigentlichen Sinne), hängt weitgehend davon ab, welche Bedeutung dieser Abwehranspruch i n dem der Genehmigunserteilung vorangehenden Genehmigungsverfahren und damit schließlich für den Genehmigungsakt selbst auch hat. Die Einbeziehung der privaten Nachbarrechte i n das Genehmigungsverfahren und ihr Ausschluß durch §§ 26 GewO /14 BImSchG korrespondieren einander. Zwar könnte man sich auch vorstellen, daß die privaten Nachbarrechte ausgeschlossen würden, ohne daß sie zunächst geprüft worden wären, etwa wenn sie wie andere privatrechtliche Titel dem ordentlichen Rechtsweg vorbehalten worden wären, oder wenn die Bestimmung der §§ 26 GewO / 1 4 BImSchG auf nach Betriebserrichtung entstehende private Nachbarrechte beschränkt wäre. Die Konzeption des Gesetzes schließt jedoch diese beiden Möglichkeiten aus 18 . Sie legt i m Gegenteil die Annahme einer Wechsel17 Schrödter, DVB1 1973, 640, 641. Breuer, Die Bodennutzung i m K o n f l i k t zwischen Städtebau u n d Eigentumsgarantie, 4. Kapitel, S. 252 ff. behandelt weniger diesen speziellen Problemkreis als die umfassendere Problematik, w a n n die rechtmäßige Umplanung von Nachbargrundstücken „Enteignung" ist. 18 Vgl. dazu die L i t e r a t u r unter I I .
I I . Berücksichtigung privatrechtl. Nachbarrechte nach BImSchG?
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Wirkung der beiden Vorschriftenkomplexe über Geltendmachung und Ausschluß der privaten Nachbarrechte nahe. Diese Wechselwirkung ist nach unserer Auffassung bisher noch nicht so i n den Mittelpunkt der Diskussion gestellt worden, wie es für eine durchgreifende Lösung der Frage nach der „Privatrechtsgestaltung" erforderlich gewesen wäre 1 9 . I m folgenden soll unter I I daher die Frage untersucht werden, wie die privaten Nachbarrechte i m Genehmigungsverfahren nach §§ 4 ff. B I m SchG berücksichtigt werden. I n diesem Teil w i r d unter Ziffer 1 die Rechtslage nach GewO und BImSchG unter Heranziehung von Literatur und Rechtsprechung geprüft und anschließend unter Ziffer 2 die von uns vorgeschlagene Lösung dieses Problems entwickelt. Unter I I I werden die Folgerungen für das „Aufopferungssystem" gezogen. Unter I V w i r d auf der Grundlage dieser Lösung eine modifizierte Konzeption des Schadensersatzanspruches aus § 14 Satz 2 BImSchG entwickelt. Unter V w i r d das Verhältnis der öffentlich-rechtlichen Abwehrrechte des Nachbarrechts zum Schadensersatzanspruch aus § 14 Satz 2 BImSchG untersucht.
I I . Wie werden die privatrechtlichen Nachbarrechte im Genehmigungsverfahren nach §§ 4 ff. BImSchG berücksichtigt? 1. Rechtlage nach GewO und BImSchG Es w i r d i m folgenden auch noch auf die Regelung nach GewO zurückgegriffen, weil ein großer Teil der für uns bedeutsamen Literatur und Rechtssprechung sich auf sie bezieht. Ohne ihre Einbeziehung wäre der Uberblick über die Problematik unvollständig. a) Die Rechtslage nach der Gewerbeordnung
Zu den §§16 ff. GewO war herrschende Lehre, daß die Nachbarn ihre auf §§ 1004, 906, 907 BGB beruhenden Nachbarrechte i m Genehmigungsverfahren geltend machen konnten 1 . Das wurde vor allem aus § 19 I I GewO abgeleitet, nach welchem nur die auf besonderen privatrechtlichen Titeln beruhenden Einwendungen zur richterlichen Entscheidung zu verweisen, andere Einwendungen dagegen i n diesem Verfahren zu entscheiden waren. Als besondere privatrechtliche Titel sah man dabei nur das Eigentum an dem Anlagegrundstück an, ferner Dienstbarkeiten und auch 19 Soweit ersichtlich, hebt n u r Schulte, Eigentum u n d öffentliches Interesse, S. 150, die Bedeutung dieses gegenseitigen Bezuges der Vorschriftenkomplexe m i t Schärfe hervor. 1 Landmann / Rohmer I Eyermann / Fröhler, §17 GewO A n m . 8; Rohlfing / Kiskalt / Wolff, § 17 GewO A n m . 2. Ältere Rechtsprechung u n d L i t e r a t u r f ü r u n d gegen diese Auffassung bei Landmann / Rohmer / Ey ermann / Fröhler, § 17 GewO A n m . 10.
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1. Kap.: Privates u n d öffentl. Nachbarrecht i m Bereich des BImSchG
vertragliche Rechte, die der Errichtung der Anlage entgegenstanden 2 , nicht jedoch die Nachbarrechte der §§ 1004, 906, 907 BGB. Strittig war allerdings i m Rahmen dieser Lehre wieder, welche Erledigung diese auf privaten Nachbarrechten beruhenden Einwendungen i m Anlagengenehmigungsverfahren fanden. § 19 I I GewO sagte nur, daß ihre Prüfung und Entscheidung nach den i m § 18 GewO enthaltenen Vorschriften erfolgen sollte. Nach § 18 GewO war zu prüfen, ob die Anlage erhebliche Gefahren, Nachteile und Belästigungen für das Publikum brachte, und dementsprechend zu entscheiden. Es lag eine Auslegung nahe, daß § 19 I I GewO jetzt dieselbe Prüfung für die Bewohner benachbarter Grundstücke fordern wollte, die ja i n § 16 GewO neben dem Publikum als Begünstigte des Genehmigungsverfahrens genannt waren. Soweit man die Begriffe der erheblichen Gefahren, Nachteile und Belästigungen als polizeirechtliche Begriffe wertet, wäre also die unter diesem Gesichtspunkt erfolgende Prüfung der Nachbarrechte nur dahin gegangen, ob durch ihre Beeinträchtigung der damit beschriebene polizeiwidrige Zustand erreicht wird. Eine Reihe von Autoren wollen die Genehmigung ablehnen, wenn der Anspruch aus § 907 BGB gegeben ist, also m i t Sicherheit vorauszusehen ist, daß der Bestand der Anlage eine unzulässige Einwirkung auf das Nachbargrundstück i m Sinne des § 906 BGB zur Folge hat 3 . Landmann / Rohmer / Eyermann / Fröhler 4 begründen diese Auffassung damit, daß das Gesetz i n § 19 GewO die nachbarrechtlichen Einwendungen nicht von der Verweisung auf den Rechtsweg hätte ausschließen müssen, wenn es nur deren Prüfung vom polizeilichen Gesichtspunkt beabsichtigt hätte. Das Gesetz wolle vielmehr gerade eine Prüfung vom privatrechtlichen Standpunkt aus. Nach Beyer sollen die privatrechtlichen Rechte v o l l bei der Genehmigung nach §§16 ff. GewO zu beachten sein 5 . Beyer hält den Fall, daß abzuwehrende Immissionen nicht m i t Sicherheit vorausgesehen werden konnten, für den Hauptfall des § 26 GewO®. Bender / Dohle 7 1
Vgl. Landmann / Rohmer / Eyermann / Fröhler, § 19 GewO A n m . 2. Landmann / Rohmer ί Eyermann / Fröhler, §19 GewO A n m . 9; Rohlfing / Kiskalt / Wolff , § 17 GewO A n m . 2; Baur, Sachenrecht, 6. Aufl., § 25 I V 2 e aa; J Z 1974, 657, 658; nicht mehr so deutlich i n Sachenrecht, 8. Aufl., § 25 I V 2 e aa hinsichtlich Genehmigungsverfahren nach §§4 ff. BImSchG. Baur, J Z 1962, 73, 75 spricht davon, daß die privaten Nachbarrechte der Ermessensdisposition der Behörde unterlägen, hält das aber bei gewerblichen Anlagen f ü r schwer erträglich. Volle Berücksichtigung der privaten Nachbarrechte w i r d ferner w o h l von Konzen, S. 123 angenommen. Ebenso L V G Köln, 17. 12. 1956, GewArch 1957,128. 4 § 19 GewO A n m . 9. 5 Beyer, Die Rechtsstellung des Nachbarn bei der gewerberechtlichen Genehmigung lästiger Anlagen, S. 116, 118 (dort als zentrale These der A r b e i t bezeichnet), S. 134. β Beyer, S. 125. 7 Rdz. 370, S. 144. 3
I I . Berücksichtigung privatrechtl. Nachbarrechte nach BImSchG?
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sprechen von einer Prüfung der durch § 16 GewO geschützten Privatinteressen am Maßstab der negatorischen Abwehrrechte des Zivilrechts gemäß §§ 1004, 906 f. BGB. Schulte nimmt m i t ausführlicher Begründung den Gegenstandpunkt ein 8 . Das Uberschreiten der nach § 906 BGB zulässigen Immissionsgrenze sei kein Ablehnungsgrund für die Genehmigungsbehörde. Die Gegenmeinung liefe darauf hinaus, daß §§ 16, 26 GewO nur i n den Fällen Sinn hätten, i n denen zunächst wesentliche Immissionen ortsüblicher Betriebe nicht vorherzusehen waren, später aber wider Erwarten doch auftreten, so wie i n den Fällen, i n denen ein zunächst ortsüblicher Betrieb später — infolge Veränderungen i n der Nachbarschaft — ortsunüblich wird. Die wesentliche Bedeutung der §§ 16, 26 GewO liege aber gerade darin, daß auch Betriebe genehmigt werden könnten, die von Anfang an nicht ortsüblich sind und erkennbar wesentlich beeinträchtigen. Diese Meinung w i r d auch von Westermann vertreten 9 . I h r kann auch Sendler zugezählt werden. Er spricht von den bei § 16 GewO vorausgesetzten, aber durch die Genehmigung beschnittenen Rechten 10 . Der Standpunkt der Rechtsprechung i n dieser Frage ist nicht eindeutig. Nach dem Urteil des BVerwG vom 24. 10. 1967 11 w i r d durch die Genehmigung nach § 16 GewO den Eigentümern und Besitzern benachbarter Grundstücke i m Gegensatz zu der Privatrechte Dritter unberührt lassenden Baugenehmigung eine gesteigerte Duldungspflicht auferlegt. Damit hänge zusammen, daß die Verwaltung i m Genehmigungsverfahren „gewissermaßen vorbeugend" die möglichen Auswirkungen der Anlage auf die Nachbarschaft und das Interesse der Besitzer und Bewohner der benachbarten Grundstücke am Schutz vor Immissionen prüfen müsse. Die „gesteigerte Duldungspflicht" spricht für die Auffassung von Schulte, die „vorbeugende Prüfung", bei der sich das B V e r w G auch auf den restriktiven Standpunkt von B a u r 1 2 bezieht, spricht für die zuerst dargestellte Meinung. I m allgemeinen prüft die Rechtsprechung i m Hinblick auf die erteilte Genehmigung nur die subjektiven öffentlichen Nachbarrechte der GewO bzw. des BImSchG oder des Baurechts, da die Baugenehmigung i n der Anlagengenehmigung enthalten ist 1 3 . A u f die Frage, ob die 8
Schulte, S. 149 ff., insbesondere S. 150 A n m . 9. Westermann, Maßnahmen, S. 31 u n d insbesondere S. 51. Ebenso — w e n n auch vorsichtig formulierend — Bender / Dohle, Rdz. 16, S. 10: Bei den i m Sinne der §§ 16 ff. GewO genehmigungspflichtigen Anlagen greift § 907 B G B w o h l ohnehin nicht durch. Abweichend aber die soeben zitierte Stelle bei Bender / Dohle, Rdz. 370, S. 144. 10 Sendler, BauR 1970, 75, 76. 11 B V e r w G E 28, 131 = DVB1 1968, 35 m i t A n m . Schrödter, DVB1 1968, 37. Vgl. dazu auch die A n m e r k u n g von Schef old, D Ö V 1967, 859. 12 Sachenrecht, 6. Aufl., § 25 I V 2 e aa. 13 So i m Flüssigglas-Fall, Gelsenkirchen, alle drei Instanzen: V G Gelsenkirchen, 2. 7. 1971, DVB1 1971, 832; O V G Münster, 12. 4. 1972, DVB1 1972, 687 9
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1. Kap. : Privates u n d öffentl. Nachbarrecht i m Bereich des BImSchG
Genehmigungsbehörde durch die Genehmigung etwaige private Nachbarrechte verletzt hat, w i r d nicht abgestellt. I n der Literatur überwiegt die Meinung, die die privaten Nachbarrechte voll beachten w i l l . Soweit ersichtlich, werden ihre Konsequenzen, daß nämlich § 26 GewO einen großen Teil seines Anwendungsgebietes verlieren würde, nur von Schulte i n dieser Deutlichkeit herausgestellt. Man könnte den von Schulte angeführten Fällen, i n denen nach der Gegenmeinung § 26 GewO noch Bedeutung hätte, allerdings noch einen weiteren Fall hinzufügen: Die Behörde verneint irrtümlich die Berechtigung einer Einwendung aus §§ 1004, 906, 907 BGB oder es w i r d eine solche weder erhoben noch geprüft. I n diesem Fall würde § 26 GewO einer nachträglich erhobenen Abwehrklage nach §§ 1004, 906, 907 BGB entgegenstehen, obwohl der zivilrechtliche Anspruch vorher begründet war. Die Bedeutung des § 26 GewO läge insoweit darin, daß die Bestandskraft der Genehmigung die gerichtliche Verfolgung des an sich bestehenden Abwehranspruchs aus § 1004 BGB ausschließt 14 . Als Ergebnis ist festzuhalten, daß die Bestimmungen der Gewerbeordnung nur anordneten, daß die privaten Nachbarrechte zu berücksichtigen sind, da es sich nicht um besondere privatrechtliche Titel handelt. I n welchem Umfang und m i t welchen rechtlichen Konsequenzen diese Berücksichtigung stattfinden sollte, war aus dem Gesetzestext selbst nicht zu entnehmen, i n der Literatur war die Frage strittig, i n der Rechtsprechung kaum geklärt. b) Die Rechtslage nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz
Nach § 4 1 1 BImSchG bedürfen Anlagen der Genehmigung, die i n besonderem Maße geeignet sind, schädliche Umwelteinwirkungen hervorzurufen. Schädliche Umwelteinwirkungen sind dabei nach der Begriffsbestimmung des § 3 I BImSchG Immissionen, die nach A r t , Ausmaß oder Dauer geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen. Nach § 5 Ziffer 1 BImSchG hat der Betreiber einer genehmigungsbedürftigen Anlage u. a. die Pflicht, diese so zu errichten und zu betreiben, daß schädliche Umwelteinwirkungen i n diesem Sinne nicht hervorgerufen werden können. Nach § 6 Ziffer 1 BImSchG ist die Genehmigung zu erteilen, wenn sichergestellt ist, daß — unter anderem — diese Pflicht aus § 5 erfüllt wird. I n dem Genehmigungsverfahren können Einwendungen von dritter Seite erhoben werden, § 10 I I I BImSchG. Soweit sie auf besonderen privatrechtlichen Titeln beruhen, sind sie auf m i t A n m . David; BVerwG, 5. 7. 1974, N J W 1975, 70 m i t A n m . David, ferner etwa BVerwG, 18. 10.1974, N J W 1975, 460. 14 Das k l i n g t für § 14 BImSchG bei Ule, § 14 BImSchG, A n m . 2 u n d 5 an.
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den Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten zu verweisen, § 10 V I BImSchG, i m übrigen ist über sie zu entscheiden, § 10 V I und V I I I BImSchG. Diese Regelung deckt sich m i t der der Gewerbeordnung. Die Literatur faßt auch hier unter die i m Genehmigungsverfahren zu bescheidenden Einwendungen die Ansprüche aus §§ 1004, 907 15 . § 14 BImSchG entspricht für die hier untersuchte Frage dem § 26 GewO, so daß sich auch nach dem BImSchG dieselbe Problematik wie nach der GewO stellt. Es kommt allerdings ein neuer Akzent i n die Problemstellung hinein: Die Voraussetzungen, unter denen ein Anspruch auf die Genehmigung besteht, sind i n § 6 BImSchG selbst normiert. Das BImSchG trägt damit rechtsstaatlichen Grundsätzen und der modernen Verwaltungsrechtssystematik Rechnung; es ist insoweit präziser als die entsprechende Regelung der GewO. Der Sinn dieser Normierung ist, daß bei Vorliegen der Voraussetzungen ein Anspruch auf Genehmigung besteht, die Voraussetzungen also abschließend geregelt sind 1 6 . Daß die Genehmigung nur zu erteilen ist, wenn die Errichtung der Anlage p r i vate Nachbarrechte nicht verletzt, ist i n § 6 BImSchG nicht gesagt. A n gesichts der nunmehr genau konkretisierten Genehmigungsvoraussetzungen stellt sich damit die Frage, welche Bedeutung die als Einwendung möglichen privaten Nachbarrechte i m Rahmen des Genehmigungsverfahrens haben, vor allem, wie sie sich zu den Genehmigungsvoraussetzungen des § 6 BImSchG verhalten. Wenn die privatrechtliche A b grenzung sich m i t der Schädlichkeitsgrenze nach §§ 4 ff. BImSchG dekken würde, wäre damit das Problem der Beachtlichkeit der privaten Nachbarrechte gelöst. Sie könnten i n der Form subjektiver öffentlicher Nachbarrechte gegen die Genehmigung geltend gemacht werden, da die Schädlichkeitsgrenze der „Gefahr, des erheblichen Nachteils und der erheblichen Belästigung" voll als nachbarschützend anerkannt ist 1 7 . Wenn privatrechtliche und öffentlich-rechtliche Abgrenzung sich nicht decken, stellt sich angesichts der abschließenden Regelung der Genehmigungsvoraussetzungen i n § 6 BImSchG die Frage, welche Bedeutung diese dem Nachbarn i n § 10 I I I BImSchG zwar nicht ausdrücklich, aber doch dem Sinne nach zugestandene Einwendung noch haben soll. Von den i n § 6 BImSchG genannten Genehmigungsvoraussetzungen haben zwei eine mögliche Beziehung zu den privaten Nachbarrechten. 15 Vgl. Feldhaus, § 10 BImSchG A n m . 11; vgl. auch die amtliche Begründung zu § 10 BImSchG. 18 So auch Feldhaus, §6 BImSchG A n m . 2; Ule, §6 BImSchG I I 1, Rdz. 2; Stich, § 6 BImSchG A n m . 3; Hansmann, S. 31. 17 Vgl. O V G Münster, 7. 7. 1976, DVB1 1976, 790 (Steag-Fall) ; Feldhaus, § 4 BImSchG A n m . 12 u n d § 5 BImSchG A n m . 7; Stich, § 5 BImSchG A n m . 21; Rathjen, Z M R 1975, 132; Sellner, N J W 1976, 265, 266; Schrödter, DVB1 1974, 362 i m Hinblick auf die zu §§ 16 ff. GewO ergangene Entscheidung des B V e r w G v o m 24. 10. 1967, DVB1 1968, 35; vgl. dazu auch Menger / Erichsen, V e r w A r c h 1968,175 ff.
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1. Kap.: Privates u n d öffentl. Nachbarrecht i m Bereich des BImSchG
Die Genehmigung darf nur erteilt werden, wenn schädliche Umwelteinwirkungen für die Nachbarschaft nicht hervorgerufen werden können, §§ 6 Ziffer 1, 5 Ziffer 1, 4 I 1, 3 I BImSchG. Die m i t dem Begriff der schädlichen Umwelteinwirkungen festgesetzte Schädlichkeitsgrenze könnte sich m i t der durch das Privatrecht festgesetzten Grenze decken. Z u m anderen dürfen nach § 6 Ziffer 2 BImSchG andere öffentlich-rechtliche Vorschriften nicht entgegenstehen. Damit sind u. a. die Vorschriften des Baurechts i n Bezug genommen 18 , die i n einem bestimmten U m fang subjektive öffentliche Rechte des Nachbarn gewähren und sich damit mit den privaten Nachbarrechten decken oder jedenfalls doch überschneiden können. Beiden Verbindungslinien zwischen privaten Nachbarrechten und Genehmigungsvoraussetzungen des § 6 BImSchG soll nachgegangen werden. Der Begriff der Gefahr, des erheblichen Nachteils und der erheblichen Belästigung des Nachbarn durch Immissionen i m Sinne des § 3 I B I m SchG, der zentral auch für die Genehmigung nach § 6 BImSchG ist, ist kein Begriff des privaten Nachbarrechts. Ule ist der Auffassung, daß nicht nur der Begriff der Gefahr, sondern auch der des erheblichen Nachteils und der erheblichen Belästigung aus dem Polizeirecht kommen und von dort Eingang ins Gewerberecht gefunden haben 19 . Feldhaus spricht i n bezug auf die Abwehr von erheblichen Nachteilen und Belästigungen vom Vorfeld des polizeilichen Gefahrenschutzes 20 . Die Feststellung des genauen Verhältnisses zu den privatrechtlich maßgebenden Begriffen erfordert allerdings eine ins Einzelne gehende Untersuchung. Erheblich sind Nachteile und Belästigungen dann, wenn sie durch Stärke, Intensität und Dauer das übliche und zumutbare Maß überschreiten 21 . Ob das der Fall ist, hängt von den örtlichen und sozialen Verhältnissen ab, so daß der gleiche Vorgang i n einer Großstadt und i n einem Dorf verschieden beurteilt werden kann 2 2 . Nach privatem Nachbarrecht sind vor allem wesentliche, aber nicht ortsübliche Immissionen nicht zu dulden. Die Wesentlichkeit bestimmt sich nicht nach dem subjektiven Empfinden des Gestörten, sondern nach dem des normalen Durchschnittsmenschen, wobei Natur und Zweckbestimmung des Grundstücks von Be18 Vgl. Feldhaus, § 6 BImSchG A n m . 6; Ule, § 6 BImSchG I I 5, Rdz. 6; Stich, § 6 BImSchG A n m . 11. 19 Ule, § 3 BImSchG A n m . 17; ebenso, Umbach DVB1.1974, 780. 20 Feldhaus, §3 BImSchG A n m . 10. Den Unterschied zum allgemeinen Polizeirecht betont Westermann, Maßnahmen, S. 41. Vgl. zu den Begriffen der Gefahr, des Nachteils u n d der Belästigung auch Giesler, Nachträgliche A n o r d nungen an Gewerbebetriebe zum Zwecke des Immissionschutzes, S. 26 ff., m i t weiteren Nachweisen. 21 So Ule, § 3 BImSchG Rdz. 4. Die Gefahr soll hier außer Betracht bleiben, da sie keine Beziehung zum privaten Nachbarrecht hat. Ebenso Stich, §3 BImSchG A n m . 12. 22 So Ule, § 3 BImSchG Rdz. 4.
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deutung sind 2 8 . Maßgebend für die Ortsüblichkeit ist die etwa gleichartige Benutzung einer Mehrheit von Grundstücken derselben örtlichen Lage 2 4 . Weder der Begriff der „Erheblichkeit" i m Sinne des BImSchG noch der des Zumutbaren, durch den die Erheblichkeit näher spezifiziert wird, decken sich m i t dem Begriff der Wesentlichkeit i m Sinne des § 906 BGB. Bei der Prüfung der Erheblichkeit i m Sinne des Zumutbaren findet bereits eine Güterabwägung statt, bei der auf der einen Seite das Interesse des Betreibers der Anlage an einem möglichst ungestörten Betrieb, auf der anderen Seite das Interesse der Nachbarschaft und der Allgemeinheit an der Erhaltung eines von Umweltgefahren freien Lebensraumes steht 2 5 . Hier erweist sich, daß insbesondere dieser Begriff der „Erheblichkeit" kein rein polizeirechtlicher ist, sondern mehr auf eine gestaltende Tätigkeit der Verwaltung hinweist 2 6 . I n diesem Sinne handhabt jetzt auch die Rechtsprechung des B V e r w G die Bestimmung des § 5 Ziffer 1 BImSchG. I n dem der Entscheidung vom 12. 12. 197527 zugrundeliegenden Fall hatte der Eigentümer einer Ziegelei die Genehmigung eines modernen Ziegelofens nach §§16 ff. GewO / 4 ff. BImSchG beantragt. Das B V e r w G führt aus, daß eine erhebliche Belästigung nicht nur dann nicht gegeben ist, wenn die Belästigung unterhalb der Schwelle bleibt, die die „Technische Anordnung L ä r m " als Grenze bezeichnet. Vielmehr lägen „erhebliche Belästigungen" i m Sinne von § 5 Nr. 1 BImSchG auch dann nicht vor, wenn sich die Eigentümer der die Lärmquelle umgebenden Grundstücke die Belästigungen aus eigentumsrechtlichen Gründen zumuten lassen müßten. Das sei i n der Reichweite eines durch A r t . 14 I GG begründeten Bestandsschutzes der Fall. Das BVerwG bezeichnet diesen Bestandsschutz als Bestandteil der Grundstückssituation 28 . Damit ist bei der Auslegung des Begriffs der „Erheblichkeit" i m Sinne des § 5 Ziffer 1 BImSchG der polizeirechtliche Rahmen verlassen. Der Begriff der Wesentlichkeit der Immissionen i n § 906 BGB besagt demgegenüber etwas anderes als dieser Begriff der „Erheblichkeit" i n § 5 Ziffer 1 BImSchG. M i t der „Wesentlichkeit der Immission" sollte angesichts eines weitreichenden (§ 903 BGB) Eigentumsschutzes nur der 23 Palandt J Bassenge, § 906 B G B A n m . 3, sog. differenziert-objektiver Maßstab. 24 B G H , 30.10.1970, B G H Z 54, 384, 389. 25 So die Formulierung von Feldhaus, § 3 BImSchG A n m . 10. 26 Vgl. hierzu Steiger, Umweltschutz durch planende Gestaltung, ZRP 1971, 133 ff., der ein mehrdimensionales Umweltschutzsystem auf der Grundlage der Unterscheidung v o n überwachungsrechtlich, leistungsrechtlich u n d planungsrechtlich gesteuertem staatlichen Handeln entwickelt. 27 B V e r w G D Ö V 1976,387. 28 BVerwG, 12.12.1957, D Ö V 1976, 389 1. Sp.
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Bereich der unwesentlichen, und damit unbeachtlichen Immission aus dem Nachbarschutz ausgenommen werden 2 9 . Daß auch insoweit die A b grenzung nur unter Heranziehung des Begriffs der Zumutbarkeit getroffen werden kann, bedeutet noch nicht, daß dieser Begriff der Zumutbarkeit i n beiden Fällen dieselbe Bedeutung hat 3 0 . Die Erheblichkeit i m Sinne des BImSchG kann weiter nicht ohne Rücksicht auf die Ublichkeit bestimmt werden. Bei diesem zweiten K r i t e r i u m scheint die Identität m i t dem für das private Nachbarrecht zentralen Begriff der Ortsüblichkeit auf der Hand zu liegen. Beide Begriffe haben jedoch unterschiedlichen Aussagegehalt. I m Rahmen der Prüfung der Erheblichkeit i m Sinne des BImSchG w i r d die Ublichkeit heute vor allem durch die baurechtliche Zulässigkeitsprüfung bestimmt. Der Schwerpunkt dieser Bestimmung liegt hier — wenn man von den Vorhaben i m nicht beplanten Innenbereich und i m Außenbereich absieht — i n den durch Bebauungspläne erfolgenden Gebietsausweisungen 31 . Entsprechend legt die Technische Anleitung zum Schutz gegen L ä r m (TA Lärm), die als Verwaltungsanordnung für die Anwendung des § 6 BImSchG Bedeutung hat 3 2 , den zumutbaren L ä r m auch nach Planungsgebieten unterschiedlich fest 33 . Weicht die tatsächliche bauliche Nutzung von der i m Bebauungsplan festgesetzten ab, so ist zwar von der tatsächlichen Nutzung auszugehen, aber nur unter Berücksichtigung der i m Plan vorgesehenen zukünftigen Entwicklung 3 4 . I m Hinblick auf luftverunreinigende Immissionen ist die Fixierung auf ein bestimmtes Gebiet schwieriger, da sie hier — anders als beim L ä r m — sachlich kaum möglich ist 3 5 . Entsprechend geht die Technische Anleitung zur Reinhaltung der L u f t (TA L u f t ) 3 6 von Gebieten von 4 x 4 k m aus 37 . Trotzdem ist die Frage, ob 20
Vgl. Westermann, Maßnahmen, S. 48. Abweichend Feldhaus, § 3 BImSchG A n m . 10, der für die Beurteilung der Erheblichkeit i m Sinne des BImSchG den von der Rechtsprechung für den Begriff der Wesentlichkeit i m privaten Nachbarrecht entwickelten Maßstab des „Empfindens eines Durchschnittsmenschen" heranziehen w i l l . F ü r Gleichsetzung auch Rathjen, Z M R 1975,136. 31 Vgl. dazu i m einzelnen die Ausführungen i m folgenden, 1. Kapitel, I I 3. 32 Allgemeine Verwaltungsvorschrift über genehmigungsbedürftige Anlagen nach § 16 GewO, Technische A n l e i t u n g zum Schutz gegen L ä r m (TA Lärm) v o m 16. J u n i 1968, veröffentlicht i n der Beilage zum BAnz. Nr. 137 v o m 26. 7. 1968. Ubergeleitet nach § 66 I I BImSchG. 33 Vgl. T A L ä r m 2.321 u n d 2.322. 34 Vgl. T A L ä r m 2.322. 35 Vgl. Westermann, Festschrift für Larenz, S. 1024: Luftverunreinigung n u r als Emission bedeutsam; ferner Maßnahmen, S. 10, 14: Das Luftreinhalterecht schützt die Öffentlichkeit, hat aber auch eine nachbarrechtliche K o m ponente. 36 Erste Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Bundes-Immissionsschutzgesetz — Technische A n l e i t u n g zur Reinhaltung der L u f t — T A L u f t — v o m 28. August 1974, GMB1. S. 426 v o m 4. Sept. 1974, ber. GMB1. S. 525. 37 T A L u f t 2.5.2; vgl. dazu Feldhaus, § 5 BImSchG A n m . 5. 30
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man überhaupt einem größeren Gebiet die — nur generell zulässige — Luftverunreinigung zumuten w i l l , doch wieder jedenfalls unter Heranziehung der Gebietsfestsetzungen der Bauplanung zu entscheiden. Die umfassende Güterabwägung, die i m Hinblick auf das gesetzliche Merkmal der „Erheblichkeit" anzustellen ist, läßt sich also ohne Einbeziehung bauplanungsrechtlicher Vorentscheidungen kaum durchführen. Demgegenüber stellt das privatrechtlich maßgebende Merkmal der Ortsüblichkeit auf die i m Augenblick tatsächlich geübte Nutzung i n einem engeren, mehr oder weniger einheitlich geprägten Raumbezirk ab 3 8 . Die Rechtsprechung des B G H lehnt es ab, die Ortsüblichkeit i m Sinne des § 906 BGB nach der Bauleitplanung zu bestimmen 39 . Wenn man sich dieser Rechtsprechung anschließt, decken sich „Gefahr, erheblicher Nachteil und erhebliche Belästigung" i m Sinne des BImSchG nicht mit der durch das private Nachbarrecht festgelegten Grenze zulässiger Grundstücksnutzung 40 . M i t der Feststellung dieser Inkongruenz ist auch das Entscheidende über das Verhältnis zwischen privaten Nachbarrechten und baurechtlicher Entscheidung, die nach § 6 Ziffer 2 BImSchG zur Voraussetzung der Genehmigung gemacht w i r d 4 1 , schon gesagt. Wenn man sich der BGHRechtsprechung anschließt, scheidet eine Deckung m i t den privaten Nachbarrechten auch insoweit aus. Die beiden hier untersuchten Genehmigungsvoraussetzungen des § 6 BImSchG sind, w e i l der Begriff der Erheblichkeit des Nachteils und der Belästigung die Entscheidung des Baurechts, insbesondere die Planungsentscheidung, seinerseits voraus38
BGH, 30.10.1970, B G H Z 54, 389. BGH, 18. 6. 1958, N J W 1958, 1393; 30. 4. 1958, N J W 1958, 1776; 16. 6. 1959, N J W 1959, 1632; 8. 7. 1964, DVB1. 1968, 51; 15. 1. 1971, DVB1 1971, 744; zustimmend Westermann, Flexible Bestimmungen, S. 97; auch Scherer, B B 1965, 255; Peters, DÖV 1965, 747; Mühl, Festschrift f ü r Raiser, S. 183; Ernst ! Zinkahn ! Bielenberg, Vorbemerkung vor §§ 4 0 - 4 4 BBauG, Rdz. 10, Baur, JZ 1974, 660; abweichend Kubier / Speidel, I 24, S. 37,1 99 ff., S. 78 ff.; Schrödter, § 31 B B a u G A n m . 22; Sendler, BauR 70, 7 A n m . 23; Giesler, S. 186; Breuer, S. 270. Vgl. zu diesem Problem auch Mittenzwei, M D R 1977, 99, der die Ortsüblichkeit als Tatbestandsvoraussetzung des privatrechtlichen Immissionsschutzes durch die Voraussetzung der „Umweltverträglichkeit" ersetzen w i l l . 39
40 Einen methodisch bedeutsamen Lösungsversuch für das Verhältnis von § 906 B G B zur Schädlichkeitsgrenze nach BImSchG u n t e r n i m m t Baur, J Z 1974, 657, u n d zwar auf der Grundlage seiner Auffassung, daß die Genehmigungsbehörde grundsätzlich die privatnachbarliche Grenze zu beachten habe (vgl. dazu oben A n m . 3 auf S. 22: Der Beklagte k o m m t bei Verbietungsklagen nach §§ 1004, 903, 906 B G B der i h n treffenden Beweislast f ü r Unwesentlichkeit, Ortsüblichkeit u n d Nichtverhinderbarkeit der Immission zunächst nach, w e n n er die Einhaltung der Richtwerte nachweist. Der Kläger muß versuchen, diesen Beweis (des ersten Anscheins) — etwa durch Darlegung besonderer ö r t licher Verhältnisse — zu erschüttern. Vgl. Baur, J Z 1974, 660. Dazu kritisch Mittenzwei, M D R 1977,104. 41
Vgl. oben A n m . 18 auf S. 26.
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1. Kap.: Privates u n d öffentl. Nachbarrecht i m Bereich des BImSchG
setzt, aufeinander abgestimmt 42 , während das private Nachbarrecht des § 906 BGB sich aus eben diesem Grunde m i t keiner der beiden Genehmigungsvoraussetzungen deckt. Stellt man die Unvereinbarkeit von bestimmten gesetzlichen Merkmalen des Privatrechts und des öffentlichen Rechts nach dem überkommenen Verständnis dieser Merkmale fest, so ergibt sich die Frage, ob eine Angleichung (ζ. B. des privatrechtlichen Begriffs der Ortsüblichkeit an den durch Bebauungsplan festgelegten Zustand) erforderlich ist oder welche Lösung sonst möglich sein mag. Für den Rechtszustand nach BImSchG kann danach folgendes festgestellt werden: Nachbarliche Einwendungen aus §§ 1004, 906, 907 BGB können erhoben werden, wie sich aus der Beschränkung der Präklusion auf besondere privatrechtliche Titel i n § 10 I I I BImSchG ergibt 4 3 . Das entspricht der früheren Regelung i n der Gewerbeordnung. Die nachbarlichen Einwendungen i n überkommener privatrechtlicher Auslegung decken sich jedoch nicht m i t den Genehmigungsvoraussetzungen des § 6 BImSchG. Diese Inkongruenz w i r d jetzt deutlicher als bei der Regelung durch die Gewerbeordnung, die eine § 6 BImSchG entsprechende Regelung noch nicht kannte. Daß die privatnachbarlichen Einwendungen unabhängig von § 6 BImSchG i n vollem Umfange zu berücksichtigen wären, darf als ausgeschlossen angesehen werden, w e i l § 6 BImSchG als abschließende Regelung der Genehmigungsvoraussetzungen angesehen werden muß 4 4 . Die Frage bleibt also, wie diese beiden scheinbar widersprüchlichen Regelungen des BImSchG zu vereinbaren sind. 2. Die Unterscheidung zwischen einem durch das öffentliche Recht und einem durch das Privatrecht entschiedenen Konflikt als Grundlage einer Lösung a) Die Unterscheidung von Konflikten als methodischer Ansatz
Zur Klärung der Frage nach der privatrechtsgestaltenden Natur der Genehmigimg nach §§ 4 ff. BImSchG hatten w i r untersucht, welchen Einfluß die privaten Nachbarrechte der §§ 1004, 906, 907 BGB i m Genehmigungsverfahren selbst haben. Der Uberblick über die gesetzliche 42 Kübler / Speidel, I 46, S. 50, führen f ü r das Baunachbarrecht sogar aus, daß es i n der Regel n u r auf Vermeidung von Gefahren sowie erheblichen Nachteilen u n d Belästigungen gerichtet ist. Sie benutzen also die auch i m BImSchG verwandte Formulierung für den baurechtlichen Bereich. Die entsprechenden Begriffe sind dann auch i n § 8 Baunutzungsverordnung verwendet, woraus das B V e r w G i n seinem U r t e i l v o m 18. 10. 1974, N J W 1975, 461, den Schluß zieht, daß nach § 16 GewO genehmigungsbedürftige Anlagen grundsätzlich n u r i m Industriegebiet zulässig sind. 48 So auch die Begründung des Gesetzes zu § 10 BImSchG. 44 Vgl. oben S. 25 A n m . 16.
I I . Berücksichtigung privatrechtl. Nachbarrechte nach BImSchG?
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Regelung, über Literatur und Rechtsprechung hat hier jedoch zu keinem einheitlichen B i l d geführt. Das BImSchG als heute maßgebender Rechtszustand ermöglicht zwar die Geltendmachung dieser Rechte als Einwendung, bestimmt die Voraussetzungen der Genehmigung aber rein öffentlich-rechtlich. Die Meinungen i n der Literatur treten sich m i t Schärfe gegenüber, ohne daß sie jedoch einen methodischen Ansatz böten, der eine grundlegende Lösung des Problems ermöglicht. Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung gibt nur subjektive öffentliche Nachbarrechte, sie stellt auch nicht materiell auf die Frage ab, ob subjektive Rechte des Privatrechts verletzt sind. Die Lösung der aufgeworfenen Problematik erfordert u. E. einen umfassenderen methodischen Ansatz. Es reicht nicht aus, die Stellung der privaten Nachbarrechte i m öffentlich-rechtlichen Genehmigungsverfahren zu problematisieren, das private Nachbarrecht muß vielmehr i n der Funktion, die es bei privatrechtlicher Anwendung hat, i n Beziehung gesetzt werden zu der Funktion der gesamten öffentlich-rechtlichen Regelung des Genehmigungsverfahrens. Eine solche Funktionsbestimmung der beiderseitigen Regelungen kann nur gelingen, wenn w i r die durch sie jeweils erfaßten Interessenkonflikte genauer herausarbeiten. Erst auf der Grundlage ihrer Unterscheidung lassen sich auch die gesetzlichen Regelungen zueinander i n Beziehung setzen und weiter die Bedeutung der gewährten subjektiven Abwehrrechte klären. Hier ist jedoch eine Bemerkung zu dieser A r t des methodischen Ansatzes erforderlich. W i r haben, anknüpfend an die Auffassung vom Recht als Konfliktsentscheidung 45 , i n der Schrift „Das subjektive Recht i m Prozeß der Rechtsgewinnung" eine Theorie des subjektiven Rechts ausgearbeitet. I n dieser Schrift werden der konkrete Konflikt, die rechtliche Konfliktsentscheidung und das durch sie gewährte subjektive Recht i m Sinne eines Anspruchs zueinander i n Beziehung gesetzt. Diese Unterscheidungen werden auch i n der vorliegenden Arbeit verwendet. Sie sind jedoch i n dem hier zur Erörterung stehenden praktischen Zusammenhang für sich verständlich, so daß eine genauere Darlegung hier nicht erforderlich ist. Folgende Punkte sollten allerdings zum besseren Verständnis der hier vertretenen Lösung hervorgehoben werden: I m Privatrecht ist insbesondere seit den Untersuchungen von Heck die Vorstellung, daß die einzelne Norm über einen K o n f l i k t entscheidet, nicht ungewöhnlich. Heck selbst spricht von einem System der Konfliktsentscheidungen, wie es sich durch seine Methode ergibt 4 8 . Der Richter 45
Vgl. dazu etwa Heck, Begriffsbildung u n d Interessent urisprudenz, S. 148. Heck, Begriffsbildung u n d Interessenjurisprudenz, S. 151; vgl. dazu Canaris, Systemdenken u n d Systembegriff i n der Jurisprudenz, S. 35 ff., der dieses „System" m i t Recht zugleich als das der Interessen jurisprudenz überhaupt bezeichnet. 46
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1. Kap.: Privates u n d öffentl. Nachbarrecht i m Bereich des BImSchG
verwirklicht — nach Heck — diese gesetzliche Konfliktsentscheidung durch einen A k t „denkenden Gehorsams" 47 . Dieses „System der Konfliktsentscheidungen" läßt sich auch auf das öffentliche Recht übertragen. I n diesem Bereich stehen sich nicht typischerweise private Interessen gegenüber, sondern i n der wohl bedeutsamsten Fallgruppe stehen private und öffentliche Interessen miteinander i m Konflikt, über den dann die öffentlich-rechtliche Norm entscheidet. Die öffentlich-rechtliche Norm entscheidet aber auch i n vielen Fällen über miteinander i m K o n f l i k t stehende öffentliche Interessen und sogar — nämlich i m Baunachbarrecht, wie sich aus den weiteren Ausführungen noch ergeben w i r d — über i m K o n f l i k t stehende private I n teressen. W i r verwenden also für beide Rechtsgebiete (Privatrecht und öffentliches Recht) den gleichen methodischen Ansatz. Er ermöglicht es uns, i n beiden Gebieten sachlich beschreibbare Konflikte herauszuarbeiten, sie i n eine Beziehung zu den für sie getroffenen Konfliktsentscheidungen zu setzen und diese selbst miteinander zu vergleichen. I m Rahmen dieser Arbeit interessieren, was den öffentlich-rechtlichen Bereich angeht, vor allem die Normen, die die Genehmigung nach §§ 4 ff. BImSchG und die einfache Baugenehmigung regeln. I n diesem Sachbereich ergeben sich Besonderheiten sowohl hinsichtlich der Konflikte als auch hinsichtlich der Konfliktsentscheidungen, die vorweg hervorgehoben werden sollen. Was die Konflikte betrifft, so steht einmal der Bauherr m i t dem Staat (in einem weitesten, auch die Kommune umfassenden Sinne) i n einem K o n f l i k t über die Ausnutzung seines Grundstücks. I n diesem K o n f l i k t macht der Bauherr sein Entfaltungsinteresse geltend, während der Staat — gegen dieses Entfaltungsinteresse — das öffentliche Interesse an der raumgerechten Einschränkung dieser Entfaltung v e r t r i t t 4 8 . Zum anderen steht der Bauherr mit seinem privaten Nachbarn i n einem Konflikt, i n welchem dieses Entfaltungsinteresse auf die Schonungsinteressen der Nachbarn trifft. Es liegt auf der Hand, daß i m Rahmen dieser Arbeit insbesondere dieser zweite K o n f l i k t interessiert. Was die Konfliktsentscheidung i n diesem öffentlich-rechtlichen Bereich betrifft, so w i r d sie nicht allein i n der gesetzlichen Norm getroffen, vielmehr hat die öffentlich-rechtliche Formtypik hier zu einer spezifischen Ausgestaltung der „Rechtsgewinnung" geführt: Die Rechtslage 47
Heck, Begriffsbildung u n d Interessenturisprudenz, S. 106,107. Über dieses Gegeneinander der Interessen w i r d — u. a. — durch die baurechtliche Zulässigkeitsentscheidung entschieden, u n d zwar v o m Staat i n seiner Rechtssetzungsfunktion. Das Interesse an der Rechtssetzung ist auch ein öffentliches, aber es ist von dem das private Interesse einschränkenden öffentlichen Interesse an raumgerechter Gestaltung zu unterscheiden. 48
I I . Berücksichtigung privatrechtl. Nachbarrechte nach BImSchG?
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bleibt nicht — wie i m Privatrecht — bis zu einem konkreten Streitfall nur abstrakt entschieden, sondern w i r d — als Folge des Genehmigungserfordernisses für lästige Anlagen und Bauten — für jeden einzelnen F a l l durch die Genehmigung „festgestellt". Die Konfliktsentscheidung liegt also hier i n einer als Einheit zu sehenden Entscheidungskette, die von den Normen des BImSchG und des BBauG über die Bauleitpläne, sofern es sich um beplante Gebiete handelt, bis zur Genehmigung nach BImSchG und BBauG reicht 49 . I m Rahmen dieser Entscheidungskette schöpfen die Pläne und Genehmigungen entweder zusammen oder — i n den Fällen der §§ 34 und 35 BBauG — die Genehmigung allein den Entscheidungsspielraum aus, den die Norm gelassen hat. I m Zuge des Entscheidungsprozesses fällt die Entscheidung über den Konf l i k t der privaten Nachbarn — jedenfalls dem Schwerpunkt nach — i m Bauplanungsrecht für den beplanten Bereich bei der Aufstellung des Planes, für den nicht beplanten Innenbereich und für den Außenbereich bei der Erteilung der Genehmigung selbst. Das w i r d i m einzelnen i m folgenden weiter ausgeführt. Unter dem Aspekt der generellen Unterscheidung von K o n f l i k t und rechtlicher Entscheidung über den K o n f l i k t liegt die rechtliche Entscheidung jedoch i n der gesamten Entscheidungskette von der Norm bis zur Genehmigung. Für die folgende Untersuchung bedeutsam ist noch die Beziehung zwischen Konfliktsentscheidung und „subjektivem Recht", auf die daher i m Rahmen dieser methodischen Vorbemerkung noch ein Blick zu werfen ist. I m privatrechtlichen Bereich „verwirklicht" sich die Konfliktsentscheidung i n der Regel dadurch, daß dem einzelnen bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen ein Anspruch gewährt wird. Ζ. B. gewährt die Konfliktsentscheidung der §§ 1004, 906 BGB zwischen den Nachbarn einem der an dem K o n f l i k t beteiligten Nachbarn gegen den anderen einen Abwehranspruch, wenn die Anspruchsvoraussetzungen dieser Bestimmungen erfüllt sind. Der „rechtlich anerkannte Anspruch" ermöglicht es dem einzelnen, die Konfliktsentscheidung zu seinen Gunsten durchzusetzen. Die öffentlich-rechtliche Dogmatik weist dem subjektiven öffentlichen Recht i m hier interessierenden Bereich dagegen einen anderen Platz an: Es, ζ. B. das subjektive öffentliche Nachbarrecht, soll die gesetzmäßige Konfliktsentscheidung erst herbeiführen, wenn der einzelne i n einem bestimmten, hier nicht weiter interessierenden Ausmaß durch die i m Einzelfall getroffene Entscheidung i n seinen Interessen betroffen ist. Der Unterschied zum privatrechtlichen Anspruch be40 Rechtsschutz ist jetzt für den Nachbarn nicht n u r durch Anfechtungsklage gegen die Baugenehmigung, sondern bereits i m Hinblick auf einen der B a u genehmigung zugrundeliegenden Bebauungsplan nach § 47 V w G O (in der Fassung des Gesetzes zur Änderung verwaltungsprozessualer Vorschriften v o m 24. 8. 1976, Bundesgesetzblatt 1976, T e i l I, S. 2437) möglich, der bundesweit ein Normenkontrollverfahren gegen Satzungen nach dem Bundesbaugesetz eröffnet. Z u § 47 V w G O vgl. i m einzelnen 3. Kapital, I I I , 1, S. 185 f.
3 Schapp
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1. Kap.: Privates u n d öffentl. Nachbarrecht i m Bereich des BImSchG
ruht vor allem auf der ausgeprägten öffentlich-rechtlichen Formtypik 5 0 . Den gemeinsamen Nenner für beide Rechtsgebiete kann man jedoch dar i n sehen, daß das subjektive Recht letzten Endes beiderseits der Durchsetzung gesetzlicher Konfliktsentscheidungen durch den einzelnen dient, soweit diese Konfliktsentscheidungen ihrerseits wieder über Interessen des einzelnen entschieden haben. Damit ist das subjektive Recht sowohl i m Privatrecht wie i m öffentlichen Recht i n den Zusammenhang von K o n f l i k t und Konfliktsentscheidung eingebunden und erhält seine Individualität aus diesem Zusammenhang. Vor allem darauf kommt es uns i m folgenden an, wenn w i r das privatrechtliche Abwehrrecht der §§ 1004, 906 BGB und das subjektive öffentliche Nachbarrecht i n Beziehung zueinander setzen 51 . Für den Zweck der vorliegenden Arbeit reichen diese kurzen Bemerkungen zum subjektiven Recht aus, es bedarf keines näheren Eingehens auf die vielschichtige Theorie dieses Begriffs. I m folgenden sollen also die Konfliktlösungen der §§ 1004, 906, 907 BGB einerseits und der gesetzlichen Genehmigungsvorschriften des BImSchG und des Bauplanungsrechtes andererseits dadurch voneinander abgegrenzt werden, daß die ihnen zugrundeliegenden Konflikte unterschieden werden. Nur auf der Grundlage einer sachlichen Unterscheidung der Konflikte selbst sind auch weitere Schlußfolgerungen über die ihnen entsprechenden Konfliktsentscheidungen und subjektiven Rechte berechtigt. Diese Unterscheidung ist also zunächst durch eine Beschreibung der Konflikte deutlich zu machen. Dabei w i r d auch auf die gesetzliche Regelung zurückgegriffen, i n deren Begriffen und Wertungen die Eigenart der Konflikte ja deutlich zum Ausdruck kommt. b) Abgrenzung der durch § 906 BGB und der durch BBauG und BImSchG geregelten Konflikte
§ 906 BGB entscheidet über die gegenseitige Grundstücksnutzung der Nachbarn auf der Grundlage eines status quo. Zugrundegelegt ist dabei die beiderseits ortsübliche Nutzung, wenn die Vorschrift auch nur von der ortsüblichen Nutzung des beeinträchtigenden Grundstücks spricht 5 2 . 50 Der Verfasser ist i n seiner Schrift „Das subjektive Recht i m Prozeß der Rechtsgewinnung", 7. Kapitel, S. 144 - 180, auf diesen Fragenkreis näher eingegangen u n d hat dort versucht, eine materielle Anspruchskonzeption f ü r das subjektive öffentliche Recht zu entwickeln. Dasselbe Ziel verfolgt — m i t anderer Lösung — Henke, Das subjektive öffentliche Recht. 61 Die strukturelle Vergleichsmöglichkeit von actio negatoria des Z i v i l rechts u n d verwaltungsgerichtlicher Anfechtungsklage ist vor allem von Menger, System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, § 36, S. 118 f., herausgearbeitet worden. Menger sieht das t e r t i u m comparationis i n der rechtswidrigen, aber nicht notwendig schuldhaften Störung des Eigentums, während das dingliche Recht selbst k e i n Anspruch ist. 52 Vgl. Westermann, Welche gesetzlichen Maßnahmen, S. 51.
I I . Berücksichtigung privatrechtl. Nachbarrechte nach BImSchG?
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Das Maß der zulässigen Nutzung richtet sich dabei nach der tatsächlichen Nutzung 5 3 i n einem engeren Raumbezirk, dem von Westermann sog. kleinnachbarlichen Raum 5 4 . Daß die tatsächliche Nutzung maßgebend ist, ist nicht bedeutungslos, sondern muß als ein zentraler Gedanke der ganzen Bestimmung angesehen werden. Ebensowenig wie der Grundsatz der Prävention (besseres Recht zufolge früheren Bestehens) g i l t 5 5 , bestimmt sich der Ausgleich nach einem zukünftig vermutlich eintretenden Raumzustand. Die Entwicklungstendenzen werden dem tatsächlichen Verlauf überlassen 56 . Westermann bezeichnet das Nachbarrecht daher auch als automatische Ordnung, i m Gegensatz zu der vom Plan gewollten Ordnung 5 7 . Das Nachbarrecht, so führt Westermann aus 58 , läßt Entwicklungen zwar zu, bestimmt sie aber nicht inhaltlich. Entsprechend geht es dem Nachbarrecht primär um nachträglichen Ausgleich, nicht um Prävention durch Lenkung der Raumentwicklung 5 0 e o . Der damit i n der Bestimmung des § 906 BGB offengehaltene Raum der „tatsächlichen Entwicklung" w i r d heute durch das Raumplanungsrecht, aber auch durch die Bestimmungen des Bundesimmissionsschutzgesetzes geregelt, soweit sie raumgestaltenden Charakter haben, wie z. B. § 6 Ziffer 1 BImSchG 6 1 . Der von § 906 BGB zugrundegelegte tatsächliche Zustand w i r d „gewollt" durch Pläne und Genehmigungen entwikkelt 6 2 . Erst die Pläne und Genehmigungen lösen den K o n f l i k t zwischen Beharrungs- und Entwicklungstendenzen, der für die öffentlich-recht53 Vgl. Westermann, Flexible Bestimmungen, S. 93, 96; Palandt / Bassenge, § 906 B G B Erl. 3 b) aa); BGH, 16. 6. 1959, N J W 1959, 1632; dazu auch Kühler I Speidel, I 99, S. 79 u n d die A n m . 39 oben S. 29. 54 Westermann, Festschrift f ü r Larenz, S. 1006 A n m . 5. 55 Vgl. dazu Westermann i n Erman / Westermann, § 906 B G B A n m . 14. 56 Westermann, Festschrift f ü r Larenz, S. 1013. 57 Westermann, Flexible Bestimmungen, S. 88. 58 Flexible Bestimmungen, S. 105. 59 So Westermann, Festschrift f ü r Larenz, S. 1021. 60 Von diesem durch § 906 B G B entschiedenen K o n f l i k t ist die Durchsetzung von M a r k t r a t i o n a l i t ä t m i t M i t t e l n des Privatrechts zu unterscheiden, die Walz, Festschrift f ü r Raiser, S. 185, untersucht, aber dann doch w o h l nicht für möglich hält, ebd., S. 213. Walz gibt bei dieser Gelegenheit eine tiefgründige Analyse, wieso sich der durch § 906 B G B entschiedene K o n f l i k t eigentlich i n der beschriebenen Weise darstellt (für den Richter das Problem des gerechten Interessenausgleichs i m Zwei-Parteien-Universium, ebd., S. 209; Frieden des Eigentümers statt Kosten-Nutzen-Modell, ebd., S. 214; Ausgleich individueller Enttäuschung trotz sozialer Nützlichkeit der beeinträchtigenden Handlung zum Zweck der Integration, ebd., S. 220). W i r können hier davon ausgehen, daß der K o n f l i k t sich tatsächlich sozial so konstituiert, w i e w i r i h n zugrundelegen, ohne nach dem W a r u m zu fragen. 61 Vgl. dazu das U r t e i l des B V e r w G v o m 12. 12. 1975, D Ö V 1975, 387 u n d die Ausführungen oben S. 27 zum M e r k m a l der „Erheblichkeit" des Nachteils und der Belästigung i m BImSchG. 82 Die Frage, w o r i n der gestaltende Charakter der Pläne u n d Genehmigungen liegt, w i r d eingehender i m folgenden unter I I 3 behandelt.
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1. Kap.: Privates u n d öffentl. Nachbarrecht i m Bereich des BImSchG
liehe Planung überhaupt kennzeichnend ist 6 3 . Privatrechtliche und öffentlich-rechtliche Konfliktsentscheidung stehen daher nicht i n Widerspruch, sondern lösen unterschiedliche Konfliktsituationen. Sie überschneiden sich nicht, sondern stehen zueinander i m Verhältnis notwendiger Ergänzung. Konfliktsparteien sind i m hier i m Betracht kommenden Bereich der „Raumgestaltung" einmal der private Grundstückseigentümer und der Staat als Träger des öffentlichen Interesses, zum anderen aber auch die benachbarten Grundstückseigentümer selbst 64 . Es ist i n der Literatur gelegentlich darauf hingewiesen worden, daß § 906 BGB auf einem vergleichsweise primitiven, i m wesentlichen nur die landwirtschaftliche Grundstücksnutzung berücksichtigenden Stande stehengeblieben sei 65 . Das Baurecht habe für die notwendige Rechtsfortbildung gesorgt 66 . Vom hier vertretenen Standpunkt ergibt sich eine etwas andere Akzentsetzung. Das private Nachbarrecht ist durch das Baurecht nicht fortgebildet worden, sondern dieses ist als Regelung einer durch das private Nachbarrecht nicht erfaßten Konfliktsituation neben das private Nachbarrecht getreten 67 . Dieses behält seine Funktion als nachbarlicher Ausgleich auf der Grundlage eines tatsächlichen status quo 6 8 . Es gilt heute vor allem, die beiden Konfliktsgruppen gegeneinander abzugrenzen, nicht, die für den einen Konflikt getroffene Entscheidung als Fortbildung der auf den anderen Konflikt bezogenen Entscheidung aufzufassen. Entscheidend ist, daß die beiden Konflikte und die auf sie bezüglichen Entscheidungen nebeneinander stehen und man nicht versucht, dieses Spannungsverhältnis künstlich abzugleichen 6 9 . Der nachbarliche Ausgleich auf der Grundlage eines tatsächlich beste83
Vgl. Westermann, Flexible Bestimmungen, S. 90. Vgl. etwa die gegeneinanderstehenden Belange nach § 1 V I I B B a u G i n der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Bundesbaugesetzes v o m 18. A u gust 1976, Bundesgesetzblatt 1976, T e i l I, S. 2221. Auch Friauf, DVB1 1971, 718, unterscheidet die dynamische, auf die Gestaltung der Z u k u n f t bezogene K o m ponente der Planung von dem p r i m ä r statischen, auf Bewahrung des bestehenden Zustands angelegten privaten Nachbarrecht. 65 So Rüfner, DVB1 1963, 609, 612; i h m folgend z. B. Bartlsperger, VerwArch 1969, 61. ββ So Rüfner, DVB1 1963, S. 612; auch Kubler / Speidel, I 3, S. 18, betonen, daß das Baunachbarrecht gegenüber dem privaten Nachbarrecht die Rechtsfortbildung übernommen habe. 67 Walz, Festschrift für Raiser, S. 216, spricht von zunehmender Ersetzung des Ortsüblichkeitsprivilegs durch behördliche Genehmigungsverfahren u n d sieht darin eine politisch gestalterische Dynamisierung einer bereits durch § 906 B G B intendierten raumordnenden Planung. 68 Vgl. auch Westermann, Festschrift f ü r Larenz, S. 1006, A n m . 5: § 906 B G B bleibt bedeutsam f ü r die Regulierung des kleinnachbarlichen Raumes. 89 Dahin geht auch der Grundgedanke von Westermann, i n : Flexible Bestimmungen, u n d i n : Das Sachenrecht i n der Fortentwicklung, S. 25: Die Rechtsgebiete sind i n der Zielrichtung unterschiedlich geplant, sie stimmen n u r i n der F l e x i b i l i t ä t der Eigentumsinhaltsbestimmung überein. 64
I I . Berücksichtigung privatrechtl. Nachbarrechte nach BImSchG?
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henden Raumzustandes, wie er i m Privatrecht erfolgt, bleibt trotz der Ordnung der Entwicklung des Raumes durch Pläne und Genehmigungen unentbehrlich. 3. Die Stellung der privaten Nachbarrechte im Genehmigungsverfahren nach BImSchG Wenn man i n dieser Weise den Nutzungskonflikt bei vorgegebenem Raumzustand und den K o n f l i k t um die Zulässigkeit einer nach BImSchG genehmigungsbedürftigen Anlage unterscheidet, kann das zur Lösung des Nutzungskonfliktes i n dem beschriebenen engeren Sinne gegebene private Abwehrrecht aus §§ 1004, 906 BGB die Entscheidung des Konfliktes um die künftige Raumnutzung durch die genehmigungspflichtige Anlage nicht bestimmen. Wenn man das privatrechtliche Abwehrrecht durchgreifen ließe, würde man gewissermaßen die eine Konfliktslösung der anderen aufpfropfen. Der Auffassung von Landmann / Rohmer / Eyermann / Fröhler, Baur, Konzen, Beyer und Bender / Dohle 7 0 kann also nicht gefolgt werden. Das Verhältnis der beiderseits, i m Privatrecht wie nach BImSchG, betroffenen Interessen und vollzogenen Wertungen kann jedoch auf der erarbeiteten Grundlage noch näher bestimmt werden. Dafür ist zunächst noch eine Vorbemerkung zur Methode unerläßlich. Grundlegend für unseren Ansatz ist, daß jedes einzelne Interesse nur i n einem bestimmt beschreibbaren K o n f l i k t vorkommt. Gesetzgeber und Rechtswissenschaft haben es u. E. auch nur m i t solchen, durch einen größeren Kontext bereits individualisierten Interessen zu tun. Ein Interesse ist möglicher Gegenstand einer Bewertung nur i n diesem Zusammenhang, weil es erst i n diesem Zusammenhang überhaupt beschreibbar ist, nie gewissermaßen isoliert für sich. Wenn also nach dem Verhältnis privater nachbarlicher Interessen zu einer privatrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Konfliktsentscheidung gefragt wird, ist von vornherein davon auszugehen, daß diese privaten nachbarlichen Interessen bereits durch den Konflikt, i n dem sie vorkommen, individualisiert werden und nicht gewissermaßen ein für allemal fest definierte Interessen hier Gegenstand dieser und dort Gegenstand jener Entscheidung sind. Grundlage einer Lösung der aufgeworfenen Frage kann also nur die konsequente Unterscheidung der beiden von uns herausgearbeiteten Konflikte sein. I m privatrechtlich entschiedenen Nutzungskonflikt hat der Nachbar ein Interesse an der Beschränkung der Nutzung des Störenden, und der Gesetzgeber wählt hier als rechtlichen Abgrenzungsmaßstab die tatsächliche Ortsüblichkeit der Nutzung des engeren Raumes. Genau genommen kennzeichnet das gesetzliche Merkmal der Ortsüblichkeit also 70
Vgl. dazu die Literaturangaben oben S. 22 A n m . 3 u n d 5.
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bereits die Bewertung. Daß aber über das nachbarliche Interesse überhaupt m i t dieser Abgrenzung entschieden werden kann, liegt daran, daß dieses Interesse an möglichst wenig Störung gerade i n diesem K o n f l i k t vorkommt und damit eine ganz bestimmte Stärke hat, der der Gesetzgeber m i t dieser Entscheidung Rechnung trägt. Komplizierter ist die Problematik i m öffentlichen Recht. Hier gehen w i r einerseits von einem K o n f l i k t der Nachbarn u m die Raumentwicklung aus, innerhalb dessen die bestehende Bebauung ein — durch diesen Konflikt individualisiertes — Interesse an möglichst wenig Störung durch ein Bauvorhaben hat 7 1 , und i n dem andererseits durch eine Entscheidungskette über diesen K o n f l i k t entschieden wird, die von den Normen des BImSchG und des Bauplanungsrechtes bis zur Genehmigung reicht, die für das einzelne Vorhaben erteilt wird. Insbesondere i m Hinblick auf die öffentlich-rechtliche Entscheidung sind jetzt aber genauere Differenzierungen erforderlich. Die öffentlich-rechtliche Entscheidung über den K o n f l i k t der Nachbarn um die Raumentwicklung erfolgt — ihrem Schwerpunkt nach — nicht aufgrund der Genehmigungsnormen des BImSchG, sondern aufgrund der Normen des Bauplanungsrechtes. Das B V e r w G hat dies i m Hinblick auf das Nebeneinander von Wohn- und Industriegebieten i n seinem Urteil vom 5. 7. 1974 hervorgehoben 72 . Es führt aus 73 : „Das Nebeneinander von Wohn- und Industriegebieten ist i n seiner prinzipiellen Anfälligkeit für Konflikte kein Phänomen, das es gewerbe- bzw. immissionsschutzrechtlich zu steuern gilt, sondern es ist ein solches, das — wo nur irgend möglich — planungsrechtlich vermieden werden sollte." W i r können uns daher an dieser Stelle darauf beschränken, die Entscheidung über das Gegeneinander der nachbarlichen Interessen i m Bauplanungsrecht zu verorten, welches ja nach § 6 Ziffer 2 BImSchG auch i m Genehmigungsverfahren nach BImSchG als Grundlage der zugleich miterteilten Baugenehmigung zur Anwendung kommt. A u f das Verhältnis der privatrechtlichen Abgrenzung nach §§ 1004, 906 BGB zur Schädlichkeitsgrenze nach § 6 Ziffer 1 BImSchG w i r d dann i n einem späteren Zusammenhang noch eingegangen 74 . I m Bauplanungsrecht ist die Entscheidung über den K o n f l i k t nachbarlicher Interessen i m Rahmen der Entscheidungskette, die von der ge71 Hoppe, Festschrift f ü r Scupin, S. 138, unterscheidet i m wesentlichen zwei „private Belange" i m Rahmen des § 1 I V 2 B B a u G (heute § 1 V I I BBauG): das aus dem Eigentum fließende Recht auf bauliche Nutzung u n d das Interesse, daß Vorteile nicht geschmälert werden, die sich aus einer bestimmten V e r kehrs» u n d Wohnlage ergeben. Das für uns hier bedeutsame Interesse ist dieses zweite. 72 Delog-Urteil, B V e r w G E 45, 309. 78 B V e r w G E 45, 328. 74 Vgl. 1. Kapitel, I I I 4.
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setzlichen Norm bis zur Baugenehmigung reicht, an unterschiedlichen Stellen zu verorten, je nachdem, ob es sich um ein Vorhaben i m Geltungsbereich eines Bebauungsplans (§ 30 BBauG), innerhalb eines i m Zusammenhang bebauten Ortsteils (§ 34 BBauG) oder u m ein Vorhaben i m Außenbereich (§ 35 BBauG) handelt. Entscheidend für die Frage, ob ein Grundstück innerhalb eines i m Zusammenhang bebauten Ortsteils i m Sinne des § 34 I BBauG oder i m Außenbereich i m Sinne des § 35 BBauG liegt, ist, ob das Grundstück mit der vorhandenen Bebauung eine städtebauliche Einheit bildet. Der Bebauungszusammenhang reicht soweit, wie die aufeinanderfolgende Bebauung trotz vorhandener Baulücken den Eindruck der Geschlossenheit vermittelt 7 5 . Streng genommen läßt sich zwar, wie schon ausgeführt wurde 7 6 , nur die gesamte Entscheidungskette von der baurechtlichen Gesetzesnorm bis zur Baugenehmigung als Entscheidung über den nachbarlichen K o n f l i k t auffassen, w e i l einerseits ohne eine gesetzliche Normierung schon der Rahmen für eine weitere Konkretisierung der Zulässigkeit eines Vorhabens fehlen würde und weil andererseits der letzte A k t der Entscheidungskette, die Baugenehmigung, i n der Regel erst die unmittelbare Wirkung auf den Nachbarn herbeiführt 7 7 . Das befreit aber nicht von der Prüfung, wo i m Rahmen dieses Entscheidungsprozesses materiell, wenn auch eingebettet i n diesen größeren Rahmen die Entscheidung über den nachbarlichen Konf l i k t fällt. Bei einem nach § 30 BBauG zu beurteilenden Vorhaben, also i m beplanten Bereich, w i r d man die Entscheidung über den nachbarlichen K o n f l i k t i n der Aufstellung des Planes selbst zu sehen haben. Es liegt auf der Hand, daß w i r die Entscheidung über den nachbarlichen Interessenkonflikt damit i n der Abwägung sehen, die gemäß § 1 V I I BBauG bei der Aufstellung der Bauleitpläne über die privaten Belange untereinander stattzufinden hat. Gegenüber der bisherigen Fassung des A b wägungsgebotes i n § 1 I V 2 BBauG a. F. ist die Zentralität der Abwägung für die Planung nunmehr i n der Novellierung durch Aufnahme i n einen eigenen Absatz (§ 1 V I I BBauG n. F.) noch deutlicher gemacht worden 7 8 . I n der Literatur ist anerkannt, daß das Interesse der schon bestehenden Bebauung an möglichst weitgehender Schonung ein privater Belang i m 75 Vgl. dazu Schrödter, § 19 B B a u G Rdz. 3 m i t Rechtsprechungsnachweisen. Nach § 34 I I B B a u G n. F. k a n n der i m Zusammenhang bebaute Ortsteil jetzt durch Satzung v o m Außenbereich abgegrenzt werden, wobei auch solche Grundstücke i n den Innenbereich einbezogen werden können, die an u n d f ü r sich i m Außenbereich liegen, aber den i m Zusammenhang bebauten Ortsteil abrunden würden. Vgl. dazu Bielenberg / Dyong, Das neue Bundesbaugesetz, Rdnr. 144, S. 275 u n d Baumeister / Baumeister, Bundesbaugesetz, T e i l I, E r läuterung I V 6 a der Novelle zum BBauG, S. 31. 76 1. Kapitel, I I 2 a. 77 Dem steht nicht entgegen, daß neuerdings nach § 47 V w G O n. F. Rechtsschutz — bundesweit — bereits gegen den Bebauungsplan möglich ist. 78 So auch Hoppe, DVB11977,136.
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1. Kap.: Privates u n d öffentl. Nachbarrecht i m Bereich des BImSchG
Sinne des § 1 V I I BBauG ist 7 9 . Diesem privaten Belang des Nachbarn steht das aus dem Grundeigentum fließende Interesse des Bauherrn an möglichst weitgehender Entfaltung entgegen, das ebenfalls einen privaten Belang i m Sinne des § 1 V I I BBauG darstellt 8 0 . Das Abwägungsgebot des § 1 V I I BBauG betrifft auch dieses Gegeneinander der privaten Belange. Sie sind bei der Aufstellung der Bauleitpläne gerecht untereinander abzuwägen. I n der Literatur steht bei der Analyse des § 1 I V 2 BBauG a. F. i n der Regel der Ausgleich zwischen Baufreiheit einerseits und städtebaulicher Ordnung andererseits, also das Verhältnis von privaten und öffentlichen Belangen, i m Vordergrund 8 1 . Daß man auch den nachbarlichen K o n f l i k t als durch die Planaufstellung entschieden ansieht, w i r d durch den Wortlaut der Bestimmung (private Belange gegeneinander und untereinander) nahegelegt. Es ist letztlich aber vor allem eine Konsequenz, die aus der Gewährung subjektiver öffentlicher Nachbarrechte folgt. Wenn auch die Bestimmung des § 1 V I I BBauG selbst ebenso wenig wie der Plan — allein aufgrund seiner Natur als Satzung — als nachbarschützend anerkannt sind, sondern die subjektiven A b wehrrechte des öffentlichen Rechts selbst wieder nach engeren Voraussetzungen bestimmt werden 8 2 , ist doch allein aus der Tatsache der Gewährung dieser Rechte gegen Vorhaben i n beplanten Bereichen abzuleiten, daß über nachbarliche Interessen zuvor befunden sein muß. Eine solche Entscheidung kann für Vorhaben i n beplanten Bereichen i n dem Plan selbst gesehen werden 8 3 . Die Frage, wie weit sich die nachbarlichen Belange m i t den Belangen der städtebaulichen Ordnung — jeweils i n 79
Vgl. dazu vor allem Hoppe, Festschrift für Scupin, S. 138. Vgl. Hoppe, DVB1 1964, 170: Die Aktualisierung der Baunutzungsfreiheit, die Entfaltung des Gebrauchenkönnens des G r u n d u n d Bodens ist einer der maßgeblichen privaten Belange, w e n n nicht überhaupt das entscheidende Interesse i m Rahmen der Planung. Ebenso O V G Berlin, 8. 5. 1970, BRS 23, 1. 81 Vgl. dazu Hoppe, DVB1 1964, 168 r. Sp., der aus dieser Ausgleichsfunktion die zentrale Bedeutung der Bestimmung abgeleitet hat. 82 Vgl. dazu das 3. K a p i t e l u n d Sendler, BauR 1970, 4 u n d 74. Das B V e r w G geht i n seinem U r t e i l v o m 14. 2. 1975, B V e r w G E 48, 66, f ü r die fernstraßenrechtliche Planfeststellung von einem subjektiven öffentlichen Recht des Nachbarn auf gerechte A b w ä g u n g aus. Dieses Recht soll sich allerdings i m Hinblick auf die i n den Vorschriften der §§ 42 I I u n d 113 I V w G O zum Ausdruck gekommenen Grundsätze seinem Gegenstand nach immer n u r auf die rechtlich geschützten eigenen Belange des Betroffenen beziehen. Hoppe, DVB1 1977, 137, hat gegen diesen Ansatz kritisch eingewandt, daß der Betroffene keinen Erfüllungsanspruch auf gerechte Abwägung, sondern ein subjektivöffentliches Abwehrrecht geltend macht, dessen Nährboden die allgemeine Handlungsfreiheit des A r t . 2 I G G u n d das Eigentum des A r t . 14 GG sind. Das U r t e i l weicht m i t dem subjektiven Recht auf gerechte Abwägung i m A n satz v o n der sonstigen Rechtsprechung des B V e r w G zum subjektiven öffentlichen Nachbarrecht ab, vgl. etwa das U r t e i l des B V e r w G v o m 13. 6. 1969, B V e r w G E 32, 177 - 179 u n d die Ausführungen i m 3. K a p i t e l insbesondere unter I I I . 83 Sendler stellt für die beplanten Gebiete v o r allem eine Verletzung der sog. Planverbundenheit als G r u n d für das Entstehen subjektiver öffentlicher 80
I I . Berücksichtigung privatrechtl. Nachbarrechte nach BImSchG?
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ihrem Verhältnis zur Baufreiheit des Bauherrn — decken, bedarf hier keiner Erörterung, da es uns nur auf den nachbarlichen K o n f l i k t ankommt. § 1 V I I BBauG beschreibt den Entscheidungsvorgang als gerechte A b wägung der betroffenen Belange 84 . Das bedeutet auch für die einander gegenüberstehenden nachbarlichen Interessen, daß sie miteinander zum Ausgleich zu bringen sind. Wie das geschieht, läßt sich nicht abstrakt definieren. Keineswegs dient die planerische Entscheidung der rechtlichen Festschreibung dessen, was i n dem zu beplanenden engeren Raum gerade tatsächlich ortsüblich ist. Sie w i r d vielmehr, auch was das Verhältnis der Nachbarn zueinander betrifft, durch die Erfordernisse der Raumentwicklung bestimmt. Dem nachbarlichen Interesse an möglichster Schonung vor umweltbelastender Industrie w i r d also nicht an der Marke der gerade ortsüblichen Nutzung Rechnung getragen, sondern das Maß, bis zu dem diesem Interesse Rechnung getragen werden kann, w i r d erst durch den Abwägungsvorgang selbst bestimmt. Die planerische Gestaltungsfreiheit beruht gerade darauf, daß die bisher ortsübliche Nutzung nicht der zentrale Entscheidungsmaßstab ist. Worin ist die Entscheidung über den nachbarlichen Konflikt u m die Raumentwicklung i n den Fällen des nichtbeplanten Innenbereichs (§ 34 BBauG) und des Außenbereichs (§ 35 BBauG) zu sehen? Das BVerwG hatte i n seinem Urteil vom 29. 8. 196185 das Abwägungsgebot des § 1 I V 2 BBauG a. F. bei der Bestimmung der „Unbedenklichkeit" des Vorhabens nach § 34 BBauG für beachtlich erklärt. I n der Handhabung des § 34 BBauG sei die Baubehörde ebenso wie bei der Aufstellung der Bauleitpläne die Gemeinde an die gesetzliche Forderung einer i n Berücksichtigung der vorhandenen Bebauung sachgerechten Leitung der weiteren Bebauung gebunden. E i n Vorhaben, das diesem Gebot nicht entspräche, sei nicht unbedenklich und daher nicht zulässig 86 . Später ist das BVerwG Nachbarrechte heraus, BauR 1970, 4 ff. Jedoch ist auch f ü r beplante Gebiete das Nachbarrecht wegen schweren u n d unerträglichen Betroffenseins möglich, vgl. z. B. BVerwG, 5. 7.1974, B V e r w G E 45, 309, 330. 84 A u f die differenzierte Analyse der A b w ä g u n g insgesamt, die vor allem Hoppe i n verschiedenen Aufsätzen u n d Schriften vorgenommen hat (insbesondere DVB1 1964, 165; Rechtsschutz bei der Planung v o n Straßen u n d anderen Verkehrsanlagen; Festschrift f ü r Scupin, S. 121 ff.; DVB1 1974, 641; zuletzt DVB1 1977, 136) k a n n i m vorliegenden Zusammenhang n u r hingewiesen werden. Der Abwägungsvorgang reicht danach von der E r m i t t l u n g des Abwägungsmaterials über die Einstellung der Belange i n die Abwägung u n d die Gewichtung der Belange bis zur Entscheidung über die Vorzugswürdigkeit bestimmter Belange. Der damit beschriebene Vorgang des Planens w i r d v o m Planen als Produkt unterschieden, vgl. Hoppe, DVB1 1977, 136, 138. Diese Unterscheidungen werden jetzt auch von der Rechtsprechung des B V e r w G weitgehend zugrundegelegt. 85
N J W 1962, 507 = BRS 12,19 = DVB1 1962, 233. B V e r w G , 29. 8. 1961, N J W 1962, 508 1. Sp.; i h m folgend O V G Münster, Beschluß v. 25. 2.1964, BRS 15, 53. 86
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von dieser Auffassung wieder abgerückt oder hat sie doch zumindest stark abgemildert. I n dem Beschluß vom 13. 8. 196687 heißt es, das Urteil vom 29. 8. 1961 befasse sich nicht mit der Planung, sondern allein m i t den nach § 1 I V BBauG für die Planung geltenden Planungsgrundsätzen. Diese sollten bei der Beurteilung der Unbedenklichkeit nach § 34 BBauG herangezogen werden. M i t dieser Auffassung empfange die für § 34 BBauG maßgebende Bewertung der vorhandenen Bebauung insofern einen zusätzlichen Gehalt, als sie von einer schematischen, gleichsam „äußerlichen" Berücksichtigung des vorhandenen Bestandes abgelöst und auf Ziele bezogen werde, wie sie m i t § 1 I V BBauG (a. F.) auch der Planung gestellt seien. I m Urteil vom 13. 6.1969 verneint dann das B V e r w G u. a. eine nachbarschützende Wirkung des § 34 BBauG deswegen, w e i l § 34 BBauG die städtebauliche Entwicklung nicht i n derselben Weise sichere, wie es sonst durch einen Plan geschehe88. § 34 BBauG sei kein Plan, weder ein fingierter noch ein fiktiver, sondern lediglich Planersatz m i t allen Schwächen eines Ersatzes. Entsprechend werden die Grundsätze des § 1 I V BBauG — unter Hinweis auf das zu § 35 I I BBauG ergangene Urteil vom 6. 12. 196780 — auch nur als Auslegungshilfen bei der Bestimmung des Begriffs der Unbedenklichkeit angesehen 90 . Eine vergleichbare Entwicklung ist i n der Rechtsprechung des B V e r w G zu § 35 BBauG, insbesondere § 35 I I BBauG feststellbar. Die Entscheidung des BVerwG vom 29. 4. 1964 stellt fest, daß der Begriff der Beeinträchtigung öffentlicher Belange i m Sinne des § 35 I I BBauG aufgrund der Zielsetzung des BBauG, die insbesondere i n den Vorschriften der Bauleitplanung zum Ausdruck komme, genügend justitiabel sei 91 . Bei der Entscheidung darüber, ob die Ausführung eines Vorhabens öffentliche Belange (im Sinne des § 35 I I BBauG) beeinträchtige, seien auch die infragestehenden öffentlichen und privaten Interessen gegeneinander abzuwägen 92 . I n seinem Urteil vom 6. 12. 196793 lehnt das BVerwG eine nachbarschützende Wirkung des § 35 I I BBauG ab und begründet dies unter anderem damit, daß die Heranziehung der Planziele der §§ 1 I V und V BBauG nicht dazu führen könne, § 35 I I BBauG als i n erster Linie maßgebliche Vorschrift m i t einer nachbarschützenden Wirkung anzureichern. Die aus § 1 I V und V BBauG fließenden Auslegungshilfen könn87
B V e r w G D Ö V 1967, 276. B V e r w G E 32,173,176. 89 B V e r w G E 28, 268, 277. 00 Deutlicher akzentuiert das B V e r w G den Zusammenhang i m U r t e i l v o m 23. 4. 1969, B V e r w G E 32, 31, 33: Ob ein bodenrechtlich relevanter Widerspruch zur vorhandenen Bebauung i m Sinne des § 34 B B a u G vorliege, bestimme sich nach dem, was § 1 B B a u G f ü r die Bauleitplanung als grundsätzlich beachtlich, erstrebenswert u n d förderungswürdig bezeichne. 91 B V e r w G BBauBl. 64, 302. 92 BVerwG, 29. 4.1964, BBauBl. 1964, 303 r. Sp. 93 B V e r w G E 28, 268. 88
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ten i m Rahmen des § 35 I I BBauG nur bei der Auslegung des Begriffs der „öffentlichen Belange" wirksam werden und bildeten daher lediglich Entscheidungselemente i m Rahmen der ausschließlich objektivrechtlich wirkenden öffentlichen Belange 04 . Damit ist das Abwägungsgebot des § 1 V I I BBauG i n den Fällen der §§ 34 und 35 I und I I BBauG nach der Rechtsprechung des BVerwG direkt nicht anwendbar. Die Beschränkung dieses Gebots auf die Bauleitplanung ist jetzt auch i n die Formulierung der Abwägungsklausel durch die Novelle selbst m i t aufgenommen worden 9 5 . Dennoch nimmt auch die Rechtsprechung des BVerwG jedenfalls i m Falle des § 35 BBauG eine Abwägung zwischen den privaten Interessen der Nachbarn und den privaten Entfaltungsinteressen des Bauherrn i m Außenbereich an. I m U r teil vom 10. 4. 196890 hat das BVerwG für ein Vorhaben nach § 35 I Nr. 4 BBauG (Autokino i m Außenbereich) entschieden, daß zwar § 35 BBauG sich lediglich an öffentlichen Interessen ausrichtet, daß daraus aber nicht zu schließen sei, daß Interessen des einzelnen, denen der Gesetzgeber die Anerkennung als (subjektive) Rechte (des Nachbarn) versagt habe, bei genügender Stärke sich niemals zu öffentlichen Belangen verdichten könnten, die der Zulassung eines an sich i m Außenbereich privilegierten Vorhabens entgegengehalten werden könnten 9 7 . I n bezug auf das Verhältnis dieser i n öffentliche Interessen „umgewandelten" privat-nachbarlichen Schonungsinteressen zu den Entfaltungsinteressen des privilegierten Vorhabens verwendet die Entscheidung auch den Terminus „ A b wägung" 9 8 . Damit w i r d auch i m Rahmen des § 35 I BBauG über einen nachbarlichen Konflikt über die Raumentwicklung entschieden, zwar nicht durch den Plan, sondern durch die Genehmigung selbst anläßlich der Prüfung des entgegenstehenden öffentlichen Interesses. Materiell liegt der Unterschied zur Planabwägung des § 1 V I I BBauG darin, daß aufgrund des Privilegierungstatbestandes des § 35 I BBauG i n gewissem Umfange eine Gewichtung der entgegenstehenden privaten Interessen schon vom Gesetz getroffen ist. Für den Außenbereich weicht damit allein schon aufgrund des Privilegierungsgedankens der Entscheidungsmaßstab des Bauplanungsrechtes noch weiter von der privatrechtlichen Abgrenzungsmarke der Ortsüblichkeit ab als i m Planbereich. Zum Ausgleich gebracht werden müssen die entgegenstehenden Interessen der Nachbarn jedoch auch hier. 94
B V e r w G E 28, 277. Vgl. zu § 1 V I I B B a u G n . F . insbesondere Gaentzsch, B B a u G '77, § 1 A n m . 12, der von einer systematischeren Gliederung der zu berücksichtigenden Belange u n d des Abwägungsgebotes durch die Novelle spricht, u n d Hoppe, DVBl 1977, 136. 96 B V e r w G E 29, 286. 97 B V e r w G E 29, 288. 98 B V e r w G E 29, 289. 95
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Dieselbe Entscheidung t r i f f t das BVerwG i n seinem Urteil vom 3. 3. 1972" auch für ein Vorhaben nach § 35 I I BBauG. E i n Nachbarschutz könne bei der Bestimmung der öffentlichen Belange i m Sinne des § 35 I I BBauG nicht schlechthin außer Betracht bleiben. Das Gebot der Rücksichtnahme auf die m i t der baulichen Gesamtsituation übereinstimmende Nutzung der benachbarten Grundstücke könne ebenfalls als „öffentlicher Belang" i m Sinne des § 35 I I BBauG der Zulässigkeit eines Vorhabens entgegenstehen. Der Nachbarschutz folge zwar nicht aus § 35 I I BBauG als nachbarschützender Vorschrift, aber aus A r t . 14 GG. Nach dieser Entscheidung kann auch für § 35 I I BBauG eine Abwägung der nachbarlichen Interessen bei der Erteilung der Baugenehmigung i m Rahmen der Bestimmung des beeinträchtigten öffentlichen Interesses angenommen werden. Dieselbe Lösung t r i f f t nach der Novellierung des § 34 BBauG auch auf den nichtbeplanten Innenbereich zu. Wenn i m Rahmen der §§ 35 I und I I BBauG die nachbarlichen Interessen jedenfalls als öffentliche Belange gewertet werden, müssen sie auch i m Rahmen des § 34 I BBauG als möglicherweise entgegenstehende öffentliche Belange angesehen werden 1 0 0 . Auch hier liegt also die Entscheidung über den nachbarlichen Konflikt i n der Erteilung der Baugenehmigung selbst, wobei allerdings auch hier das Gesetz selbst schon den Rahmen für die Entscheidung auch dieses nachbarlichen Konfliktes festlegt: Während bei § 35 BBauG der Privilegierungsgedanke das Entfaltungsinteresse des Bauherrn i n den Vordergrund rückt und damit die raumplanerische Gestaltungsfreiheit betont, bindet § 34 BBauG m i t der „Einfügung i n die Eigenart der näheren Umgebung" das Vorhaben enger an einen vorhandenen Raumzustand an und w i r k t daher als Beschränkung dieser Gestaltungsfreiheit. Das gewählte K r i t e r i u m weist eine größere Nähe zum privatrechtlichen Begriff der Ortsüblichkeit auf als die Merkmale, nach denen die Zulässigkeit des Außenbereichsvorhabens zu bestimmen ist. Es stimmt m i t i h m jedoch nicht völlig überein. Nach der Rechtsprechung des BVerfG zu § 34 BBauG a. F. bedeutete Unbedenklichkeit nach der vorhandenen Bebauung, daß das Vorhaben nicht positiv einer vorhandenen Bebauung entsprechen mußte, sondern nur, daß es zu ihr nicht i n einem „bodenrechtlich relevanten" Widerspruch stehen durfte 1 0 1 . Der Gesetzestext der Novelle, insbesondere das Wort „einfügen" bedeutet demgegenüber eine stärkere Bindung an die vorhandene Bebauung i m Sinne eines positiven 99
B V e r w G DVB1 1972, 684, Minigolfplatzfall. Bielenberg / Dyong, Das neue Bundesbaugesetz, Rdnr. 142, zählt zu den öffentlichen Belangen insbesondere den Umweltschutz sowie die Belange, die nach § 1 BBauG bei der Bauleitplanung zu beachten sind. M i t diesen Belangen gemäß § 1 B B a u G wäre doch wieder der Anschluß an § 1 V I I B B a u G gefunden. ιοί BVerwG, 23. 4.1969, BRS 22, 78, 80; 23. 4.1969, B V e r w G E 32, 31, 32. 100
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Entsprechens 102 , ohne daß man jedoch einen gestalterischen Freiraum bei dieser „Einfügung" überhaupt verneinen dürfte. Unser Ergebnis, daß auch i n den Fällen der §§ 34 und 35 BBauG über einen Konflikt nachbarlicher Interessen aufgrund einer Abwägung entschieden wird, steht i n Ubereinstimmung m i t der Einordnung, die Hoppe diesen Bestimmungen gegeben hat 1 0 3 . Hoppe führt aus, daß das BBauG jedes Bauvorhaben auf jedem Grundstück i m Geltungsbereich des BBauG, also auch die Vorhaben nach §§ 34 und 35 BBauG, von einem eigenen Planungsakt abhängig macht. Die Entscheidung, die planungsrechtlichen Gesichtspunkten Rechnung trägt, sieht Hoppe i n den Fällen der §§ 34 und 35 BBauG i n der gesetzlichen Norm und der Zulässigkeitserklärung i m Baugenehmigungsverfahren. Aufgrund dieser Deutung kommt Hoppe zu dem Ergebnis, daß das Grundeigentum i m Bereich des BBauG einem generellen und ausnahmslosen Planungsvorbehält unterliegt. Diese Deutung des BBauG hat weitere Konsequenzen. M i t der Rechtsprechung des BVerwG ist davon auszugehen, daß das Abwägungsgebot, wie es i n § 1 V I I BBauG formuliert ist, dem Wesen rechtsstaatlicher Planung entspricht und daher allgemein für Planungsakte g i l t 1 0 4 . I n Anwendung auf die Fälle der §§ 34 und 35 BBauG kann das nur bedeuten, daß zwar ein Rahmen für die Planungsentscheidung i n den gesetzlichen Bestimmungen gesetzt ist, daß der Schwerpunkt der planerischen Entscheidung und damit auch Abwägung aber i n der Erteilung der Baugenehmigung selbst zu sehen ist. Die Abwägung des § 1 V I I BBauG verteilt sich hier also gewissermaßen auf die beiden Teile der Entscheidungskette Norm-Genehmigung. Es kann also i n allen Fallgruppen von Bauvorhaben eine öffentlichrechtliche Entscheidung über einen nachbarlichen Konflikt um die Raumentwicklung festgestellt werden, die nach Maßstäben erfolgt, die mit dem privatrechtlichen Maßstab der Ortsüblichkeit nicht übereinstimmen. Indem das nachbarliche Schonungsinteresse i n dem Raumentwicklungskonflikt m i t dem Entfaltungsinteresse zum Ausgleich gebracht wird, w i r d es vielfach zu einer Belastung des Nachbarn kommen, die über den Zustand dessen, was gerade ortsüblich ist, hinausgeht. Bei der Entscheidung über den nachbarlichen Konflikt um die Zulässigkeit einer nach BImSchG genehmigungsbedürftigen Anlage, die dem Schwerpunkt nach 102 So Bielenberg / Dyong, Das neue Bundesbaugesetz, Rdnr. 142 u n d Gaentzsch, § 34 B B a u G A n m . 5. 103 Hoppe, DVB1 1964,165,166. 104 BVerwG, 23. 10. 1968, D Ö V 1969, 503; 30. 4. 1969, DVB1 1969, 697; 12. 12. 1969, E 34, 301; 20. 10. 1972, E 41, 67. Hoppe, Rechtsschutz bei der Planung von Straßen u n d anderen Verkehrsanlagen, Rdz 179, S. 66, hat das Abwägungsgebot unter diesem Aspekt auch auf die Fälle der Fachplanung angewangt. Das B V e r w G ist i h m i n seinem U r t e i l v o m 14. 2. 1975, B V e r w G E 48, 56 ff., darin gefolgt. Vgl. dazu auch die Ausführungen i m 2. K a p i t e l unter I 3.
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aufgrund der Normen des Bauplanungsrechtes erfolgt, können also die privatrechtlichen Abwehrrechte der §§ 1004, 906 BGB nicht durchgesetzt werden. Sie dienen nur der individuellen Durchsetzung einer Konfliktsentscheidung, die auf einen ganz anderen Konflikt bezogen ist (Nutzungskonflikt bei gegebenem baulichen Zustand), für dessen Lösung ein statischer Maßstab ausreicht. Man würde das durch die Abwägung bestimmte Wesen der Planung verkennen, wenn man die privatrechtliche Konfliktsentscheidung der §§ 1004, 906 BGB und die aus i h r folgenden subjektiven A b wehr rechte i n den öffentlich-rechtlichen Zusammenhang der Genehmigungserteilung nach BImSchG verpflanzen und hier für die Konfliktslösung maßgebend sein lassen wollte. Dieses Ergebnis kann festgehalten werden, ohne daß auf den Umfang des Rechtsschutzes näher eingegangen werden müßte, der i m öffentlichen Recht dem Nachbarn zur individuellen Durchsetzung der Konfliktsentscheidung i m Bauplanungsrecht gewährt w i r d 1 0 5 . Nach dem jetzt erreichten Ergebnis kann die Berücksichtigung privater Nachbarrechte i m Genehmigungsverfahren, wie sie § 10 I I I BImSchG annimmt, nur die Einstellung der privaten Nachbarinteressen i n die Planungsentscheidung bzw. ihre Berücksichtigung als öffentlicher Belang bei der Genehmigungserteilung nach §§ 34, 35 BBauG bedeuten, nicht dagegen die Präjudizierung der öffentlich-rechtlichen Entscheidung des § 6 BImSchG nach dem nur auf den privatrechtlichen N u t zungskonflikt zutreffenden Maßstab der ortsüblichen Nutzung. Die privaten Nachbarinteressen empfangen das Maß ihrer Beachtlichkeit für den Planungsakt i m weitesten, die Entscheidung nach § 34 und 35 BBauG mit umfassenden Sinne aus der Eigenart des Raumentwicklungskonfliktes selbst. Der Begriff der Ortsüblichkeit aus § 906 ist selbst schon ein Bewertungsmaßstab, m i t dem das Gesetz nachbarliche Interessen bewertet, die i n einem anderen Konflikt stehen. Man würde die verschiedenen Ebenen, nämlich Interesse und rechtliche Entscheidung über ein Interesse, verwechseln, wollte man diesen Bewertungsmaßstab der Ortsüblichkeit selbst wieder als nachbarliches Interesse ansehen und aufgrund dieser Qualifizierung i n die planerische Entscheidung einstellen. Diese Verwechslung liegt allerdings nahe, weil das nachbarliche Schonungsinteresse i m Raumentwicklungskonflikt sich — inhaltlich gesehen — vereinfachend als das Interesse am status quo, also an der bisher ortsüblichen Nutzung beschreiben läßt. Die genauere Analyse muß hier aber zu den vorstehend gemachten Unterscheidungen führen. Das systematische Grundproblem, welches w i r uns unter I i n diesem Kapitel gestellt hatten, war die Frage nach der privatrechtsgestaltenden Wirkung der Genehmigung nach BImSchG, welche herkömmlicherweise m i t der Aufopferungskonzeption zu §§ 26 GewO/14 BImSchG zum Aus105
Vgl. dazu die Ausführungen i m 3. Kapitel.
I I I . Folgerungen f ü r Aufopferungskonzeption des § 14 S. 1 BImSchG
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druck gebracht wird. Dieses Problem ist mit den vorstehenden Überlegungen zur Bedeutung der privaten Nachbarrechte i m Genehmigungsverfahren zwar noch nicht gelöst, seine Lösung ist aber damit weitgehend vorbereitet.
I I I . Folgerungen für die Aufopferungskonzeption des § 14 Satz 1 BImSchG 1. Der Grundgedanke der Aufopferungskonzeption Der Grundgedanke der Aufopferungskonzeption zu §§ 26 GewO/14 BImSchG, wie w i r sie i n diesem Kapitel unter I als Eckpfeiler der Systematik geschildert haben, geht dahin, daß eine allgemein verbindliche Schädlichkeitsgrenze für Immissionen i m Einzelfall aus besonderen Gründen überschritten werden darf. Das Gewicht des besonderen Grundes erlaubt eine Überschreitung zugunsten eines Privaten. Weitgehend ungeklärt ist allerdings, von welcher Qualität dieser besondere Grund ist. E i n öffentliches Interesse i m Sinne des Enteignungsrechts ist es nicht, wie Schulte überzeugend dargetan hat 1 . Eher könnte es sich um ein öffentliches Interesse an dem Betrieb des privaten Wirtschaftsunternehmens selbst handeln. Man könnte das dahin formulieren, daß sich hier das private Interesse an den Wirtschaftsbetrieb wegen seiner öffentlichen Bedeutung durchsetzt. Vielleicht könnte man auch allein auf den besonderen Charakter dieses privaten Interesses i m Vergleich zu „normalen" privaten Interessen abstellen und auf die Absicherung i m öffentlichen Raum ganz verzichten. Wie auch immer man hier — i m Sinne der überkommenen Vorstellung — argumentiert, die Aufopferungskonzeption legt jedenfalls einen besonderen Grund zur Überschreitung der allgemein geltenden Grenze zugrunde. Dieser besondere Grund w i r d durch das Genehmigungsverfahren gewissermaßen festgestellt 2 . A u f dieser Grundlage kann dann davon gesprochen werden, daß ein Abwehranspruch aus §§ 1004, 906, 907 BGB „an sich", d. h. i m Regelfall gegeben sei, der aber hier aus besonderem Grunde versagt werde.
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Schulte, S. 151. Nach Schulte, S. 155, hat der öffentlich-rechtliche A k t n u r formale Bedeutung. Schulte stellt sich die Entscheidung auch über den besonderen G r u n d als durch das Privatrecht getroffen vor, S. 152. Kritisch dazu Schmidt-Aßmann, Grundfragen des Städtebaurechts, S. 105 - 107 u n d Breuer, Die Bodennutzung i m K o n f l i k t zwischen Städtebau u n d Eigentumsgarantie, S. 280 ff. 2
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1. Kap.: Privates u n d öffentl. Nachbarrecht i m Bereich des BImSchG
2. Dieser Grundgedanke ist nicht mit der auch für die Genehmigung nach BImSchG maßgebenden Konzeption des Bauplanungsrechtes vereinbar Diese Sicht des Verhältnisses von §§ 1004, 906, 907 BGB und § 14 Satz 1 BImSchG ist nicht m i t der Konzeption des Bauplanungsrechtes vereinbar, wie w i r sie — als Konfliktsentscheidung über einen nachbarlichen Konflikt um die Raumentwicklung — vorstehend entwickelt haben. Da die Anlagengenehmigung nach BImSchG die Baugenehmigung m i t enthält 3 , ist diese Konzeption des Baunachbarrechts i m Rahmen des Genehmigungsverfahrens nach BImSchG jedenfalls für die Prüfung der Voraussetzungen der Baugenehmigung bedeutsam. Entscheidend ist nun, daß die planungsrechtliche Abwägung der nachbarlichen Belange, wie sie entweder bei der Planaufstellung gemäß § 1 V I I BBauG oder i m Rahmen der Genehmigungserteilung nach §§ 34 und 35 BBauG stattfindet 4 , sich nicht verstehen läßt als Überschreitung einer privatrechtlich gezogenen Grenze aus besonderem Grunde. Die Einstellung des nachbarlichen Schonungsinteresses i n diese Abwägung bedeutet gerade nicht, daß dieses Interesse vernachlässigt werden darf zugunsten eines anderen Interesses, das ihm vorgeht, sondern daß es mit diesem anderen Interesse abzuwägen ist, d. h. daß es i n seiner Bedeutung i n der konkreten Grundstückssituation berücksichtigt werden muß 5 . Die Kriterien, die für die Beachtung dieses Belangs entwickelt worden sind, vor allem der Grundsatz von der Trennung von Wohn- und Gewerbegebieten, zielen darauf ab, die nachbarlichen Interessen von vornherein wahrzunehmen, sie möglichst zu schonen6. Das Ergebnis der Abwägung bedeutet also i m Hinblick auf diese Schonungsinteressen der Nachbarn, daß die Errichtung von Industrie i n einer bestimmten Lage für sie zumutbar ist, ihnen angesichts der allgemeinen Erfordernisse an den Raum i n einer bestimmten Raumsituation zugemutet werden kann. Auch i m Falle der Genehmigung von Industrie überwiegt deren Interesse nicht den nachbarlichen Belang, dieser w i r k t vielmehr selbst auf die A r t der Raumgestaltung mit ein. Man kann eher von einem Gleichgewichtszu3 Vgl. § 13 BImSchG; dazu auch etwa Feldhaus, § 6 BImSchG A n m . 6; Stich, § 6 BImSchG A n m . 11. 4 Unter „planungsrechtlicher Abwägung" verstehen w i r auch i m folgenden nicht n u r die A b w ä g u n g i m Sinne des § 1 V I I B B a u G n. F., sondern auch die Abwägung der nachbarlichen Belange bei Genehmigungserteilung nach §§ 34 u n d 35 BBauG. Die Bezeichnung der Abwägung als planungsrechtlich ist gerechtfertigt, wenn m a n auch i n §§ 34 u n d 35 B B a u G Fälle eines generellen Planungsvorbehalts sieht, vgl. dazu Hoppe, DVB1 1964, 166 u n d oben unter I I 3. 5 Wie sich aus den Ausführungen zu I I 3 i n diesem K a p i t e l ergibt, bedeutet diese Berücksichtigung des nachbarlichen Schonungsinteresses nicht, daß das privatrechtliche Abwehrrecht für die planungsrechtliche Abwägung Bedeutung hat. 8 Vgl. etwa Hoppe, Festschrift für Scupin, S. 138.
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stand durch beiderseitige Berücksichtigung sprechen als von einem Außerachtlassen des einen zugunsten des anderen. Die Vorstellung, daß die nachbarlichen Belange sich nur durchsetzen, wenn die Industrieansiedlung nicht genehmigt wird, würde dem Wesen der planerischen A b wägung nicht Rechnung tragen. Die planungsrechtliche Unzulässigkeit ist gewissermaßen nur der Punkt, bei dem sich die nachbarlichen Belange nicht mehr vereinbaren lassen. Vorher sind vielfältige Abstufungen i n der Lage der Nutzungsarten zueinander möglich, die qualitativ genau so als Berücksichtigung der nachbarlichen Interessen angesehen werden müssen. Daß dieses Verhältnis der privaten Belange zueinander i n der planungsrechtlichen Abwägung nicht dem Verhältnis von allgemein verbindlicher Grenze des § 906 BGB und i m Einzelfall möglicher Überschreitung entspricht, wie es die Aufopferungskonzeption zu § 14 Satz 1 BImSchG zugrundelegt, liegt auf der Hand. Vor allem könnte die A u f opferungskonzeption allenfalls verständlich machen, warum i m Einzelfall von einer „an sich" maßgebenden Grenze abgewichen werden darf, warum diese außer K r a f t gesetzt ist, sie vermag aber nicht zu bestimmen, welcher Zustand denn nun nach dieser Außerkraftsetzung seinerseits maßgebend sein soll. Gerade darauf kommt es aber doch dem Raumplanungsrecht an und i m Rahmen der Ermittlung dieses neuen Zustandes spielt das nachbarliche Interesse auch eine wichtige Rolle. Welche Bedeutung die nachbarlichen Interessen noch haben sollen, wenn die allgemein geltende Grenze des § 906 BGB einmal überschritten worden ist, läßt sich also aus dem gedanklichen Schema der Aufopferungskonzeption nicht mehr entnehmen. Diese Überlegungen lassen sich auch gegen die Konzeption Schultes einwenden. Schulte unterstellt die Geltung eines privatrechtlichen Satzes folgenden Inhalts 7 : „Sämtliche Einwirkungen von Gewerbebetrieben (näher beschriebener Art) sind jedoch auch dann zu dulden, wenn der Betrieb nicht ortsüblich ist; solche Einwirkungen dürfen jedoch erst dann stattfinden, wenn ein behördliches Genehmigungsverfahren vorausgegangen ist, i n dem zu prüfen ist, ob die Anlagen mit wirtschaftlich zumutbaren Vorkehrungen zum Schutz der Nachbarn versehen sind." Für die gewerberechtliche Genehmigung nimmt er entsprechend nur eine formale Bedeutung an. Nach der Formulierung des Satzes hätte sie nur noch die Bedeutung der Prüfung von Schutzvorkehrungen. Jedenfalls spielt die Ortsüblichkeit, wenn von i h r durch Genehmigung einmal abgesehen ist, bei Schulte keine Rolle mehr. Der Streit der Meinungen, wie er i n der Kontroverse zwischen Baur und Schulte 8 zum Ausdruck 7
Schulte, S. 152, 153. Vgl. dazu Schulte, S. 150 A n m . 9, dessen Position der Nichtbeachtung der Ortsüblichkeit sich vor allem gegen Baur, Sachenrecht, § 25 I V 2 e aa, richtet. 8
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kommt, schwankt also zwischen Beachtung und Nichtbeachtung der Ortsüblichkeit i m Genehmigungsverfahren. Die hier vertretene Position deckt sich m i t keiner der beiden Meinungen, w e i l sie das Problem unter dem Aspekt der planungsrechtlichen Abwägung löst 9 . 3. Rechtshistorischer H i n t e r g r u n d einer Auswechslung der beiden Konzeptionen
Die Auswechslung der Aufopferungskonzeption durch die „Planungskonzeption" gewinnt eine neue Dimension, wenn man einmal auf den rechtshistorischen Hintergrund der hier analysierten Bestimmungen blickt. Die überkommene Lehre bezieht sich nicht nur zufällig auf den Gedanken der Aufopferung. Sie faßt das Verhältnis von Privatrecht und öffentlichem Recht hier tatsächlich ganz nach dem Grundschema der Enteignung auf. Etwas, was allgemein unter Privaten gilt, w i r d für den Einzelfall durch Hoheitsakt außer K r a f t gesetzt. Die allgemeine Geltung der durch § 906 BGB festgesetzten Grenze unter Privaten ist genau so Bestandteil dieses Gedankens wie der Ausnahmecharakter ihrer Außerachtlassung und die Tatsache, daß diese Außerachtlassung durch einen Einzelakt, nämlich die Genehmigung, vollzogen wird, die der privatrechtlichen Grenze gegenüber als Eingriff erscheint. I n der Zeit nach Erlaß des § 26 GewO, also i m letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts, und auch noch zu Beginn dieses Jahrhunderts, lag es nahe, eine Konzeption des § 26 GewO unter dem großen Grundgedanken der Enteignung bzw. Aufopferung zu entwickeln, w e i l das Verhältnis privater und öffentlicher Interessen sich unter diesem Aspekt m i t Schärfe fassen ließ, und vor allem, weil sonst auch kein „System" zur Erfassung dieses Verhältnisses zur Verfügung stand. Die Konzeption w i r d aber zugleich eine gewisse Stütze i n der allgemeinen Bewertung der Interessen gefunden haben. Wohnbebauung und landwirtschaftliche Nutzung mag noch um 1870 als der Normalfall der Raumnutzung erschienen sein, dem gegenüber die Errichtung von Industriewerken einen Ausnahmecharakter hatte. Sie mußte von Fall zu Fall i m Hinblick auf den überkommenen Raumbestand legitimiert werden 1 0 . 9 Schmidt-Aßmann, Grundfragen, S. 106, wendet gegen Schulte ein, die Staatsgerichtetheit der Eigentumsgarantie dürfe nicht global m i t den privaten Abwehrrechten vermischt werden. Die ganz herrschende Lehre habe es bisher abgelehnt, die Schutzrichtungen des Eigentums i n der geschilderten Weise i n eins zu setzen. W i r entwickeln diese Differenzierung nicht aus unterschiedlichen Schutzrichtungen des Eigentums, sondern aus der unterschiedlichen N a t u r der geregelten Sachkomplexe. A u f diese Weise läßt sich dann die öffentlich-rechtliche Regelung ihrerseits i n die zivilrechtliche Normierung sowohl des Abwehrrechts w i e auch der Entschädigungsansprüche einfügen, w i e noch auszuführen sein w i r d . 10 So auch Westermann, Maßnahmen, S. 51, i n seiner Deutung des § 26 GewO unter historischem Aspekt. Vgl. dazu auch Mittenzwei, M D R 1977,101.
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Heute steht uns neben der Enteignungsauffassung ein weiteres „System" zur Verfügung, unter dem w i r das Verhältnis auffassen können, nämlich das „System des planerischen Ausgleichs von Interessen". Nach der hier vertretenen Auffassung bringt dieses System das Verhältnis richtiger zum Ausdruck. Das Gegeneinander von allgemein verbindlicher Grenze und ihrer ausnahmsweisen Überschreitung verschiebt sich zu einer prinzipiellen Gleichordnung der Interessen, deren Gewichtung der Planung obliegt. Auch die privaten Interessen sind Gegenstand einer öffentlich-rechtlichen Bewertung, die ihrerseits durch diese privaten I n teressen aber wieder gebunden wird. Ausdruck dieser Bindung sind die subjektiven öffentlichen Nachbarrechte. Der durch ein öffentliches I n teresse legitimierte Eingriff i n einen als privatrechtlich vorgestellten, starr umschriebenen Bereich w i r d ersetzt durch eine Abwägung der betroffenen Belange, die zur Gänze i m öffentlichen Recht erfolgt 1 1 . Diese Auffassung des sozialen Vorgangs unter einem anderen „System" entspricht ihrerseits wieder einer neuen Bewertung der betroffenen Interessen. Die Industrie erscheint heute neben Wohnbebauung und Landwirtschaft als das andere große Interesse am Raum, das aber prinzipiell gleichgewichtig ist. Während die ältere Vorstellung dahin gegangen sein mag, daß eine „normale Nutzung" nun einmal die Industrie wegen ihrer Wichtigkeit hinzunehmen habe, also prinzipielle Unverträglichkeit i m Einzelfall akzeptiert wurde, geht die Vorstellung heute dahin, daß I n dustrie genau so Bestandteil des Raumes ist wie die Nutzung ζ. B. für Wohnzwecke oder für die Landwirtschaft und daß die Folgerung daraus nur die möglichst weitgehende gegenseitige Abstimmung sein kann. Der Industrialisierung Deutschlands entspricht also, daß auch i n der Bewertung der Interessen die Industrie „aufgeholt" hat. Die Konzeption, die das Verhältnis von § 906 BGB zu §§ 16 ff. GewO als Regel-Ausnahme-Verhältnis i m Sinne des Aufopferungssystems auffaßt, sieht den Raum bereits als gestaltet an, aber ermöglicht Abweichungen. Nachdem das bauliche Geschehen nur noch als ständige Entwicklung des Raumes begriffen werden kann 1 2 , entspricht diese Antithetik von status quo und Abweichung nicht mehr den tatsächlich vorliegenden Verhältnissen. Daß und wie sich die Rechtsprechung des RG seit der Thale-Entscheidung 13 auf diese Situation eingestellt hat, w i r d i m folgenden unter I V noch i m einzelnen entwickelt.
11 Vgl. dazu die Ausführungen über das Verhältnis der privaten nachbarlichen Interessen zur privatrechtlichen Entscheidung des Nutzungskonflikts einerseits u n d zur öffentlich-rechtlichen Entscheidung des Raumordnungskonflikts andererseits oben unter I I 2 a u n d I I 3. 12 Vgl. § 1 B B a u G alter Fassung, der den Begriff der Entwicklung w i e selbstverständlich als zentral zugrundelegte. 18 RG, 6. 7.1910, Gruch 55,105.
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Das Ergebnis stimmt mit der Deutung der Bauplanung als Konkretisierung der Sozialpflichtigkeit des Grundeigentums überein 1 4 , und zwar auch, soweit es sich um das Verhältnis von Industrie und anders gearteter Nachbarschaft handelt. Diese Konkretisierung der Sozialpflichtigkeit durch Bauplanung ist von der Enteignung durch den Bebauungsplan zu unterscheiden, deren Folgen i n §§ 4 4 - 4 4 c BBauG n. F. geregelt sind. Diese Enteignung erfordert ein gesteigertes öffentliches Interesse 15 . I m übrigen beruht auch die Möglichkeit subjektiver öffentlicher Nachbarrechte darauf, daß ein nachbarliches Interesse wahrgenommen, nicht daß es aufgeopfert wird. 4. Das Verhältnis von planungsrechtlichem Abwägungsergebnis, Schädlichkeitsgrenze nach § 6 Ziffer 1 BImSchG und Grenze nach § 906 BGB W i r haben uns bisher auf eine Analyse der planungsrechtlichen A b wägung der nachbarlichen Belange beschränkt, ob die Abwägung nun bei der Planaufstellung nach § 1 V I I BBauG n. F. oder i m Rahmen der Genehmigungserteilung nach §§ 34 und 35 BBauG vorgenommen wird, und die entwickelte Konzeption der Entscheidung über nachbarliche I n teressen i n ein Verhältnis gesetzt zu der überkommenen Konzeption des Verhältnisses von § 906 BGB zu § 14 BImSchG (Überschreitung einer allgemein verbindlichen Grenze aus besonderem Grund). N u n w i r d zwar die Baugenehmigung gemäß § 6 Ziffer 2 BImSchG zugleich m i t der Genehmigung nach §§ 4 ff. BImSchG miterteilt, so daß die baurechtlichen Vorschriften insoweit zur Anwendung kommen. Das BImSchG normiert aber i n § 6 Ziffer 1 i n Verbindung m i t §§ 5 Ziffer 1 und 2 und § 3 I BImSchG mit der „Gefahr, dem erheblichen Nachteil und der erheblichen Belästigung" eine eigene Schädlichkeitsgrenze. Offen ist die Frage, ob nicht diese Schädlichkeitsgrenze nach BImSchG so gezogen ist, daß sie gegenüber der Grenze nach § 906 BGB doch eine Aufopferung i n dem überkommenen Sinne bedeutet. Zur Lösung dieser Frage sind mehrere Beziehungen zu unterscheiden: einmal das Verhältnis des planungsrechtlichen Abwägungsergebnisses zur Schädlichkeitsgrenze nach BImSchG, dann das Verhältnis sowohl des planungsrechtlichen Abwägungsergebnisses wie auch der Schädlichkeitsgrenze nach BImSchG zur Grenze nach § 906 BGB. Der A k t der Raumgestaltung erfolgt primär nach Planungsrecht. Aus diesem Grunde konnten w i r die bisherige Untersuchung auf die pla14 Dazu BGH, 13. 7. 1967, DVB1 1967, 886, 887 (Kölner Hinterhof-Urteil); BVerwG, 5. 7. 1974, N J W 1975, 70, 74; Westermann, Festschrift f ü r Nipperdey, S. 765 ff., 775; Kubier / Speidel, § 57, S. 55. 15 Vgl. dazu Hoppe, DVB1 1964, 170 u n d Ernst / Zinkahn / Bielenberg, V o r bem. §§ 40 - 44 B B a u G Rdz. 142.
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nungsrechtliche Abwägung beschränken 16 . I m Verhältnis zur planerischen Raumgestaltung kann eine allgemeine Verbindlichkeit des § 906 BGB nicht angenommen werden, d. h. vor allem, daß die durch § 906 BGB bestimmte Grenze der Ortsüblichkeit für die Planung nicht der grundsätzlich zugrundezulegende Entscheidungsmaßstab ist. Die nachbarlichen Schonungsinteressen i m Hinblick auf die Raumentwicklung werden nur i n die Abwägung m i t einbezogen. Die privatrechtliche Grenze des § 906 BGB ist i n Beziehung auf das planerische Abwägungsergebnis also nicht mögliche Grundlage einer Aufopferungskonzeption i n dem überkommenen Sinne. Wenn man i n diesem Sinne die Raumentwicklung — primär — i n der Planung sieht, läßt sich auch der Gedanke, daß § 906 BGB gegenüber der Schädlichkeitsgrenze des BImSchG den Charakter allgemeiner Verbindlichkeit hat, die i m Einzelfall durchbrochen wird, nicht mehr begründen. Als „allgemein verbindlich" kann dann nämlich nur die durch die Planung entwickelte Raumgestaltung angesehen werden, § 906 BGB hat auch gegenüber der spezielleren Normierung des BImSchG nicht mehr die Funktion der Festlegung des generell Zulässigen, von dem i m Einzelfall abgewichen werden kann, weil § 906 BGB kein Raumentwicklungsrecht ist. Das läßt sich sagen, ohne daß das Verhältnis des planungsrechtlichen Abwägungsergebnisses zur Schädlichkeitsgrenze des BImSchG näher festgelegt zu werden brauchte. Schon die Geltung des Planungsrechtes 17 steht der Annahme entgegen, die spezielle Normierung der Schädlichkeitsgrenze i m BImSchG habe die Bedeutung einer ausnahmsweisen Freistellung von der grundsätzlich verbindlichen Grenze des § 906 BGB. Es dient jedoch der weiteren Klärung, wenn auch auf das Verhältnis von planungsrechtlichem Abwägungsergebnis zur Schädlichkeitsgrenze des BImSchG ein Blick geworfen wird. Das planungsrechtliche Abwägungsergebnis ist gewissermaßen Tatbestandsvoraussetzungs-Teil bei der Erteilung der Genehmigung nach BImSchG. I m Mittelpunkt des Genehmigungsverfahrens nach BImSchG stehen die Grenzwerte für Emissionen 18 . Selbst wenn man den Gesamtvorgang der Ermittlung der Schädlichkeitsgrenze als Güterabwägung sieht, die durch bestimmte Grenzwerte nicht absolut präjudiziert ist und sich auch nicht absolut präjudizieren läßt 1 9 , so bleibt doch diese Güterabwägung von der pla16 Vgl. die folgenden Ausführungen zu der Frage, i n welchem Sinne dieses „ p r i m ä r " zu verstehen ist. 17 I n dem oben unter I I 3 entwickelten, die §§ 34 u n d 35 B B a u G mitumfassenden Sinne. 18 Vgl. dazu die Ermächtigung i n § 7 I Ziffer 2 BImSchG u n d die T A L ä r m und T A L u f t , Nachweise oben S. 28. 19 Als Güterabwägung bezeichnet Feldhaus, § 3 BImSchG A n m . 10, den V o r gang. Die Einbeziehung des Gedankens des Bestandsschutzes zugunsten einer
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nungsrechtlichen Abwägung zu unterscheiden. Die Unterscheidung läßt sich an folgendem Beispiel deutlich machen: Die planerische Ausweisung eines Industriegebietes an einer bestimmten Stelle kann rechtmäßig sein, obwohl die Genehmigung eines bestimmten Betriebes nach B I m SchG i n diesem Gebiet versagt werden muß, weil angesichts der vorliegenden Gesamtbelastung der Region m i t einem bestimmten Schadstoff die von dem neuen Betrieb zu erwartende Steigerung der Umweltbelastung gerade m i t diesem Schadstoff nicht mehr vertretbar ist. Es ist allerdings auch eine Fallgestaltung denkbar, bei der angesichts der vorliegenden Gesamtbelastung m i t Emissionen schon die Ausweisung eines Industriegebietes einen Planfehler darstellt. Das Beispiel zeigt nicht nur den Unterschied, sondern auch die Verzahnung von planungsrechtlichem Abwägungsergebnis und Schädlichkeitsgrenze nach BImSchG. Wenn man Polizeirecht und Planungsrecht als Gestaltungsrecht einander gegenübersetzt 20 , so läßt sich jedenfalls heute das Genehmigungsverfahren nach BImSchG nicht mehr als reines Polizeirecht auffassen, sondern enthält auch starke Züge eines „Gestaltungsrechtes". Die Raumgestaltung durch den Planungsakt w i r d — i n dieser Sicht — m i t der Prüfung der Schädlichkeitsgrenze nach BImSchG gewissermaßen nur „fortgesetzt". Dem entspricht es, daß die Normierung der Schädlichkeitsgrenze i m BImSchG voll als nachbarschützend anerkannt ist 2 1 . Damit läßt sich unsere Würdigung des Verhältnisses von § 906 BGB und Schädlichkeitsgrenze nach BImSchG noch weiter absichern. Wenn das baurechtliche Planungsrecht und das Bundesimmissionsschutzrecht i n der beschriebenen Weise ineinandergefügt sind und damit gewissermaßen die Einheit eines Raumgestaltungsrechtes bilden, läßt sich § 906 BGB nicht — unter Absehung von den Gedanken der Raumentwicklung und Raumgestaltung — als allgemein verbindliche Bestimmung den Genehmigungsnormen des BImSchG entgegensetzen, die ihrerseits auf dieser Grundlage als „Außerkraftsetzung" des § 906 BGB aufgefaßt werden. Die Integration der Genehmigungsnormen des BImSchG i n den größeren Zusammenhang eines Raumgestaltungsrechtes steht der Annahme einer solchen Beziehung von § 906 BGB zu den Genehmigungsnormen des BImSchG entgegen, weil sich das Raumgestaltungsrecht als Ganzes nicht i n dieser Weise auf § 906 BGB bezieht. W i r haben das i m einzelnen für das baurechtliche Planungsrecht — als schon bestehenden Anlage bei Genehmigung von Erweiterungen durch das U r t e i l des B V e r w G v o m 12. 12. 1975, D Ö V 1976, 387, weist i n dieselbe Richtung; desgleichen das Steag-Urteil des O V G Münster v o m 7. 7. 1976, DVB1 1976, 790, i n dem das OVG außer der Bewertung der einzelnen Schadstoffkomponenten eine Gesamtbetrachtung der ganzen Region v o r n i m m t , DVB1 1976, 797. Vgl. auch die Ausführungen oben unter I I 1 b. 20 Grundlegend dazu Steiger, ZRP 1971,133. 21 Vgl. dazu die Nachweise oben S. 25 A n m . 17.
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Raumgestaltungsrecht — nachgewiesen. A m Ergebnis ändert sich nichts dadurch, daß man über das Planungsrecht hinaus auf die Normierung der Genehmigungsvoraussetzungen nach BImSchG zurückgreift, sofern man diese Normierung auch als Raumgestaltung auffaßt 22 . Die Basis einer Deutung des Verhältnisses von § 906 BGB zur Genehmigungsnormierung als Verhältnis der Aufopferung liegt m. E. vor allem i n einer Auffassung sowohl der §§16 ff. GewO bzw. 4 ff. BImSchG als auch — und vor allem — des Baurechts jeweils als Polizeirecht. Bei polizeirechtlichem Verständnis der einschlägigen Vorschriften des Gewerbe/Immissionsschutzrechtes und des Baurechts, das insoweit i m wesentlichen Bauordnungsrecht ist, liegt die Würdigung des privaten Nachbarrechts als Raumgestaltungsrecht nahe. Das Polizeirecht weist mit dem zentralen Gedanken der Gefahrenabwehr kaum eine raumgestaltende Komponente auf. I m Verhältnis von privatem Nachbarrecht und öffentlich-rechtlichen Genehmigungsvorschriften ist damit das „ A u f opferungssystem" i m überkommenen Sinne präjudiziert. Sofern nämlich dem privaten Nachbarrecht nicht Rechnung getragen ist, — und dieser Fall w i r d ja als der regelungsbedürftige angesehen, gleichgültig, ob nun eine Pflicht zur Beachtung angenommen w i r d oder nicht —, kann nur die Abweichung festgestellt werden. Sie ist — gegenüber dem privaten Nachbarrecht — Aufopferung. Das ganze System ändert sich, wenn die öffentlich-rechtlichen Genehmigungen selbst den Charakter der Raumgestaltung gewinnen. Es ergibt keinen Sinn mehr, die privatrechtliche Grenze als Bezugspunkt einer möglichen Überschreitung anzunehmen, wenn die auf den Raum bezogene Komponente i m öffentlichen Recht selbst enthalten ist. Als Ergebnis halten w i r fest, daß § 906 BGB die i h m von der Aufopferungskonzeption zugemessene Bedeutung auch nicht i m Hinblick auf die speziellen Genehmigungsvoraussetzungen des § 6 Ziffer 1 BImSchG hat. 5. Der Gesetzeswortlaut des § 14 Satz 1 BImSchG ist mit der neuen Konzeption vereinbar. Literatur mit vergleichbarem Lösungsansatz Der Gesetzeswortlaut des § 14 Satz 1 BImSchG legt sich ebensowenig wie vordem § 26 GewO auf eine bestimmte Konzeption fest. Er formuliert — nach guter gesetzgeberischer Tradition — nur das Ergebnis, das erreicht werden soll. Es w i r d nicht gesagt, daß an sich ein Anspruch 22 Z u r Klarstellung sei bemerkt, daß die selbständige Bedeutung der „ a n deren Gefahren" i m Sinne von § 4 BImSchG nicht zweifelhaft ist. Insoweit reicht das Gesetz über den hier allein interessierenden Immissionsschutz h i n aus u n d erfüllt für einen großen T e i l der Industrie die F u n k t i o n einer I n d u striezulassung. So auch Feldhaus, § 4 BImSchG A n m . 11. Z u den Störfällen durch äußere E i n w i r k u n g e n vgl. v o r allem Rehbinder, B B 1976,1 ff.
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aufgrund privatrechtlicher Titel besteht, der versagt wird, sondern das Gesetz beschränkt sich auf die Bestimmung, daß aufgrund der privatrechtlichen Titel Einstellung des Betriebes nicht verlangt werden kann. Daß solche Ansprüche an sich bestehen, ist damit durchaus nicht vorausgesetzt. Nach unserer Auffassung hat die Bestimmung also i m Hinblick auf den Ausschluß privatrechtlicher Ansprüche nur deklaratorische Bedeutung. Privatrechtliche Ansprüche sind bereits dem Tatbestand nach i n diesen Fällen der Raumentwicklung nicht gegeben. Die privatrechtlichen Ansprüche sind i m übrigen nicht erst m i t der Unanfechtbarkeit der Genehmigung ausgeschlossen, sondern schon vorher. Das ist daraus zu entnehmen, daß sie i n §§ 17 ff. GewO/lO BImSchG von der Verweisung auf den ordentlichen Rechtsweg ausgenommen worden sind 2 3 . Nach unserer Konzeption kann dieser Ausschluß vor Unanfechtbarkeit nichts anderes bedeuten als der nach Unanfechtbarkeit. Die Deutung des § 14 Satz 1 BImSchG als deklaratorische Bestimmung erhält durch den Hinweis auf die Rechtslage vor Unanfechtbarkeit aber noch eine weitere Stütze. Der Begriff des Ausschlusses privatrechtlicher A n sprüche ist allerdings mißverständlich, weil damit der Eindruck eines konstitutiven Ausschließungsaktes (entweder durch § 14 BImSchG oder durch die Genehmigung) erweckt wird. Zutreffender würde man formulieren, daß die Ansprüche des privaten Nachbarrechts weder vor noch nach Unanfechtbarkeit der Genehmigung bestehen. I m Unterschied zu den Ansprüchen des privaten Nachbarrechts werden die subjektiven öffentlichen Nachbarrechte gegen die Genehmigung m i t deren Unanfechtbarkeit i n einem konstitutiven Sinne ausgeschlossen, wie denn ja auch der Begriff der Unanfechtbarkeit sich direkt auf sie bezieht 24 . Daß man dem Wortlaut des § 14 Satz 1 BImSchG, welcher nur von „kann nicht verlangt werden" spricht, nicht gedanklich ein „kann an sich doch verlangt werden" vorordnet, w i r d recht ungewohnt erscheinen, w e i l die Aufopferungskonzeption hier bereits die Denkweise ganz nachhaltig geprägt hat. Es wäre aber ein I r r t u m anzunehmen, daß die Annahme eines an sich bestehenden Anspruchs i n irgendeinem Sinne bereits die logische Voraussetzung für dessen Versagung ist. Der Begriff der deklaratorischen Wirkung einer Bestimmung ermöglicht es, von der Versagung eines Anspruchs zu sprechen, ohne daß angenommen werden muß, er habe zuvor bestanden. Letzte Klarheit läßt sich aber aus den Gegenübersetzungen „an sich bestehend" — „hier versagt" oder auch „konstitutiv" und „deklaratorisch" nicht gewinnen. I n dieser Arbeit wurde daher die K r i t i k der Aufopferungskonzeption auch nicht von hierher 23 So auch Palandt ί Bassenge, § 907 B G B A n m . 3 b ; Landmann ! Rohmer ! Eyermann / Fröhler, § 26 GewO A n m . 2 u n d § 19 GewO A n m . 9; Baur, J Z 1962, 74. 24 Vgl. dazu unter V i n diesem Kapitel.
I I I . Folgerungen f ü r Aufopferungskonzeption des § 14 S. 1 BImSchG
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aufgebaut, weil die Gefahr bestanden hätte, daß man eine Lösung nur i m Begrifflichen gefunden hätte. Die klarste Fassung der Lösung liegt nach wie vor darin, daß der Anspruch aus §§ 1004, 906 BGB die Folge der gesetzgeberischen Konfliktsentscheidung über einen Nutzungskonflikt auf der Grundlage des status quo ist, und daß dieser zur Lösung dieses Konfliktes gegebene Anspruch den Konflikt um die Raumentwicklung, der nach Baurecht und BImSchG zum Austrag kommt, nicht zu lösen vermag. Nur von hierher läßt sich die Vorstellung, daß er an sich gegeben sei, m i t genügender Uberzeugungskraft widerlegen. Die Unterscheidung der beiden Konflikte schafft erst die Basis für den Vergleich der i n ihnen vorkommenden Interessen, der auf sie angewandten Bewertungsmaßstäbe und auch der zu ihrer Lösung gegebenen subjektiven Rechte. Dieser aus der Unterscheidung konkreter Konflikte heraus entwickelte Untersuchungsrahmen läßt sich durch eine noch so genaue Untersuchung, was „an sich gegebener Anspruch" heißt, ob i m Zivilrecht und i m öffentlichen Recht unterschiedliche Rechtmäßigkeitsmaßstäbe herrschen, was m i t dem Begriff der „Aufopferung" gesagt ist usw., nicht ersetzen. Alle diese Fragen sind nach unserer Auffassung erst aus diesem Untersuchungsrahmen heraus beantwortbar, für sich genommen stellen sie keine genügenden Ansätze zur Lösung der vorliegenden Probleme dar 2 5 . I n diesem Zusammenhang soll ein Blick auf die Literatur geworfen werden, die die „Aufopferungskonzeption" i n vergleichbarer Weise k r i tisiert hat. Meisner/Stern/Hodes 26 wenden sich gegen die Begründung des Entschädigungsanspruchs über den an sich gegebenen Abwehranspruch durch das Reichsgericht i n den Funkenflugfällen. E i n Abwehranspruch aus § 1004 BGB sei i n ihnen auch an sich nicht gegeben, der A n spruch müsse nicht m i t dieser Begründung, sondern aufgrund Gefährdungshaftung gegeben werden. Schulte 27 kritisiert die Auffassung des Bergschadensanspruchs aus § 148 A B G als Ersatz für einen an sich gegebenen Anspruch aus § 1004 BGB und weist Fälle nach, i n denen auch an sich ein solcher Anspruch nicht angenommen werden kann. Das Wesen des Anspruchs aus § 148 A B G werde durch diese gekünstelte De25 Unsere Untersuchungsmethode eröffnet uns also erst die Möglichkeit eines sachlichen Vergleichs von Lösungen, die einerseits i m Privatrecht, andererseits i m öffentlichen Recht getroffen sind. Diese sachlichen Zusammenhänge haben auch Baur, J Z 1962, 73, 78 u n d J Z 1963, 41, 47 u n d — jedenfalls unter anderem — auch Bullinger, öffentliches Recht u n d Privatrecht, i m Auge, w e n n sie sich gegen die Überbetonung des Trennenden wenden. Eine scharfe Abgrenzung ist i n der Rechtswegfrage erforderlich, aber sie ist auch hier n u r praktische Entscheidung, vgl. etwa Baur, JZ 1963, 47. D a m i t leugnen w i r nicht unterschiedliche Wertprinzipien i n beiden Rechtsgebieten, n u r eröffnen sie keinen Zugang zur Lösung der hier anliegenden Probleme, w i e unsere Untersuchung w o h l zur Genüge deutlich macht. 26 27
Nachbarrecht § 43 D I I I 2 b. Z f B 107, 202.
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duktion nicht voll erklärt. Hubmann 2 8 spricht i m Hinblick auf diese Begründung des zivilrechtlichen Aufopferungsanspruchs davon, daß ein an sich richtiger Gedanke m i t sehr unzulänglichen M i t t e l n ausgedrückt werde, weil die Unterscheidung zwischen allgemeinem bürgerlichem Hecht und Sondernormen undurchführbar sei. Dies zeige schon die Bestimmung des § 904 BGB, die dem Eigentümer den Abwehranspruch versage, aber nicht i n einem Sondergesetz, sondern i m allgemeinen bürgerlichen Recht enthalten sei und doch einen Entschädigungsanspruch gewähre. Konzen 2 9 hält die Begründung des Entschädigungsanspruchs aus § 26 GewO über den an sich gegebenen Abwehranspruch nicht für möglich, da die Versagung des Abwehranspruchs nur etwas über die Rechtmäßigkeit der Einwirkungen, nicht aber darüber sage, warum trotz dieser Rechtmäßigkeit auf Schadloshaltung gehaftet werde. Das sei aus dem Aufopferungsprinzip zu erklären, das Konzen damit also nicht mit dieser Begründung gleichsetzt. Allen aufgeführten Autoren ist offenbar ein Unbehagen daran gemeinsam, Entschädigungsansprüche auf diese A r t zu begründen. Auch der methodische Ansatz der K r i t i k stimmt jedenfalls bei Meisner/Stern/ Hodes, Schulte und Hubmann überein. Es w i r d ganz konkret die Frage gestellt, ob der Abwehranspruch nach seinen Voraussetzungen vorliegt. Insbesondere Meisner/Stern/Hodes und Schulte fassen die Formel vom „an sich" gegebenen Anspruch nicht als Befreiung von der Prüfung auf, ob der Anspruch tatsächlich „an sich" gegeben ist. Methodisch entspricht dieser „Angriffspunkt" dem hier verfolgten Ansatz. Nur erhalten w i r m i t der Beziehung des Anspruchs auf den Konflikt und der Unterscheidung der Konflikte jedenfalls für den hier zur Erörterung x stehenden Sachkomplex erst die Möglichkeit einer umfassenden Beantwortung dieser Frage. Weil die Frage als solche nicht weiterführt, steht sie wohl bei den genannten Autoren auch nicht i m Zentrum ihrer Überlegungen zur bürgerlich-rechtlichen Aufopferung, wie es an sich der methodischen Bedeutung dieser Frage entsprechen würde. I m übrigen stellt sich die Problematik auch für jedes Sachgebiet neu, daher setzen die einzelnen Autoren durchaus unterschiedliche Akzente, ζ. B. behandeln Meisner/ Stern/Hodes die Fälle des lebenswichtigen Betriebes, die sich als Gefährdungshaftung auffassen lassen, Schulte den Bergschaden, Hubmann § 904 BGB und Konzen § 26 GewO. Die Aufopferungskonzeption über den an sich gegebenen Abwehranspruch steht für Konzen aber nicht i m Mittelpunkt des Interesses, weil er die Aufopferung wirtschaftlich versteht und entsprechend von einem materiellen Aufopferungsprinzip ausgeht 3 0 , welches nicht auf dieses Schema angewiesen ist. Daher ergibt sich 28 29 30
J Z 1958, 491. Aufopferung i m Zivilrecht, S. 131. ζ. B. Aufopferung i m Zivilrecht, S. 19,151.
I I I . Folgerungen f ü r Aufopferungskonzeption des § 14 S. 1 BImSchG
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für i h n auch nicht das Problem des Verhältnisses von privatem und öffentlichem Nachbarrecht, wie es hier — anknüpfend an die formale A u f opferungskonzeption — i n den Mittelpunkt der Untersuchung gestellt wird31. Breuer kann dagegen nicht zu den K r i t i k e r n der überkommenen A u f opferungskonzeption der §§ 26 GewO/14 BImSchG gerechnet werden. Er behandelt den Problemkreis mehrfach i m 4. Kapitel seiner Schrift „Die Bodennutzung i m Konflikt zwischen Städtebau und Eigentumsgarantie" 3 2 . Seine grundlegende Annahme geht dabei dahin, daß die nachbarrechtlichen Abwehransprüche des Privatrechts unmittelbar durch die Genehmigung nach §§ 4 ff. BImSchG verkürzt werden 3 3 . Eine solche Verkürzung privater Abwehrrechte kann auch schon durch einen Bebauungsplan erfolgen, was Bedeutung i n den Fällen hat, i n denen eine Genehmigungspflicht nach BImSchG nicht besteht 34 . Diese Verkürzung führt zu privatrechtlichen Kompensationspflichten 85 . I m 4. Kapitel seiner Schrift nimmt Breuer allerdings auch an, daß die Ortsüblichkeit i n § 906 BGB durch die Bauplanung bestimmt w i r d 3 6 . Diese Auffassung läßt sich m i t dem Gedanken einer Verkürzung privatrechtlicher Abwehrrechte durch öffentlich-rechtliche A k t e (Genehmigung nach §§ 4 ff. BImSchG und Planungsentscheidung) kaum vereinbaren, denn von einer solchen Verkürzung bestehender Abwehrrechte kann nur gesprochen werden, wenn die Ortsüblichkeit i m Sinne des tatsächlich bestehenden Zustandes ausgelegt wird. Die uns hier interessierende Problematik der überkommenen Aufopferungskonzeption des § 14 BImSchG w i r d also von Breuer nicht gelöst. Die miteinander nicht vereinbaren Positionen einer öffentlich-rechtlichen Gestaltung des Raumes m i t Wirkung für § 906 BGB und der Verkürzung privater Abwehrrechte durch diese Gestaltung — m i t der weiteren Folge privatrechtlicher Kompensationsansprüche — bleiben bei Breuer nebeneinander stehen. Was die Bewertung des für § 906 BGB zentralen Merkmals der Ortsüblichkeit betrifft, so schlägt i n der neueren Literatur — neben der insoweit durchaus vergleichbaren Lösung Breuers — vor allem Mittenzwei 81 Z u m Verhältnis von materiellen Aufopferungsprinzip u n d Entschädidungsanspruch vgl. die folgenden Ausführungen unter I V . Vgl. zur zivilrechtlichen Aufopferung insgesamt auch Deutsch, Haftungsrecht, Erster Band, A l l gemeine Lehren, S. 387 - 400. Deutsch schließt sich f ü r § 14 BImSchG der überkommenen Aufopferungskonzeption an, S. 390, 391, arbeitet andererseits aber auch prägnant ein der Aufopferungsentschädigung zugrundeliegendes Prinzip der Güterabwägung heraus, S. 388. 82 S. 252 ff. 83 S. 258, auch S. 274.
34
S. 292, wohl auch S. 257.
85
S. 292, 294. S. 270.
36
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eine Lösung vor, die i m Grundsätzlichen der hier vertretenen ähnelt 3 7 . Mittenzwei analysiert die Problematik der überkommenen Auslegung des § 906 BGB m i t Schärfe. Er versteht den Begriff der „Ortsüblichkeit" i n § 906 I I BGB i m Sinne der Umweltverträglichkeit, für deren Bestimmung allgemeine Richtwerte und Toleranzgrenzen als äußerster Entscheidungsrahmen herangezogen werden sollen 38 . Mittenzwei ist der Auffassung, daß der Begriff dabei durchaus seinen auf Tatsachen bezogenen Charakter behält und jener einigermaßen bewegliche Regulator bleibt, der sich m i t den veränderten Verhältnissen selbst verändert. Doch würde der dynamischen Betrachtungsweise, die nach Mittenzwei die Entwicklungstendenzen des Raumes m i t einbezieht und die Abwehransprüche des Nachbarn dem Fortschreiten des Verkehrs, der Technik und dem Wandel der Anschauungen unterwirft, entsprechend dem neuesten Stand der m i t der Umwelt befaßten Naturwissenschaften eine i m Interesse des Gemeinwohls nicht übersteigbare Barriere errichtet. M i t tenzwei ersetzt damit die „tatsächliche Ortsüblichkeit" durch einen A b grenzungsmaßstab, bei dessen Bestimmung eine Vielzahl von Faktoren einfließen und der insgesamt auf einer wertenden Entscheidung m i t gestaltendem Charakter beruht. W i r gehen insoweit einen Schritt weiter als Mittenzwei, als w i r diese wertende Entscheidung — primär — i m Recht der Raumentwicklung verorten. Diesen Bezug stellt Mittenzwei nicht heraus. Ein Zugang zur Lösung der Vielzahl der praktischen Probleme i m Verhältnis von § 906 BGB zum öffentlichen Recht ergibt sich u. E. jedoch erst bei dieser Verortung der Entscheidung.
I V . Die modifizierte Konzeption des Schadensersatzanspruchs aus § 14 Satz 2 BImSchG 1. Kritik an der überkommenen Konzeption des § 14 Satz 2 BImSchG auf der Grundlage des bisherigen Ergebnisses. Problemstellung für die weitere Untersuchung Nach überkommener Auffassung stellt der Entschädigungsanspruch des § 14 Satz 2 BImSchG die „Gegenleistung" für den aufgeopferten Abwehranspruch dar. Der Entschädigungsanspruch beruht also auf der Aufopferungskonzeption, die w i r vorstehend ohne Berücksichtigung der Entschädigungsfrage vor allem i m Hinblick auf die i n ihr zum Ausdruck kommende Verbindung von privatem und öffentlichem Nachbarrecht untersucht haben. Wenn der privatrechtliche Abwehranspruch gegen eine genehmigte Anlage bereits an sich nicht gegeben ist, so entfällt dam i t auch der Festpunkt für den Entschädigungsanspruch aus § 14 Satz 2 37 38
Mittenzwei, M D R 1977, 99. M D R 1977, 104.
I V . Modifizierte Konzeption des Schadensersatzanspruchs aus § 14 S. 2
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BImSchG. W i r stehen also vor der Frage, welche Folgerungen aus der Aufgabe der Aufopferungskonzeption i n dem beschriebenen Sinne für den Entschädigungsanspruch zu ziehen sind. Es bestehen nun zwei Möglichkeiten. Man kann die Meinung vertreten, daß trotz Aufgabe der A u f opferungskonzeption die Immission durch jede Nutzung zugunsten des Nachbarn zu entschädigen ist, die über die bisherige ortsübliche Nutzung des engeren Raumes hinausgeht. Materiell wäre das der Entschädigungsanspruch, wie er nach der Aufopferungskonzeption gewährt wird, nur würde man sich eben nicht mehr zur Begründung auf sie berufen. Diese Auslegung des § 14 Satz 2 wäre aber m. E. willkürlich, w e i l — ohne Rückgriff auf das Aufopferungssystem — diese Bevorzugung der bisherigen Nutzung vor der neuen Nutzung nicht begründet werden kann. Die andere Möglichkeit geht dahin, von dem durch Raumplanung festgelegten neuen Nutzungszustand auszugehen und jede Wertminderung des beeinträchtigten Grundstücks über ein zumutbares Maß hinaus zu entschädigen. Man würde also den Schadensersatzanspruch aus § 14 Satz 2 BImSchG i m Sinne des Ausgleichsanspruchs wegen unzumutbarer Beeinträchtigung bei beiderseits ortsüblicher Nutzung aus § 906 I I 2 BGB auslegen, den der Gesetzgeber i n Anknüpfung an die sog. zweite Gutehoffnungshütten-Entscheidung des RG vom 10. 3. 19371 durch die Novelle zu § 906 vom 22. 12. 19592 gegeben hat 3 . Die Frage, ob das störende Grundstück ortsüblich genutzt w i r d oder nicht, die für die erste Anspruchskonzeption entscheidend ist, würde für diesen Anspruch also keine Rolle mehr spielen. Beide Ansprüche gehen von unterschiedlichem Niveau aus und haben wegen der unterschiedlichen Voraussetzungen auch unterschiedlichen Umfang: Der eine entschädigt von der Marke bisheriger Ortsüblichkeit aus jede darüber hinausgehende Beeinträchtigung, der andere entschädigt nur den unzumutbaren Eingriff, ohne Rücksicht darauf, i n welchem Maße die öffentlich-rechtlich festgestellte Zulässigkeit des störenden Vorhabens die Marke bisheriger Ortsüblichkeit überschreitet. Ganz grob gesprochen bedeutet der eine Anspruch volle Entschädigung für jede Raumentwicklung, der andere Anspruch Schadensteilung i m Sinne der Entscheidung des RG vom 10. 3.1937 4 . Das Ergebnis unserer Untersuchung dieser Frage, wie es auch aus dem Vorhergehenden schon folgt, geht dahin, daß w i r § 14 Satz 2 BImSchG i m Sinne von § 906 I I 2 BGB auslegen. Es sei hier als These den folgenden Überlegungen vorangestellt, um eine Leitlinie für die Erörterung zu ha1
RGZ 154,161. Bundesgesetzblatt, S. 781. 3 Vgl. zu dieser Aufeinanderfolge von richerlicher u n d gesetzgeberischer Fortbildung des Rechts insbesondere Westermann, Festschrift für Larenz, S. 1004, m i t weiteren Nachweisen. 4 RGZ 154,161, insbesondere 167. 2
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ben. Die Bedeutung dieses Wechsels der Konzeption des Entschädigungsanspruchs aus § 14 Satz 2 BImSchG macht man sich am besten klar, wenn man die Stellungnahme der reichsgerichtlichen Rechtsprechung, die zum Anspruch aus § 906 I I 2 BGB führte, zu § 26 GewO prüft. Es w i r d sich ergeben, daß das Reichsgericht die i n diesem Kapitel aufgezeigten Komplikationen der Aufopferungskonzeption des § 26 GewO durch eine bestimmte Auslegung des Begriffs der Ortsüblichkeit und dann durch Gewährung des Anspruchs i n der zweiten Gutehoffnungshütten-Entscheidung vom 10. 3. 1937 zu bewältigen versucht hat, so daß die reichsgerichtliche Rechtsprechung i m großen Zuge unser Ergebnis bestätigt. W i r begründen unsere These zum Entschädigungsanspruch also, indem w i r ihre Ubereinstimmung m i t den von der Rechtsprechung tatsächlich vollzogenen Wertungen zu diesem Sachkomplex aufdecken 5 . Vorweg versuchen w i r die Problematik des Entschädigungsanspruchs aus § 26 GewO/ 14 Satz 2 BImSchG noch einmal ganz scharf zu fassen, wenn w i r dabei auch etwas überpointieren: Wenn die Ortsüblichkeit i m Sinne des § 906 BGB die einheitliche Nutzung eines engeren Raumbezirks bedeutet, wenn man i m übrigen davon ausgeht, daß die Errichtung der meisten Industriewerke seit Erlaß von § 26 GewO i m Verhältnis zu dieser einheitlichen Nutzung des umliegenden engeren Raumbezirks ortsunüblich gewesen sein wird, so kann man daraus nur schließen, daß die Veränderung des Zustandes bezogen auf die Raumnutzung nach dem Stande von 1870 gemäß § 26 GewO entschädigt worden ist. Auch wenn man für die Veränderung der Ortsüblichkeit eine gewisse Variationsbreite zugesteht, müssen sich bei korrekter Anwendung des § 26 GewO noch ungeheure Entschädigungssummen ergeben haben. Offenbar ist das aber nicht der Fall gewesen. Es ergibt sich also die Frage, wie denn § 26 GewO eigentlich durch die Rechtsprechung praktiziert wurde. 2. Das „System" des Reichsgerichts zu § 26 GewO Das Reichsgericht legte bei der Prüfung des Anspruchs auf Schadloshaltung nach § 26 GewO das Merkmal der Ortsüblichkeit nach § 906 BGB zugunsten der Industrie derart weit aus, daß fast jedes Industriewerk als ortsüblich anzusehen war. Diese Rechtsprechung ist zum ersten M a l ausführlich i n der Eisenhüttenwerk-Thale-Entscheidung vom 6. 7. 1910e 5 Einen Überblick über die verschiedenen systematischen Einordnungsversuche zu RGZ 154, 161 gibt Westermann, Maßnahmen, S. 19 - 23, der die E n t scheidung ebenfalls als eine Anpassung an die veränderte Normsituation v e r steht: Es sei fraglich geworden, ob die ausschließliche Abstellung auf die ortsübliche Nutzung des einen Grundstücks die Eigentumskollision gerecht ausgleiche, Maßnahmen, S. 19. Der Überblick ergibt nach Westermann, daß weder die theoretische N a t u r des Ausgleichsanspruchs noch seine Voraussetzungen noch sein I n h a l t k l a r sind, Maßnahmen, S. 23.
• R G Gruch 55,105.
I V . Modifizierte Konzeption des Schadensersatzanspruchs aus § 14 S. 2
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begründet worden. Faktisch macht diese Rechtsprechung einen Anspruch aus § 26 GewO unmöglich, weil die Ortsüblichkeit i n dieser Auslegung durch die Industrie selbst nicht überschritten werden kann. Die Reaktion erfolgt dann i n der zweiten Gutehoffnungshütten-Entscheidung vom 10. 3. 19377. Das RG bleibt bei diesem weiten Begriff der Ortsüblichkeit, gibt aber trotz anzunehmender Ortsüblichkeit den Anspruch wegen E x i stenzvernichtung bzw. Existenzgefährdung, der m i t dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis begründet wird. W i r sehen diesen Anspruch also als eine direkte Folge des vorher eingeschlagenen Weges bei der I n terpretation der Ortsüblichkeit. Die beiden grundlegenden Entscheidungen des RG vom 6. 7. 1910 und 10. 3. 1937 sollen i m folgenden näher analysiert werden. a) R G Gruch 55,105 (Eisenhüttenwerk-Thale-Entscheidung)
Ein Gastwirt i n dem thüringischen Ort Thale klagt gegen das 300 Schritt entfernt liegende Eisenhüttenwerk 1. auf Unterlassung der von einem 1903 errichteten neuen Walzwerk und der von einer 1904 errichteten neuen Faßfabrik ausgehenden, i h n wesentlich beeinträchtigenden Immissionen. Beide neuen Anlagen waren nicht gewerbepolizeilich genehmigungspflichtig; 2. auf Schutzvorkehrungen bzw. Schadloshaltung hinsichtlich der von der sonstigen Anlage ausgehenden Immissionen, soweit sie i h n wesentlich beeinträchtigen. Die Anlage war insoweit gewerbepolizeilich genehmigt. Der Ort Thale hatte 15 000 Einwohner, das Eisenhüttenwerk beschäftigt 5 000 Arbeiter und ist das einzige Industriewerk i n Thale. Das Eisenhüttenwerk selbst ist i m 18. Jahrhundert gegründet worden. Das RG untersucht i n den Gründen den ersten und zweiten Klagantrag nicht getrennt, sondern wendet sich dem für beide Klaganträge entscheidenden Merkmal der „Ortsüblichkeit" zu. Die Erweiterungen hatten aber offenbar an dem B i l d des ganzen Betriebes nichts Wesentliches geändert, jedenfalls wohl nicht zu einer Steigerung der Immissionen geführt 8 , so daß praktisch doch nur der zweite Klagantrag geprüft wird. Wenn das RG hier zu der Feststellung kam, daß das Eisenhüttenwerk nicht ortsüblich war, war — soweit Schutzvorkehrungen untunlich oder m i t dem gehörigen Betrieb der Anlage unvereinbar waren — Schadloshaltung zu leisten. Das RG untersucht daher, ob die E i n w i r k u n gen durch eine Nutzung des Industriegrundstücks herbeigeführt werden, die „nach den örtlichen Verhältnissen bei Grundstücken dieser Lage gewöhnlich ist", wie es i m bis 1960 geltenden Gesetzestext heißt. 7 8
RGZ 154,161. So das R G auf S. 110.
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Nun sei nicht zu verkennen, führt das RG aus9, daß die Worte „die nach den örtlichen Verhältnissen bei Grundstücken dieser Lage gewöhnlich ist" auf Grundstücke an demselben Ort oder i n derselben Ortslage als Vergleichsobjekte hindeuteten. Das könne aber nicht dazu führen, mangels Vergleichsobjekten i n dem betreffenden Ort dem Werk der Beklagten den sich aus der zweiten Alternative des § 906 BGB (Ortsüblichkeit) ergebenden Schutz zu versagen. Allerdings rechtfertige dieser Umstand mangelnder Vergleichsobjekte i n demselben Ort es nicht, — wie das Berufungsgericht getan hatte —, von jeder Vergleichung mit der Benutzungsweise anderer Grundstücke abzusehen. Die gebotene Rücksichtnahme auf den insoweit klaren Wortlaut des Gesetzes ließe es vielmehr i n diesen Fällen gerechtfertigt erscheinen, die Worte „dieser Lage" i n einem weiteren Sinne aufzufassen, bei der Heranziehung von Vergleichsobjekten über den Ort des Unternehmens, von dem die bekämpften Einwirkungen herrührten, hinauszugehen und auf das Maß von E i n w i r k u n gen zu sehen, das von anderen Grundstücken auszugehen pflege, die je nach der Eigenart und dem Umfang des Unternehmens i n einem engeren oder weiteren Umkreis um seinen Sitz herum gelegen seien und i n gleicher oder gleichartiger Weise benutzt würden. A u f diesen Ausweg habe der Senat bereits i n früheren Entscheidungen hingewiesen 10 . Dabei sei es ohne Belang, ob die zum Vergleich herangezogenen Unternehmen an ihrem Ort ebenfalls die einzigen i n Betracht kommenden seien. Das RG fügt dieser Prüfung jetzt jedoch noch eine zweite hinzu. Es komme „ i m übrigen" darauf an, ob die Benutzung des Grundstücks des Beklagten nach den örtlichen Verhältnissen „gewöhnlich, örtlich hergebracht oder ortsüblich" sei. M i t der Maßgabe, daß die vorstehend angeordnete Vergleichung durchgeführt sei, sei die Ortsüblichkeit der Benutzung i n dem gegeben, woran sich nach der Feststellung des Berufungsgerichts die Einwohner und Grundstückseigentümer von Thale i n ihrer überwiegenden Mehrheit gewöhnt hätten und das sie deshalb als etwas Hergebrachtes ertrügen. Der Kläger müsse also Immissionen dulden, soweit sie nach Ortsgewohnheit ertragen würden und zugleich nicht über das Maß der Einwirkungen hinausgingen, das von Vergleichsobjekten i n einem vom Berufungsgericht zu bestimmenden Umkreis um Thale auszugehen pflege. Diese Deutung des Begriffs der Ortsüblichkeit i m Verhältnis von Industrie und sonstiger Raumnutzung, insbesondere Wohnbebauung und Landwirtschaft, hat sich durchgesetzt und ist bis heute i n der Rechtsprechung herrschend geblieben 11 . 9
S. 108. RG, 31. 1. 1906, D J Z 1906, 485 u n d RG, 15. 12. 1906, RGZ 70,154. 11 RG, 26. 11. 1932, RGZ 139, 29, 32; 10. 3. 1937, RGZ 154, 161, 165; BGH, 29. 10. 1954, Β G H Z 15, 146, 149; 15. 4. 1959, B G H Z 30, 273, 278; 10. 11. 1972, Β GHZ 59, 378, 381. 10
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U m die vom HG vollzogenen Schritte richtig würdigen zu können, vergegenwärtigen w i r uns zunächst die Auslegung des Begriffs i m unproblematischen Normalfall, wo er nach unserer Auffassung auch nur die i h m zugemutete Abgrenzung erbringt. Nur von hier aus kann das Ausmaß der Abweichung gewürdigt werden. Nach gefestigter Rechtsprechung, die i m Normalfall Anwendung findet, ist Ortsüblichkeit die tatsächliche Nutzung i n einem engeren einheitlich geprägten Raumbezirk 1 2 . Das Abstellen auf den engeren Raumbezirk und die einheitliche Prägung ermöglichen die Feststellung eines Störungspegels, anhand dessen sich Nutzungsexzesse kontrollieren lassen. Daß es nur auf die ortsübliche Nutzung des beeinträchtigenden Grundstücks ankommt, stellt i n keiner Hinsicht eine Einschränkung dar, denn i n der Nutzung des engeren Raumbezirks liegt ein objektiver Maßstab, und die Vorstellung geht i m übrigen dahin, daß j a auch der Beeinträchtigte von dieser — für i h n genau so objektiv bestimmten — N u t zungsweise Gebrauch machen kann 1 3 . Nicht ganz unproblematisch ist jedoch die Frage der einheitlichen Prägung. A u f sie w i r d kaum eingegangen. Die Sachlage ist klar, wenn ein engeres Gebiet einheitlich als Wohngebiet oder auch als Gewerbegebiet geprägt ist. Man w i r d aber auch bei gemischter Nutzung noch von einheitlicher Prägung sprechen können, die dann eben i n der bestimmten Weise der Mischung liegt. Gewerbebetriebe m i t ihren Immissionen bestimmen die Ortsüblichkeit, aber eben i n der Rücksicht, die sie auf die m i t ihnen verflochtenen Wohngrundstücke immer schon zu nehmen haben. Von einem einheitlich geprägten Störungspegel, der eine Nutzungskontrolle hinsichtlich Abweichungen ermöglicht, kann also auch für diese Gebiete ausgegangen werden. Bei der Analyse der Thale-Entscheidung des RG sollte man sich ganz klar machen, daß das RG die Entschädigungsfrage des § 26 GewO untersucht, nach der Systematik aber gezwungen ist, zunächst einen fiktiven Unterlassungsanspruch zu prüfen, der bestände, wenn das Werk nicht gewerbepolizeilich genehmigt wäre. Die erste große Schwierigkeit liegt darin, daß der Störungsgrad des Eisenhüttenwerks nicht an dem Störungsgrad des umliegenden engeren Raumes gemessen werden kann, weil weitere störende Betriebe nicht vorhanden sind. Der Gedanke, daß das anderweitig i m engeren Raum Übliche auch i n jedem Einzelfall ertragen werden muß, führt hier also nicht weiter. Das RG löst die Schwierigkeit, wie sich aus der obigen Darstellung der Entscheidung ergibt, mit zwei kumulativ aneinander gefügten Begründungen: Als Vergleichsobjekt werden einmal andere Industriewerke i n einem 12 RG, 8. 7. 1931, RGZ 133, 152, 154; BGH, 29. 10. 1954, Β G H Z 15, 146, 148; 30. 10.1970, B G H Z 54, 384, 389; 10.11. 972, B G H Z 59, 378, 381. 13 So insbesondere Westermann, Maßnahmen, S. 51.
5 Schapp
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weiteren Umkreis herangezogen. Dann w i r d zusätzlich darauf abgestellt, ob die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung sich an die Industrie gewöhnt hat und diese als etwas Hergebrachtes erträgt. Der Scheincharakter der ersten Begründung liegt auf der Hand. Die Verbindung zu den örtlichen Verhältnissen w i r d aufgelöst und läßt sich auch nicht dadurch wahren, daß man sich nun Gedanken über die Entfernung macht, die allenfalls für Vergleichsobjekte noch akzeptiert werden kann. Das RG versucht hier nur, die gedankliche Struktur der normalen Prüfung, die i n dem Vergleich von Grundstücken liegt, für diesen Fall zu retten. Es bezeichnet diese Begründung selbst nur als „Ausweg" 1 4 . Dabei ist allerdings nicht zu verkennen, daß das Merkmal „dieser Lage" i n der gesetzlichen Formulierung „die nach den örtlichen Verhältnissen bei Grundstücken dieser Lage gewöhnlich ist" tatsächlich ein Anknüpfungspunkt für diesen Ausweg ist, das der sonst auf die örtlichen Verhältnisse bezogenen Formulierung des Gesetzes einen etwas schillernden Charakter gibt. Als durchaus tragend könnte man aber den zweiten Gedanken des RG ansehen, daß das, was als hergebracht angesehen und hingenommen wird, das nach den örtlichen Verhältnissen Gewöhnliche darstellt. Diese Begründung rechtfertigt es jedenfalls, ein Industriewerk auch dann als den Raum prägend anzusehen, wenn gerade seine Ortsüblichkeit zur Debatte steht. Damit ist das Problem jedoch nicht gelöst. Die eigentlichen Schwierigkeiten für das Verhältnis von § 906 BGB zu § 26 GewO beginnen vielmehr erst hier. Wenn der Anspruch aus § 26 GewO auf Schadloshaltung überhaupt gedanklich möglich sein soll, muß i m Augenblick der Errichtung eines Industriewerks eine Differenz zwischen bisher ortsüblicher Nutzung und der Nutzung möglich sein, die sich jetzt durch dieses Industriewerk ergibt. Das bedeutet, daß die Nutzung durch das Industriewerk, die ja gerade entschädigt werden soll, die Ortsüblichkeit noch nicht mitbestimmen kann. Sie w i r d ja, nach dem überkommenen Schema, gerade durch die Genehmigung, nicht durch die Ortsüblichkeit legitimiert. Für diesen Zeitpunkt versagen auch die beiden Begründungen des RG: Für den Zeitpunkt der Errichtung ein Werk für ortsüblich zu halten, w e i l auch anderswo Industrie errichtet wird, ist aus den schon dargestellten Gründen kein ernstzunehmendes Argument. Wichtiger ist, daß für diesen Fall auch das zweite Argument des RG versagt: Die Bevölkerung hat sich noch nicht an das Werk gewöhnt und erträgt es daher auch nicht als etwas Hergebrachtes. Wenn man das Werk tatsächlich i n bezug auf seine Ortsüblichkeit würdigen w i l l , so steht hier nur der bisherige Raumzustand zur Verfügung. I n bezug auf i h n ist das Werk i n der Regel — jedenfalls wenn die Fälle so gelagert sind, Wiedas hier vorausgesetzt w i r d — 14
R G Gruch 55,109.
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nicht ortsüblich. Damit ist — bei Anwendung des überkommenen Schemas — hier eine volle Entschädigung für die den bisherigen Raumzustand übersteigende Störung fällig. Die Bedeutung der RG-Rechtsprechung w i r d deutlich, wenn man jetzt wieder auf den späteren Zeitpunkt zurückblendet, über den das RG zu befinden hatte: Das RG müßte jetzt — wenn man einmal konsequente Gedankenführung unterstellt — davon ausgehen, daß der zunächst gegebene Anspruch aus § 26 GewO dadurch verlorengeht, daß das Werk jetzt selbst die Ortsüblichkeit bestimmt. Der Gastwirt hat den Entschädigungsanspruch verloren, weil das Werk von der Bevölkerung als etwas Hergebrachtes ertragen wird, denn darin liegt der Kern der Begründung des RG-Urteils. Dieses Ergebnis und auch die Begründung, das läßt sich jetzt erkennen, sind unhaltbar. Der Gedankengang, auf dem das Ergebnis bei konsequenter Entwicklung beruhen müßte, überzeugt nicht: Während zunächst § 26 GewO den Anspruch aus §§ 1004, 906 BGB ausgeschlossen hat, bildet sich nun ein Herkommen, aufgrung dessen das Werk ertragen wird, so daß eine Duldungspflicht aus § 26 GewO nicht mehr erforderlich ist, vielmehr der Anspruch aus §§ 1004, 906 BGB von vornherein nicht besteht. Das führt aber zu der Frage, ob dieses Herkommen, das die Duldungspflicht aus § 26 GewO als Rechtsgrund ersetzt, ob diese „heranwachsende Ortsüblichkeit" ausreicht, um den Nachbarn seinen Entschädigungsanspruch zu nehmen. Der Umfang der Beeinträchtigung hat sich doch durch dieses Ortsüblich-Werden nicht gemindert, er ist eher noch gestiegen. Vor allem aber, das Werk hat es doch nur zu einer Ortsüblichkeit aufgrund Herkommens gebracht, weil der Bevölkerung von Anfang an die Unterlassungsklage genommen war. Sehr viel redlicher wäre es, sich hier nicht auf ein erzwungenes Herkommen zu berufen, sondern den Schutz des Werkes nach wie vor aus § 26 GewO abzuleiten bzw., wie w i r es tun, auf die einmal gefällte raumgestaltende Entscheidung zurückzuführen. Jedenfalls ist nicht einzusehen, warum allein die Tatsache einer erzwungenen Gewöhnung den Nachbarn u m seinen ursprünglich bestehenden Entschädigungsanspruch bringen soll, der jedenfalls bei Zugrundelegung des überkommenen Aufopferungssystems nach § 26 GewO bestanden haben muß 1 5 . Die reichsgerichtliche Rechtsprechung läßt sich also nach ihren eigenen Prämissen nicht halten oder ist doch auf der Grundlage dieser Prämissen nicht überzeugend begründet.
15 Gegen dieses Ortsüblichwerden aufgrund der Genehmigung auch Baur, J Z 1974, 660, der bei der Entscheidung über die Ortsüblichkeit i m Rahmen der Entschädigungsfrage „ v o n dem Betrieb abstrahieren" w i l l .
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Dennoch stimmen w i r m i t ihr i n dem Ergebnis überein, daß jedenfalls der von ihr geprüfte Entschädigungsanspruch aus § 26 GewO i n dem durch das Aufopferungssystem bestimmten Umfang nicht gegeben werden kann. Dieses Ergebnis ist aber nicht durch die Annahme einer Ortsüblichkeit der Industrie zu erzielen, sondern auf der Grundlage unseres Systems, i n dem die Ortsüblichkeit für die Entschädigungsfrage keine Bedeutung mehr hat. W i r vergegenwärtigen uns noch einmal diesen Gedankengang: Der Begriff der Ortsüblichkeit i n § 906 BGB dient nur der Nutzungskontrolle i n einem engeren Raumbezirk, der einheitlich geprägt ist und dessen baulicher Zustand feststeht. Die A r t der Nutzung durch genehmigungsbedürftige Anlagen w i r d ausschließlich durch die Genehmigung selbst legitimiert, nicht durch eine bisherige ortsübliche Nutzung. Nur das ist i n § 14 Satz 1 BImSchG zum Ausdruck gebracht. Dam i t besteht keine Veranlassung mehr, bei Errichtung des Industriewerks auf die bisherige Ortsüblichkeit abzustellen, die ja nur eine Marke der Nutzungskontrolle für den status quo ist, und wegen ihrer Überschreitung Schadensersatz aus § 14 Satz 2 BImSchG zu geben. Es besteht weiter keine Veranlassung, sich für die Zeit nach Errichtung des Industriewerks um einen neuen Begriff der Ortsüblichkeit zu bemühen, der das Werk m i t umfaßt, denn sein baulicher Zustand ist allein durch die Genehmigung legitimiert, und um die Frage einer Nutzungskontrolle auf der Grundlage des status quo handelt es sich nicht. Es handelt sich vielmehr darum, ob bei gewerberechtlich vorliegender Legitimation des Werkes Schadensersatz zu geben ist. Dieser ist gesetzlich vorgesehen, aber sein Umfang ist systematisch nicht mehr geklärt, wenn die Aufopferungskonzeption bereits für den Zeitpunkt der Errichtung des Werkes entfällt. Die Frage der systematischen Einordnung des Entschädigungsanspruchs war also i n Wirklichkeit das Problem, welches das RG hier hätte lösen müssen. Da das RG den Entschädigungsanspruch i n seinem Aufopferungsumfang nicht geben wollte, konnte es ihn nur ganz versagen, wenn es die Aufopferungskonzeption nicht verlassen wollte. Dabei mußte es aber das System selbst „vergewaltigen". Das geschieht aufgrund einer Auslegung des Begriffs der Ortsüblichkeit, der i n diesem Zusammenhang ohne Rücksicht auf seine sonstige Funktion i m Rahmen des § 906 BGB gehandhabt wird. Die Problematik w i r d nur schwach dadurch verdeckt, daß die Zeitpunkte verschoben sind. Die Lösung des RG läßt sich bei genauerer Prüfung der möglichen Fallgestaltungen auch i n die Aufopferungskonzeption nicht stimmig einfügen. Zusammenfassend läßt sich folgendes feststellen: Die eigentliche Bedeutung der Thale-Entscheidung liegt darin, daß das RG — äußerlich ohne Abweichung vom überkommenen Aufopferungssystem — dieses System doch dadurch verläßt, daß es den Begriff der Ortsüblichkeit auf-
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weicht und ihn nicht i m Sinne einer Störungsmarke, die auch überschritten werden kann, sondern i m Sinne des zu Duldenden und damit letztlich des öffentlich-rechtlich Zulässigen auslegt. M i t dieser Handhabung des Aufopferungssystems entfällt praktisch der Entschädigungsanspruch aus § 26 GewO. Das RG war damit offenbar zugunsten der Industrie einen Schritt zu weit gegangen. Aber ließ sich die Entschädigungsfrage überhaupt auf der Grundlage der Aufopferungskonzeption m i t ihrem Zentralbegriff der Ortsüblichkeit befriedigend regeln? Die Lösung dieser Frage bringt die zweite Gutehoffnungshütten-Entscheidung. Auch sie gibt das Aufopferungssystem nicht auf, sie handhabt den Begriff der Ortsüblichkeit genau so wie die Thale-Entscheidung, aber sie begründet den Entschädigungsanspruch jetzt i n einer neuen Weise. b) RGZ 154,161 (zweite Gutehoffnungshütten-Entscheidung)
Ein Landwirt i n Oberhausen klagt gegen die Gutehoffnungshütte auf Ersatz für Ausfälle i n seinem landwirtschaftlichen Betrieb i n den Jahren 1924 und 1925, die durch Immissionen der seinen Betrieb an zwei Seiten umgebenden Anlage der Beklagten, wie Hochöfen, Stahl- und Walzwerke, Zechen und Kokereien entstanden ist. Das RG prüft als Anspruchsgrundlage die §§ 16, 26 GewO 1 6 . Die Entscheidung hänge davon ab, ob sich die Zuführungen innerhalb der durch § 906 BGB gesetzten Grenzen hielten 1 7 . Sie werden vom RG unter Bezugnahme auf die bisherige Rechtsprechung, insbesondere den sog. ersten Gutehoffnungshüttenfall 18 , als ortsüblich angesehen: Die Städte M ü l heim, Oberhausen und Duisburg bildeten nach ihrer örtlichen Lage zueinander einen einheitlichen Wirtschaftsbezirk, innerhalb dessen — als weiterem Vergleichsrahmen — die Anlagen der Gutehoffnungshütte i n Oberhausen als üblich angesehen werden könnten 1 9 . Den i n der ersten Gutehoffnungshütten-Entscheidung ausgesprochenen Rechtssätzen sei aber eine m i t dem geltenden Recht vereinbare Weiterentwicklung und Ausgestaltung zu geben, um solchen Fällen des Nebeneinanderbestehens von Industrie und Landwirtschaft gerecht zu werden. § 906 BGB sei keine starre Norm, sondern i n seiner die Lebensverhältnisse regelnden Bedeutung wandelbar, je nach Fortschritten des Verkehrs, der Technik und nicht zuletzt nach der Denkweise der beteiligten Volkskreise. Wenn auch die Ortsüblichkeit der Industrie bejaht werde, so müsse andererseits die Tatsache, daß sich i n Oberhausen i n unmittelbarer Nachbarschaft der Gutehoffnungshütte nicht unbedeutende landwirtschaftliche 16 RG, 10. 3. 1937, RGZ 154, 162; der auch erwähnte § 148 A B G interessiert i n diesem Zusammenhang nicht. 17 RGZ 154,162. 18 RG, 26.11. 1932, RGZ 139, 29. 19 RGZ 154,164,165.
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Betriebe befänden, die rechtliche Behandlung des Falles beeinflussen 20 . Es würde dem Gedanken der Volksgemeinschaft widersprechen, wenn der Industrie gestattet sein sollte, ohne Entschädigungspflicht m i t ihr zusammenliegende landwirtschaftliche Betriebe, die nicht fehl am Ort seien, sondern an jener Stelle ihre natürlichen Lebensbedingungen fänden, i n einer Weise zu beeinträchtigen, daß die Landwirtschaft dadurch zum Erliegen kommen müsse. Zutreffend würde von einem „nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis" gesprochen, i n dem die Nachbarn aufeinander Rücksicht zu nehmen hätten 2 1 . Es komme darauf an, i m Einzelfall den gerechten Ausgleich der widerstreitenden Belange, das für dieses Lebensverhältnis richtige Recht zu finden. Die Beachtung dieser Grundanschauung der Volksverbundenheit führe zu einer Auslegung des § 906 BGB, die eine gerechte Lösung der i n solchen Fällen des Zusammenlebens auftretenden Spannung ermögliche. A u f dieser Grundlage kommt das RG zu folgendem Ergebnis: Einwirkungen des Industriewerks von solcher A r t und solchem Maß, daß sie die Lebensbedingungen der Landwirtschaft zerstören müssen, können nicht als rechtmäßig i m Sinne des § 906 BGB angesehen werden. Ein Abwehranspruch des Landwirts sei durch § 26 GewO ausgeschlossen. Aber die Rechtswidrigkeit der Einwirkung müsse ihren Ausdruck i n einer Ersatzpflicht für die Schadensfolgen finden. A u f Seiten der Landwirtschaft bringe die Tatsache des Zusammenlebens m i t sich, daß sie einen erheblichen Teil der Einwirkungen als durch die örtliche Lage bedingt tragen müsse. Es müsse Bedacht darauf genommen werden, die Entwicklung der Industrie nicht unbillig zu hemmen 22 . Das RG kommt dann zu einer prozentualen Aufteilung der durch die Zuführungen verursachten Schäden zwischen Industrie und Landwirtschaft. W i r haben den Gedankengang der Entscheidung so ausführlich wiedergegeben, w e i l i n i h m das hier erörterte Dilemma so deutlich zum Ausdruck kommt: Einerseits w i r d das Aufopferungssystem zugrundegelegt, andererseits sind zur Lösung der Problematik doch offenbar sehr viel weitergehende Gedanken erforderlich. Es klingt m i t dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis fast so etwas wie ein neues System an. Die Frage, wie sich Aufopferungssystem und nachbarliches Gemeinschaftsverhältnis zueinander verhalten, bleibt ungelöst, sie w i r d wohl nicht einmal m i t Schärfe erkannt. W i r entwickeln unsere Stellungnahme auch nicht von dieser Entgegensetzung her, sondern setzen die vom RG weiterhin verfolgte Aufopferungskonzeption i n ein Verhältnis zu den materiellen Wertungen der Entscheidung, die u. E. nur aus unserem System 20
RGZ 154,165. Unter Hinweis auf Heck, Sachenrecht, § 50; Klausing, fer, Z A k D R 1936, 1076. 22 RGZ 154,166. 21
J W 1937, 68; Schif-
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des § 14 Satz 2 BImSchG heraus verständlich zu machen sind. A u f die systematische Entgegensetzung von Aufopferung und nachbarlichem Gemeinschaftsverhältnis bzw. auf die systematische Bedeutung des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses selbst soll dann anschließend i n diesem Kapitel unter IV, 4 eingegangen werden. Das RG prüft den Anspruch auf Schadloshaltung aus § 26 GewO. Das w i r d i n der Entscheidung ausdrücklich hervorgehoben 23 . Damit ist das Schema der Prüfung festgelegt. § 906 BGB ist wegen Ortsüblichkeit der Immissionen durch Industrie eigentlich nicht anwendbar, w i r d aber unter Verwendung des Gedankens des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses dahin ausgelegt, daß die Existenz der Landwirtschaft zerstörende oder gefährdende Einwirkungen dennoch als nach § 906 BGB rechtswidrig anzusehen sind. Auch für diesen Fall der Rechtswidrigkeit ist die Abwehrklage nach § 26 GewO ausgeschlossen24. Damit kann ein Ersatzanspruch gegeben werden, der nach dieser Begründung nur aus § 26 GewO folgen kann. Es muß Kleindienst also zugegeben werden, daß das RG den Ersatzanspruch tatsächlich aus § 26 GewO ableitet und daß das RG die A n wendung dieser Bestimmung durch eine restriktive Auslegung des § 906 BGB ermöglicht 25 . Da w i r das Aufopferungssystem selbst i n Frage stellen, können w i r es bei dieser Erkenntnis jedoch nicht belassen, sondern wollen versuchen, die Wertungen des RG, die zu diesem Anspruch geführt haben, ihrerseits i n den Zusammenhang unseres „Systems" zu stellen. Nach der Aufopferungskonzeption des § 26 GewO ist die Überschreitung der bisherigen Ortsüblichkeit der Raumnutzung durch die Neuerrichtung eines Industriewerks entschädigungspflichtig. Dabei kann naturgemäß die Tatsache der Errichtung des Werkes selbst die Ortsüblichkeit nicht mitbestimmen. Zur Entscheidung kamen nun i m wesentlichen Fälle, i n denen das Industriewerk schon geraume Zeit bestand. Es wurde — m i t den oben wiedergegebenen Gründen — als ortsüblich angesehen, so daß der Entschädigungsanspruch entfallen mußte. Der Grundgedanke der Entschädigungsregelung des § 26 GewO konnte nun doch nur dahin gehen, daß eine Entschädigung für die Abweichung vom bisherigen Raumzustand gegeben wurde. Die Konfliktlösung war also dem Schwerpunkt nach auf den Errichtungszeitpunkt bezogen und hatte hier ihren Sinn, soweit man privatrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Maßstab i n das Verhältnis setzte, wie die Aufopferungskonzeption das tut. Für jeden späteren Zeitpunkt greift die Entschädigungsregelung 28 24 25
RGZ 154,162 oben. RGZ 154,166. Kleindienst, S. 26 ff. I h m ist Konzen, S. 56, gefolgt.
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nicht mehr, wenn man zur Bestimmung der Ortsüblichkeit i m Sinne von § 906 BGB das Industriewerk selbst m i t heranzieht. Was aber i m Falle der Entscheidung des RG i n RGZ 154, 161 entschädigt werden sollte, ist ein ganz anderer Tatbestand. Die Entscheidung steht nicht vor der Frage, ob eine Entwicklung des Raumes als Einzeleingriff aufzufassen ist, der an sich unzulässig ist, sondern der gegebene Raumzustand w i r d hier als bereits entwickelt betrachtet und die Entschädigung beruht auf dem Gedanken, daß die Nutzung des Raumes durch den einen eine Beeinträchtigung des anderen m i t sich bringt, die diesem nicht zumutbar ist. Diese Frage ist nicht mehr an die andere gekoppelt, ob die Raumnutzung des einen oder anderen zulässig ist. Der K o n f l i k t ergibt sich aus der Ungleichartigkeit von Nutzungen, deren Daseinsberechtigung an dieser bestimmten Stelle nicht mehr i n Frage gestellt werden kann und gestellt wird. Verglichen m i t dem Entschädigungsanspruch, der nach der Aufopferungskonzeption sofort bei Errichrichtung des Industriewerks für Überschreitung bisheriger Ortsüblichkeit fällig wäre, geht dieser Anspruch — gewissermaßen umgekehrt — vom Niveau der Raumbelastung durch die Industrie aus und entschädigt den unzumutbaren Eingriff i n die Nutzung des anderen. Die Schadensteilung liegt darin, daß die Beeinträchtigung durch Industrieimmissionen bis zu einem gewissen Grad als zumutbar angesehen wird, weil auch die Industrie ihre Existenzberechtigung an dieser Stelle hat. Bei der Bestimmung des Umfangs des Anspruchs aus § 26 GewO i n der überkommenen Auslegung spielt dagegen die Existenzberechtigung der I n dustrie gerade keine Rolle, weil — bezogen auf bisherige Ortsüblichkeit — jede Abweichung zu entschädigen war. Die raumgestaltende Wirkung der Industrie kann natürlich nicht m i t berücksichtigt werden, wenn Ausgangspunkt — stark vereinfacht — der Raum i m nicht industrialisierten Zustand ist. Es fragt sich, ob sich dieser vom RG i n der zweiten Gutehoffnungshütten-Entscheidung gewährte Anspruch nicht auf der ganzen Linie fruchtbar machen läßt, also auch für den Fall, i n dem die Industrie nicht schon hergebracht ist, sondern i n welchem der Anspruch aus § 26 GewO i n der überkommenen Auslegung m i t dieser Begründung nicht mehr abgelehnt werden kann. Das ist nun i n der Tat der Inhalt der These, die w i r unter I V 1 i n diesem Kapitel vertreten haben. Sie geht also dahin, daß der Anspruch aus § 14 Satz 2 BImSchG i m Sinne des Anspruchs aus § 906 I I 2 BGB ausgelegt wird. Das ist noch weiter zu begründen. Der Anspruch aus §§ 26 GewO /14 Satz 2 BImSchG ist i m klassischen Umfang nur nach der Aufopferungskonzeption haltbar. Nach unserer Konzeption überschreitet die Planung nicht eine Marke der Ortsüblichkeit m i t der Wirkung der Aufopferung für den nach dem bisherigen Zustand ortsüblich Nutzenden. Nicht ausschließen läßt sich aber auch bei pia-
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nerischer Zulässigkeit eine Beeinträchtigung aufgrund ungleichartiger Nutzung über ein zumutbares Maß hinaus. Dieser Anspruch ist also von Anfang an einzig gegeben, er setzt nicht erst später ein. Wenn man den Anspruch aus § 26 GewO i n der klassischen Auslegung behalten wollte, so hätte das folgende Konsequenz: Bis zu dem Moment, i n dem neuerrichtete Industrie ihrerseits als ortsüblich angesehen werden kann, wäre voller Ersatz wegen Überschreitung bisheriger Ortsüblichkeit zu leisten, von dem Moment, i n dem die Industrie ihrerseits die Ortsüblichkeit bestimmt, würde dieser Anspruch durch den Anspruch der reichsgerichtlichen Rechtsprechung auf Teilschaden abgelöst. Dieses Ergebnis läßt sich nicht mehr sinnvoll begründen. Wenn es das Wesen der Planung ist, daß sie aufgrund Abwägung der beiden beteiligten I n teressen einen für beide Seiten erträglichen Raumzustand schaffen soll, dann muß auch davon ausgegangen werden, daß die erlaubte Nutzung von Anfang an für beide Seiten zulässig ist. Die tatsächliche Ortsüblichkeit bisheriger Nutzung bestimmt das Schonungsinteresse des Nachbarn. Dieses w i r d bei der planungsrechtlichen Abwägung soweit wie möglich berücksichtigt und nicht aufgeopfert. Jeder Ausgleichsanspruch kann — so betrachtet — nur die Funktion haben, die durch Raumgestaltung nicht mehr ausgleichbare Beeinträchtigung eines der Beteiligten jedenfalls durch Geld abzugleichen. Für diesen Anspruch kann die bereits vor Errichtung des Vorhabens bei der planungsrechtlichen Abwägung i m Rahmen des nachbarlichen Schonungsinteresses berücksichtigte tatsächliche Ortsüblichkeit der bisherigen Raumnutzung aber keine Bedeutung mehr haben. Ebenso wie es Aufgabe der Planung ist, von vornherein eine Verträglichkeit der Nutzungen zu erzielen, erscheint von vornherein ein Geldausgleich erforderlich, wenn diese Verträglichkeit i m Einzelfall nicht vollständig erzielt worden ist. Nur dieser Fall bedarf des Ausgleichs. Der Anspruch aus der Entscheidung des RG i n RGZ 154, 161 harmoniert also auf der ganzen Linie m i t unserer Auffassung der §§ 26 GewO / 14 BImSchG als nicht an die Ortsüblichkeit gebundener Raumgestaltung. Der Begriff der Ortsüblichkeit hat damit für den immissionsrechtlichen Entschädigungsanspruch des § 14 Satz 2 BImSchG ebenso wenig Bedeutung wie für den Anspruch aus § 906 I I 2 BGB. Er hat Bedeutung nur, soweit der privatrechtliche Abwehranspruch tatsächlich gewährt wird, also i n den Fällen der Nutzungskontrolle auf der Grundlage des status quo. Die Ortsüblichkeit bestimmt weder die planerische Entscheidung, noch den nach Errichtung einer Anlage zu gewährenden Entschädigungsanspruch, dem vielmehr eine durchaus anders zu beurteilende Interessenkonstellation zugrunde liegt.
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1. Kap.: Privates u n d öffentl. Nachbarrecht i m Bereich des BImSchG c) Zusammenfassung zum „System" des R G
Das auf der Ortsüblichkeit aufgebaute Aufopferungssystem der §§ 1004, 906 BGB, 26 GewO ist i n den beiden analysierten systematisch grundlegenden Entscheidungen des RG nicht praktisch geworden. Die eine Entscheidung (RG Gruch 55, 105) bejaht die Ortsüblichkeit der I n dustrie und bewahrt sie damit ganz vor Entschädigungsansprüchen, die andere (RGZ 154, 161) gibt einen geminderten Anspruch, der i n das Aufopferungssystem selbst nicht ohne weiteres einzuordnen ist. I n beiden Fällen kommt der volle Anspruch des § 26 GewO, wie er sich aus der klassischen Aufopferungskonzeption ergibt, jedoch nicht zum Zuge. Das läßt sich nicht m i t dem späten, weit nach Errichtung der Industrie liegenden Zeitpunkt erklären, über den i n den Urteilen allein zu befinden war. Die Argumentation des RG paßt vielmehr weitgehend auch auf den Zeitpunkt gleich nach Errichtung der Industrie. E i n ausreichender Grund für unterschiedliche Wertungen für beide Zeitpunkte ist jedenfalls nicht ersichtlich. Praktisch w i r d damit vom RG bereits 1910 die Aufopferungskonzeption des § 26 GewO durch die vorgenommene Auslegung der „Ortsüblichkeit" unterlaufen. 1937 erfolgt — als Konsequenz — die Angleichung dés Entschädigungsanspruchs. Systematisch lassen sich diese Schritte allerdings erst von der hier ausgearbeiteten planungsrechtlichen Konzeption der §§ 26 GewO / 14 B I m SchG i n ihrem Zusammenhang deuten, w e i l erst von hier aus der Begriff der Ortsüblichkeit auf seine i h m zukommende Bedeutung reduziert werden kann und der planungsrechtlich bestimmte Raumzustand erst damit sein Eigengewicht bekommt. Das Verdienst der Rechtsprechung liegt vor allem darin, daß sie sich i n diesen Fällen für die Bestimmung des Entschädigungsanspruchs die Aufopferungskonzeption nicht aufnötigen ließ, sondern dem Anspruch aus § 26 GewO nach zunächst völliger Ablehnung die einzig m i t der Interessenlage vereinbare Gestalt gab. W i r können die reichsgerichtliche Rechtsprechung also einmal zur weiteren Absicherung unserer Konzeption anführen, die Entscheidung des RG vom 10. 3. 193726 gibt darüber hinaus aber dem A n spruch aus § 14 Satz 2 BImSchG direkt die Gestalt, die er bei Zugrundelegung dieser neuen Konzeption allein haben kann 2 7 . M i t der gesetzgeberischen Reform des § 906 I I 2 BGB hat sich der Zumutbarkeitsmaßstab allerdings verschoben 28 . Der große Grundgedanke, die Ausdeutung des Konflikts und wie er zu lösen ist, bleibt davon jedoch unberührt. 2e
R G Z 154,161. Insoweit bedeutet RGZ 154, 161 doch eine echte Reform, so auch Westermann, Sachenrecht, § 63 I 2; Maßnahmen, S. 19 ff.; Festschrift f ü r Larenz, S. 1004, gegen Kleindienst, S. 26 ff. Die Begründung der Entscheidung m i t dem Aufopferungsschema bleibt äußerlich, der K e r n liegt i n der neuen Wertung. Vgl. dazu i m folgenden unter Ziffer 4. 28 Erman / Westermann, § 906 B G B A n m . 16. 27
I V . Modifizierte Konzeption des Schadensersatzanspruchs aus § 14 S. 2
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3. Die Auslegung des § 14 Satz 2 BImSchG ist mit dem Gesetzeswortlaut vereinbar Unsere Auslegung des § 14 Satz 2 BImSchG i m Sinne des § 906 I I 2 BGB ist i m übrigen m i t dem Gesetzestext selbst vereinbar. § 14 Satz 1 BImSchG legt sich ja — wie ausgeführt — durchaus nicht auf die hier abgelehnte Aufopferungskonzeption fest, sondern ist auch m i t der hier vertretenen Auslegung als deklaratorische Bestimmung vereinbar. Damit ist das Feld auch für eine modifizierte Konzeption des § 14 Satz 2 BImSchG frei. Unsere Auslegung w i r d noch dadurch unterstützt, daß der Gesetzgeber jetzt nicht mehr von Schadloshaltung spricht, sondern von Schadensersatz. Damit ist auch die an das Enteignungsrecht anklingende Terminologie aufgegeben und der Anspruch w i r d auch sprachlich zivilrechtlich gefaßt. Es ist allerdings zuzugeben, daß der Schadensersatztatbestand i n der Bestimmung selbst bei Zugrundelegung unserer Auslegung nicht so präzise bezeichnet ist wie nach der Aufopferungskonzeption, die dem Anspruch j a selbst die Kontur gibt. Damit läßt sich die hier vertretene Auslegung i m Ergebnis aber nicht zurückweisen. Entscheidend für den Entschädigungsanspruch ist nun einmal die ganze Konzeption des Verhältnisses von §§ 1004, 906 BGB zu § 14 BImSchG. Zwar mag der Anspruch nach der Aufopferungskonzeption feste Kontur aus § 14 BImSchG gewinnen. Wenn man die Aufopferungskonzeption aber nicht als gesetzlich verankert ansieht, sie vielmehr angesichts der Beziehung zu § 906 selbst aufgibt, kann für die Auslegung folgerichtig auch § 906 I I 2 BGB herangezogen werden. Bei dieser Erweiterung der gesetzlichen Grundlage hat der Anspruch aus § 14 Satz 2 BImSchG eine ebenso feste Kontur wie nach der Aufopferungskonzeption, nur eine andere, eben eine m i t § 906 I I 2 BGB übereinstimmende. 4. Die Bedeutung grundlegender Prinzipien (Aufopferungsprinzip, Treu und Glauben) für unsere Lösung, entwickelt anhand von Hans J. Wolffs und Mengers Lehre von den Rechtsgrundsätzen a) Einleitung
Die vorstehend i n diesem Kapitel abgehandelte Problematik, insbesondere die des Entschädigungsanspruchs, w i r d häufig unter dem Aspekt grundlegender Prinzipien untersucht, von denen man eine Klärung der schwierigen Fragen dieses Rechtsgebietes erwartet. Prinzipien, die als Grundlage des Entschädigungsanspruchs häufig genannt werden, sind vor allem das „Aufopferungsprinzip i m Zivilrecht" und der Grundsatz von Treu und Glauben. Auch das „nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis" w i r d seit der zweiten Gutehoffnungshütte-Entscheidung des Reichs-
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gerichts als Grundlage des Anspruchs bezeichnet, wenn auch der Ausdruck „Prinzip" insoweit nicht paßt. Das Aufopferungsprinzip w i r d materiell verstanden und ist nicht mit dem Aufopferungsschema vom an sich gegebenen, aber aus besonderem Grunde versagten Abwehranspruch zu verwechseln, von dem aus unsere Untersuchung ihren Ausgang nahm 2 9 . I m folgenden soll die Bedeutung dieser Prinzipien noch eingehender untersucht werden, wobei w i r die Lehre von Hans J. Wolff und Chr.-Fr. Menger von den Rechtsgrundsätzen als Rechtsquellen zugrundelegen wollen 3 0 . Vor allem diese Lehre ermöglicht mit ihren Differenzierungen ein genauere Analyse der Bedeutung dieser Prinzipien. b) Überblick über die Lehre Hans J. Wolffs und Mengers
Nach dieser Lehre gründen die Rechtsquellen als Quellen positiven Rechts auf zwei Prinzipien: auf einer irgendwie gearteten sozialen Macht und auf gewissen materialen Grundgehalten, die allererst ihren Rechtscharakter sichern 81 . Diese materialen Grundgehalte kommen i n Fundamentalnormen zum Ausdruck, die als Ableitung aus der Idee der Gerechtigkeit selbst erscheinen. A u f diese Fundamentalnormen greift der Rechtsanwender bei der Auslegung geschriebenen Rechts und bei der Lückenfüllung zurück, sie liegen aber auch — mittelbar — dem geschriebenen Recht selbst zugrunde 32 . Sie werden Rechtsgrundsätze genannt 3 3 . Die Rechtsgrundsätze lassen sich aus dem Prinzip der Gerechtigkeit nun nur ableiten, indem dieses auf Interessenkonflikte allgemeiner A r t bezogen w i r d 3 4 . Wolff und Menger unterscheiden zwei Arten dieser Beziehung und damit von Rechtsgrundsätzen: Allgemeine Rechtsgrundsätze sind Ableitungen aus dem Gerechtigkeitsprinzip hinsichtlich solcher allgemeiner Interessenlagen, die lediglich durch die Existenz einer Vielheit von Menschen bedingt sind. Dazu gehört der Grundsatz der Würde der Menschen, der persönlichen Gleichheit der Menschen, der Grundsatz von Treu und Glauben i m Rechtsverkehr 35 . Besondere Rechts29 Dieses materielle Aufopferungsprinzip v e r t r i t t f ü r das Zivilrecht vor allem Hubmann, J Z 1958, 191, 492; zustimmend Pley er, JZ 1959, 305. 30 Hans J. Wolff, Rechtsgrundsätze u n d verfassungsgestaltende Grundentscheidungen, Gedächtnisschrift f ü r W. Jellinek, S. 33 ff.; Wolff / Bachof, V e r waltungsrecht I, § 25 I ; Menger, System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, § 21, S. 70 ff.; Die allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsrechts als Rechtsquellen, Sozialenquête u n d Sozialrecht, Festschrift für Walter Bogs, S. 89 ff.; Z u m Stand der Meinungen über die Unterscheidung von öffentlichem u n d privatem Recht, Festschrift f ü r Hans J. Wolff, S. 149 ff., 159 f. 31 Wolff, Gedächtnisschrift f ü r W. Jellinek, S. 35. 32 Wolff, Gedächtnisschrift für W. Jellinek, S. 36; Menger, Festschrift f ü r Bogs, S. 93. 33 Wolff, Gedächtnisschrift für W. Jellinek, S. 37. 34 Wolff, Gedächtnisschrift für W. Jellinek, S. 39; Wolff / Bachof, V e r w a l tungsrecht I, § 25 I a; Menger, Festschrift für W. Bogs, S. 93. 35 Wolff, Gedächtnisschrift für W. Jellinek, S. 39, 40; Menger, Festschrift f ü r W. Bogs, S. 94.
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grundsätze sind demgegenüber Ableitungen aus dem Rechtsprinzip i m Hinblick auf andere allgemeine Interessenlagen, die — über die Vielfalt von Menschen hinaus — schon bestimmte, raumzeitlich bedingte soziale Lebensverhältnisse und Lebensordnungen als „Tatsachen und Umstände" voraussetzen 36 . Hierher rechnen Wolff und Menger zum Beispiel die Grundzüge der positiven Rechtsordnungen selbst, also ζ. B. das Verbot der Entscheidung i n eigener Sache, das Gebot des rechtlichen Gehörs usw. Bedeutsam für unseren Zusammenhang ist nun, daß die Rechtsgrundsätze selbst nur als Rechtsquellen aufgefaßt werden, aus denen noch erst ein anwendbarer Rechtssatz gewonnen werden muß. Die Rechtsgrundsätze sind — für sich genommen — der Anwendung noch nicht fähig. Die Ableitung von inhaltsgewissen Rechtssätzen aus Rechtsgrundsätzen geschieht durch Konkretisierung i m Hinblick auf einen besonderen typischen Sachverhalt, den Wolff und Menger von der allgemeinen typischen Interessenlage unterscheiden, anhand deren der Rechtsgrundsatz selbst aus dem Gerechtigkeitsprinzip abgeleitet wird. Man kann also die Gleichung aufstellen: Rechtsgrundsatz + besonderer typischer Sachverhalt = Rechtssatz 37 . Aus der Idee der Gerechtigkeit werden auf diese Weise aber nicht zu allen Zeiten und i n allen Rechtsordnungen, die sich als materielle Rechtsordnungen verstehen, dieselben Rechtssätze abgeleitet. Der besondere typische Sachverhalt ist eine variable Größe, so daß die Konkretisierung desselben Rechtsgrundsatzes zu verschiedenen Zeiten auch zu verschiedenen, vielleicht sogar einander widersprechenden Rechtssätzen führen kann 3 8 . Aber nicht nur die Situation ist variabel. Bei größerer K o m plexheit der betroffenen Interessen, insbesondere wenn mehrere Lösungsmöglichkeiten denkbar sind, werden die Rechtsgrundsätze durch den Gesetzgeber selbst aufgrund einer Bewertung der Interessen durch schöpferische Gestaltung spezialisiert 39 . Diese Aufgabe „schöpferischer Gestaltung" kann an den Richter fallen, wenn der Gesetzgeber schweigt 40 . 36 Wolff, Gedächtnisschrift für W. Bogs, S. 94. 37 Wolff , Gedächtnisschrift für Bogs, S. 98; Festschrift f ü r Hans J. 38 Wolff , Gedächtnisschrift für Bogs, S. 98. 39 Wolff , Gedächtnisschrift f ü r Bogs, S. 98 ff. 40 Wolff, Gedächtnisschrift f ü r Bogs, S. 99.
W. Jellinek, S. 40; Menger,
Festschrift für
W. Jellinek, S. 44; Menger, Festschrift für Wolff, S. 159. W. Jellinek, S. 44; M enger, Festschrift für W. Jellinek, S. 45; Menger,
Festschrift für
W. Jellinek, S. 46; Menger,
Festschrift für
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1. Kap.: Privates u n d öffentl. Nachbarrecht i m Bereich des BImSchG c) Die Bedeutung der Prinzipien
M i t dem Zusammenhang von Gerechtigkeit, besonderem typischen Sachverhalt und Rechtssatz definieren Wolff und Menger die Struktur, die w i r i m Rahmen dieser Arbeit als das Verhältnis von K o n f l i k t und Konfliktsentscheidung zugrundelegen. W i r haben das Schwergewicht der Untersuchung dabei i n das Verhältnis der Interessen und ihrer rechtlichen Bewertung gelegt, die Zuordnung von typischem Sachverhalt und Rechtssatz bei Wolff und Menger ist bestimmt durch die Wahl der Idee der Gerechtigkeit als leitenden Gesichtspunkt des „Systems". Vor allem diese Anknüpfung an die Gerechtigkeit ist grundlegend für die Möglichkeit der Einordnung von Prinzipien, deren wesentliche Bedeutung nur i n ihrem Gehalt an Gerechtigkeit liegen kann. Läßt sich i m Sinne dieser Lehre ein Aufopferungsprinzip i m Z i v i l recht als Rechtsgrundsatz feststellen? Ein solches Aufopferungsprinzip m i t materiellem Gehalt ist vor allem von Hubmann vertreten worden. Hubmann sieht den eigentlichen Grund für die Entschädigungspflicht (in den Fällen des zivilrechtlichen Aufopferungsanspruchs) nicht i n der exzeptionellen Versagung des Abwehranspruchs, sondern i n dem Gedanken der Vorteilsausgleichung. Wer sein Interesse durch Aufopferung eines fremden verfolge und verfolgen dürfe und dadurch einen Sondervorteil erlange, weil sein Interesse an sich durch das entgegenstehende gehemmt war, solle dem Geschädigten Ersatz für das i h m entstehende Sonderopfer leisten 41 . Wolff und Menger bezeichnen ausdrücklich nur das öffentlich-rechtliche Aufopferungsprinzip der Zulässigkeit des obrigkeitlichen Eingriffs i n die Rechte des Staatsbürgers gegen Entschädigung bei dringendem Erfordernis des allgemeinen Wohls als Rechtsgrundsatz 42 . Vom öffentlich-rechtlichen Aufopferungsanspruch, dessen Rechtsgrundlage dieser Rechtsgrundsatz ist, unterscheidet Wolff den besonderen zivilrechtlichen Aufopferungsanspruch, den er als nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch bezeichnet 43 . Damit kann Rechtsgrundlage dieses Anspruchs nicht mehr das öffentlich-rechtliche Prinzip sein; es bleibt aber offen, ob nicht ein privatrechtlicher Rechtsgrundsatz der Aufopferung anzunehmen ist. Ich möchte diese Frage verneinen. Dieser Rechtsgrundsatz könnte angesichts der geringen Anwendungsbreite i m Privatrecht nur ein besonde41
Hubmann, J Z 1958, 491, 492; zustimmend Pley er, J Z 1959, 307. Nach Wolff, Gedächtnisschrift für W. Jellinek, S. 42, u n d Menger, Festschrift für W. Bogs, S. 94, handelt es sich dabei u m einen besonderen Rechtsgrundsatz, wobei Menger die Frage offenläßt, ob die Entschädigungspflicht einen eigenen besonderen Rechtsgrundsatz darstellt. I m Verwaltungsrecht I, § 61 I a sieht W o l f f als Rechtsgrundlage des Aufopferungsanspruchs einen allgemeinen Rechtsgrundsatz an. 48 Wolff / Bachof, Verwaltungsrecht § 611 c. 42
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rer Rechtsgrundsatz i m Sinne Wolffs und Mengers sein, d. h. er müßte bereits raum-zeitlich bedingte soziale Lebensverhältnisse als „Tatsachen und Umstände" i n sich aufnehmen. Daran fehlt es. Das zivilrechtliche Aufopferungsprinzip i n dem Sinne, wie Hubmann es formuliert hat 4 4 , bringt zwar einen wirtschaftlichen Äquivalenzgedanken zum Ausdruck, nimmt aber noch nicht so viel von den zu regelnden Lebensverhältnissen i n sich auf, um einen abgrenzbaren „Grundsatz" darzustellen. Immerhin ist bei dieser Suche nach einem Grundsatz zu beachten, daß er schon eine gewisse Station auf dem Wege von der Idee der Gerechtigkeit bis zum anwendbaren Rechtssatz darstellen muß. Er muß als die Quelle der daraus abgeleiteten Rechtssätze verständlich sein. Das „zivilrechtliche Aufopferungsprinzip" scheint uns dazu zu unkonturiert 4 5 . Als weiterer Rechtsgrundsatz für die Entschädigungsregelung, wie die reichsgerichtliche Entscheidung vom 10. 3. 1937 (zweite Gutehoffnungshütten-Entscheidung) und i m Anschluß daran w i r sie erarbeitet haben, kommt der Grundsatz von Treu und Glauben i n Betracht, wie er i n § 242 BGB seinen gesetzlichen Ausdruck gefunden hat. Während das RG seine Entscheidung systematisch noch allein m i t dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis begründet, w i r d dieses i n der Rechtsprechung seit der Entscheidung des RG vom 21. 4. 194146 i n der Regel i n Verbindung m i t dem Grundsatz von Treu und Glauben genannt. Die vom RG i n dieser Entscheidung entwickelte Formel heißt, daß es sich bei dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis i m Grunde nur um die Anwendung der Regeln von Treu und Glauben auf den Tatbestand des nachbarlichen Zusammenlebens handele 47 . Diese Verbindung von Treu und Glauben und nachbarlichem Gemeinschaftsverhältnis gibt Veranlassung, beide Begriffe i n ihrem Zusammenhang zu untersuchen. Hier ermöglicht die Lehre von Wolff und Menger Differenzierungen, die uns erst die Grundlage für eine weitere Klärung auch der Lehre vom nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis zu sein scheinen. 44
J Z 1958, 492. I m Ergebnis ebenso Konzen, S. 164, 238 - 239, der durch einen allgemeinen bürgerlichrechtlichen Aufopferungsanspruch die Grundsätze der zivilrechtiichen Haftungssystematik (Schutz absoluter Rechte, System der gesetzlichen Rechtfertigungsgründe, Grundsatz der Verschuldenshaftung) durchbrochen sieht. Einen vermittelnden Standpunkt v e r t r i t t Deutsch, der f ü r die z i v i l rechtliche Aufopferungshaftung weder die Geltung einer Generalklausel noch das Enumerationsprinzip annimmt, sondern von aus sich heraus erweiterungsfähigen Gattungstatbeständen ausgeht, Haftungsrecht, S. 392, 393. Auch Deutsch spricht i n diesem Zusammenhang von der völligen Unabgegrenztheit der Generalklausel, zu der sich nach Hubmann, J Z 1958, 492, das Aufopferungsprinzip verdichtet. 45
46
RGZ 167,14. RGZ 167, 24. Diese Formulierung w i r d auch von B G H i n seinem U r t e i l v o m 9. 7. 1958, B G H Z 28, 110, 114 u n d von Mühl, N J W 1956, 1657, 1660; N J W 1960,1133 u n d Festschrift f ü r Raiser, S. 170,182, verwendet. 47
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Die Lehre von den Rechtsgrundsätzen bezeichnet den Grundsatz von Treu und Glauben i m Rechtsverkehr als allgemeinen Rechtsgrundsatz. § 242 BGB ist nur die gesetzliche Fassung dieses Rechtsgrundsatzes, noch nicht seine Konkretisierung zu einem Rechtssatz. Wolff spricht von Rechtsgrundsätzen i n Rechtssatzform 48 . Der Rechtssatz w i r d bei diesem Rechtsgrundsatz mit Generalklauselcharakter vor allem i m Wege der richterlichen Rechtsfindung abgeleitet 49 . Insbesondere i n diesem Zusammenhang hat Wolff seine Formel „Rechtsgrundsatz + besonderer typischer Sachverhalt = Rechtssatz" entwickelt. Bei Heranziehung dieser Unterscheidung liegt nun auf der Hand, daß das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis nur der besondere typische Sachverhalt sein kann, i m Hinblick auf den der Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben zu einem Rechtssatz konkretisiert wird. Der anwendbare Rechtssatz liegt dann erst i n dem Ausspruch der Entschädigungsfolge selbst. Das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis ist also weder Rechtsgrundsatz noch Rechtssatz, sondern eine Gestaltung der Interessenebene. Von unserem Ansatz her formuliert bezeichnet es den Konflikt, über den die rechtliche Entscheidung erst befindet. Genauer sollte man sagen, es bezeichnet das Lebensverhältnis, i m Rahmen dessen einzelne Konflikte auftreten, über die dann erst (im Wolff / Mengerschen Sinne durch Findung des Rechtssatzes) entschieden werden muß. Die Frage ist allerdings, ob für die vorliegende Fallgestaltung der Grundsatz von Treu und Glauben tatsächlich einen relevanten Rechtsgrundsatz darstellt. W i r halten das aus folgendem Grunde für zweifelhaft: I m Falle der Entscheidung des RG vom 10. 3. 1937 (zweite Gutehoffnungshütten-Entscheidung) wurde ein richterlicher Rechtssatz von Grund auf durch Richterspruch entwickelt. Der Begründungszusammenhang ist i n sich geschlossen und erscheint nicht als notwendige Ableitung aus einem vorausgesetzten Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben. Dieser scheint uns vielmehr schon rechtliche Beziehungen vorauszusetzen, die er dann partiell inhaltlich ausgestaltet 50 . I n der Formulierung des Grundsatzes bei Wolff kommt das darin zum Ausdruck, daß Treu und Glauben „ i m Rechtsverkehr" als Rechtsgrundsatz bezeichnet werden. Eine noch engere Beschränkung auf das Schuldverhältnis weist der Rechtsgrundsatz bekanntlich i n seiner rechtssatzmäßigen Form i n § 242 BGB auf. Von dem anderen Standpunkt aus müßte jeder Rechtssatz letztlich als eine Konkretisierung des Rechtsgrundsatzes von Treu und Glauben erscheinen. Das führt dazu, Richterrecht i n diesen Fällen einer völli48
Wolff , Gedächtnisschrift f ü r W. Jellinek, S. 44. Wolff, Gedächtnisschrift für W. Jellinek, S. 44. 50 Das b r i n g t Westermann, J Z 1963, 408, zum Ausdruck, w e n n er formuliert, § 242 B G B w i r k e nicht „beziehungsbegründend", sondern bestimme n u r den I n h a l t einer bestehenden Beziehung. 49
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gen Neubegründung einer Rechtsfolge nicht auf Treu und Glauben, sondern auf die Idee der Gerechtigkeit selbst zurückzuführen. Wolff selbst hat die „Leistungsfähigkeit" der Rechtsgrundsätze für komplexe Sachverhalte zurückhaltend beurteilt. Für den Fall, daß die auf dem Spiel stehenden Interessen vielgestaltig und ineinander verwoben, die Umstände zahlreich und die Auswirkungen der zu treffenden Regelungen weitläufig sind, legt er den Akzent weniger auf die Leitfunktion des Rechtsgrundsatzes, sondern mehr auf die schöpferisch gestaltende Funktion des Rechtssetzers selbst. Man w i r d kaum abstreiten, daß w i r es hier m i t einem solchen komplexen Sachverhalt zu t u n haben. Insbesondere aus diesem Grunde haben w i r unsere Untersuchung auch nicht von allgemeinen Prinzipien aus entwickelt, sondern vorrangig i n „Tuchfühlung" m i t den Interessen und ihrer Bewertung i n der konkreten Fallgestaltung selbst. Diese Analyse grundlegender Prinzipien w i r d i n überraschender Weise bestätigt durch die Diktion des RG selbst i m zweiten Gutehoffnungshütten-Urteil. Als Ausgangspunkt wählt das Urteil zwar die klassische Aufopferungskonzeption vom an sich gegebenen, aber hier versagten Abwehranspruch, i n seinem K e r n schiebt es aber diesen Ansatz beiseite 51 . Es greift auf das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis zurück und bezeichnet dieses als Lebensverhältnis, für das das richtige Recht zu finden sei 52 . Für eine systematische Analyse des Urteils ist diese Aussage zentral: Das RG sieht hier seine eigene Rechtsfindung als gestaltendes Richterrecht. Das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis w i r d noch nicht als Rechtsverhältnis bezeichnet, sondern als Lebensverhältnis, für das das „richtige Recht" erst noch zu finden sei. Als leitend für die Rechtsfindung w i r d die „Richtigkeit" des Rechts bezeichnet, w o r i n nur ein Bezug auf die Idee der Gerechtigkeit selbst gesehen werden kann. I n dieser zentralen Aussage w i r d also weder ein materielles Aufopferungsprinzip noch der Grundsatz von Treu und Glauben als Rechtsgrundlage herangezogen, sondern nur der Gedanke der Richtigkeit von Recht, das i n Anschauung eines Lebensverhältnisses „gefunden" wird. A u f der erarbeiteten Grundlage soll noch auf die wichtigsten k r i t i schen Stimmen zur Lehre von nachbarlichem Gemeinschaftsverhältnis eingegangen werden. Die K r i t i k beruht häufig darauf, daß die vorstehend entwickelte Bedeutung des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses für den Rechtsgewinnungsprozeß nicht scharf genug erkannt wird. Die Frage braucht hier nicht weiter vertieft zu werden, ob man — i n den Fällen der Ausfüllung einer gesetzlichen Lücke durch Richter51 Z u diesem Ansatz v o n der klassischen Aufopferungskonzeption her vgl. noch die folgenden Ausführungen. 52 RGZ 154,166.
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recht — die Gerechtigkeit selbst oder den Grundsatz von Treu und Glauben als rechtlichen Anknüpfungspunkt wählt, entscheidend ist, daß die Konfliktsentscheidung, d. h. i m Sinne von Wolff und Menger die Gewinnung des Rechtssatzes, und das Lebensverhältnis, über das entschieden wird, voneinander unterschieden werden. Die Unklarheiten i n der Lehre vom nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis beruhen vor allem auf der Vermengung dieser beiden „Strukturteile" des Rechtsgewinnungsprozesses. Bereits die von der Rechtsprechung entwickelte Formel, daß es sich bei dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis um die Anwendung der Regeln von Treu und Glauben auf den Tatbestand des nachbarlichen Zusammenlebens handele 53 , gibt i n dieser Richtung zu Bedenken A n laß. Das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis erscheint nämlich seinerseits bereits als Ergebnis einer Konkretisierung des Grundsatzes von Treu und Glauben. Das kann doch nur bedeuten, daß es die Rechtssätze, die aufgrund dieser Konkretisierung erst gewonnen werden sollen, i n irgendeiner Form bereits i n sich enthält. Gerade das ist aber, wie sich aufgrund der Wolff / Mengerschen Formel deutlich machen läßt, nicht der Fall. Nach dieser Formel umformuliert müßte der Satz der Rechtsprechung also lauten: Die Anwendung des Rechtsgrundsatzes von Treu und Glauben auf den typischen Sachverhalt des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses führt zu anwendbaren Rechtssätzen, wie ζ. B. zur Entschädigungspflicht, wie sie das RG i n seiner Entscheidung vom 10. 3. 1937 (zweite Gutehoffnungshütten-Entscheidung) entwickelt hat. Die Unklarheit der Formel der Rechtsprechung zeigt sich schon darin, daß i n ihr das Nachbarverhältnis zweimal vorkommt, einmal als Tatbestand des nachbarlichen Zusammenlebens, und dann als nachbarliches Gemeinschaftsverhältnis, ohne daß klar wird, wie sich diese beiden „ E r scheinungsweisen" des Nachbarverhältnisses nun zueinander verhalten 5 4 . Pleyer stellt die Frage, welchem Element des § 1004 BGB denn das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis zugeordnet werden müsse 55 . Das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis des Jahres 1937 gehöre eindeutig i n den Bereich der Frage, ob die Störung rechtswidrig sei. Wenn man jedoch die spätere Entwicklung überblicke, stelle man fest, daß das 58
RG, 21. 4.1941, RGZ 167,14; BGH, 9. 7. 1958, B G H Z 28,110,114. I m praktischen Ergebnis hatte sich der B G H i n mehreren Entscheidungen, 9. 7. 1958, B G H Z 28, 110; 8. 10. 1958, B G H Z 28, 225; 15. 4. 1959, B G H Z 30, 273 (Ausgleichsanspruch i m Sinne von RGZ 154, 161) f ü r sonst k a u m begründbare Ansprüche bzw. Duldungspflichten auf das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis berufen, schließlich aber — „ i m allgemeinen" — seine Bedeutung als selbständige Anspruchsgrundlage verneint, U r t e i l v o m 25. 11. 1964, B G H Z 42, 374, 377. BGH, 28. 9. 1962, B G H Z 38, 61, 64 w i l l jedenfalls für den Bereich des § 906 B G B nicht mehr auf das nachbarliche Gemeinschaf tsverhältnis zurückgreifen. Vgl. dazu die A n m e r k u n g von Westermann, J Z 1963, 407 ff. 55 J Z 1959, 305. 54
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nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis nun die Funktion habe, letzten Endes sämtliche Merkmale des § 1004 BGB zu erweitern oder einzuschränken, d. h. es gestattet praktisch eine eigene vom Dritten Buch des BGB weitgehend unabhängige Lösung nachbarrechtlicher Probleme. Damit sei die Leistungsfähigkeit des Begriffs erheblich überfordert 5 6 . I n der Entscheidung des RG vom 10. 3. 1937 habe das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis dazu gedient, die Rechtswidrigkeit des Verhaltens zu präzisieren. Dafür sei der Begriff entbehrlich gewesen, da manches für die von Klausing 5 7 intendierte Lösung spreche, daß es sich hier u m Schadensersatz für rechtmäßiges Verhalten handele. Die Schadloshaltung ergebe sich aus dem übergeordneten Gesichtspunkt des privatrechtlichen Aufopferungsanspruchs, der entgegen der Ansicht des RG nicht nur dann gegeben sei, wenn an sich gegebene Rechte aus § 1004 BGB durch ein Sondergesetz ausgeschlossen würden 5 8 . Die Frage des Verhältnisses von § 1004 BGB zum nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis ist auch nach unserer Auffassung ein bedeutsames methodisches Problem. Nur beantworten w i r die Frage anders als Pleyer. Das RG brauchte das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis nicht, um einerseits die Duldungspflicht aus § 906 BGB restriktiv auszulegen, andererseits sie wieder nach § 26 GewO zu erweitern. M i t diesem Schema übernimmt das RG nur die formale Aufopferungskonzeption, die es auch weiterhin nicht aufgibt. Gegen sie wendet sich auch Pleyer. Nach unserer Deutung lag der Sinn des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses für das RG vielmehr darin, unabhängig von diesem formalen Schema eine selbständige Grundlage für die Gewährung eines Ausgleichsanspruchs zu gewinnen, eben auf das Lebensverhältnis zurückzugreifen, dessen Interessenwiderstreit durch diesen Richterspruch zu lösen war. Ob statt des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses der Rückgriff auf ein materielles Aufopferungsprinzip zur Begründung des Anspruchs ausgereicht hätte, wie Pleyer meint, scheint uns doch zweifelhaft. W i r haben bereits ausgeführt, daß w i r ein „zivilrechtliches Aufopferungsprinzip" nicht für genügend konturiert halten, um als Rechtsgrundsatz dienen zu können. Aber selbst wenn man das annehmen wollte, wäre doch — i m Sinne der Wolff / Mengerschen Lehre — ein typischer Sachverhalt erforderlich, um aus i h m einen Rechtssatz entwickeln zu können. Und hier wäre das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis wieder unentbehrlich. Die vielfältige Verwendbarkeit des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses, die Pleyer — kritisch — herausstellt, beruht auf dieser hier 56
Pleyer, J Z 1959, 306. J W 1937, 68. 58 Pleyer, J Z 1959, 307, der sich i m Hinblick auf den materiellen Aufopferungsanspruch auf Hubmann, J Z 1958, 489, bezieht. 57
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herausgearbeiteten methodischen Bedeutung dieses Verhältnisses als Bezugspunkt für die Rechtsschöpfung. Diese methodische Bedeutung führt durchaus nicht zur „Auflösung allen Nachbarrechts", wenn man ihren Stellenwert nach den allgemeinen Regeln der Rechtsanwendung bestimmt. Der Rückgriff auf das Lebensverhältnis vermag geschriebenes Recht nicht zu verdrängen, das nämlich über die Konflikte dieses Lebensverhältnisses schon die Entscheidung getroffen hat. Die Anschauung des Lebensverhältnisses ist aber sicher auch für die Auslegung geschriebenen Rechts hilfreich. Entscheidende Bedeutung gewinnt die Anschauimg des Lebensverhältnisses für die Ausfüllung einer Lücke geschriebenen Rechts, aber hier auch nicht i n dem Sinne, daß das Lebensverhältnis die Rechtssätze schon i n sich enthält, die der Richter gewissermaßen nur zu erkennen hat. Vielmehr liegt die Verantwortung der Entscheidung hier beim Richter selbst, er schafft erst das Recht, das er sonst nur anwendet 5 9 . Auch Raisers K r i t i k am Begriff des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses geht an der vorstehend herausgearbeiteten Bedeutung vorbei. Nach Auffassung Raisers soll die angebliche Gemeinschaft der Nachbarn nichts anderes sein als die auf die konkrete Situation von Grundstückseigentümern projizierte, i m übrigen aber alle Rechtsgenossen verbindende Rechtsgemeinschaft 60 . Raiser zerspaltet den vorliegenden Zusammenhang i n eine normative Seite, die offenbar ganz aus eigener K r a f t die Pflichten hervorbringt, und i n eine „konkrete Situation der Grundstückseigentümer", die der „alle Rechtsgenossen verbindenden Rechtsgemeinschaft" unverbunden gegenübersteht. Die Bedeutimg der A n schauung des Lebensverhältnisses als Ansatzpunkt für die Rechtsgewinnung — insbesondere i m Lückenfalle — läßt sich auf der Grundlage dieses Ansatzes nicht deutlich machen. Auch B a u r 6 1 hat sich kritisch geäußert. Er spricht von der etwas „schwammigen Figur des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses". Auch dieser Einwand setzt bereits voraus, daß es sich bei dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis um ein durch Rechtssätze ausgestaltetes Institut handelt, was nach unserer Auffassung gerade nicht der Fall ist. Westermann sieht das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis nicht nur als dogmatische Grundlage für die gesetzliche Regelung, die — speziell für § 906 I I 2 BGB — weiterhin für deren Auslegung von Bedeutung ist, sondern auch als Grundlage für die Entscheidung i m Gesetz nicht 69 Zutreffend stellt daher Mühl, Festschrift f ü r Raiser, S. 159, die Problemat i k des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses i n den größeren Zusammenhang des Richterrechts. 60
Wolff
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Sachenrecht, § 25 I V 2 e ee, S. 230,
/ Raiser, Sachenrecht, § 53 A n m . 1, S. 88.
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geregelter Fälle von Kollisionen i m nachbarlichen Raum 6 2 . Damit ist genau die Funktion des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses für die Rechtsgewinnung getroffen, die w i r vorstehend herausgearbeitet haben. Angesichts der Lehre von den Rechtsgrundsätzen kann man die Frage aufwerfen, wie denn die klassische Aufopferungskonzeption des an sich gegebenen, aber aus besonderem Grunde versagten Abwehranspruchs selbst unter dem Aspekt der Rechtsgrundsätze zu beurteilen ist. K o m m t i n dieser Konzeption nicht das Aufopferungsprinzip überhaupt zum Ausdruck, welches damit auch als Rechtsgrundsatz Geltung beanspruchen kann? Wenn das nicht der Fall ist, worauf beruht dann unser Recht, die Untersuchung dieses „Schemas" derart i n den Mittelpunkt zu stellen? Bezogen auf das Rechtsgewinnungssystem, wie es Wolff und Menger entwickelt haben, und auch bezogen auf unser „Konfliktentscheidungssystem" bezeichnet die klassische Aufopferungskonzeption des an sich gegebenen, aber versagten Abwehranspruchs eine Wertung des Gesetzes bzw. des Rechtsanwenders bei Auslegung des Gesetzes. Diese Wertung liegt darin, daß — i m Falle des § 14 BImSchG — eine zivilrechtliche Schädlichkeitsgrenze grundsätzlich als auch für genehmigungspflichtige Anlagen verbindlich angesehen wird. Ihre Außerkraftsetzung bedarf eines besonderen Grundes und ist auch dann nur gegen Entschädigung möglich, d. h. die Maßgeblichkeit der Grenze bleibt i n dieser Beziehung anerkannt. Diese Wertung w i r d i n die Formel vom an sich gegebenen Anspruch und seiner Versagung gebracht. „Eingegossen" i n diese Form von Anspruch und Versagung erlangt die Wertung den Charakter des Selbstverständlichen, das nicht weiter geprüft zu werden braucht. W i r haben dagegen die Wertung wieder aufgedeckt und nach ihrer Berechtigung gefragt. Dabei sind w i r zu dem Ergebnis gekommen, daß eine Verbindlichkeit dieser Grenze i n dem Raumentwicklungskonflikt der Nachbarn nicht gegeben ist, d. h. daß diese Bewertung vom Gesetzgeber gar nicht getroffen ist, bzw. wenn sie einmal getroffen war, heute nicht mehr maßgebend ist 6 3 . Unsere K r i t i k an der klassischen Aufopferungskonzeption bedeutet also nicht K r i t i k an der Formalität des Schemas, sondern K r i t i k an der durch dieses Schema i n eine Form gebrachten Wertung. W i r sind keineswegs der Auffassung, daß dieses Schema ein logischer Trugschluß wäre, nur vollziehen wie die i h m zugrundeliegende Wertung nicht. Damit ist vor allem der Einwand entkräftet, w i r setzten m i t unserer K r i t i k an einer Konzeption an, die ohnehin nur formale Bedeutung habe. Die kritische Haltung zur Formalität des Schemas steht wohl auch 62 63
Sachenrecht, § 63 I 2, S. 304, 305. Vgl. die Ausführungen oben unter I I I 3.
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m i t hinter den Bemühungen i n der Literatur, ein materielles Aufopferungsprinzip als Grundlage des bürgerlich-rechtlichen Aufopferungsanspruchs nachzuweisen 64 . Bereits i m Ansatz vertauscht man damit zwei Ebenen, die sorgfältig unterschieden werden sollten: Das angeblich formale Schema bringt eine materielle Wertung zum Ausdruck, es stellt i m Sinne der Lehre von den Rechtsgrundsätzen einen Rechtssatz dar. Das an seine Stelle gesetzte materielle Prinzip ist allenfalls ein Rechtsgrundsatz, wenn man es für genügend konturiert hält, was u. E. zu verneinen ist. Soweit man also ein materielles Aufopferungsprinzip als Rechtsgrundsatz annimmt, löst es nicht die klassische Aufopferungskonzeption als nur formales Schema ab, sondern diese hätte, wenn sich ihre Geltung nachweisen ließe, die Bedeutung eines aus diesem Prinzip gewonnenen Rechtssatzes i m Sinne der Analyse von Wolff und Menger. Das RG begründet i n seiner Entscheidung vom 10. 3. 193765 seine Lösung schließlich auch wieder m i t dem Schema vom an sich gegebenen, aber versagten Anspruch. U m die Entscheidung i n Übereinstimmung m i t der Aufopferungskonzeption zu halten, nimmt das RG nämlich an, daß aufgrund §§ 1004, 906 BGB nicht nur nicht-ortsübliche Immissionen abzuwehren seien, sondern auch zwar ortsübliche, aber existenzgefährdende. Der Rückgriff auf die formale Aufopferungskonzeption für diesen Anspruch läßt sich jedoch nicht mehr durch entsprechende Wertungen des Zivilrechts rechtfertigen, nach denen grundsätzlich ein Abwehrrecht dieses Inhalts gegeben ist, denn tatsächlich kennen weder Gesetz noch Rechtsprechung sonst dieses Abwehrrecht gegen zwar ortsübliche, aber existenzgefährdende Immissionen. Das Schema vom an sich gegebenen, aber aus besonderen Gründen versagten Anspruch w i r d hier i n der Tat zur leeren Hülse. Die reichsgerichtliche Entscheidung findet nach unserer Auffassung ihre Grundlage nicht i n einer neuen Interpretation des § 906 BGB m i t der Folge eines neuen Abwehranspruchs, der dann versagt wird, sondern i n einer Wertung des Lebensverhältnisses selbst, für das das richtige Recht, und zwar sofort i n Gestalt eines Entschädigungsanspruchs, gefunden wird.
V. Ausschluß der öffentlich-rechtlichen Abwehrrechte bei Unanfechtbarkeit der Genehmigung nach BImSchG und Schadensersatzanspruch aus § 14 Satz 2 BImSchG Der Nachbar verliert seine öffentlich-rechtlichen Nachbarrechte gegen die Anlagengenehmigung, sofern solche bestanden, spätestens m i t der Unanfechtbarkeit der Genehmigung. M i t diesem Zeitpunkt entfallen diese Rechte, wenn sie vorher geltend gemacht und abgewiesen worden 64 65
Vgl. dazu v o r allem Hubmann, RGZ 154,161.
JZ 1958, 489 u n d Pleyer, J Z 1959, 307.
V. ö . - r . Abwehrrechte u. Schadensersatzanspruch aus § 14 S. 2 BImSchG 87
sind. Nicht geltend gemachte Einwendungen entfallen nach § 10 I I I BImSchG bereits m i t Ablauf der Einwendungsfrist 1 . Als Nachbarrechte kommen hier einmal die Rechte wegen Überschreitung der Schädlichkeitsgrenze nach BImSchG i n Betracht, da §§ 4 ff. BImSchG voll als nachbarschützend angesehen werden 2 , sodann aber auch die öffentlichen Nachbarrechte des Baurechts, also zum Beispiel der Abwehranspruch bei Verletzung des Austauschverhältnisses aufgrund der sog. Planverbundenheit, vor allem aber das — aus A r t . 14 GG abgeleitete — Auffangrecht der Rechtsprechung des BVerwG, das immer vorliegt, wenn der Nachbar i n seiner vorgegebenen Grundstückssituation schwer und unerträglich getroffen w i r d 3 . Es erhebt sich die Frage, ob auch i n diesen Fällen der Anspruch aus § 14 Satz 2 BImSchG zu geben ist. Die A u f opferungskonzeption i m vorstehend abgehandelten Sinne, daß also ein an sich gegebener Abwehranspruch versagt wird, würde bei dieser Fallgestaltung v o l l zutreffen. I m einzelnen ergeben sich eine Reihe untereinander zusammenhängender Fragen: Handelt es sich hierbei nicht tatsächlich um einen Enteignungsanspruch, der also von dem Anspruch aus § 14 Satz 2 BImSchG unterschieden werden muß? Wie lassen sich gegebenenfalls unter die einheitlichen Voraussetzungen des § 14 Satz 2 Ansprüche sowohl für rechtmäßige wie für „an sich" rechtswidrige Beeinträchtigungen bringen? W i r d der Umfang des Anspruchs jedenfalls i n diesen Fällen durch den Umfang des „an sich" gegebenen, aber versagten Abwehrrechts präjudiziert? Ein Enteignungsanspruch würde die Qualifizierung der Nachbarrechtsverletzung als enteignenden Eingriff voraussetzen. Das erscheint i n den Fällen, i n denen der Nachbar i n der vorgegebenen Grundstückssituation schwer und unerträglich getroffen wird, möglich. Diese Rechtsprechung ist m i t A r t . 14 GG begründet worden 4 , sie verwendet eine sonst auch i m Enteignungsrecht benutzte Formulierung zur Charakterisierung der „Schwere" des Eingriffs 5 . Die anderen Nachbarrechtsverletzungen werden zwar nicht nach der Schwere des Eingriffs charakterisiert, jedoch 1
Hansmann, § 10 BImSchG Fußnote 40. Vgl. A n m . 17 auf S. 25. * Grundlegend BVerwG, 13. 6. 1969, E 32, 173 = N J W 69, 1787 = D Ö V 69, 753. Vgl. zu dem „System" des B V e r w G zum subjektiven öffentlichen Nachbarrecht Sendler, BauR 70, 4 ff. u n d 74 ff. Eine nähere Untersuchung der Voraussetzungen des subjektiven öffentlichen Nachbarrechts erfolgt i m 3. K a p i t e l unter I I I . 4 Vgl. BVerwG, 13. 6. 1969, E 32,173,178. 5 BVerwG, 21. 6. 1974, DVB1 1974, 777, stellt f ü r den F a l l eines subjektiven Nachbarrechts gegen eine öffentliche Einrichtung (Kinderspielplatz) diese Beziehung zur Enteignimg ausdrücklich her. Z u dieser Problematik i m einzelnen 2. Kapitel, I I . 2
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1. Kap.: Privates u n d öffentl. Nachbarrecht i m Bereich des BImSchG
könnte man hier von enteignendem Eingriff vielleicht schon i m Hinblick auf die Rechtswidrigkeit der Genehmigung sprechen. Da auf jeden Fall für einen rechtswidrigen Eingriff Entschädigung geleistet werden müßte, kommt als Begünstigter i m Sinne des Enteignungsrechts und damit als Anspruchsverpflichteter eines Entschädigungsanspruchs aufgrund Enteignung keine Person des privaten Rechts, sondern nur ein Hoheitssubjekt i n Betracht 6 . Die Anwendung dieses Grundsatzes führt i m vorliegenden Fall jedoch nicht zu befriedigenden Ergebnissen, da neben der Begünstigung des Hoheitssubjekts, die darin liegt, daß es seine Aufgabe (Überwachung von Anlagen) — wenn auch rechtswidrig — erfüllt 7 , die Begünstigung des Privaten sehr viel deutlicher hervortritt. Sofern für sie eine spezielle gesetzliche Regelung anwendbar erscheint, muß diese das Enteignungsrecht verdrängen. Es wäre dann auch nicht angebracht, die enteignungsrechtlichen Grundsätze dah i n zu modifizieren, daß auch i n diesem Fall Eingreifender und Begünstigter auseinanderfallen können. Als eine solche spezielle Regelung kommt nur § 14 Satz 2 BImSchG i n Betracht. Seine Anwendung geht dem Enteignungsrecht vor 8 und ist daher zunächst zu prüfen. Dem Sinne der Bestimmung nach ist § 14 Satz 2 BImSchG auch auf diesen Fall anwendbar. Selbst die überkommene Aufopferungskonzeption ließe sich auch auf diese Fallgestaltung anwenden. Bedenken ergeben sich nur aus dem Gesichtspunkt, daß § 14 Satz 2 BImSchG dann i n zwei durchaus unterschiedlichen Fallgruppen entschädigen würde. Korbmacher hat i m Hinblick auf die ähnlich gelagerte Frage i m Rahmen des § 42 BImSchG von einem ebenso erstaunlichen wie für das Entschädigungsrecht systemwidrigen Ergebnis gesprochen, das ein und dieselbe Entschädigungsregelung einen Entschädigungsanspruch sowohl für einen rechtmäßigen wie für einen rechtswidrigen Eingriff unterzubringen vermag 9 . Er hält dieses Ergebnis aber für vertretbar 1 0 . Bei genauerer Hinsicht erscheint uns eine Unterscheidung der beiden Fallgruppen i m Rahmen der Entschädigungsfrage nicht gerechtfertigt, der Sinn der Entschädigungsregelung t r i f f t vielmehr auf beide i n gleicher Weise zu. 6 So die Rechtsprechung BGH, 28. 9.1953, B G H Z 11, 248; 1. 6. 1954, B G H Z 13, 371; 28. 1. 1957, B G H Z 23, 157, 169; 28. 10. 1957, B G H Z 26, 10, 15; 4. 7. 1963, B G H Z 40, 49, 52; Bender, Staatshaftungsrecht, Rdz. 132, S. 53; kritisch Janssen, N J W 1956,1821 u n d Schaçk, JuS 1965, 295 ff. 7 So Bender, Staatshaftungsrecht, Rdz. 132, S. 54. 8 So i m Ergebnis w o h l auch Breuer, S. 252, 253, der davon spricht, daß es zumindest leichter fällt, einen enteignungsrechtlichen Entschädigungsanspruch für entbehrlich zu halten, w e n n privatrechtliche Ausgleichsansprüche aus § 906 I I 2 B G B u n d § 14 BImSchG bestehen. 9 Korbmacher, D Ö V 1976, 1, 6. 10 Ebenso Hansmann, § 42 BImSchG Fußnote 137 u n d 138, auf den Korbmacher sich bezieht.
V. ö . - r . Abwehrrechte u. Schadensersatzanspruch aus § 14 S. 2 BImSchG 89
Das läßt sich wie folgt begründen: Der Ausschluß der subjektiven öffentlichen Nachbarrechte spätestens ab Unanfechtbarkeit der Genehmigung ist vor allem aufgrund der stark ausgestalteten Mitwirkungsrechte der Nachbarn i m Genehmigungsverfahren innerlich gerechtfertigt. Dem Verlust der Rechte korrespondiert die vorherige Möglichkeit, sie wahrzunehmen. Diese verfahrensmäßige Beteiligung des Nachbarn bezweckt vor allem die Abklärung der mit der Genehmigung erfolgenden Raumgestaltung vor Verwirklichung des Vorhabens. Die genehmigungspflichtigen Anlagen sind i n der Regel wegen des hohen Investitionsaufwandes auf diese Abklärung angewiesen. Der Ausschluß der subjektiven öffentlichen Nachbarrechte würde sonst aus dem Vertrauensgrundsatz abzuleiten sein, er müßte allerdings dann i m Einzelfall begründet werden. Das Gesetz verfügt i h n hier absolut, der hinter der Bestimmimg stehende Grund ist jedoch weiter der Vertrauensschutzgrundsatz, dessen Verabsolutierung durch die dem Nachbarn eingeräumten Mitwirkungsrechte gerechtfertigt ist. Angesichts dieser Interessenlage ist mit Verstreichen der Ausschlußfrist bzw. Unanfechtbarkeit der Genehmigung nicht einfach nur die Geltendmachung subjektiver öffentlicher Nachbarrechte ausgeschlossen, die man sich i n ihrer Substanz als fortbestehend denken könnte, vielmehr muß der Tatbestand selbst als materiellrechtliches Erlöschen der Rechte gewertet werden, wie es sonst etwa aufgrund Verwirkung eintritt. E i n Abstellen allein auf die Bestandskraft eines Verwaltungsaktes als Ausschlußgrund für subjektive öffentliche Anfechtungsrechte wäre bei dieser Fallgestaltung eine nur formale Betrachtung. Die Bestandskraft der Genehmigung würde ζ. B. für sich ja auch nicht genügen, u m das Ziel des Gesetzes zu erreichen, sie w i r k t nur kombiniert m i t dem Einwendungsausschluß aufgrund Fristversäumnis nach § 10 I I I BImSchG. Schon das weist darauf hin, daß die Bestandskraft hier nur ein M i t t e l zur Erreichung eines weitergehenden Zweckes ist, der nicht allein i m Rechtsfrieden, sondern i n der Sicherung der Anlage zu sehen ist. Wenn aber die subjektiven öffentlichen Nachbarrechte materiellrechtlich erlöschen, kann die m i t der Errichtung der Anlage vollzogene Raumgestaltung nicht mehr als „an sich rechtswidrig" angesehen werden. Sie ist genau so rechtmäßig w i e i n den Fällen, i n denen Nachbarrechte nicht bestanden. M i t der Errichtung der Anlage ist jetzt also ein neuer Tatbestand geschaffen, der seinerseits zu einem neuen Konflikt m i t den Nachbarn führt, nämlich zu dem Konflikt u m die Entschädigung wegen unzumutbarer Beeinträchtigung, da w i r auch insoweit § 14 Satz 2 BImSchG i m Sinne von § 906 I I 2 BGB auslegen. Dieser Konflikt läßt sich nicht als die Fortsetzung des Abwehrkonfliktes aufgrund subjektiver öffentlicher Nachbarrechte nunmehr nur m i t anderen M i t t e l n auffassen, weil man dabei die raumgestaltende W i r k u n g der vorhergehenden Konfliktslö-
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sung, die zur Zulässigkeit des Vorhabens geführt hat, übersehen müßte. Dieser Konflikt um die Zulässigkeit ist tatsächlich gelöst. Was hier noch erreicht werden kann, ist die Entschädigung für unzumutbare Beeinträchtigung des Nachbarn. Damit fehlt auch i n diesem Fall, i n dem das Aufopferungsschema vom an sich gegebenen, aber versagten Abwehranspruch auf der Hand zu liegen scheint, eine innere Verbindung von Abwehr- und Entschädigungsanspruch. Die Raumplanung und ihr Vollzug führen zu einem Schnitt zwischen beiden Ansprüchen, der ihnen jeweils unterschiedliche Zielrichtung gibt, auf jeden Fall die mechanische Kopplung verbietet. Die Abwehransprüche erhalten ihren Sinn aus ihrer Stelle i n dem Planungsprozeß selbst, der m i t der Durchführung des Baus beendet ist, der Entschädigungsanspruch geht von dem endgültigen Zustand aus und mildert nur Folgen. Sein Umfang muß auf der Grundlage des erreichten Zustandes selbständig bestimmt werden. Diese Bestimmung kann grundsätzlich nicht anders erfolgen, als wenn Nachbarrechte zuvor nicht bestanden haben, so daß von einer „systemwidrigen" Erfassung rechtswidriger und rechtmäßiger Beeinträchtigungen 11 schon aus diesem Grunde keine Rede sein kann. Dieses Ergebnis schließt natürlich nicht aus, daß der Hinweis auf zuvor bestehende subjektive öffentliche Nachbarrechte i n aller Regel i m Rahmen der Prüfung bedeutsam sein wird, ob und i n welchem Umfang eine Beeinträchtigung das zumutbare Maß überschreitet. Nur erfolgt diese Prüfung i m Rahmen der Untersuchung einer Anspruchsvoraussetzung des Schadensersatzanspruches zusammen mit anderen Kriterien, die Existenz von Abwehr rechten prä judiziert nicht automatisch Vorliegen und Umfang von Entschädigungsansprüchen. Dieses Ergebnis ist kaum anders vorstellbar, wenn man die beiden Fallgruppen einer rechtmäßigen und „an sich rechtswidrigen" Beeinträchtigung einmal i n wirtschaftlicher Hinsicht vergleicht. W i r sind davon ausgegangen, daß auch, wenn das Vorhaben unter der Schwelle des nachbarlichen Abwehrrechts bleibt, ein Entschädigungsanspruch wegen unzumutbarer Beeinträchtigung möglich ist. Dabei w i r d aber die „Daseinsberechtigung" des Störers dadurch mitberücksichtigt, daß ein gewisser Teil der Beeinträchtigung als zumutbar angesehen wird. Nun w i r d die Störungsschwelle überschritten, ohne daß die entstehenden Abwehrrechte durchgesetzt werden. Sollte jetzt die gesamte Störung unzumutbar sein mit der Folge, daß sie entschädigt werden müßte, als ob überhaupt kein Werk an dieser Stelle errichtet wäre, also ζ. B. auch keines, gegen das Nachbarrechte vielleicht nicht durchgegriffen hätten? Die Berufung auf seine „Daseinsberechtigung" m i t der Folge, daß ein bestimmtes Maß der Störung nicht zu entschädigen ist, kann auch i n diesem 11
So die Formulierung von Korbmacher,
D Ö V 1976, 6.
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Fall dem Betrieb nicht versagt sein. Die Entschädigungspflicht nimmt nur graduell zu, ihr Umfang ändert sich nicht gewissermaßen von dem Einsetzen subjektiver öffentlicher Nachbarrechte an schlagartig gewissermaßen von 5 0 % auf 100%, d . h . von der Entschädigung für unzumutbare Beeinträchtigung zu einer Entschädigung für jede Beeinträchtigung, weil wegen des vorliegenden Bestehens von Nachbarrechten nun gewissermaßen die ganze Anlage und damit auch jede von hier ausgehende Beeinträchtigung als unzumutbar angesehen werden müßte 1 2 . W i r formulieren das jetzt erreichte Ergebnis noch einmal i m Hinblick auf die Aufopferungskonzeption zu §§ 26 GewO/14 BImSchG: Die A u f gabe der Aufopferungskonzeption für das Verhältnis von privatrechtlichem Anspruch aus §§ 1004, 906, 907 BGB zur öffentlich-rechtlichen Genehmigung nach BImSchG führte zu einer Auslegung des Entschädigungsanspruchs des § 14 Satz 2 BImSchG dahin, daß — wie nach § 906 I I 2 BGB — ein Ausgleich für unzumutbare Beeinträchtigungen zu leisten ist. Auch das Verhältnis von subjektiven öffentlichen Nachbarrechten und öffentlich-rechtlicher Genehmigung, m i t deren Unanfechtbarkeit diese Nachbarrechte entfallen, führt nicht zu einer neuen Aufopferungskonzeption für den Entschädigungsanspruch. Der Anspruch aus § 14 Satz 2 BImSchG w i r d vielmehr auch für diesen Fall als Ausgleichsanspruch i m Sinne von § 906 I I 2 ausgelegt. Ein etwaiger Planungsfehler oder die Rechtswidrigkeit der Genehmigung wegen Verletzung des § 6 Ziffer 1 BImSchG als nachbarschützender Norm w i r d Einfluß auf die Prüfung haben, ob und i n welchem Ausmaß unzumutbare Beeinträchtigungen vorliegen, die Entschädigung kann jedoch nicht von vornherein auf Ersatz aller Einwirkungen der nicht verhinderten Anlage gehen.
V I . Zusammenfassung der Ergebnisse des 1. Kapitels (I) Der Verfasser stellt die Frage nach der Berechtigung des herkömmlichen Aufopferungssystems zu §§ 26 GewO/14 BImSchG. Er geht von dem Grundgedanken aus, daß ein modifiziertes System zu einer Lösung praktisch bedeutsamer Zweifelsfragen führen kann, die sich bisher bei Zugrundelegung des herkömmlichen Systems ergeben haben. Das herkömmliche System ist darin zu sehen, daß durch den Hoheitsakt der Genehmigung ein an sich gegebener Abwehranspruch aus §§ 1004, 906 BGB versagt w i r d und für diese Versagung ein Schadloshaltungsanspruch gewährt wird. 12 Das wäre aber w o h l die Folge der Anwendung von Enteignungsrecht, da dann die rechtswidrige Genehmigung selbst, u n d nicht die tatsächliche I m m i s sion als Eingriffstatbestand angesehen werden müßte. Vgl. zur Problematik des Verhältnisses von Enteignungsanspruch u n d nachbarlichem Ausgleichsanspruch ausführlicher 2. Kapitel, I I 3.
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1. Kap.: Privates u n d öffentl. Nachbarrecht i m Bereich des BImSchG
Ungelöst sind vor allem folgende praktisch-juristische Fragen: 1. Sind die privaten Abwehrrechte der §§ 1004, 906, 907 BGB i m Genehmigungsverfahren zu berücksichtigen? 2. Welche Natur hat der Entschädigungsanspruch aus §§ 26 GewO/ 14 BImSchG und wie verhält er sich zu dem Ausgleichsanspruch aus § 906 I I 2 BGB? 3. Wie ist die Entschädigungsregelung i n den Fällen zu beurteilen, i n denen ein subjektives öffentliches Nachbarrecht bestanden hat, aber nicht durchgesetzt worden ist? Die Bedeutung, die die privaten Abwehrrechte des Nachbarrechts i n dem der Genehmigungserteilung vorangehenden Genehmigungsverfahren haben, ist notwendigerweise für die Konzeption des gesamten Systems entscheidend. Dieser Gedanke führt den Verfasser dazu, die Aufopferungskonzeption des § 14 BImSchG anhand einer Untersuchung der praktisch-juristischen Frage zu 1. zu überprüfen. (II) (1) Z u §§ 16 ff. GewO war h. M., daß die privaten Nachbarrechte keine besonderen privatrechtlichen Titel seien, also i m Genehmigungsverfahren zu erledigen seien. Es stellte sich aber die Frage, wie die Erledigung zu erfolgen hatte. Eine Meinung i m Schrifttum versagte die Genehmigimg bei Vorliegen des Anspruchs aus § 907 BGB, während eine andere i m Genehmigungsverfahren die durch § 906 BGB festgelegte Nutzungsgrenze nicht für maßgebend hielt. Auch das BImSchG geht i n § 10 I I I von einer Erledigung der privaten Nachbarrechte i m Genehmigungsverfahren aus. Die Voraussetzungen, unter denen eine Genehmigung erteilt werden muß, sind aber jetzt i n § 6 BImSchG abschließend geregelt. Dort ist von privaten Nachbarrechten nicht die Rede. Da sich die Schädlichkeitsgrenze des § 6 Ziffer 1 BImSchG und auch die Voraussetzungen der nach § 6 Ziffer 2 mitzuerteilenden Baugenehmigung nicht m i t den privatrechtlichen Nutzungsmarken der „Wesentlichkeit" und „Ortsüblichkeit" der Immissionen — bei üblicher privatrechtlicher Auslegung — decken, bleibt das Problem auch nach BImSchG offen. (2) Seine Lösung erfordert einen umfassenderen methodischen Ansatz, als er bisher verwandt wurde. Der Verfasser geht davon aus, daß die rechtlichen Entscheidungen des Privatrechts i n §§ 1004, 906, 907 BGB einerseits und des öffentlichen Rechts i n § 6 BImSchG und den i n Bezug genommenen Baurechtsvorschriften andererseits die Lösung je eigener Konflikte des Privatrechts und des öffentlichen Rechts sind, die sachlich voneinander abgegrenzt werden können. Die öffentlich-rechtliche Entscheidung erfolgt durch die als Einheit zu sehende Entscheidungskette Norm (BImSchG und BBauG) — Bebauungsplan — Genehmigung (in den
V I . Zusammenfassung zum 1. K a p i t e l
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Fällen des § 30 BBauG) bzw. Norm — Genehmigung (in den Fällen der §§ 34 und 35 BBauG). Die subjektiven Abwehrrechte des Privatrechts (§§ 1004, 906, 907 BGB) und des öffentlichen Rechts (subjektive öffentliche Nachbarrechte) werden zur individuellen Durchsetzung der jeweils getroffenen Konfliktsentscheidung gewährt. Sachlich sind die Konflikte dahin abzugrenzen, daß das Privatrecht i n §§ 1004, 906 BGB einen Nutzungskonflikt der Nachbarn i m kleinnachbarlichen Raum auf der Grundlage eines tatsächlichen status quo entscheidet, wobei nach der ursprünglichen Konzeption der Bestimmung die bauliche Entwicklung dem tatsächlichen Verlauf überlassen blieb. Über die bauliche Entwicklung — verstanden als Konflikt um die Raumentwicklung zwischen nachbarlichen Schonungs- und Entfaltungsinteressen — entscheiden aber heute die raumgestaltenden Bestimmungen des Bauplanungsrecht es und des BImSchG und die auf ihrer Grundlage ergehenden Genehmigungen. (3) Das zur Durchsetzung der privatrechtlichen Konfliktsentscheidung gewährte subjektive Abwehrrecht aus §§ 1004, 906 BGB kann der öffentlich-rechtlichen Konfliktsentscheidung über die Raumentwicklung nicht aufgepfropft werden: Der nachbarliche Konflikt u m die Raumentwicklung w i r d — primär (zur speziell immissionsschutzrechtlichen Prüfung vgl. I I I , 4) — nach Raumplanungsrecht entschieden. Für den beplanten Bereich liegt die Entscheidung über das Gegeneinander nachbarlicher Schonungs- und Entfaltungsinteressen i n der Abwägung nach § 1 V I I BBauG bei der Planaufstellung, für den nicht beplanten, aber i m Zusammenhang bebauten Innenbereich und den Außenbereich erfolgt die Abwägung der nachbarlichen Interessen i m Rahmen der Bestimmung des entgegenstehenden bzw. beeinträchtigten öffentlichen Belangs bei der Genehmigungserteilung. Die Entscheidungsmaßstäbe ergeben sich aus den Notwendigkeiten der Raumentwicklung. Die privatrechtliche Konfliktsentscheidung macht dagegen die tatsächlich bestehende Ortsüblichkeit einer Nutzung auch zum rechtlichen Entscheidungsmaßstab. Angesichts dieses Verhältnisses von öffentlich-rechtlichem Raumentwicklungsrecht und privatrechtlichem Nachbarrecht kann „Berücksichtigung privater Nachbarrechte" i m Genehmigungsverfahren nach § 10 I I I BImSchG nur heißen, daß die privaten Nachbarinteressen bei der öffentlich-rechtlichen Raumentwicklungsentscheidung zu berücksichtigen sind. Das geschieht vor allem durch Einstellung dieser Interessen i n die planungsrechtliche Abwägung. (III) (1, 2) Diese A r t der Berücksichtigung der privatnachbarlichen Interessen bei der öffentlich-rechtlichen Entscheidung hat Folgerungen für das überkommene Aufopferungssystem zu § 14 BImSchG. Das Ver-
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1. Kap.: Privates u n d öffentl. Nachbarrecht i m Bereich des BImSchG
hältnis von privatrechtlicher Grenze der Ortsüblichkeit und besonderem Grund für ihre Überschreitung, wie es dieses Aufopferungssystem zugrundelegt, ist — von der Planungsentscheidung nach § 1 V I I BBauG bzw. der Genehmigung nach §§ 34 und 35 BBauG her gesehen — i n W i r k lichkeit das Verhältnis von miteinander zum Ausgleich gebrachten nachbarlichen Schonungs- und Entfaltungsinteressen. Die überkommene A u f opferungskonzeption vermag diese Interessen nicht i n dieses Verhältnis zu setzen: Nach ihrem Schema spielen die nachbarlichen Interessen für den Raum der Überschreitung der privatnachbarlichen Grenze der Ortsüblichkeit keine Rolle mehr. (3) Die überkommene Aufopferungskonzeption zu § 14 BImSchG entspricht der Interessenlage i n einem statisch verharrenden Raum, i n welchem Errichtung von Industrie noch als Ausnahme erschienen sein mag. Rechtlich liegt i h r die Systematik des öffentlich-rechtlichen Eingriffs i n einen privatrechtlich abgegrenzten Rechtsbereich zugrunde. Die hier vertretene „Planungskonzeption" zu § 14 BImSchG entspricht der heutigen Auffassung, daß Errichtung von Industrie als Raumnutzung die gleiche Berechtigung hat wie z. B. Wohnbebauung. (4) I m Rahmen der Genehmigungserteilung nach § 6 BImSchG ist die bauplanungsrechtliche Abwägung von der Bestimmung der spezifisch immissionsschutzrechtlichen Schädlichkeitsgrenze nach § 6 Ziffer 1 BImSchG zu unterscheiden. Aber auch die „Differenz" zwischen dieser Schädlichkeitsgrenze und der Grenze nach § 906 BGB ist keine mögliche Grundlage einer Aufopferungskonzeption i m überkommenen Sinne, weil auch das spezifische Immissionsschutzrecht insoweit Teil der Raumentwicklungsentscheidung ist und § 906 BGB auch i m Verhältnis zum BImSchG kein Raumentwicklungsrecht darstellt. (5) § 14 Satz 1 BImSchG hat nach der hier vorgeschlagenen Lösung nur deklaratorische Bedeutung. Gegen die Errichtung von genehmigungspflichtigen Anlagen besteht von Anfang an kein Abwehranspruch aus §§ 1004, 906 BGB, w e i l diese Bestimmungen die Raumentwicklung selbst nicht regeln. Dem Wortlaut nach unterstellt § 14 Satz 1 BImSchG auch nicht, daß „an sich" ein solcher Anspruch besteht, sondern stellt nur fest, daß er nicht besteht. (IV) (1) Die Aufgabe der überkommenen Aufopferungskonzeption hat Folgerungen für die Bestimmung des Umfangs des Entschädigungsanspruchs aus § 14 Satz 2 BImSchG, w e i l m i t der „ortsüblichen Nutzung" i. S. von § 906 BGB der Festpunkt für die Entschädigung entfällt. Wenn die tatsächliche Ortsüblichkeit nicht mehr die allgemein verbindliche, aber i m besonderen Falle überschreitbare Grenze für die Raumentwicklung ist, liegt auch kein Grund vor, nach dem Maße dieser Überschreitung zu entschädigen. Der Verfasser legt § 14 Satz 2 BImSchG jetzt i m
V I . Zusammenfassung zum 1. K a p i t e l
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Sinne der Entscheidung RGZ 154, 161 (zweiter Gutehoffnungshüttenfall) und der auf diese Entscheidung aufbauenden gesetzgeberischen Reform des § 906 I I 2 BGB aus: Ausgehend von dem öffentlich-rechtlich bestimmten Raumzustand ist ein Ausgleich für diejenigen Beeinträchtigungen zu gewähren, die über das zumutbare Maß hinausgehen. (2) Dieses Ergebnis w i r d bestätigt durch die A r t , wie das RG § 26 GewO praktisch angewendet hat. I n der Thale-Entscheidung RG Gruch 55, 105 legt das RG den Begriff der Ortsüblichkeit so weit aus, daß praktisch jedes genehmigte Indus trie werk ortsüblich ist. Ortsüblichkeit w i r d also i m Sinne von erfolgter Raumgestaltung verstanden. M i t diesem In-eins-Setzen von privatrechtlichem und öffentlich-rechtlichem Maßstab sind keine Fälle mehr denkbar, i n denen wegen Überschreitung der Ortsüblichkeit Schadloshaltung zu gewähren wäre. Die Entscheidung RGZ 154,161 revidiert nicht diese Auslegung des Begriffs der Ortsüblichkeit, aber das durch diese Auslegung — bei Zugrundelegung der A u f opferungskonzeption — erzwungene Ergebnis. Der Entschädigungsanspruch w i r d dem Grunde und der Höhe nach neu bestimmt: Die beiderseitige Daseinsberechtigung w i r d anerkannt. A u f dieser Grundlage erfolgt „Schadensteilung". (3) Diese Auslegung des § 14 Satz 2 BImSchG ist m i t dem Gesetzeswortlaut vereinbar, da der Umfang des Anspruchs bei der Kürze des Gesetzes durch das angenommene System bestimmt wird. (4) Die Bedeutung eines materiellen Aufopferungsprinzips i m Privatrecht — i m Gegensatz zu dem bisher untersuchten Aufopferungsschema —, des Grundsatzes von Treu und Glauben und des „nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses" für die Entschädigungsproblematik läßt sich anhand der Wolff-Mengerschen Lehre von den Rechtsgrundsätzen näher klären. U. a. i m Fall einer gesetzlichen Lücke w i r d danach durch Anwendung eines Rechtsgrundsatzes auf einen typischen Sachverhalt erst ein anwendbarer Rechtssatz gewonnen. Das „Aufopferungsprinzip i m Privatrecht" und „Treu und Glauben" sind i m Hinblick auf die vorliegende Entschädigungsproblematik jedoch keine anwendbaren Rechtsgrundsätze. Das „nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis" läßt sich dagegen als typischer Sachverhalt (Lebensverhältnis) ansehen, für den — abgeleitet aus der Idee der Gerechtigkeit selbst — i m Falle einer gesetzlichen Lücke durch Richterrecht der anwendbare Rechtssatz erst zu finden ist. (V) Der Ausschluß subjektiver öffentlicher Nachbarrechte bei Unanfechtbarkeit der Genehmigung führt nicht zu einem Anspruch aufgrund Enteignung, weil die Vermögens Verschiebung aufgrund § 14 Satz 2 BImSchG unter Privaten »ausgeglichen wird.
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1. Kap.: Privates u n d öffentl. Nachbarrecht i m Bereich des BImSchG
Bedenken gegen eine Anwendung des § 14 Satz 2 BImSchG unter dem Gesichtspunkt, daß die Bestimmung dann rechtmäßige und rechtswidrige Beeinträchtigungen ausgleicht, bestehen nicht. Das Erlöschen der subjektiven öffentlichen Abwehrrechte beruht wesentlich auf dem Gedanken der Anerkennung der vollzogenen Raumgestaltung unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes. Die durch Errichtung der Anlage vollzogene Raumgestaltung kann daher nicht als „an sich" rechtswidrig betrachtet werden. Da die vollzogene Raumgestaltung jetzt einen neuen Tatbestand darstellt, w i r d der Umfang des Entschädigungsanspruchs auch nicht durch das erloschene subjektive öffentliche Nachbarrecht m i t der Folge präjudiziert, daß für jede Emission des nicht verhinderten Werkes Ersatz geleistet werden muß. Das Ausmaß der unzumutbaren Beeinträchtigung ist vielmehr auch i n diesem Fall besonders zu ermitteln.
Zweites
Kapitel
Das Verhältnis von privatem und öffentlichem Nachbarrecht i n den Fällen des lebenswichtigen Betriebes Das zu § 26 GewO geltende Aufopferungsschema wurde vom RG auch i n den Fällen des sog. lebenswichtigen Betriebes angewandt. Der Gedanke ging dahin, daß bei über die Grenzen des § 906 BGB hinausgehenden Einwirkungen die Abwehrrechte auch dann versagt sein mußten, wenn es sich u m einen für das allgemeine Wohl unentbehrlichen oder doch bedeutungsvollen Betrieb zur Befriedigung von Gemeinschaftsinteressen (sog. lebenswichtiger Betrieb) handelte 1 . Anstelle des versagten A b wehranspruchs trat der Aufopferungsanspruch. Nach diesem Grundsatz entschied das RG ζ. B. über die Emissionen von Eisenbahnen 2 und von Reichsautobahnen 3 . Der B G H hat i n seinem Urteil vom 28. 2. 1955 diesen Grundsatz i n den beschriebenen Fällen weiterhin für anwendbar erklärt 4 . Das Schrifttum erörtert die Fälle auch unter dem Begriff des lebenswichtigen oder sozialwichtigen Betriebes 5 . Schack nennt als Beispiele Versorgungsbetriebe, Krankenhäuser, Schulen 6 . Die Fälle des „lebenswichtigen Betriebes" lassen sich positiv dahin beschreiben, daß die Betriebe immer i m öffentlichen Interesse arbeiten. Negativ w i r d die Fallgruppe dadurch abgegrenzt, daß die Anwendung des Aufopferungssystems nicht auf einer speziellen gesetzlichen Vorschrift beruht. A u f den Betrieb eines Flughafens ist der Grundsatz des lebenswichtigen Betriebes von vornherein nicht anwendbar, weil die 1 Vgl. RG, 11. 5. 1904, RGZ 58, 130; 12. 10. 1904, RGZ 59, 70; 13. 6. 1906, RGZ 63, 374; 21. 12. 1908, RGZ 70, 150; 15. 12. 1919, RGZ 97, 290; 17. 10. 1928, RGZ 122, 134; 8. 7. 1931, RGZ 133, 152; 21. 10. 1931, RGZ 133, 342; 9. 1. 1939, RGZ 159,129; 21. 4.1941, RGZ 167,14; 28. 9.1942, RGZ 170, 40. 2 RG, 2. 9.1938, J W 1938, 2970. 3 RG, 9.1.1939, RGZ 159,129. 4 B G H Z 16, 366, 370; weitere Rechtsprechungsnachweise bei Palandt/ Bassenge, § 906 B G B A n m . 5. So hat der B G H ζ. B. einen Clubbetrieb der Stationierungsstreitkräfte als lebenswichtigen Betrieb behandelt, U r t e i l v o m 11. 7. 1963, B G H L M Nr. 17 zu § 906 BGB, nicht jedoch die Operettenaufführung auf einer städtischen Freilichtbühne, U r t e i l v o m 6. 6. 1969, B G H L M Nr. 32 zu § 906 BGB. 5 Vgl. dazu Schack, B B 1965, 341; Martens, öffentlich-rechtliche Probleme des negatorischen Rechtsschutzes gegen Immissionen, Festschrift für Schack, S. 85; Palandt / Bassenge, § 906 B G B A n m . 5 a cc. 6 B B 1965, 341.
7 Schapp
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2. Kap. : Priv. u. öffentl. Nachbarrecht u n d lebenswichtiger Betrieb
Immissionsproblematik positiv i n §§ 11 LuftVG, 14 BImSchG geregelt ist. Es liegt auf der Hand, daß w i r — i n Fortführung unserer i m 1. Kapitel entwickelten Konzeption — eine weitere Klärung der Fallgruppe des „lebenswichtigen Betriebes" aufgrund einer Einbeziehung des die Errichtung dieser Betriebe regelnden Rechtes zu erreichen versuchen werden. Das ist einmal das Fachplanungsrecht, das insbesondere für Verkehrsanlagen i n einem weiteren Sinne i n Frage kommt 7 , dann aber auch das allgemeine Planungsrecht insbesondere des BBauG 8 . Der Begriff des „lebenswichtigen Betriebes" ist jedoch nicht unter einem planungsrechtlichen Gesichtspunkt gebildet, er muß vielmehr unter dem Aspekt der Problematik des § 906 BGB gesehen werden. I m Hinblick auf eine nach §§ 1004, 906, 907 BGB möglich erscheinende Abwehrklage des Nachbarn legitimiert der Grundsatz der Duldungspflicht zugunsten des lebenswichtigen Betriebes eine ganz bestimmte Grundstücksnutzung, nicht jedoch speziell den Bau eines solchen Betriebes. Damit überschneiden sich die planungsrechtlichen Begriffe und der für die Rechtsprechung zentrale Begriff des lebenswichtigen Betriebes. Fachplanungsfälle, auf die § 14 BImSchG entsprechend zur Anwendung kommt, wie ζ. B. die luftverkehrsrechtliche Planfeststellung (vgl. § 11 LuftVG), scheiden von vornherein aus der Problematik aus. Der heute praktisch bedeutendste Fall einer Fachplanung, die straßenbaurechtliche Planfeststellung, fällt jedoch i n den Problemkreis des lebenswichtigen Betriebes, da die Straßengesetze die Aufopferungskonzeption nicht gesetzlich durchgeführt haben. So versagt § 17 V I BFernStrG zwar Abwehransprüche gegen die Straßenanlage, wenn der Planfeststellungsbeschluß unanfechtbar geworden ist, gewährt jedoch für diese Versagung keinen Aufopferungsanspruch. Hier könnte, soweit es sich um eine Überschreitung der Grenze des § 906 BGB handelt, nur der von der Rechtsprechung entwickelte Grundsatz zu einer Entschädigung führen. Andererseits werden als „lebenswichtige Betriebe" auch Anlagen behandelt, die nicht Gegenstand einer i n einem geregelten Verfahren ergangenen Planungsentscheidung waren, wie ζ. B. sog. „alte Straßen", oder die auf einer Planungsentscheinach BBauG beruhen. Die Fälle des „lebenswichtigen Betriebes" i m überkommenen Verständnis decken sich also nicht vollständig m i t den Fachplanungsfällen noch überhaupt m i t den Fällen, i n denen ein verfahrensmäßig geregelter Planungsakt stattgefunden hat. 7 Vgl. dazu Hoppe, Rechtsschutz bei der Planung von Straßen u n d anderen Verkehrsanlagen, Rdz. 8, S. 4. 8 Z u r Abgrenzung der Fachplanung von dem überfachlichen, gebietsbezogenen Gesamtplanungsrecht — bestehend aus Bauleitplanung (Ortsplanung), Regionalplanung, Landesplanung u n d Bundesraumordnung — vgl. Hoppe, ebd., Rdz. 10, S. 5; ferner Forsthoff / Blümel, Raumordnungsrecht u n d Faòhplanungsrecht, S. 18 ff.
I. Problemstellung u n d E n t w i c k l u n g der eigenen Konzeption
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W i r setzen uns i m folgenden unter I mit der Frage der Durchführbarkeit der Aufopferungskonzeption i n den Fällen des „lebenswichtigen Betriebes" auseinander. Unsere eigene Lösung soll hier jedoch erst dargelegt werden, nachdem w i r zunächst einen weiteren Uberblick über die A r t und Weise der Verwendung des Aufopferungssystems i n diesen Fällen gegeben und anschließend zweckmäßigerweise die neueren Entwicklungen i n Literatur und Rechtsprechung auf diesem Gebiet dargestellt haben, die dieses System selbst schon weitgehend i n Frage stellen. Unter I I folgt dann eine Auseinandersetzung m i t der Problematik des Entschädigungsanspruchs bei Immissionen durch Straßenverkehr auf der Grundlage, die unter I erarbeitet wurde. Die gesonderte Behandlung dieses Problemkomplexes ist durch die große praktische Bedeutung dieser Frage gerechtfertigt, die sich aufgrund einer reichhaltigen Rechtsprechung und gesonderter gesetzlicher Normierung i n §§ 17 BFernStrG und 41 ff. BImSchG jetzt auch immer mehr als ein i n sich geschlossenes Rechtsgebiet darstellt 9 . Da eine Anzahl „systembildender" Entscheidungen des B G H aber gerade i m Hinblick auf Straßenverkehrsimmissionen ergangen ist, w i r d diese Rechtsprechung auch schon bei der allgemeinen Auseinandersetzung m i t dem Aufopferungssystem unter I m i t herangezogen.
I. Problemstellung und Lösung auf der Grundlage der im 1. Kapitel entwickelten Konzeption 1. Überblick über das Aufopferungssystem i n den Fällen des sog. lebenswichtigen Betriebes Die Besonderheiten der Fallgruppe, auf die die Rechtsprechung des RG den Grundsatz des „lebenswichtigen Betriebes" anwandte, führen i n zweifacher Hinsicht zu Komplikationen gegenüber der einfachen A n wendung des Schemas i m Rahmen des § 26 GewO, aus denen sich i m wesentlichen die i n diesem Rechtsgebiet herrschenden Unsicherheiten erklären lassen: Erstens: Für die erhöhte Duldungspflicht konnte nicht auf eine i n einem bestimmten Verfahren ergangene Genehmigung, wie sie nach den §§16 ff. GewO bei einer Anwendung des § 26 GewO vorlag, zurückgegriffen werden. Das RG erwähnt i n diesem Zusammenhang zwar verschiedentlich die dem Betrieb erteilte Konzession 1 , diese gewinnt aber i n der Rechtsprechung nicht die entscheidende Stelle, die i n § 26 GewO 9 ζ. B. behandelt Breuer den Problemkreis unter dem T i t e l „Beeinträchtigungen aus Veränderungen öffentlicher Kommunikationsanlagen" i n einem gesonderten Kapitel, Bodennutzung, S. 304 ff. 1 So erwähnt das U r t e i l des R G v o m 2. 9. 1938, J W 1938, 2969, die behördliche Genehmigung des Eisenbahnbetriebes. 7*
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2. Kap.: Priv. u. öffentl. Nachbarrecht u n d lebenswichtiger Betrieb
der Genehmigung zukommt. Die gegenüber § 906 BGB gesteigerte Duldungspflicht beruht auf dem vom RG herausgestellten allgemeinen Grundsatz, der i n der Bedeutung des öffentlichen Interesses seine Rechtfertigung findet. Der Gedanke selbst ist nicht beschränkt auf Fälle, i n denen eine öffentlich-rechtliche Konzession Grundlage des Betriebes ist. N u r so läßt sich auch verstehen, daß neben § 26 GewO auch § 904 BGB und vor allem §§ 74, 75 E i n l A L R zur Begründung dieser Rechtsprechung m i t herangezogen werden 2 . Ob man den von der reichsgerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsatz nun als gewohnheitsrechtlichen Satz anwenden w i l l 3 oder von einer entsprechenden Anwendung positivrechtlicher Rechtssätze ausgeht, auf jeden Fall begründet dieser Satz nach Auffassung des RG die Duldungspflicht eigenständig, ohne Rücksicht auf eine vorliegende Genehmigung. Die zweite Schwierigkeit wurde dadurch hervorgerufen, daß das die Überschreitung der Grenze des § 906 BGB legitimierende öffentliche I n teresse, auf das der Satz des RG Bezug nahm, die Auffassung des A n spruchs als eines öffentlich-rechtlichen Entschädigungsanspruchs und dam i t als Anspruch aufgrund öffentlich-rechtlicher Enteignung nahelegen mußte. Das öffentliche Interesse war i n den Fällen des lebenswichtigen Betriebes i n einer ganz anderen Weise greifbar als i n den durch § 26 GewO direkt normierten Fällen. Das führte schon f r ü h zu einem heftigen Streit i n der Literatur über die privatrechtliche 4 oder öffentlichrechtliche 5 Natur dieses Anspruchs. Die privatrechtliche Auffassung überwog. Sie wurde m i t dem Hinweis auf den privatrechtlichen Charakter der i n Frage stehenden Betätigungen des Staates (hauptsächlich Schall-, Rauch- und Funkenimmissionen der Eisenbahnen) begründet, von der ein hoheitliches Tätigwerden zu unterscheiden sei 6 . A n diese Unterscheidung knüpft das Urteil des B G H vom 15. 6.1967 (Autobahnstaubfall) 7 an. Die Tendenz der folgenden Rechtsprechung geht nun aber da2 Vgl. etwa RG, 8. 4. 1925, J W 1925, 2446; die Geschichte dieses Aufopferungsanspruchs w i r d eindringlich von Schach i n einer Reihe von Aufsätzen herausgearbeitet, vor allem JR 1958, 207; D Ö V 1961, 728; JuS 1963, 266; B B 1965, 341; DVB1 1967, 613, N J W 1968,1914. 3 Vgl. dazu Papier, N J W 1974,1800. 4 So Stödter, öffentlich-rechtliche Entschädigung, S. 12 ff.; Katzenstein, Entschädigungspflicht des Staates bei rechtswidrig-schuldloser Ausübung öffentlicher Gewalt, S. 67 ff.; Fr. W. Giese, Der öffentlich-rechtliche Aufopferungsanspruch (Tübinger Abhandlungen Heft 37), S. 46; Wilke, Die Haftung des Staates, S. 76; Hemsen, Der allgemeine bürgerlich-rechtliche Aufopferungsanspruch, S. 24; Schack, D Ö V 1961, 728, unter Aufgabe seiner früher i n JR 1958, 207 vertretenen Auffassung. 5 So Fleiner, Verwaltungsrecht, 8. Aufl., S. 330; Janssen, Der Anspruch auf Entschädigung bei Aufopferung u n d Enteignung, S. 123. β Furier, V e r w A r c h 33, 340, 425; Stödter, S. 7; Wilke, S. 76; Schack, DÖV 1961, 728, 732. 7 B G H Z 48, 98. Z u dieser f ü r das Verhältnis von Privatrecht u n d öffentlichem Recht i m Bereich des § 906 B G B bedeutsamen Entscheidung vgl. Hub-
I. Problemstellung u n d E n t w i c k l u n g der eigenen Konzeption
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hin, insbesondere i n den Fällen der Immissionen durch Straßenverkehr den hoheitlichen Charakter der staatlichen Einwirkung zu betonen und entsprechend einen Enteignungsanspruch zu geben 8 . Dabei soll nach den Entscheidungen des B G H vom 15. 6. 1967° und vom 30. 10. 197010 dieser Enteignungsanspruch i n Voraussetzungen und Umfang dem bürgerlichrechtlichen Auf opferungsanspruch entsprechen. Die beiden Komplikationen, die sich aus der Eigenart dieser Fallgestaltung gegenüber einer „normalen" Anwendung des § 26 GewO ergeben, werden nun gewissermaßen noch „ergänzt" durch die i m 1. Kapitel analysierte Komplikation, die zur zweiten GutehoffnungshüttenEntscheidung des R G 1 1 und damit schließlich zu dem Anspruch aus § 906 I I 2 BGB geführt hat. Es lag auf der Hand, daß dieser Anspruch auch i m Hinblick auf den lebenswichtigen Betrieb seine Bedeutung haben mußte, wenn die Rechtsprechung schon das Aufopferungssystem i m Verhältnis zu § 906 BGB und § 26 GewO übernahm. So wurde denn auch dieser A n spruch i n dieser Fallgruppe gegeben. I n der Anwendung des einen oder anderen Anspruchs herrscht allerdings eine beträchtliche Unsicherheit: Während der B G H i n der Entscheidung vom 15. 6. 196712 vom bürgerlichrechtlichen Aufopferungsanspruch ausgeht und den Anspruch aus § 906 I I 2 nicht prüft, dabei allerdings diesem bürgerlich-rechtlichen Aufopferungsanspruch den — durchaus nicht zutreffenden 13 — Namen nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch geben w i l l , prüft er i n seiner Entscheidung vom 22. 12. 196714 nur den Anspruch aus § 906 I I 2 BGB. Erst i n seinem Urteil vom 30. 10. 197015 stellt der B G H beide Ansprüche nebeneinander, wie es einer konsequenten Durchführung des überkommenen Systems entspricht, und läßt ihnen dann wegen des hoheitlichen Charakters von Planfeststellung und Widmung von Straßen jeweils einen öffentlich-rechtlichen Entschädigungsanspruch m i t denselben Voraussetzungen und i m selben Umfang korrespondieren. Dabei w i r d allerdings nur der dem bürgerlich-rechtlichen Aufopferungsanspruch korrespondierende öffentlich-rechtliche Anspruch als Anspruch auf Enteignungsentschädigung bezeichnet 16 , der dem privatrechtlichen Anspruch mann, J Z 1968, 66; Faber, N J W 1968, 47; Schack, N J W 1968, 1914 u n d DVB1 1967, 886; Döbereiner, N J W 1968, 1916; Menger / Erichsen, V e r w A r c h 59, 383 ff.; Westermann, Das Sachenrecht i n der Fortentwicklung, S. 21 ff. 8 So die Urteile des B G H v o m 30. 10. 1970, B G H Z 54, 384 u n d v o m 20. 3. 1975, B G H Z 64, 220. 9 B G H Z 48, 98. 10 B G H Z 54, 384. 11 RGZ 154,161. 12 B G H Z 48, 98. 13 Gegen diese verwirrende Gleichsetzung auch Hubmann, J Z 1968, 66 r. Sp. u n d Menger / Erichsen, V e r w A r c h 59, 385. 14 B G H Z 49,148. 15 B G H Z 54, 384. 16 B G H Z 54, 388.
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2. Kap.: Priv. u. öffentl. Nachbarrecht u n d lebenswichtiger Betrieb
aus § 906 I I 2 BGB korrespondierende Anspruch w i r d vorsichtiger nur „öffentlich-rechtlicher Entschädigungsanspruch" genannt 17 . Das Urteil des B G H vom 20. 3.1975 18 kommt auf diese „hochgezüchtete" Systematik der Entscheidung vom 30. 10. 197019 nicht zurück, sondern untersucht nur den dem § 906 I I 2 BGB entsprechenden öffentlich-rechtlichen A n spruch, der hier dann auch als Enteignungsanspruch aufgefaßt wird. Obwohl also i n einer Reihe bedeutender Entscheidungen gerade dieses Verhältnis von Aufopferungsanspruch und Ausgleichsanspruch des § 906 I I 2 BGB zur Erörterung stand, gelingt es der Rechtsprechung nicht, über die unterschiedlichen Voraussetzungen hinaus, daß es einmal auf die Ortsüblichkeit der Straße ankommt und das andere M a l nicht, eine einsichtige Unterscheidung der beiden Ansprüche zu entwickeln. Daß die i m Autobahnstaubfall 2 0 für den Aufopferungsanspruch entwickelten Merkmale für die Unterscheidung von privatrechtlichem und öffentlichrechtlichem Anspruch nun i n der Entscheidung vom 20. 3. 1975 21 unter Hinweis auf die Entscheidung i m Autobahnstaubfall als Kriterien für den Anspruch aus § 906 I I 2 BGB angeführt werden, ohne daß der Aufopferungsanspruch m i t seinen Voraussetzungen i n der Entscheidung noch geprüft wird, bedeutet praktisch eine Gleichsetzung beider A n sprüche. Der Überblick zeigt, daß sich i m Rahmen der Fälle des lebenswichtigen Betriebes insbesondere folgende Fragen stellen: Wie ist die Duldungspflicht zugunsten des lebenswichtigen Betriebes zu begründen? Welche Auswirkung hat eine neue Konzeption der Duldungspflicht für das Verhältnis des Aufopferungsanspruchs zu dem nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch? Wenn nur ein dem Anspruch aus §§ 906 I I 2 BGB entsprechender Anspruch auf Enteignungsentschädigung gewährt wird, hat die Einordnung dieses Anspruchs i n das Enteignungsrecht praktische Konsequenzen? Die Problematik des Entschädigungsanspruchs w i r d i m folgenden vor allem unter I I untersucht. Die Frage nach der Konzeption der Duldungspflicht, die das allgemeine System betrifft, soll zunächst geklärt werden. 2. Kritik in der Literatur und Entwicklungen in der Rechtsprechung zur Duldungspflicht Systematisch entscheidend für das Verhältnis zum privaten Nachbarrecht und damit auch für die Konzeption des Entschädigungsanspruchs ist auch i n diesem Rechtsgebiet die Frage der Begründung der 17 18 19 20 21
BGHZ BGHZ BGHZ BGHZ BGHZ
54, 391. 64, 220. 54, 384. 48, 98. 64, 222.
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Duldungspflicht, die den Nachbarn zugunsten des „lebenswichtigen Betriebes" trifft. Die grundlegende Vorstellung geht dahin, daß auch j u ristische Personen des öffentlichen Rechts m i t ihrem Grundbesitz i m Bereich des privatrechtlichen Eigentums stehen und m i t i h m den Regeln des bürgerlichen Rechts, insbesondere denen des Nachbarrechts, unterworfen sind, soweit das nicht ihren öffentlichen Aufgaben widerstreitet und soweit keine Sonderbestimmungen eingreifen 22 . Die Einschränkung bezieht sich auf die Duldungspflicht, die sich aufgrund des Satzes über die Lebenswichtigkeit des Betriebes ergibt. Die Duldungspflicht ist damit also zweigeteilt: Sie beruht bis zur Nutzungsgrenze des Privatrechts, also der Ortsüblichkeit i m Sinne von § 906 BGB, auf der privatrechtlichen Abgrenzung, darüber hinaus auf dem Grundsatz, der die Duldungspflicht zugunsten lebenswichtiger Betriebe normiert 2 3 . Diese Konzeption ist unter verschiedenen Aspekten Gegenstand der K r i t i k geworden. Es ergaben sich vor allem folgende Fragen: Genügt heute verfassungsrechtlich noch ein derart vager Grundsatz, um einen Eingriff i n Grundeigentum zu rechtfertigen? Das RG hatte einen privatrechtlichen Anspruch auf Schutzvorkehrungen auch gegen den lebenswichtigen Betrieb gegeben, sofern dadurch die ungehinderte Abwicklung des Betriebes nicht berührt wurde 2 4 . Mußte dieser Anspruch nach Einführung der verwaltungsgerichtlichen Generalklausel nicht i m Verwaltungsrechtsweg verfolgt werden? Damit ergab sich auch unter diesem Aspekt die Frage, welche Rechtsgrundlage i m öffentlichen Recht Voraussetzungen eines solchen oder evtl. sogar eines noch weitergehenden Anspruchs gegen den Betrieb selbst normiert. Martens hat 1966 eine eindringliche Analyse zu diesem Fragenkreis vorgelegt 25 . Er lehnt die grundsätzliche Geltung der nachbarrechtlichen Vorschriften des bürgerlichen Rechts für Einwirkungen durch Betriebe der öffentlichen Hand überhaupt ab, weil die Duldungspflicht des Grundeigentümers sich bei diesem Ausgangspunkt nur damit begründen ließe, daß der Gestörte verpflichtet sei, rechtswidriges Verwaltungshandeln zu dulden, weil und soweit es hoheitlich erfolge. Das Prinzip werde also an der Stelle durchbrochen, wo es seine Bewährungsprobe abzulegen hätte 2 6 . Die Beantwortung der Frage nach Voraussetzungen und U m 22 So formuliert der B G H noch i m U r t e i l v o m 30. 10. 1975, B G H Z 54, 384 unter Hinweis auf das U r t e i l des R G v o m 9. 1. 1939, RGZ 159, 131 u n d das U r t e i l des B G H v o m 29. 10.1954, B G H Z 15,150. 23 Vgl. dazu auch Martens, öffentlich-rechtliche Probleme des negatorischen Rechtsschutzes gegen Immissionen, Festschrift für Schack, S. 92. 24 RG, 2. 9.1938, J W 1938, 2969. 25 I n dem vorstehend zitierten Aufsatz, Festschrift für Schack, S. 85 ff. Vgl. auch Martens, Negatorischer Rechtsschutz i m öffentlichen Recht. Vgl. zu diesem Themenkreis weiter Martens, DVB1 1968, 150; JR 1972, 257. 26 Martens, Festschrift f ü r Schack, S. 92.
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fang einer Duldungspflicht des von Verwaltungsmaßnahmen betroffenen Grundeigentümers habe vielmehr von A r t . 14 GG auszugehen, der auch i m Verhältnis des einzelnen zur Verwaltung für die Bestimmung des Eigentumsinhaltes ausnahmslos eine rechtsnormative Grundlage verlange 27 . Wie ist nun angesichts des Schweigens der Verwaltungsgesetze zu der typischen i n § 906 BGB anvisierten Immissionsproblematik ein Ausweichen ins private Nachbarrecht zu vermeiden? Solange und soweit i n diesem Bereich spezielle Immissionsregelungen fehlen, hält Martens es für zulässig und geboten, diejenigen öffentlich-rechtlichen Vorschriften, auf denen Bestand, Unterhaltung und Betrieb der Verwaltungseinrichtungen beruhen, auch als eigentumsgestaltende Bestimmungen i m Sinne des A r t . 14 I 2 GG aufzufassen 28 . Allerdings unterliege dieses Verwaltungshandeln, das i n individuelle Rechtsstellungen eingreife, verfassungskräftigen Bindungen i n Gestalt der Prinzipien der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit. I m Hinblick auf die Einhaltung dieser Prinzipien könne es verwaltungsgerichtlich überprüft werden 2 9 . Papier geht von dem Gedanken aus, daß auch gegen rechtswidrige hoheitliche Akte wie beispielsweise gegen faktische Eigentumsstörungen durch Immissionen ein öffentlich-rechtlicher Störungsabwehranspruch gegeben sein müsse 30 . Dieser Anspruch, den er als Folgenbeseitigungsanspruch bezeichnet, finde nach vorherrschender, vom B V e r w G geteilter Auffassung 31 seine Grundlage i m Verfassungsrecht. Der Eingriffsbegriff und entsprechend der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes müßten also auch für faktische Beeinträchtigungen gelten. Da man nicht für jede faktische Grundrechtseinwirkung eine gesetzliche Grundlage fordern könne, müsse es genügen, wenn Errichtung und Unterhaltung der Einwirkungsquelle auf einer gesetzlichen Grundlage beruhten 3 2 . Als eine solche gesetzliche Grundlage sieht Papier nun aber — i m Unterschied zu Martens — auch die privatrechtliche Bestimmung des § 906 BGB an, die auch i m öffentlichen Recht gelten müsse, da dort eine entsprechende verwaltungsrechtliche Eigentumsausformung fehle 38 . N u r 27
Martens, Festschrift f ü r Schack, S. 92. Martens, Festschrift f ü r Schack, S. 94. 29 Martens, Festschrift f ü r Schack, S. 94. Martens sind Memmert, Der öffentlich-rechtliche Abwehranspruch gegen Immissionen der öffentlichen Hand, S. 155, u n d Abêe, Der negatorische Rechtsschutz gegen Immissionen von lebenswichtigen Privatbetrieben u n d Einrichtungen der öffentlichen Hand, S. 130, weitgehend gefolgt. 30 Papier, N J W 1974,1798. 81 BVerwG, 25. 8. 1971, DVB1 1971, 858. 32 N J W 1974,1799. 33 N J W 1974, 1799 r. Sp., gegen die Auffassung Rupps, Grundfragen, S. 235, daß das Eigentum i m Verhältnis zur öffentlichen Gewalt n u r durch V e r w a l 28
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soweit die Grenze des § 906 BGB überschritten werde, bedürfe es einer besonderen gesetzlichen Grundlage des öffentlichen Rechts für die Verwaltungseinrichtung, für die dann auch das Übermaßverbot gelte 34 . Während Papier diese Überlegungen für die hoheitlichen E i n w i r k u n gen anstellt, die also insbesondere auf eine öffentlich-rechtlich betriebene Anlage zurückgehen, unterzieht er die Immissionen aufgrund p r i vatrechtlicher Nutzung, also von Anlagen, die zwar der Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben dienen, aber i n privatrechtlichen Formen betrieben werden, noch einer besonderen Betrachtung. Papier kennzeichnet diese Fallgruppe m i t dem Begriff des „Verwaltungsprivatrechts". Er rechnet dazu einmal die ausdrücklich geregelten Fälle der §§11 LuftVG, 7 V AtomGes, 17 V I BFernStrG, dann aber auch das Anwendungsgebiet des Grundsatzes vom lebenswichtigen Betrieb, ohne insoweit Beispiele zu nennen 35 . Der allgemeine Grundsatz von der Lebenswichtigkeit des Betriebes reiche i n diesen Fällen nicht aus. Der Abwehrfunktion des Eigentums sei vielmehr nur Rechnung getragen, wenn die Einwendungen des Nachbarn vorher i n einem Genehmigungs- und Planfeststellungsverfahren gehört seien. Sie könnten also nicht uneingeschränkt ausgeschlossen werden 3 6 . Eine entsprechende Wirkung habe dagegen nicht das Β augenehmigungs verfahr en 37 . Eine privatrechtliche Nutzung der öffentlichen Hand i m Sinne einer erwerbswirtschaftlichen Nutzung wollen sowohl Martens 3 8 wie Papier 3 9 voll dem privaten Nachbarrecht unterstellen. Eine differenzierte Untersuchung des Problems hat Breuer durchgeführt 4 0 . Breuer beschränkt die Untersuchung zwar auf öffentliche K o m munikationsanlagen. Er versteht darunter vor allem Straßen, Linien öffentlicher Verkehrsmittel und Versorgungsanlagen 41 . M i t dieser A b grenzung ist jedoch sachlich die bedeutsamste Fallgruppe des „lebenswichtigen Betriebes" erfaßt. Breuer leitet den öffentlich-rechtlichen Charakter der Beziehungen zwischen öffentlichen, hoheitlich geführten Kommunikationsanlagen — wie i m übrigen auch sonstigen hoheitlichen Verwaltungseinrichtungen — tungsrechtssätze konstituiert w i r d , auf die sich auch Martens, Festschrift für Schack, S. 94 A n m . 72, beruft. 84 N J W 1974,1800 1. Sp. 85 N J W 1974,1800. 86 N J W 1974,1801. 87 N J W 1974,1801. 88 Festschrift f ü r Schack, S. 93. 89 N J W 1974,1800 1. Sp. 40 Die Bodennutzung i m K o n f l i k t zwischen Städtebau u n d Eigentumsgarantie, 5. Kapitel, S. 304 ff. 41 Bodennutzung, S. 304.
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und privaten Anliegern und sonstigen Nachbarn daraus ab, daß die Immissionen unmittelbar von einer hoheitlichen Tätigkeit ausgehen 42 . Als Beispiel nennt Breuer die Immissionen aufgrund von Straßenbaumaßnahmen und aufgrund des Inganghaltens einer gemeindlichen Kanalisation. Davon unterscheidet Breuer die Rechtslage, wenn der emittierende Betrieb i n privatrechtlichen Formen abläuft. Als Beispiel nennt Breuer den Straßenverkehr, der sich durch private Teilnahme abspielt, aber auch Eisenbahnen und Straßenbahnen, die i n privatrechtlicher Form betrieben werden 4 3 . I n diesen Fällen ist zu fragen, ob ein öffentliches Sonderrecht existiert, das die Duldungspflicht begründet. Dieses verdrängt das — sonst anwendbare — private Nachbarrecht 44 . Als solches öffentliches Sonderrecht — i m Sinne eines öffentlichen Sachenrechts — sieht Breuer das Planfeststellungsrecht, das Duldungspflichten zu begründen vermag 4 5 . Ein Bebauungsplan paßt ζ. B. zwar Verkehrsflächen nachbarrechtlich i n die Umgebung ein 4 6 . Weder Bundesbaugesetz noch Bebauungsplan können jedoch als öffentliches Sonderrecht gewertet werden. Aus der öffentlich-rechtlichen Gestaltung des Nachbarrechts kann nicht der öffentlich-rechtliche Charakter des gestaltenden Nachbarrechtsverhältnisses gefolgert werden. I n diesen Fällen des Bebauungsplans oder wenn sowohl Planfeststellung wie Bebauungsplan fehlen, ζ. B. bei minder bedeutenden Verkehrsanlagen, beruht die öffentlich-rechtliche Duldungspflicht auf dem Widmungsakt 4 7 . Nach der grundsätzlichen Entwicklung des öffentlich-rechtlichen Charakters der Duldungspflicht stellt Breuer die Frage nach dem Umfang der Duldungspflicht 48 . Hier wendet die h. M. wieder die Abgrenzung des § 906 BGB an 4 9 . Die damit von der h. M. unterstellte allgemeine A n wendbarkeit des § 906 BGB ist jedoch nach Breuer eine schlichte Rechtsbehauptung 50 . Der Schutzgehalt der verfassungsrechtlichen Eigentumsgarantie kann nicht mit dem Inhalt der privatrechtlichen Eigentumsordnung gleichgesetzt werden. Auch brauchen privates und öffentliches Nachbarrecht i n ihren Kriterien nicht notwendig übereinzustimmen. 42 Bodennutzung, S. 333. Breuer lehnt i n diesem Zusammenhang eine Differenzierung zwischen obrigkeitlicher u n d schlichthoheitlicher Tätigkeit als dogmatisch nicht zu begründen ab, S. 333, A n m . 126. 43 Bodennutzung, S. 334. 44 Bodennutzung, S. 334. 45 Bodennutzung, S. 335. 46 Bodennutzung, S. 335 A n m . 136 unter Hinweis auf Geizer, Bauplanungsrecht, Rdnr. 130,131, 214. 47 Bodennutzung, S. 336. 48 Bodennutzung, S. 339 ff. 49 Bodennutzung, S. 340, m i t ausführlichen Nachweisen S. 340 A n m . 154. 50 Bodennutzung, S. 341.
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Sachgerechte Kriterien müssen vielmehr das funktionale Verhältnis benachbarter Nutzungen berücksichtigen 51 . Nach privatem Nachbarrecht kann der Nachbar eine Bodennutzung nur dort verwirklichen, wo sie m i t dem status quo i n Einklang steht, dagegen kommt den öffentlichen Kommunikationsanlagen eine dynamische Aufgabenstellung zu 5 2 . I m Ergebnis geht die Duldungspflicht damit weiter als nach § 906 BGB 5 3 . Die Rechtsprechung des B G H zur Duldungspflicht 54 i m Bereich öffentlicher Betriebe geht von zwei unterschiedlichen gedanklichen Ansätzen aus. Einmal geht der B G H — i n seinem Urteil vom 18. 3. 196455 — von dem Grundsatz aus, daß die privatrechtlichen Abgrenzungen des § 906 BGB maßgebend sind, wenn sich ein Träger öffentlicher Gewalt bei der Ausnutzung und Verwendung seines Grundstücks der allgemein verbindlichen Rechtssätze der Privatrechtsordnung bedient. Der B G H wendet i n dieser Entscheidung privates Nachbarrecht auf den von einer Kirmesveranstaltung ausgehenden L ä r m an. I n seiner Entscheidung vom 17. 11. 196756 gibt der B G H den privatrechtlichen Anspruch auf Unterlassung von Belästigungen durch Geräusche einer Fontänenanlage i n einem städtischen Park. Von einer besonderen Duldungspflicht aufgrund Lebenswichtigkeit des Betriebes ist hier nicht die Rede. Die Entscheidung des B G H vom 12. 12. 197557 hält allerdings für einen Abwehranspruch gegen Geräuschimmissionen von einem i m Bebauungsplan vorgesehenen Kinderspielplatz den Verwaltungsrechtsweg für gegeben, weil die beeinträchtigende Einrichtung i n einem öffentlich-rechtlichen Planungsund Funktionszusammenhang stehe 58 . Sodann w i r d gegen hoheitliches Tätigwerden die uneingeschränkte Abwehrklage zwar versagt, aber — i n Fortführung der Rechtsprechung des RG 5 9 — doch ein privatrechtlicher Anspruch auf Schutzvorkehrungen gegen Störungen gegeben, die zu keiner wesentlichen Änderung der Anlage führen 6 0 . I n den Entscheidungen vom 2. 6. 1969 61 und vom 3. 12. 1971«2 läßt der B G H diese Frage dann aber offen. Er führt insbesondere Bedenken an, ob angesichts des 51
Bodennutzung, S. 341. Bodennutzung, S. 342. 53 Bodennutzung, S. 343. 54 Diese ist zu unterscheiden von der Rechtsprechung zur Frage, ob der Entschädigungsanspruch privatrechtlich oder öffentlich-rechtlich ist. 55 B G H Z 41, 264 unter Hinweis auf Wolff, Verwaltungsrecht I, 5. Auflage, § 22 I I . 56 B G H DVB11968,148. 57 D Ö V 1976, 390. 58 Unter Hinweis auf BVerwG, 2. 11.1973, DVB1 1974, 239 f. 59 Insbesondere RG, 2. 9.1938, J W 1938, 2969. eo BGH, 13. 11. 1964, DVB1 1965, 157 = M D R 1965, 196. 61 DVB1 1970, 273, 275. 62 JR 1972, 256. 52
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ausgebauten Verwaltungsrechtsschutzes diese Rechtsprechung nicht als überholt angesehen werden müsse 63 . Damit sind praktisch beide Ansätze des BGH, einmal für einen uneingeschränkten und dann für einen eingeschränkten privatrechtlichen Abwehranspruch, aufgegeben. I n nicht anderem Sinne wie der Kinderspielplatz stand auch die Benutzung des Geländes für die Kirmesveranstaltung und der Betrieb der Fontänenanlage i n dem öffentlichen Park i n einem öffentlich-rechtlichen Planungs- und Funktionszusammenhang 6 4 . Auch die vom B G H gegen den eingeschränkten Abwehranspruch selbst angemeldeten Bedenken erscheinen begründet. Wenn aber die Duldungspflicht i n diesen Fällen nach öffentlichem Recht zu beurteilen ist, auf welcher Rechtsgrundlage beruht sie? Das BVerwG prüft bei Abwehrklagen gegen die Errichtung von Kinderspielplätzen 6 5 und gegen die Errichtung eines Parkplatzes 66 nicht etwa den Grundsatz vom lebenswichtigen Betrieb, sondern ob diese Anlagen durch die Bauplanung gedeckt sind. Geprüft werden die subjektiven Nachbarrechte des öffentlichen Rechts i n der Ausgestaltung, die sie i m öffentlichen Recht gefunden haben. Das private Nachbarrecht m i t seinen A b grenzungen spielt keine Rolle mehr. 3. Eigene Lösung auf der Grundlage der i m 1. Kapitel erarbeiteten Konzeption a) Der eigene Lösungsansatz. Stellungnahme zur Literatur
W i r setzen auch für das Verhältnis der privaten Nachbarn zum „lebenswichtigen Betrieb "einen nachbarlichen Konflikt u m die Fortentwicklung des Raumes voraus, wie w i r i h n i m 1. Kapitel für das Verhältnis der privaten Grundstücksnachbarn zueinander zugrunde gelegt haben. Über diesen Konflikt w i r d entweder durch den Bebauungsplan unter Beachtung des § 1 V I I BBauG, nach §§ 34 und 35 BBauG 6 7 oder i n einem Planfeststellungsbeschluß entschieden, sofern es sich um einen Fall der Fachplanung handelt und eine Planfeststellung erforderlich ist, also z. B. nicht etwa deswegen unterbleiben kann, weil ein Bebauungsplan nach § 9 BBauG vorliegt 6 8 . Nachbarrechtlich-immissionsrechtlich ®3 B G H JR 1972, 257. e4 I m Ergebnis so auch Ule / Fittschen, J Z 1965, 315, zu B G H Z 41, 264 u n d Martens, DVB1 1968,150 zu B G H DVB1 1968,148. 85 BVerwG, 16. 2. 1973, DVB1 1973, 635 u n d 21. 6. 1974, DVB1 1974, 777. ββ BVerwG, 1.11.1974, N J W 1975, 841. 67 Vgl. zur Erforderlichkeit einer Prüfung der planungsrechtlichen Seite öffentlicher Bauten v o r allem Scheerbarth, Das allgemeine Bauordnungsrecht, § 159, S. 410. 68 Vgl. ζ. B. für Bundesfernstraßen § 17 I I I BFernStrG.
I. Problemstellung u n d Entwicklung der eigenen Konzeption
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relevante Fälle der Fachplanung sind insbesondere die straßenbaurechtliche Planfeststellung nach dem BFernStrG und den Landesstraßengesetzen, die personenbeförderungsrechtliche Planfeststellung nach § 28 PBefG (Straßenbahnen), weiter die luftverkehrsrechtliche Planfeststellung nach § 8 L u f t V G (mit der ausdrücklichen Regelung der nachbarlichen Problematik i n §§ 11 LuftVG, 14 BImSchG) und die eisenbahnrechtliche Planfeststellung nach § 36 BBahnG 6 9 . Für den damit erfaßten Bereich einer planungsrechtlichen Entscheidung über nachbarliche I n terressen hat § 906 BGB nicht mehr die Bedeutung einer allgemein verbindlichen Grenze, die aus besonderem Grunde überschritten werden kann. § 906 BGB ist vielmehr auch hier auf die vorliegende Raumentwicklung von vornherein nicht anwendbar. Diese These ist i m folgenden weiter zu erhärten. Zunächst soll unser Ansatz jedoch i n eine Beziehung zu den vorstehend wiedergegebenen Meinungen i n der Literatur gesetzt werden. I n den vorliegenden Untersuchungen sind jeweils mehrere gedankliche Motive ineinander verwoben, so daß sich bei jedem der Autoren doch ein recht kompliziertes B i l d ergibt. Die Stellungnahme soll sich daher auf einige — nach unserer Auffassung zentrale — Punkte beschränken. Der hier vertretenen Auffassung steht Breuer am nächsten. Der grundlegende Ansatz i n der neueren Literatur liegt u. E. i n der Frage, ob öffentliche Betriebe nicht deshalb, weil sie öffentlich sind, auch einer Rechtsgrundlage des öffentlichen Rechts für die von ihnen ausgehenden Immissionen bedürfen. Die Bestimmung des § 906 BGB erscheint allein schon deshalb, weil sie privatrechtlich ist, als nicht auf öffentliche Betriebe anwendbar. Dieser Ansatz kommt bei Martens i n der Auffassung einer unterschiedlichen „Lagerung" des privatrechtlichen und des staatsgerichteten Eigentums zum Ausdruck. Die Bestimmung des Eigentumsinhaltes i n „Vertikalsicht" soll, so Martens unter Berufung auf Rupp, notwendigerweise anderen Prinzipien folgen als denen, die den Vorschriften zum Ausgleich konkurrierender Nutzungsinteressen gleichberechtigter privater Rechtsträger zugrundeliegen 70 . Auch Papier 7 1 69
Vgl. zu diesen Verfahren u n d ihren Rechtsgrundlagen i m einzelnen Hoppe, Rechtsschutz bei der Planung von Straßen und anderen Verkehrsanlagen, Rdz. 15 - 19, S. 7 ff. 70 Festschrift f ü r Schack, S. 94. Die entscheidende Stelle bei Rupp, G r u n d fragen, S. 232, 233, heißt: „Denn i n der ganz anderen U m w e l t des öffentlichen Rechts lassen sich jene v o m Rechtsgutdenken eingeschwemmten „Rechtsgüter", „Rechte" oder „rechtlich geschützten Interessen" des Zivilrechts n u r als „erstarrte Rechtsblöcke" dynamischer Rechtsrelationen des Privatrechts begreifen, die, aus i h r e m Wurzelgrund gerissen, i n sich zusammenfallen, wenn sie i n die ganz anders dimensionierte D y n a m i k des öffentlichen Rechts geraten. I n eine D y n a m i k nämlich, i n welcher das Individualinteresse nicht einem anderen Individualinteresse, sondern u n v e r m i t t e l t dem öffentlichen Interesse gegenübertritt, sich also i n einer Polarität bewegt, i n der notwendig andere
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beruft sich i n diesem Zusammenhang auf Rupp, wenn er auch der A u f fassung ist, daß bei Fehlen besonderer Rechtssätze des Verwaltungsrechts § 906 BGB anwendbar bleibt. Breuer zieht aus dem hoheitlichen Charakter der der Emission zugrundeliegenden Tätigkeit den Schluß, daß die Rechtsbeziehung zwischen öffentlichem Betrieb und Nachbar öffentlich-rechtlich sei, womit dann der Anwendung des Privatrechts bereits der Boden entzogen ist. I n diesen grundsätzlichen Überlegungen der Autoren spiegelt sich die überkommene Trennung von Privatrecht und öffentlichem Recht wider. Sie präjudiziert weitgehend die auf dieser Grundlage erzielten Ergebnisse: Der Anwendung der privatrechtlichen Normen steht man mit Skepsis gegenüber, teilweise w i r d eine unklare Vermischung m i t Vorrang des öffentlichen Rechts vertreten 7 2 , die öffentlich-rechtlichen Normen sind anwendbar, man kann aber nicht auf ein ausgebildetes öffentlichrechtliches Nachbarrecht, das gewissermaßen i m öffentlichen Recht den § 906 BGB ersetzt, zurückgreifen. So beruft sich Martens auf die öffentlich-rechtlichen Vorschriften, auf denen Bestand, Unterhaltung und Betrieb der Verwaltungseinrichtungen beruht. Ganz bezeichnend für diese Komplikation sind die Lösungen von Memmert und Abée, die die Legitimationsgrundlage i n den Normen sehen, die die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung umreißen 73 . Hier erhebt sich doch die Frage, warum gerade diese Normen, einmal abgesehen davon, daß sie öffentlich-rechtlich sind, den § 906 BGB ersetzen sollen. Es fehlt bereits eine Analyse, was § 906 BGB eigentlich bei privatrechtlicher Anwendung regelt. Eine solche Analyse müßte doch Voraussetzung für die Prüfung sein, ob § 906 BGB auch auf öffentliche Betriebe anwendbar ist und welche Lösung — i m Falle der Nichtanwendbarkeit — an die Stelle des § 906 BGB treten soll. A l l e i n auf der Grundlage einer Unterscheidung von privatem und öffentlichem Recht — m i t der Grundannahme beiderseits unterschiedlich dimensionierter Rechte und Pflichten 74 — läßt sich eine überzeugende Lösung der Problematik u. E. nicht erarbeiten. D i e h i e r v e r t r e t e n e L ö s u n g g e h t d a v o n aus, daß das P l a n u n g s r e c h t — als a u f die R a u m e n t w i c k l u n g bezogenes Recht — auch das V e r Proportionen u n d Interessenkollisionen herrschen, andere N o r m - u n d Pflichtinhalte bestehen u n d deshalb auch etwaige Schutzrechte des einzelnen ganz andere Funktionen u n d Zwecke zu erfüllen haben als jene des Zivilrechts." — A u f diesen Grundgedanken Rupps beruft sich auch Memmert, S. 118, u m die Notwendigkeit eines eigenständigen öffentlichen Nachbarrechts zu begründen. Z u dieser Lehre Rupps vgl. auch die Schrift des Verfassers, Das subjektive 71 Recht der Rechtgewinnung, S. 12,148 ff., 164 ff. Ni JmWProzeß 74,1799. 72 73 74
So Abée, S. 134 ff. Memmert, S. 155, Abée, S. 130. Vgl. dazu Rupp, Grundfragen, S. 233.
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hältnis von öffentlichem Betrieb und privaten Nachbarn — verstanden als nachbarlicher K o n f l i k t — bestimmt. Insoweit stellt sich die Frage der Konkurrenz des öffentlichen Hechts zu § 906 BGB gar nicht, weil die konkurrierende Materie das Raumentwicklungsrecht ist, welches das Verhältnis der privaten Nachbarn regelt. Dieses Verhältnis ist aber auch durch öffentlich-rechtliches Planungsrecht geregelt. Der Schnitt verläuft also nicht zwischen § 906 BGB und den öffentlich-rechtlichen Normen, wie die herangezogenen Autoren mit ihrer Problembehandlung unterstellen, sondern zwischen dem Raumentwicklungsrecht i n der Anwendung auf das Verhältnis privater Nachbarn zueinander einerseits und i n Anwendung auf das Verhältnis von privaten Nachbarn und öffentlichem Betrieb andererseits. N u n bleibt allerdings i m Privatrecht für das Verhältnis Privater zueinander ein Raum der A n wendung für § 906 BGB, den w i r i m 1. Kapitel als Nutzungskonflikt auf der Grundlage des status quo bezeichnet haben, der also die bauliche Gestaltung des Raumes voraussetzt 75 . Für diese Fallgruppe (Nutzungsexzeß auf der Grundlage vorgegebener baulicher Gestaltung) könnte man die Anwendung des § 906 BGB auch i n Betracht ziehen, wenn der Störende ein öffentlicher Betrieb ist. Richtiger erscheint es allerdings, i n diesen Fällen einen öffentlich-rechtlichen Abwehranspruch auf der Grundlage des Prinzips der Verhältnismäßigkeit zu geben, um dem öffentlich-rechtlichen Charakter des Verhältnisses Rechnung zu tragen 76 . Die diesem Anspruch zugrundeliegende Wertung entspricht aber der des § 906 BGB, so daß auch insoweit die Konformität der rechtlichen Behandlung von nachbarlichem Nutzungskonflikt einerseits und nachbarlichem Raumentwicklungskonflikt andererseits gewahrt bleibt. Die Bedeutung des Planungsrechtes für die nachbarliche Duldungspflicht gegenüber öffentlichen Betrieben w i r d auch i m Schrifttum hervorgehoben. Vor allem Papier 7 7 hat auf diesen Gesichtspunkt hingewiesen. Neuerdings weist Breuer dem Planungsrecht für die vorliegende Problematik wichtige Bedeutung zu. A u f seine Überlegungen soll näher eingegangen werden, weil er i m Ergebnis doch zu einer anderen Sicht des Verhältnisses von § 906 BGB und Planungsrecht kommt, als sie i n dieser Arbeit vertreten wird. Breuer sieht als Rechtsgrundlage der Duldungspflicht vor allem die Planfeststellung i n den Fällen der Fachplanung 78 und die Widmung einer Sache zum öffentlichen Gebrauch, soweit keine Planfeststellung vor75
Vgl. zu dieser Fallgruppe i m einzelnen 3. K a p i t e l unter V I . So i m Ergebnis auch Martens, Festschrift für Schack, S. 94, Memmert, S. 178, Papier, N J W 1974, 1800 1. Sp., die alle den Bestand des Betriebs voraussetzen, aber gegen „Übermaß" den Abwehranspruch geben. 77 N J W 1974,1801. 78 Bodennutzung, S. 335. 76
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2. Kap.: Priv. u. öffentl. Nachbarrecht u n d lebenswichtiger Betrieb
liegt 7 0 . Die Dynamik des — bei folgerichtiger Gedankenführung doch vor allem durch Planungsakte bestimmten — öffentlichen Nachbarrechts beruht nach seiner Auffassung aber vor allem auf der spezifischen A u f gabenstellung der öffentlichen Kommunikationsanlagen 8 0 . Zwei Gesichtspunkte begründen nach Breuer diese Dynamik: Einmal sind diese Anlagen laufend am Stand und an der Förderung des sozialen, w i r t schaftlichen und technischen Fortschritts auszurichten, ohne jeweils ihren Standort wechseln zu können. Zum anderen sind die Kommunikationsanlagen als Strecken oder Linien nicht auf enge Räume und deren introvertierte Konservierung zugeschnitten, sondern ihrer Funktion nach grenzüberschreitend und verbindend 8 1 . Der Private v e r w i r k licht nach Breuer dagegen eine neue Bodennutzung dort, wo sie m i t dem status quo i n Einklang steht. Ein Wandel der Ortsüblichkeit kann nur unter der Hand eintreten, wenn Nachbarn die Abwehr neuartiger emittierender Nutzungen versäumen und diese zum Bestandteil des status quo werden 8 2 . M i t dieser Bestimmung der Dynamik aufgrund der Interessen eines der beteiligten Nachbarn, nämlich der öffentlichen Anlage, t r i f f t Breuer nicht die Dynamik des Planungsrechtes als einer Entscheidung über Raumentwicklungskonflikte, von der w i r i n dieser Arbeit ausgehen. Dieser Dynamik des Planungsrechts sind auch die privaten Nachbarn untereinander unterworfen, soweit es sich um die bauliche Gestaltung des Raumes handelt. Breuer sieht dagegen das Verhältnis Privater zueinander nur als Nebeneinanderreihung privater Einzelnutzungen 83 . Entsprechend kommt er zu der Auffassung, daß ein Wandel der Ortsüblichkeit durch neue Bauvorhaben von dem Nachbarn verhindert werden kann 8 4 . Er sieht diesen Wandel also nicht als Folge einer legitimen Raumentwicklung. Bei der Bestimmung des Verhältnisses von § 906 BGB und öffentlichem Nachbarrecht der öffentlichen Kommunikationsanlagen geht Breuer also i m Ergebnis doch nicht vom Planungsrecht aus, sondern von dem Gegeneinander eines i n seiner Anwendungsbreite nicht abgeklärten, insgesamt statisch verstandenen § 906 BGB und der Dynamik einer ganz bestimmten öffentlichen Nutzung selbst. Die Lösung der Immissionsproblematik des lebenswichtigen Betriebes und damit auch der öffentlichen Kommunikationsanlagen ist u.E. jedoch nur möglich auf der Grundlage einer Klärung des Verhältnisses von § 906 BGB und Planungs79 80 81 82 83 84
Bodennutzung, Bodennutzung, Bodennutzung, Bodennutzung, Bodennutzung, Bodennutzung,
S. 336. S. 341. S. 342. S. 342. S. 344. S. 342 oben.
I. Problemstellung u n d E n t w i c k l u n g der eigenen Konzeption
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recht, dem auch der lebenswichtige Betrieb unterliegt. Dieses Verhältnis von § 906 BGB und Planungsrecht läßt sich am ehesten für die Raumentwicklung i m Verhältnis privater Nachbarn zueinander klären. Diesen Weg, der zu einer Einschränkung der Anwendbarkeit des § 906 BGB führt, sind w i r i m 1. Kapitel gegangen. Wenn man diese Problematik ausspart, fehlt auch weitgehend die Grundlage für eine Lösung der I m misionsproblematik der öffentlichen Betriebe. Es liegt dann nämlich nahe, die gesteigerte Duldungspflicht auf den öffentlichen Zweck der Anlage zurückzuführen, statt i n ihr die Folge einer Raumentwicklungsentscheidung zu sehen, die auch zugunsten Privater ergehen kann. I n der Konsequenz der starken Betonung des Planungsrechts durch Breuer 8 5 liegt durchaus die Annahme eines Verhältnisses von § 906 BGB und Planungsrecht, wie sie hier vertreten wird. I m Ergebnis führt Breuer diesen Ansatz jedoch nicht durch. Die Problematik der Lösung Breuers w i r d deutlich, wenn er die A u f fassung vertritt, für öffentliche Anlagen stationärer A r t , ζ. B. Gefängnisse, Schulen, Abfallbeseitigungsanlagen, könne das öffentliche Nachbarrecht eher an die §§ 906 ff. BGB anzulehnen sein, weil i n diesen Fällen die Dynamik aufgrund der spezifischen Aufgabenstellung der öffentlichen Kommunikationsanlagen fehle 86 . W i r wenden auch auf diese A n lagen §§ 1004, 906 BGB — soweit ihr Bestand i n Frage gestellt w i r d — nicht an, weil Grundlage ihrer Errichtung nur Planungsakte nach BBauG (in dem i m 1. Kapitel unter I I 3 herausgearbeiteten Sinne) sein können und diese auch eine von der gerade ortsüblichen Nutzung abweichende Raumentwicklung legitimieren können. N u n analysiert Breuer auch die Wirkung der Planung auf privatrechtliche Abwehransprüche. Die Problematik bleibt hier aber doch i n einem ganz bezeichnenden Punkte ungelöst. Den Planfeststellungsbeschluß i n den Fällen der Fachplanung ordnet Breuer i m Ergebnis so ein, wie das i n dieser Arbeit geschieht. Hinsichtlich der Nachbarrechtsgestaltung sind die Würfel m i t der Planfeststellung gefallen 87 . Zwiespältig bleibt aber die Würdigung des Bebauungsplans. Einerseits w i r k t er nach Breuer nachbarrechtsgestaltend m i t dem Inhalt, daß festgesetzte Anlagen von der Nachbarschaft geduldet werden müssen 88 , andererseits faßt Breuer weder das BBauG noch einen Bebauungsplan als öffentliches Sonderrecht für bestimmte Anlagen auf, welches — nach dem vorher entwikkelten Ansatz 8 9 — die öffentlich-rechtliche Duldungspflicht erst begründet. Den durch Bebauungsplan festgelegten Anlagen soll vielmehr erst durch die Widmung zur öffentlichen Sache ein öffentlich-rechtlicher 85 86 87 88 89
Vgl. ζ. B. Bodennutzung, S. 335. Bodennutzung, S. 342 A n m . 160. Bodennutzung, S. 335. Bodennutzung, S. 335. Bodennutzung, S. 334.
8 Schapp
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2. Kap.: Priv. u. öffentl. Nachbarrecht u n d lebenswichtiger Betrieb
Sonderstatus verliehen werden. Erst die Widmung schließt dann ihrerseits privatrechtliche Ansprüche auf Beseitigung oder wesentliche Umgestaltungen der Anlage sowie auf Unterlassung des Betriebes aus 90 . Die Zwiespältigkeit bei der Beurteilung des Bebauungsplans ist eine Folge davon, daß bei Breuer das Verhältnis von § 906 BGB und Planungsrecht i m Grunde ungeklärt bleibt. I n den Fachplanungsfällen macht es keine Schwierigkeit, eine Ausschlußwirkung gegenüber privatrechtlichen Ansprüchen anzunehmen, weil diese i n der Regel i n den i n Betracht kommenden Gesetzen selbst angeordnet w i r d 9 1 . Eine entsprechende Bestimmung fehlt für das Planungsrecht des BBauG, andererseits erscheint die Annahme einer nachbarrechtlichen Gestaltung auch durch Bebauungsplan vernünftig. Breuer löst den Widerspruch nicht zur einen oder anderen Seite h i n auf, sondern verschiebt die gestaltende Wirkung i n die Widmung hinein. Bei der Widmung findet aber — i n aller Regel — keine Abwägung der nachbarlichen Belange mehr statt, die nach unserer Auffassung Grundlage der Raumgestaltung ist, soweit die Wirkungen auf die Nachbarn i n Frage stehen. Die Widmung ist i n vielen Fällen zwar zusätzlich erforderlich, damit die planerische Raumgestaltung „vollzogen" werden kann, allein über die Heranziehung der Widmung läßt sich aber i n den Fällen eines bestehenden Bebauungsplanes eine Gleichstellung m i t der Planfeststellung nicht erreichen. Bei dieser Lösung besteht vielmehr die Gefahr, daß der Ausgangspunkt einer spezifisch raumbezogenen Betrachtungsweise aufgegeben wird. Die Untersuchungen Breuers i n diesem Punkt machen ganz deutlich, daß der K e r n der Problematik i n der Frage liegt, i n welchem Sinne die Planungsakte privatrechtliche Abwehransprüche ausschließen. Solange man hier an der konstitutiven Wirkung der Genehmigung nach BImSchG und der Planfeststellungsbeschlüsse festhält, weil ausdrückliche gesetzliche Bestimmungen den Ausschluß anordnen, liegt es nahe, eine Ausschlußwirkung des Planungsaktes des Baurechts zu verneinen, w e i l dort eine entsprechende Bestimmung fehlt. Erst die Problematisierung dieser „konstitutiven Ausschlußwirkung", wie sie i n dieser Arbeit vor allem i m Hinblick auf die Genehmigung nach § 4 ff. BImSchG durchgeführt wurde, schafft das Fundament für eine Lösung der Problematik. Sie eröffnet die Möglichkeit einer Gleichstellung von Genehmigung nach §§ 4 ff. BImSchG, Planfeststellungsbeschlüssen und Planungsakten nach dem BBauG bezüglich ihrer Wirkung auf die privatrechtlichen Abwehransprüche aus §§ 1004, 906, 907 BGB 9 2 . 90
Bodennutzung, S. 336. Nach herrschender Lehre m i t konstitutiver W i r k u n g ; w i r gehen auch insoweit n u r von einer deklaratorischen Bestimmung aus. Vgl. jetzt auch die generelle Bestimmung i n § 75 I I 1 V w V f G . 92 Weitere Ausführungen zu diesem Fragenkreis i m 3. K a p i t e l unter I. 91
I. Problemstellung u n d E n t w i c k l u n g der eigenen Konzeption
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b) Das Verhältnis von privaten und öffentlichen nachbarlichen Interessen in den Fällen des lebenswichtigen Betriebes, entwickelt anhand der Fachplanung
I n der vorstehenden Untersuchung kam es uns zunächst darauf an, die These, daß auch i n den Fällen des lebenswichtigen Betriebes über einen nachbarlichen Konflikt durch Planungsrecht m i t nachbarrechtsgestaltender Wirkung entschieden wird, i n ein Verhältnis zu den Lösungen zu setzen, die i n der Literatur vertreten werden. Es soll nun genauer untersucht werden, w o r i n i n den Fällen des lebenswichtigen Betriebes die Entscheidung über den nachbarlichen Konflikt liegt, und vor allem, i n welchem Verhältnis die nachbarlichen Interessen zueinander stehen. Schwierigkeiten macht insbesondere die Einordnung der „öffentlichen Interessen". W i r untersuchen die Problematik am Fall der fernstraßenrechtlichen Planfeststellung, weil w i r uns hier auf das Urteil des BVerwG vom 14. 2. 197593 stützen können, das sehr differenzierte Unterscheidungen für die hier aufgeworfenen Fragen bringt. Die erzielten Ergebnisse sind, wie sich aus den folgenden Ausführungen ohne weiteres ergibt, auch auf die anderen bereits erwähnten Fachplanungsfälle 94 und auch auf die Planungsakte aufgrund des BBauG anwendbar. Die Entscheidung des BVerwG vom 14. 2. 1975 geht — für die fernstraßenrechtliche Planung — von dem Gedanken der planerischen Gestaltungsfreiheit aus 95 . Diese w i r d als unter vier Gesichtspunkten eingeschränkt angesehen: Schranken ergeben sich — erstens — aus der behördeninternen Bindung der Planfeststellungsbehörde an die vorbereitende Planungsentscheidung des Bundesministers für Verkehr, — zweitens — aus dem Erfordernis einer der fernstraßenrechtlichen Zielsetzung entsprechenden Rechtfertigung des konkreten Planvorhabens, — drittens — nach Maßgabe der gesetzlichen Planungsleitsätze sowie — viertens — aus den Anforderungen des Abwägungsgebotes 96 . Die Geltung des Abwägungsgebotes, also des Gebots, die von der Planung berührten öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen, folgert das BVerwG aus dem Wesen der rechtsstaatlichen Planung überhaupt. Es gelte unabhängig von einer gesetzlichen Positivierung allgemein 97 . Die Ausführungen des Urteils zur Abwägung lassen sich aus diesem Grunde auch auf die anderen Fälle der Fachplanung, die ebenso Fälle rechtsstaatlicher Planung sind, anwenden 98 . 98
B V e r w G E 48, 56 ff. Vgl. oben S. 109. 95 B V e r w G E 48, 56, 59. 96 B V e r w G E 48, 56, Leitsatz 1. 97 B V e r w G E 48, 63; vorher schon BVerwG, 23. 10. 1968, D Ö V 1969, 503; 30. 4. 1969, DVB1 1969, 697; 12. 12. 1969, E 34, 301; 20. 10. 1972, E 41, 67. 98 Z u r A n w e n d u n g auf Gebietsreformen siehe vor allem Stüer, DVB1 1977,1 ff. 94
8*
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2. Kap.: Priv. u. öffentl. Nachbarrecht u n d lebenswichtiger Betrieb
Bedeutsam für unsere Untersuchung ist nun, daß über den nachbarlichen Konflikt aufgrund dieses Abwägungsgebotes entschieden wird. Das ergibt sich einmal aus dem Hinweis des Urteils, daß die für die A b wägung beachtlichen privaten Belange alle rechtlichen und tatsächlichen Interessen der von der Planung nachteilig Betroffenen, also auch der zukünftigen Nachbarn der Anlage, sind". Dann bezeichnet das Urteil aber auch den Immissionschutz nicht als Planimgsleitsatz gemäß der dritten Schranke für die planerische Gestaltungsfreiheit, sondern als abwägungserheblichen Belang i m Rahmen der vierten Schranke, nämlich des Abwägungsgebotes 100 . Der Immissionsschutz ist aber das wichtigste nachbarliche Interesse, seine Problematik prägt den gesamten nachbarlichen Konflikt um die Raumentwicklung. Es kann also festgestellt werden, daß auch i n den Fachplanungsfällen über den baulichen Raumentwicklungskonflikt der Nachbarn aufgrund eines Abwägungsgebotes entschieden wird, das sich von dem Abwägungsgebot nach § 1 V I I BBauG i m Grundsatz nicht unterscheidet 101 , weil dieses Abwägungsgebot aus dem Wesen rechtsstaatlicher Planung selbst folgt. Da der Immissionsschutz vom BVerwG nur auf das Abwägungsgebot bezogen wird, kann die naheliegende Frage, i n welcher Beziehung das nachbarliche Interesse zu den drei vorhergehenden Schranken der planerischen Gestaltungsfreiheit steht, nämlich zur vorbereitenden Planungsentscheidung, zur Erforderlichkeit des Vorhabens überhaupt und zu den gesetzlichen Planungsleitsätzen, hier dahingestellt bleiben. Die Bemerkung des Gerichts, alles das, was die Planfeststellungsbehörde unter Berücksichtigung dieser rechtlichen Voraussetzungen planerisch entscheide, stehe unter den Beschränkungen, die sich aus den Anforderungen des Abwägungsgebotes ergäben 102 , könnte so verstanden werden, daß auch diese Voraussetzungen noch i n die Abwägung selbst m i t einbezogen und damit auch i n ein Verhältnis zu den nachbarlichen I n terressen gesetzt werden müssen. Die Frage braucht hier nicht entschieden zu werden, da der nachbarliche Konflikt um die Immissionsbelastung vom BVerwG eindeutig dem Abwägungsgebot unterstellt wird. Wenn man von der Geltung des Abwägungsgebotes i n den Fachplanungsfällen ausgeht, stellt sich — i m Sinne unseres Ansatzes vom nachbarlichen Konflikt her — die weitere Frage, welche nachbarlichen I n teressen einander i n dem Konflikt gegenüberstehen, über die aufgrund gerechter Abwägung dann entschieden wird. Problematisch ist hier insbesondere die Einordnung des betroffenen öffentlichen Interesses. W i r 99
B V e r w G E 48, 65. Die Numerierung der Schranken beruht auf dem oben wiedergegebenen Leitsatz 1 des Urteils v o m 14. 2.1975. 101 Vgl. B V e r w G E 48, 63. 102 B V e r w G E 48, 59. 100
I. Problemstellung u n d E n t w i c k l u n g der eigenen Konzeption
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kommen damit — i m Rahmen unserer Analyse — an den Kernpunkt der Problematik des lebenswichtigen Betriebes. Die privaten Anlieger der zu errichtenden Anlage haben ein nachbarliches Interesse an möglichst großer Schonung der von ihnen bereits ausgeübten Nutzung. Dieses Interesse unterscheidet sich nicht von dem Interesse der Nachbarn von zu errichtenden Industrieanlagen, wie es i m 1. Kapitel unter I I 3 herausgearbeitet worden ist. I n der Entscheidung vom 14. 2. 1975 sieht das BVerwG als privaten Belang die vom Kläger eingewendeten gesundheitlichen Nachteile an, „zumal i n A n knüpfung an die darin gesehene Beeinträchtigung seines Grundeigentums", wie das BVerwG hinzufügt 1 0 3 . Es kann aber kein Zweifel sein, daß damit nur ein möglicher Belang des Nachbarn herausgehoben wird, denn die Entscheidung charakterisiert die privaten Belange unmittelbar vorher als „alle rechtlichen und tatsächlichen Interessen des von der Planung nachteilig Betroffenen" 1 0 4 . Diese Formulierung deckt sich dem Umfang nach m i t dem hier zugrundegelegten nachbarlichen „Interesse an möglichst großer Schonung". Das diesem privaten Interesse gegenüberstehende öffentliche Interesse sehen w i r i n dem Interesse des Staates (in einem weitesten, die Kommune mit umfassendem Sinne) an der Entfaltung der Nutzungsmöglichkeiten seines Grundeigentums. Damit unterscheidet sich unser Ansatz auch i n bezug auf die andere Seite des nachbarlichen Konflikts nicht von der Lösung i n den Industriefällen des 1. Kapitels. Auch die besonders raumbelastende Nutzung ist Nutzung des Eigentums, und zwar auch dann, wenn sie durch den Staat selbst erfolgt. A l l e i n die Tatsache, daß diese Nutzung zu öffentlichen Zwecken erfolgt, gibt dem aus dem Eigentum fließenden Entfaltungsinteresse keine neue, gewissermaßen vom Eigentum gelöste Qualität 1 0 5 . Aber selbst wenn man dieser Verankerung des Entfaltungsinteresses des Staates i m Grundeigentum skeptisch gegenübersteht, so handelt es sich doch um eine Nutzung, die sich nur auf einem Grundstück befriedigen läßt und sich aus diesem Grunde den Anforderungen des Nachbarverhältnisses — das sich hier als Raumordnungskonflikt darstellt — stellen muß. Schon diese Feststellung genügt für unseren Zweck, die am Konflikt beteiligten Interessen zu lokalisieren. Dieses öffentliche Interesse an der Entfaltung einer bestimmten Grundstücksnutzung ist zu unterscheiden von dem öffentlichen Interesse an der raumgerechten Beschränkung dieser Entfaltung selbst. Dieses öffentliche Interesse schränkt das Entfaltungsinteresse des Staates ein los B V e r w G E 48, 65. 104
B V e r w G E 48, 65. Vgl. hierzu meine A r b e i t „Das subjektive Recht i m Prozeß der Rechtsgewinnung", die davon ausgeht, daß Eigentumsnutzung durch den Staat keine andere Qualität hat als Eigentumsnutzung durch Private. 105
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2. Kap.: Priv. u. öffentl. Nachbarrecht u n d lebenswichtiger Betrieb
und w i r d bis zu einem bestimmten Grade m i t den Nachbarinteressen gleichlaufen. I m Sinne unserer Analyse i m 1. Kapitel handelt es sich dabei um den Konflikt zwischen dem Bauherrn, hier also dem Errichter der öffentlichen Anlage, und dem Staat als Wahrer der Raumordnungsinteressen. Dieses öffentliche Interesse interessiert i m vorliegenden Zusammenhang nicht. Von diesen beiden öffentlichen Interessen ist — als drittes — das öffentliche Interesse zu unterscheiden, Grundeigentum, dessen Entfaltungsinteresse i n dieser Weise definiert und das damit i n den Raum eingefügt ist, auch zu Eigentum zu erlangen, soweit es noch nicht i m Eigentum des Staates steht. Es handelt sich dabei um das öffentliche Interesse, welches Grundlage der Enteignung ist. Es ermöglicht nur die Beschaffung des Grundeigentums selbst, also die Voraussetzung dafür, daß das Grundeigentum i n der vorgesehenen Weise „entfaltet" werden kann. Die Entscheidung des B V e r w G vom 14. 2. 1975 unterscheidet ebenfalls mehrere öffentliche Interessen, ohne daß allerdings die i n dieser Arbeit gemachten Abgrenzungen i n jedem Fall ganz deutlich werden. Dem nachbarlichen Interesse setzt sie alle öffentlichen Belange entgegen, die den Plan zu stützen und die Zurücksetzung der privaten Belange zu rechtfertigen geeignet sind 1 0 6 . Das Urteil zählt als solche Belange auf: Zweckmäßigkeit von Linienführung und technischer Gestaltung der Straße, ihre Wirtschaftlichkeit i n Bau und Unterhaltung, ihre Einwirkung auf die Umgebung, ihre Beziehung zur Raum- und Ortsplanung, ihre Rücksichtnahme bei der notwendigen Inanspruchnahme fremden Grundeigentums sowie auf den Landschafts- und Naturschutz. A l l e diese Belange sollen nicht von Nachbarn m i t der Behauptung, ihnen sei nicht optimal Rechnung getragen, gegen das Vorhaben angeführt, wohl aber von der Planfeststellungsbehörde als — öffentliche — Belange für die Planung eingesetzt werden können 1 0 7 . Von diesen öffentlichen Belangen war vorher das öffentliche Interesse daran, daß überhaupt ein konkretes Straßenbauvorhaben durchgeführt wird, unterschieden worden 1 0 8 . A m Ende der Entscheidung ist davon die Rede, daß ein konkretes Straßenbauvorhaben voraussetzungsgemäß immer i m Sinne von A r t . 14 I I I GG Aufgaben „zum Wohle der Allgemeinheit" erfüllt 1 0 9 . Insbesondere bei den den privaten Interessen entgegengesetzten öffentlichen Belangen unterscheidet das B V e r w G also nicht zwischen solchen, die das konkrete Vorhaben als Eigentumsentfaltungsinteressen stützen, und solchen, die diesen Entfaltungsinteressen selbst wieder als ιοβ B V e r w G E 48, 67. 107 108
B V e r w G E 48, 67. B V e r w G E 48, 61.
ιοβ B V e r w G E 48, 68.
I. Problemstellung u n d E n t w i c k l u n g der eigenen Konzeption
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Raumordnungsinteressen entgegengesetzt werden und daher i m Sinne des Abwägungsgebotes auch m i t den Entfaltungsinteressen zum Ausgleich gebracht werden müssen. Es w i r d also nicht zwischen den öffentlichen Interessen, die für das geplante Vorhaben sprechen, und denen, die für die Planung sprechen, unterschieden. Das enteignungsrechtliche Interesse w i r d dagegen deutlicher von dem Planungsinteresse abgesetzt 110 . N u n ist zu bedenken, daß jeder methodische Ansatz nur eine Ordnungsfunktion haben kann. W i r haben uns i n dieser Arbeit nicht damit begnügt, nur Interessen herauszuarbeiten, sondern beziehen die Interessen auch auf einen Interessenträger und zugleich — i n einem Konflikt — auf Gegeninteressen. Von diesem Ausgangspunkt aus agiert der Staat als Träger der öffentlichen Interessen i n mehreren Rollen, i m vorliegenden Zusammenhang als Träger des Interesses, eine Straße zu bauen und zu betreiben, als Träger des Interesses, Raumordnungsgesichtspunkte zur Geltung zu bringen, und — wenn man genau ist — als Träger des Interesses, über widerstreitende Interessen eine rechtliche Entscheidung zu fällen, also Recht zu setzen und zu garantieren. Die von uns herausgearbeiteten Unterscheidungen entsprechen also dem methodischen Ansatz. Daß unsere — von einem bestimmten methodischen Ansatz ausgehende — Analyse den Verhältnissen gerecht wird, w i r d bestätigt durch eines der wichtigsten praktischen Ergebnisse des Urteils vom 14. 2. 1975, daß nämlich die für das Vorhaben sprechenden öffentlichen Belange gegenüber den privaten bei der Abwägung grundsätzlich nicht privilegiert sind 1 1 1 . Darin kommt zunächst einmal die Abgrenzung des für die Planung maßgeblichen öffentlichen Interesses von dem der Enteignung zugrundeliegenden öffentlichen Interesse zum Ausdruck. Die Entscheidung vom 14. 2. 1975 hebt diesen Unterschied dadurch hervor, daß sie i n bezug auf dieses zweite Interesse von einem spezifisch straßenrechtlichen Gesichtspunkt spricht, der damit von dem vorher erörterten planungsrechtlichen Gesichtspunkt abgehoben w i r d 1 1 2 . Man kann darin aber weiter auch die Gleichordnung der Interessen i m Hinblick auf die Abwägung zum Ausdruck gebracht sehen, die darauf beruht, daß sie beide als Eigentumsnutzungsinteressen „aus derselben Quelle", nämlich dem Eigentum fließen. I n jedem Fall ist dieser Gesichtspunkt selbst eine weitere Begründung dafür, daß das öffentliche Interesse hier gegenüber dem privaten grundsätzlich nicht privilegiert sein kann. Insbesondere Schulte hat die Fälle des lebenswichtigen Betriebes enteignungsrechtlich aufgefaßt, weil das öffentliche Interesse hier ein 110 111 112
Vgl. die Formulierungen B V e r w G E 48, 68. B V e r w G E 48, 67; auch schon BVerwG, 1.11.1974, N J W 1975, 841. B V e r w G E 48, 68.
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Interesse an einem konkreten öffentlichen Vorhaben und damit ein enteignungsrechtliches sei 1 1 3 . W i r sind hier zu weiteren Differenzierungen und damit schließlich auch zu einem anderen Ergebnis gelangt. W i r formulieren dieses Ergebnis noch einmal i m Hinblick auf Schultes Lösung: Das öffentliche Interesse an der Befriedigung des Verkehrsbedürfnisses setzt zweierlei voraus: erstens das Eigentum des Staates an einem Grundstück, auf dem der Verkehr sich abspielen k a n n 1 1 4 ; zweitens aber auch unter planerischem Gesichtspunkt die Eignung dieses Grundstücks für Verkehrszwecke. Beide Aspekte zusammen erfassen erst das konkrete Vorhaben. Wenn unter planerischem Aspekt die Eignung festgestellt ist, liegt darin zugleich eine Grundlage für die Enteignung. Dennoch liegen der Einpassung i n den Baum und der Enteignung verschiedene öffentliche Interessen zugrunde: einmal das öffentliche Interesse an der Raumordnung, zum anderen das Interesse an der Beschaffung eines Grundstücks für ein raumordnerisch festgelegtes Vorhaben. Die Enteignung beruht auf einer planerischen Gestaltung des Eigentumsinhaltes, aber diese ist nicht selbst schon Enteignung 1 1 5 . Die vorgenommene Analyse von nachbarlichen Interessen und planerischer Entscheidung i n einem Fachplanungsfall hat, wie schon dargelegt wurde, ihre Bedeutung i n allen Fällen, i n denen ein „lebenswichtiger Betrieb" durch Planungsakte legitimiert wird. Sie ermöglicht eine A b grenzung zum privatrechtlichen Nachbarrecht und dem durch dieses Recht entschiedenen Konflikt. Auch bei Errichtung eines lebenswichtigen Betriebes w i r d keine privatrechtliche Grenze der Ortsüblichkeit aufgrund öffentlichen Interesses überschritten, sondern dieses öffentliche Interesse w i r d — ohne Privilegierung — i n einem Abwägungsvorgang, entweder i m Rahmen des Planfeststellungsverfahrens, bei Aufstellung des Bebauungsplans oder bei Prüfung der §§ 34 und 35 BBauG, zu den privaten Nachbarinteressen i n Beziehung gesetzt und m i t ihnen zum Ausgleich gebracht. Das Verhältnis der Interessen zueinander und der Entscheidung über diese Interessen ist damit nicht anders, als w i r es i m 1. Kapitel zu § 1 V I I BBauG und §§ 34, 35 BBauG beschrieben haben. Die Konsequenzen, die diese Konzeption des öffentlichen Nachbarrechts der „lebenswichtigen Betriebe" für den Entschädigungsanspruch hat, liegen auf der Hand. Der bürgerlich-rechtliche oder auch öffentlich118 Schulte, Eigentum u n d öffentliches Interesse, S. 160 ff., insbesondere S. 171,172. 114 Der Eigentümerstellung des Staates steht i n einer Reihe von Fällen die Zustimmung des Eigentümers zur W i d m u n g u n d ähnliche Tatbestände gleich, vgl. z. B. §6 I I Landesstraßengesetz NRW, ohne daß diese anderen F a l l gestaltungen aber i m Grundsätzlichen zu einer anderen Bewertung der hier interessierenden Frage führen. 115 So auch BVerwG, 30. 4. 1969, DVB1 1969, 697, wo die Interessenlagen bei Planung u n d i h r nachfolgender Enteignung scharf unterschieden werden.
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rechtliche Aufopferungsanspruch wegen Überschreitung einer privatrechtlichen Grenze ist bei dem angenommenen Verhältnis von privaten und öffentlichen nachbarlichen Interessen nicht mehr möglich. A n seine Stelle t r i t t nach unserer Auffassung auch hier der Anspruch aus § 906 I I 2 BGB, für den die Frage der Ortsüblichkeit der störenden Nutzung keine Holle mehr spielt. W i r gehen auf die Problematik des Entschädidungsanspruchs i m folgenden unter I I vor allem i m Hinblick auf die Straßenverkehrsimmissionen noch näher ein. c) Die Immissionen öffentlicher Betriebe ohne planungsrechtliche Grundlage
W i r waren von dem Gedanken ausgegangen, daß die bauliche Gestaltung des Raumes, auch was die sog. lebenswichtigen Betriebe betrifft, auf Planungsentscheidungen beruht, die — u. a. — das nachbarliche Verhältnis gestalten und insoweit Ansprüche aus §§ 1004, 906 BGB gegen diese Anlage nicht bestehen. Gegen den Nutzungsexzeß durch einen lebenswichtigen Betrieb, soweit er überhaupt praktisch wird, bestehen öffentlich-rechtliche Abwehransprüche aufgrund einer Verletzung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Diese Ansprüche entsprechen den privatrechtlichen Ansprüchen aus §§ 1004, 906 BGB bei einem Nutzungsexzeß durch Private. Es beruht aber nun nicht i n jedem Fall die Errichtung — oder Änderung — eines öffentlichen Betriebes auf einer Planungsentscheidung. A u f einige Fälle, i n denen eine solche Entscheidung fehlt, soll i m folgenden ein Blick geworfen werden. Wie lassen sie sich i n unsere Konzeption einfügen? Problematisch sind vor allem die sog. „alten Anlagen", i n denen ein Planfeststellungsverfahren nicht erfolgt ist und auch eine Planungsentscheidung des Baurechts nicht zugrundeliegt. Sollen sie daraufhin geprüft werden, ob der Nachbar irgendwann einmal Gelegenheit gehabt hat, seine Interessen vor Errichtung der Anlagen zu Gehör zu bringen? I n diesen Fällen muß der allgemeine Grundsatz des RG, daß gegen Betriebe zur Befriedigung von Gemeinschaftsinteressen die Abwehrklage versagt ist, seine Geltung behalten. Z u einem anderen Ergebnis kommen auch Papier und Martens nicht, wenn sie es genügen lassen, daß der Betrieb überhaupt eine gesetzliche Grundlage hat 1 1 6 , die wohl schon i n den Kompetenzregelungen gesehen werden kann, die zur Errichtung der Anlage ermächtigten. Zwar entspricht diese Ausgestaltung der Konfliktslösung nicht mehr unserem heutigen Verständnis vom öffentlichen Nachbarrecht, so daß sie gegenüber der vorstehend unter b) behandelten „ausgestalteten" Fallgruppe nur als Rudiment erscheint, sie muß aber aus praktischen Gründen hingenommen werden 1 1 7 . 116
Papier, N J W 1974,1799 u n d Martens, Festschrift für Schack, S. 94. Es w i r d nicht ganz klar, w a r u m Papier f ü r Anlagen hoheitlicher V e r w a l t u n g rechtssatzmäßige Grundlagen genügen läßt, N J W 1974, 1898 unter 117
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Entscheidend ist für uns, daß diese „gesetzliche Grundlage", ob man sie nun i n dem vom RG angenommenen Grundsatz über die Duldungspflicht zugunsten lebenswichtiger Betriebe oder i n den Errichtung und Bestand der Anlage selbst regelnden Vorschriften sieht, nicht wieder i n das gewohnte Verhältnis zu § 906 BGB gesetzt wird. Das privatrechtliche Abwehrrecht der §§ 1004, 906, 907 BGB kann für die Entscheidung zur Errichtung der alten Anlage, auf welcher gesetzlichen Grundlage sie auch immer beruht, keine andere Bedeutung gehabt haben, als sie heute i m Hinblick auf ein weitgehend ausgestaltetes öffentliches Nachbarrecht feststellbar ist. Weder war diese Entscheidung an diese privatrechtliche Grenze gebunden, noch kann sie als die durch öffentliches Interesse legitimierte Überschreitung dieser Grenze angesehen werden. Etwas überpointiert könnte man sagen, daß diese Entscheidung i n nuce schon den Planungsakt i m heutigen Verständnis enthalten haben muß, wenn auch noch ohne Bewehrung mit subjektiven öffentlichen Nachbarrechten, und daß aus diesem Grunde das Verhältnis zu § 906 BGB sich nicht anders darstellt, als es vorstehend für den „entwickelteren Zustand" gewürdigt worden ist. Damit scheidet auch für diese Fallgruppe ein Aufopferungsanspruch aus, der ja auf diesem „AufOpferungsverhältnis" zu § 906 BGB beruht. Auch insoweit bleibt nur der Entschädigungsanspruch aus § 906 I I 2 BGB. Eine weitere Gruppe bilden die Fälle, i n denen zwar subjektive öffentliche Nachbarrechte gegen öffentliche Vorhaben bestanden, aber nicht durchgesetzt worden sind. Hier beruht die Duldungspflicht auf der unanfechtbaren Planfeststellung bzw. Baugenehmigung. Die Entschädigungsfrage w i r d i m folgenden unter I I behandelt 1 1 8 . Denkbar ist dann noch der Fall, daß die Durchführung eines öffentlichen Vorhabens von einer zugrundeliegenden Planfeststellung abweicht oder eine erforderliche Planfeststellung überhaupt fehlt oder daß für ein öffentliches Vorhaben weder Planfeststellung noch Baugenehmigung erforderlich sind, wie ζ. B. für die Errichtung eines Kinderspielplatzes 119 . I n diesen Fällen könnte man an eine A b wehrklage denken, die zwar i m Verwaltungsrechtsweg zu verfolgen sein mag, aber deren Voraussetzungen sich doch aus der privatrechtliI I 2 u n d I I 3 am Ende, während f ü r die Immissionen aufgrund privatrechtlicher Nutzung, die er unter I I I davon unterscheidet, ein Abwägungsverfahren i m hier dargestellten Sinne erforderlich sein soll, N J W 1974, 1801. Der „Schnitt" w i r d doch w o h l eher durch das A l t e r der Anlage begründet (Planungsentscheidung für neue Anlagen) als durch die Unterscheidung z w i schen hoheitlicher u n d privatrechtlicher Nutzung. 118 Vgl. zu der entsprechenden Fallgruppe i m Bereich der genehmigungsbedürftigen Anlagen 1. Kapitel, V. 119 So auch Ule / Fittschen, J Z 1965, 317; offengelassen i n BVerwG, 16. 2. 1973, DVB11973, 635.
I I . Entschädigungsansprüche bei Immissionen durch Straßenverkehr
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chen Abgrenzung des § 906 BGB ergeben könnten, da der hier zu entscheidende Konflikt eben i n dieser Bestimmung seine Lösung findet. Es liegt nahe, i n diesen Fällen den Anspruch nicht mit einer Überschreitung der Ortsüblichkeit gemäß § 906 BGB zu begründen, sondern i h n als subjektives öffentliches Nachbarrecht zu konzipieren. Das tut das B V e r w G i n den Kinderspielplatzfällen 1 2 0 . Als Rechtsgrundlage für die faktische Errichtung und Unterhaltung von Kinderspielplätzen w i r d der zugrundeliegende Bebauungsplan selbst angesehen. Die Prüfung der Abwehransprüche erfolgt nach öffentlichem Nachbarrecht. Die Problematik dieser Fälle soll hier i m Zusammenhang m i t dem lebenswichtigen Betrieb nicht vertieft werden. Sie w i r d i m 3. Kapitel unter V I i n bezug auf die Bauvorhaben Privater weiter untersucht.
I I . Aufopfernngs-, Ausgleichs- und Enteignungsanspruch bei Immissionen durch Straßenverkehr 1. Überblick und Problemstellung Die — bereits thesenförmig vorgetragenen 1 — Konsequenzen, die die neue Konzeption für die Entschädigungsregelung hat, sollen i m folgenden vor allem i m Hinblick auf die Entschädigungsregelung für Immissionen durch Straßenverkehr eingehender untersucht werden. Einmal ist dieser Komplex von großer praktischer Bedeutung, zum anderen ist die Entschädigungssystematik von der Rechtsprechung auch vor allem für diesen Bereich ausgebildet und immer weiter verfeinert worden. Die Probleme, die sich hier ergeben, können heute noch bei weitem nicht als gelöst angesehen werden. Die Anspruchssystematik der Rechtsprechung bestätigt auch i n diesem Bereich die Richtigkeit unserer Konzeption. Auch hier macht die Rechtsprechung praktisch die beiden Schritte, die w i r i m 1. Kapitel unter I V für die Rechtsprechung zu den Industriebetrieben analysiert haben: Der Begriff der Ortsüblichkeit der Straße w i r d derart weit gefaßt, daß praktisch eine Überschreitung der Ortsüblichkeit nicht mehr i n Betracht kommt. Dieser Entwicklungsprozeß ist m i t der Entscheidung des B G H vom 30. 10. 19702 beendet, wo ganz offen die Ortsüblichkeit einer Straße mit Hinweis auf den Planfeststellungsbeschluß begründet wird. Diese Entwicklung entspricht der durch die Thale-Entscheidung des RG 3 für Industriebetriebe eingeleiteten. Die Reaktion, das Ausweichen auf den Entschädigungsanspruch, wie er vom RG i n der zweiten Gutehoffnungs120 B V e r w G DVB1 1973, 635 m i t A n m e r k u n g von Schrödter, u n d BVerwG, 21. 6.1974, DVB1 1974, 777. 1 Vgl. oben S. 120 f. 2 B G H Z 54, 384. 8 R G Gruch 55,105.
DVB1 1973, 639
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2. Kap.: Priv. u. öffentl. Nachbarrecht u n d lebenswichtiger Betrieb
hütten-Entscheidung 4 entwickelt worden und dann i n § 906 I I 2 BGB Gesetz geworden ist, erfolgt ebenfalls. Einer uneingeschränkten Gewährung des Anspruchs stellen sich hinsichtlich der Beeinträchtigung durch Straßenverkehrsimmissionen aber Gründe i n den Weg, die sich zunächst ganz summarisch unter dem Begriff des „öffentlichen Interesses am Straßenverkehr" zusammenfassen lassen. Das RG verneint weitgehend bereits die Voraussetzungen dieses Anspruchs 5 , der B G H 6 knüpft i h n an verschärfte Voraussetzungen. Diese restriktive Rechtsprechung erfährt eine Abstützung dadurch, daß der Anspruch schließlich als Enteignungsanspruch qualifiziert wird. Während es sich dabei zunächst nur u m eine Frage der terminologischen Bezeichnung zu handeln scheint, da weiter die Voraussetzungen des nachbarlichen Anspruchs geprüft werden 7 , w i r d der Anspruch i n der Entscheidung des B G H vom 20. 3.1975 8 schließlich auch nach den für das öffentliche Recht ausgebildeten Voraussetzungen des Enteignungsanspruchs geprüft. Die neuen Regelungen der §§ 41 ff. BImSchG und 17 BFernStrG ändern diese Entwicklungslinien nicht grundlegend, sie kodifizieren zum Teil nur die Rechtsprechung 9 . Das bestehende Anspruchssystem bleibt jedenfalls, wie sich aus § 42 I I 2 BImSchG ergibt, unberührt. Die Rechtsprechung selbst problematisiert den Entwicklungsprozeß nicht, i n den Entscheidungen laufen vielmehr der Aufopferungsanspruch und der Ausgleichsanspruch lange Zeit nebeneinander her. I h r Verhältnis zueinander w i r d ebenso wenig zum Problem wie ihr Verhältnis zum Enteignungsanspruch, der dann i n der Entscheidung des B G H vom 20. 3. 197510 anstelle des Anspruchs aus § 906 I I 2 BGB untersucht wird. Unsere Deutung der Entwicklung i n der Rechtsprechung soll i m folgenden i m einzelnen belegt werden. W i r halten vorweg angesichts des recht verworrenen Bildes zur Orientierung nur fest, daß das Ringen der Rechtsprechung um die Ortsüblichkeit von Straßen auch hier ein Ringen m i t einer verfehlten Systematik ist, während die materiellen Entscheidungen — wie i m Industriebereich — i m Rahmen des Anspruchs aus § 906 I Î 2 BGB fallen. Die entscheidende Frage, auf die sich alles zuspitzt, ist dann schließlich, ob angesichts des Öffentlichen Interesse am Straßenverkehr die Bestimmung des § 906 I I 2 BGB so restriktiv auszulegen ist, wie die Rechtsprechung es tut.
4
RGZ 154,161. RG, 9.1.1939, R G Z 159,129. 6 BGH, 22. 12. 1967, B G H Z 49, 148. 7 BGH, 30. 10. 1970, B G H Z 54, 384, 391. 8 B G H Z 64, 220. 9 So auch Baur, J Z 1974, 657; Erman / Wester mann, §906 B G B A n m . 24. 10 B G H Z 64, 220.
5
I I . Entschädigungsansprüche bei Immissionen durch Straßenverkehr
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2. D e r Aufopferungsanspruch wegen Überschreitung der ortsüblichen N u t z u n g durch den Straßenverkehr
Bei der Prüfung der Ortsüblichkeit von Straßen durch das RG ergaben sich i m Tatsächlichen zwei Abweichungen gegenüber der Sachlage, die das RG i n der Thale-Entscheidung für Industriewerke zu bewältigen hatte: Während die Problematik i n dem Thale-Fall darin lag, ein Vergleichsobjekt für das Industrie werk am Orte zu finden, kann die Rechtsprechung zu den Straßen auf den langgestreckten Charakter des Straßensystems zurückgreifen und i n der Zusammenfassung größerer Gebiete durch eine überörtliche Straße Anhaltspunkte für eine neue Bestimmung der Ortsüblichkeit finden 1 1 . Bedeutsamer ist jedoch folgender Unterschied der Fälle: Die Überlegungen zum Eisenhüttenwerk Thale betreffen ein „hergebrachtes Werk", so daß die Ortsüblichkeit schließlich darauf gestützt wird. Die Entwicklung des Verkehrswesens hat es dagegen m i t sich gebracht, daß diese Frage hinsichtlich Straßen für neu angelegte Straßen problematisch geworden ist. Damit mußte das Problem bereits für den Zeitpunkt der Errichtung der Straße gelöst werden. W i r haben i m 1. Kapitel unter I V bereits auf die Bedeutung hingewiesen, die i n der zeitlichen Verschiebung liegt. I n seinem Urteil vom 8. 7. 193112 bestimmt das RG die Ortsüblichkeit einer innerstädtischen Straße bereits nach der gesamten Linienführung und bezeichnet die Bedürfnisse des Verkehrs als das vorwiegend Entscheidende 13 . Es könne nicht auf die ruhige Lage eines einzelnen Stadtteils ankommen. Der Bewohner von Dahlem komme nicht nur als solcher, sondern auch als Einwohner von Groß-Berlin i n Betracht 1 4 . Das RG hatte dann i n seinem Urteil vom 9. 1. 1939 (ReichsautobahnEntscheidung) 15 folgenden Fall zu entscheiden: Eine neu erbaute Autobahn führte etwa 5 m an einem Mietshaus entfernt vorbei, dessen Eigentümer den Wertverlust auf 50 % beziffert. Das RG untersucht den Aufopferungsanspruch entsprechend § 75 EinlALR, § 26 GewO 1 0 , verneint i h n aber, da die Autobahn ortsüblich sei 17 . Man werde nicht daran zweifeln, begründet das RG dieses Ergebnis, daß die Benutzung einer Fernverkehrsstraße durch den Verkehr, der dort aufgrund der örtlichen Verhältnisse herrsche, die bei Grundstücken dieser Lage nach den örtlichen Verhältnissen gewöhnliche Benutzung sei, möge auch der 11 12 18 14 15 16 17
Vgl. dazu i m einzelnen die i m folgenden analysierte Rechtsprechung. RGZ 133,152. RGZ 133, 154,155. RGZ 133,155. RGZ 159,129. RGZ 159,136. RGZ 159, 139.
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2. Kap.: Priv. u. öffentl. Nachbarrecht u n d lebenswichtiger Betrieb
Verkehr noch so massenhaft und geräuschvoll sein. Der Anlieger müsse sich auch mit unerwarteten Änderungen durch Entwicklungen des Verkehrs oder Veränderungen i m Straßennetz abfinden. Die Anlage der Reichsautobahnen beruhe zwar auf einem neuen Gedanken, stelle aber doch eine notwendige Ausgestaltung des Straßennetzes dar. Nach der Grundregel des § 906 BGB komme es für den Unterlassungsanspruch auf die A r t der Benutzung des schädigenden Grundstücks an. N u n sei nicht zu bezweifeln, daß die Benutzung von Gelände zur Anlage eines notwendigen Verkehrsweges und dann weiter die Benutzung i m regelrechten Verkehr namentlich i n Gegenden m i t starker Verkehrsentwicklung ortsüblich sei 18 . I n dem der Entscheidung des B G H vom 30. 10. 197019 zugrundeliegenden Fall verlangt der Eigentümer eines i m Außenbereich liegenden Wohnhauses Entschädigung für die Immissionen, die der Bau einer 36 m entfernten vierspurigen Bundesstraße und der Verkehr auf ihr hervorruft. I m Hinblick auf die Ortsüblichkeit der Straßennutzung für Verkehrszwecke führt der B G H — bei der Prüfung des Aufopferungsanspruchs, der hier als ein Enteignungsanspruch aufgefaßt w i r d — aus: Die nachbarrechtliche Begrenzung nach Maßgabe der Ortsüblichkeit beruhe auf dem Gedanken, daß benachbarte Grundstücke etwa einheitlich genutzt würden und diese Nutzung daher den Nachbarn zuzumuten sei 20 . Die Abgrenzung des Vergleichsgebiets weise aber bei Verkehrsanlagen gewisse Besonderheiten auf, weil der durchlaufende Verkehr mehr oder weniger weit umgreifende Gebiete zusammenfasse und i m Hinblick auf die notwendige Planung größerer Räume seiner eigenen Gesetzlichkeit unterliege. Bei örtlichem wie überörtlichem Verkehr könne nicht ein einzelner Teil der Straße nur i m Zusammenhang m i t einem Gebiet von bestimmtem Charakter beurteilt werden, vielmehr müsse auch die überörtliche Anlage i n sich als zusammenhängendes Ganzes i n Verbindung m i t dem verkehrsmäßig zu erschließenden Raum gewürdigt werden. Von diesem Ausgangspunkt aus bezeichnet die Entscheidung die lästigen Auswirkungen auch des überörtlichen Verkehrs als einen Teil der gesamtwirtschaftlichen Lasten, denen sich ein Grundeigentümer nicht unter Berufung auf eng begrenzte Verhältnisse entziehen könne. Zum anderen werde der Fernverkehr i n der Regel für Wohngebiete schonend trassiert. Die Verkehrsimmissionen seien daher i m vorliegenden Fall ortsüblich 21 . 18
RGZ 159,138,139. B G H Z 54, 384; zu dieser Entscheidung vgl. insbesondere Aust, N J W 1972, 1402; Schwabe, DVB1 1973, 103; Westermann, Das Sachenrecht i n der F o r t entwicklung, S. 22 ff. ; Breuer, Bodennutzung, S. 343. 20 Unter Hinweis auf BGH, 16. 6. 1959, B B 1959, 761. 21 B G H Z 54, 390. 19
I I . Entschädigungsansprüche bei Immissionen durch Straßenverkehr
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Der B G H geht i n seinem Urteil vom 30. 10. 1970 von einer durchaus zutreffenden Bestimmung des Begriffs der Ortsüblichkeit aus, wenn er diese als einheitliche Nutzung benachbarter Grundstücke beschreibt. Diese einheitliche Nutzung eines engeren Raumbezirks hatten w i r i m 1. Kapitel als das Abgrenzungskriterium angesehen, welches eine Nutzungskontrolle i m kleinnachbarlichen Raum auf der Grundlage eines status quo der Nutzung zu gewährleisten vermag. Die A r t , wie ein Raum raumplanerisch zu entwickeln ist, vermag dieser Begriff nicht zu beschreiben. Dem B G H dient die enge und zutreffende Auslegung jedoch nur als Anknüpfungspunkt für eine sehr viel weitergehende Auslegung, die sich i n kaum einer Beziehung noch m i t der zunächst vorausgesetzten Bedeutung berührt. Das RG hatte i n der Reichsautobahn-Entscheidung vom 9. 1. 1939 schon diesen vom B G H doch deutlich herausgestellten engen Sinn des Begriffs verkannt, wenn die Entscheidung damit begründet wird, die Grundregel des § 906 BGB sei, daß es für die Ortsüblichkeit auf die Benutzung des schädigenden Grundstücks ankomme 2 2 . Diese Formulierung des Gesetzes bringt gerade nicht den entscheidenden Sinn der Bestimmung zum Ausdruck. § 906 BGB geht vielmehr davon aus, daß auch das gestörte Grundstück i n etwa ortsüblich genutzt wird, so daß eine solche Nutzung durch das störende Grundstück als zumutbar angesehen werden kann 2 3 . Zum anderen bedeutet ortsübliche Nutzung des schädigenden Grundstücks durchaus nicht, daß nur auf das schädigende Grundstück abgestellt werden darf: Es sollen gerade andere Grundstücke des engeren Raumes vergleichbar genutzt sein und aus diesem Vergleich ist der Begriff der ortsüblichen Nutzung zu bestimmen. Wenn man das Ergebnis der Reichsautobahn-Entscheidung des RG zur Ortsüblichkeit etwas überspitzt formulieren wollte, so liegt es i n der „Erkenntnis", daß Verkehr auf Straßen auch die ortsübliche Nutzung von Straßen ist. Damit ist jede noch diskussionsfähige Grundlage zum Begriff der Ortsüblichkeit verlassen 24 . Auch die Versuche des B G H i n seinem Urteil vom 30. 10. 1970, dem Begriff eine verwendbare Fassung zu geben, schlagen fehl. Der B G H w i l l i n diesem U r t e i l 2 5 — i m Anschluß an das Urteil des RG vom 8. 7. 193126 — das Vergleichsgebiet dadurch ausdehnen, daß auf das gesamte 22
RGZ 159,139. Vgl. dazu vor allem Westermann, Maßnahmen, S. 51. 24 Tatsächlich w i r d diese „Erkenntnis" i n der L i t e r a t u r weitgehend v e r treten: so ζ. B. Ganschezian-Finck, N J W 61, 1847 1. Sp.; Schneider, M D R 65, 441 r. Sp.; Kleindienst, N J W 68, 1953 (Ortsunüblichkeit n u r bei ganz unsachgemäßer Trassierung). Kritisch i m hier vertretenen Sinne auch Breuer, Bodennutzung, S. 344 A n m . 167. 25 B G H Z 54, 389. 26 RGZ 133,154. 23
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2. Kap.: Priv. u. öffentl. Nachbarrecht u n d lebenswichtiger Betrieb
von dem Straßensystem durchzogene Gebiet abgestellt wird. Eine überörtliche Straße w i r d aber nicht deswegen an einem bestimmten Punkt ortsüblich, weil sie auch andere Gegenden durchzieht, i n denen sie — ebenfalls nicht ortsüblich ist. Der Hinweis auf das gesamte durchzogene Gebiet vermag allenfalls zum Ausdruck zu bringen, daß eine Vielzahl von Grundeigentümern die Straße nicht haben abwehren können, w e i l sie insgesamt nicht zu verhindern war. Hier w i r d also nur eine generelle Hinnahmepflicht formuliert, irgendeine Beziehung auf örtliche Gegebenheiten ist nicht mehr erkennbar. Selbst wenn man einmal unterstellen wollte, daß die überörtliche Straße auch sehr laute Gebiete, ζ. B. Industriegebiete, durchzieht, so wäre damit doch nicht erklärt, warum sie gerade deswegen i n weniger lauten Gebieten, ζ. B. Villenvierteln, ortsüblich sein soll. Der B G H versucht nun allerdings i n dem Urteil vom 30. 10. 1970 die Beziehung zu den örtlichen Gegebenheiten durch eine Wendung herzustellen, die, wenn man sie konsequent durchdenkt, die Aufgabe des A u f opferungssystems bedeutet. Die Ortsüblichkeit der überörtlichen Straße i n diesem größeren Vergleichsgebiet soll sich daraus ergeben, daß der Fernverkehr üblicherweise unter Schonung des Charakters der Landschaft außerhalb der Siedlungsgebiete, insbesondere der Wohngebiete, i n den Außengebieten eingerichtet und geführt wird, soweit es sich nicht um Strecken handelt, die unmittelbar an Ballungsgebiete heranoder direkt um ihre Zentren herumführen 2 7 . Was hier formuliert wird, sind die Grundsätze, die i m Planfeststellungsverfahren zu beachten sind. Sie formulieren nicht die tatsächlich übliche Nutzung eines bestimmten Raumes, sondern Maßstäbe der planerischen Raumgestaltung. Entscheidend ist nun, daß damit ein Wechsel des Standpunktes stattgefunden hat, bei dem die privatrechtliche Grenze des § 906 BGB völlig aus dem Blick gekommen ist: Planfeststellung und Widmung der Straße werden i n der Entscheidung vom 30. 10. 1970 doch gerade als die öffentlichen Akte aufgefaßt, aufgrund deren die privatrechtliche Marke der Ortsüblichkeit — aus besonderem Grunde — überschritten wird, wodurch dann erst der Aufopferungstatbestand ausgelöst wird. N u n w i r d die Ortsüblichkeit, die durch die Planfeststellung überschritten werden sollte, nach den i m Planfeststellungsverfahren zu beachtenden Grundsätzen bestimmt: Der untersuchte Anspruch ist damit nicht nur praktisch ausgeschlossen, sondern kann bereits theoretisch nie gegeben sein. I n dieser Entscheidung w i r d der Ausbruch der Rechtsprechung aus dem Aufopferungssystem am deutlichsten, ohne daß allerdings die Rechtsprechung selbst sich der Konsequenzen dieser Argumentation bewußt zu sein scheint. 2
B G H Z 54, 390.
I I . Entschädigungsansprüche bei Immissionen durch Straßenverkehr
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Die i n allen drei hier angeführten Entscheidungen bei der Prüfung der Ortsüblichkeit gemachten weiteren Ausführungen über die Notwendigkeit des überörtlichen Verkehrs, über die Zumutbarkeit, die Einwirkungen durch Straßenverkehr als Teil der gesamtwirtschaftlichen Lasten zu tragen usw., haben m i t der Frage der Ortsüblichkeit nichts mehr zu tun. Sachlich gehören sie i n den Rahmen der Prüfung des § 906 I I 2 BGB. Die Abhandlung der Zumutbarkeitsfrage i m Rahmen des A u f opferungsanspruchs ist aber ein deutliches Indiz dafür, daß die Rechtsprechung dem Aufopferungsschema selbst die i h m abgeforderte Leistung, Bestehen oder Nichtbestehen des Anspruchs zu begründen, nicht zutraut. Sie unterschiebt hier gewissermaßen eine Hilfsbegründung, warum der Anspruch nicht gegeben werden kann, die nicht mehr darauf beruht, daß die Straße ortsüblich ist. Bei konsequenter Anwendung des Kriteriums der Ortsüblichkeit i n seiner normalen Bedeutung wären überörtliche Straßen i n Wohngebieten nicht als ortsüblich anzusehen. Von ihnen ausgehende Lärmbelästigungen müßten daher nach dem Aufopferungssystem entschädigt werden. Der B G H vermeidet dieses Ergebnis, indem er die Ortsüblichkeit schließlich i n der Entscheidung vom 30. 10. 197028 i m Sinne eines Planungsergebnisses auslegt, das sich nach den materiellen Maßstäben ergibt, wie sie i m Planfeststellungsverfahren zugrundezulegen wären. I m Ergebnis ist das unsere modifizierte Konzeption, nur daß w i r sie nicht durch „Umbiegen" des Begriffs der Ortsüblichkeit zu erreichen versuchen, der vielmehr für uns für diese Fälle der Raumentwicklung weder eine positive (Grenze muß eingehalten werden) noch eine negative (Grenze kann wegen öffentlichen Interesses überschritten werden) Bedeutung hat. Die Bedeutung der tatsächlichen Ortsüblichkeit i m Hinblick auf das i n die planerische Abwägung einzustellende nachbarliche Schonungsinteresse haben w i r i m 1. Kapitel beschrieben 29 . I m Gegensatz zur Rechtsprechung ziehen w i r die weitere Konsequenz, daß w i r die Möglichkeit eines Aufopferungsanspruchs i m überkommenen Sinne i m Bereich des § 906 BGB überhaupt verneinen. Breuer kommt auf der Grundlage seines Ansatzes ebenfalls zu einer kritischen Beurteilung des Begriffs der Ortsüblichkeit i n den Fällen der Straßenverkehrsimmissionen 30 . Der B G H habe i n seiner Entscheidung vom 30. 10. 1970 die planerische Flexibilität zum eigentumsrechtlichen Maßstab erhoben. Die Rechtsprechung habe somit die spezifische Aufgabenstellung und funktionale Dynamik der öffentlichen Kommunikationsanlagen berücksichtigt. Breuer w i l l entsprechend die irreführende und widersprüchliche Anknüpfung an den Begriff der Ortsüblichkeit 28 29 30
B G H Z 54, 384. Vgl. 1. K a p i t e l unter I I , 3, oben S. 46. Bodennutzung, S. 343 ff.
9 Schapp
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2. Kap.: Priv. u. öffentl. Nachbarrecht u n d lebenswichtiger Betrieb
nach § 906 BGB überhaupt aufgeben 31 . I m Ergebnis stimmen w i r mit Breuer i n der Beurteilung des Begriffs der Ortsüblichkeit hinsichtlich Straßen überein. Nicht ausreichend geklärt scheint uns von Breuer das Verhältnis von Planung und spezifischer Aufgabenstellung der öffentlichen Kommunikationsanlage. Entsprechend seinem grundsätzlichen A n satz liegt für Breuer der eigentliche Grund der gesteigerten Duldungspflicht i n dem öffentlichen Interesse an der Kommunikation 3 2 , dem die nach § 906 BGB abgegrenzte „gleichgeordnete Nebeneinanderreihung privater Einzelnutzungen" gegenübergestellt w i r d 3 3 . Damit kommt der Planung als dem großen „Gegenpol" des § 906 BGB nicht der ihr gebührende Platz zu 3 4 . Breuer zieht i m übrigen auch nicht die Konsequenzen für die privatrechtlichen Entschädigungsansprüche, sondern bereitet m i t der Akzentuierung der „spezifischen Aufgabenstellung" der öffentlichen Kommunikationsanlage die von i h m vertretene enteignungsrechtliche Sicht der Entschädigungsansprüche vor 3 5 . Soweit ersichtlich, deutet i m Schrifttum nur Schwabe 36 i n einer Besprechung der Militärflugplatz-Entscheidung des B G H vom 10. 11. 197237 die Notwendigkeit von Konsequenzen für die privatrechtlichen Entschädigungsansprüche an: Da die h. L. dem Flughafenlärm durchweg die Ortsüblichkeit bescheinige, bliebe für die Anwendung des § 11 L u f t V G kaum jemals Raum. Die schwierige Bestimmung der Ortsüblichkeit habe keine weitere Funktion, als die Entschädigungspflicht entweder i n § 906 I I 2 BGB oder i n §§ 11 LuftVG, 26 GewO zu verorten. Nach Schwabe ist dabei letzter Grund für die Entschädigungspflicht i n beiden Fällen die Unzumutbarkeit der Vermögensnachteile, wenn auch § § 1 1 LuftVG, 26 GewO darauf nicht ausdrücklich abheben. Während i n den Industriefällen das Ergebnis einer vom System her bedingten Unmöglichkeit des Aufopferungsanspruches offenbar unbillig war und dann — nach unserer Deutung — zur zweiten Gutehoffnungshütten-Entscheidung des RG m i t dem „gemäßigten" Anspruch geführt hat, kommt es i n den Fällen der Straßenverkehrsimmissionen der an sich von der Rechtsprechung verfolgten Tendenz entgegen, keine Entschädigung zuzuerkennen. U m so schwerer setzt sich dann auch der Ausgleichsanspruch i m Sinne der zweiten Gutehoffnungshütten-Entschei81 32 33
Bodennutzung, S. 344. Vgl. ζ. B. die Ausführungen Breuers, Bodennutzung, S. 344.
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Bodennutzung, S. 344 u n d 345.
Vgl. dazu unsere Auseinandersetzung m i t dem grundlegenden Ansatz von Breuer oben 2. Kapitel, I 3 a. 35 Vgl. dazu i m einzelnen i m folgenden S. 137,139. 36 Schwabe, DVB1 1973, 448. 37
B G H Z 59, 378.
I I . Entschädigungsansprüche bei Immissionen durch Straßenverkehr
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dung des RG bzw. der gesetzgeberischen Reform des § 906 I I 2 BGB durch. Die Stellung, welche die Rechtsprechung hier bezieht, soll uns i m folgenden interessieren. 3. D i e Voraussetzungen des Ausgleichsanspruchs. T r i t t a n seine Stelle ein Enteignungsanspruch? a) Überblick über Rechtsprechung und Literatur
Die Reichsautobahn-Entscheidung des R G 3 8 prüft auch den vom RG i m zweiten Gutehoffnungshüttenfall 39 gegebenen Anspruch. Sie unterscheidet dabei bereits zwei Fallgruppen: Gemäß der Entscheidung des RG vom 10. 3. 193740 seien Einwirkungen eines Industriewerks von solcher A r t und solchem Ausmaß, daß sie die Lebensbedingungen der Landwirtschaft zerstören müßten, nicht mehr als rechtmäßig i m Sinne des § 906 BGB anzusehen. Die Anwendung dieses Gedankens auf eine Ortsgestaltung durch Errichtung einer Autobahn ließe Pflichten der Rücksichtnahme erkennen. Die Streckenführung müsse so vorgenommen werden, daß der Nachbar so weit geschont werde, wie das m i t den Bedürfnissen des Verkehrs und m i t der Ortslage vereinbar sei. Bei schuldiger Rücksichtnahme vermeidbare Einwirkungen seien nicht mehr als rechtmäßig anzusehen. Das sei allerdings ein bloß gedachter Fall, der kaum praktisch werden würde. Eine die Pflicht zur Schadloshaltung auslösende Störung des Nachbarverhältnisses könne nur bei offensichtlich und i m hohen Maße verfehlter Ausübung des Planungsermessens angenommen werden. Davon könne jedenfalls i m vorliegenden Fall keine Rede sein 41 . Nach heutiger Auffassung würde man sagen, es ist der Fall des Planfehlers, der nach der Rechtsprechung des B V e r w G 4 2 zu subjektiven öffentlichen Nachbarrechten wegen schweren und unerträglichen Betroffenseins des Nachbarn führt, i n welchem das RG hier den Anspruch i m Sinne der zweiten Gutehoffnungshütten-Entscheidung geben w i l l . I m 1. Kapitel waren w i r zu dem Ergebnis gekommen, daß dieser Anspruch d. h. genauer der Anspruch aus § 14 Satz 2 BImSchG = § 906 I I 2 BGB i n dem gleich gelagerten Fall zu gewähren ist, daß gegen ein Industriewerk subjektive öffentliche Nachbarrechte gegeben sind, aber nicht mehr durchgesetzt werden können. 38
RGZ 159,129. RGZ 154,161. 40 RGZ 154,161. 41 RGZ 159,139. 42 Vgl. insbesondere BVerwG, 13. 6. 1969, B V e r w G E 32, 173 u n d BVerwG, 5. 7.1974, B V e r w G E 45, 309, insbesondere 330. 39
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2. Kap.: Priv. u. öffentl. Nachbarrecht u n d lebenswichtiger Betrieb
Von diesem Fall unterscheidet das RG i n der Reichsautobahn-Entscheidung einen anderen, i n dem der Anspruch i m Sinne der zweiten Gutehoffnungshütten-Entscheidung gleichfalls gewährt werden soll: Als nicht mehr ortsüblich und daher nicht i n den nach § 906 BGB erlaubten Grenzen liegend möchten ferner Einwirkungen angesehen werden, die zu einer Zerstörung oder einer dem nahekommenden Beeinträchtigung solcher wirtschaftlicher Lebensbedingungen des Nachbarn führen, wie dieser sie sonst i n der allgemeinen örtlichen Beschaffenheit findet. Dieser Gedanke stelle aber eine erweiterte Auslegung des § 906 BGB dar und könne nur i n Ausnahmefällen Platz greifen. Er sei keinesfalls berechtigt i n einem Falle, i n dem ein Wohnhaus nicht i n dem beschriebenen Rahmen beeinträchtigt sei. Dann handele es sich um ein ungünstiges Ereignis, m i t dem jeder Hauseigentümer für den Fall der Entwicklung oder Umlenkung des Verkehrs zu rechnen habe. Es würde eine unerträgliche Hemmung der Verkehrsentwicklung bedeuten, wenn man eine solche fortschrittliche Neuerung, die für das Volksganze geboten sei, m i t von vornherein unabsehbaren Schadensersatzansprüchen belasten wollte. Die Zubilligung solcher müsse eine seltene Ausnahme bleiben. Von einer Beeinträchtigung grundlegender A r t und vernichtender W i r kung könne bei einer Wertminderung um 50 €/o nicht die Rede sein 43 . Diese Gedankengänge des RG sind grundlegend für die Rechtsprechung des B G H geworden, wie der B G H i n seinem Urteil vom 22. 12. 196744 selbst betont. Sie haben ihre Bedeutung auch noch für die Entscheidung des B G H vom 20. 3. 197545, wie noch auszuführen sein wird. Die Unterscheidung der beiden Fallgruppen durch das RG und die für beide verwandten Kriterien einer i n hohem Maße verfehlten Ermessensausübung bei rechtswidriger Planung und des Ausnahmecharakters des Anspruchs bei rechtmäßiger Planung geben klare Richtpunkte für eine Beurteilung der weiteren Entwicklung der Rechtsprechung. I n dem der Entscheidung vom 22. 12. 1967 zugrundeliegenden Fall (Bergnasefall) 46 macht ein Hauseigentümer einen Teil der Aufwendungen geltend, die er hat machen müssen, um bei zunehmendem Verkehr Aufenthaltsräume an der Rückseite des Hauses zu schaffen, die bisher wegen einer vorspringenden Bergnase nicht ausgebaut war, so daß er auf die Vorderseite allein angewiesen war. Der B G H prüft den Anspruch aus § 906 I I 2 BGB, den er hier noch als privatrechtlichen Anspruch versteht 4 7 . Er knüpft an die Gedankengänge der Reichsautobahn-Entschei48
RGZ 159,140, 141. B G H Z 49,148,151, sog. Bergnase-Entscheidung. 45 B G H Z 64, 220. 46 B G H Z 49, 148; zu dieser Entscheidung vgl. Hubmann, J Z 1968, 271; Kleindienst, N J W 1968,1953 u n d Menger / Erichsen, V e r w A r c h 59, 385 ff. 47 B G H Z 49, 150. W o h l deshalb, w e i l i n diesem F a l l n u r eine Steigerung 44
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dung an, die er i n ihrem K e r n auch heute noch für zutreffend hält 4 8 . Es komme also, da auch eine Steigerung des Verkehrs ortsüblich sei 49 , darauf an, ob die Beeinträchtigung ausnahmsweise unzumutbar sei 50 . Einen solchen Ausnahmetatbestand hält der B G H für möglich, wenn der Verkehrslärm die ortsübliche Benutzung der straßenwärts gelegenen Wohnräume eines Hauses i n ganz besonders starkem, zur Herbeiführung von Gesundheitsstörungen geeignetem Maße beeinträchtigt, die objektiven Gegebenheiten des Hauses ein Ausweichen der Bewohner i n straßenabgewandte Räume nicht gestatten und zur Beseitigung oder nennenswerten Herabsetzung der Beeinträchtigung bei objektiver B e t r a c h tung Aufwendungen i n einer Höhe nötig sind, die sowohl an sich als auch i m Verhältnis zum Wert des Grundstücks ganz erheblich ins Gewicht fällt 5 1 . Es soll der Teil der Gesamtaufwendungen des Klägers zum Ausbau der Rückseite i n Höhe von 10 000,— D M ersetzt werden, der das nach Abwägung aller Umstände zumutbare Maß übersteigt 52 . Der entscheidende i n diesem Urteil entwickelte Gedanke, daß der Anspruch aus § 906 I I 2 BGB i n den Straßenverkehrsfällen nur bei besonders schwerer Beeinträchtigung gegeben sei, w i r d i n der Entscheidung des B G H vom 30.10.1970 53 bestätigt. Das Urteil des B G H vom 20. 3. 197554 bringt nun bedeutsame Änderungen. Wie weit sie das bis dahin entwickelte „Grundgefüge" des A n spruchs wirklich berühren, w i r d eine wichtige Frage der folgenden Untersuchung sein. Die R.-Straße i n B. wurde 1964 als Ortsdurchfahrt einer Ersatzbundesstraße ausgebaut. Sie nimmt einen erheblichen Teil des Fernverkehrs einschließlich des Schwerlastverkehrs auf. Der Eigentümer eines an dieser Straße gelegenen mehrstöckigen Mietshauses klagt auf Zahlung von 31 000,— DM, die er für die Anlage von Doppelfenstern habe aufwenden müssen 55 . Der B G H prüft einen dem Anspruch aus des Verkehrs vorlag, B G H 49, 151, u n d damit ein Planfeststellungsbeschluß als Anknüpfungspunkt einer öffentlich-rechtlichen Lösung — w i e i n B G H Z 54, 384 — fehlte. Breuer ist der Auffassung, der B G H habe den F a l l wegen der Teilnahme Privater am Straßenverkehr dem privaten Nachbarrecht unterstellt, Bodennutzung, S. 334 A n m . 129. I n der Entscheidung findet sich dafür k e i n ausreichender Anhalt. 48 B G H Z 49,151. 49 Daß der B G H die Verkehrssteigerung als ortsüblich ansieht, ergibt sich w o h l aus den Ausführungen S. 152 oben. Es ist allerdings bei einer V e r kehrssteigerung noch schwerer m i t dem Begriff der Ortsüblichkeit einen Sinn zu verbinden als bei der Neuanlage einer Straße. Der B G H p r ü f t daher hier nicht zufällig n u r den Anspruch aus § 906 I I 2 BGB. 50 B G H Z 49,152. 51 B G H Z 49,152. 52 B G H Z 49,155. 53 B G H Z 54, 391. 54 B G H Z 64, 220 = N J W 1975,1406. 55 B G H Z 64, 222.
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§ 906 I I 2 BGB entsprechenden Anspruch auf Enteignungsentschädigung. Die Wertungen des BImSchG veranlassen den B G H jedoch nun, von seiner bisherigen Rechtsprechung Abstand zu nehmen, daß ein solcher A n spruch nur ausnahmsweise zu gewähren sei 56 . Wie er statt dessen auszugestalten sei, entwickelt der B G H anhand der nunmehr i n § 42 B I m SchG getroffenen Regelung. Diese sei zwar direkt nicht anwendbar, da die Bestimmung, wie die Verweisung auf § 41 BImSchG ergäbe, nur auf Straßen Anwendung finde, die nach Inkrafttreten des BImSchG gebaut oder wesentlich verändert worden seien. § 42 BImSchG müsse aber darüber hinaus als Inhaltsbestimmung des Eigentums nach A r t . 14 I I I 3 GG angesehen werden, was zur Folge habe, daß die Regelung sich auch auf die enteignungsrechtliche Würdigung derjenigen Verkehrsimmissionen auswirke, die von „alten" Verkehrswegen ausgingen. Für den vorliegenden Fall eines „alten" Verkehrsweges, aber genauso auch für nach Inkrafttreten des BImSchG neu gebaute oder wesentlich veränderte Straßen entwickelt der B G H jetzt folgende Entschädigungsgrundsätze: Der Anspruch auf Ersatz für Lärmschutzmaßnahmen sei nicht mehr nur ausnahmsweise bei besonders schwerer Beeinträchtigung, insbesondere Gesundheitsbeeinträchtigung, gegeben, sondern schon dann, wenn die Beeinträchtigung spürbar über das hinausgehe, was den Straßenanliegern bei gebührender Berücksichtigung des insgesamt erheblich angewachsenen Verkehrs allgemein an Nachteilen und Belästigungen zugemutet werde 5 7 . Für den Fall der direkten Anwendung des § 42 I I BImSchG werde diese Grenze durch die noch festzulegenden Immissionswerte bestimmt. Werde hiernach die Sozialbindung gegenüber Verkehrsimmissionen auch nicht mehr so stark wie bisher veranschlagt, so führe andererseits die Eigenart des Eingriffs zu einer geänderten Auffassung über A r t und Weise der Entschädigung. Dem schutzwürdigen Interesse des Eigentümers sei durch eine Entschädigung i n Geld, die i h n i n die Lage versetze, Lärmschutzanlagen anzubringen, ausreichend Rechnung getragen. Der B G H übernimmt hier also die Zweckbindung des § 42 I I BImSchG, jedenfalls aber die Bemessung des Ausgleichs auch für alte Straßen. Dieser Anspruch auf Ersatz für Lärmschutzmaßnahmen w i r d als Enteignungsentschädigung bezeichnet 68 . Eine Enteignungsentschädigung, die sich am Minderwert des betroffenen Eigentums ausrichte, komme demgegenüber erst i n Betracht, wenn Lärmschutzeinrichtungen auf dem betroffenen Grundstück keine wirksame Abhilfe brächten oder unverhältnismäßige Aufwendungen erforderten. Der Anspruch setze voraus, daß die zugelassene Nutzung 56 57 58
B G H Z 64, 223. B G H Z 64, 229. B G H Z 64, 229.
I I . Entschädigungsansprüche bei Immissionen durch Straßenverkehr
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des Straßengrundstücks die vorgegebene Grundstückssituation nachhaltig verändere und dadurch das benachbarte Eigentum schwer und unerträglich treffe. Der B G H verweist dazu auf die Rechtsprechung des BVerwG zu den subjektiven öffentlichen Nachbarrechten, die mit dieser Formel arbeitet 5 9 . Aus der Literatur interessieren i m vorliegenden Zusammenhang vor allem die neueren Stellungnahmen zu §§ 42, 43 BImSchG, wenn man sich die Auffassung des B G H zu eigen macht, daß diese Vorschriften mittelbar auch auf alte Straßen anzuwenden sind. Korbmacher 6 0 sieht den A n spruch aus § 42 I und I I BImSchG als Anspruch auf Enteignungsentschädigung an. Er folgert das daraus, daß die Vorschrift nicht nur unter Rückgriff auf den Wortlaut des A r t . 14 I I I GG von einer angemessenen Entschädigung i n Geld spricht, sondern auch für das Verfahren ausdrücklich auf die Enteignungsgesetze der Länder verweist. Aus dieser enteignungsrechtlichen Zuordnung des Anspruchs zieht Korbmacher nun aber eine Folgerung von erheblicher Tragweite: Wenn § 42 BImSchG keine öffentlich-rechtliche Ausgleichsregelung eigener A r t sei, sondern eine Enteignungsentschädigung i m technischen Sinne gewähre, so müsse die Bestimmung notwendigerweise voraussetzen, daß die den Entschädigungsanspruch auslösende Überschreitung der Immissionsgrenzwerte nach § 43 I Ziffer 1 BImSchG auch materiell die Qualität eines enteignend wirkenden Eingriffs habe 61 . Korbmacher w i l l diese Überschreitungs keineswegs schon für jedwede „schädliche Umwelteinwirkung" anerkennen, die nach § 41 i n Verbindung m i t § 43 BImSchG die Verpflichtung zu Schutzmaßnahmen beim Straßenbau selbst auslöst. Die Grenzwerte, die nach § 43 I Ziffer 1 BImSchG für den Entschädigungsanspruch nach § 42 I BImSchG anzusetzen seien, müßten daher höher angesetzt werden, als die für die Verpflichtung zu Schutzmaßnahmen nach § 41 BImSchG anzusetzenden Grenzwerte 62 . Die Absichten des Gesetzgebers bei Normierung der Entschädigungsregelung des § 17 I V 2 BFernStrG lassen sich nach Korbmacher schwer ermitteln. Die Bestimmung ist nach seiner Auffassung Ausgleichsregelung eigener A r t i n dem nicht durch § 42 BImSchG erfaßten Raum, Enteignungsentschädigung sei sie erst dann, wenn sie nicht i m Vorfeld der Enteignung allein durch § 17 I V BFernStrG, sondern auch eigentumsrechtlich unmittelbar nach A r t . 14 GG geboten sei 63 . 59
B G H Z 64, 230; BVerwG, 13. 6. 1969, B V e r w G E 32, 172; BVerwG, 3. 3. 1972, D Ö V 1972, 825; 14. 12. 1973, D Ö V 1974, 381; 5. 7. 1974, N J W 1975, 70; 1. 11. 1974, N J W 1975, 841. 80 D Ö V 1976,1, 7. 61 Korbmacher, D Ö V 1976, 7 1. Sp. 62 Korbmacher, D Ö V 1976, 7 r. Sp. oben. Ebenso Vogel, BauR 1976, 21. 63 Korbmacher, D Ö V 1976, 8 r. Sp.
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2. Kap.: Priv. u. öffentl. Nachbarrecht u n d lebenswichtiger Betrieb
Kastner sieht den Anspruch aus § 42 BImSchG als einen unter dem Aspekt der Vorsorge stehenden Erstattungsanspruch eigener A r t an 6 4 . E i n Enteignungsanspruch könne es entgegen der Auffassung der Entscheidung des B G H vom 20. 3. 197565 nicht sein, da die Entschädigung nicht erst bei einer eingetretenen Beeinträchtigung, sondern vorsorglich gewährt werde. Da der Anspruch aus § 42 BImSchG nach Kastner eingreift, wenn Schutzmaßnahmen nach §41 technisch nicht möglich sind oder außer Verhältnis zum angestrebten Schutzzweck stehen 66 , geht Kastner für § 41 und § 42 BImSchG — anders als Korbmacher — vom selben Grenzwert aus 67 . Über den Anspruch aus § 42 BImSchG hinaus w i l l Kastner Ersatz der Wertminderung geben, er nennt jedoch als Beispiel nur den Anspruch auf Wertminderung bei Teilinanspruchnahme von Grundstücken, die der B G H i n seinem Urteil vom 20. 3. 1975 nicht vorausgesetzt hatte. Die i n diesem Urteil praktisch angenommene Rückwirkung des § 42 BImSchG lehnt Kastner ab. Für die „Altfälle" wäre weiterhin von den Grundsätzen des § 906 I I 2 BGB auszugehen. Die danach zu bestimmende L ä r m schwelle müßte aber höher sein als die nach § 43 I Ziffer 1 BImSchG unter dem Gesichtspunkt des Vorsorgecharakters festzusetzende 68 . I m übrigen habe die Entschädigungsregelung der §§ 42, 43 BImSchG Vorrang vor § 17 I V 2 BFernStrG, was sich aus § 17 I V 3 BFernStrG ergebe 69 . Speiser gibt für die „Altfälle" den Anspruch aus § 906 I I 2 BGB, wenn wegen Steigerung des Verkehrslärms Entschädigung verlangt wird, dagegen einen diesem Anspruch entsprechenden Anspruch auf Enteignungsentschädigung, wenn der Verkehrslärm Folge eines hoheitlichen Eingriffs, vor allem des Neubaus einer Straße ist 7 0 . Er weist darauf hin, daß diese Unterscheidung i m wesentlichen theoretischer Natur sei, da die Rechtsprechung i n beiden Fällen nach § 906 BGB abgrenze. Für den Neubau von Bundesfernstraßen sehe jetzt § 17 I V 2 BFernStrG eine eigene Entschädigungsregelung vor. Speiser faßt § 42 BImSchG als Regelung der Anspruchs Voraussetzungen dieses Anspruchs aus § 17 I V 2 BFernStrG auf. Er entnimmt das aus der Verweisung des § 17 I V 3 BFernStrG 7 1 . Für den Neubau anderer Straßen gilt § 42 BImSchG nach Speiser direkt. 84 65 ββ 87 88 M 70 71
Kastner, N J W 1975, 2319, 2321. B G H Z 64, 220. N J W 1975, 23201. Sp. Ebenso Ule, § 42 BImSchG Rdz. 2; w o h l auch Fickert, BauR 1974, 248 r. Sp. N J W 1975, 2322. N J W 1975, 2321 1. Sp. Speiser, N J W 1975,1101,1102. N J W 1975,1103 1. Sp.
I I . Entschädigungsansprüche bei Immissionen durch Straßenverkehr
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Stich geht von einem einheitlichen Grenzwert für § 41 und § 42 B I m SchG aus 72 . Die weitergehende Entschädigung i m Sinne des § 42 I I 2 BImSchG ist nach seiner Auffassung nicht der Anspruch aus § 906 I I 2 BGB, für dessen Anwendung kein Raum mehr ist, sondern ein A n spruch aufgrund enteignungsgleichen Eingriffs 7 3 . Das w i r d aus dem Ausgangspunkt des § 42 BImSchG gefolgert, daß Lärmbeeinträchtigungen durch Straßen hoheitliche Eingriffe sind. Voraussetzung dieses A n spruchs ist aber nicht wie nach dem Urteil des B G H vom 20. 3. 1975 schweres und unerträgliches Betroffensein des Nachbarn, sondern nur, daß die Schutzvorkehrungen keine Beschränkung des Verkehrslärms auf das Maß des Grenzwertes bewirken. Dem werden die Fälle gleichgestellt, daß überhaupt die Anlage von Schutzvorkehrungen an der Straße oder an dem Nachbargrundstück unterbleibt, weil sie sich zum Beispiel als zwecklos erweisen würde 7 4 . § 17 I V 2 BFernStrG erfaßt nach Stich nur Immissionen, die keine Lärmbeeinträchtigung darstellen, so daß hinsichtlich L ä r m auch für Bundesfernstraßen nur § 42 B I m SchG i n Betracht kommt 7 5 . Dem Urteil des B G H vom 20. 3. 197576 m i t seiner Rückbeziehung der Wertentscheidung des BImSchG stimmt Stich voll zu 7 7 . Auch Breuer faßt die Entschädigungsansprüche der Nachbarn wegen Immissionen durch den Straßenverkehr enteignungsrechtlich auf 7 8 . Breuer begründet diese Auffassung aus dem Systematischen heraus und verleiht ihr damit erst das eigentliche Gewicht. Bei den Immissionen öffentl licher Kommunikationsanlagen steht nach Breuer eine bipolare Beziehung zwischen der öffentlichen Gewalt, die sich zunächst i n dem sonderrechtlichen Duldungsgebot und später i n den darauf gegründeten I m missionen äußert, und den betroffenen Privaten i n Frage. Anders als bei den Wirkungen eines Bebauungsplans oder eines raumgestaltenden Verwaltungsakts auf die nachbarlichen Beziehungen gleichgeordneter Privater existiere hier kein Dreiecksverhältnis, keine privatnachbarliche Beziehung neben der öffentlich-rechtlichen Gestaltung des Nachbarverhältnisses 79 . Für die Anlage neuer Straßen verweist Breuer auf §§ 41 - 43 BImSchG. Zur Bestimmung der verfassungsrechtlichen Grenzen überhaupt und für ältere Anlagen arbeitet Breuer aber Kriterien heraus, wie i n diesen Fällen Sozialbindung und Enteignung voneinander 72 73 74 75 76 77 78 79
Stich, § 42 BImSchG A n m . 4 u n d 5. Stich, § 42 BImSchG A n m . 19 - 21. Stich, § 42 BImSchG A n m . 21. Stich, § 42 BImSchG A n m . 18. B G H Z 64, 220. Stich, Anhang I V BImSchG § 42/E 1. Bodennutzung, S. 338, 351 ff. Bodennutzung, S. 338.
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2. Kap.: Priv. u. öffentl. Nachbarrecht u n d lebenswichtiger Betrieb
abzugrenzen sind 8 0 . Danach liegt ein Enteignungsfall bei Vernichtung eines i m Einklang mit dem Planungsrecht geschaffenen Sachbestandes vor 8 1 , ferner, wenn die Errichtung der Anlage die planerische Gebietsstruktur sprengt und zu einer wesentlichen Bestandsbeeinträchtigung führt. Zur Beurteilung dieses zweiten Falles macht Breuer die Unterscheidungen des BBauG zwischen Plangebiet, nicht beplantem Innenbereich und Außenbereich fruchtbar. Breuer trägt dem Gebot der Junktimsklausel dadurch Rechnung, daß er als Rechtsgrundlage der Enteignungsentschädigung weiterhin § 906 I I 2 BGB auffaßt, soweit § 42 BImSchG nicht eingreift. § 906 I I 2 BGB ist i n diesen Fällen aber öffentlich-rechtliche Entschädigungsnorm, der andere Tatbestandsmerkmale unterlegt werden 8 2 . I m übrigen bezeichnet Breuer § 906 I I BGB als verfehlte Basis für die Bestimmung einer Entschädigungspflicht 83 . b) Stellungnahme aa)
Vorbemerkung
Seit dem Urteil des B G H vom 15. 6. 196784 hat sich die Frage i n den Mittelpunkt des Interesses geschoben, ob der zu gewährende Entschädigungsanspruch bei Immissionen durch öffentliche Betriebe seiner Nat u r nach privatrechtlich oder öffentlich-rechtlich ist. Diese Frage konnte an die schon zu Zeiten des RG ausgebrochene Diskussion anknüpfen 85 . Praktisch bedeutsam wurde das Problem, wenn man einer öffentlichrechtlichen und damit enteignungsrechtlichen Sicht auch Einfluß auf die Bestimmungen der Anspruchsvoraussetzungen einräumte, also die privatrechtlichen Anspruchsvoraussetzungen nicht einfach ins öffentliche Recht übernahm. Die Rechtsprechung hat sich i n ihrer Argumentation bis zum Urteil des B G H vom 20. 3. 197586 i n der Tradition des nachbarrecht lichen Ansatzes gehalten, wenn auch i n diesem Urteil die enteignungsrechtliche Sicht auch materielle Bedeutung gewinnt. I n der Literatur überwiegt der enteignungsrechtliche Ansatz, der neuerdings durch Breuer auch eine dogmatische Begründung erfahren hat 8 7 . Es läge jetzt nahe, erneut die Frage zu stellen, ob der zu gewährende Anspruch der nachbarrechtliche Ausgleichsanspruch des § 906 I I 2 BGB ist oder ein Anspruch auf Enteignungsentschädigung, und dann — je 80
Bodennutzung, S. 340 - 351. Bodennutzung, S. 346. Bodennutzung, S. 353. 83 Bodennutzung, S. 350, A n m . 190, i m Hinblick auf BGH, 22. 12. 1967, B G H Z 48, 148. 84 B G H Z 48, 98. 85 Vgl. dazu oben S. 100. 86 B G H Z 64, 220. 87 Vgl. oben S. 137. 81 82
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nach Entscheidung dieser Frage — die maßgeblichen Kriterien zu entwickeln. Die Schwierigkeit einer — gewissermaßen abstrakten — Entscheidung dieser Frage liegt auf der Hand. Nach unserem theoretischen Ansatz zur Duldungspflicht vorstehend unter I ist für uns ein nachbarrechtlicher Ansatz auch i n der Entschädigungsfrage vorgegeben. Die Frage, die sich uns stellt, geht auf der von uns erarbeiteten Grundlage vor allem dahin, ob die typisch nachbarrechtlichen Wertungen zur Entschädigungspflicht den Fällen der Verkehrsimmissionen gerecht werden. Wenn sich das feststellen läßt, entfällt auch die Voraussetzung für eine Anwendung von Enteignungsrecht. Wie weit die Überlegungen zur Duldungspflicht bereits den Ansatz auch i n der Entschädigungsfrage bestimmen, läßt sich durch einen Blick auf die Untersuchung Breuers verdeutlichen. Breuer nimmt für die Fälle der öffentlichen Kommunikationsanlagen kein Dreiecksverhältnis an, bei dem durch gestaltende Planung über die Beziehung gleichgeordneter Nachbarn entschieden wird, sondern — i n Ermangelung dieser Gleichordnung — nur eine bipolare Beziehung 88 . Damit ist der spezifisch nachbarrechtliche Gehalt der Beziehung Nachbar — öffentlicher Bauherr, deren Interessen durch Planung zum Ausgleich gebracht werden, für Breuer nicht mehr faßbar. Alle öffentlichen Interessen fließen i n eins und werden schließlich auf der Grundlage der spezifischen Aufgabenstellung der öffentlichen Komunikationsanlage definiert. Die bipolare Beziehung w i r d zur Eingriffsbeziehung des Enteignungsrechts. Praktisch führt Breuer vor allem seine starke Akzentuierung der spezifischen Aufgabenstellung der öffentlichen Kommunikationsanlagen und die entsprechende Zurückstellung des planerischen Gesichtspunktes vom Nachbarrecht fort zu einem enteignungsrechtlichen A n satz 89 . W i r gehen i m folgenden so vor, daß w i r zunächst die Bedenken gegen die Wertungen i m einzelnen entwickeln, welche die Rechtsprechung vollzieht, und zwar anhand einer Analyse dieser Rechtsprechung selbst (bb). Anschließend versuchen w i r eine Lösung der aufgeworfenen Problemat i k auf der Grundlage einer nachbarrechtlichen Konzeption des Entschädigungsanspruchs (cc). I n diesem Zusammenhang erfolgt dann auch eine Abgrenzung von einer enteignungsrechtlichen Auffassung des Entschädigungsanspruchs. 88
Bodennutzung, S. 338. Breuer w i r d durch seine Grundannahme einer „bipolaren Beziehung" zu einer nicht haltbaren Antithese gezwungen: Er setzt privatnachbarrechtliche Beziehung u n d öffentlich-rechtliche Gestaltung des Nachbarverhältnisses einander gegenüber, Bodennutzung, S. 338. Tatsächlich w i r d aber doch das V e r hältnis privater Nachbarn zueinander — was die Raumentwicklung betrifft — ebenso öffentlich-rechtlich gestaltet w i e das Verhältnis zwischen privatem Nachbarn u n d öffentlichem Betrieb. 89
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2. Kap.: Priv. u. öffentl. Nachbarrecht u n d lebenswichtiger Betrieb
Es sei noch darauf hingewiesen, daß die Kontinuität der nachbarrechtlichen Wertungen seit der Reichsautobahn-Entscheidung des R G 9 0 auch durch § 42 BImSchG nicht unterbrochen ist, wie sich aus § 42 I I 2 B I m SchG ergibt. Diese Vorschrift bedeutet vor allem, daß § 906 I I 2 BGB weiter anwendbar bleibt 9 1 . Unsere folgenden Überlegungen haben daher ihre Bedeutung auch für den Rechtszustand, der für neue Straßen zugrundezulegen ist. bb) Entwicklung anhand
der
einer Würdigung
„Wertungsproblematik" der
Rechtsprechung
Das RG ging i m zweiten Gutehoffnungshütten-Urteil vom 10. 3. 193792 davon aus, daß sowohl Industrie wie Landwirtschaft i m gleichen Raum ihre Daseinsberechtigung hatten, und leitete daraus ab, daß die Immissionen der Industrie die Existenz der Landwirtschaft nicht gefährden durften. Der Schaden, den bei einer derartigen ungleichartigen Raumnutzung der eine dem anderen zufüge, sei billigerweise zu teilen 9 3 . I n der Reichsautobahn-Entscheidung vom 9. 1. 193994 kommt das RG bei der Prüfung des i n der Entscheidung vom 10. 3. 1937 gegebenen Anspruchs nun zu der Auffassung, der Anspruch könne nur i n Ausnahmefällen Platz greifen 95 . Die Zubilligung solcher Schadensersatzansprüche müsse gar eine „seltene Ausnahme" bleiben 9 6 . Daß es sich nur um einen „Ausnahmeanspruch" handeln sollte, war i n der Entscheidung vom 10. 3.1937 nicht gesagt, der Anspruch w i r d dort vielmehr einfach nach seinen — allerdings relativ streng gefaßten — Voraussetzungen, aber doch ohne diese Einschränkung beschrieben. Wie begründet das RG i n dem Reichsautobahnfall den „Ausnahmecharakter"? Daß es sich nur um eine erweiterte Auslegung des § 906 BGB handelt, begründet noch keinen Ausnahmecharakter, wie das RG i n dieser Entscheidung 97 annimmt, und zwar erst recht nicht, wenn man m i t uns i n der Entscheidung vom 10. 3. 1937 eigentlich den Anspruch aus § 26 GewO als gegeben ansieht 98 . Die Schärfe der Voraussetzungen kann den Ausnahmecharakter schon logisch nicht rechtfertigen, weil der Anspruch notwendigerweise regelmäßig gegeben sein muß, wenn nur diese Voraussetzungen erfüllt sind. I m üb90
RGZ 159,129. So auch Ule, § 42 BImSchG Rdz. 3; Erman / Westermann, 24 u n d 25; a. A . Stich, § 42 BImSchG A n m . 19. 92 RGZ 154,161. 93 RGZ 154,167. 94 R G Z 159,129. 95 RGZ 159,140. 98 R G Z 159,141. 97 RGZ 159,140. 98 Vgl. dazu 1. K a p i t e l unter I V . 91
§ 906 B G B A n m .
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rigen war das Maß der Beeinträchtigung i n dem Reichsautobahnfall wohl kaum noch zu überbieten, so daß diese Begründung unglaubwürdig w i r k t . Der eigentliche Grund w i r d i n der Entscheidung denn auch deutlich ausgesprochen: Man w i l l den Straßenbau nicht von vornherein m i t unabsehbaren Schadensersatzansprüchen belasten". Ein K r i t e r i u m für das Vorliegen einer Ausnahme ist damit aus der Reichsautobahn-Entscheidung nicht zu entnehmen. Der eigentlich tragende Grund für die Entscheidung läßt sich vielmehr nur als generelle Ablehnung des A n spruchs i n den Straßenfällen deuten. Die Wertungen des Urteils vom 10. 3.1937 greifen aus diesem übergeordneten Grund nicht. Rechtssystematisch bedeutsam ist i n der Reichsautobahn-Entscheidung die gesonderte Behandlung der Fallgruppe, i n der wegen eines Planungsfehlers der Ausgleichsanspruch i n Betracht kommen soll. Es handelt sich um den Fall, i n dem die Rechtsprechung des BVerwG heute i n jedem Fall subjektive öffentliche Nachbarrechte wegen schweren und unerträglichen Betroffenseins des Nachbarn gewähren würde 1 0 0 , von denen man jedoch anzunehmen hätte, daß sie aus irgendeinem Grunde nicht durchgesetzt worden sind. Das RG formuliert die Voraussetzungen (in hohem Maße verfehlte Ausübung des Ermessens) etwa gleichlaufend m i t der Formel des BVerwG vom „schweren und unerträglichen Betroffensein". Wichtig ist für uns, daß das RG hier nicht den Aufopferungsanspruch wegen Überschreitung der Ortsüblichkeit i n Erwägung zieht, sondern den auch von uns für diese Fallgruppe vorgesehenen Ausgleichanspruch 101 . Die besondere Prüfung dieser Fallgruppe macht darüber hinaus deutlich, daß der Schwerpunkt der Prüfung sich auf den Fall rechtmäßiger Planung bezieht, daß also der Ausgleichanspruch von der Rechtswidrigkeit der Planung gerade nicht abhängig ist, sondern dies nur eine Fallgruppe neben der anderen, praktisch sicher bedeutsameren ist. Die Unterscheidung der beiden Fallgruppen w i r d Bedeutung für die Würdigung der Argumentation der Entscheidung des B G H vom 20. 3. 1975 102 haben. I n der Bergnase-Entscheidung akzeptiert der B G H ohne weitere eigene Untersuchung die These der Reichsautobahn-Entscheidung des RG vom Ausnahmecharakter des Anspruchs, der nunmehr aus § 906 I I 2 BGB folgt 1 0 3 . Der B G H bemüht sich jetzt aber, Kriterien zu finden, wann 99
RGZ 159,141. Vgl. insbesondere BVerwG, 13. 6. 1959, B V e r w G E 32, 173 u n d BVerwG, 5. 7. 1974, B V e r w G E 45, 309, 330; vgl. aber auch BVerwG, 14. 2. 1975, B V e r w G E 48, 56, w o das B V e r w G sogar von einem subjektiven Recht des Nachbarn auf gerechte Abwägung spricht. 101 Vgl. 1. K a p i t e l unter V. 102 B G H Z 64, 220. 103 BGH, 22.12.1967, B G H Z 49,151,152. 100
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2. Kap.: Priv. u. öffentl. Nachbarrecht u n d lebenswichtiger Betrieb
diese Ausnahme vorliegen soll. Die Klage ging auf Aufwendungsersatz für den Ausbau von Räumen an der Hinterseite des Hauses. Der B G H begründet die Ausnahme einmal durch die atypische Fallgestaltung, die sich kurz m i t „Bergnasesituation" beschreiben läßt. Diese besondere Gestaltung des Sachverhalts w i r d sogar weitgehend i n den Leitsatz mit aufgenommen, so daß damit der Anspruch offenbar ganz von gerade dieser, nicht leicht wiederkehrenden Fallgestaltung abhängig gemacht wird. Dann w i r d aber darüber hinaus doch ein K r i t e r i u m entwickelt, das auch auf andere Fälle anwendbar ist und sicher den K e r n der Entscheidung ausmacht: Der Anspruch w i r d davon abhängig gemacht, daß der Verkehrslärm die Bedeutung des Grundstücks i n „ganz besonders starkem, zur Herbeiführung von Gesundheitsstörungen geeignetem Maße beeinträchtigt" 1 0 4 . Gesundheitsstörungen sollen allerdings nur dann berücktichtigt werden, wenn sie über das hinausgehen, was den heutigen Bewohnern moderner Staaten i m allgemeinen durch die Auswirkungen des Straßenverkehrs auf seine Umgebung unvermeidbar auferlegt wird105. Dieses Merkmal der Gesundheitsstörung hat keine Beziehung zu den bis dahin entwickelten Anspruchskriterien. Die Entscheidung des RG vom 10. 3.1937 hatte die „Daseinsberechtigung" des Nachbarn wirtschaftlich verstanden 106 . Entsprechend geht § 906 I I 2 BGB auch von der „ortsüblichen Benutzung des Grundstücks oder dessen Ertrag", also von einem wirtschaftlich verstandenen Schutzgut aus. Das ist auch nicht gut anders möglich, wenn man das Grundeigentum als Grundlage des Anspruchs ansieht. Soweit m i t der Gesundheitsstörung ein anderes Schutzgut zur Grundlage des Anspruchs gemacht werden soll, weicht diese Entscheidung also ganz von der bisherigen Linie, die für den Ausgleichsanspruch entwickelt ist, ab. Schutz der Gesundheit ist etwas durchaus anderes als Schutz der wirtschaftlichen Existenz. Natürlich kann man die „Gesundheitsstörung" als Marke verstehen, von der ab die wirtschaftliche Existenz geschützt ist. N u r ist es nicht nur eine Frage unterschiedlicher Begründung, unter welchem Aspekt man den Anspruch primär sieht 1 0 7 . I n seiner Entscheidung vom 20. 3. 1975 108 gibt der B G H diese Restriktion, die i n der Formel von der besonders schweren Beeinträchtigung zum Ausdruck kommt, auf. U m so wirksamer w i r d dafür eine andere Restriktion, die durch die Bergnase-Entscheidung mittelbar schon vorbereitet ist: Der Kläger hatte hier nur Auf Wendungsersatz für Schall104
B G H Z 49,152. B G H Z 49,152. 108 RGZ 154,161. 107 Kritisch gegen das Abstellen auf die Gesundheitsstörung u n d für eine p r i m ä r wirtschaftliche Betrachtung auch Kleindienst, N J W 1968, 1955 (nur indizielle Bedeutung); w o h l auch Hubmann, J Z 1968, 271. 108 B G H Z 64, 220. 105
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Schutzmaßnahmen geltend gemacht, so daß eine evtl. darüber hinausgehende Wertminderung nicht geprüft zu werden brauchte. I n seinem Urteil vom 20. 3. 1975 beschränkt der B G H jetzt den Ausgleichsanspruch bei rechtmäßiger Planung auf diesen Anspruch auf Ersatz von Schallschutzmaßnahmen, der doch bis dahin allenfalls Teil eines Anspruchs auf Ausgleich von Wertminderung überhaupt gewesen sein konnte. Daß diese Entscheidung den Ausnahmecharakter des Anspruchs überhaupt aufgab, war nur konsequent. Er ließ sich bereits durch die Wertungen i m Urteil des RG vom 10. 3. 1937 109 nicht begründen und wurde erst recht unhaltbar m i t der Milderung der Voraussetzungen, die die zu § 906 I I 2 BGB führende Reform brachte 110 . Seit den sechziger Jahren hat sich auch ein Wandel i n der Einschätzung der Bedeutung des Straßenverkehrs geltend gemacht, der seinen letzten gesetzgeberischen Ausdruck i m BImSchG gefunden hat, auf dessen Wertungen der B G H hier zu Recht zurückgreifen kann. Die unbeschwerte Einschätzung der Segnung des Fortschritts durch Ausbau des Verkehrswesens, die die Reichsautobahn-Entscheidung des RG noch auszeichnet, ist heute durch einen Blick auf die Kehrseite der Medaille abgelöst worden. Damit scheint der Blick auf die eigentlich nachbarrechtlichen Wertungen des zweiten Gutehoffnungshütten-Urteils des RG und des § 906 I I 2 BGB wieder frei. Es ergibt sich allerdings erneut die Frage nach den Kriterien für die A n wendung dieser nachbarrechtlichen Wertungen auf den Straßenverkehr. Der B G H konzipiert aber von diesem neuen Standpunkt aus eine Restriktion des Anspruchs, die der bisher praktizierten i n ihrer Wirkung wohl nur wenig nachsteht. Der Gesichtspunkt wurde schon angedeutet, er soll weiter ausgeführt werden. Die Aufwendungen für Immissionsschutzmaßnahmen stellen nur einen Schadensberechnungsposten des Ausgleichsanspruchs dar, der grundsätzlich auf Ersatz der unzumutbaren Wertminderung ( = Beeinträchtigung der Benutzung oder des Ertrages) des Grundstücks geht. Die vom B G H dargestellte Stufenfolge des Lärmschutzes bei Straßen, nämlich erstens schonende Trassierung, zweitens Lärmschutzmaßnahmen an den Verkehrswegen, drittens Schallschutzmaßnahmen i n den Wohngebieten 1 1 1 , ist nicht vollständig: Es kann nämlich nicht unterstellt werden, daß m i t den Schutzmaßnahmen auf den Wohngrundstücken die Immissionen i n jedem Fall auf das zumutbare Maß her abgedrückt werden können. Der B G H erkennt das auch an, indem er eine Entschädigung gewährt, die sich am Minderwert des betroffenen Eigentums ausrichtet, wenn Lärmschutzeinrichtungen auf dem Grundstück keine w i r k 109 110 111
RGZ 154,161. Vgl. Erman / Westermann, B G H Z 64, 224.
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same Abhilfe bringen oder unverhältnismäßige Aufwendungen erfordern 1 1 2 . Dieser Anspruch soll dann aber weiter voraussetzen, daß die zugelassene Nutzung des Straßengrundstücks die vorgegebene Grundstückssituation nachhaltig verändert und dadurch das benachbarte Eigent u m schwer und unerträglich trifft. Daß der B G H damit die Fallgruppe i m Auge hat, i n welcher subjektive öffentliche Nachbarrechte bestehen, ergibt sich aus der Bezugnahme auf die Urteile des BVerwG vom 13. 6. 1959 113 , vom 3. 3. 1972 114 , vom 14. 12. 1973 115 , vom 5. 7. 1974 116 und vom 1. 11. 1974 117 , i n denen es sich ausschließlich um diese subjektiven öffentlichen Nachbarrechte handelte, w i r d dann aber i n der weiteren Ausführung, m i t der der B G H diese Voraussetzung des Anspruchs erläutert, noch deutlicher: Ließen sich nämlich, so heißt es dort, die nachbarschädlichen Auswirkungen des Verkehrs auf dem Straßengrundstück nicht auf ein zumutbares Maß vermindern, so hätten schon bei der A u f stellung des Bebauungsplanes für die öffentliche Verkehrsfläche die betroffenen Grundstücke durch Aufhebung oder Änderimg ihrer bisher zulässigen Nutzung ausdrücklich i n Anspruch genommen werden müssen, wodurch die Voraussetzungen einer Entschädigung der Eigentümer nach §§ 40 ff. BBauG geschaffen worden wären 1 1 8 . Es erscheine gerechtfertigt, nach diesen Entschädigungsgrundsätzen auch dann zu verfahren, wenn i m Einzelfall die wegen der Schwere der Verkehrsimmission gebotene rechtssatzmäßige Aufhebung oder Änderung der zulässigen N u t zung der betroffenen Grundstücke unterblieben sei 1 1 9 . Damit gibt der B G H den Anspruch erst dann, wenn bei sachgerechter Planung eine I n anspruchnahme des Anliegergrundstücks nach § 40 I Ziffer 5 BBauG als Verkehrsfläche oder eine Herabzonung nach § 44 BBauG erforderlich gewesen wäre. Eine Enteignung i m Sinne dieser Bestimmungen ist aber sicher erst möglich, wenn die Nutzbarkeit des Grundstücks zu Wohnzwecken völlig oder doch jedenfalls weitgehend entfällt. Bei nur geminderter, aber nicht aufgehobener Nutzbarkeit, wäre eine Enteignung durch ausdrückliche Inanspruchnahme nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gar nicht zulässig. Gerade für diese „mittlere" Fallgestaltung w i r d der Anspruch aus § 906 I I 2 BGB m i t seinem variablen Maßstab bedeutsam. Der B G H schneidet der Bestimmung hier diese Bedeutung ab, indem er für den gewährten Minderwertanspruch die Voraussetzungen der Vollenteignung für erforderlich erklärt. 112 113 114 115 118 117 118 119
B G H Z 64, 230. B V e r w G E 32,173. D Ö V 1972, 825. D Ö V 1974, 381. D Ö V 1975, 92. N J W 1975, 841. B G H Z 64, 230 unter Hinweis auf BVerwG, 1. 11. 1974, N J W 1975, 841, 845. B G H Z 64, 231.
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Die beiden Teile des einheitlichen Anspruchs, die der B G H einerseits mit dem Anspruch auf Lärmschutzmaßnahmen und andererseits mit dem Anspruch auf Minderwert gibt, fügen sich nicht aneinander, w e i l sie unterschiedliche Fallgruppen betreffen: Der eine Anspruch ergibt sich bei rechtmäßiger, der andere bei rechtswidriger Planung. Der Wertminderungsanspruch des B G H ist m i t dem Anspruch bei rechtswidriger Planung i m Sinne der Reichsautobahn-Entscheidung des RG identisch, ein Wertminderungsanspruch bei rechtmäßiger Planung, wenn Schutzmaßnahmen nicht mehr ausreichen, fehlt. Nur dieser Anspruch könnte doch sozusagen die weitere Stufe hinter dem Anspruch auf Schutzmaßnahmen sein, wenn diese nicht mehr ausreichen, gewissermaßen dessen „Verlängerung", die vom B G H hier doch offenbar auch gesucht wird. Oder anders ausgedrückt: Wenn Aufwendungsersatz für Schutzmaßnahmen und darüber hinausgehender Ersatz von Minderwert nur Schadensbemessungsposten eines einheitlichen Anspruchs aus § 906 I I 2 BGB sind, so können diesen Posten nicht unterschiedliche Anspruchsvoraussetzungen zugeordnet werden, der Anspruchstatbestand muß schon derselbe sein. Der B G H gibt nur für den einen Teilanspruch die Voraussetzung einer besonders schweren Beeinträchtigung auf, die bisher den Ausnahmecharakter des Anspruchs sicherte, weil die Wertungen des BImSchG diese Aufgabe forderten, und hält praktisch für den anderen Teil des Anspruchs diese Restriktion aufrecht. Diese Beschränkung des Wertminderungsanspruchs trägt der besonderen Bedeutung der Wertungen des BImSchG, m i t der der B G H die Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung zum anderen Teil des Anspruchs begründet, nicht Rechnung. Einen Versuch der Begründung kann man allerdings i n den Ausführungen des B G H unter I I I 3 des Urteils sehen 120 . Der B G H begründet hier die „ A r t und Weise" der Entschädigungsleistung, die auf Ersatz der Aufwendungen für Lärmschutzanlagen geht. Bei Verkehrsimmissionen stehe das sowohl i m öffentlichen als auch i m Interesse des Betroffenen selbst angestrebte Ziel i m Vordergrund, die betroffene Sache i n einen Zustand zu versetzen, der den fortdauernden hoheitlichen „Eingriff" abwehrt. Dem schutzwürdigen Interesse des Eigentümers an der Erhaltung seines Eigentums werde durch eine Entschädigung i n Geld, die i h n i n die Lage versetze, die notwendigen Lärmschutzmaßnahmen anzubringen, i n einer m i t A r t . 14 I I I 3 GG zu vereinbarenden Weise Rechnung getragen. Diese A r t der Entschädigung gewährleistete es am besten, daß der m i t der gesteigerten Wertschätzung des zum Wohnen bestimmten Eigentums verfolgte Zweck, dem einzelnen erträgliche Lebensbedingungen zu verschaffen, auch tatsächlich erfüllt werde 1 2 1 . M i t 120 121
B G H Z 64, 229 f. B G H Z 64, 230.
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diesen Ausführungen läßt sich jedoch eine Einschränkung des Anspruchs nur auf Ersatz für Lärmschutzmaßnahmen i m Regelfall, also soweit kein schweres und unerträgliches Betroffensein vorliegt, nicht begründen. Daß Lärmschutzmaßnahmen den m i t Wohnruhe bezeichneten Zweck tatsächlich erfüllen, bedeutet ja noch nicht, daß damit auch eine nicht abwehrbare Beeinträchtigung der Wohnruhe ausgeglichen sein könnte. Dem „schutzwürdigen Interesse des Eigentümers" ist damit doch nur für einen Sektor, nicht insgesamt, Rechnung getragen. Diese Argumentation rechtfertigt allenfalls die Zweckbindung des gewährten Ersatzes i m Sinne von § 42 I I 1 BImSchG auch für die Fälle, i n denen diese Bestimmung nicht direkt anwendbar ist. I n diese Richtung scheint auch der letzte Satz unter I I I 3 des Urteils zu zielen. Praktisch setzt sich damit i n der Entscheidung des B G H vom 20. 3.1975 bis auf den Bereich der Lärmschutzmaßnahmen eine mehr enteignungsrechtliche Betrachtung des Anspruchs durch, d. h. die Qualifizierung des Anspruchs als Enteignungsanspruch gewinnt jetzt auch materielle Bedeutung, w e i l die erhöhten Anspruchsvoraussetzungen des öffentlichen Rechts ausdrücklich aufgenommen werden. Die schon durch die Reichsautobahn-Entscheidung des RG und dann durch die Bergnase-Entscheidung des B G H vorgezeichnete Linie der Restriktion setzt sich m i t der Anknüpfung an die Voraussetzungen des subjektiven öffentlichen Nachbarrechts zwar nicht wieder durch, ist aber — wenn auch deutlich abgemildert — immer noch erkennbar. Dieselbe Tendenz t r i t t i n der neueren Literatur zu § 42 BImSchG zutage, wie sich aus unserem obigen Uberblick ergibt. Korbmacher w i l l einen — verschärften — enteignungsrechtlichen Maßstab schon an den Anspruch aus § 42 I BImSchG anlegen 122 , während Kastner den Minderwertanspruch offenbar nur i m Zusammenhang m i t der Teilenteignung von Grundstücken gewähren w i l l , wie sich daraus ergibt, daß er die Ausführungen i n der Entscheidung des B G H vom 20. 3. 1975 unter I I I 4 als Modifizierung der Rechtsprechung des B G H i n der Entscheidung vom 4. 10. 1973 123 ansieht 1 2 4 . Auch Stich gibt eine weitergehende Entschädigung nur nach den Grundsätzen des enteignungsgleichen Eingriffs, ohne sich jedoch auf die vom B G H i n der Entscheidung vom 20. 3. 1975 entwickelten Anspruchsvoraussetzungen festzulegen 125 .
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Korbmacher, D Ö V 76, 7. B G H N J W 1973, 2283. Kastner, N J W 1975, 2322. Stich, § 42 BImSchG A n m . 19 u n d 20.
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cc) Die Voraussetzungen des nachbarrechtlichen Anspruchs auf den Minderwert bei Verkehrûmmissionen Damit stehen w i r vor der Frage, nach welchen Kriterien denn eigentlich der Minderwertanspruch zu bestimmen ist, wenn er nicht von vornherein auf die Fälle beschränkt werden kann, i n denen ein subjektives öffentliches Hecht „auf andere Trassierung" vorliegt (und nicht durchgesetzt ist) bzw. i n denen eine Enteignung nach §§ 40 ff. BBauG möglich gewesen wäre. Es liegt auf der Hand, daß i n einer generalisierenden Entwicklung dieser Kriterien die eigentliche Schwierigkeit liegen wird. I n seiner Entscheidung vom 20. 3. 1975 beschränkt sich der B G H gewissermaßen auf die Teile des Anspruchs, denen ohne weiteres eine praktizierbare Form zu geben war. W i r versuchen i m folgenden, einige Orientierungspunkte für den hier ins Auge gefaßten Teilanspruch, der auf Minderwert bei rechtmäßiger Straßenplanung geht, zu gewinnen.