Das Vater-Sohn-Motiv in der Dichtung: 1880–1930 [Reprint 2019 ed.] 9783111626703, 9783111248653


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INHALT
EINLEITUNG
I. REALISMUS: KLUFT ZWISCHEN SOHN UND VATER
II. NEUROMANTIK(ca. 1895–1920): PIETÄTVOLLER VATERKULT
III. DIE REVOLUTIONSGENERATION UM 1918: VERDAMMUNG DES VATERS. TRIUMPH DES SOHNES
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Das Vater-Sohn-Motiv in der Dichtung: 1880–1930 [Reprint 2019 ed.]
 9783111626703, 9783111248653

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STOFF- UND MOTIVGESCHICHTE DER DEUTSCHEN LITERATUR

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STOFF- UND MOTIVGESCHICHTE DER DEUTSCHEN LITERATUR

HERAUSGEGEBEN VON

PAUL MERKER UND GERHARD LÜDTKE

11 KURT K. T. WAIS

DAS V A T E R - S O H N - M O T I V ZWEITER TEIL: 1880—1930

1931 WALTER DE GRUYTER & CO. VORMALS G.J.GÖSCHENSCHE VERLAGSHANDLUNG-J.GUTTENTAG,VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J. TRÜBNER — VEIT & COMP.

BERLIN UND LEIPZIG

DAS

VATER-SOHN-MOTIV IN D E R D I C H T U N G 1880—1930

VON

KURT IL T. WAIS

1931 WALTER DE GRUYTER & CO. VORMALS G. J. GÖSCHENSCHE VERLAGSHANDLUNG—J. GUTTENTAG,VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG REIMER—KARL J. TRÜBNER—VEIT & COMP.

BERLIN UND LEIPZIG

DRUCK VON ) . J. AUGUSTIN IN GLOCKSTADT UND HAMBURG

INHALT

Einleitung VII I. R e a l i s m u s : K l u f t z w i s c h e n Sohn und V a t e r 1. Pessimistische Strömung seit ca. 1880: Fatalistische Auffassung des Konflikts 1 2. Pietätlose Strömung ca. 1890—1914: Verdammung des Vaters. Triumph des Sohns 12 II. N e u r o m a n t i k (ca. 1895—1920): P i e t ä t v o l l e r V a t e r k u l t . 34 III. Die R e v o l u t i o n s g e n e r a t i o n um 1918: V e r d a m m u n g des Vaters. T r i u m p h des Sohns 47

EINLEITUNG Im vorangehenden Heft dieser Schriftenreihe wurde die Literaturgeschichte des Vater—Sohn-Motivs, das durch die psychoanalytische These vom „Oedipus-Komplex" seit Beginn dieses Jahrhunderts ins Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit gerissen ward, in ihrem Entwicklungsgang bis zum Jahre 1880 verfolgt. Es mag auf den ersten Blick befremden, daß wir dem jüngstvergangenen Halbjahrhundert ebensoviel Platz einräumen wie der langen Kette der gesamten bisherigen Literaturentwicklung; vergleicht man aber rein zahlenmäßig die dichterischen Äußerungen zum Vater—Sohn-Problem von einigem literarischen Wert v o r 1880 mit denjenigen der letzten fünfzig Jahre, so wird man finden, daß diese Zahlen nicht übermäßig voneinander abweichen, — Symptom für das ganz unerhörte, wahrhaft epidemische Interesse neuerer Dichter an diesem Problem. Kaum eines dieser 50 Jahre verfloß, ohne nicht wenigstens eine neue Bearbeitung des Motivs hervorzubringen, und will man von der „Blütezeit" literarischer Motive reden, so kann kein Zweifel sein, daß diejenige des Vater—Sohn-Motivs — in Form des Vater—SohnKonflikts — um das Jahr 1918 angesetzt werden müßte. Um unabhängig von der Lektüre des ersten Teils dieser Abhandlung das volle Verständnis des zweiten zu ermöglichen, bedarf es der Wiederholung einiger allgemeiner Voraussetzungen, die zu Beginn des ersten Teils eingehender dargelegt wurden. Vor allem sei unser prinzipieller Standpunkt der p s y c h o a n a l y t i s c h e n Auffassung des Problems gegenüber betont, die besonders in einem (mit dem Sigel „Rank J M " zitierten) Buch von Otto Rank „Das Inzestmotiv in Dichtung u. Sage" (Lpz. Wien 1926, 2. Aufl.) auf Werke der Literatur ihre Anwendung gefunden hat und die den Vaterhaß des Sohnes ausschließlich auf s e x u e l l e Impulse — der Vater als stetiger Rivale um den sexuellen Besitz der Mutter —, auf das Inzestmotiv also, zurückführt. Die Fehdeursachen, die nun aber den l i t e r a r i s c h e n Vater—Sohn-Konflikten zugrundeliegen — und allein über diese, nicht über Fälle der medizinisch-klinischen Alltagspraxis steht uns ein Urteil zu — diese Ursachen sind in überwältigender Mehrzahl nicht sexuelle, sondern weltanschauliche, „politische" Konfliktelemente, die das Vater—Sohn-Motiv als Teilerscheinung umfassenderer geistesgeschichtlicher Bewegungen erscheinen lassen. Die wichtige Konsequenz dieses Tatbestandes ist, daß hiemit das Vater—Sohn-Motiv als solches nicht mehr ausschließlich auf sexuellen,

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EINLEITUNG

also allgemein menschlichen Ursachen beruhen würde, womit dann allein die v a t e r f e i n d l i c h e Haltung des Sohnes als die einzig natürliche und ursprüngliche erschiene und jede andere — etwa die verehrende und liebende — als unnatürliche, sekundäre, „verdrängte" Erscheinung, — sondern daß jetzt die Auffassung der Vater—Sohn-Feindschaft von weltanschaulich-politischen, also zeitlich bedingten Strömungen abhängig erscheint und somit dieser Konflikt nicht in allen Perioden in gleicher Stärke wirksam sein kann. In revolutionären Umsturzepochen (etwa um 1789, 1830, 1918) wird daher die Zahl der Zusammenstöße im engsten Lebenskreise, dem der Familie, häufiger sein (und damit auch in der Literatur), während sich bei einer von traditionalistisch-pietätvollem Zeitgeist beherrschten Dichtergeneration (z. B. „Werther"zeit und Romantik) schwärmerischer Elternkult und Verteidigung des Pietätsgefühls als weltanschauliche Grundhaltung ergeben wird. Ein steter, alternierend rhythmischer Wechsel dieser beiden Grundauffassungen ließ sich vom 13. Jahrhundert an ungezwungen an Hand der immer reichlicher fließenden literarischen Äußerungen nachweisen — bis zur Periode eines optimistischrevolutionären Realismus (1830—1880), wo allenthalben die Revolte des Sohns gegen den Vater von den Dichtern begrüßt, bejaht, sanktioniert und zum Siege geführt worden war: hier, um 1880, mit dem Einsetzen zwar noch nicht einer absoluten Reaktionsepoche, eines neuen pietätvollen Elternkults, sondern nur einer Reaktion auf die bisherige rücksichtslose, allzu optimistische und einseitige Parteinahme für den Sohn, beginnen wir unsere Untersuchung. Vorausgeschickt sei noch, daß wir mitunter die Betrachtung des Vater— Sohn-Problems zur Betrachtung des Generationsproblems erweitern, also Fälle von Vater—Tochter-, Mutter—Tochter- und Mutter—Sohn-Auseinandersetzungen berücksichtigen werden, sofern nämlich der Geschlechtsunterschied nur äußerlich einen ursprünglichen Vater—SohnKonflikt variiert, die Mutter also nicht als Mutter, sondern als „die Alte", die Tochter nicht als solche, sondern als „die Junge" begriffen wird. — Was die bisherigen literarhistorischen Vorarbeiten für unser Thema anbetrifft, so gibt es neben einer nicht gedruckten, maschinenschriftlichen Diss. von Karl Kossow (Rostock 1925) „Der Gegensatz von Vater und Sohn im deutschen Drama" unseres Wissens für die neuere Zeit ebensowenig eine Sonderuntersuchung wie für die Zeit vor 1880; auch Kossow, dessen Arbeit bei den Literaturangaben des ersten Heftes gewürdigt wurde, erstickt an der Masse der blindlings angehäuften, nicht gesichteten und durchgearbeiteten Dramentitel, während man gerade wesentliche Namen wie Werfel („Spiegelmensch"), Paul Zech („Der Turm") u. a. vermißt.

I. REALISMUS: KLUFT ZWISCHEN SOHN UND VATER 1. P e s s i m i s t i s c h e S t r ö m u n g s e i t ca. 1880: F a t a l i s t i s c h e Auffassung des Konflikts. Die Zeit von 1830 bis 1880 hatte an die Revolution geglaubt, und wer an die Revolution glaubt, glaubt sowohl an ihre Notwendigkeit wie an ihren glücklichen Ausgang, glaubt, es sei etwas gewonnen, wenn sie vollzogen sei. Dieser Optimismus ging der jetzt beginnenden Epoche verloren; ihre Lieblingsthemen waren gescheiterte Revolutionäre, besiegte Aufständische, untergehende Geschlechter, Opfer der Vererbung oder eines philosophischen Determinismus. Die Atmosphäre der Zeit wurde schwül, drückend, erstickend, und diese Verdüsterung der dichterischen Stimmung mußte auch in der Auffassung des Vater—Sohn-Konfliktes ihre Spuren hinterlassen. War den bisherigen Fassungen des Problems seit 1830 gemeinsam gewesen, daß der Dichter sich ganz auf die Seite, des protestierenden Sohnes gegen die Eltern stellte, ihn in seiner Revolte menschlich unterstützte, so verlieren jetzt plötzlich die Dichter jedes Interesse daran, sich auf irgendjemandes Seite zu stellen. Die Tragik des Konflikts wird auf diese Weise hoffnungsloser und unentschiedener; oft auch läßt es der Dichter bis zum offenen Konflikt überhaupt nicht kommen, worin die nihilistische Verzweiflung an der Möglichkeit einer befreienden Revolte gegen elterliches Zwangsregiment oder an irgend einer andern Lösung des Problems noch deutlicher hervortritt. Niemals werden sich — selbst wenn beide den besten Willen haben — Vater und Sohn jemals verstehen; das ist nach dem Tode seines Vaters die Erkenntnis, die in L é o n B l o y ' s (1846—1917) Roman „Le désespéré" (Paris 1886, p. 9) ein Sohn niederschreibt: „Déjà, dans toutes les conditions imaginables, un père et un fils sont comme deux âmes muettes qui se regardent de l'un à l'autre bord de l'abîme du flanc maternel, sans pouvoir presque jamais ni se parler ni s'étreindre, à cause, sans doute, de la pénitentielle immondicité de toute procréation humaine! Mais si la misère vient à rouler son torrent d'angoisses dans ce lit profané et que l'anathème effroyable d'une vocation supérieure soit prononcé, comment exprimer l'opaque immensité qui les sépare ?"

Diese Wandlung, die um das Jahr 1880 einsetzt, zeigt sich besonders stark bei I b s e n und S t r i n d b e r g , deren bisherige revolutionäre Energie um diese Zeit sich in düstern Pessimismus umsetzte. — Der theoretische Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud („Traumdeutung" 3. Aufl. 1 Wais II

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p. 186), führte um die Jahrhundertwende die damalige große Popularität I b s e n s als Beweis für eine der Publikumsmasse instinktiv innewohnende Vaterfeindlichkeit an, denn Ibsen rücke ja „den uralten Kampf zwischen Vater und Sohn in den Vordergrund seiner Fabeln." Letzteres jedenfalls ist in mehrfacher Hinsicht unrichtig. Vorausgeschickt sei, daß nach neuesten Forschungen (Oskar Mosfjeld „Ibsen og Skien"; in „Edda" 17; XXX, 63. Oslo 1930) Ibsens Kindheit keineswegs „en eneste smertensgang" gewesen war, wie viele meinten; wohl hatte er angeblich „som barn lidt under farens brutalitet" (p. 72) und unter der Verständnislosigkeit der Mutter (ebd.: „i hjemmet hadde der vsert Ute som knyttet de to sammen"), wohl soll Ibsen die Nachricht vom Tod seines Vaters kalt und schweigend empfangen haben1), aber er schrieb von Grimstad doch ziemlich oft nach Hause (p. 68), und daß er nicht öfter nach Skien auf Besuch kam, begründete er selber 1877 mit den ihm widerwärtigen Umtrieben der in Skien allmächtigen Lammerssekte. Während man bisher aus dem Fehlen jeglicher Nachrichten auf ein schlechtes Verhältnis Ibsens zu seinem Vater schloß, teilt mir Prof. Francis Bull-Oslo in freundlichem Entgegenkommen mit, es habe sich bei den Ibsenfeiern 1928 ein alter Mann gemeldet, den Ibsens Vater noch nach 1870 stolz Briefe seines Sohnes hatte lesen lassen, die er so lange mit sich trug, bis das Papier zerfiel; Mosfjeld (p. 72) möchte sogar, trotz Ibsens kaltem Beileidsbrief beim Tode der Mutter und trotz des Sohn-Mutter-Konflikts im „Brand", zwischen dieser und dem Dichter keinen „direkte motsetningsforhold" annehmen. — Was nun den Vater-Sohn-Kampf in Ibsens D i c h t u n g anlangt, so irrt S. Freud erstens, wenn er vorgibt, Ibsen habe ihn mehrfach behandelt, denn vor 1880 erscheint er überhaupt in keinem seiner Werke und nachher — dies ist Freuds zweiter Irrtum — keineswegs in Form eines revolutionären Konflikts (wie nochl864/66 der Kampf von Ibsens „Brand" gegen seine Mutter). Die beiden revolutionären Söhne, die der Freudschüler Rank (J M180f.) anzugeben weiß2), sind Osvald Alving, ein sittlich haltloser Todeskandidat, 1 ) Ein Bericht dieser Szene findet sich in dem Schlüsselroman „Familien Pehrsen" (1882) von Ibsens Eckermann und damaligem Begleiter J o h n P a u l s e n , weshalb Georg Brandes in einem Beschwerdebrief vom 25. 12. 1882 („Edda" 1928; XXVIII, 149—52) diesen der Indiskretion beschuldigte: als in dem Roman beim Eintreffen der Nachricht ein Blick Pehrsens ( = Ibsens) dessen Gattin trifft, verstummt sie erschrocken und ihr Sohn „saa ligesom bestyrtet paa Faderen, der fortsatte sin rolige, besindige Gang over Gulvet, uden at msele et Ord videre. Der blev heller ikke fra nogen af Siderne talt mere om den Sag" (p. 15011). 2 ) Beiläufig spielt das Eltern—Kinder-Problem noch in eine Reihe anderer Stücke Ibsens herein; eine ausführliche und lückenlose Analyse der fast ausschließlich disharmonischen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern findet sich innerhalb der ganzen Ibsenliteratur nur bei Anathon Aall („II. Ibsen als Dichter und Denker" Halle 1906, p. 121—127).

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und Gregers Werle, der bornierte Hausierer mit „idealen Forderungen", der Glück und Leben anderer Leute zerstört, zwei Menschen, die Ibsen ganz deutlich als rettungslos Verirrte, als zwei große Fragezeichen verstanden haben will; seine geringe Sympathie für Jugend und junge Menschen zeigt sich in den zweifelhaften Charakteren seiner Altersdramen ganz deutlich: Regine, die Töchter in „Frau vom Meer", Hilde Wangel, Erhard Borkman, Maja Rubek! Der Psychoanalytiker hat nicht die grausame Ironie verstanden, mit der Ibsen in den „Gespenstern" seinen aufgeklärten Snob Osvald über die abergläubische Ehrfurcht vor dem Vater spötteln läßt, während er selbst bis in Gesten, Gewohnheiten, Handlungen nichts als das „Gespenst", schließlich auch das Opfer seines toten Vaters ist (III. Akt; Ges. Werke VII, 83): Frau A l v i n g : Entsetzlicher Gedanke! Sollte ein Kind nicht unter allen Umständen Liebe für seinen Vater fühlen ? O s v a l d : Wenn ein Kind seinem Vater nichts zu verdanken hat? Ihn garnicht gekannt hat ? Hältst Du denn wirklich noch fest an dem alten Aberglauben, Du, die doch sonst so aufgeklärt ist? Frau A l v i n g : Und das sollte nur Aberglauben sein —! O s v a l d : Ja, das mußt Du doch einsehen, Mutter. Das ist so eine von den Anschauungen, die auf der Welt gang und gäbe sind und — Frau A l v i n g (erschüttert): Gespenster! Osvald (geht durchs Zimmer): Ja, Du kannst sie schon Gespenster nennen.

Wenn in diesem Drama Ibsen andeutete, daß die revolutionärsten Theorien gegen den Vater den Sohn nicht vom Vater befreien, so wie man einen Anzug wechselt — so m i ß b i l l i g t e es Ibsen in der „Wildente" geradezu, wenn der Sohn den Vater zur Rede stellt und ihm seine Hinterwäldlersmoral predigt; überhaupt mißbilligt und bekrittelt er den ganzen Gregers Werle, diesen Don Quijote der Wahrheit, der sich für berufen hält, seine sämtlichen harmlos-glücklichen Mitmenschen zur Rede stellen zu müssen, darunter auch seinen Vater, einen Meister des Lebens; der mit pathetischer Geste das väterliche Haus für immer verläßt und unfähig ist, auch nur mit dem Ofen seines neuen Zimmers zurechtzukommen. Ebenso ist S t r i n d b e r g in den 80er Jahren ganz von seiner anfänglichen hemmungslosen Parteinahme für die Jungen abgekommen. Held seines Trauerspiels „Fadren" (1887) ist die ungemein rührende Gestalt des „Vaters", der, von allen verraten, bei seinem Kinde um Liebe bettelt, das aber, von der teuflischen Mutter „wohlerzogen", sie ihm versagt. Da versucht er es, schon wahnsinnig, mit maßlosen Befehlen (III, 6): Der R i t t m e i s t e r : Aber du sollst mich nur lieben! Du sollst nur eine Seele haben, sonst findest du niemals Frieden, und ich auch nicht. Du sollst nur einen Gedanken haben, der das Kind meines Gedankens ist, du sollst nur einen Willen haben, der meiner ist. 1«

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Berta: Das will ich nicht! Ich will ich selbst sein. Der R i t t m e i s t e r : Das darfst du nicht! Siehst du, ich bin ein Kannibale und ich will dich fressen. Deine Mutter wollte mich fressen, aber das konnte sie nicht. Ich bin Saturn, der seine eigenen Kinder fraß, weil man prophezeit hatte, daß sie ihn sonst fressen würden. Friß oder werde gefressen! Das ist die Frage! Wenn ich dich nicht fresse, so frißt du mich, und du hast mir bereits die Zähne gezeigt.

Und der Wahnsinnige greift zum Revolver, um sein Kind zu erschießen. Trotz allem aber nimmt Strindberg nicht mehr die Partei des Kindes, sondern behandelt das Mädchen, das schon stark entwickeltes Weib — daher f ü r ihn urböse — ist, mit schneidender Kühle; dem Vater billigt er mitleidige Sympathie zu. Fragwürdig sind auch die Gestalten der Söhne der in den 80er und 90er Jahren so ungeheuer beliebten D e k a d e n z r o m a n e vom Zerfäll von Familien, deren Betrachtung wir uns hier versagen müssen; da sie nicht stark genug zur Revolte sind, gehen sie unter der Faust ihrer Eltern schweigend und apathisch zugrunde. Typisch dafür ist der vollkommen lichtlose Roman „Die Herren Golowljow" (1872) des Russen M i c h a i l S a l t y k o w - S t s c h e d r i n , wo dies Schicksal in zwei Generationen nacheinander je zwei vergebens sich aufbäumende Söhne trifft; einer von ihnen, der weiß „daß er einen Vater hatte, der ihn jederzeit unterdrücken konnte" (Mchn. Lpz. 1914, p. 212), wird von seinem Vater bewußt zum Selbstmord getrieben, — dem einzigen, der obenauf bleibt, weil er in seiner Jugend stets heuchlerisch die elterliche Autorität gepriesen hatte (p. 63). Mit dem Tode des Sohnes endet auch die Tragödie „Les Fossiles" (1891) von F r a n ç o i s d e C u r e l (1854—1928), dem größten Dramatiker des französischen Naturalismus, wo Sohn und Vater Rivalen sind um eine Frau, die der Vater verführt hat und die der Sohn liebt und heiratet : hier ist die Tradition des alten Adelsgeschlechts so stark, daß zwischen Vater und Sohn kein offener, erlösender Konflikt zu entstehen vermag, aber noch der sterbende Sohn lechzt nach Befreiung von den ehernen väterlichen Traditionen, die vielleicht seinem neugeborenen Kinde künftig gelingen wird. In D e u t s c h l a n d finden wir bei T h e o d o r S t o r m dreimal tragisches Ende eines Sohnes durch indirekte Schuld des Vaters dargestellt. Aber nicht den j u n g e n Storm hat das Problem angezogen, obwohl des Dichters Vater meist beleidigend zurückhaltend war: Storm erinnerte sich nicht, daß er vom Vater (und von der Mutter) je umarmt oder geküßt worden wäre, und in den 9 Jahren, in denen der Vater Storm vier Häuser von ihm entfernt wohnte, hat der Vater ihn nur zweimal besucht. Erst der alternde Storm ist es, der „seine Tragik hauptsächlich der Beziehung von Generation zu Generation entnimmt. Das Verhältnis von Vater und Sohn: seine

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schneidendsten Novellen gehören ihm, Carsten Curator, Aquis submersus, Hans und Heinz Kirch" (W. Brecht „Storni u. die Geschichte" in „Deutsche Viertelj. Sehr. f . Lit. Wiss. u. Geistesgesch." 1925, I I I , 451). Von vornherein scheidet für uns aus: „Aquis submersus" (1875/6), da hier ohne Wissen des Vaters, wenn auch nicht ohne seine indirekte Schuld, sein geliebter, unehelicher Sohn ertrinkt. In den beiden andern Novellen das Motiv vom verlorenen Sohn: ein liebevoll strenger und rechtschaffener Vater verschmäht es, den unehelichen Bankerottem- in „Carsten Curator" (1877) durch eine unverantwortliche Tat zu retten, — er verstößt, in „Hans und Heinz Kirch" (1881/2), den arbeitsunlustigen, unfroh'en Sohn zweimal, weil eine Besserung unwahrscheinlich ist 1 ); beidemale beschäftigt Storm ausschließlich die Tragik des Vaters, die ihm in der ersten Novelle, wie er an Ileyse schrieb, aus Erfahrungen mit dem eigenen ältesten Sohn nahegerückt war. Die deutschen N a t u r a l i s t e n endlich hat das Problem mehrfach beschäftigt. Als H e r m a n n S u d e r m a n n 1889 sein Drama „Die Ehre" schrieb, konnte er nur erst die Kluft feststellen, die in Vorderhaus und Hinterhaus (wo Robert Heinecke seiner Mutter sagt „Wir reden zwei Sprachen, wir verstehen uns nicht1'') unüberbrückbar zwischen Eltern und Kindern gähnt. Ein Jahr später stellte Gerhart H a u p t m a n n in seiner Familientragödie „Das Friedensfest" (1890) das Problem in den Mittelpunkt der Handlung. Ein halbwahnsinniger Vater hat seine Söhne tagelang mit Schularbeiten gequält, beginnt dann plötzlich sie zu hassen und kümmert sich nicht mehr um sie; als er einmal seine Gattin beleidigt, schlägt ihn sein jüngerer Sohn Wilhelm ins Gesicht. Vater und Sohn verlassen in entsetzlichem Haß beide das Haus. Nach sechs Jahren kehren sie zufällig beide zum Weihnachtsabend zurück: der Vater verzeiht, versöhnt sich mit dem Sohn. Aber der Friede ist nicht dauerhaft. Verfolgungswahnsinn bricht beim Vater aus, vor dem Sohne fliehend trifft ihn der Schlag. Der Sohn erkennt, wie Helene Krause in Hauptmanns trostlosem Erstlingsdrama „Vor Sonnenaufgang" (1889), im letzten Akt die Unmöglichkeit, sich durch bloße Empörung des Vaters zu entledigen: der halbwahnsinnige Geist des Vaters erwacht auch in ihm. Sein älterer Bruder, bereits resignierend, rückt dem Protestierenden die Ähnlichkeit mit dem Vater vor Augen (III. Akt).... ') Ganz anders hatte sich in A d o l p h L'Arronge's unverwüstlichem Schauspiel „Mein Leopold" (1873) der rührend selbstlose, neureiche Schuhmachermeister benommen, der sich von seinem Schulden machenden und Wechsel fälschenden Sohn, dem verschwenderischen Referendar, ruinieren läßt, nach seinem treuherzigen Lebensprinzip: „Meine einzige Passion, Ist mein Sohn, ist mein Sohn." Ernsthafter ist in F r i e d r i c h s S p i e l h a g e n s Roman „Sturmflut" (1876) der Gegensatz zwischen einem alten rechtlichen General und seinem Wechsel fälschenden Sohn herausgearbeitet.

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W i l h e l m : Jeder Mensch ist ein neuer Mensch. R o b e r t : Das möchtest du gern glauben. Laß gut sein! Da verlangst du zuviel von dir. Die fleischgewordene Widerlegung bist du ja doch selbst.

Hauptmann, der Ibsenschüler und Sohn einer Zeit, der die Vererbung zum dichterischen Erlebnis wurde, dürfte sich letzterer Ansicht wohl angeschlossen haben; doch umgeht er, wie gewöhnlich, eine klare Entscheidung und schließt den Vorhang über einer verzweifelten Totenklage. Hatte er doch schon 1889 (Gesamm. Werke, Bln. 1921; I, 62) die Frage unbeantwortet gelassen: „Wie viele Eltern mögen wohl alljährlich über die Leichen ihrer Kinder schreiten, ohne daß jemand " In einem drei Jahre später erschienenen Drama „Heimat" (1893) behandelte nun auch S u d e r m a n n ein ähnliches Thema, mit ganz ähnlicher Schlußstimmung, nur mit Ersetzung des pietätlosen Sohns durch eine moderne Tochter. Diese, von ihrem Vater einst aus dem Hause gewiesen, weil sie sich weigerte, einen ungeliebten Mann zu heiraten, kehrt nach Jahren in stolzer Unabhängigkeit ins Elternhaus zurück. Dort hat der alte Oberstleutnant immer noch am Kommandoton und Autoritätsgebote festgehalten (I, 5): Sehn Sie, in diesem Hause herrscht ganz altmodisch noch die väterliche Autorität. — Und wird herrschen, so lange ich lebe. Und bin ich denn ein Tyrann? Redet doch! — Ihr müßt's doch wissen ! . . . Seid ihr nicht gut aufgehoben ? Halten wir nicht zusammen, wir drei? Und an so was rüttelt nun die Zeit, pflanzt Widerspenstigkeit in die Herzen der Kinder, sät Mißtrauen zwischen Mann und Weib (sich erhebend) und wird nicht eher ruhen, als bis die letzte Heimat in Trümmer sinkt und wir einsam und scheu auf den Straßen herumvagieren wie die verlaufenen Hunde.

Da taucht, in ihrer selbstbewußten, überlegenen Pietätlosigkeit keineswegs idealisiert, die Tochter auf und glaubt dies Autoritätsmilieu längst überwunden zu haben. Als sie auf den Befehl des Vaters, ihren ungeliebten Verführer zu heiraten, mit einer Weigerung antwortet, erhebt der Vater den Revolver gegen sie, wird aber, knapp vor dem Entsetzlichsten, von einem Herzschlag getroffen : daraufhin bricht auch der ganze freiheitlichrevolutionäre Élan der Tochter zusammen.... sie kapituliert. — Wie Hauptmann, nimmt Sudermann weder für Kind noch für Vater Partei, sondern entzieht sich durch plötzlichen Tod der einen Partei der Notwendigkeit eines Entscheidungskampfes: in dieser Periode haben immer beide verloren: Vater und Kind, — sei der Ausgang im einzelnen wie er wolle. Weitere drei Jahre später behandelte der Wiener Naturalist J. J. D a v i d in der Novelle „Verstörte Zeit" (in „Frühschein'''' Leipzig 1896) den Konflikt genau in derselben, trostlos grausamen Weise. Ein aus dem 30jährigen Krieg heimkehrender, Protestant gewordener Bauernsohn

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sieht auf dem einsamen Hof seine junge Halbschwester zum erstenmal, und bald vereinigen sich beide in inzestuöser Liebe. Als der Vater, ein fanatischer Katholik und Religionseiferer, den Sohn vom Hof jagen will, weist dieser in trotziger Kraft ihm selbst die Tür, worauf sich der Vater rächt, indem er seine Kinder im Haus einschließt und verbrennt, als ein typischer Sohn seiner Zeit, „die, wie ein furchtbares Raubtier, stark genug war, mit ihrem letzten Prankenhiebe noch jedes Glück in ihrem Bereiche zu zerschmettern." Nicht viel lichtvoller schilderte die große Experimentalpsychologin der Kinderseele, Marie v o n E b n e r - E s c h e n b a c h (1830—1916) in der ersten Erzählung „Der Vorzugsschüler" ihrer Novellensammlung „Aus Spätherbsttagen" (1897—1901) den schmerzvollen Leidensweg und schließlichen Selbstmord eines schwächlichen Durchschnittsschülers, aus dem der fanatische Ehrgeiz seines Vaters in freudloser Fron eine Leuchte zu machen sucht. Neben dem Sohn die Mutter, duldend, selbstlos, verstummt, alternd: „Die beiden gehörten zueinander, verstanden einander wortlos, sie hatten, ohne es sich selbst zu gestehen, ein Schutz- und Trutzbündnis gegen einen Dritten geschlossen, dem sie im stillen immer unrecht gaben, auch wenn er recht hatte, weil sie sich im Grunde ihrer Seele in steter Empörung gegen ihn befanden" („Sämtliche Werke" V, p. 101). Daß diese Empörung nie zum Ausbruch kommt, entspricht der Vorstellung dieser verdüsterten Jahrzehnte von Charakter- und Lebenstragik, die in den Novellen von Herman Bang und Eduard von Keyserling ihren klassischen Ausdruck fand. 1900 schuf dann G e r h a r t H a u p t m a n n , der das Vater—SohnProblem in „Einsame Menschen" (1891) nur gestreift hatte — wo abermals ein Sohn innerlich zu gewissenhaft, zu schwach ist, sich aus der dumpfen Atmosphäre des Elternhauses loszureißen, mit seinem unverständlicherweise durchgefallenen Drama „ M i c h a e l K r ä m e r " die vielleicht schönste und tiefste Form, die das Vater—Sohn-Problem, mindestens in deutscher Literatur, fand. Auch hier, wie bei fast allen Dramen dieser Periode, fällt erstens das Fehlen persönlicher Parteinahme auf, zweitens die Vermeidung einer offenen Auseinandersetzung und einer irgendwie aufgehenden, endgültigen Schlußrechnung. Ein hitziger, jovialer, fleißiger, aber nur mühsam seine Durchschnittsnatur überwindender Vater und sein gehässiger, lebensunfähiger, aber genialer Sohn sind durch eine unüberbrückbare Kluft geschieden: dem Sohne fehlt die Initiative sowohl zur Revolte wie zur Versöhnung, und so erträgt er die Verachtung seines Vaters mit schneidendem Hohn. Unaufgelöst von Blitz und Donner liegt eine windstille Glutschwüle über diesem Drama, die der Vater vergeblich durch die einzige Erlösung einer, wenn auch

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stürmischen Auseinandersetzung zu entladen sucht; die f r ü h eingeschüchterte, aus Minderwertigkeitsgefühlen verschlossene Scheue des Sohnes schreckt vor der Herausforderung des offenen, unkomplizierten, biederen Vaters nur noch mehr zurück (II. A k t ) . . . „Sage etwas! Verteidige dich! Sage doch etwas wie Mann zu Mann. Sprich meinetwegen wie Freund zum Freund. Tat ich dir Unrecht? Belehre mich doch! Rede! Du kannst doch reden wie wir. Warum kriechst du denn immer vor mir herum? Die Feigheit veracht ich, das weißt du ja. Sage: mein Vater ist ein Tyrann. Mein Vater quält mich. Mein Vater plagt mich. Er ist wie der Teufel hinter mir her. Sag' das und sag' es ihm frei heraus."

Aber den weichen Sohn verletzt diese rauhe Herzlichkeit des Vaters; gejagt wie ein Wild von der brutalen Gesundheit von Bierbankbarbaren flieht er schließlich in den Tod. Und der Vater hält die Totenwache bei seinem toten Sohne und erkennt erst jetzt, wer er war und wie oft er selbst in seiner polternden Unbekümmertheit ihn verwundet haben mußte (IV. Akt): „ R e u e ? Reue kenne ich nicht! Aber ich bin zusammengeschrumpft. Ich bin ganz erbärmlich vor ihm geworden. Ich sehe zu diesem Jungen hinauf, als wenn es mein ältester Ahnherr wäre!" Hier erfährt ein Vater zum erstenmal am Vergleich mit dem Sohn, wer er selbst ist: aber erst der Tod hat alle Mauern niedergerissen, erst er hat den Sohn dem Vater gezeigt: „Ich habe den Jungen malträtiert, und nun ist er mir so ins Erhabene gewachsen." Die Größe dieser Vater—Sohn-Psychologie, die E m i l S t r a u ß in seinem bekanntesten Roman „Freund Hein" (1902) im Gegensatz des genialmusikalischen Sohns und des Verständnis- und liebevollen, klugen, aber aller chaotischen Dämonie abholden Vaters ebenbürtig variierte, und die H a u p t m a n n in seinem Altersdrama „Indipohdi" (1920), wo der Vater sich f ü r den Sohn opfert, längst nicht wieder erreichte, geht am besten aus einem Vergleich des „ K r a m e r " mit einem vier J a h r e später erschienenen Drama hervor, dessen Inhaltsschema fast dasselbe ist: „Die Siebzehnjährigen" (1904) von M a x D r e y er. Auch hier der kraftvoll lebensprühende Vater, auch hier ein scheuer Sohn, der in den Tod flieht, weil der Vater das vom Sohn andachtsvoll angebetete Mädchen in Besitz nimmt; aber wie schwächlich und farblos sind hier die Gestalten von Vater und Sohn, die bei H a u p t m a n n unerhört leben und atmen. Beiseitelassen können wir D r e y e r s minderwertige Novelle „Vater und Sohn" (1905), ebenso A d o l f W i l b r a n d t s Novelle „Vater und Sohn" (1896). Übrigens weist das künstlerisch unvergleichlich höher stehende Schauspiel „Le vieil h o m m e " (1910) des Franzosen G e o r g e s d e P o r t o - R i e h e (1849—1930) starke Berührungspunkte mit Dreyers Drama auf. I n einem abgelegenen Provinznest trägt ein junges Mädchen in eine befreundete Familie, wo sie zu Gast

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weilt, Unheil herein: der halbwüchsige keusche Sohn und der egoistischfeurige Vater begehren sie gleichzeitig; als der Sohn von der eifersüchtigen Mutter erfährt, der Vater sei sein Rivale bei der Angebeteten, flüchtet er sich in hilfloser Pubertätsverzweiflung in den Tod. In Form einer Tragikomödie hat K a r l S c h ö n h e r r das Problem behandelt: in seiner „ E r d e " (1907) versperrt der mächtige alte Grutz, zäher Zweiundsiebziger, seinem weichbesaiteten, schon ergrauenden Sohn den Weg zum Hof und zu einer Frau, und dieser wagt es nicht, mit ihm zu brechen. In zwei Akten ungeduldigen Harrens auf den Tod des verunglückten Vaters glaubt der Sohn, endlich komme das Glück auch für ihn, schon freit er, schon zimmert er die Wiege, da steht der baumstarke Alte vom Sterbelager auf, macht boshaft Brennholz aus seinem Sarg, während der Sohn seiner enttäuscht durchgehenden Braut nachtrauert und dem sicheren Stumpfsinn verfällt. Und vollkommen lichtlos endlich ist das Gemälde, das L u d w i g T h o m a (1867—1921) in dem Bauernroman „Der Wittiber" von einem Vater— Sohn-Konflikt entwirft. Der verwitwete Schormayer unterliegt noch im Alter den Lockungen einer Magd, worauf der Sohn — auch die Tochter, aber diese bald nachgebend — die Beseitigung des Mädchens verlangen. Der Bauer behält sie in dickköpfigem Trotz bei sich: der Haß zwischen Vater und Sohn steigt bis zur Siedehitze, zumal da der Alte nicht aufs Altenteil geht und sich weigert, dem Sohn den Hof zu übergeben1). Auf der Hochzeit seiner Tochter reizt der Vater den längst an Minderwertigkeitsgefühlen leidenden Sohn durch unerträgliche Verachtung. Und am Morgen darauf wagt der Sohn, den Vater an der Brust zu packen, worauf ihn dieser vom Hof jagt. Jetzt erst reißt sich der Sohn aus seiner drückenden Apathie heraus und vollzieht in kalter Verzweiflung das Todesurteil an der Magd. Er kommt ins Gefängnis, der Vater verfällt dem Trunk. Ganz typisch für die Kinder dieser müden, verzweifelten, immer zu spät oder überhaupt nicht sich aufraffenden Zeit ist A r t h u r S c h n i t z l e r , vor allem sein Stück „Der Ruf des Lebens" (1905). Daß es hier um das Ringen einer T o c h t e r , nicht eines Sohnes, gegen den väterlichen Druck geht, ist bedeutungsloser Zufall. In einem jener alten und düsteren Häuser Wiens ringt seit Jahren zäh der alte Moser („das Gesicht böse, faltig, verwüstet") gegen den Tod, gepflegt von seiner Tochter Marie, die er mit vampirartiger Eifersucht nie aus den Augen läßt. Auch sie hat einst geliebt, aber sie *) Letzteres Motiv, Kampf um Hof und Heirat gegen den Altbauern, fand auf niederdeutschem Boden nach Kossow (p. 145) dramatische Behandlung in „Jürgen Piepers" (1905) von F r i t z S t a v e n h a g e n , „Hatt giegen H a t t " (1907) von K. W a g e n f e l d , „Hinrich Karstens" (?1921) von R. W e r n e r und in der „Hahnenkomödie" (1920) von R. W a l t e r : in den drei ersten Dramen bringt der Tod des Vaters die Lösung.

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wagte nicht die Flucht aus der väterlichen Gewalt; und als ihre Wünsche stärker werden, erfährt sie, daß es zu spät ist, daß der Geliebte soeben in den gewissen Tod reitet. Dies wirft sie in vollkommenste Apathie; der Hausarzt sagt (I, 7): „Es scheint, Sie haben überhaupt nicht mehr die Kraft, etwas Bestimmtes zu wollen. Wenn ich an früher denke —!" Vergeblich sucht er ihre erstarrten Lebensgeister zu revolutionieren: wenn Sie es etwa für Ihre Pflicht halten hierzubleiben, nur weil dieser Mann Ihr Vater ist, so sage ich Ihnen, daß Sie höhere haben gegen sich selbst Es nagt an mir, wenn ich sehe, wie Sie . . . Sie Ihre Tage und Nächte einem alten bösen Manne hinopfern, der es Ihnen nicht dankt, — der es nicht wert ist. Bange wird mir, wenn ich denke, daß so viel Schönheit, so viel Jugend verdorren, verwelken soll . . . wofür ? — Um nichts vielleicht als um ein paar Worte, die in einem alten Buche stehen.

Aber obwohl Marie den Vater furchtbar haßte, war sie zu feig, zu apathisch, ihn ihrem Lebensglück zu opfern: es blieb beim ohnmächtigen Wunsch, wie sie selbst erzählt (I, 9): „seit einer gewissen Stunde verging keine mehr, in der ich nicht dem alten Manne da drinnen, der mein Vater ist, den Tod erflehte — den Tod erflehte — ? Nein!... Keine Stunde verging, in der sich nicht meine Finger krampften, ihn zu erwürgen, — um nur endlich frei zu sein, um nur endlich diese Türe hinter mir zuschlagen, die Treppe hinunter, durch die Straßen eilen zu dürfen, dem zu gehören, nach dem alle meine Sinne schmachten!" Aber sie tat die Tat nicht, als es noch Zeit war, sich das Glück zu sichern; sie kannte den Weg und — Kind ihrer Zeit—sie ging ihn nicht. Warum ? „Zerbrochen hat mich der da drinnen, — mir ist, als könnt' ich kein Glied mehr rühren!" (I, 11). Und wenn sie schließlich den Vater vergiftet, so weiß sie, daß es schon zu spät ist: das Glück ist nicht für sie; aber sie ist es zufrieden, in eiligem letztem Rausch eine einzige, letzte Nacht mit dem todgeweihten Geliebten zu genießen. 1892 gab der Schwede Adolf Paul in einer Novelle „ödipus im Norden" (1907 deutsch) die Darstellung eines Vatermörders, der durch den Mord alle Beziehungen mit seinem Vater zerstört zu haben glaubt und diesen doch zum Opfer fällt, eine Geschichte, deren Ausgang uns in dieser Periode nicht überrascht. Geschildert wird, wie der vom Vater streng gehaltene und mißhandelte Sohn Anders mit seiner ihn verbrecherisch liebenden Mutter den Inzest begeht und den trunkenen Vater erwürgt. Doch erweist sich dies nicht als Befreiung: der Tote macht sich alsbald gespensterhaft im Betragen des Sohnes bemerkbar: auch er betrinkt sich jetzt, auch er schlägt sein Weib, — schließlich kommt er sich identisch mit dem eigenen Vater vor. Als der Vatermord ans Licht kommt, hat sich der Tote längst selbst an seinem Mörder gerächt. — Die Besprechung anderer skandinavischer Vater—Sohn-Romane, Carl Ewald's (1865—1908) „Cordts Sohn" (1896), Gabriel Finne's (1866—99) „Kinder des Dr. Wang"

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(1897), C o l l e t t - V o g t ' s „Familienkummer" und K n u t H a m s u n s burlesker Spielergeschichte „Vater und Sohn" muß aus Raummangel unterbleiben. Mit einem fatalistischen Achselzucken, das dem hoffnungslosen Determinismus dieser Skandinavier sehr ähnelt, enden auch zwei englische Gesellschaftsdramen vom Jahre 1905: H a r l e y Granville Barker (geb. 1877), der schon 1899 in dem Drama „The Marrying of Ann Leete" Auflehnung der Kinder gegen die Eltern auf die Bühne brachte, zeigt in seinem Meisterdrama „The Voysey Inheritance" den vergeblichen Versuch eines Sohnes, sich vom Bann des väterlichen Erbes zu befreien, den mit Betrug und Lüge eingezäunten Lebensweg seines Vaters zu verlassen. Und in St. J o h n H a n k i n ' s (1870—1909) Tragikomödie „The Return of the Prodigal" wird dieser Vererbungsfatalismus im Raisonnement eines aus Australien heimkehrenden, vollkommen arbeitsunfähigen Taugenichts zu einer furchtbaren erpresserischen Waffe gegen seinen philiströsen Vater: „You're responsible" (The Plays" I, 173; London 1923)..." if I'm a sweep, it's your fault" (p. 177), weil der Vater aus Feigheit vor der Gesellschaft nicht den Mut gehabt habe, die mißratene Existenz des Sohnes aus der Welt zu schaffen. Worauf der cholerische Vater auffährt : „You've no right to suggest that I wish you were dead"; der Sohn entgegnet kalt: "Of course you do. You want me to go to Australia, where you'll never hear of me again, where, in fact, I shall be dead to you. What's the difference?" (p. 173). Die halb schwermütig, halb frech vorgetragene Logik des Taugenichts siegt am Ende: durch eine nicht geringe Jahrespension müssen sich der Vater und der streberhafte ältere Bruder von ihm loskaufen. Einen andern, aber nicht weniger deterministischen Ausgang nimmt die Auflehnung des Sohnes gegen den Vater bei J o h n G a l s w o r t h y ; vergeblich sucht in seinen Romanen „The Country House" (1907) und "The Patrician" der Sohn gegen die altadligen elterlichen Traditionen das Recht auf freie Wahl einer Gattin durchzusetzen: das Milieu ist stärker als der Wille des Einzelnen, eine Erfahrung, die im zweiten Roman auch die Schwester des jungen Eustace macht, der eine Ehe mit ihrem bürgerlichen Geliebten versagt bleibt. In Galsworthys erst 1912 aufgeführtem Schauspiel "The Eldest Son" (1909) wird der Sohn, der aus Pflichtgefühl, nicht aus Liebe das verführte Dienstmädchen seiner Mutter heiraten will, von seinem Vater, dem Baronet, "You—ungrateful young dog!" ("Plays" Second Series p. 73) angeschrieen und mit Enterbung bedroht. Bezeichnend für die skeptische Haltung der Zeit ist der Schluß: das Mädchen weigert sich, ihren Verführer zu heiraten und mit einem Achselzucken über die verstummt, aber unversöhnt einander Gegenüberstehenden, Vater und Sohn, endet die Tochter des Hauses das Stück (vgl. ferner den ebenso fatalistischen Konflikt in Arnold B e n n e t t s Roman „Clayhanger" 1910).

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Interessieren dürfte, daß in den 90er Jahren das Vater—Sohn-Thema auch bildlich behandelt wurde und zwar in der Zeichnung „Vater und Sohn" des jungen Alfred K u b i n (schlecht reproduziert bei E. W. Bredt „Alfred Kubin" München 1922, p. 13): Im Schaukelstuhl schläft der greise Vater; hinter ihm sitzt der erwachsene, gutgekleidete Sohn und milkt aus einem Ziegeneuterauswuchs, der sich am Hinterhaupt des Alten befindet, Goldstücke in seinen untergehaltenen Zylinder; die Erklärung verdanke ich der Freundlichkeit des Malers selbst, der die Zeichnung seiner ersten, stark symbolisierenden Periode zurechnet. 2. P i e t ä t l o s e S t r ö m u n g ca. 1890—1914: V e r d a m m u n g des V a t e r s , T r i u m p h d e s S o h n e s . Während Hauptmann und Sudermann noch traurige Bankerotteure des Idealismus und gescheiterte Revolutionäre schilderten, hatte sich in Deutschland bereits eine neue Generation wagemutiger und siegesgewisser Optimisten erhoben, die mit der Bezeichnung „Jungnaturalisten" weder umfaßt noch charakterisiert sind. Zu ihnen gehörten etwa die Revolutionslyriker Karl H e n c k e l l und J o h n Henry Mackay (geb. 1864); der letztere, Deutschschotte, hatte 1887, als erster in dieser Generation, die unüberbrückbare Gegnerschaft der neuen Söhne gegen die Väter in seiner „Welt-Dichtung in 13 Gesängen": „Am Ausgang des Jahrhunderts" (IV. in „Sturm") dichterisch-programmatisch verkündet: Wer ist unser Feind ? — Nur eine zerrissene, lusterschlaffte, Absterbende Kranke, die schon der Hauch der Verwesung zersetzte! — So sieht im Spiegel die Zeit ihr angstzerfressenes Gesicht: Der Vater erkennt sich wieder in dem eigenen Sohne nicht — Recht nennt er, was jener fluchwürdigen Frevel nennt 1 Unheiliges Wünschen die Sehnsucht, der schon die Erfüllung winkt! Unersättlich und unrein die Lippe, die am Kelche der Zukunft trinkt! Unlauter die heilige Flamme, die unsere Herzen durchbrennt! Wohl wiegt er in Zweifeln das Haupt, doch hat ihn der Strom nicht ergriffen, Ihm hat seiner Wünsche Schneide noch die wirbelnde Zeit nicht geschliffen: Er kann uns nimmer verstehen. Und wir — verstanden ihn nie! Noch wähnt er, das Siegel des Knechts auf des Sohnes Stirne zu drücken, Und sieht doch in machtlosem Zorn seines Wahnes Kränze zerpflücken Die Hand, der ein höherer Gedanke, als Rücksicht, die Kraft verlieh!

Einen ähnlichen, bis zu unversöhnlicher Brutalität gesteigerten Ton schlug zwei Jahre darauf ein anderer Vorkämpfer der neuen Generation an, der den Vater—Sohn-Konflikt in Form des darwinistischen Generationskampfs behandelte: Konrad S i t t e n f e l d (geb. 1862), bekannt unter dem Pseudonym K o n r a d Alberti, in seinem sozialen Roman „Die

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Alten und die Jungen" (1889), den die Leipziger Staatsanwaltschaft sofort beschlagnahmte. Der Roman trägt zwei Mottosprüche: der eine „ .Rackers, wollt ihr denn ewig leben?' (Friedrich der Große)" gilt vermutlich den Alten, der andere „Frei nach Goethe" den Jungen: „Was du ererbt von Deinen Vätern hast, Verwirf es, um Dich zu besitzen!" Dargestellt ist das Ringen der Söhne, „die von den Eltern ererbten Krankheitsstoffe gänzlich auszustoßen, deren Erbschaft zu verwerfen, um nichts zu sein als sie selbst" (Lpz. 1889; II, 174). Nicht ohne eine gewisse Wucht schildert Alberti den Zusammenprall des verbitterten Vaters mit dem Helden, dem unverstandenen Sohn, den jener in seiner Wohnung aufsucht und wie einen Schuljungen behandelt (II, 42/3).... „Nun ist's genug — ich verbitte mir solche Schulmeisterei — ich bin mein eigener Herr—" „Du bist ein dummer Junge — " Ah, nun standen sie sich wieder gegenüber, die alte Generation, die völlig in sich bankerott von der neuen Hilfe suchte und doch noch immer stolz mit dem alten Zopf wedelte, den alten Bakel schwang und die junge in ihre Bahn zu zwingen s u c h t e . . . . sie standen sich gegenüber, sie bäumten sich zischend gegen einander auf, aus ihren Augen sprühten heiße Flammen, und jene Erbitterung grollte empor, welche nur der Kampf ums Dasein gebären kann . . . Der Kampf ums Dasein, wie er grausam, wütend, ohne Pardon immer losbricht in dem natürlichen, sich ewig wiederholenden Streite der Generationen, der schwindenden und der kommenden, die einander hassen, wie sich Winter und Frühling hassen und verjagen. O auch das Leben hat seine Aequinoctialstürme, die immer wiederkehren, seine Orkane und Springfluthen, die eine neue Jahreszeit mit neuen Bildern einleiten, die Völker, die Rassen haben sie; denn sie sind ewig. Ihn bevormunden, seine Ideale schmähen, ihn zwingen, die alten wurmstichigen Götzen anzubeten, weil ihre Diener noch die Schlüssel zur Schatzkammer in Händen halten, indess er selbst in seinem Haupte schon den neuen Gott wachsen fühlte, wenn auch noch als Embryo . . . nein, wer ihm das zumuthete, war sein Feind, und wenn er auch zehnmal sein Vater war! . . . E r war aufgesprungen, der Alte hatte sich zur Hälfte emporgerichtet, die letzten Gluthstrahlen der untergehenden Sonne umspielten seine grauen Haare . . . wie zwei fauchende Panther standen sie einander gegenüber.

Während Paul, der Freund des revolutionären Helden Treumann, scheitert, weil er nicht stark genug ist, seine Ideale durchzusetzen, haut sich Treumann selbst durch, und weist seinen Vater ab, der von ihm verlangt, seine Künstlerlaufbahn aufzugeben, um ihn, den Mittellosen, verhalten zu können (p. 44/5): Was war ihm je Verwandtschaft gewesen? Die zufällige Vererbung des Blutes. War der, welcher mit ihm dieselben Anschauungen theilte, dieselben Neigungen, denselben Glauben, nicht hundertmal näher mit ihm verwandt? Hatte er sich seinen Vater gewählt? Was hatte der Vater seinem Geist gegeben? Nichts. In ein Gefängniss hatte er ihn zu sperren, in verrostete Ketten zu zwängen versucht. Nie hatten sie beide einander verstanden! E r kämpfte einen fürchterlichen Kampf. Wenn er sich entschied, wie ihm seine Vernunft, seine Überzeugung mit einer fast instinetiven

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Gewalt zurief, so hatte er gebrochen mit den Anschauungen, der Moral einer ganzen herrschenden Welt . . . würde er stark genug sein, den Kampf, die Angriffe siegreich zu bestehen, die ihm vielleicht dann bevorstanden ? Der Sohn, der sich gegen seinen Vater empört, ihn verhungern läßt . . . Und alle Gespenster jener alten, knechtischen Moral seiner Kindheit standen mit einem Male wieder vor seiner Seele.

Aber er überwindet sie und horcht nur mehr der Stimme seiner künstlerischen Berufung, den Alten überläßt er seinem Schicksal. Man warf diesen Dichtern barbarische Gefühllosigkeit vor, worauf einer von ihnen, H e r m a n n Bahr, erwiderte (Feuilleton" in ,J?reie Buhne" I, 25; 23. 7.1890, p. 667), das komme den Vätern eben nur so vor; dadurch sei nur stets der „ewige Widersatz von Vater und Sohn characterisiert, der die Verträglichsten niemals recht auf gleich kommen l ä ß t . . . . Das ist zuletzt die ewige Kränkung aller Väter, die sich in jeder Generation wiederholt, daß den Söhnen jedes mal „das Gemüt" fehlt. Und es wird wohl auch so bleiben, vorläufig wenigstens." So fordert diese Generation eine neue Art der Erziehung, wo nicht mehr der Vater das Primäre ist, sondern der Sohn. Bahr wendet sich in einem Essay „Erziehung" (in „Inventar" p. 41 ¡2) gegen die Ansicht, der Sohn sei sozusagen des Vaters zweites Leben: Die Väter vergessen dabei nämlich, daß Erfahrung ein ganz persönliches Gut ist; sie gilt nur, für einen bestimmten Zweck, mit jedem neuen Menschen aber wird dem Leben ein neuer Zweck gesetzt. Wären die Kinder nichts als eine Wiederholung der Eltern, so könnte des Vaters Erfahrung den Sohn führen, aber dann würde die Menschheit immer nur repetiert, niemals fortgesetzt, nicht entwickelt. Aber der Sohn soll ja mehr werden, als der Vater war, mit jedem neuen Menschen fängt doch eine neue Form der Menschheit an, was soll sie da mit dem alten Mittel ? . . . . jeder muß das für sich selber entdecken. Des Vaters Erfahrung enthält alle Antworten auf seine Fragen, aber der Sohn ist ja wieder eine neue Frage an das Schicksal. Ihr den Mund zu verstopfen, darin bestand früher alle Erziehung. Die neue besteht darin, sie andächtig anzuhören.

Humorvoll hat Bahr („Väter und Söhne" in „Austriaca, Essays" p. 112f.) den Ideenkonflikt geschildert, den er selbst als 19jährigerStudent, vom Zeitgeist trunken, mit seinem Vater hatte. Das Programmwerk der neuen Generation, das einen Sturm der Entrüstung aufwühlte, wurde Frank W e d e k i n d s Kindertragödie „Frühlings Erwachen" (1890/1), wo gleichzeitig auch der Fatalismus der vorhergehenden Epoche durch einen optimistischen Ausgang überwunden wurde (ähnlich auch in Berd. Bronner's (Adamus) dramatischer Trilogie „Jahrhundertwende" (1899—1902), einer optimistischen Überwindung des Hauptmannschen Familiendekadenzdramas, mit Nachdruck auf dem Vater—Sohn-Konflikt): das gesunde Leben, dem das Stück gewidmet ist, trägt in Melchiors Seele den Sieg davon über das Gespenst des dem Autoritätsgesetz unterlegenen Selbstmörders, das am Schluß (III, 7) gesteht:

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„Meine Moral hat mich in den Tod gejagt. Um meiner lieben Eltern willen griff ich zum Mordgewehr. «Ehre Vater und Mutter, auf daß du lange lebest». An mir hat sich die Schrift phänomenal blamiert." Und der Sprecher des Lebens bestätigt ihm, daß es sich nicht lohne, aus Pietätsrücksichten sich umzubringen: „Dein Herr Vater sucht Trost zur Stunde in den kräftigen Armen deiner Mutter." Und er fügt hinzu: „Geben Sie sich keinen Illusionen hin, lieber Freund ! Ihre lieben Eltern wären so wenig daran gestorben, wie Sie daran hätten zu sterben brauchen. Rigoros beurteilt würden sie ja lediglich aus gesundheitlichem Bedürfnis getobt und gewettert haben." — Ähnliche Ansichten wie Wedekind äußerte damals auch der Bohémien P e t e r H i l l e : „Es ist wünschenswert, daß Mutter und Kind eines Sinnes sind. Läßt sich dieser Einklang nicht erzielen, so liegt die Entscheidung auf Seiten des Kindes." Eine eigentümliche Fassung hat das Problem in der Novelle „Erlösung" (in „Erlösung" Leipzig 1891) des Naturalisten M i c h a e l Georg Conrad angenommen: Der Vater, ein bis zum Perversen leichtsinniger Faun, gefährdet durch strafbare Handlungen, Schulden etc. die Offiziersehre seines ernsten und gewissenhaften Sohnes aufs äußerste, so daß dieser, um Braut und Stellung nicht zu verlieren, genötigt ist, den Vater aus dem Weg zu räumen. E r sagt in heiligem Ernst zu einem Freund, jeder Mensch habe zwar ein Recht auf Existenz, aber (p. 75) „Wer die Kräfte und Rechte anderer dazu verbraucht und mißbraucht, ist schädlich, überflüssig, überlebt. In diesem Punkte kenne ich keinen Skrupel. Im Lebenskampfe braucht sich keiner vom andern niedertreten zu lassen, so lange er sich wehren kann, und das Kind darf sich gegen die Eltern wehren, f a l l s . . . . " Von nun an lebt der Sohn dicht neben dem Vater, ihn mit seinen Augen verfolgend, und ihm, ohne es auszusprechen, deutlich den Selbstmord nahelegend. Der Vater aber hängt feig und jammernd am Leben; als er den Sohn fußfällig um Freilassung bittet, stößt ihn dieser angeekelt von sich (p. 92): „Muttermörder, Knecht unaussprechlicher Laster, Sohnesmörder? Schmach über uns alle! Du — lebendig eine Leiche, an der ich mitverfaule!" Und endlich erreicht er es, daß das letzte Fünkchen Ehre im Vater stärker wird als die Feigheit : er begeht unter den Augen des Sohnes Selbstmord. Erst jetzt kann dieser frei ins Leben schreiten1). — Aus dem In zwei Versdramen hat der Dichter F r a n ç o i s Coppée zwei Fälle von ethisch berechtigtem Vatermord aufgezeigt. In „Sévero Torelli" (1883) erfährt ein junger Pisaner, der geschworen hat, den Stadttyrannen zu töten, dieser sei sein Vater: das seelische Dilemma des Sohns zwischen Vatermord und Selbstmord wird allerdings dadurch gelöst, daß seine Mutter den Tyrannen tötet. Im Kampf zwischen Vater und Vaterland entscheidet sich, in „Pour la Couronne" (1895), der Sohn des Bulgarengenerals Brancomir für den Vatermord, nachdem er seinen machtdurstigen Vater

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selben Jahr stammt übrigens auch das vermutlich von É t i e n n e s Einakter „L'école des pères" (1802) beeinflußte Stück „L'école des veufs" von G e o r g e s A n c e y , wo ein Sohn kraft des Rechts der Jugend seinem verwitweten liebeslüsternen Vater ein Mädchen wegnimmt. Ein echter Sohn dieser Generation ist auch R i c h a r d D e h m e l , der durch die Auflehnung gegen seinen jähzornigen, herrschsüchtigen Vater zum Dichter wurde und 1893 sein „Lied an meinen Sohn" („Aber die Liebe" p. 106/7) veröffentlichte, worin er den Sohn auffordert, seinem Vater ebenso den Gehorsam zu verweigern wie er, der Dichter, es mit seinem Vater gemacht h a b e . . . Dumpf brandet heut im Forst der Föhn, wie damals, als ich sein Getön vor Furcht wie meines Vaters Wort vernahm. Horch, wie der knospige Wipfelsaum sich sträubt, sich beugt, von Baum zu Baum ; mein Sohn, in deinen Wiegentraum zornlacht der Sturm — hör zu, hör zu! Er hat sich nie vor Furcht gebeugt ! horch, wie er durch die Kronen keucht : sei Du ! sei Du ! Und wenn dir einst von Sohnespflicht, mein Sohn, dein alter Vater spricht, gehorch ihm nicht, gehorch ihm nicht; horch, wie der Föhn im Forst den Frühling braut! mein Herz tönt in die Nacht hinaus, laut

In seiner Ballade „Zwei Welten" („Schöne Wilde Welt" p. 167/8) schildert er die Rückkunft eines Sohnes aus Amerika in sein väterliches Ahnenhaus: Hier, Vater, steht dein bittender Sohn, E r ist nicht verdorben, gestorben drüben ; Ich habe gearbeitet wie ein Knecht, Jetzt bring ich den Glanz der neuen Welt in unser baufällig Haus. Der Alte griff an sein weißes Haupt. Er griff an sein Herz mit der dürren Faust. Auf dem leeren Tisch vor ihm tränte ein Lichtstumpf. Eine Stimme im Sturm schrie: bäume dich! um das zerborstene Haus, vergeblich angefleht hat, das Vaterland nicht an die Türken zu verraten. Um aber nicht das Andenken seines Vaters zu trüben, läßt er sich schweigend als Vatermörder verurteilen: lebenslänglich müßte er am Fuß der Statue des landesverräterischen Vaters angekettet bleiben, gäbe ihm nicht eine mitleidige Freundin den Tod.

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Du hast gearbeitet wie ein Knecht. Man merkt's, du Bettler mit seinem Glanz. Eher -wirst du Gras mahn auf diesem Tisch, eh ein Cent von deinem Schandlohn sich brüstet in diesem Herrenhaus!

Und der ahnenstolze Vater legt Feuer an das Haus, geht vielleicht darin zugrunde. Der Sohn aber kehrt bei Morgengrauen zurück, in die neue Welt, seine Heimat. Diese Identifizierung von Vater und Traditionalismus, von Sohn und Voraussetzungslosigkeit wurde auch, bis zur Banalität, von R i c h a r d V o ß übernommen; damals haftete noch nicht der Ruf eines gefälligen Vielschreibers an ihm, er war einer der Vorkämpfer der neuen Generation. Im Märzheft 1889 von M. G. Conrads „Gesellschaft" erschien sein erstes Drama, der jugendlich-unreife Einakter „Der Kronprinz" (I. Teil der Trilogie „Majestät"), wo der freiheitsdurstige Sohn über die Ermordung seines Vaters frohlockt, gegen die herrschsüchtigeMutter revoltiert und sich vor sich und dem Publikum entschuldigt (a. a. O., p. 326, 4. Szene): „Mir ist, als ob ich einen Vatermord vollbracht hätte, und es ist doch an mir ein Sohnesmord getan worden: schon, als ich noch ein kleines Kind war." Sorgfältiger hat Voß den Vater—Sohn-Konflikt dann in seinem Drama „ D i e neue Z e i t " behandelt: Nach jahrelanger Abwesenheit kehrt der Sohn des 73jährigen Pastors Firle heim, eines fanatischen Orthodoxen von alttestamentlicher Strenge, gegen den der „weltfromme" Sohn sich alsbald erhebt und ihn in einer öffentlichen Predigt bekämpft. Der Vater verflucht den Sohn als Atheisten, nur die Mutter glaubt an ihn und versteht ihn. Im letzten Akt erzählt der Vater — schon leise in seiner Sicherheit erschüttert — von dem visionären Traum einer Sündflut, den er (recht unwahrscheinlich) gehabt habe, und wo er sich und die ganze alte Generation habe ertrinken sehen (V, 4 ) . . . . Und über den wütenden Wassern, hoch droben, standen die Geborgenen, die Jungen und Starken, und jeden, der mit kraftlosen Armen zu ihnen hinauf drängte, stießen sie mit Faustschlägen hinunter. (Er steht auf.) Und die da vergebens emporstrebten, das waren die Väter, die Mütter; und die da droben gerettet weilten, waren die Söhne, die Töchter, die Enkel. Und während die Alten zerschmetternd stürzten, hörten sie über sich die Jungen jubeln und jauchzen: „ S t u r m f l u t ! S t u r m f l u t ! Sie b r i n g t die neue Z e i t , g r ü n d e t das neue G e s c h l e c h t ! " (Pause.) Und über dem Grabe der Väter, der Mütter—siehe, da wuchs auf ein üppiger Garten, und eine triumphierende Stimme rief: „ L e b e n s f r e u d e ! Das ist die W e l t , die wir selber g e s c h a f f e n ! Und sind keine G ö t t e r m e h r " —

Als aber trotz dieses warnenden Traums der Alte hart auf seinem unbeugsamen Haß gegen den Sohn besteht, sucht die Mutter eine Versöhnung 2

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herbeizuführen, indem sie Gift nimmt; aber selbst als an ihrer Leiche der Sohn dem Vater die Versöhnung anträgt, pocht dieser noch auf Dogma und Gesetz, bis er endlich vernichtet zusammenbricht. — Was Voß hier dargestellt hatte, wiederholte er überflüssigerweise in einem Roman, der nur durch seine starken Verallgemeinerungen nennenswert ist: „ T r a g ö d i e n d e r Z e i t " (1913). Wieder ist da ein alter Pastor, unduldsam gegen seinen Sohn, den er wider dessen Willen in den Dienst seiner Kirche zwingt; starr verdammt er die ganze moderne Jugend als heidnisch und pietätlos (I, 4; Ausgabe 1921, p. 40/41): „die neue Jugend will genießen — genießen — genießen. Was sich ihrer Genußsucht hemmend in den Weg stellt, betrachtet sie als ihren Todfeind. Ihre Genußgier kann nichts sättigen. Sie zu befriedigen, geht sie über den Leichnam der alten Zeit, die die Zeit ihrer Väter und Mütter ist. Sie geht über den Leichnam ihrer Väter und Mütter." — Vergeblich mahnt man den Starrköpfigen zur Toleranz, zum Verzicht auf seine Vatergewalt (III, 3; p. 234). „Es ist das der große Konflikt unseres modernen Lebens, seine Tragik. Keine Trauerspiele sind von solcher Tiefe wie das Drama zwischen Eltern und Kindern. Es sind die Eltern, die daran zugrunde gehen — wenn sie nicht imstande sind, ihre Kinder zu verstehen und deren Weg mitzugehen. Das ist jetzt Pflicht der Eltern, ist ihre große Aufgabe für die Zukunft. Sie müssen sich ergeben. Hören Sie wohl, Herr Pastor: sie müssen! Ergeben auch Sie sich."

Aber er ergibt sich nicht und der Konflikt mit dem Sohne wird um so unversöhnlicher; der Held ist sich bewußt, daß er mit dem Abreißen aller Traditionsbande zum „Vatermörder" (p. 59) werden müßte — und dennoch verläßt er den Vater. Die Jungen versprechen sich, ihren Kindern gegenüber verständnisvoller zu sein als es ihre Eltern waren, deren Tragik sie aber sehr wohl verstehen (III, 5; p. 249): „Sie, die Eltern, sind die Helden des Dramas unsrer Zeit. Vielleicht erleben wir mit unseren Kindern dasselbe Trauerspiel der Gegensätze." Der nachmals vielgelesene Georg H i r s c h f e l d (geb. 1873) veröffentlichte 1895 seinen jugendlichen Einakter „Zu Hause", wo er eine ganz ähnliche Situation wie die in Sudermanns „Ehre" darstellt: der heimkehrende Sohn verläßt den moralischen Sumpf seiner Familie sofort wieder und erklärt seiner heruntergekommenen, schlechten Mutter mit ethischer Festigkeit: „Ich will nicht richten. Schuld habt ihr beide. Aber ich darf nicht hierbleiben. Ich muß mir retten, was ich noch habe." Älter als all diese „Jungnaturalisten", geistig aber so jung wie irgendeiner war T h e o d o r F o n t a n e , der bei der Arbeit an seinem letzten und größten Roman, dem „Stechlin" (1899), anfangs daran dachte, hier einen Vater—Sohn-Konflikt einzuflechten; doch gab er in der endgültigen Fassung diese Absicht auf, die uns aus einem hinterlassenen Entwurf

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bekannt ist. „Es wird hieraus deutlich, daß der Kampf zwischen Altem und Neuem als ein scharfer Generationsgegensatz zwischen Vater und Sohn ausgefochten werden sollte, daß dem Sohn von Anfang an jene Abneigung gegen den „Borussismus" mitgegeben war, zu der sich der Dichter oftmals selbst bekannte und als deren Sprachrohr später Lorenzen ins Auge gefaßt wurde" (J. Petersen „Fontanes Altersroman", „Euphorion" 29, 1/2, p. 49). Auch der Schweizer C a r l S p i t t e i e r behandelte 1898 den Konflikt in einer für ihn überraschend naturalistischen Novelle „Conrad der Leutnant" (Jena 1906), allerdings ganz ohne einen weltanschaulichen Konflikthintergrund und auch ohne die hinreichende Motivierung, wie ein solcher Zwist zwischen Conrad und seinem Vater, dem Wirt, so plötzlich entstehen konnte (p. 45/6): Er, der, soweit seine Erinnerung reichte, niemals gewagt hatte, seinem Vater zu widersprechen, geschweige denn sich gegen seinen Willen aufzulehnen, hatte ihm jetzt getrotzt. Mann gegen Mann und Feind gegen Feind, und ihm dabei seinen angesammelten Abscheu verraten, mit Blicken und Tönen, die man einem nie mehr verzeiht . . . . Da, in der Not, tat er einen verzweifelten Gedankensprung in die Zukunft. Er sah den Alten, vom Schlage gerührt, auf dem Todbette röcheln und sich daneben stehen, erschüttert, trauernd und vergebend. Und dieses Bild erweckte nun nicht mehr seinen Abscheu, sondern er sehnte es andächtig herbei, nicht aus Haß, sondern aus hoffnungsloser Bedrängnis des Herzens, als den einzigen Weg der Versöhnung, als einen tröstlichen Schutzgeist, zur Verhütung von Schlimmerem.

Am Schluß kommt Conrad, der Sohn, bei einer kleinen Rauferei ganz zufällig durch den Messerstich eines Bauern ums Leben, ebenfalls ganz unmotiviert, wie Rud. Gottschalk („Spitteier" 1928, p. 90) tadelte; ein ähnlich unmotivierter, zufälliger Tod des Sohnes bricht in dem irischen Bauerndrama "The Clancy Name" (1909) von L e n n o x R o b i n s o n ebenfalls dem Vater—Sohn-Konflikt die Spitze ab. H e r m a n n B a h r hatte in seinem bereits erwähnten Essay „Väter und Söhne" behauptet, in E n g l a n d gäbe es keinen Vater—Sohn-Konflikt, weil dort die Väter verständnisvoller mit den Söhnen umgingen; dies ist, wie fast alle „volkspsychologischen" Generalisationen, unhaltbar. Samuel Butlers Hauptwerk war freilich damals noch unveröffentlicht, aber es fehlte nicht an Beispielen, wie seit Beginn der 90er Jahre die englischen Väter von ihren Söhnen verachtet wurden. Schon 1886 schrieb der junge G e o r g e M o o r e in seinen halb autobiographischen „Confessions of a Young Man" (Tauchnitz 1905, p. 23) recht pietätlos über seinen toten Vater: "My father's death freed me, and I sprang like a loosened bough up to the light. His death gave me power to create myself, that is to say, to create a complete and absolute seif out of the partial seif which was all that the restraint of home had permitted" und noch in der 1909 anonym 2*

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erschienenen Autobiographie „Father and Son. A Study of Two Temperaments" (1907) des berühmten Kritikers E d m u n d G o s s e steht das geistige Ringen zweier grundverschiedener Temperamente im Vordergrund. Wie verbreitet in England die Vater—Sohn-Konflikte in den 90er Jahren gewesen sein müssen, beweist auch eine ulkige Szene in Oscar W i l d e s Lustspiel „An Ideal Husband" (Uraufführung 1895), wo im zweiten Akt Damen über das epidemische Anwachsen solcher Konflikte sich unterhalten und jemand von einem Vater erzählt, der sich stets hinter seiner Zeitung verschanze, wenn sein Sohn im Club auftauche.... However, I believe that is quite a common occurrence nowadays and that they have to take in extra copies of The Times at all the clubs in St. James's Street; there are so many sons who won't have anything to do with their fathers, and so many fathers who won't speak to their sons. I think myself, it is very much to be regretted. Mrs. C h e v e l e y . So do I. Fathers have so much to learn from their sons nowadays.

Die Probe aufs Exempel ist in diesem geistreichen Stück der klaräugige Dandy Lord Goring, der seinen unerlaubt altmodischen Vater mit überlegener Frechheit unaufhörlich foppt. Als z. B. im IV. Akt der philiströse Alte sich melden läßt, ruft der Lord aus: "Really, I don't want to meet my father three days running. It is a great deal too much excitement for any son. I hope to goodness he won't come up. Fathers should be neither seen nor heard. That is the only proper basis for family-life." — Bekanntlich fiel Wilde selbst der Rache eines solchen Vaters, des Marquis Queensberry, zum Opfer, der seinen Sohn, Lord Alfred Douglas, von Wilde aufgehetzt glaubte; trotz aller väterlichen Drohungen gab der Sohn den Verkehr mit Wilde nicht auf, und als sein Vater ihm mit Enterbung drohte, telegraphierte er ihm die klassische Antwort "What a funny little man you are!" Am stärksten von den Engländern nach Butler aber beschäftigte G. B e r n a r d Shaw, der erst 1930 im Vorwort seiner 30bändigen Gesamtausgabe ein mitleidlos-vernichtendes Bild seines Vaters, eines hohen Staatsbeamten und gesellschaftlich unmöglichen Quartalsäufers zeichnete, der Konflikt zwischen Vater und Sohn, bzw. meist zwischen Eltern und Kindern, und zwar mit einer weit über Wilde hinausgehenden Radikalität; erkannte er doch eine Lebensnotwendigkeit für alle Söhne darin, "with disrespectful words chop in twain the antiquated constable's staves in the hands of their elders" ("The Perfect Wagnerite" London 1923, p. 76/7). Leon Kellner („Engl. Lit. d. neuesten Zeit" Lpz. 1921, p. 394/5) sagt darüber: „Die Kinder haben bei Shaw nicht eine Spur von Gefühl für ihre Eltern als Eltern... Vivie Warren.... kindliche Liebe, kindliche Ehrerbietung — bosh! . . . . Das ist, trotz Oscar Wilde, neu in der Literatur. Man stößt in englischen Romanen gelegentlich auf

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Ausdrücke, die vielleicht kein deutscher oder französischer Schriftsteller seinen „Kindern" in den Mund legen wird; „wenn mein Alter stirbt, bin ich mein eigener Herr," sagt der Liebhaber gelegentlich seiner Dame, ohne daß sie im geringsten darüber erstaunt. Aber die Art, wie bei Shaw die Kinder mit ihren Eltern, besonders den Vätern umspringen, ist entschieden neu. Die Typen Frank Gardner, Philipp Clandon und der Advokat Bohun gehen weit über die Söhne Oscar Wildes hinaus. Der eine nennt seinen Alten mehr oder weniger deutlich einen alten Schafskopf und heuchlerischen Halunken, der andere redet den seinen als "Mister" Soundso an, der dritte schreit mit seinem Vater herum wie mit einem betrunkenen Knecht."

Typisch ist etwa die Art, mit der in „Mrs. Warren's Profession" (1898) der junge Frank seinen trottelhaften Vater, den Reverend, behandelt,[so wenn er in Gegenwart des Vaters und eines Bekannten „(pauses a moment between the two older men, and puts his hand on Praed's

shoulder).

Ah, if

you had only been my father instead of this unworthy old man! (He puts his other hand on his father's shoulder).'''' („The London 1910, p. 188).

Three Unpleasant

Plays"

Im selben Drama tritt auch die prächtige Vivie Warren mit unerhörter Energie vor ihre Mutter, im sicheren Bewußtsein der eigenen Individualität (II. Akt; a. a. O.p. 192): „You attacked me with the conventional authority of a mother! I defended myself with the conventional superiority of a respectable woman. Frankly, I am not going to stand any of your nonsense; and when you drop it, I shall not expect you to stand any of mine. I shall always respect your right to your own opinions and your own way of life." Ein anderer, weniger ernstzunehmender Held Shaws erklärt „Two things I hate — my duty and my mother" und die radikalste Pietätlosigkeit predigt in Shaws Meisterdrama „Man and S u p e r m a n " (1901 bis 1903), wo Shaw übrigens die „Maxime für Revolutionäre" (p. 242) "Every man over forty is a scoundrel" aufstellt1), der reizende Junge John Tanner einem jungen Mädchen, die er zur Auflehnung gegen die Autoritätsherrschaft ihrer schwachsinnig stupiden Mama bringen will (London 1909, p. 59; II.

Akt):

Oh, I protest against this vile abjection of youth to agel Look at fashionable society as you know it. What does it pretend to be ? An exquisite dance of nymphs. What is it? A horrible procession of wretched girls, each in the claws of a cynical, cunning, avaricious, disillusioned, ignorantly experienced, foul-minded old woman ') Schon 1864 hatte ein Mensch bei D o s t o j e w s k i („Aus dem Dunkel der Großstadt" Mchn. 1920, p.6/7) vierzig Jahre als die Altersgrenze festgesetzt, die zu überleben „unanständig" sei, und 1895 schrieb A n a t o l e F r a n c e in seinem Roman „Le Jardin d'Epicure" (París o. J., p. 150/1): «Les vieillards tiennent beaucoup trop à leurs idées. C'est pourquoi les naturels des îles Fidji tuent leurs parents quand ils sont vieux. Ils facilitent ainsi l'évolution, tandis que nous en retardons la marche en faisant des académies.»

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whom she calls mother, and whose duty it is to corrupt her mind and sell her to the highest bidder. Why do these unhappy slaves marry anybody, however old and vile, sooner than not marry at all ? Because marriage is their only means of escape from those decrepit fiends who hide their selfish ambitions, their jealous hatreds of the young rivals who have supplanted them, under the mask of maternal duty and family affection. Such things are abominable: the voice of nature proclaims for the daughter a father's care and for the son a mother's.The law for father and son and mother and daughter is not the law of love: it is the law of revolution, of emancipation, of final supersession of the old and worn-out by the young and capable. I tell you, the first duty of manhood and womanhood is a Declaration of Independence: the man who pleads his father's authority is no man: the woman who pleads her mother's authority is unfit to bear citizens to a free people.

Seit ca. 1903 stand Shaw dann, gerade in Fragen des Elternproblems, sehr stark unter dem Einfluß Samuel Butlers, wie Elisabeth Peper im Einzelnen nachwies („G. B. Shaws Beziehungen zu Samuel Butler d. J." in „Anglia" 50, p. 295ff.). Auf ihn ist es wohl zurückzuführen, wenn in „Major Barbara" (1905) Undershaft, der von seinem Sohne sagt „Stephen does not interest me", auf den entsetzten Einwurf seiner Frau, Stephen sei doch sein und ihr Sohn, mit dem Butlerschen Gedanken von der Elternwahl des Kindes („Erewhon") antwortet: „Do you think so? He has induced us to bring him into the world; but he chose his parents very incongruously, I think. I see nothing of myself in him, and less of you." Seinen konzentriertesten und durch maßlose Übertreibungen verblüffenden Generalangriff gegen Väter, Mütter und Erzieher vollzog Shaw in der Vorrede „Parents and Children" seines Stückes „Misa l l i a n c e " (1910). Hier wendet er sich weniger gegen die einstigen Prügelväter, als vielmehr gegen „the conventional good father who deliberately imposes himself on his son as a god; who takes advantage of childish credulity and parent worship to persuade his son that what he approves of is right and what he disapproves of is wrong; who imposes a corresponding conduct on the child by a system of prohibitions and penalties, rewards and eulogies, for which he claims divine sanction" (Tauchnitz 1921, p. 16). Er fordert Zerstörung aller idealen Phrasen, die sich auf das Verhältnis von Eltern und Kindern beziehen (p. 25/6): ,,in discussing family life we never speak of actual adults or actual children, or of realities of any sort, but always of ideals such as The Home, a Mother's Influence, a Father's Care, Filial Piety, Duty, Affection, Family Life, etc. etc., which are no doubt very comforting phrases, but which beg the question of what a home and a mother's influence and a father's care and so forth really come to in practice.

Kinder der Familie befänden sich stets in „the condition of slavery" (p. 13), auch wenn die Eltern ideale Eziehcr sind, denn „Old people and young people cannot walk at the same pace without distress and final

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loss of health to one of the parties" (p. 25), oder wie es im Stück selber heißt „I tell you theres a wall ten feet thick and ten miles high between parent and child" (p. 197). Das Kind solle sich daher nicht durch eine fragwürdige Pietät dazu hergeben, bei den Eltern auszuharren, denn jedes Kind „has a right to dislike its mother or father or sister or brother or uncle or aunt if they are antipathetic to it" (p. 21) und keines dürfe das Gebot vergessen, das so wichtig sei wie die Bergpredigt „Remember that the progress of the world depends on your knowing better than your elders" (p. 84). — Wenn man die Karikaturen der Eltern1 betrachtet, die Shaw im Drama „Misalliance" gekennzeichnet hat, so kann man den Stoßseufzer der intelligenten Tochter Hypatia begreifen (p. 185/6): „If parents would only realize how they bore their children! Three or four times in the last half hour Ive been on the point of screaming... this eternal cackle, cackle, cackle about things in general is only fit for old, old, OLD people." Der alte Shaw ist von diesen Ansichten nicht mehr abgewichen. Wenn er im 4. Teil (Act I) von „ B a c k t o M e t h u s e l a h " (1919) im Jahre 3000 einen Menschen der alten Welt auf die Insel des Zukunftsvolkes, dem später die Weltherrschaft zufallen wird, führt, wo ihn ein Mann mit „Daddy" anredet (London 1924, p. 149) The E l d e r l y G e n t l e m a n : People will think I am your father. The Man (shocked): Sh-Sh! People here never allude to such relationships. It is not quite delicate, is it ? What does it matter whether you are my father or not ?

so ist das nichts als die Wiederholung seiner Prophezeiung aus „Misalliance" (p. 197): „Depend on it, in a thousand years itll be considered bad form to know who your father and mother are." Die Menschheit begann nach Shaw mit der Erhebung des Sohns gegen den Vater (p. 26 Cain zu Adam: „I am a man: you are only a grown-up child11), sie schreitet fort mit dem Bedürfnis jedes Sohnes, seinen Vater zu überholen (p. 18: I want to be something higher and nobler than this stupid old digger) und sie endet damit, daß die Kinder überhaupt ohne Eltern zur Welt kommen: sie schlüpfen bereits erwachsen aus Eiern, — ein Gedanke, den Shaw vermutlich einem frommen Wunsch entnahm, den Butler einmal äußerte (vgl. Peper, a. a. O. p. 305). Viel sanftmütiger mutet dagegen die Form an, die in Frankreich P a u l H e r v i e u dem Generationsproblem gegeben hat; nachdem er schon in dem Drama „La Loi de l'Homme" (1897) die Forderung ausgesprochen hatte, die Eltern müßten sich für die Kinder opfern, stellte er dieselbe Idee in dem guten Theaterstück „La Course du Flambeau" (1901) dar, wo Sabine zwischen ihrer Mutter und ihrer Tochter steht und glaubt, beide

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gleich zu lieben ; Maravon, der Raisonneur des Stückes, weist ihr dagegen nach, daß jedes Kind sich schmerzlos von den Eltern zu trennen vermöge (I, 11): Les enfants s'acquittent en faisant, à leur tour, des e n f a n t s . . . . Non, voyez-vous, l'humanité se bat les flancs pour se persuader, à elle-même, qu'elle n'est pas mauvaise fille. Or, elle l'est, de naissance, comme, de naissance aussi, elle est bonne mère . . . Relisez les commandements du mont Sinaî: pas un mot sur les devoirs envers la progéniture ! Pourquoi donc ? Parce que c'était inutile. Parce que toutes les créatures s'étaient mises d'instinct à soigner leurs petits. Mais les devoirs envers les parents, voilà ce qui n'a pas été sousentendu; voilà ce qui n'allait pas de soi-même! „Honore tes père et mère, afin de vivre longuement sur la terre." Il n'y a pas que l'injonction, il y a, pour allécher, la promesse d'une prime à réaliser, dès ce bas monde . . . Croyezmoi, la reconnaissance filiale n'est pas spontanée ; elle est un effort de civilisation, un fragile essai de vertu 1"

Sabine opfert ihre Mutter dem Glück ihrer Tochter, weil sie Maravons Gründe billigen lernte, und sie wird schließlich noch radikaler als er (III, 5) : Alors, pourquoi maintient-on la jouissance de tous leurs droits humains aux êtres qui n'ont plus toute leur part des sentiments humains ? . . . Est-ce qu'en bonne justice l'inhumanité sénile de ma mère ne devrait pas m'autoriser à la faire interdire, à la déposséder, à prendre sa place dans ses biens dont je ferais un salutaire usage ? N'est-ce pas monstrueux que l'essor de jeunes existences soit captif de cette volonté qui touche à son terme, et que leur avenir palpitant agonise dans ces vieilles mains déjà presque froides? . . . Dites que c'est intolérable! Dites que contre cela tout est permis! . . . Dites! Dites donc!"

Und sie tötet indirekt ihre Mutter um des Glückes ihrer Tochter willen, von der sie schließlich — nach demselben grausamen Gesetz — auch ihrerseits verlassen wird. Wie schon in dem Drama „Gente Conocida" (1896) des Spaniers J a c i n t o B e n a v e n t e die junge Angelita ihrem streng autoritären Vater gegenüber ihr Recht auf freie Wahl eines Gatten vertreten hatte, so lehnt sich in H e r v i e u s späterem Drama „Le Dédale" (1903) mit gleichem Recht Marianne gegen ihre Mutter auf. Im gleichen Jahre 1901 erschien von dem Belgier É m i l e Verhaeren „Philippe II", eine Dramatisierung des Don Carlos-Stoffes, ein zerfahrenes und dürftiges Machwerk voll hohler und nichtssagender Deklamation mit einigen wenigen lyrischen Schönheiten. Der Vater ist der Tyrann, der Sohn der sensible Mensch, der ihn einmal mit dem Degen bedroht, im übrigen aber recht unrühmlich in die Netze der Inquisition geht. An einer Monologstelle des I. Aktes vollzieht Carlos, nachdem ihn und seine Geliebte der König überrascht hat, mit vollem Bewußtsein die seelische Trennung vom Vater („Deux Drames" Paris 1917, p. 126): J'atteste Dieu, que moi, ton fils, j'ai bien le droit De m'échapper soudain de ton étreinte immonde, E t de tordre le bras qui cherche à m'étouffer.

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Schon 1900 hatte übrigens Verhaeren im Drama „Le Cloître" einen zehn Jahre zurückliegenden Vatermord und seine Sühne geschildert. — Das schon in den 50er Jahren von A l e x a n d r e D u m a s f i l s , der selber ein illegitimer Sohn war, in die Literatur eingeführte Motiv des unehelichen Sohnes, der von seinem Erzeuger Rechenschaft fordert („Le Fils naturel" 1858; „Le Père prodigue" 1859), wird nun noch einmal von H e n r i L a v e d a n in seinem Drama „Le Marquis de Priola" (1902) mit versöhnendem Abschluß dargestellt; als der junge Pierre Morain erfährt, er sei seines Todfeinds, des alten Lebemanns und Wüstlings Priola unehelicher Sohn, verzeiht er ihm seine Schandtaten und erleichtert so dem durch die Folgen seines Lasterlebens zu unrettbarer Paralyse verdammten Vater die letzten Monate seines Lebens. Einen Vater—Sohn-Konflikt zu Anfang eines großen Bildungsromans hielt R o m a i n R o l l a n d für nötig, als er seinen „Jean Christophe" (1904—12) im ersten Bande „Aube" (1904) im Zusammenstoß mit seinem Vater zeigte. Christophe's Vater ist ein Gewaltmensch von fröhlicher Brutalität, der immer mehr der Trunksucht verfällt; die Kinder sind ihm Luft, allenfalls Spekulationsobjekte: in gedankenlosem Egoismus nimmt er den Löwenanteil des kargen Mittagsmahls für sich in Anspruch. Diesem Barbaren gegenüber empfindet die feine Künstlernatur seines Sohnes von frühester Kindheit an Abscheu und Furcht (I, p. 90/91): „Ah ! comme Christophe détestait son père, comme il lui en voulait de ne pas penser à eux, de ne même pas se douter qu'il leur mangeait leur parti Il avait si faim qu'il le haïssait et qu'il aurait voulu le lui dire; mais il pensait, dans son orgueil, qu'il n'en avait pas le droit, tant qu'il ne gagnerait pas sa vie." Dennoch erträgt Christophe alles ohne Widerstand, wenn auch mit tiefem innerem Widerwillen. Nur im Stillen flucht er dem V a t e r . . . . so sitzt er einmal auf der schmutzigen nächtlichen Treppe, wohin ihn nach groben Mißhandlungen der Vater verbannt hat, und „beschimpfte seinen Vater ganz leise" (I, p. 138, II. Teil): „Animal! voilà ce que tu es! Un animal . . . un grossier personnage... une brute ! oui, une brute ! . . . Et je te hais, je te hais . . . oh! je voudrais que tu fusses mort, que tu fusses mort!" Als er dann älter wird, gelingt ihm eine reinliche, vollkommene Scheidung von seinem Vater, dessen primitive Gewalttätigkeit vor des Sohnes ruhiger Verachtung sich zurückzieht; schließlich verunglückt der Vater in seiner Betrunkenheit, und dem Sohn öffnen sich jetzt langsam die Tore des Lebens. Auch zwei deutsche Behandlungen des Konflikts stehen am Anfang des neuen Jahrhunderts. Da ist einmal das Schauspiel „Mutter Landstraße" (1901) des jungen W i l h e l m S c h m i d t b o n n , wo ein Vater den mit einer Frau und einem Kind zurückkehrenden Sohn hart von Tür und Tisch

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weist, weil er seinem Namen Unehre gemacht habe; vergeblich beharrt der Sohn auf dem Recht der Jugend (II, 2): O Vater, sieh mich stehen mit bittenden Händen, noch sind meine Rippen gewölbt, noch sind meine Arme und Beine stark, noch steckt junge Hoffnung in mir. Gib mir den Boden, den ich brauche, um aufzugehen. Hilf du mir, ich selber kann mir nicht mehr helfen. O halte nicht dein großes Buch wie einen Schild zwischen dich und mich! Laß die Chronik unserer toten Väter da und höre deinen lebendigen Sohn an. Mach das Buch zu, heb deinen Kopf auf zu mir.

Schließlich aber gibt er es auf, um Unterkunft zu betteln, und er, der zuerst oft als ganz naiver, würdelos theatralischer Egoist geschildert war, ringt sich durch zur Freiheit der Landstraße. 1903 veröffentlichte dann E r n s t H a r d t alias Ernst Stöckhardt sein Schauspiel „Der Kampf ums Rosenrote", (in der 2. Auflage 1911 geschmackvoller: „Der Kampf"), wo zwei Geschwister unter ihrem Vaterhaus und den Geboten der Elternautorität leiden (I. Akt; p. 14). V u l t (lächelnd, aber ganz ohne Spott): Wovon hatte der Herr Pfarrer Euch denn gesprochen ? E l l a (tonlos): Vom vierten Gebot. V u l t (auffahrend): Darüber möchte auch ich einmal eine Predigt halten! Ich habe schon viele gute Worte dazu beieinander! E l l a (noch vor sich hinstarrend): Von den feineren Pflichten der Kinder gegen die Eltern. V u l t : Aber von den feineren Pflichten der Eltern gegen die Kinder? Davon hat Euch der Herr Pfarrer wohl nichts erzählt ? E l l a (voller Grimm zwischen den Zähnen): Von diesen Pflichten hat der Herr Pfarrer uns allerdings nichts gesagt...

Der Bruder, der schroff alle Bindungen ans Vaterhaus zerreißt, erringt sich nach härtesten Entbehrungen sein Lebensglück, die Schwester aber, die sich beugte, schleppt sich mit ewig verpfuschtem Leben weiter. In zwei Dramen von 1906 und von 1908 wurde dann das tragische Zerschellen der noch lebensunfähigen und unfertigen Individualität des halbwüchsigen Sohns am verständnislosen Draufloserziehen des Vaters dargestellt: in der „Sittennote" des Österreichers A. S c h w a y e r und dem „Verlorenen Sohn" von E. F r o w e i n ; beide Väter, der streberhaft ehrgeizige Beamte bei Schwayer und der joviale Geschäftsmann bei Frowein, denken nicht entfernt daran, dem Sohn eigenes Verfügungsrecht über sich zuzugestehen. Zusammenstoß von Vater und Sohn um ein von beiden begehrtes Mädchen — ein Motiv, das auch in den Dramen „La dette" von Gabriel T r a r i e u x und „Papa" (1911) v o n R o b e r t de F l e r s (1872 — 1927) und G e o r g e s - A r m a n d de C a i l l a v e t (1869—1915) begegnet (in letzterem verliebt sich die Braut des dumpfen Sohns in den prächtigen

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Vater) — wird wider Erwarten zu gutem Ende geführt in J u l e s L e m a î t r e s Stück „ L a massière" (1905): mit Hilfe der den jungen Liebenden anfangs feindlichen Mutter jagt hier der Sohn sein Mädchen dem Vater ab. Eine andere Ursache des Vater—Sohn-Konflikts kann auch die Entrüstung des für absolute Wahrhaftigkeit eintretenden Sohnes über den skrupellosen, zähen Materialismus des geschäftstüchtigen Vaters werden; hatte aber noch É m i l e A u g i e r alles Licht auf die Söhne konzentriert, die ihre Väter zwingen, unrecht erworbenes Gut von sich abzutun („Ceinture dorée" 1855; „Les Effrontés" 1861), so kommt in das späte Drama „ I I più forte" (1904) des lichtlos-pessimistischen Italieners G i u s e p p e G i a c o s a (1847—1906) dadurch eine fast fatalistische Resignationsnote herein, daß hier der skrupellose Bankier Nalli ein ausgezeichneter Familienvater ist, der seinen Silvio wirklich liebt und von ihm wieder geliebt wird. Zur fatalistischen Vater—Sohn-Auffassung gehört dies Drama, insofern der weltanschauliche Antagonismus der beiden ewig unüberbrückbar bleiben muß, dennoch aber ist die ethische Parteinahme Giacosas für den Wahrheitsfanatismus des Sohnes unverkennbar. Erhebung von Sohn und Tochter gegen den Vater hat der alte B j ö r n s o n , ebenfalls 1904, in seinem Schauspiel „Daglannet" (deutsche Übers. : „DaglandI" München 1905) behandelt. Gleichzeitig kehrt aus Amerika die Tochter, aus Australien der Sohn des alten Familientyrannen Dag ins Vaterhaus zurück: Ragna, die sich einst dem Machtspruch des Vaters durch Flucht in die Neue Welt entzog, prallt gleich bei der Rückkehr aufs Neue mit dem autoritären Vater zusammen, als sie ihm von amerikanischer Kindererziehung (gesehen durch des liberalen Björnson Brille) erzählt ( I I I , 3: „In Amerika haben sie Respekt vor den Kindern"). Gefährlicher ist die Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn, der Höhepunkt des Stückes, die Björnson deutlich als einen Einzelfall des großen Kampfes von Alten und Jungen aufgefaßt haben will: der Sohn, Ingenieur, verlangt vom Vater, dem Großgrundbesitzer, Platz zum Bau eines Kraftwerkes und der Vater weigert sich aus dem einzigen Grunde, daß sein Vater und Großvater es auch nicht zugelassen hätten: S t e n e r (ruhig) : Das neue Geschlecht kommt mit neuem Recht, — du magst es nennen, wie du willst. D a g : Im Geiste des Gehorsams muß es kommen. Das gibt den Zusammenhang. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß du lange lebest im Lande. — Das ist die Bedingung. S t e n e r : Daß die Toten die Lebenden schädigen und verdrängen, das darf nicht sein. D a g (fährt vom Stühle auf; überwindet sich aber)-. Bin ich denn schon tot? S t e n e r : Nein, lieber Vater! (Mit Lebenden.

Wucht) Aber du stehst den Toten bei gegen den

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Schließlich bringt Björnson ein recht plattes happy end zustande durch das keineswegs hinreichend motivierte, plötzliche Nachgeben des Alten. Wir wundern uns — wie Ragna am Schluß —, daß aus diesen Konflikten keine Tragödie wurde. In Schweden hatte inzwischen für kurze Zeit S t r i n d b e r g den düsteren Pessimismus der 80er und 90er Jahre überwunden und wieder in die revolutionäre Pietätlosigkeit seiner Jugendperiode eingelenkt. Im Vorübergehen streifte er das Vater—Sohn-Problem in seinem Roman „Die Gotischen Zimmer" (1904), wo der Sohn des konservativ-reaktionären Politikers Gustav Borg von der Partei des Vaters abschwenkt und — er ist Redakteur — seine Zeitung in anderem Sinne weiterleitet: die ganze wilde Tragik dieses Bruchs hat Strindberg auf ein wortkarges Telephongespräch zusammengedrängt (München 1920, p. 71): — Warum ist mein Artikel nicht drin ? fragte der Vater mit schnaubender Stimme. — Nein, wir konnten ihn nicht drucken, antwortete der Sohn. — Aber ich sah ihn gesetzt, las Korrektur, und . . . — Wir können solchen Nonsens nicht drucken! wurde vom Sohn geantwortet. Da erlosch die Stimme des Vaters; er versuchte zu brüllen, blieb aber stumm.

Trostlos ist der Vernichtungskrieg, den eine Rabenmutter gegen ihre Kinder führt, in dem Kammerspiel „ D e r S c h e i t e r h a u f e n " („Der Pelikan") ca. 1907 von Strindberg dargestellt worden: ein Weib von abgründiger Bosheit, geistige Mörderin ihres Gatten, untergräbt vorsätzlich die Gesundheit ihrer Kinder; der lebensunfähige und belastete Sohn, die nicht ausgewachsene und unfruchtbare Tochter fluchen schließlich der Mutter, als sie ihre Schliche entdecken: der Sohn steckt das Haus in Brand, die Mutter stürzt sich aus dem Fenster, die Geschwister enden umschlungen in den Flammen. Auch die slawischen Länder steuerten in dieser Periode eine für europäische Literatur wichtige Behandlung des Problems bei. Indem wir die im Riesengebirge spielende, unsres Wissens noch nicht ins Deutsche übersetzte Volkserzählung „Väter und Kinder" (1894) des Tschechen K a r e l R a i s übergehen, wenden wir uns dem größten Werk der polnischen Literatur zu, dem Roman „Die (polnischen) Bauern" (1904—10) von Wladyslaw S t a n i s l a w R e y m o n t (1868—1925), dem Nobelpreisträger von 1924, den Leonhard Adelt treffend den „polnischen Zola" nannte: Als der Hofbauernsohn Antek im Dorfe Lipce durch die zweite Heirat seines alten, unheimlich zähen Vaters beträchtlichen Erbanteil verliert und der Pfarrer dem Protestierenden mit dem 4. Gebot den Mund zu stopfen versucht, bricht der Sohn zum erstenmale los (übers. J. P. (TArdeschah, Jena 1923,1, 217): „Wenn er selbst ein Räuber und ein Betrüger wäre... weil es der leibliche Vater ist, da ist ihm schon alles erlaubt, und die Kinder

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dürfen nicht für ihr Recht stehen ! Herrgott nochmal, das ist 'ne Einrichtung in der Welt, daß man ausspeien möchte und so weit fortlaufen, wie einen die Augen nur führen können." Als endlich der Sohn seinen Haß gegen diese Heirat nicht mehr unterdrückt, kommt es zu einem grandios geschilderten Faust- und Ringkampf zwischen Vater und Sohn (I, 240/241), wobei der Sohn unterliegt; er verläßt sofort mit Weib und Kind das Vaterhaus und zieht in die Armut. Für den Augenblick vergißt er auch die einst geliebte Jagna, jetzt seine Stiefmutter (II, 16: „sie entschwand seinem Gedächtnis unter der Last des blutenden, lebendigen und schmerzlichen Grolls, den er gegen seinen Vater hegte. Der war schuld, der Vater war es, der ihnen Unrecht getan hatte, der war dieser Haken, der sich ihm mitten ins Herz gebohrt hatte und schmerzte; durch ihn war das alles gekommen, nur durch ihn !"). Und auch der Vater weist jeden Gedanken an Versöhnung um so schärfer ab, als er ahnt, daß er mit dem Sohn nicht nur um den Hof, sondern um die Frau zu kämpfen habe (II, 207)... es kam ihm jetzt plötzlich, daß in diesem Sohneshaß gegen ihn etwas mehr sein mußte, als Wut und Groll wegen des Grund und Bodens, daß diese hartnäckige Feindschaft, die er damals in seinen Augen gesehen hatte, aus einem anderen Quell kommen mußte, das fühlte er gut — und gerade in diesem Augenblick fühlte er in seinem Innern denselben kalten, rachegierigen und unerbittlichen Haß, so daß er zu Rochus gewandt leise sagte : „Zu eng ist es für uns beide in Lipce!"

Und bald bricht schließlich der von beiden Männern mit allen Mitteln geführte Kampf um das Weib aus, die des Sohnes Geliebte wird. Als die Bauern des Dorfes ihren Wald in einer Schlacht gegen die Gutsherrschaft verteidigen, ist der Sohn nahe daran, seinen Vater hinterrücks zu erschießen, tötet dann aber dessen Gegner, der dem Vater soeben die Hirnschale eingeschlagen hat. In derselben Nacht, wo der lange mit dem Tod kämpfende Vater endlich stirbt, wird der Sohn aus dem Gefängnis entlassen; die Erde, die der Vater dem Sohn weitergibt, ist das im letzten Sinne sie Vereinende und Versöhnende. Übrigens liebt auch der Held von F r i e d r i c h F r e k s a s Drama „Ninon de Lenclos" (1907) seine Stiefmutter, jedoch ohne es zu wissen ; als er die Wahrheit erfährt, hebt er zwar zuerst die Hand gegen den Vater, gibt sich aber dann selbst den Tod. Während bei Reymont der Vater—Sohn-Konflikt als rein privater Einzelfall geschildert ist, keineswegs mit der Tendenz zu symbolischer Verallgemeinerung, trifft letzteres in höchstem Maße zu für A n d r é G i d e , dem wir später noch einmal als dem führenden Senior der jungen Franzosen begegnen werden. Diese seine Jugend-Periode ist besonders charakterisiert durch seine Polemik gegen die französische Neuromantik, die mit Barrès u. a. die Verwurzelung im Erdboden, die Pietät zur Scholle, zur Familie, — zum Vater forderte: demgegenüber stellte Gide das Ideal der

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fortgesetzten Heimatlosigkeit auf, das ewig pietätlose Verwerfen alles Alten, das ewige Suchen nach Neuem und das Zerreißen der Bande, die den Menschen bei Familie und Vater in fauler Pietät zurückzuhalten suchen. In einem seiner Essays gegen Barrés sagt er geradezu („Nouveaux Prétextes" 1911, p. 246) „J'admire chaque animal chasser loin de lui ses petits dès qu'ils sont aptes à se suffire." Nur aus diesen Voraussetzungen heraus ist sein bei uns durch Rilkes Übersetzung und Hermann Reutters Komposition so beliebt gewordenes Werk „ L e R e t o u r de l ' E n f a n t P r o d i g u e " (1907) zu verstehen: der entflohene Sohn kehrt keineswegs aus Liebe oder Reue wieder zum Vater zurück, sondern weil Hunger, Krankheit, Feigheit, Trägheit ihn müde machten, — einer der nicht stark genug war, ohne Vater zu sein; sein jüngerer Bruder aber fühlt die Kraft dazu in sich, und der gescheiterte ältere hält ihm die Leuchte, als er das Vaterhaus verläßt: Wer aber nie seinen Vater verließ, wird ein so pedantischer Zelot wie der älteste jener drei Brüder. Nicht allein inhaltlich, auch formal läßt sich kaum ein größerer Gegensatz zu Gides feiner und leiser Fassung des Problems denken als das mit krassesten Dissonanzen arbeitende Provinzstück des höchst bedeutsamen irischen Meisterdramatikers J o h n M i l l i n g t o n S y n g e (1871—1909): „The Playboy of the Western World", das im gleichen Jahre 1907 verfaßt wurde, einen unerhörten Theaterskandal hervorrief und dessen Schlußlösung noch neuerdings der zum strengen Katholiken gewordene Dichter J e a n C o c t e a u als Ästhetenopium aus der demoralisierenden Apotheke seines Erzfeindes Oscar Wilde verwarf („Visite à Maurice Barrés1'', Anm.6). Der „Sinn" des Stücks fällt etwa mit jener von uns im ersten Band (p.60) angeführten Bemerkung von Dostojewskis Lisa („Brüder Karamasoff ") zusammen, die Handlung ist einfach: Ein junger Windbeutel glaubt seinen tyrannischen und trunksüchtigen Vater mit einem Spaten erschlagen zu haben, erzählt auf angstgepeitschter Flucht in einem Dorfe seine Tat, stößt dabei aber nicht nur nicht auf Abscheu, sondern auf allgemeine Bewunderung. Aller Männer Achtung, aller Mädchen Herzen fliegen dem so romantischen „Helden" zu, je tragischer und blutrünstiger er seine Tat ausschmückt; so sagt z. B. ein Mädchen bewundernd: „I never cursed my father the likeof that, though I'm twenty and more years of age" (Act I; „Plays" London 1924, p. 213). Als nun der nur scheintote Vater auf der Suche nach seinem Sprößling auftaucht, wünscht der alsbald seiner ganzen Vatermörderglorie entkleidete Christy wirklich ernsthaft des Vaters Tod und schlägt ihn schließlich abermals nieder. Als der Unverwüstliche sich ihm auf allen Vieren weiter nachschleppt, ruft ihm der Sohn entgegen, (p. 291): "Are you coming to be killed a third time, or what ails you now?" Zwar seinen Mördernimbus verliert er im Dorfe, aber

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das ganze Abenteuer hat den feigen Schwächling zum selbstbewußten Mann gemacht, zum Herrn und Meister seines einst ihn tyrannisierenden Vaters. Jetzt fühlt er sich, wie er am Schluß sagt, "like a gallant captain with his heathen slave. Go on now and I'll see you from this day stewing my oatmeal and washing my spuds, for I'm master of all fights from now. (Pushing Mahon.) Go on, I'm saying" (p. 292). An brutaler Rohheit wird dies Schauspiel nur von dem antiklerikalen Tendenzdrama „Casandra" (1910) des vielgespielten Spaniers B e n i t o P é r e z G a l d ó s (1854—1920) übertroffen, wo der Held seine pietistische Stiefmutter Doña Juana Samaniego, Marquesa de Tobalino, ein „grausames fanatisches altes Weib", ermordet. Diskreter wirkt, in J a c i n t o B e n a v e n t e s Schauspiel „Por las Nubes" (1909), Julios Kampf gegen seine zäh egoistische Mutter, die ihn nicht nach Südamerika, zu neuem Schaffen, ziehen lassen mag, worauf sie der Gelehrte Hilario programmatisch auf die Nichtigkeit der Ansprüche der Eltern gegenüber dem Lebenswillen ihrer Kinder hinweist. Wie dagegen in G r e g o r i o M a r t í n e z S i e r r a s Drama „Mamá" (1912) die leichtlebige Mercedes erst sich selbst, dann ihre Tochter vor den Verlockungen eines Casanova in Sicherheit bringt, so wird vollends in L o u A n d r e a s S a l o m é ' s Novelle „Vaters Kind" („Im Zwischenland11 Stuttgt. Bln. 1911) die M u t t e r der Zufluchtsort, zu dem sich die kleine Ria plötzlich vor dem geliebten Vater flüchtet, als sie zum erstenmal „Angst vor dem Vater" empfinden lernt. Die 1908 in Italien gegründete dichterisch-weltanschauliche Nationalistenbewegung des „ F u t u r i s m u s " mußte, gemäß ihrem radikal pietätlosen Grundprinzip, auch den Kampf gegen die elterliche Autorität als eine ihrer Hauptaufgaben erkennen. Einer ihrer Sprecher, der im Jahr darauf sich zur traditionalistischen Neuromantik bekehrende G i o v a n n i P a p i n i , beschloß noch am 1. 6. 1914 seinen Kampfartikel „Chiudamo le Scuole" („Lacerba" II. Jg. Nr. 11) mit dem Aufruf: „La rivoluzione francese ha liberato il suddito — la rivoluzione futurista deve liberare il giovane. Chi è contro la libertà e la gioventù lavora per l'imbecillità e per la morte". Und in derselben Zeitschrift zeichnet am 15. 7. 1914 A r d e n g o S o f f i c i die Karikatur des liebevoll-tyrannischen Vaters, verwirft die Institution der Familie als lästige Abhängigkeit („Io sono uno che odia la famiglia") und schließt, vollkommen im Sinne André Gide's, mit der These, daß „il vero uomo, l'individuo perfetto, libero e unico responsabile del proprio essere è colui il quale non vide mai un viso di parente e s'è trovato nel mondo solo come

Adamo, nudo come lui" („Appunti sulla famiglia"; „Lacerba" li, 14).

Nicht weniger radikale Auseinandersetzungen mit dem Generationsproblem finden sich auch in England: S t a n l e y H o u g h t o n (1881—1913),

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der in „The Younger Generation" (1910) und andern Dramen die Rechte der Jugend verteidigte, erregte Theaterskandale mit seinem Stück „Hindle Wakes" (1912), wo die emanzipierte Tochter sich weigert, den ihr von den Eltern zugeführten Mann zu heiraten, dem sie sich nicht aus Liebe, nur aus Sensation hingab und den sie nur noch mehr verachtet, weil er auf Befehl seines Vaters sofort eine frühere Verlobung gehorsam auflöste. Ganz kraß vollends sind die Konflikte zwischen einem lieblosen Haustyrannen und seinen Kindern in G i t h a K . S o w e r b y ' s (Mrs. John Kendall) bestem Stück „Rutherford and Son", ebenfalls von 1912. Der Vater, Großindustrieller, weist seine 36jährige Tochter aus dem Hause, weil sie nicht ein Opfer seines Ehrgeizes sein wollte und ihr eigenes Recht auf Liebe in Anspruch nahm, nachdem er sie durch Befehle wie den, ihm jeden Abend die Schuhe auszuziehen, dazu gebracht hatte, "to well-nigh wish you dead when I had to touch you .. . Now! . . . Now you know!" Am Ende des I I . Akts rechnet sie vor dem Verlassen seines Hauses noch einmal mit ihm ab: "You've let me out o'goal. Whatever happens to me now, I shan't go on living as I lived here . . . You've ruined my life, you with your getting on. I've loved in wretchedness, all the joy I ever had made wicked by the fear o ' y o u . . . (Wildly) Who are you ? Who are you ? A man — a man that's taken power to himself, power to gather people to him and use them as he w i l l s . . . "

Und nachdem auch noch der intelligentere seiner beiden Söhne, den er wie einen Feind überwachen ließ, mit der Kasse durchgegangen ist, wird der Alte schließlich ein wenig rühmliches Ausbeutungsobjekt der überlegenen, eiskalten Energie seiner Schwiegertochter. Am Ende dieser Epoche wurde der Konflikt in Deutschland noch mehrfach dramatisiert: einmal in dem lapidaren Drama „Herzog Heinrichs Heimkehr" (Bln. 1911) von Hans F r a n c k , wo nach 30jähriger Gefangenschaft ein Kreuzfahrer heimkehrt, und, wie Hildebrand, sein Reich von seinem vaterlos aufgewachsenen, kriegerischen und ungezähmten Sohn verwaltet findet. Wie Hadubrand sieht der junge Heinrich in dem angeblichen Vater einen lügnerischen Betrüger und fordert ihn zum Zweikampf heraus. Da aber erklärt der Alte, dem inzwischen die schmerzhafte Erkenntnis vom Vorrecht der Jugend vor dem Alter, des Sohnes vor dem Vater, aufgegangen ist, er habe gelogen: er sei nicht der alte Herzog Heinrich. In diesem Augenblick aber erkennt der Sohn seinen Vater; dieser übergibt ihm sterbend die Herrschaft: der Sohn erfüllt seine Aufgabe als „Sohn". — Form, Gestalten, ja selbst Auffassung des Problems bei Hans Franck begegnen uns abermals in den herben und schönen Versen des Einakters „Die Wiederkehr" (1912) von H e i n r i c h Schnabel. In grauer Vorzeit kehrt ein König auf die kahle Nordlandsinsel zurück, wo er einst

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Weib und Kind zurückließ, um sich seinen großgewachsenen Sohn als Erben seines Königreichs zu holen. Der Sohn nimmt entschlossen an, ohne Vater und Mutter auch nur ein Wort des Dankes zu sagen: das Erbe ist sein Recht, dafür dankt man nicht. Die Mutter, liebeleer und verlassen, stürzt sich ins Meer. Der Sohn gewinnt des Vaters junge Begleiter zum Aufruhr gegen den Greis, läßt ihn allein auf dem Eiland zurück und schießt ihm abfahrend einen Pfeil durch die Brust. Des Vaters Größe liegt darin, daß, wie der Sohn das Erben, er das Abgelöstwerden als sein Schicksal erkennt. — Dieselbe innere Größe des Verzichtenden hat auch E r n s t H a r d t in seinem Drama „König Salomo" (1915) verherrlicht: nur ist es hier der Sohn, der dem wild begehrenden Vater das Weib, Abisag, überläßt. Die Tragik des Sohnes eines zu großen Vaters dagegen beherrscht die Eingangsszene von H e r b e r t E u l e n b e r g s atheistischem Nietzsche-Oratorium „Ikarus und Daedalus" (1912), die mit dem übrigen Drama nichts zu tun hat: Der junge Ikarus, dessen sehnsüchtigen Knabenehrgeiz der kunstreiche Vater im Fluchtasyl einer Insel zurückhält, wird vom Chor der Vögel seines Epigonentums wegen verspottet: „Zurück zum Vater! / Zurück zur Rute! / Du wirkst nichts Wichtiges ohne ihn, / Du Nichts, du Wicht. / Sieh dich im Licht an, / Du irrendes Kind, / Und wimmre! . . . / Alles von ihm!/ Nichts, nichts aus dir selbst! / Du Kind, du Wicht!" (Ausgew. Werke Stuttgart 19251, p. 259/261). Mehr noch als durch diese Hohnrufe durch den eigenen Selbständigkeitswillen aufgepeitscht, reißt Ikarus die Flugschwingen des Vaters an sich, schwebt empor und stürzt ab. Zu spät erfährt der Vater das Geschick des Sohnes. Gleichzeitig behandelte H e i n r i c h L i l i e n fein den schon von Immermann in einem Drama und von Meredith in einem psychologischen Gedicht dargestellten Stoff des Periander von Korinth und seines Sohnes Lykophron in dem Drama „Der Tyrann": Lykophron fordert vom Vater Rechenschaft für die Mutter, die jener einst im Zorn ermordete. Dies steht hemmend zwischen den beiden, die einander lieben und sich vergeblich nahezukommen suchen: der Sohn erkennt (II, 2): „des Hades Ströme, Die heulenden und grausen sind so breit nicht, Als eine Kluft uns voneinander reißt, Und keine Stimme reicht von mir zu ihm, Von ihm zu mir kein noch so schwaches Echo!"

Und der Grund: „Der Mutter Hände fehlen zwischen uns!" — In der ersten Fassung des Dramas (1912) erfüllt sich das Orakel: Periander wird indirekt zum Mörder seines Sohnes, im Augenblick, als er sich mit ihm versöhnen will. In der zweiten Fassung (1913) ist der letzte — tragische — Akt sowie der Orakelspruch gestrichen, — im Augenblick der Trennung 3

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versöhnen sich Vater und Sohn: Periander wendet sich, seine Schuld abbüßend, zu seiner Königspflicht zurück, Lykophron zieht wieder in seine Landeinsamkeit zurück: beide müssen sich „verschollen" bleiben, denn beide haben die Erfahrung gemacht, die M a x D a u t h e n d e y in seinem autobiographischen1) Buch „Der Geist meines Vaters" (München; p. 343) in die Worte faßte: „Zu welchen Gewalttaten der Geist eines Mannes einen andern Menschen drängen kann, wenn der eine der Vater, der andere der Sohn ist, dies sehe ich heute erst vollständig und bewußt." Ablösung vom physischen Vater und Kürung eines geistigen Vaters ist dagegen eine Idee, die im Kreise der „Blaetter fuerdiekunst" immer wiederkehrt. Typisch dafür ist das zweite Gedicht des I I I . Buchs von S t e f a n G e o r g e ' s „Stern des Bundes" (1914): Dies ist reich des Geistes: abglanz Meines reiches, hof und hain. Neugestaltet umgeboren Wird hier jeder: ort der wiege Heimat bleibt ein märchenklang. Durch die sendung durch den segen Tauscht ihr sippe stand und namen Väter mütter sind nicht mehr.. Aus der sohnschaft, der erlosten. Kür ich meine herrn der weit.

I L NEUROMANTIK(ca. 1895—1920): PIETÄTVOLLER V A T E R K U L T Was Rudolf Kassner („Die drei Reiche" in „Neue Schweizer Rundschau" XXII, 4. p. 277) von der Behandlung des Vater—Sohn-Problems durch die — bezeichnenderweise gerade im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts sich entwickelnde — Psychoanalyse sagte, das konnte man ebenso auf die dichterische Behandlung durch den „Realismus" überhaupt verallgemeinern: diese Darstellung der Beziehung des Vaters zum Sohn war „so schroff, einseitig, rücksichtslos und inhuman, daß dabei das Menschen] ) Dauthendey schildert hier, neben seinen liebevollen Beziehungen, auch „den unbewußten Kampf gegen den Geist meines Vaters", dessen praktischer Lebensmaterialismus ihn abstieß. „Dieser Gegensatz führte schließlich zur völligen Entzweiung, so daß der Sohn im letzten Vierteljahr seines gezwungenen Aufenthaltes zu Hause fremd neben dem Vater lebte und kaum mit ihm sprach" (Otto Rank, in „Imago" 1914; III, 90; Anm. 2), bis er schließlich, „um von dem geistigen Druck, den mein Vater auf mich übte, loszukommen, . . .ohne Wissen meines Vaters" ganz plötzlich zu Verwandten nach Petersburg floh. Trotz endlicher äußerlicher Versöhnung blieb von da an die seelische Verbindung des Dichters mit seinem Vater zerrissen.

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tum in Stücke gehen oder zerreißen oder überhaupt jede Geltung verlieren mußte." Es kann daher nicht überraschen, daß — als auf den glaubens- und pietätlosen Realismus um die Jahrhundertwende eine religiöse und romantische Renaissance folgte — auch in der Auffassung des Vater—Sohn-Problems eine Reaktion auf die bisherige Periode einsetzte, bzw. daß man wieder zu der durch jene verdrängten, romantischen Auffassung zurückkehrte. Diese Rückkehr war eine vorwiegend lyrische, und es darf uns nicht wundern, wenn wir in dieser Periode das Problem hauptsächlich durch Lyriker behandelt finden, während der dialogischen Konfliktauffassung des Problems das Drama näherliegt. — Wie in der Romantik entwickelte sich aus der Vorliebe für Altes und Vergangenes auch die Vorliebe für den Vater und die Vatertradition, mit der man sich geheimnisvoll verbunden und verknüpft fühlt. Echt romantisch ist die Andacht, mit der 1896 (in „Larenopfer") der junge R a i n e r Maria R i l k e das alte Vaterhaus als Ort wahrsten Glückes preist (Gesamm. Werke, Lpz. 1927, I, 25) und noch Georg Trakl (1887—1914) das „bärtige Antlitz" des Vaters und „altes Hausgerät der Väter" besingt („Sebastian im Traum" Lpz. 1914, p. 14). Durch fast alle Werke Rilkes geht die Gestalt seines Vaters: durch die Fiktion verzerrt nur im „Malte Laurids Brigge", dagegen zärtlich und andächtig gesehen im „Jugendbildnis meines Vaters" ( G. W. II, 69), das mit den Worten anhebt: „Im Auge Traum. Die Stirn wie in Berührung mit etwas F e r n e m . . . . " am schönsten vielleicht in der Anrede an den Vater in der IV. Duineser Elegie, die wunderbar zart die seelische Gemeinschaft des Dichters auch noch mit dem toten Mann umschreibt (III, 275/6): Du, der um mich so bitter das Leben schmeckte, meines kostend, Vater, den ersten trüben Aufguß meines Müssens, da ich heranwuchs, immer wieder kostend und, mit dem Nachgeschmack so fremder Zukunft beschäftigt, prüftest mein beschlagnes Aufschaun, — der du, mein Vater, seit du tot bist, oft in meiner Hoffnung innen in mir Angst hast, und Gleichmut, wie ihn Tote haben, Reiche von Gleichmut, aufgibst für mein bißchen Schicksal....

Rilkes intimster Freund, Rudolf Kassner, will in des Dichters Werken eine ganze Philosophie des „Vaters" finden, indem er den leiblichen Vater und Gottvater im Prinzip identifiziert und diese Vater-Linie in Gegensatz 3»

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setzt zur,, Welt des Sohns" („Erinnerungen an R.M. Rilke" in „Narciss Lpzg. 1928, p. 129): „Man lese die achte seiner Duineser Elegien. Sie ist mir gewidmet und kehrt sich gegen den Begriff der Umkehr, dem er in meinen Büchern begegnete. Das Tier kehrt nicht um, das Tier lebt in der Welt des Vaters. Die Größe der Vaterwelt war noch ganz im Sein enthalten, das ist recht so. Mit dem Sohn löst sich die Größe vom Sein. Der Sohn ist groß, deT Vater aber i s t . Rilke war nicht ohne Ranküne gegen den Sohn. Beispiele dafür sind einige Gedichte im zweiten Band der Neuen Gedichte."

Und er kommt zu dem Resultat: „Rilke wollte nur den Vater, Rilkes Heimat war in jeder Hinsicht die Welt des Vaters, die Welt der Kinder, der Knaben- und Mädchenspiele, der Knaben- und Mädchenschuld.... Und so war Rilkes Lyrik (bis zu den Duineser Elegien) durchaus ein Bekenntnis zu dem Reich des Vaters aus der Welt der Kindheit und des Knabentums." Am deutlichsten erscheint der Vaterkult und die Verherrlichung der Sohnespietät im Werke des österreichisch-jüdischen Neuromantikers Richard B e e r - H o f m a n n , der, wie Rilke (Ges. W. II. 103/4) im Lied des jungen Zaren, in seinem „Schlaflied für Mirjam" („Pan" IV. Jg.) die geheimnisvolle Seelenverwandtschaft mit seinen Vätern anklingen ließ.... Ufer nur sind wir, und tief in uns rinnt Blut von Gewesnem, — zu Kommenden rollts, Blut unsrer Väter, voll Unruh und Stolz. In uns sind Alle. Wer fühlt sich allein ? Du bist ihr Leben, — ihr Leben ist dein —

Sein bestes Werk ist das Trauerspiel „Der Graf von Charolais" (1904), dem der schon von Ph. Massinger in „The Fatall Dowry" behandelte Stoff zugrunde liegt. Bezeichnenderweise hat er dies Drama seinem Vater zugeeignet ; es ist eine Phantasie über das Thema der Stimme des Bluts, ausgedrückt am Schluß in den Worten der in ihres Vaters Armen sterbenden Tochter: „Vater — Kind! Das bleibt doch!" Geneviève Bianquis („La Poésie Autrichienne de Hofmannsthal à Rilke" Paris 1926, p. 63) sagt über den Sinn dieses Werkes: Dans l'ouragan qui les entraîne tous, qu'est-ce qui demeure? Hélas! ce n'est pas l'amour, si vive qu'en ait été la félicité ; mais peut-être un sentiment plus grave, plus simple, plus élémentaire, celui qui tient au sang même. « Vater, Kind! Das bleibt doch» (Charolais, p. 260)! Ce motif, essentiel chez Beer-Hofmann, l'amour paternel et l'amour filial, reparait ici par sept fois : tendresse du père de Charolais pour son fils et de Charolais pour son père, du président pour sa fille et de Désirée pour son père, de Charolais et de Désirée pour leur fils, enfin souvenir ému et douloureux que Itzig garde à son père martyrisé.

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Es ist die Geschichte vom Sohne, der sich zu lebenslänglicher Schuldhaft bereit erklärt, damit der von den Gläubigern beschlagnahmte Leichnam seines alten Vaters ein friedliches Grab finde; dieser Vater war ihm alles, war ihm das, was die Seßhaften Heimat heißen (III. Akt; 6. Aufl. 1913, p. 140) ich hab's nur geahnt, wenn manchmal — nicht oft — sein stummer Blick mich so umfing, daß um mich Mauern aus dem Boden stiegen, sich Burgen türmten, Wälder mich umwuchsen, mich schützten, bargen, Frieden in mich rauschten. Von so viel Liebe, als sein Blick mir schenkte, hab' ich gelebt all diese Jahre, und er war nicht zärtlich; einmal nur, als ich im Fieber lag, strich er das Haar mir aus der feuchten Stirn, ließ seine güt'ge Hand liebkosend über meine Wange gleiten, da — diese war's! Und gestern nachts, als ich die Wache bei ihm hielt, schloß ich die Augen, und tastend da und da, sucht' ich, und wieder sucht' ich den Weg, den damals seine Finger, die lieben, gingen •— und nie wieder geh'n I

Die Idee von der Stimme des Blutes, von den Realisten so lebhaft bekämpft, findet sich auch im Werke H u g o v o n H o f m a n n s t h a l s ; so bekennt er z. B. in einer Terzine (Ges. Werke, Bln. 1924; I, 14): Dann: daß ich auch vor hundert Jahren war Und meine Ahnen, die im Totenhemd, mit mir verwandt sind wie mein eignes Haar, So eins mit mir als wie mein eignes Haar.

Hofmannsthal hat sogar den paradoxen Versuch unternommen, den Vatermörder par excellence, ödipus, zu einem Menschen zu machen, dessen Ohr immerwährend die Stimmen seiner Väter vernimmt, der sich als Teil von ihnen empfindet, der allen Aufschwung, alles Tun nicht sich, sondern seinen Vätern verdankt, deren einen, seinen leiblichen Vater, er durch Zufall erschlägt. Im I. Aufzug von „ödipus und die Sphinx" (1906) läßt der Dichter seinen ödipus dem alten Diener Phönix dies Gefühl der Abhängigkeit, diese Kommunion mit denen „seines Blutes" beschreiben (Ges. W. VI, p. 97/9). ödipus:

Mit meinen Vätern hauste meine schlaflose Seele. Phönix: Wie, der Toten, die du nie gesehen hast, entsannst du dich?

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II. NEUROMANTIK: PIETÄTVOLLER VATERKULT Ödipus: Nein — sie entsannen sich des Enkels und durchzogen mich, und es war mehr als Lust und mehr als maßlose Begier, es war die Lust und Qual von Riesen — Phönix: Könige und Götter, weißt du's nun! ödipus: Der Strom des Bluts, das war die schwere, dunkle Flut, in der die Seele taucht und findet keinen Grund. Das war in mir. Nein, das war ich ! . . .

Dies Ringen mit der Stimme des Blutes, ihre Erkennung und ihre Hinnahme ist das ewige Thema der deutschen Neuromantiker. Ihre Ersetzung durch voraussetzungslose Liebe hat dagegen der Österreicher R i c h a r d S c h a u k a i in schönen Versen vorgezeichnet in seinem Gedicht „Familie" (in „Neue Verse 1908—1912" München 1912, p. 43): Bist du dieselbe dort ? Bin ich derselbe denn ? Ich weiß mich eins mit mir und weiß doch nichts von mir. Ist etwas wohl von dir in mir, von mir in dir, da ich Gemeinsames nur außer uns erkenn ? Die Kinder . . . Denen wir zuletzt doch wieder einzeln sind. Was wissen sie von uns ! Mein Kind, auch ich bin Kind ! . . . Zusammenhang, du dunkelst bloß im Blut, der Sinn bleibt ewig stumm, und Liebe nur ist gut.

Diese Schlußlösung „Liebe" ist es auch, die Schaukai in den zahlreichen Gedichten, wo er sich über das seelische Verhältnis von Vater und Kind klar zu werden suchte, immer wieder anschlägt. T r a k l (a. a. O. p. 24) fragt: „Was zwang dich still zu stehen auf verfallener Stiege im Haus deiner Väter?" und W i l h e l m v. S c h o l z sucht in einem Gedicht („Gesamm. Werke" Stuttgart 1924; I, 64/5) das Gefühl, in der Väter Wanderspuren zu gehen, dichterisch zu gestalten. Gleichzeitig mit der deutschen, rein ästhetisch eingestellten Neuromantik erhob sich in Frankreich eine Neuromantik, die dieselbe poetische Liebe zur Religion, zur Heimat, zum Vater politisch-weltanschaulich ausmünzte in Form eines Neukatholizismus, Neunationalismus, Neutraditionalismus. Ihr Führer war M a u r i c e B a r r é s (1862—1923) und es ist unumgänglich, die Stellung seiner Schule zum Vater—Sohn-Problem zu streifen. Barres selbst hat angedeutet, daß seine Liebe zu Lothringen, die der Ausgangspunkt für seine politischen Doktrinen wurde, aus der Liebe und Verehrung zu seinem Vater entsprang; er schreibt schon 1898, im Todesjahr seines Vaters, in sein Tagebuch („La Voix Intérieure de M. Barres d'après ses Cahiers" II: „Revue des Deux Mondes" du 1er oct.

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1928. p. 596): „Peu à peu, j'ai créé la Lorraine en moi; je l'ai créé sur la tombe de mon père." Auch die Tagebücher von 1901 geben ähnliche Beweise seines Elternkults (p. 595: „0 mes vénérés parents!1''), neben dem Vaterkult vor allem für den Kultus seiner Mutter, die ihn am besten verstand („Je ne saurais dire ce qui m'enivrait d'amour pour ma mère") und von deren Begräbnis heimkehrend, er den Entschluß faßte, sich vom politischen Leben zurückzuziehen (a. a. O. : „Les Luxer ont vécu deux cents ans à Charmes et c'est fini. Mais je les continue. Eux, ma mère, moi, nous sommes les mêmes. Puisque je suis elle, je n'ai plus le droit de me gaspiller"). In seinem Buch „Les Amitiés Françaises" (1903) hat er dann die eingehende Schilderung des liebevollen Verhältnisses des Sohnes zu Vater und Heimat gegeben ; es müsse dem Kinde der Tradit.ionalismus von den ersten Jahren an eingeimpft werden, und wenn dies möglich sein solle (p. 27), „il faut d'abord que son imagination se forme en toute confiance auprès de ses parents." Auf diese Weise hofft er, eine unzerstörbare seelische Kommunion zwischen Vater und Sohn zu schaffen, so daß „ils se connaissent liés à la terre de nos morts, à tout ce qui nous est fondamental, à tout ce qui porte les pères et les fils" (p. 32/3) und daß, wenn einmal sein Sohn als alter Mann seines Vaters altes Haus besuche, er sich sagen könne (p. 33): „Ses goûts et ses dégoûts dans chacun de ses âges demeurent mes goûts et mes dégoûts successifs et, comme il a mis ses pas dans les pas de nos aïeux, je vis pour repasser sur leurs traces communes en vérifiant leurs impressions". — Es ist unnötig, die Äußerungen von Barrés zur Idee des Elternkults weiter zu verfolgen, denn er hat sich hierin nie geändert. Neben seinen Eltern und Voreltern liegt er heute auf einem kleinen Dorffriedhof begraben, wie er es sich immer gewünscht hatte. Von den Barrés-Schülern sei vor allem Henry B o r d e a u x genannt, der in seinem Traditionsroman „Les Roquevillard" (1904/5) die Figur eines liebenden und opferwilligen Vaters verherrlicht, der den Konflikt mit seinem wegen Unterschlagungen unschuldig angeklagten Sohn überbrückt durch den Appell an die Macht des Bluts und der Familientradition (éd. 1906, p. 284), während als Kontrastfigur ein frecher junger Fabrikant „ces théories absurdes" von der Familienpietät als veraltet bespöttelt und im Geiste des pietätlosen Realismus die These aufstellt: „Nul n'est tenu des dettes d'autrui, quand ce serait son père, son frère ou son fils" (p. 231 ). Und es ist ganz im Sinne der Neuromantik, daß hier die endgültige Versöhnung zwischen Vater und Sohn auf dem Kirchhof, über den Gräbern ihrer Ahnen, stattfindet (p. 360): „Le père lisait sur le visage du fils l'admiration, la reconnaissance, la piété filiale; le fils lisait sur le visage du père l'amour, la bonté, et aussi les poignants stigmates de la lassitude

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et de l'âge. E t ils se taisaient douloureusement, invinciblement" 1 ). Ergänzende Ausführungen zu diesem Thema finden sich im Kapitel „La Familie" von Fernand Baldenspergers „L'avant-guerre dans la littérature française" (Paris 1919, p. 109ff.). Der größte D i c h t e r der französischen Neuromantik, der aber auf die politische Verallgemeinerung seiner poetischen Vorlieben so wenig verzichtet wie Barrés, ist ohne Zweifel P a u l Claudel. In einer dramatischen Trilogie hat er dargestellt, wie in revolutionären, entgötterten, pietätlosen Zeiten, die er als Verteidiger der Monarchie und des Papstes bekämpft, neben vielen andern edlen Banden auch die zwischen Vater und Sohn verhängnisvoll zerreißen müssen. Was im I. Teil der Trilogie: „L'Otage" (1909—10) Turelure, der brutal-traditionslose, proletarische Emporkömmling von 1789 der altadligen, frommen und reinen Sygne höhnisch verkündet hatte ( I I , 2; 15ième éd. p. 95) „L'enfant majeur n'est plus soumis à son père", erfüllt sich im II. Teil, dem Drama „Le Pain Dur" (1918), mit grausamer Konsequenz an ihm selbst: sein Sohn Louis verfolgt den Alten wegen seiner Habsucht mit Haß, und die Angst des Vaters vor dem Sohn zeigt sich als berechtigt, als der Sohn den Vater mit einer Pistole bedroht; noch ehe der Sohn abdrückt, stürzt der Vater leblos um. Diese Verdammung des pietätlosen 19. Jahrhunderts durch einen Verteidiger des Patriarchats (Vaterverehrung, Papstverehrung, Monarchie) ist dann im III. Teil „Le Père humilié" (1916) konsequent weitergeführt: der Vatermörder Louis ist es, der jetzt, als französischer Botschafter in Rom, 1870 die Absetzung auch des „heiligen Vaters", des Papstes, betreibt und erwirkt; so ist auch Claudels Ideal „Un père de qui sont complètement ses fils, des enfants qui sont complètement à leur père" („La Messe Là-Bas" Paris 1919, p. 24) sowohl rein persönlich als auch religiös zu verstehen. Wieder, wie in der Romantik, haben wir die scheinbar widernatürliche Konstellation, daß die neue Sohngeneration reaktionär, vergangenheitsund traditionsfreudig ist und pietätvollen Vaterkult treibt, während die Vatergeneration noch einer revolutionären, pietätlosen, also eigentlich „jugendlichen" Zeit angehört. Daß dies keine paradoxe Spekulation ist, zeigt das Beispiel des Romanciers E r n e s t P s i c h a r i (1883—1914), des aufgeklärt erzogenen Enkels des Pietätsgegners Renan, der in seinem Roman „L'Appel aux Armes" seinen orthodoxen und pietätvollen Helden Maurice gegen dessen aufklärerisch freigeistigen und liberalen Vater l

) Während es bei Bordeaux der Sohn ist, der von einer ehebrecherischen Leidenschaft geheilt wird, i s t e s i n H e r m a n n S t e h r s Märchenroman „Geschichten aus dem Mandelhaus" (1913) der Vater, der, seine tote Frau mit einer Magd betrügend, aber durch seinen verträumten, wunderbar weichen und gefühlswarmen Sohn geläutert, zu sich und zu seinem Vater-Sein zurückfindet.

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Sébastien verteidigt und der mit vollem Bewußtsein dies sonderbare Über-Kreuz-Verhältnis charakterisierte: „C'était le père qui signifiait le présent et le fils qui signifiait le passé, et c'était le fils qui recourait à l'histoire, et c'était le père qui en appelait à l'avenir." — Auch in dem traditionalistisch-katholischen Roman des Barrésisten É m i l e B a u m a n n (geb. 1868) „La Fosse aux Lions" steht der Autor auf Seite des konservativen Sohnes, der die verlotterte Wirtschaft seines liberalen Vaters in Ordnung bringt. Einer der wenigen französischen Neuromantiker, die sich von politischtendenziösen Spekulationen fern hielten und die im Sinn der deutschen Neuromantik das geheimnisvolle Zusammengehörigkeitsgefühl des Sohnes mit Eltern, Ahnen und Familie zu ergründen suchten1), war — neben dem zärtlich gedämpften Lyriker Francis Jammes — Marcel P r o u s t (1871 bis 1922). Über die von ihm geschilderten Menschen sagt E. R. Curtius (,yFranzösischer Geist im Neuen Europa" 1925, p. 97): „Der einzelne ist niemals losgelöstes Individuum, sondern immer der Angehörige einer Schicht, einer Familie. Man ist le fils de quelqu'un". Noch eindringlicher als aus F r a n ç o i s Mauriacs Roman „Le désert de l'amour" (1925), wo Vater und Sohn, einer Frau wegen entzweit und beide von ihr abgewiesen, sich versöhnen, spricht diese Erkenntnis aus dem Gedicht „Le Portrait", dem Einleitungsgedicht der „Gravitations" des Lyrikers J u l e s Superv i e l l e (geb. 1884); dies Lied an die tote Mutter, die in derselben Woche wie sein Vater dem Dichter früh entrissen wurde, las Rilke im ersten Heft der Zeitschrift „Le Navire d'Argent" (Juin 1925, p. 39ff.) und bekannte alsbald, „daß er alles, was J. Supervielle schreiben würde, lieben müßte" („Deutsch-französ. Rundschau" I I I , 10; Okt. 1930, p. 806). Ewig trägt der Dichter das Bild der Mutter in sich, so stark „que notre pas est semblable" (p. 39), an seinen Fingernägeln, Augenbrauen, Herzschlägen sucht er, was von ihr stammt, um es festzuhalten: „J'ai été toi si fortement, moi qui le suis si faiblement et si rivés tous les deux que nous eussions dû mourir ensemble" (p. 40). Wir begegnen diesem Gefühl bei allen späteren Lyrikern der Neuromantik. Da ist in Irland W i l l i a m B u t l e r Y e a t s (geb.1865), der sich in seinem „Song of the Old Mother" in mitleidiger Liebe der alten Mutter annimmt, die ihm größer vorkommt als die in unbekümmerter Gesundheit dahinlebenden Jungen („Later Poems" London 1922, p. 14) •) Vgl. auch das Märchenspiel „L'Oiseau Bleu" (II. Akt, 2. Bild) des Belgiers Maurice M a e t e r l i n c k , wo Tyltyl und Mytyl ihre toten Großeltern besuchen.

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II. NEUROMANTIK: PIETÄTVOLLER VATERKULT I rise in the dawn, and I kneel and blow Till the seed of the fire flicker and glow; And then I must scrub and bake and sweep Till stars are beginning to blink and peep; And the young lie long and dream in their bed Of the matching of ribbons for bosom and head, And their day goes over in idleness, And they sigh if the wind but lift a tress: While I must work because I am old, And the seed of the fire gets feeble and cold.

Da ist in Ungarn der zartfühlende und sanfte Frühlingsdichter J u l i u s J u h a s z , ein Mensch von der Art des von ihm besungenen Malers Beato Angelico, dessen Gedicht „Mein Vater" vielleicht am typischsten für die neuromantische Vaterauffassung ist; ich gebe es in der Übertragung Heinrich Horvat's („Neue Ungarische Lyrik" München 1918, p. 85). Ich seh sein Antlitz auf dem alten Bilde An unsrer neuen Stube fremder Wand, In seinem tiefen Aug flammt meine Seele. Schon lang, sehr lange ist er fortgezogen, Doch immer näher, näher kommt er mir — All meine Wege führen zu ihm hin, Und jedes Leid läßt mich ihm schöner gleichen — J e bleicher der Erinnrung Farbe wird, Je stärker fühl ich mich ihm tief verwandt Und fühle, daß wir Eins sind: er und ich Und seines Weges wandermüde Spuren Geleiten meines Lebens Pilgerpfad: Ich hol ihn ein, wo er von mir gegangen — Und wenn die Maienglocken aus uns wachsen Und wenn der Kirchhof weiß in Blüte steht, Am Uferrand von Ländern und von Zeiten Lullt uns dasselbe Wiegenbett in Schlaf.

Da ist in Italien der weiche Gedankenlyriker Camillo Sbarbaro (geb. 1888), der ein in seine Gedichtsammlung „Pianissimo" (Firenze 1914) aufgenommenes Gedicht an seinen Vater (Pietro S., einen seinerzeit bekannten Politiker) schrieb („A Mio Padre") das mit den Versen beginnt Padre, se anche tu non fossi il mio padre, se anche fossi un uomo estraneo, per te stesso egualmente t'amerei.

und ähnlich endet; dazwischen erzählt der Dichter zwei Kindheitserinnerungen, bei denen ihn schon damals jene heiße und weiche Rührung zu seinem Vater überkam, die ihm später dies Gedicht diktierte.

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Spricht man das Wort „Rührung" aus, so denkt man an die Prager Dichterschule, vor allem an den jungen Max Brod; diesen gemütvollsten der neuen jüdischen Dichter hat denn auch der Anblick seines im Büro arbeitenden, alternden Vaters zu dem zärtlichen und liebevollen Gedicht „Der Vater" veranlaßt, wo ihm plötzlich bewußt wird, Daß, wie ich jetzt dies Zimmer sehe, Tausend Anblicke, mir unbekannt, Und deine tausendmal rührige Hand, Das Inselchen schufen, auf dem ich stehe, Daß jeder Bissen, den ich schlucke, Aus Telephonklingeln in dein armes Ohr, Aus Befehl und Gehorchen ging hervor Und aus manchem schreckensbleichen Rucke, Daß zu Vorgesetzten Stiegen führen, Die du auf und ab rennst, und daß mit Schrein Untergebene listig deine Knie berühren, Das fällt mir heute zum erstenmal ein. Und es tut mir weh. — Denn du solltest schon lang, Alter Mann, einen Garten haben, Gesunde Beschäftigung, Pflücken und Graben, Obstbäume, jubelnder Enkel Dank. Sind dir aber weite Reisen genehmer, Sollten dich schöne Schnelldampfer entführen — Du dürftest kein bißchen Seekrankheit spüren — Oder ein Eilzug, ein ganz bequemer, Müßte mit dir zu den blauen Seen, Wie du willst, nach so mühevollen Jahren, zu interessanten Museen Oder zu Indiens Schätzen rollen.

Bei Brods bestem Freund, dem genialen Prosaiker F r a n z K a f k a (1883—1924), soll dies Zusammengehörigkeitsgefühl mit der Familie so stark entwickelt gewesen sein, daß es sich geradezu lebenshemmend auswirkte; auf diese Übersteigerung der romantischen Pietät im Kontrast zum radikal pietätslosen Menschen hat neuerdings Max Brod hingewiesen, freilich — als Neuromantiker — unter der steten Grundanschauung, daß unter einer weiteren Perspektive „jener robuste Mensch, der das Werhen um Familien vertrauen aufgibt, vor dem sensitiven nichts gewonnen" habe: „Der robuste Mensch ist geneigt, achselzuckend und ein wenig verachtungsvoll darüber hinwegzugehen, wie der Sensitive mit Überempfindlichkeit Bestätigung

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seiner selbst, seines innersten Wesens, Vertrauen und Aufgeschlossenheit von der Familie erwartet und darüber zusammenbricht, daß man ihn daheim nicht versteht. Der robuste Mensch gelangt nämlich in seiner eigenen Entwicklung bald an den Punkt, wo er sich (mit Recht oder Unrecht) sagt: Ach was, die Familie ist unbelehrbar, unverbesserlich. Aber die Welt ist weit. Es gibt doch noch andere Instanzen. Vor denen werde ich mich bewähren und mich einen Schmarren darum kümmern, was die konservative Clique daheim von mir hält . . . " („Infantilismus. Kleist und Kafka" in „Die Literarische Welt" 15. 7. 1927; III, 28).

Mit der Betrachtung des — wie Kafka — frühverstorbenen R e i n h a r d J o h a n n e s S o r g e nehmen wir von dieser Generation Abschied. In Sorges Drama „Der Bettler" (1912) reicht ein Sohn aus liebendem, unendlichem Mitleid dem in seiner geistigen Zerrüttung so rührenden Vater den Giftbecher, den, ohne es zu wissen, auch die Mutter leert: der Vater, dem der Sohn durch Eingehen auf all seine Einfälle die Grausamkeit der Welt verheimlichte, stirbt, den Sohn küssend, ebenso die Mutter, zu der der Sohn gesagt hat „Sieh, ich liebe dich ganz und bin immer um dich" (Bln. 1919, p. 66; II. Akt), indem sie verzückt des Sohnes Hand hält. Diese neuromantische Haltung zum Vater, die zärtlich liebende, hat auch ein Dichter nicht von sich abgeschüttelt, durch dessen Werke sich der Vater—Sohn-Konflikt zieht und der darum erst im nächsten Abschnitt ausführlicher behandelt werden soll: Franz Werfel. Seine erste Lyrik bis etwa zur Revolution ging stimmungsmäßig durchaus noch in den Pfaden der Neuromantik: vollkommen richtig wies L. Mazzucchetti („II nuovo secolo della poesia tedesca" Bologna 1926, p. 138) auf „la vicinanza di Werfel a Rainer Maria Rilke" hin und Ulrich Rauscher (Frankfurter Ztg. 1914, Nr. 312) behauptete sogar übertreibend, Werfeis Jugendlyrik sei in der Dichtung des oft bis zur Banalität pietätvollen Francis Jammes bereits „vollständig enthalten". Wenn dem Dichter auch damals schon das Thema von Haß und Zwist zwischen Vater und Sohn nicht fremd sein mochte, so war seine Dichtung damals noch viel zu wenig aggressiv, und der „Weltfreund" Werfel, der die alten Dinge und alten Menschen besang, noch viel zu weich und zärtlich allen Kreaturen gegenüber, als daß er gerade den Vater ausgenommen und Haßgesänge gegen ihn geschrieben hätte. Man muß ihn vielmehr als ein Bindeglied zwischen dem verzückten Sich-Einsfühlen mit dem Vater in der Neuromantik einerseits, und dem radikalen Kampf gegen den Vater, wo — wie bei Hasenclever — alle Brücken abgebrochen sind, andererseits verstehen; wohl aber läßt sich bei Werfel verfolgen, wie die Loslösung vom Vater immer entschiedener und unversöhnlicher wird: das ist der Weg, der von dem Gedicht „Vater und Sohn" (1911) bis zum „Spielhof" (1920) geht. Das erwähnte Gedicht wurde in der von Kurt Hiller (Heidelberg 1912) herausgegebenen Gedichtanthologie „Der Kondor" zum erstenmal ver-

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öffentliche Zugrunde lagen Konflikte mit seinem eigenen Vater, über die Richard Specht in seiner Werfelbiographie (Bln.-Wien-Lpzg. 1926. p. 33 f., 38f.) das biographisch Wissenswerte mitteilt; dennoch ist zu betonen, daß kein wirklicher, haßerfüllter Kampf zwischen Vater und Sohn vorlag, wie dies im Falle des darum auch viel radikaler und brutaler auftretenden Hasenclever der Fall war, sondern mehr ein schwelendes Verhältnis, von dem Specht (a. a. O. 38) schreibt: „Es gab keinen Bruch: nicht einmal eine jener unerträglichen Szenen, wie sie in den Vaterdramen und Romanen der Jüngsten zur Norm geworden sind. Aber die Situation war so peinigend geworden, daß der junge Werfel aus dem Elternheim schied." Daß solche Konflikte noch nicht als endgültig empfunden wurden, zeigt das Gedicht; nachdem der eigentliche Konflikt in einer „jungschillerischen" (Specht 36), barock übersteigerten und in fremdes Milieu verkleideten Form vorgetragen wurde, die bei dem jungen Werfel vollkommen fremd, daher fast unnatürlich erscheint, folgen die beiden Schlußstrophen, die den für alle Prager Lyriker so bezeichnenden Ausdruck „Rührung" und den transzendenten Versöhnungsregenbogen über dem realen Zwist bringen. Das Gedicht lautet, unter Weglassung der beiden ersten Strophen: Und in seinem schwarzen Mantelschwunge Trägt der Alte wie der Junge Eisen hassenswert. Die sie reden, Worte, sind von kalter Feindschaft der geschiedenen Lebensalter, Fahl und aufgezehrt. Und der Sohn harrt, daß der Alte sterbe Und der Greis verhöhnt mich jauchzend: Erbe! Daß der Orkus widerhallt. Und schon klirrt in unseren wilden Händen Jener Waffen — kaum noch abzuwenden — Höllische Gewalt. Doch auch uns sind Abende beschieden An des Tisches hauserhabenen Frieden, Wo das Wirre schweigt, Wo wir's nicht verwehren trauten Mutes, Daß, getränkt von Wallung gleichen Blutes, Träne auf und nieder steigt. Wie wir einst in grenzenlosem Lieben Spaße der Unendlichkeit getrieben, Ahnen wir im Traum. Und die leichte Hand zuckt nach der greisen Und in einer wunderbaren, leisen Rührung stürzt der Raum.

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Aus diesem Gesicht zu schließen, — wie es unvorsichtige Kritiker getan haben, die Werfel mit Hasenclever identifizierten, weil die beiden 1912 sich in Leipzig kennen lernten und bis zu Kriegsausbruch zusammenwohnten — daß Werfel die Revolte gegen den Vater „predige", ist falsch. Überdies beweist ein Gedicht („Der Reine Mensch'"'') im IV. Buch des „Gerichtstags", daß der Dichter den Vaterhaß als etwas Schlechtes und Unreines noch 1915/1916, wo der genannte Gedichtband entstand, empfunden haben m u ß : der Dichter sagt in diesem Lied, wie er sich erlöst und glücklich fühle, wenn der „Reine Mensch" den Raum betrete, denn er wisse nichts von H a ß gegen die Eltern (p. 158): Und seine einfache Stimme hörst du, Die spricht immergut mit alten Eltern.

Erst seit 1918, dem J a h r der Revolution, wo Werfel mit der Arbeit am „Spiegelmensch" begann, verändert sich seine Auffassung des Konflikts in eine entschlossenere und radikalere Ablehnung des Vaters. Davon im nächsten Abschnitt. Erwähnt sei noch A d o l f v o n H a t z f e l d , der eine ähnliche Stellung wie Werfel dem Problem gegenüber einnimmt. In seinem zwischen 1914 und 1916 verfaßten Gedicht „Sohn an Vater der J u g e n d " (in „An Gott" Bln. 1919, p. 67) erhebt sich über einer dumpf dunklen Feindlichkeit doch beherrschend das Gefühl inniger Verbundenheit. Dagegen ist das beiläufig geschilderte Verhältnis seines „Franziskus" (1918, Erzählung) zu seinem Vater ein unharmonisches. Auch in der Philosophie vollzog die neuromantische Epoche eine scharfe Wendung gegen die Pietätlosigkeit des Realismus, die sich mit unserm Thema berührt. Als 1912 der Phänomenologe M a x S c h e l e r (1875—1928), damals noch strenger Katholik, Traditionalist und Nationalist im Sinne eines Barrés, seine Abhandlung „Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und H a ß " (Halle a. S. 1913) schrieb, wandte er sich auch in Bezug auf das Elternproblem scharf gegen die naturalistische „Übertragungs"-Theorie (Triebmechanismus von Ding zu Ding), auf der sowohl die nur den Sexualtrieb anerkennende Psychoanalyse wie die nur ein egoistisches „ubi bene ibi pater" anerkennenden Leugner der „Stimme des Blutes" fundiert sind (p. 98): „Genau so wenig war je die kindliche Liebe zu den Eltern eine bloße „Übertragung" der durch die Wohltaten der Erziehung erregten Lustgefühle auf ihre Erreger; sondern immer war die Liebe der Kinder zu den Eltern ungemein unabhängig von dem Quantum und der Art dieser erlebten Lustgefühle. Darum war bei allen Völkern auch das Gebot der Elternliebe völlig unabhängig von der Behandlung der Kinder durch die Eltern Eine Liebe für die Wesen, die ihnen das „Dasein gaben", ein Wert, der zunächst historisch den Muttermord, später auch den Vatermord als das schrecklichste Verbrechen auch da noch erscheinen ließ, wo die Eltern jede Art der Reizung zur Tat gegeben hatten."

III. D I E

R E V O L U T I O N S G E N E R A T I O N U M 1918

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I I I . D I E R E V O L U T I O N S G E N E R A T I O N U M 1918: V E R D A M M U N G DES V A T E R S . T R I U M P H DES SOHNES „ L a rivolta di questo decennio potrà forse essere detta quella dei parricidi. L a ribellione al padre è in fondo il nucleo che sintetizza tutta la più vasta ribellione dell'artista moderno ad ogni storicismo. Il passato è volutamente rinnegato: ogni tradizione è abbandonata: il d i l e m m a p a d r e - f i g l i o è la s e m p l i f i c a z i o n e esa s p e r a t a d e l d i l e m m a p a s s a t o - p r e s e n t e . «Ricorda che la lotta contro il padre è oggi quel che cento anni fa era le vendetta contro il tiranno», dice uno dei protagonisti di questa letteratura."

Mit diesen Worten charakterisiert Lavinia Mazzucchetti (a. a. O. p. 58) die neue Literaturgeneration, im Gegensatz zu den geistigen Revolutionen Deutschlands im 16. und 18. Jahrhundert. Und sie hat nicht unrecht: eine Geschichte des Vater—Sohn-Motivs in der modernen deutschen Literatur ist beinahe eine Geschichte dieser Literatur; nur ganz wenige der Schriftsteller unserer Epoche haben es verschmäht, wenigstens beiläufig einen Vater—Sohn-Konflikt zu schildern. — Ehe wir aber das Gebiet dieser Literatur im einzelnen in Angriff nehmen, ist es nötig, die Voraussetzungen zu klären. Wir meinen damit vor allem die Jugendbewegung, deren radikalster Flügel mit der in Franz Pfemferts und Ludwig Rubiners „Aktion"-Verlag veröffentlichten Schüler-Zeitschrift „ D e r A n f a n g " 1913 auf den Plan trat. Für programmatisch können die Worte gelten, die im 8. Heft des I. Jahrgangs (Dezember 1913, p. 231) stehen: „Die Jugendbewegung dringt in die Familie. Es stehen sich nicht mehr ungeratene Kinder und grausame Eltern gegenüber, sondern ganz klar abgegrenzt: die junge und die alte Generation. Damit wird der Kampf, der sich blutig im Innern der Familie abgespielt hat, auf freies Feld verlegt und wird endlich zum Kulturkampf." Diese Zeitschrift, hinter deren Kulissen der revolutionäre Pädagoge G u s t a v W y n e k e n stand, erregte sofort weiteste Aufmerksamkeit bzw. Entrüstung, die sich in Broschüren, Zeitungsartikeln und öffentlichen Versammlungen entlud. Am wildesten tobte die Diskussion um die im „Anfang" (1, 7; p. 217, Nov. 1913) abgedruckten und seither viel zitierten Sätze eines Schulmädchens: „ W i e bitter und vergreisend dieses Gefühl ist: da zu sitzen zwischen Eltern und Verwandten. Ihrem Gespräch zuhören zu müssen, da so viel anderes ans Licht Wollende uns beschäftigt, und zu wissen und zu denken, was in aller Welt habe ich mit all diesen Leuten zu tun? Was sie mit m i r ? " die u. a. von der anonymen Broschüre eines bayerischen Schulmanns angegriffen und von Wyneken („Die neue Jugend" 1914, p. 35) verteidigt wurden. Überraschend klingt diese Sprache an diejenige an, die das halbwüchsige Schulmädchen „ L o n a " in des ex-

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pressionistischen Dichters Karl O t t e n gleichnamigem Roman (geschr. 1915/16; Wien-Prag-Lpz. 1920, p. 79) führt: „Weshalb wollen Sie, daß ich meinen Eltern folge? Sie wollen es ja gerade nicht! Was wissen meine Eltern von mir ? Ich möchte nie so werden — nie so — " . . . und da es derselbe Geist war, der auch aus den gleichzeitig und gleich darauf entstandenen Vater—Sohn-Dramen sprach, so hat man vielfach Hasenclever, Bronnen, Werfel u. a. in den Zusammenhang der „Jugendbewegung" eingereiht (vgl. z. B. Hans Schlemmer, „Der Geist der deutschen Jugendbewegung" München 1923 p. 37ff.). Es sei hier festgestellt, daß dieser Zusammenhang wohl auf dem Geist der Zeit, keineswegs aber auf persönlicher oder geistiger Berührung der revoltierenden Schuljugend mit den jungen Dichtern beruht: so wurde sogar H a s e n c l e v e r s „Sohn" nach einer Vorlesung durch den Dichter in einer eingesandten Kritik des „Anfang" (I, 12; April 1914; p. 383) recht getadelt, da der Vater zu einem verständnislosen Scheusal verzerrt sei und es wurde ihm Werfeis Vater— Sohn-Gedicht von 1911 als „mythologisch, in einer tieferen Schauung" gesehenes Muster empfohlen. Wir haben bereits betont, daß wir einen Vergleich beider Dichter ablehnen, da beide inkongruent sind. Der letzte Grund liegt unseres Erachtens in der Verschiedenheit ihres Vatererlebens: von brieflichen Mitteilungen beider Dichter ausgehend, glauben wir sagen zu können, daß Werfeis Auflehnung gegen den Vater als Kindheitserlebnis, die Hasenclevers als Jugenderlebnis zu werten ist: bei Hasenclever ist es der Protest einer zur Selbständigkeit erwachten, fertigen Jünglingsindividualität, bei Werfel dagegen (besonders „Nicht der Mörder...") ist Furcht, Abneigung, Haß und Mordimpuls dem Vater gegenüber in frühesten Kinderjahren bis in unbewußte Instinkte hinein fundiert. Wenn also Specht (a. a. O. 181) von Hasenclever sagt, er wandle im „Sohn" „auf Werfelpfaden", so lehnen wir dies aus dem angegebenen Grunde ebenso ab, wie wir aus andern Gründen Spechts Bemerkung ablehnen, im „Sohn" sei „der Ödipus-Komplex wieder einmal herbeigeholt" worden: es ist vielmehr im Interesse dramatischer Konfliktverschärfung gerade bezeichnend, daß im Drama Hasenclevers die — psychoanalytisch unentbehrliche — Person der Mutter fehlt, was Otto Rank mit der — sachlich unrichtigen — Erklärung zu entkräften suchte, der Dichter sei mutterlos aufgewachsen. Einem längeren Briefe Hasenclevers über die Entstehung des „Sohn" seien hier folgende Daten entnommen, die bei diesem ersten Programmwerk der neuen Generation von einiger Wichtigkeit sind: „Ich habe mein D r a m a . . . . im Juli 1913 begonnen und im Dezember 1913 abgeschlossen. Es erschien erstmalig im Frühjahr 1914 in der Zeitschrift „Die weißen Blätter", wurde bei Kriegsausbruch für die öffentliche Aufführung in Deutschland verboten und im Herbst 1916 vor geladenen Gästen im Alberttheater zu Dresden mit

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Ernst Deutsch in der Titelrolle von A. E. Licho aufgeführt. Im Januar 1918 spielte Hagemann in Mannheim, der als Hoftheaterintendant nicht der Zensur unterstand, das Stück zum ersten Mal öffentlich in der neuartigen Regie von Richard Weichert, der hier zum ersten Mal eine moderne und seither viel nachgeahmte Inszenierung mit Scheinwerfern und Lichtkegeln durchführte. Ein Tag nach Ausbruch der Revolution wurde das Stück durch eine Proklamation des Arbeiter- und Soldatenrates für die öffentliche Aufführung in Deutschland freigegeben und ist seitdem über fast alle Bühnen gegangen."

Die künstlerischen Mängel dieses Jünglingdramas liegen offen auf der Hand: die Handlung tritt bedeutungslos hinter den über das ganze Stück verteilten Programmthesen zurück („Questo Figlio e rimasto operaprogramma, e manifesto piü che creazione, e prettamente cerebrale" Mazzucchetti p. 61); der Vater ist unvermittelt bald unmenschlich schroff, bald nachgiebig versöhnend gezeichnet, der Sohn bald unreif und unsicher, bald als ausgewachsener Doktrinär; der Freundeskreis ist einmal Sprachrohr der revolutionären Anschauungen des Dichters, bald Karikatur auf die Mode-Revolutionäre. Die einzige Einheit des Dramas bildet das ununterbrochen diskutierte Vater—Sohn-Problem. Im ersten Akt ist es der Hauslehrer, dem der Sohn seine Stellung zum Vater eröffnet (I, 1. Leipzig 1917, p. 819): Der Vater—ist das Schicksal für den Sohn. Das Märchen vom Kampf des Lebens gilt nicht mehr: im Elternhaus beginnt die erste Liebe und der erste Haß. D e r H a u s l e h r e r : Aber sind Sie nicht der Sohn? D e r S o h n : Ja, deshalb bin ich im Recht! Das kann keiner verstehn außer m i r . . . Hören Sie noch einen blutenden R a t aus meinem Herzen: wenn Sie jemals einen Solin haben, setzen Sie ihn aus oder sterben Sie vor ihm. Denn der Tag kommt, wo Sie Feinde sind, Sie und Ihr Sohn. Dann gnade Gott dem, der unterliegt.

Der zweite Akt bringt dann die erste große Kampfszene zwischen Vater und Sohn. Der Vater, ein nihilistisch denkender Spitalarzt, will um jeden Preis aus seinem Sohn eine geistige Leuchte machen. Dessen gesunder Jugendidealismus aber revoltiert gegen den düstern Vater und den Lernzwang: als er im Examen durchfällt, schlägt der enttäuschte Vater den schon erwachsenen Sohn ins Gesicht. Darauf, nach einer langen Pause, der Sohn (II, 2;p. 54/5): Du hast mir hier im Raum, auf dem noch der Himmel meiner Kindheit steht, das Grausamste nicht erspart. Du hast mich ins Gesicht geschlagen vor diesem Tisch und diesen Büchern — u n d ich b i n d o c h m e h r a l s d u ! Stolzer hebe ich mein Gesicht über dein Haus und erröte nicht vor deiner Schwäche. Du hassest ja nur den in mir, der du nicht bist. Ich triumphiere! Schlag mich weiter. Klarheit übermannt mich, keine Träne, kein Zorn. Wie bin ich jetzt anders und größer als du. Wo ist die Liebe, wo sind die Bande unseres Bluts hin! Selbst Feindschaft ist nicht mehr da. Ich sehe einen Herrn vor mir, der meinen Körper verletzt hat. 4

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Und auf einen ehrlichen Versöhnungswunsch des wieder zur Besinnung gekommenen Vaters antwortet er plötzlich mit dem grellen Kriegsruf (p. 59): „Ja, Vater, du bist mir gestorben. Dein Name zerrann. Ich kenne dich nicht mehr; du lebst nur noch im G e b o t . . . . Jetzt wirst du bald mein einziger, mein fürchterlicher Feind. Ich muß mich rüsten zu diesem Kampf: jetzt haben wir beide nur den Willen noch zur Macht über unser Blut. Einer wird siegen!" — Dem Zimmerarrest entrinnt der Sohn mit Hilfe von Freunden, indem er durchs Fenster entflieht: er eilt zu einer Versammlung der Jugend, um sie zu „rufen zur Befreiung des Jungen und Edlen in der Welt. Tod den Vätern, die uns verachten!" (II, 5; p. 69). Er tut dies unter dem Beifallsenthusiasmus aller Jungen in einer Massenversammlung, die den ganzen III. Akt ausfüllt und die in einer tumultuarischen, für Hasenclever charakteristischen Mischung von Ernst und Groteske endet (III, 4; p. 104/5): v o n T u c h m e y e r : Er ruft zum Kampf gegen die Väter — er predigt die Freiheit —! „Wir müssen uns helfen, da keiner uns hilft 1" Sie küssen ihm die Hände — welch ein Tumult! Sie tragen ihn auf Schultern — zum Saale h i n a u s . . . (Immer neue Hochrufe.) D e r F r e u n d : Er hat den Bund gegründet der Jungen gegen die Welt! Listen auf — alle sollen sich unterschreiben! v o n T u c h m e y e r : (reißt sein Notizbuch entzwei): Alle sollen sich unterschreiben! Mein Vater lebt nicht mehr. Heute ist er zum zweiten Mal gestorben. (Er wirft Blätter auf den Tisch.) C h e r u b i m : Tod den Toten! Der meine schickt mir kein Geld mehr. (Mit lauter Stimme) Ich unterschreibe!... .

Mit dem gemeinsamen Gesang der Marseillaise endet dieser Akt, indem die Sache des Sohns zur Sache aller Söhne wird und wo der Zusammenhang der privaten mit der politischen Revolution klar auftaucht. Diese Idee führt im nächsten Akt der Freund aus, der im Gegensatz zu dem mehr instinktiv und impulsiv handelnden Helden die theoretischen Grundlagen des Zerstörungsfeldzuges gegen die mittelalterliche „Tyrannei der Familie" auseinandersetzt (IV, 2, p. 124): Bedenke, daß der Kampf gegen den Vater das gleiche ist, was vor hundert Jahren die Rache an den Fürsten war. Heute sind w i r im Recht! Damals haben gekrönte Häupter ihre Untertanen geschunden und geknechtet, ihr Geld gestohlen, ihren Geist in Kerker gesperrt. Heute singen wir die Marseillaise! Noch kann jeder Vater ungestraft seinen Sohn hungern und schuften lassen und ihn hindern, große Werke zu vollenden. Es ist nur das alte Lied gegen Unrecht und Grausamkeit. Sie pochen auf die Privilegien des Staates und der Natur. Fort mit ihnen beiden! Seit hundert Jahren ist die Tyrannis verschwunden — helfen wir denn wachsen einer neuen Natur! . . . . Wir wollen predigen gegen das vierte Gebot. Und die Thesen gegen den Götzendienst müssen abermals an der Schloßkirche zu Wittenberg angenagelt werden! Wir brauchen eine Verfassung, einen Schutz gegen Prügel, die uns zur Ehrfurcht unter unsere Peiniger zwingt. Dies Programm stelle ich auf, denn ich kann es beweisen.

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Unterdessen läßt der Vater denSohn polizeilich verfolgen, ein Kommissar führt ihn gefangen dem Vater zurück; dieser Kommissar, ein einfacher Mann, sagt dem Vater banal klingende Wahrheiten, die diesem unerhört vorkommen, wie z. B. „Auch wir altern. Weshalb soll unser Sohn nicht jung sein ?" (V, 1; p. 144) oder (p. 147): Wir Väter müssen erst unsre Söhne erringen, ehe wir wissen, was sie sind. Der Vater: Sie scheinen unter Söhnen etwas Absonderliches zu verstehn. Der K o m m i s s a r (bescheiden): Ich verstehe darunter ein Wesen, das mir geschenkt ist, dem ich dienen muß.

Der Vater schlägt die Warnung des Kommissars in den Wind, und die zweite große Gegenüberstellung von Sohn und Vater wird zu einem letzten furchtbaren Entscheidungskampf Mann gegen Mann; der Sohn schleudert dem Vater entgegen (V, 2): Wir sind keine Irren, wir sind Menschen und wir leben: leben doppelt, weil ihr uns töten wollt. . . . Jetzt kämpft ein Volk von Söhnen, wenn du längst in Staub zerfallen b i s t . . . . Der Vater: Ich bin dein Vater nicht mehr. Der Sohn: Du warst es nie! Vater — wer kennt es heuteI Wo bin ich geboren! Ich war ein Stiefkind nur. Habe ich je einen Sohn, so will ich gut machen an ihm, was mir Übles geschehen. O wunderbar großes Licht, könnt ich es erleben, eines süßen Kindes Behüter zu sein!

Als endlich der Konflikt den Gipfel erreicht, schlägt der Sohn einen Revolver auf den Vater an; noch ehe er abdrückt, rührt den Vater der Schlag, eine unbegründete, aber nach allem Krassen milde Lösung. Über die Leiche des Vaters geht der Weg des Sohnes ins Freie. — Trotz aller formalen Mängel wird dies Drama stets eine, wenn auch nur historische Bedeutung behalten, nicht nur weil es das erste Anzeichen einer schließlich zur Zeitmode werdenden Beliebtheit des Motivs war, sondern auch wegen des außerordentlich persönlichen Beteiligtseins des Dichters an den Worten seines Helden; auch wenn man es nicht wüßte, wie furchtbar der Dichter mit einem verständnislosen Vater zu kämpfen hatte, würde man durch alle Zeilen übermächtig das Erlebte durchfühlen, das ihn damals bis zur Stärke einer Krankheit besessen hielt. „Anläßlich der Uraufführung seines Dramas in Dresden, der er beiwohnte, erlitt er einen schweren Nervenschock und soll, nach Blättermeldungen, Wahnvorstellungen produziert haben, daß er seinen Vater erschossen habe" (Rank JM p. 183). In seiner späteren Dramatik, selbst in der Tragödie „Antigone" (1917) — „Anche in essa del resto, nel contrasto fra Emone e Creonte, ritroviamo il motivo padre-figlio sia pure come elemento secondario" (Mazzucchetti a. a. 0. 61) — vermied Hasenclever auffällig eine zweite Behandlung 4*

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des Konflikts, und auch in seiner Revolutionslyrik taucht er nur selten auf, so in seinem wohl bekanntesten Gedicht „Der politische Dichter" im gleichnamigen Gedichtband (Bln. 1919, p. 23; „Umsturz und Aufbau", 2. Flugschrift), wo der Ausbruch der Revolution mit der Sohnesrevolte zusammenfällt: „Jünglinge stehn in Universitäten Und Söhne auf, die ihre Väter hassen. Der Schuß geht los." etc

. . . wie später häufig bei den linksradikalen Lyrikern, so bei Oskar Kanehl (f 1929), der in dem Gedicht „Der Söhne Junger Ruf" (in „Steh Auf, Prolet!" 11. Aufl. Bln. 1922, p. 34) den Vätern zuruft: Wißt! Eurer Kinder erstes Stammeln sind Flüche, die euer Ohr zerschmeißen und euern morschen Väterbau einreißen.

Fast gleichzeitig mit Hasenclever, doch unabhängig von ihm, rang zwischen 1913 und 1914 auch der junge Fritz von Unruh mit dem Vater—Sohn-Problem: das damals entstandene Schauspiel „ S t ü r m e " sei schon an dieser Stelle behandelt, obwohl es erst in einer Bearbeitung von 1921/22 an die Öffentlichkeit kam. Unruh stellt sich keineswegs so radikal und entschlossen auf die Seite der Söhne, verdammt sogar in seinem Drama ausdrücklich die zucht- und hemmungslose Pietätlosigkeit des jungen Thronfolgers, der nicht nur die Hofschranzen, sondern auch die Edeldenkenden vor den Kopf stößt, als er die herkömmliche zweitägige Trauer an der Leiche seines königlichen Vaters verbietet, dessen sofortige Bestattung fordert und schließlich mit eigener Hand vor dem ganzen Hof den Sargdeckel über den Vater wirft. Andrerseits aber zeigt Unruh auch keinen Funken Sympathie für die Väter, die durch dies lieblose Drama gehen: sie sind als lächerliche Karikaturen gezeichnet, so der alte General, der kopflos jammert (München 1922, p. 64; I I , 1): „Zwanzig Jahre habe ich dem Staat gedient. Fünfzehn Jahre bin ich Ordensritter und wohltätig. Bedenke ich, mein Sohn wirft mir ebenso den Sarg über den Kopf —, wer hätte noch Lust, alt zu werden.... Junge Dächse! Ehrfurcht vorm weißen H a a r . . . " Und noch lächerlicher nimmt sich der geschwätzige alte Marschall aus, der den I. Akt mit einem grotesken Monolog abschließt, nachdem er sich aus der Livree wickelt, die ihm sein ungeratener Sohn soeben an den Kopf geworfen hat (p. 50): Du Übermut! Du Lästerzunge! Undank! Ungehorsam! Bube ohne Liebe und Frieden! Unverschämter! Verräter. (Frei.) Was sagst d u . . . ? Den Rock? die Tradition von Jahrhunderten glänzt daran 1 Ihr Litzchen, ihr Knöpfchen... verliehen für Gehorsam und Pflicht . . . Du Ehrenrock. Du Tugendrock . . . Du Staatsrock . . . Wehe! Zieht

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denn eine andre Zeit herauf? Laufen wir Alten noch weiter ? . . . Tun dies und das . . . wie höfliche Chinesen! Aber plötzlich... was sagt er . . . „knackts" . . . und über uns fort braust das Neue? Wir verstehen es nicht! Wir sehen es nicht! Ist es d a ? Wir erleben es nicht . . . ? Gräßlich! Wehe, wer heute Vater ist! Wehe, wer an der Wende der Zeiten gezeugt! — Fällt denn auch über uns . . . über mich auch . . . der Sarg . . . ?

Eine ähnlich zweifelnde und kritische Haltung gegenüber der revoltierenden jungen Generation nimmt Unruh in seinem unmittelbar darauf (Sommer 1915 — Herbst 1916) geschaffenen Meisterdrama „ E i n Ges c h l e c h t " ein, nur daß diesmal den pietätlosen Kindern eine große und edle Mutter gegenübersteht, die — wenn auch schmerzvoll — mit der neuen Zeit geht. Auch hier erhebt sich der Sohn gegen das Andenken des toten Vaters, zu dem sich die Mutter anfangs vor ihren alles Alte verwerfenden Kindern flüchtet, als sie noch nicht, auf sich allein gestellt, den Weg zu finden sich getraut (Lpz. 1918, p. 32/3) Ä l t e s t e r S o h n : Sprichst Du mit Geistern? Stieg der Vater auf? Wo ist er? Wo? Ich will ihm Rede stehen! M u t t e r : Hier hast Du keine Macht, denn eh Du sahst, stand schon Dein Vater da und ehrte Gott! Ä l t e s t e r S o h n : Das sagst Du mir, der jeden leichtsten Hauch belastet fühlt von Ur- und Ururvätern ? Erst gabt Ihr eine Sprache auf die Lippen, die jedes Rätsel unsres Hirns erschlug, eh es sich regen konnte selbst zu denken —, dann hobt Ihr uns die Väter auf den Sockel, — und jedes Wort der Kinderstube wies, den Urtrotz in mir weckend, streng auf ihn, bis ich, genährt am Zweifel, kraftentschlossen dies Vaterbild, das Gott geglichen, stürzte. Da liegt es wie ein Steinklotz überm Weg! Ich steige drüber weg und blas den Schutt von allen Wurzeln meiner Seele ab.

Und nicht weniger trotzig beharrt die dieses Bruders würdige Schwester auf ihrem Recht, den zu lieben, zu dem ihr Blut sie hinreißt, den Bruder: als die Mutter anfangs die Blutschande durch warnendes Verbot zu vereiteln sucht, trotzt ihr die Tochter vorwurfsvoll entgegen (p. lg): Dich hat der Liebesstrom der K r a f t durchrauscht. Wie leicht ists nun, gesättigt dazustehen und, wo ein Quell aus dunklen Qualen bricht, ihn mit dem Stein der Sitte zu verstopfen.

Und dies vermag die Mutter nicht abzuleugnen: in Schuld und Frevel ihrer Kinder erkennt sie plötzlich das Fließen des eigenen unbändigen Blutes wieder; weil auch ihr Blut dazu fähig gewesen wäre, darum ge-

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stattet sie den Geschwisterinzest. Aber nicht die zucht- und zügellose Revolution der Jungen, denen der Zukunftswille fehlt, bringt das Neue, sondern der Opfertod der Mutter. Hier ist es an der Zeit, eine seltsame Fassung des Sohn—Mutter-Konflikts nachzutragen, die — im Sinne von Strindbergs frühestem Programm — gerade das Gegenteil von Unruhs Auffassung bedeuten würde, wäre das Werk für eine bloße Darstellung des Generationsproblems nicht viel zu tief. Es handelt sich um Ernst Barlachs philosophisches Drama „Der Tote Tag" (1912). Wie schon Albert Soergel („Dichtg. u. Dichter d. Zeit" I I , Lpz. 1925, p. 744jf.) es darlegte, sind „Mutter" und „Vater" hier symbolisch zu fassen. Die Mutter, nach Soergel die „Irdische, Diesseitige", behütet ängstlich den „Sohn" in völliger Unkenntnis des lichthaften, göttlichen „Vaters", um ihn nicht an jenen zu verlieren, der ihn zu seiner Geistigkeit heben will, wenn er reif ist. In verbissenem Egoismus bekämpft sie alle Offenbarung des Vatergeistes im nichtsahnenden Sohne, mordet mit verbitterter Härte jeden Gedanken an Zukünftiges (3. Aufl. Berlin 1919, I. Akt. p. 29). Sohn (leise): . . . vielleicht habe ich auch von Zukunft geträumt. M u t t e r : Nun, das ist deine Sache, in deiner Zukunft bin ich nicht dabei. Sohn: Du nicht? Da verlaß dich auf mich. Sohnes-Zukunft ist Mutter-Zukunft, wie soll es anders sein ? Mutter: Falsch, Sohnes-Zukunft ist Mutter-Vergangenheit. Deine Zukunft bringt mich um, das mußt du w i s s e n . . . . Du hast mein Leben empfangen, das vergiß nicht, und wenn du fort bist, wer soll mir Leben schaffen ? Alles, was mein ist, hast du im Besitz, wenn du es mit dir in die Zukunft trägst, so muß ich darben und sterben.

Und als der „Vater" den alten Kule als Boten an den Sohn sendet, fleht die Mutter den weisen Alten in verzweifelter Angst um Hilfe an (ebd. p. 25/26): Mutter: Hör' doch, er verkündete mir im Traum, nun, da das Kind Mann sei, wolle er sein Roß senden, ihn in die Welt zu tragen. K u l e : Zum Heil der Welt. Mutter: Zum Tode der Mutter. K u l e (zeigt auf seinen Stab): Er kommt von ihm und führt mich zurück. Auch das ist sein Wille. Alles trifft zusammen am Ende, wie bei Beginn beschlossen. Mutter: Und ich Gefäß, leergegossen und der süßen Mutterlust beraubt, mag als Scherben dein schales Alter hegen ? Pfui, mein Gott! K u l e : Aber das Roß, es stampft vor deiner T ü r ! . . . O Weib, willst du mit toter Vergangenheit der lebenden Zukunft schaden ?

Und sie tut es. Sie ersticht das Geisterroß und brät sein Fleisch, um leiblichen Hunger damit zu stillen: sie hat die Vater-Zukunft ihres

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Sohnes ermordet und sucht dies durch eigenen Tod vergeblich zu sühnen.— Da hier der Konflikt Mutter—Sohn kein generationsbedingter, sondern ein symbolisch-metaphysischer ist (es sind „Gestalten", nicht Menschen), was aus den Schlußworten klar hervorgeht, da außerdem einem so ausgesprochenen „Romantiker" wie Barlach ein so aktueller Gegenwartskonflikt wie der Generationskampf (trotz seines Dramas „Die Echten Sedemunds") ferner liegen mußte, so müssen wir dem Drama direkte Beziehung zu unserem Thema absprechen. Anders dagegen steht es mit A l f r e d W o l f e n s t e i n s Novelle „Die Mutter" (in „Die Deutsche Novelle d. Gegenw." hrsg. v. H.M. Elster, Bln. p. 308ff.). Wolfenstein, der auch Shelleys „Cenci" (1924) übersetzte, hatte schon in seiner frühesten Lyrik, der Sammlung „Die Gottlosen Jahre" (Mai 1914), in dem Gedicht „Knabennacht" (vgl. Wolfensteins „Menschlicher Kämpfer" Bln. 1919, p. 8) die Loslösung vom Elternhaus angedeutet: Ich will aus diesen feindlichen Zimmern fort, Darinnen auch die häßlichsten Bilder nicht So alt, so roh, so leer mich ansehn Wie meiner Eltern verzankte Augen.

In der genannten Novelle schildert nun der Dichter die Nacht, die ein junger Mensch am frischen Grabe seiner innig geliebten Mutter zubringt, der er versprochen hat, sich im Falle ihres Todes zu töten. Aber als die Nacht den Friedhof einhüllt, erwacht in ihm die Erkenntnis der Frevelhaftigkeit solcher Sohnesliebe, die Erkenntnis, daß es Zeit sei, die geistige Nabelschnur zur Mutter zu zerreißen und von persönlicher Liebesbindung zur großen Lebensliebe vorzustoßen: als die Sonne aufgeht, ist der Kampf durchgekämpft, jubelnd wirft sich der Befreite in den „erwachenden Arbeitssturm" der Stadt Eine Stadt, eine Welt von Menschen, die er im Leichenzuge einsam wütend für die tote Mutter hatte hinopfern wollen. Nun flatterte aus der Unbekanntheit ihrer Gesichter eine beglückende Ahnung der Welt ihm zu, wie eine Fahne der Befreiung, die ihn vom allzu Nahen befreite, — Liebe zu den Unbekannten, zu den Vielen, von der Mutter erst jetzt entwöhnte Liebe"; wie leicht übrigens solche Liebe des Sohnes für die Mutter eine sexuelle Note erhalten kann, ist in S t e f a n Zweigs „Brennendem Geheimnis" angedeutet (Inzestregungen zwischen Vater und Tochter: Klaus Manns „Vor dem, Leben" 1925). Die innere Überwindung eines bedeutenden und großen Vaters durch den ihn bis zu eigener Apathie verehrenden Sohn behandelt Zweigs „Legende eines Lebens" (Leipzig 1919): von der fast erstickenden Bindung an den geliebten Toten wird der Sohn erst durch desillusionierende Nachricht von des Vaters allzumenschlicher Jugend befreit, ähnlich wie in „Dramen

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der Kinderseele" (1905; „Das Schuldbewußtsein'1 ) von R o b e r t S a u d e k , dem Verfasser der „Gymnasiastentragödie" (1907), einen Vierzehnjährigen das Wissen von seines Vaters außerehelichem Verhältnis ernüchtert. Der spätere Meister des gefühllos krassen Naturalismus, E r n s t W e i ß , hatte bereits in seinem ersten größeren Roman „Die Galeere" (1913) einen Mutter—Sohn-Konflikt dargestellt; aus unerforschlichen Gründen hat er die Mutter zur Tyrannin gemacht, während der Vater farblos im Hintergrund bleibt und nur in der entscheidenden Szene zwischen Mutter und Sohn kurz hervortritt (2.-9. Aufl. Bln. 1919, p. 72/3): sie waren ein gewalttätiges Geschlecht, Mutter und Sohn, und wußten zu treffen, wenn sie es wollten. „Das ist ein Lausbub", sagte Frau Gyldendal zu ihrem Mann, „das ist ein Lausbub trotz seiner sechsundzwanzig Jahre". Sie wandte sich ab. Da verließ Erik seine Selbstbeherrschung. Von Wut geschüttelt, jeder seiner Nerven zusammengekrampft vor Aufregung, ging er seiner Mutter nach, packte sie vorn am Kleid. Er hob seine starke Hand zum Schlage und hätte sie ins Gesicht geschlagen, wenn nicht sein Vater, wie ein antiker Gott in der Tragödie, selbst ergriffen von dem Schauerlichen des Augenblicks, dazwischen getreten wäre.

Eine ähnliche Konfliktsszene zwischen Sohn und Vater gestaltete eindringlich Klabund (Alfred Henschke, 1891—1928) zu Anfang seines Heldenromans „Moreau" (1915), wo der kleine Moreau, der vor seinem Vater Ekel empfindet („Seine Augen hängen ihm wie Quallen aus dem Gesicht. Pfui was für häßliche Augen"), diesem den Stock entreißt, mit dem er geschlagen werden soll : schon als Kind läßt sich das Feuer des heldischen Gedankens in ihm nicht unterdrücken ! Gleichzeitig schuf Arnolt Bronnen mit seinem Drama „Vatermord" das erste Werk, das es an Radikalität mit Hasenclever aufnehmen konnte; doch ist bei beiden der Konflikt in einer ganz andern Form, „con brutalità prima, con perversione grottesca poi" (Mazzucchetti, p. 60) dargestellt. Schon 1914 hatte Bronnen die 1. Fassung seines Dramas „Die Geburt der Jugend" (Bln. 1922) geschaffen, das die Mazzucchetti treffend als ein theoretisches Vorspiel zu „Vatermord" bezeichnete, „mit dem es eine Einheit bildet" wie der Dichter selbst schrieb. In diesem ersten, noch ganz formlosen Drama kämpfen die Söhne gegen die Väter, Einzelfälle aufzuzeigen wird vermieden: die Jugend — das ist der Sohn der vornehmen Familie wie der des Arbeiters, sie leiden gemeinsam unter demselben Joch ihrer Väter (I. Akt, p. 15/16): Karl: Ihr seid Erben eurer Väter P a p : Unsere Väter wollen leben Karl: Sie hatten ihre Zeit dazu P a p : Man hat sie gebrochen Karl: Wieder war das Alter schuld P a p : Immer ist das Alter schuld Karl: Immer ist das Alter schuld.

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Trotzdem die Jugend schließlich das Alter in einer phantastischen Feldschlacht besiegt, fehlt dieser Erhebung die individuelle Wucht. Sie ist zweifellos erreicht im Drama „Vatermord" (1915), wo die Massenszenen des ersten Dramas auf die wenigen Personen einer Familie zusammengedrängt sind. Gegenüber der primitiven Psychologie Hasenclevers schildert Bronnen mit fast psychoanalytischem Raffinement das verkrampfte Sichaufbäumen des halbwüchsigen Pennälers Walter Fessel, der sich im Kampf um sein Lebensglück und den Glauben an sein Ich gegen den doktrinärfanatischen, nervös-verbitterten Vater auflehnt. Der erste Schritt ist, daß er seinem Vater eine Ohrfeige gibt (3./4. Aufl. Bln. 1925, p. 49); zur Strafe dafür ins Dunkel eingeschlossen, klagt er jammernd seiner Mutter, mit der ihn ein scheues sexuelles Begehren verbindet (p. 52): Er ist mein Vater. Er ist kein Mensch. Die ganze Welt wollt das nicht tun. Mutter, er haßt mich, Voll Neid und Haß schaut er auf mich, Und kennt mein Herz und sieht mein Hirn, und ich weiß nicht, wo ich mich verkriechen soll, Er schaut, und ich bin ihm preisgegeben. Er denkt, und ich bin ihm geopfert. Er spricht, und ich bin vergiftet. Mutter, Was er will, macht er mit mir, Das heiße Herz reißt er mir heraus.

Bronnens eminent dramatischer Dialogismus entfaltet sich zu atemraubenden Stichomythien, wenn Vater und Sohn haßbebend einander gegenübertreten, z. B. (p. 80): W a l t e r : Vaterland ist das Land der Väter. Fessel: Vaterland ist das Land, wo die Väter fronen für ihre Söhne. W a l t e r : Und sie prügeln. Fessel: Und sie ernähren. Walter: Und sie einsperren. F e s s e l : Und sie kleiden. W a l t e r : Und sie knechten. F e s s e l : Und sie erziehen. W a l t e r : Und sie hassen. F e s s e l : Und für sie besorgt sind. W a l t e r : Und sie zertreten, wenn sie können. F e s s e l : Und sie zertreten, wenn sie wollen. W a l t e r : Will!

Als die demütigende Tyrannei des Vaters unerträglich wird, kommt dem Jungen der Einfall, den Vater zu morden. Entsetzt sucht ihn die Mutter

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durch Hinweis auf die Gefängnisstrafe zu schrecken, der Sohn aber erklärt in verzweifeltem Aufschrei (p. 54): Das kommt nicht zu Gericht als vor den lieben Gott. Denn wenn entweder der Sohn den Vater oder der Vater den Sohn erschlägt, wen geht das an. Hätten sie mich ihm früher genommen, Mich von ihm frei gemacht, Aber sie haben mich ihm überlassen. Und er glaubt, ich bin sein Knecht. Es gibt ja neue Gesetze, und es wird noch andere geben, Und die Leute denken anders, und sie werden noch anders denken.

Als der Vater ihn in blutschänderischer Umarmung mit der Mutter überrascht, ersticht ihn der Sohn in berserkerhafter Nacktheit; und nun weist er auch die brünstige Mutter von sich fort, um — endlich frei von der Elternwelt — allein den Weg in aufblühendes Leben zu schreiten. In denkbar schärfstem Gegensatz zu der unerhörten Maßlosigkeit dieses Dramas steht das schwerblütige Vater—Sohn-Drama „Dies Irae" (geschrieben 1916/18) von A n t o n Wildgans. Mit Bronnen hat dies Drama die drückend-schwüle Atmosphäre gemein, die über den Familienzimmern brütet; beidemale ist es der geheime Haß der Eltern, unter dem Bronnens Walter zum Manne wächst, Wildgans'Hubert aber zermalmt wird. Man wartet vergebens auf eine offene Empörung dieses Sohnes, dessen Kraftfunken schon in frühester Jugend von der kerngesunden Brutalität des Vaters erstickt worden sind; vor diesem kampflustigen Vater bleibt dem Jimgen, den niemand als sein treuer Onkel Remigius in Schutz nimmt, nichts als scheue Flucht und — wie dem zartbesaiteten, vom harten Vater zum Militär kommandierten „Brüderchen" (Drama, Leipzig 1914) R. Overwegs — schließlicher Selbstmord übrig (6.-10. Tsd. Lpz. 1919, p. 132/3; IV. Akt): R e m i g i u s (fast hart): Wie ein armes, todwundes, gehetztes Menschenkind! V a t e r (unbeirrt): M e i n Blut in ihm, wäre es nicht verwässert, hätte so nicht die Flucht ergriffen! —• Hätte sich gestellt! Die Faust, wenn nötig, gegen den eigenen Vater gehißt... 1 R e m i g i u s (voll innerem Aufruhr): Und was hätte der Vater getan?! V a t e r (stark, aber gedämpft): Gebändigt hätte er es! Aber dann — das Knie gebeugt vor ihm, — vielleicht! (Steht starr wie Granit).

Der Vater aber haßt im Sohn die verhaßte Gattin, mit der er in einem Moment des Hasses diesen Sohn zeugte: Wildgans erhebt furchtbare Anklage gegen solche Eltern, deren Kinder Früchte des Hasses s i n d . . . sie trifft der rächende Fluch der Vernichtung. Es wäre falsch, in dem Dichter einen Fatalisten in der Art eines G. Hauptmann zu sehen: nicht allein er

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selbst klagt an, sondern auch seine beiden jungen Helden: Hubert, der seelisch Niedergestampfte, bringt es bis zu einem lauten Fluch gegen seine lieblosen Eltern (p. 150; IV, 2): „Mir war ein Peitschenhieb der Name Vater und einer Horniß Biß der Name Mutter. — Sie haben mich immer gezerrt, herüber, hinüber. Warb der eine um mich, so warb er um mich gegen den anderen." Und noch energischer klingt die Sprache des stahlharten jungen Revolutionärs Rabanser, der nach dem Tode Huberts allein es fertig bringt, das pharisäische Kraftprotzentum des selbstgerechten Vaters bis auf den Kern zu erschüttern; in dem großen Schlußdialog verteidigt zuerst der Vater sein Gewaltrecht (p. 197/8; V.): V a t e r (immer gewaltiger): ... Liebe ist Willen zum Ich! —Verjährter tyrannischer Wahn! Ich gebe es zu, ärgern Sie sich nicht daran I — Besonders wir Alten sind einmal so, wir Väter! Wollen uns fortsetzen in Fleisch und Blut! In Seele und Geist! Haben gequadert ein Leben lang, daß unser Sinn nicht Unsinn werde! Wollen Bestand, Veredlung, Erben! R a b a n s e r : Sklaven! V a t e r (stark)-. Sogar das! Wenn es nicht anders geht! Sogar Sklaven! Alle Liebe ist Tyrannei! Aller Bestand ist Tyrannei! Er knechtet die Zeit! Die Jugend johlt: in tyrannos! Aber wir beugen sie! R a b a n s e r : Nur die Armseligen! Die Edlen gehen lieber zugrunde, wenn sie nicht hart genug!

Und als Rabanser, der einer dieser „Harten" ist, vom Vater Rechenschaft für das vernichtete Leben dieses „Edlen" fordert, bricht der Alte zusammen. — Stimmungsmäßig Wildgans nahestehend sei dann Rolf L a u c k n e r s etwas nachlässig gearbeitetes Drama „Predigt in Litauen" (Bln. 1918) genannt, das in Handlung und Gestalten starke Ähnlichkeit mit den besprochenen Werken von Richard Voss aufweist: wieder erhebt sich ein Pastorsohn, der sein ihm vom Vater aufgezwungenes Theologiestudium mit einem freien Beruf vertauscht hat, gegen die asketische Tyrannei des eifernden Vaters, der ihn als verlorenen Sohn betrachtet; nur ist bei Lauckner der Sohn imidealer, verbummelter gezeichnet und der Vater in der 8. Szene, der besten des Stücks, auch von der menschlichen Seite gezeigt. Der Sohn, Fritz Demant, macht sich zum Anführer der gegen die Unduldsamkeit des Pastors rebellierenden Dorfleute, fordert sogar seine Absetzung; dies führt zu einer Entscheidungsszene (X, 2. Aufl. 1919, p. 135/6), in der der Vater den Sohn niederzuschlagen versucht, dieser ihn mit einem Revolver bedroht und darauf sich selbst erschießt. Nun begeht auch der Alte Selbstmord, in den ihm das vom Sohne verführte Mädchen Anyta nachfolgt... eine düstere und schwermütige Dichtung. — Im Gegensatz zu Wildgans und Lauckner ist Hanns J o h s t von hemmunglosem Optimismus; seine Pietätlosigkeit hat etwas von der erfrischenden

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Brutalität der Jugendbewegung. Auffällig ist, daß es bei ihm fast immer die Mutter ist, gegen die der Sohn zu kämpfen hat, nie der Vater. Der Held seines Erstlingsromans „Der Anfang" (München 1917) tritt energisch seiner Mutter entgegen, als diese ihm durch die Forderung der Dankbarkeit den Weg ins Freie zu versperren droht (p. 44/5): Ich kenne Menschen, die aus lauter Rücksichtnahme, und vor lauter „Danke sagen" sich nie zu sich selbst fanden. Goethes: „Und was du bist, das bliebst du andern schuldig" — ist als Aufsatzthema ja äußerst lehrreich; praktisch, mir zu platonisch 1 Hättet ihr mich nicht geboren, hättet ihr praeter propter 40 bis 50 000 Mark mehr Bankguthaben. So viel muß euch eben das Gefühl wert sein — ein Stück Unsterblichkeit gezeugt zu h a b e n . . . . Dieses neue Leben hat seine eigene Kraftstation und ist nicht nur ein abhängiger Motor, der im Dienste seiner Eltern steht. Dankbar? Gewiß, ich bin es. Aber meine Dankbarkeit wird mich nie zwingen können, meine gesunden Forderungen an euch nicht zu stellen!

Während für Johsts Helden die Gehorsamkeitsforderung seines Vaters schon kein Problem mehr ist, hält er es für wichtiger, die Machtstellung der Mutter zu entlarven (p. 6 4 ) . . . . „Überhaupt, fiel ihm dabei plötzlich ein, müssen wir Jungen vor unserer Mutter auf der Hut sein, denn sie ist ja nicht nur Mutter, sondern selbst Weib für sich, und dazu noch die Geliebte ihres Mannes. Diese zwei Faktoren diktieren aber einen gewissen Egoismus, zum mindesten bezeichnen sie ein Gebundensein an Interessen, die denen ihres Kindes nicht absolut unbefangen und ideell entgegentreten." So läßt der Dichter auch die Kluft unüberbrückt, die sich in dem gleichzeitig entstandenen Grabbedrama „Der Einsame" (1917) zwischen dem Helden und der für seine dichterische Berufung verständnislosen Mutter auftut (9.—10. Tsd. München 1925, p. 51/2): „Mutter und Sohn!.. Zwei Menschen und zwei Bezirke! Geblendet vom Leuchten der Sehnsucht pocht man an die Grenzen. —Möchte eindringen in das Reich des Anderen... und bestimmen... Und man quält sich nur!" Und noch liebloser ist in seinem Drama „Der König" (München 1920) die reaktionäre KöniginMutter gekennzeichnet, die selbst vor der Entmündigung ihres edlen, aufklärerisch regierenden Sohnes nicht zurückschreckt und der ihr Sohn entgegenruft (p. 79): „Dieser Schwur entfesselt mich wie dich! Bloß aller Natur geht es um nackte Macht! Entmündigen den Mund, der euch nicht paßt. Das Haupt der Rebellion, die Mutter!" 1917 nahm auch Georg Kaiser, der führende Dramatiker dieser Generation, zum erstenmal in seinem Drama „Die Koralle" (Bln. 1918) zum Vater—Sohn-Konflikt Stellung, allerdings nur beiläufig, . . . das Hauptproblem des Dramas ist ein anderes. Einem Milliardär brennt der verhätschelte Sohn durch, weil eines Tages plötzlich die Stimmen der von seinem Vater geschundenen Arbeiter an sein Ohr schlugen; in einer Ar-

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beiterversammlung schreit der Sohn dem kapitalistischen Vater „Mörder!" entgegen und ist nahe daran, ihn zu erschießen. Der dritte Akt bringt neben der Gehorsamsverweigerung der Tochter des Milliardärs, die gleich ihrem Bruder zu den vom Vater ausgesaugten Arbeitern hinabsteigt, die große Entscheidungsszene zwischen Vater und Sohn, wo der Sohn seinen Weg vom Vater trennt; dem verzweifelten Alten erklärt sein Sekretär, der einen ebenso gütigen Vater besaß wie jener Milliardärssohn, die schicksalhafte Tragik der Sohnesrevolte (p. 90; III): Ihr Sohn geht andere Wege. Die Enttäuschung ist bitter wie keine. Aber da es sich so tausendfach wiederholt, mutet es fast wie ein Gesetz an. Vater und Sohn streben voneinander weg. Es ist immer ein Kampf auf Leben und Tod. (Nach einer Pause) : Ieh habe mich auch gegen meinen Vater aufgelehnt. Und obwohl ich fühlte, wie ich ihm wehe tat, mußte ich ihn verletzen. (Wieder nach einem Warten) Ich erkenne jetzt noch nicht, was mich trieb. Ich wollte mein Leben selbst versuchen — das wird schließlich wohl der Anlaß. Der Drang nach Unabhängigkeit wirkt stärker als alles andere.

Sonst hat Kaiser, so sehr er für die Idee der Pietätlosigkeit eintritt, nirgends einen Vater—Sohn-Konflikt mehr behandelt, wenn man nicht die indirekt von Sokrates ausgehende und von Alkibiades ausgeführte Vernichtung der Väterstandbilder in Kaisers Drama „Der Gerettete Alkibiades" (Potsdam 1920) hieher rechnen will, die zweifellos symbolisch zu nehmen ist, wie die Szene der wutschnaubenden Greise beweist (III, 1). 7 . Gre i s: Was wir zur Verehrung von Vätern und Vätern hinnahmen und in Verehrung hüteten für Söhne und Söhne, die nachkommen, stieß Alkibiades mit harten Schlägen nieder. Mit keiner Scheu hält er vorm Heiligtum ein — mit Wut der Vernichtung stürmt er von Herme zu Herme und zertrümmert, was uns köstlich 1 8. Greis: Meines Vaters Herme gestürzt durch den Alkibiades!! 9. Greis: Meines Geschlechtes heilige Herme in Staub durch den Alkibiades!! 10. Greis: Mit eurer Väter Hermen am Boden die Hermen von Vätern und Vätern von uns durch den Alkibiades!!

Als Kaiser dies schrieb, stand er unter dem frischen Eindruck der Novemberrevolution 1918, die in einem sehr wesentlichen Zusammenhang mit der Auffassung des Vater—Sohn-Motivs stand. Diesen Zusammenhang kann nichts so klar machen wie der Hinweis auf eine Flugschrift, die im März 1919 der Wiener Dr. Paul Federn schrieb: „Die Vaterlose Gesellschaft. Zur Psychologie der Revolution" (Lpz. Wien 1919), wo die psychoanalytischen Thesen ihre Nutzanwendung auf die Politik erfahren: der Vaterersatz des reif gewordenen, vatergläubigen Menschen seien bis jetzt Gott und Kaiser gewesen; die patriarchalische Weltanschauung sei aber 1918 gefällt worden: „Die allgemeine Vatereinstellung war schuld, daß die soziale Ordnung sich so lange erhalten konte" (p. 12). Daß jetzt das

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Kaisertum gestürzt worden sei, beweise, daß der Vaterhaß überstark geworden sei, denn — wie etwa das Beispiel Mirabeaus zeige (p. 11) — müsse jeder Rebell gegen das Königtum zuerst Rebell gegen den Vater gewesen sein, und so sei auch die Revolution 1918 nichts als „eine Wiederholung uralter Revolten gegen den Vater" (p. 22) gewesen. Heute sei die Jugend vaterlos, ihre Aufgabe sei daher, eine vaterlose Gesellschaft zu schaffen, — statt der überordnenden Vater—Sohn-Einstellung eine beiordnende, kommunistische Brudereinstellung durchzusetzen, wie sie in Rußland und Nordamerika im Entstehen sei: dem Parlamentarismus als letztem Rudiment des Vaterstaates stellt der Verfasser den Arbeiterrat entgegen, sieht aber ein, daß die Revolution doch wohl nicht stark genug sei, die „vaterlose Gesellschaft" mit einem Schlag durchzusetzen, und er schließt: „Das Vater—Sohn-Motiv hat die schwerste Niederlage erlitten. Es ist aber durch die Familienerziehung und als ererbtes Gefühl so tief in der Menschheit verankert und wird wahrscheinlich auch diesmal verhindern, daß eine restlos „Vaterlose Gesellschaft" sich durchsetzt." — Man verzeihe die ausführliche Besprechung dieser Broschüre, aber ich irre mich wohl kaum, wenn ich vermute, daß der noch im gleichen Jahr entstandene große Vater—Sohn-Roman Franz Werfeis in seinen theoretischen Teilen maßgebend von ihr beeinflußt wurde. Wir hatten Franz Werfel in unentschiedenem Ringen mit dem Vater— Sohn-Problem, zwischen Liebe und Haß geteilt, verlassen. Als er im Jahre 1918 mit der Arbeit an seinem Meisterwerk, der Phantasmagorie „Spiegelmensch" begann, hatte er eine weit bestimmtere Stellung dem Problem gegenüber gewonnen, nicht zum wenigsten unter dem Einfluß der Psychoanalyse, der er, nach anfänglicher Gleichgültigkeit, um eben diese Zeit sich näherte und der er vor allem in seinem Romanfragment „Die Schwarze Messe" (in der Zeitschrift „Genius" 1920, Jg. II, p. 255-79) seinen Tribut entrichtete. Und wenn er auch noch in der Ananthas-Szene (II, 7) seines „Spiegelmensch" der Psychoanalyse recht boshaft mitspielt, so ist ihr positiver Einfluß doch nicht zu übersehen: wenn sein Held Thamal im I. Teil glaubt, er könne seinen Vaterhaß als infantiles Rudiment leichthin von sich werfen, zeigt er Kenntnis Freudscher Terminologie (München 1920, p. 23) Mein Vater ? Dieser Punkt ist schwach. Als Knabe schon hab' ich ihn totgeträumt. Das war ein wilder Traum-Schmerz damals; — Der ist nun lange schon fortgeräumt.

Aber Thamal erfährt nur zu bald, daß er allzufrüh das Leben überwunden zu haben glaubte: als er, ins dunkle Vaterhaus zurückkehrend,

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vom Vater das Erbe verlangt, will dieser es nur ausliefern, falls der Sohn das Werk des Vaters fortsetze, und abermals erwacht in Thamal ein trotziger Haß: er lehnt ab ( I I , 1 „Das Vaterhausp. 54/5) Vater (aufbrausend): Ehrgeiziger! Du bist nicht mehr als Ich. (ruhig) Lenk drum aufs Erbe endlich deinen Sinn! Thamal: Ich bin kein Erbe. Ich bin selbst Beginn! Vater: . . . Du bist ein Erbe, sag ich! Sieh dich um! Ja Blut und Werk hängt hier in jedem Winkel. Ich will's nicht opfern deinem Eigendünkel. Was ich hierbei l i t t , all das, was du siehst, Ich will, daß du — daß es mein Sohn g e n i e ß t ! Auch habe ich noch mehr als dies errungen, Im Rang des Reiches hoch mich aufgeschwungen. Wie viele Männer würden sich zerreißen, Dürften sie Erben, mehr noch S ö h n e heißen! Was wärst du ohne mich ? ! Denn, was du tust, Gefördert wird es, weil es auf mir ftißt.

Als Feinde scheiden Sohn und Vater. Thamals Wider-Ich, der Spiegelmensch, teilt ihm einen Zauberspruch mit, das Erbe von dem schlafenden Vater zu erlangen; falls aber bei der Beschwörung „Dein Herz einen Mordgedanken hegt, I Wird der erhört, / Und er stirbt" (p. 62). Thamal hat diesen Mordgedanken und wird so zum Gedankenmörder seines Vaters (vgl. zu diesem Motiv Dostojewskis Iwan Karamasoff, sowie Walter Hasenclevers Drama „Mord" 1926). Der Vater symbolisiert bei Werfel die Vergangenheitskategorie der Lebenswelt, wie es der Dichter in seinem Manuskript „Dramaturgie und Deutung des Zauberspiels Spiegelmensch" (Abschnitt: „Die Allegorie") ausgeführt hat: „ V e r g a n g e n h e i t ist V a t e r , das biologische und hereditäre Prinzip, die Zelle unseres leiblichen und seelischen Baus, gegen die wir nichts vermögen. Thamal tötet den Vater durch einen Haßgedanken, den er nicht zu unterdrücken vermag. Er tötet ihn wegen des E r b t e i l s , das ihn beherrscht und das er doch nicht ausbezahlt bekommt, ohne seine Persönlichkeit dem Väterlich-Hergebrachten in jedem Sinn zu unterwerfen."

Diese Ideen führte Werfel 1920, im Jahre der Vollendung des „Spiegelmensch", in seiner Prosa-„Phantasie" „Spielhof" (München 1920) noch weiter, die ohne Kenntnis der in der Spiegelmenschdeutung getroffenen Dreiteilung (Vater-Weib-Kind; Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft) kaum verständlich wird: Ein Mensch ist auf der Suche nach einem verlorenen Traum, den er erst in der dritten Nacht findet, also nicht in der ersten Nacht, wo er ins Haus des „Großvaters" eintritt, das mit Bildern der Drei-Götter-Gruppe Vater-Sohn-Geist aus aller Völker Mythologien geschmückt ist; Werfel schlägt mit dem „Großvater" ein neues Thema an,

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wenn er ihn mit dem stolzen Schmerz „eines Entthronten" (p. 25) diese Bilder erklären läßt: „Immer wieder dasselbe. Vater und Sohn, Vater und Sohn! Sehr gutl Der dritte flau, scheinheilig, ein Herr daneben, zeugt nicht und ist die Rechtfertigung der Schwätzer. — Vater und Sohnl Überall Vater und Sohn! Sehr gut!" Plötzlich verdüsterte sich sein Blick „Immer Vater und Sohn! Wer weiß aber etwas vom Großvater? Und so er ein Vater ist, muß er seinen Vater haben. Und so er zeugt, muß er gezeugt sein! Wer weiß etwas vom Großvater?"

Das Wesentliche an dem ersten Traume ist, daß es nicht der richtige ist, nicht der, den der Mensch verloren hat und nach dem er sich sehnt, obwohl im Hause des Vaters schon „ganz andere Herrschaften, hohe Herrschaften, allerhöchste Herrschaften" (p. 20) ihren endgültigen Traum fanden (die psychoanalytische Deutung des „Spielhof" im 9. Jahrg. der Zeitschrift „Imago" 1923 lehnen wir als gekünstelt ab). Kehren wir noch einmal zum „Spiegelmensch" zurück und stellen wir die Werfeische Frage: ist in diesem Drama der Mörder oder der Ermordete schuldig? Es ist nämlich auffällig, das Werfel in seinem Drama der Schuldigsprechung ausweicht, während er in seinem fast gleichzeitig entstandenen Roman die Schuld allein dem Vater gibt. Im Drama bietet sich Thamal an, sein Verbrechen zu büßen, während ihn der Geist seines Vaters durch Hinweis auf den Fatalismus des Generationskampfes vor dem ewigen Gericht zu entlasten sucht (III, 4; p. 192/3): Doch diese nächtige Tat, die mich gefällt, Sie ist bedingt in der Chemie der Welt. Ich selber hab im wüsten Unterfangen Die gleiche Tat an jenem Mann begangen, Der vor mir war, und dieser wieder sann Dasselbe aus für seinen Vordermann. Blickst du in unsres Stammes Rückwärtsrichtung, Verschwistert siehst du Aufstieg und Vernichtung. Doch will mein Sohn durch Liebe, tief und echt, Die er einst ausgießt auf sein e i g n e s K i n d , Die Morde sühnen, die begangen sind, Und so von Blutschuld reinigen sein Geschlecht, Sei ihm um dies geliebte, neue Leben, Die Tat an einem alten Mann vergeben.

Während aber der Sohn Thamal durch böse Wünsche und Brutalitäten schuldig wird, während noch 1915/16 Werfeis Schuldgefühl wegen Lieblosigkeit das flagellantische Gedicht „Schuld" („Der Gerichtstag" p. 103) schuf, wird der geistige Vatermörder in der Novelle „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig" (München 1920) plötzlich als vollkommen schuldlos erklärt (p. 256): „Die Tragödie — Vater und Sohn — ist wie

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jede andere über einer Schuld gebaut. Wollen Sie die Schuld dieser allgemeinen menschlichen Tragödie wissen? — Sie heißt: gierig unstillbare Autoritätssucht, sie heißt: Nicht-beizeiten-Resignieren können!" Darum entscheidet der österreichische Feldmarschallsohn, den sein Vater das Töten lehrte, und der, Pazifist geworden, Militarismus und Vater in Einem bekämpft, daß sie zwar beide schuldig seien, „aber Er, — Er um ein wenig mehr" (p. 258); und darum hat auch Werfel jenes paradoxe altalbanische Sprichwort über diesen Roman gesetzt, wobei es von Wichtigkeit ist, die Bedeutung des Wortes „Mord" in Werfeis Dichtersprache sich zu vergegenwärtigen: es bedeutet seelische Verletzung (z. B. im „Gerichtstag" p. 104), ja auch nur Gleichgültigkeit (ebd. p. 36/7, p. 202) einem liebe- und hilfsbedürftigen Mitmenschen gegenüber. So ist in seinem Roman der lieblose Vater der wahre „Mörder" der Sohnesseele, also der wahre Schuldige, während der zum tatsächlichen Vatermord ausholende Sohn eigentlich das Opfer des Vaters wäre. Die Inhaltsangabe ist entbehrlich, fast unnötig; eine ganz ausgezeichnete Einzelanalyse dieses Romans, in dem Kindheitserlebnisse des Helden raffiniert mit seinem späteren Leben versponnen sind, findet sich bei R. Specht („Werfel" p. 229—34). Was uns hier beschäftigt, ist die Auffassung des Vater—Sohn-Problems; ein Offizierssohn, der schon als Kind, halb unbewußt, die Exerzierquälereien seines Vaters mit einer handgreiflichen Herausforderung beantwortete, kommt, erwachsen, in einen Kreis von russisch-jüdischen Anarchisten, die zum Teil nicht ohne ironische Streiflichter gezeichnet sind, da sie den Pazifismus „durch Blut und Schrecken" (p. 102) durchsetzen wollen. Hier findet der Sohn das ausgesprochen, was er längst ahnend erkannte (p. 98—101) „Unser Kampf gilt der patriarchalischen Wcltordnung", sagte der Alte. „Was ist das, patriarchalische Weltordnung?" „Die Herrschaft des V a t e r s in jedem Sinn".... „Was versteht ihr unter — Herrschaft des Vaters?" „Alles!" führte der Alte aus. „Die Religion: denn Gott ist der Vater der Menschen. Der Staat: denn König oder Präsident ist der Vater der Bürger. Das Gericht: denn Richter und Aufseher sind die Väter von Jenen, welche die menschliche Gesellschaft Verbrecher zu nennen beliebt. Die Armee: denn der Offizier ist der Vater des Soldaten. Die Industrie: denn der Unternehmer ist der Vater der Arbeiter! Alle diese Väter sind aber nicht Spender und Träger von Liebe und Weisheit, sondern schwach und süchtig, wie der gemeine Mensch eben geboren ist, vergiftete Ausgeburten der A u t o r i t ä t . . . . Der selige Urzustand, die aurea aetas der Alten, das Paradies der Religionen, war die ursprüngliche gesund-nomadische Form des menschlichen Beieinanderlebens gewesen. Da erhob sich der erste Vater über seine schwachen Söhne und 6pannte sie vor die neue Pflugschar, die ein hoher, wenn auch doppelsinnig-versucherischer Genius konstruiert hatte. Und siehe! Die Kinder der Mutter waren zu Söhnen des Vaters 5 Wals II

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geworden, des Vaters, der nicht in neun Monaten der mystischen Prüfung ein neues Leben mehr lieben lernte, als sich selbst, sondern in einem kurzen Kitzel den bald vergessenen Lebenssaft verspritzt hatte. Die patria potestas, die Autorität, ist eine Unnatur, das verderbliche Prinzip an sich. Sie ist der Ursprung aller Morde, Kriege, Untaten, Verbrechen, Haßlaster und Verdammnisse, gleichwie das Sohntum der Ursprung aller hemmenden Sklaveninstinkte ist, das scheußliche Aas, das in den Grundstein aller historischen Staatenbildung eingemauert wurde" (vgl. hiezu, daß nach Werfeis ,,Spiegelmensch"-deutung der ,,Hohepriester" im Drama „ p a r a l l e l z u m V a t e r den geistigen Erbhüter vorstellt").

Im Kreise dieser Revolutionäre verhaftet, wird der Held vor seinen Vater, den untersuchenden General geführt, den er flehend mit „Vater!" anredet, worauf dieser ihn anschnarrt: „Leutnant Duschek! Ich befehle Ihnen im Namen des allerhöchsten Dienstes, diese Ausdrucksweise zu unterlassen!" Eine maßlose Verwünschung des Sohnes beantwortet der Vater mit einem Reitpeitschenhieb. Jetzt beschließt der Sohn die Ermordung des Vaters und ist damit bereits zum geistigen Mörder geworden; er kann sich — in einem Brief, den er später zur Entlastung eines andern Vatermörders an einen Staatsanwalt schreibt — einen Parricida nennen, und seine furchtbarste Erkenntnis ist, daß alle Söhne ihre Väter hassen (p. 253/4) ,,Ob der Vater hart oder weichmütig ist, bleibt sich in einem l e t z t e n S i n n e fast gleichgültig. Er wird g e h a ß t und g e l i e b t , nicht weil er böse und gut, sondern weil er V a t e r ist Sie fragen: „Wenn der Haß gegen die Väter ein allgemeines Naturgesetz ist, unter dem die Söhne stehen, warum bringen nicht mehr Söhne ihre Väter um, warum ist im Rechtsbewußtsein der Zeiten der Vatermord seit je der scheußlichste der Morde geblieben? Antworten Sie: Warum bringen nicht mehr Söhne ihre Väter u m ? " Ich aber sage Ihnen: Sie bringen sie u m ! Auf tausend Arten, in Wünschen, in Träumen und selbst in den Augenblicken, wo sie für das väterliche Leben zu zittern glauben."

Und noch stärker verrät Werfeis Held, daß er direkten Wegs von der Psychoanalyse herkommt, wenn er nämlich nun auch noch den Sophokleischen Oedipus als Vatermörder par exellence aufführt (wozu für ihn gar keine Nötigung vorlag, da das Inzestmotiv Werfel keineswegs interessierte): „Diese Tragödie ist eine wahre Fundgrube der Metapsychik des Menschen und ich scheue mich nicht, mit Sophokles (!) zu glauben: Jeder Vater ist Laios, Erzeuger des ödipus, jeder Vater hat seinen Sohn in ein ödes Gebirge ausgesetzt, aus Angst, dieser könne ihn um seine Herrschaft bringen, d. h. etwas a n d e r e s w e r d e n , einen anderen Beruf ergreifen als den, den er selbst ausübt, seine, des Vaters, Weltanschauung, seine Gesinnungen, Absichten, Ideen nicht

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fortsetzen, sondern leugnen, stürzen, entthronen und an ihre Stelle die eigene Willkür aufpflanzen. Jeder Sohn aber tötet mit ödipus den Laios, seinen Vater, unwissend und wissend den fremden Greis, der ihm den Weg vertritt."

Bis hieher wäre die Novelle nichts als eine psychoanalytische Programmschrift, durchbräche nicht der D i c h t e r und Romantiker Werfel das starre Schema der Vaterhaßdoktrin. Mit einer eisernen Turnhantel verfolgt der aus der Reitpeitschenwunde blutende Sohn den in greiser Nacktheit jämmerlich anzusehenden Vater nachts um den Tisch herum, bis urplötzlich der Haß von ihm abfällt („Leid, Mitleid!1'' p. 220) und er dankbar ist, daß der Vater sein und nicht er des Vaters Blut vergossen hat („Mein Blut! IJnd doch! Geheimnis! Sein Blut, unser Blut hier auf der Erde!"). Aus diesem (neuromantischen) Bewußtsein der Blutzusammengehörigkeit also schont der Sohn des Vaters Leben. Es ist noch ganz der junge Werfel der Neuromantik, der nach all den Haßpredigten dieses Revolutionsromans seinen Helden in plötzlicher Weichheit am Ende gestehen läßt: „Ich habe viel von der Feindschaft zwischen Vätern und Söhnen gesprochen. O glauben Sie mir, auch ich habe die Liebe des Sohnes zum Vater kennen gelernt. Ja, heute weiß ich es, diese Liebe war der stärkste Trieb meiner Seele, der verzehrendste Besitz meines Lebens gewesen; sie hat alles andere Leben von mir entfernt und mich zu meinem Unglück bis zum Rand erfüllt I Ich kenne diese Liebe. Sie muß die scheueste und geheimnisvollste von der Welt genannt werden, denn sie ist das Mysterium der Einheit und des Blutes selbst."

Und das gleiche für die Prager Dichter unüberwindbare Gefühl der „Rührung" überfällt auch den Traumsucher im „Spielhof", als er in einem unwirklichen Traumland der verklärten Gestalt seines Vaters begegnet (p. 30): Lukas fühlte sich weinen. Die Scheu war dahin, die Scheu dem Manne gegenüber, der streng richterlich im Erker am Fenster saß, und die von roter Tinte durchfetzte mathematische Schularbeit abverlangte. Nun trat er ohne Bangen, ohne Angst, ohne Haß auf ihn zu, der so lange an seiner Seite die Prüfung des Todes in diesem Dom bestanden hatte. Er faßte die Hand des Vaters. Die warme, herzliche, weiche Hand eines Mannes, der zu leben verstand. Und der Vater erfaßte die Hand, zog sie an sich, und drückte sie innig an sein Herz. Zum erstenmal im Leben fühlte der Sohn das Herz des Vaters, das lebendige Herz klopfen, und sein eigenes klopfte vor Ehrfurcht über dieses mystische Erlebnis.

Überschätzen wir aber nicht diese gelegentlichen Rückfälle Werfeis in die Neuromantik, und seien wir uns gerade für die zuletzt zitierte Traumszene bewußt, daß nicht sie der endgültige, der gesuchte Traum des Suchers Lukas ist, sondern nur eine nicht das Endgültige bedeutende Lockung. In seinen späteren Romanen „Der Abituriententag" (1928) und 5*

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„Barbara, oder Die Frömmigkeit" (1929) hat Werfel beiläufig, bis in Charaktere und Milieu genau, den Konflikt aus „Nicht der Mörder... abermals variiert, als dessen Ursache die harte Verständnislosigkeit des arrivierten, erfolgreichen Vaters gegenüber dem weichlichen, scheinbar lebensunfähigen Sohn erscheint. Unterdessen fand das Motiv des Vater—Sohn-Konflikts in den Werken dreier großer Romandichter der Zeit seine Behandlung : es wurde geradezu stereotyp (auch in Frankreich: vgl. J e a n Giraudoux' Roman „Simon le Pathétique") im Bildungsroman bzw. -Drama als erstes großes LebensHindernis des Helden den Vater bzw. die Eltern einzuführen, wie dies schon bei Samuel Butler, R. Rolland u. a. der Fall gewesen war. — Als eines der Hauptmotive des Erzählers Josef P o n t e n bezeichnet ein Kritiker („Orplid" I I , 4, p. 70, Sonderheft Ponten) „die Spannungen zwischen Eltern und Kindern." In seinem Hauptwerk, dem Roman „Der Babylonische Turm" (1912—18), laufen zwei solcher Konflikte, ihrem Wesen und ihren Trägern nach ganz verschieden, nebeneinander her. Der eine, in der Nebenhandlung, ist die ohnmächtige Auflehnung des jungen, feinen und schon müden Grafen Alexander gegen seinen Vater, dessen fette Zufriedenheit die heftigen Anklagen des Sohnes um keinen Zoll aus dem Gleichgewicht bringen. Den Sohn ekelt — schärfster Kontrast zur Neuromantik! — im Ahnensaal vor den Bildern seiner Väter (16./17. Tsd. Bln. Lpz. 1924, p. 336: „es wurde Alexandern übel vom Anschauenli) und vor dem Bilde seiner toten Mutter erhebt er Anklage gegen den Vater (p. 337): „Sieh, ich leide an ihm! Sieh' es ist nicht möglich, daß er mein Vater ist! Sieh', es empört sich alles in mir gegen ihn ! Auch du hast an ihm gelitten, das sehe ich dir an. Wieviele Söhne leiden an ihren Vätern, und es muß wohl so sein ! Es ist, als wenn Väter und Söhne zwei verschiedene Sprachen sprächen; da gibt es keinen Dolmetscher." Er lief schnell die Treppe hinunter, seinen Kopf zwischen den Händen, und stürzte in das Zimmer seines Vaters hinein, wie es die Unschlüssigen tun: einmal entschlossen springt ein Selbstmörder mit beiden Füßen ins Wasser.

Dennoch bleibt alles beim Alten: der zartbesaitete Alexander ist unfähig zur Revolte. Anders steht es in der Familie der Großjohanns, deren Geschichte der Roman schildert: hier gelangt immerhin einer der Söhne, frühzeitig durchgebrannt, zu innerer Festigkeit den mächtigen Eltern gegenüber; die andern Söhne verheimlichen ihre durch die Wort- und Lieblosigkeit des Familienlebens verwundeten Seelen, bis der aus Amerika zurückkehrende junge Herkules dem Vater gegenüber manches auszusprechen wagt, woran die andern lange schweigend trugen (p. 365/6): „Du hast dich auf ein hohes Roß gesetzt, Vater, und konntest nicht reiten.",,So so? Wenn ich das m e i n e m Vater gesagt hätte, er würde mich totgeschlagen haben."

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„Dann war dein Vater eben ein alter Narr, Gott hab' ihn selig! und sollte zu Moses Zeiten gelebt haben, wo sie dem gleich die Hand abschlugen, der den Vater ein bißchen derb anpackte, wenn er eine Dummheit gemacht hatte. Für solche groben Geschichten hat man heute keinen Sinn mehr. Ich hätte dir das schon früher sagen sollen, aber ich war zu blöde, und ihr habt mich gut erzogen, ihr beiden . . . . Die Eltern müssen mit den Kindern n a c h der Zeit jung werden, ihr aber habt uns Kinder v o r der Zeit alt mit euch gemacht."

Und noch energischer tritt in Pontens Novelle „Der Meister" (Mai 1919) dem starren Dombaumeister seine Frau entgegen, als er seine Tochter zu einer Heirat zwingen will (p. 28/9): „Wir wollen doch nicht wie dieEltern sein, die fast alle vergessen, daß sie auch jung gewesen sind, und die ihren Kindern das verweigern, was sie selbst von ihren Eltern ertrotzt h a b e n " . . . . „Für dich gibt es wohl kein viertes Gebot mehr ?" „Für dich gab es das auch einmal nicht. H a t uns mein Vater nicht genau dasselbe gefragt ? Aber man erinnert sich der Gebote immer erst, wenn man auf der befehlenden Seite steht." „Die Eltern haben Anspruch auf die Liebe der K i n d e r . . . " „Nein, die Kinder haben Anspruch auf die Liebe der Eltern. Die Kinder sind nicht der Eltern wegen da. Das ist ganz falsch. Die Eltern sind der Kinder wegen da. Die Eltern haben ihre Entlohnung und ihren Dank vorausbekommen, damals, als sie selbst noch Kinder waren."

Neben Ponten ist es J a k o b W a s s e r m a n n , der als letzten Gipfel seines in den Kriegsjahren entstandenen Romans „ C h r i s t i a n W a h n s c h a f f e " einen Vater—Sohn-Konflikt ausbrechen läßt, der übrigens außerordentliche Ähnlichkeit mit dem in Kaisers „Koralle" besitzt. Der Dandy Christian ringt sich im Lauf des Romans zu immer größerem Lebensernste durch, bis er endlich durch radikalen Bruch mit seinem großkapitalistischen Vater einen Strich hinter sein ganzes bisheriges Leben macht, mit dem der Roman endet. Der Konflikt zwischen Vater und Sohn ist hier mehr ein Ideenkonflikt (Menschenliebe—Mammonskult) als ein persönlicher; jedenfalls läßt er an Entschiedenheit nichts zu wünschen übrig (Berlin 1919, II, 438—441): „Du wolltest mich an das Erbe binden", hörte er die klare und sanfte Stimme Christians sagen; „du wolltest mich kaufen durch das Erbe. Ich habe erkannt, daß man sich dem entziehen muß. Man muß mit der Liebe derer brechen, die sich darauf berufen: du gehörst uns, du bist unser Eigentum, du mußt fortsetzen, was wir angefangen haben. Ich konnte nicht Erbe sein. Ich konnte nicht fortsetzen, was du angefangen hast. Ich war in einer Schlinge"... Ohne Hoffnung auf ein J a fragte er: „Blutsbande existieren also nicht mehr für dich ?" „Wenn du vor mir stehst und ich dich sehe, fühle ich, daß sie existieren", war die Antwort, „wenn du handelst und sprichst, spür ich sie nicht."

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„Gibt es eine Abrechnung zwischen Vater und Sohn?" „Warum nicht? Wenn Aufrichtigkeit und Wahrheit entstehen soll, warum nicht? Vater und Sohn müssen neu beginnen können, scheint mir, einer dem andern gleichgestellt. Sie dürfen sich nicht auf das Gewesene verlassen, auf das, was verbucht ist, was die Gewohnheit vorschreibt... Und wodurch habe ich dich verwundet, wie du sagst, wodurch deine Autorität beleidigt ? Sohn bin ich, du bist Vater. Heißt das Knecht und Herr sein ? Ich bin nicht mehr von deiner Welt. Deine Welt macht mich zu deinem Widersacher. Sohn und Widersacher, anders kann deine Welt nicht anders werden. Gehorsam ohne Überzeugung, was ist das denn? Die Wurzel von allem Übel. Du kannst mich nicht sehen; der Vater sieht nicht den Sohn. Die Welt der Söhne muß sich gegen die Welt der Väter erheben, anders kann es nicht anders werden."

Vorausnehmend sei ein weiterer Vater—Sohn-Konflikt bei Wassermann erwähnt, der ebenfalls das Fundament eines breiteren Ideenkonflikts ist, in dem es, bezugnehmend auf einen Karlsruher Mordprozeß von 1907, um „Justiz oder Gerechtigkeit" geht: „Der Fall Maurizius" (Bln. 1928). Im kalten, nach präzisen Kommandos funktionierenden Haus eines strengen Vaters, des Generalstaatsanwalts, wächst der seltene, wunderbar reine Knabe Etzel auf — ohne Liebe: der Vater hat keine Zeit dazu, ohne Mutter: der Vater hat die Ungetreue verbannt. Scheu und geduckt, in unbewachten Augenblicken (p. 34) „sah er den Vater an wie einen Turm, der keinen Zugang hat, keine Türen, keine Fenster, der nur gewaltig ragt und von unten bis oben Geheimnisse birgt. Seine tiefe Bewunderung war einer ebenso tiefen Furcht verschwistert. Als einziger Sohn, mutterlos, stand er ihm unerhört allein gegenüber. Dieses Gegenüberstehen wurde ihm durchaus zum Bild, und schickte er sich an, im Bilde, ihm entgegenzutreten, so wich der Vater um ebenso viele Schritte zurück; trat andererseits dieser auf ihn zu, so erfaßte ihn die Furcht und zwang ihn zur Vorsicht."

Während der Vater mit einem blinden Optimismus, der den von Meredith's Sir Austin Feverel an grausiger Komik noch übertrifft, seinen Sohn erschöpfend und billig zu erziehen glaubt, beginnt in dem Sechzehnjährigen stärker und stärker der innere Protest sich zu erheben, geschürt noch durch Blick in die zerrütteten Familienverhältnisse des einzigen Freundes und dessen verbittertes Zähneknirschen gegen die Elternautorität (p. 71: „sie sperren uns in den Brotkorb, das ist der Trick. Sie haben keinen Dunst, wie es in uns aussieht. Es ist ein Kannä, und sie halten noch bei Benevent. Sie wissen nicht, was ihnen bevorsteht. Alles verstunken und versaut. Aber sie haben den Brotkorb in der Gewalt, und damit beherrschen sie die Lage. Ich möchte einen Riß durch das Ganze machen.."). Einem inneren Ruf gehorchend, entflieht Etzel aus dem Vaterhaus, indem er seinen ersten restlos offenen Brief dem Vater zurückläßt (p. 128/9): „wir haben keinen Weg zueinander, es ist aussichtslos für mich, einen zu suchen. Ich kann nicht sagen, daß etwas zwischen uns steht, weil alles

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zwischen uns steht. Dagegen bin ich wehrlos, daß du meine Jugend verachtest, aber vielleicht kann ich das Ziel erreichen, das ich mir setze und so dich zwingen, meine Person zu achten, trotz ihrer Jugend." Durch dies „Ziel" unterscheidet sich der ganz geschlechtlose Etzel von einem andern Sechzehnjährigen, dem „Jungen Gödeschal" in H a n s F a l l a d a s gleichnamigem „Pubertätsroman" (1919), der ebenfalls unter einem unerträglichen Vater, einem hohen Beamten, leidet. Und dieses Ziel, der Nachweis eines Justizmords im Falle Maurizius, ist gleichzeitig die Axt an die väterliche Wurzel: auf der Basis dieses 18 Jahre zurückliegenden Urteilsspruchs baut sich das gesamte Lebenswerk des Vaters auf, das der Sohn umstürzt durch den Nachweis eines Justizirrtums. Triumphierend kehrt die verstoßene Mutter zurück, um mit dem Gatten Abrechnung zu halten, und konstatiert den Bankerott seiner Sohneserziehung: er habe ihr den Sohn „in einem Alter geraubt, wo du hoffen konntest, ihn ganz nach deiner Idee zu modeln, zu deinem Ebenbild, er war Lehm in deiner starken Faust, du hast dich dabei auf Recht und Gesetz gestützt wie auf verläßliche Trabanten, und wahrhaftig, sie haben dich ausgezeichnet bedient, dann wächst er dir auf, der gesetzlich beschlagnahmte Mensch, und was ereignet sich ? Er zerstört dein Fundament, und zerreißt dir deinen Wahn, Recht und Gesetz lassen dich im Stich" (p. 458).

Nach einer furchtbaren Schlußauseinandersetzung des längst durch eigene Zweifel angefressenen Vaters mit dem heimkehrenden Sohn bricht der Alte in einem Tobsuchtsanfall zusammen und taucht in einer Heilanstalt unter. Der Sohn — Vorposten, vielleicht schon Glied einer neuen Generation — schreitet jetzt frei in die Zukunft. Die Darstellung des Vater—Sohn-Konflikts bei einem dritten Romancier, dem Schweizer J a k o b B o s s h a r t (1862—1924; Biographie von Max Konzelmann, Zürich-Lpz. 1930), in seinem 1921 (Lpz. Zürich) veröffentlichten und mit dem G. Keller-Preis geehrten, aber früher geschriebenen, letzten und reifsten Roman „Ein Rufer in der Wüste" erinnert auffällig an Wassermanns „Wahnschaffe": auch hier überwirft sich der Held, Reinhart Stapfer, mit seinem kalten Vater, dem Fabrikanten, verläßt das Elternhaus und lebt mit Proletariern in Mietskasernen. Im Gegensatz zu den genannten Romanen endet Hermann Sinsheimers durch unermüdliche Wiederholungen zu einem Roman ausgewalzte Novelle „Peter Wildangers Sohn" (München 1919) mit gemeinsamem Tod von Vater und Sohn. Von den ersten Seiten an hören wir vom „Haß gegen den Vater" (p. 2 4 . . . „Konnte er sich nicht auch aufraffen, frei machen, den Vater unterkriegen?"), den der 18jährige geprügelte, verkümmerte und verstockte Konrad in verbissener Unterdrückung dem gewalttätigen Vater entgegenbringt; der Haß verstärkt sich zum Mord-

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wünsch (p. 56) und bricht aus in einem Ringkampf, in dem der Vater den Sohn wirft, und beide Kratzwunden davontragen (p. 101 f.). Auch die vom Vater gequälte Mutter („Dieser stand zwischen Frau und Sohn, wie ein kleines, häßliches Tier, in dem die Lust, zü bellen und zu beißen, jeden andern Instinkt erstickt hat'''' p. 47) haßt der Sohn ihrer dumpfen Diesseitigkeit halber (p. 49, 66). Ausführlich wird seine geistige Ablösung von den Eltern geschildert . („Er fühlte sich zum erstenmal in seinem Leben von seinen Eltern losgelöst. Sie gingen ihn von dieser Stunde nichts mehr an'''' p. 56/7).... „Es fiel ihm auf, daß er mit dem Begriff Vater und Mutter nie im Leben jenen Sinn habe verbinden können, den er aus dem Religionsunterricht und aus Geschichten und Romanen kannte. Er fragte sich zögernd: Bin ich nicht elternlos ? Bin ich nicht eine Waise ? Und er stellte sich unbedenklich die Möglichkeit vor Augen, daß seine Eltern heute oder morgen sterben würden, — was wäre dann ? Er würde wohl Tränen vergießen, aber dann glücklicher leben als vorher" (p. 66/67).

Daß in der Bibel nicht geschrieben stehe, die Eltern sollen ihre Kinder ehren, empfindet er als „das schreiende Unrecht, unter dem ich leide" (p. 92). Eine scheinbare Versöhnung zwischen Vater und Sohn durch den Tod der Mutter erweist sich als unhaltbar, als der Vater am Krankenbett des Sohns in einen Wutanfall ausbricht und der Sterbende ihn anschreit: „Nein, du bist kein Mensch, du bist ein Tier!" (p. 218). Plötzlich erkennen Vater und Sohn eine mystisch rätselhafte Identität ihrer Existenzen, und um nicht am Tod seines Sohnes mitzusterben, stört der lebenshungrige Vater dessen langsames Sterben („ Vater, du bist ein Tier, ein Feind. Du zerrst mich zurück, du hinderst mich selig zu werden"), indem er den Hof in Brand setzt (so will's der Autor!). Der Sterbende erschlägt aber den Vater mit einer Axt: gleichzeitig ereilt sie beide der Tod. Der verworrenen Logik des Romans entspricht eine theatralisch schablonenhafte Psychologie, eine hysterische Süßlichkeit gemischt mit geschmackloser Brutalität und ein papierener, häufig alberner Stil. Wie im Roman, so wird nun auch im Drama stereotyp als erste Station der Lebensbahn eines jungen Helden die Revolte gegen den Vater eingeführt; schon E r n s t v. W o l z o g e n s Drama „Die Peitsche" (1918) und H. S c h m i d t s Schauspiel „Der Titan" (1921) weisen in diese Richtung. Selten nur ist der Vater mit einiger Sympathie gezeichnet, so in G. v. W a n g e n h e i m s Drama „Der Mann Fjodor" (1921), wo ein an der Spitze eines Revolutionshaufens stehender edler Sohn gegen seinen Willen den Tod seines Vaters veranlaßt. Ausgesprochene Auflehnung gegen den Vater findet sich dagegen besonders in zwei Dramen von Pulver und v. der Goltz. Wenn der Schweizer Dichter Max P u l v e r im I. Bild seines Stücks „Das Große Rad" (München 1921) statt eines Sohns eine Tochter

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diese Auflehnung vollziehen läßt, so ist dies nur eine willkürliche Variation des Vater—Sohn-Themas. Hier wie bei Wassermann u. a. versperrt ein Bourgeois seinem Kind den Weg zum Volk (p. 20/1): I n e s (ihm die Hand hinstreckend): Leb wohl. Vater (aufspringend): Halt. Jetzt ist's genug. Augenblicklich ins Haus. Das ist keine blöde Schwärmerei mehr, das ist . . . I n e s (die Arme emporwerfend): Rebellion! V a t e r (ergreift ihren linken Arm und reißt ihn herunter): Du gehorchst! I n e s : Nur mir selbst! Vater: Hinein! (versucht sie nach dem Haus zu zerren). I n e s : Nie mehr. V a t e r (lauschend): Wenn du deinen Vater nicht ehrst, so denke an deine tote Mutter! Ines: Ich habe keinen Vater, keine Mutter. V a t e r (schlägt sie ins Gesicht): Freches Luder! Ines (tritt zurück. Pause): Zerschlagen. Du hast die Ketten zerschlagen.

Auffallende Abneigung hatte diese Generation davor gezeigt, einen historischen Vater—Sohn-Konflikt zum Sprachrohr ihrer Anschauungen zu nehmen. Diesen Schritt tat erst J o a c h i m von der Goltz (geb. 1892) in seinem von Kossow (a. a. O.) maßlos überschätzten, auf das Niveau von Kleists „Homburg" und Hebbels „Agnes" gesetzten Drama „Vater und Sohn" (München 1922) durch die Wahl des jungen Friedrichs II. von Preußen. Schon vorher hatte zwar der Stoff — wenn wir von den zahlreichen früheren Friedrichsdramen absehen, die einen ernsthaften Konflikt zwischen Vater und Sohn meist gar nicht aufkommen ließen (s. Kossow p. 166ff.) — im I. Teil des oberflächlichen Schauspiels „Friedrich der Große" (Bln. 1917) von Hermann von B o e t t i c h e r Behandlung gefunden, doch wurde hier noch der Vater—Sohn-Konflikt durch die Gestalt des Verräters Grumbkow erklärt, damit an menschlicher Wirkung abgeschwächt. Daran läßt es Goltz, der „große Gestalter" (Kossow, p. V), nicht fehlen, der fünf Akte lang wahre Orgien des Vaterhasses zelebriert, bis zu jener Stelle kurz vor Schluß des Dramas, wo die gegenseitige Verhärtung Friedrichs und seines Vaters ^letzterer sagt noch zu Anfang des V. Aktes: „Er soll mir nicht groß werden, der Knabe") unerwartet und keineswegs überzeugend von einem plötzlichen Weichwerden durchbrochen wird. Vor allem aber solange der Erzrevolutionär Katte noch neben ihm steht, führt der junge Friedrich eine trotzige — übrigens shakepearisierende — Sprache, wie z. B. (p. 37, II): Dies ist ein Petrefakt, meine Freunde: wenn ich vor meinem Vater stehe und er hebt seine Faust gegen mich auf, so bin ich dem Morde näher als der Liebe, und der Wahnsinn ist mächtiger in mir als die Vernunft. Darum, weil alle Mittel der Liebe und der Vernunft ohnmächtig sind gegen die nackte Gewalt, so hab' ich die kühne Tat erwählt und mich diesem Propheten des Hasses und mit seiner feurigen Seele verbündet.

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Den eingekerkerten Prinzen bittet sein bedächtiger Freund Fouqud, auf die Thronfolge zu verzichten, damit nicht die Jugend Brandenburgs erfahren müsse, „daß Friedrich seine Generation an die Väter verraten hat" (p. 100). Als aber nun der König selbst das Gleiche fordert, weigert sich der anfangs zur Abdankung geneigte Sohn, auf den Thron zu verzichten, und weist des Königs Sendling ab mit den Worten (p. 102, IV): „Und solange es Macht und Machtlose gibt, werden sich Vater und Sohn entgegenstehen". Die Versöhnung nach solcher Übersteigerung des Konflikts klingt weder wahrscheinlich noch befriedigend, trotz Kossows eingehender Bemühungen um eine Deutung des Stücks und seines versöhnendes Endes (z. B. p. 150, 153, 166). Bis jetzt hat nur ein einziger Dramatiker es gewagt, Friedrich und seinen Vater in ewiger, innerlich nie überbrückter Feindschaft beharren zu lassen: E m i l Ludwig in seinem „Friedrich, Kronprinz von Preußen" (1914). Aus ganz anderen Impulsen, aus seiner bis zur Brutalität trotzigen Existenzbetonung, die das Grundgefühl seiner Dichtung ist, kam auch der junge Bertold Brecht zur Ablehnung des Vaters. Sein „Baal" sagt in der 2. Szene des gleichnamigen Dramas (Potsdam 1922) zu seinem Schüler Johannes: „Deine Eltern — das sind verflossene Menschen. Wie wollen sie den Mund auftun, in dem du verfaulte Zähne siehst, gegen die Liebe, an der jeder sterben kann?" Und als 1919 in München ein Dreizehnjähriger seine Eltern ermordete, verherrlichte Brecht den Vorfall — nach Art der Tantenmörderballade Wedekinds und der Songs des Amerikaners Vachel Lindsay (bei dem übrigens ein „John Appleseed" begegnet) — in Form einer burlesken Moritat „Jakob Apfelböck oder Die Lilie auf dem Felde" (in „Hauspostille" Berlin 1927, p. 5f.), in der Brecht versucht, die unbefleckte Reinheit und mystische Selbstverständlichkeit dieses Elternmords herauszuarbeiten. — Das Jahr 1924 brachte dann drei weitere deutsche Behandlungen des Vater—Sohn-Konflikts: Heinrich Mann, der früher in einer Novelle „Der Sohn" (Hannover; „Die Silbergäule" Heft 3) statt der Feindwerdung des Sohns einmal die Sohnwerdung des Feindes dargestellt hatte, läßt in der Novelle „Der Gläubiger" („Abrechnungen" 7 Novellen, Berlin 1924) einen Sohn und eine Tochter mit ihren verlogenen und bis zur Perversität schlechten Eltern grausame Abrechnung halten. — In seinem Roman „Der Bürger" (Berlin 1924) analysierte Leonhard Frank die langsame Befreiung seines Helden vom Alpdruck einer schreckhaften väterlichen Erziehung, der ihn noch lang nach des Vaters Tod verfolgt (p. 162): „Aber erst nach der Nacht, da er im Traume, anstatt in Angst zu erbeben, auch dem Vater ins Gesicht gelacht und des Vaters Hand mit dem drohend deutenden Zeigefinger furchtlos zur Seite geschleudert hatte, war dessen Macht ganz gebrochen gewesen.

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Erst nach diesem Erwachen hatte Jürgen ganz sicher gewußt, daß alle Ungeheuer seiner Jugend und Erziehung völlig überwunden waren. Nie mehr war im Traume der Vater erschienen."

und schon 1915 — in Franks Novelle „Die Ursache" (Lpz.; p. 74) — beschreibt ein Dichter, der nachträglich den Mörder seiner Kindheit ermordet hat, dem verständnislosen Gericht, wie noch Erwachsene von ihren Vätern, die sie einst „gräßlich und verächtlich" ansahen, durch Angstträume beunruhigt werden könnten; worauf der verknöcherte Staatsanwalt pathetisch ausruft: „Da könnte ja jeder Mensch mit Recht seinen Lehrer ermorden . . . jeder Sohn seinen Vater!" (p. 92). Eine gemäßigtere Stellung zu dem Problem nahm P a u l Zech ein in seinem im gleichen Jahr erschienenen Drama „Der Turm" (Leipzig 1924), dem zweiten Teil seines „Sebastian"-Zyklus: Der zum Revolutionär gewordene Sebastian reißt sich vom streng orthodoxen Pietismus seines Vaters (ein Milieu, das mit gräßlicher Übersteigerung in R e i n h o l d Zirkels Familiendrama „Der Schacht" vorgeführt wird) los und bricht in einen wilden, zügellosen Freiheitsgesang Dehmeischen Kolorits gegen das „Geschmeiß und Gestein" der „Väter und Pfaffen" (p. 58/9; III. Akt) aus. Unterdessen aber lernt der durch den Sohn zu innerer Umkehr gebrachte Vater selbst die Ausbesserung des Autoritäts-„Turmes" wünschen, wird dafür von seinen fanatischen Glaubensbrüdern ausgestoßen und bringt durch seinen reinen und edlen Opfertod den Sohn zur Erkenntnis, daß schon sein Vater, wenn auch noch kein Zerstörer, so doch ein Stürmer gegen das verknöcherte Autoritätsdogma gewesen war: erst den toten Vater lernt der Sohn verstehen. Im Jahr darauf veröffentlichte Zech unter dem ungenügenden Titel „Triumph der Jugend" (Lpz. 1925) eine Bearbeitung des französischen Problemdramas „L'enfant maitre" von H e n r y Marx, das etwas weitschweifig, aber mit einer für heutige Dramenproduktion ungewöhnlich sorgfältigen Ausarbeitung einen komplizierten Vater—SohnKonflikt behandelt, kompliziert, weil hier derVater, ein berühmter Professor, sich der Problematik der Vater—Sohn-Beziehungen klar bewußt ist, ja sogar zu seinem eigenen, gleichgültig verständnislosen Vater sagen kann: „das Vatergefühl ist eine ungemein schwere Kunst. Ich kenne nur sehr wenige Väter, die darin nicht widerwärtig sind." Und dennoch wird dieser ideale Vater gereizt, als er fühlt, daß sein Sohn Serge aus eigener Kraft über die väterlichen Theorien hinausschreitet (p. 44/5; 1,10): C l a u d i u s (bitter)-. Ich fühle seit einiger Zeit, daß zwischen Serge und mir das Mißverständnis zweier Generationen zueinander steht, (schroff) Er äußert gewisse Anschauungen, die ich unbedingt zurückweisen m u ß . . . Ist es nicht fürchterlich, mit einem Male entdecken zu müssen, daß man auf dem Wege, auf dem man lebenskräftig einherschreitet, vom eigenen Sohn überholt wird, weil eine neue Erkenntnis, die unsereiner zufällig nicht aufspürte, von ihm aufgefunden w i r d . . .

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G e r h a r d : Das ist doch ein so einfaches Naturgesetz, dem wir uns alle eben unterwerfen müssen! E d i t h : Du erregst dich nur aus deiner leidenschaftlichen Väterlichkeit heraus. C l a u d i u s (leidenschaftlich): Ich will eben nicht der miserable Vater sein, den der Sohn in seiner Nachsicht nur achtet, weil es gerade sein Vater i s t . . . Da er mich überholt hat muß ich ihn wieder einholen... überflügeln... U n d der Professor, dessen K o n f l i k t m i t dem Sohn überflüssigerweise noch dadurch verschärft wird, d a ß beide dasselbe W e i b begehren 1 ), verharrt trotz aller besseren Einsicht auf der egoistischen Erkenntnis (p. 46): „ W i e sich die Kugel unseres Lebens auch drehen m a g — : v o r unseren Söhnen müssen wir auf der H u t sein, T a g und N a c h t , u m nicht weggeworfen zu werden, wie ein verbrauchtes G e r ä t " . . . . Dieser E g o i s m u s erhält seinen ersten S t o ß durch die d e m Sohn gegenüber liberaler denkende Gattin des Professors, die freilich f ü r den schweren inneren K a m p f des Vaters zwischen I c h k u l t u s und geistiger Freigabe des Sohnes kein Verständnis h a t ; sie stellt ihn schonungslos zur R e d e (p. 91, II, 5): Was bedeutet dir letzten Endes der Sohn? Einen widerspruchslosen Zuschauer für das Marionettentheater deiner Philosophie willst du aus ihm machen . . . Volk soll es werden . . . viel Volk um den Berg, auf dem du Götze t h r o n s t . . . Ich aber will allen Söhnen ein Tor aufschlagen, durch das sie ausziehen können ins Freie . . . in die grünen Ebenen der Freiheit! . . . allen meinen noch ungeborenen Söhnen! N a c h d e m die H a l t u n g des Vaters auch noch durch seinen Assistenten, der in mythischer B e w e i s f ü h r u n g die Ü b e r w i n d u n g des Vaters durch d e n Sohn und Geist predigt (III, 10), und schließlich durch seinen Sohn selbst erschüttert wurde, erkennt Claudius, d a ß Sohn immer Vollender, Triumphator, schließlich Meister über den Vater bedeute (die Schlußworte: „Mein Sohn... mein Meister!") u n d gibt diesem, seinem Nachfolger, die B a h n frei. ') Diese früher so beliebte Konfliktursache (z. B. 1895 in Lou Andreas Salomés Erzählung „Ruth", wo der Vater bei einer Sechzehnjährigen den Sohn verdrängte) führt in der Gegenwart im allgemeinen ihre Existenz meist nur bei Dramatikern weiter, die entweder dem Alter nach nicht mehr zu den „Jungen" gehören oder die ohne Zusammenhang mit der literarischen Oberwelt der Zeit sind. Der Vater in T h . R i t t n e r s „Garten der Jugend" (1917) resigniert unfreiwillig, der in R. L o t h a r s Drama „Casanovas Sohn" (1920), in C u r t C o r r i n t h s „Familie" (1920) und in W a l t e r v o n M o l o s „Lebensballade" (1924) in vollem Bewußtsein zugunsten des Sohnes auf die Frau. In den Dramen „Blutopfer" (1917) von G. R e i c k e und „Diebe im Hause" (1919) von A. E c k b r e c h t liebt der Sohn die Stiefmutter; in C. R i e s e b e l l s „Leidenschaft" (1920) der Vater das Mädchen des Sohnes: erst der Tod schützt hier die beiden Liebenden vor den Nachstellungen des Alten. — Nachträglich sei auf das soeben erscheinende Buch von Adolf von Grolmann „Kind und junger Mensch in der [deutschen] Dichtung der Gegenwart" (Bln. 1930) hingewiesen, das auf einige der von uns angeführten Dichtungen näher eingeht, als es uns in diesem Rahmen möglich war. Das Buch befaßt sich mit einer Reihe deutscher Prosawerke der letzten 30 Jahre, berührt aber nur selten unser Thema.

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Im nächsten Jahr hat dann der Arbeiterdichter H e i n r i c h L e r s c h eine heroisch-herbe Haßliebe zwischen Vater und Sohn, die sich zu rohster Feindschaft verschärft, in seiner Kurzgeschichte „Kassops Vater" (erstmalig abgedruckt in „Orplid" Mai 1926, I I I , 2; p. 43f.) auf engstem Raum geschildert; man erinnert sich an den Schluß von Hasenclevers „Sohn", wenn hier den Vater im Augenblicke, als er den Sohn erschlagen will, ein Herzschlag tötet. Aber im allgemeinen schien um diese Zeit das Interesse der Dichter für das so stereotyp gewordene Motiv sich zu vermindern; es ist bezeichnend, daß ein Haupturheber der Vater—SohnEpidemie wie H a s e n c l e v e r jetzt das Motiv noch dazu verwendete, um Lacherfolge zu erzielen: als in seinem Lustspiel „Ein besserer Herr" (Bln. 1926; V rauf f . Frankfurt, 12.1.1926) ein Millionär den Wechsel seines Söhnleins nicht erhöhen will, redet ihm dieser zu: „Papa, wir wollen den Kampf zwischen Vater und Sohn nicht auf die Spitze treiben" (p. 85), und als der Vater bei seiner Weigerung bleibt, erklärt er bedauernd „So entsteht ein Vaterkomplex" (p. 86). Daß die weitere Öffentlichkeit nicht daran dachte, sich von dem Problem abzuwenden, beweist, z. B. der riesige internationale Verlagserfolg der „Revolution der modernen Jugend" (Bln. Lpz. 1927) des amerikanischen Jugendrichters B e n B. L i n d s a y , in dessen Buch Sätze wie „Die verlogene sentimentale Rede von einer Verpflichtung der Kinder gegen die Eltern, weil sie ihnen das Leben gegeben haben, sollte einmal aufhören" (p. 226) keineswegs selten sind. Daß von den jüngsten Dichtern nur wenige, und auch sie nur beiläufig, das Motiv streiften, mag man dagegen als Nachlassen des literarischen Interesses an dem Motiv auffassen. E r n s t G l a e s e r hatte schon in seinem mit gerichtlichen Strafanträgen verfolgten, dann freigesprochenen Drama „Seele über Bord" (1926 in Kassel und Berlin aufgeführt; wird auf Wunsch des Dichters nicht gedruckt) einen ähnlichen Konflikt dargestellt wie in seinem erfolgreichen Roman „Jahrgang 1902", wo er — wie er mir seinerzeit brieflich ankündigte— „den Revolutionskampf zwischen junger und alter Generation" darstellen wollte; doch greift dort dieser Konflikt kaum auf die Familienverhältnisse des Chronisten über und das Motto des Buchs „La guerre, ce sont nos parents", „diesen unvergeßlichsten Satz meiner Jugend" (Potsdam 1928, p. 185), den bei Kriegsausbruch des Verfassers französischer Spielkamerad ausspricht, will nur sagen, daß die Sohnesgeneration jede Verantwortung für das Tun der Elterngeneration ablehnt. E r i c h Eberm a y e r s Novelle „Das Tier" (Bln. 1928) schildert die gräßliche Ermordung einer gegen ihre Tochter sadistisch grausamen Mutter, des „Tiers", durch die Tochter und ihren Liebhaber. Dagegen kommen die armen drei Halbwüchsigen in dem Roman „Der Aufruhr der Kinder" (1928)

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von A r n o l d U l i t z , die aus dem tierisch-gemeinen Alkoholmilieu der Eltern ins Waisenhaus versetzt werden, nur vom Regen in die Traufe. — Erwähnt sei ferner noch die Darstellung eines politischen Vater—SohnKonflikts in dem im Sommer 1929 uraufgeführten Tendenzdrama „Ewig Europa" von R o l a n d M a r w i t z , der sich im Kampf des reaktionärwilhelminischen Regierungsrats gegen das Paneuropaideal seines Sohnes restlos auf die Seite des Sohnes stellt sowie die Karikatur eines pedantisch-diktatorischen Vaters, des Postsekretärs Semler, in P e t e r M a r t i n L a m p e i s sonst nirgendwo aggressivem Experimentaldrama „Pennäler" (November 1929), dessen tyrannisierter Sohn noch rechtzeitig vor dem Selbstmord gerettet wird1). Dagegen tritt in P a u l Busson's Roman „ Vitus Venloo, Geschichte einer Jugend" (1930) der dem gänzlich haltlosen Sohn gegenüber verständnislose todkranke Vater in den Hintergrund gegenüber den verhaßten Lehrern; die Väter vollends in den Romanen „Josef sucht die Freiheit1 (1929) von H e r m a n n K e s t e n und „Begierde. Roman einer WeltstadtjugendLi (1930) von O t t o Zarek werden von ihren Kindern in eisig-kalter Nichtachtung ignoriert: mit derselben schneidenden Verachtung behandelt Kestens Josef seinen verlotterten Vater wie Zareks Bankierstochter ihre emporkömmlerisch vulgären Eltern. Anhangsweise sei ein Blick auf die Stellung der außerdeutschen jungen Literaturgeneration zum Vater—Sohn-Problem erlaubt. Noch unter neuromantischen Auspizien nahm 1910 Rußlands größter Lyriker der Gegenwart, A l e x a n d e r B l o k (1880—1921), unter dem Eindruck vom Tode seines Vaters ein Epos in 3 Gesängen in Angriff, das „Wiedervergeltung" heißen sollte und von dem nur der erste Gesang ausgeführt wurde: er schildert — im Zusammenhang mit den politischen Verhältnissen — des Dichters Stellung zu seinem Vater, wobei er unentschieden mit dem Problem der Vererbung ringt. Den denkbar größten Kontrast dazu bildet die Wucht, die in Holland Jo van Ammers-Küller (geb. 1885) der Geschichte einer Kinderrevolte in „De Opstandigen" (EenFamilieroman in drie boeken. Amsterdam 1926) verlieh, einem Werk, das unter dem sensationellen Titel „TheRebel Generation" sofort einen gewaltigen amerikanischen Verlagserfolg zu verzeichnen hatte. Eingehendere Besprechung verlangt E n g l a n d , wo der Konflikt wohl am stärksten von den außerdeutschen Nachgetragen sei, daß auch in dieser Generation das Motiv eine bildliche Darstellung von der Hand eines der ersten Künstler der Gegenwart, des Skandinaviers E d v a r d Münch gefunden hat. In seinem ca. 1920/21 geschaffenen Holzschnitt „Der Sohn" (vgl. „E. Münchs Graphische Kunst" hrsg. Gustav Schief ler, Dresden 1923; Tafel 83) duckt sich ein kleiner Junge angstvoll vor den in drohender Entrüstung erstarrten, ihn umstehenden Familienautoritäten zusammen; im Hintergrund die Ahnenbilder fossiler Großmütter.

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Literaturen wirkte. Der revolutionäre Tendenzdichter Gilbert Cannan (geb. 1884), der bezeichnenderweise Samuel Butlers Biographie schrieb und schon 1913 in dem Roman "Round the Corner" eines Sohnes Revolte besonders gegen seine starr-autoritäre Mutter geschildert hatte1), läßt in "Stucco House" (1917) einen jungen Künstler gegen erstickende Familienautorität sich erheben (p. 269: "The family! the family! I am trying to break away from the family" ), und wenn er auch auf halbem Wegzusammenbricht, so erzwingt dochwenigstens sein Rächer, sein Sohn, den Durchbruch. Die vielgelesenen Romane von H u g h Walpole (geb. 1884), die fast ausnahmslos das Motiv des Kampfes zwischen Alten und Jungen mit Parteinahme für die Jungen behandeln, verschmähen natürlich auch den Vater—Sohn-Konflikt nicht. In Walpole's Jugendroman „Fortitude" (1913) erhebt sich der kleine Peter Westcott gegen seinen Vater beim Tode der Mutter, die dieser in seiner brutalen Art zu Tode gemartert hat; während Peter bisher die väterlichen Züchtigungen verkniffen ertragen hatte, klagt er ihn jetzt in plötzlich ausbrechendem Haß des Mordes an (London 1922, p. 97: „He hated, his father. He was terrified, as he sat there, at the fury with which he hated him''''). Und als nach dem Tod der Mutter auch die Tante das Haus verläßt, als jetzt nur Großvater, Vater und Sohn zurückbleiben, spitzt sich der Konflikt immer stärker zu (p. 103): "with this clearing of the platform, the hatred between Peter and his father became a definite and terrible thing. It expressed itself silently . . . But the air was charged with the violence of their relationship; the boy, growing in body so strangely like the man, expressed a sullen and dogged defiance in his every m o v e m e n t . . . the man watched him as a snake might watch the bird held by its power. They stood, as wrestlers stand before the moment for their meeting has arrived."

Der Aufeinanderprall erfolgt, als der Sohn den Entschluß ausspricht, in London ein eigenes Leben zu beginnen. Der Vater verweigert die Erlaubnis (p. 109: "you will stay here because I wish it. I like to have you here — father and son — father and son'''') und der Sohn verweigert den Gehorsam (p. 110): "I will go", he shouted — "I will go — you shall not keep me here. I have a right to my freedom — what have you ever done for me that I should obey you ? I want to leave you and never see you again." Und entschlossen, durch Pietät sich nicht das Leben verkürzen zu lassen (p. 122: "His relations with his father were not of the things that l ) Im gleichen Roman schreibt der Pfarrerssohn Serge Folyat vor dem Aufbruch in ein eigenes, unabhängiges Leben seinem bieder-beschränkten Vater: „Mich freut es, die Welt zu durchziehen und die wenigen Männer von Mut und Herz zu grüßen, die man dort finden kann, und unter diese, mein lieber Vater, dürftest du am allerwenigsten zu zählen sein" (vgl. Bernhard Fehr „Engl. Lit. des 19. u. 20. Jahrhdts." Bln. 1923, p. 416).

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now mattered"), verläßt er nächtlich das Haus, an dessen Tür ihm der Vater im Nachthemd an die Gurgel fährt. I m Ringkampf stürzt der Vater. Während der Sohn den W e g ins Freie nimmt, erscheint an der Tür kichernd der greise Großvater Westcott, der s e i n e s Sohnes einstige Revolte jetzt durch dessen Sohn gerächt findet. — In seinem nächsten Roman " T h e G r e e n M i r r o r " (1914) schildert Walpole eine pietätvolle Tochter, deren eifersüchtige Mutter den Bräutigam des Mädchens unversöhnlich haßt und durch Brechung seiner revolutionären Energie seine geistige Vernichtung plant ; vergebens sucht dieser durch verzweifelte Bitten, schließlich durch einen Fluchtversuch seine Braut zur Auflehnung gegen die Mutter zu bringen; und erst als sie im letzten Augenblick endlich den Zustand ihres Geliebten erkennt, wirft sie die Liebe zur Mutter weg, um ihn vor der Rachsüchtigen zu retten. Jetzt auch Avagt sie ihr zu sagen (London 1922, p. 360): " Y o u ' r e settled — all of you, you, father, Aunt Aggie, Aunt Betty — but with Millie and Henry and I everything 's to come. — And yet you expect us t o do all the things, think all the things that you 've done and thought. We're different, we're another generation." Und jetzt ist sie selbst es, die den schon in Apathie versinkenden Geliebten zur Flucht mitreißt: die Mutter hat das Spiel verloren (p. 458: "Mrs. Trenchard was beaten — beaten by her daughter, by a new generation, by a new world, by a new age"). Zum Vater—Sohn-Konflikt kehrt Walpole dann wieder zurück in der Kindergeschichte "Jeremy and H a m l e t " (1919), w o ein unglaublich verständnisloser Vater seinem gebefreudigen Sohne, dem kleinen Jeremy, seine Geschenke für die Dienerschaft wegnimmt, worauf der Kleine sich wutentbrannt zur Wehr setzt und vergebens die Geschenke zurückzuerobern sucht; und dies ist nur der erste einer ganzen Reihe ähnlicher Zusammenstöße. In Verbindung mit einem politischen Ideenkonflikt tritt dasselbe Motiv in dem Roman " T h e Cathedral" (1922) auf: hier ist der Vater, der allmächtige Archdeacon, das Haupt der fossilen, unduldsamen Reaktionspartei, während der unbeugsame Sohn Falk wegen Libertinismus die Universität verlassen muß und von einem politischen Gegner seines Vaters den K e i m zur Empörung erhält; er entflieht dem Vaterhaus, in dem er zu verbummeln begann, und beginnt auf eigenen Füßen in London ein neues Leben, während der Vater in selbstverschuldeter Einsamkeit stirbt. Wie der Archdeacon Walpoles und wie der Vater in A b e l H e r m a n t s Nachkriegsroman „ L e crépuscule tragique", so liebt auch der aufgeklärte Mr. Britling in H . G. W e l l s ' bedeutendem Roman " M r . Britling Sees I t Through" (1916) seinen Sohn, den er später im Krieg verliert, so selbstlos, daß er ihn sogar ganz frei, zwang- und autoritätslos aufwachsen läßt; Wells aber glaubt, wie Hermant, fast fatalistisch an den ewig unverein-

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baren Gegensatz zwischen Vater und Sohn, und auch sein Mr. Britling macht die Erfahrung, daß ihm trotz aller Bemühungen das Innere seines Sohnes ewig fremd bleiben mußte (London 1920, p. 65). — Die krasse Radikalität, mit der dann in der englischen Nachkriegsliteratur, vor allem in den beiden Romanen "The Imperfect Mother" (1920) und "Love's Pilgrim" (1923) des aus religiösen Konflikten mit seinem Vater zerfallenen J o h n D a v y s B e r e s f ord der Ödipuskomplex behandelt wurde, ist fraglos auf die überstarke Beeinflussung der modernen englischen Literatur, die hierin selbst die deutsche noch weit übertrifft, durch die psychoanalytischen Thesen zurückzuführen. Wenn etwa in dem Roman "Nine of Hearts" (1923) der Emanzipationsvorkämpferin E t h e l Colburn Mayne im Verlauf eines heftigen Zerwürfnisses zwischen einer minderjährigen Tochter und ihrer Mutter letztere plötzlich ausbricht: "Yes, that is your suppressed wish that I should die and be out of the way of your relationship with your father", so ist dies Freudpsychologie vom reinsten Wasser; Haß des Sohnes gegen den Vater tritt in D. H. Lawrences Meisterroman "Sons and Lovers" (1918) gegenüber der sexuell betonten Liebe zur Mutter mehr in den Hintergrund. Dagegen geht R o s e M a c a u l a y , die international bekannte Romanschriftstellerin, in gewissem Sinn noch über Freud hinaus, indem sie die Theorie von der Inzestliebe jedes Sohns zu seiner Mutter durch die Behauptung ersetzt, jeder Sohn hasse ursprünglich beide Eltern, also die Mutter nicht weniger als den Vater; "contrary to a common belief, the great affection felt by Oedipus for his mother is most unusual" (zit. bei Gerald Gould "The English Novel of To-Day" London 1924, p. 30). In allen größeren Werken von J a m e s J o y c e („Ulysses", „Portrait"; rudimentär auch in "The Exiles" 1918) taucht die quälende Erinnerung an den Bruch mit der Mutter auf, von der er sich gleichzeitig mit dem Abfall von der Kirche trennen mußte und an deren Sterbebett noch er sich weigerte, zu beten. Vorsichtig und kritisch steht dagegen der in England sehr beliebte Romancier Philip Gibbs der revoltierenden Sohngeneration gegenüber. In seinem allzustark an Walpoles "Cathedral" erinnernden Roman "Young Anarchy" setzt er ein ironisches Fragezeichen hinter diese zügellose Jugend, wenn er sich auch durchaus zu der Ansicht bekennt "The time has gone by for parental austerity. The present generation won't stand for it. They just revolt" (London; p. 34) und wenn er auch mit einem optimistischen Blick in die Zukunft schließt. Den Mittelpunkt des Romans bildet der Konflikt des streng reaktionären Bischofs von Burpham mit seiner intelligenten Tochter, die aus dem Elternhaus entflieht, und mit seinem aus Oxford relegierten Sohn Jocelyn, der sich vom aristokratischen Snob zum Kandidaten der verpönten Labour Party wandelt und 6

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für den der Dichter deutlich Partei nimmt. Als bei Tisch der Bischof Verleumdungen gegen die Partei ausspricht, welcher der Sohn im geheimen angehört, erklärt dieser sie für unwahr; als der Vater ihm befiehlt, sofort den Tisch zu verlassen, und der Sohn sich weigert, befiehlt der Bischof den Dienern, Jocelyn vor die Tür zu setzen. Der Sohn, ein echtes "child of modern thought, with its lack of respect, its revolt against authority, its sense of liberty" (p. 95) verläßt schließlich das Elternhaus, nachdem er dem Vater u. a. erklärt hat (p. 94): "it's time you learnt that parental tyranny belongs to the past". Der Autor findet diese Szene durchaus typisch für unsere Gegenwart (p. 123): There was something more than a personal revolt in Jocelyn's anger. It was as though he stood for the spirit of his own generation, outraged by an attempt to thrust him back into the servitude of a past epoch. When he strode out of that Bishop's palace, leaving that terrible letter for his father, he was reversing the old plot of history. It was not the father who cast out a rebellious son. It was a son casting off an oldfashioned father who seemed to him wicked in intolerance. It was post-war youth at war with old age, which they held responsible for all their troubles and the ruin of the world — unconsciously, of course, but instinctively . . . There was a broken bridge... between the mentality and moral code of this father and son. They spoke a different language....

Und er wagt sogar eine so radikale Verallgemeinerung wie (p. 122): In thousands of English homes, I imagine — indeed, I am sure — there has been this clash of ideas between parents and children, this tug of war between two different cones of character and conduct, this claim to absolute liberty by youth resisting and ridiculing all restraint or authority on the part of those to whom, in an older code, they owed obedience and duty. Those two words — obedience and duty — are sufficient in themselves to show how the old bridges have broken down. They do not enter into the language or mentality of this post-war generation.

Neuerdings hat dann noch L. W. V e d r e n n e in seinem Roman "This Generation" (London 1927) mit noch ausgesprocheneren Sympathien für die Jungen den Konflikt zwischen einem Großkaufmann und seinem Sohn behandelt, der gegen den Willen seines Vaters ein einfaches Mädchen von der "deadly, apathetic indifference of her parents" (p. 125) durch Heirat befreien will. Nach einem Zusammenstoß, Mann gegen Mannfp. 232: "They stood close together in the sunlight, both neat in dress and both showing in their attitude a suggestive pugnacity") erklärt der Vater dem Sohn, der Kleinkaufmann werden will, den finanziellen Krieg: "I don't hate you, John! You've gone against me, making yourself something I don't want you to be, and I'm doing m y best with every weapon I can reach to bring you back to my ways" (p. 252). Der Sohn aber nimmt den Kampf gegen das Geld seines Vaters auf und bejaht mutig "his own near struggle against his father and his father's deep ambition. He mounted the stairs

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to his room, mounting in his imagination the breach that led to battle. There was battle ahead of him, and he found a great joy in the act of living!" (p. 205). Im Verein mit Gilbert, dem etwas verbummelten älteren Freund des jungen John, der noch nicht zu „dieser Generation" gehört, nicht den Schwung hat, die alte Generation schaffend zu überwinden, und allzu nachlässig über seinen Vater spöttelt: "I've got a father living, whom I don't respect ; no one ever sees him, he's very old indeed, and he's given away his soul to the worship of inanimate objects" (p. 126), zwingt der junge John seinen Vater endlich zum Verständnis und zur Nachgiebigkeit : "Beaten down by his fear of being cut off from youth" geht der Alte zu den Jungen über und gönnt ihnen ihr eigenes Leben. Auffallend selten ist der Fall, daß das Erlebnis des Krieges von einem Dichter mit dem des Vater—Sohn-Konflikts zusammengebracht wird; im Grunde sind nur drei außerdeutsche Behandlungen dieses Themas zu nennen: die eine ist der tragikomische Einakter eines 34jährigen englischen Kriegsteilnehmers, "The Boy Comes Home" von A. A. Milne (Urauff. London 9. 9. 1918), wo allerdings nicht direkt ein Vater, sondern ein Ziehvater, ein tyrannischer Bureaukrat von Onkel, dem nach Friedensschluß heimkehrenden Soldaten rechthaberisch und bevormundend entgegentritt ; dem Alten träumt darauf, es drohe — mit Revolver und Handgranaten spielend — der junge Offizier im Namen der Kriegsgeneration den Alten mit Vernichtung, falls sie ihr tyrannisches Vorkriegsregiment jetzt weiterzuführen gedächten. Eine edlere und fast klassische Form hat dasselbe Thema — nicht nach Friedensschluß verlegt, sondern in einen fünfstündigen Fronturlaub, an dessen Ende der sichere Tod steht — angenommen in des französischen Pazifisten Paul R a y n a l Tragödie „Le Tombeau Sous l'Arc de Triomphe" (1923), die über fast alle Bühnen Europas ging : Ein Urlauber findet zu Hause seinen Vater in behaglichem Patriotismus mit des Sohnes Braut zusammenlebend; schon als bei des kriegsmüden Sohnes Ankunft das Mädchen nur für diesen Augen hat, empfindet der Vater eine Art entrüsteter Eifersucht; als vollends die Jungen sich in Liebe vereinigen, bricht sein grenzenlos anmaßender Egoismus in wütende Entrüstung aus. Jetzt endlich gehen dem Sohn die Augen auf — „Je te reconnais" (Paris 1927, p. 228) — und er wundert sich: „Et je t'ai dit Papa lorsque j' étais petit!" Und als der Vater dem Mann, der im Feld für ihn in den Tod geht, autoritär entgegenhält (p. 229): „Un fils reçoit des leçons, et non des offenses", eröffnet ihm der Sohn, der Krieg habe das Vater—Sohn-Verhältnis umgestürzt: die Söhne seien jetzt zu Vätern ihrer Väter geworden (p. 229/31; 237/8) L u i : Que m'importe des vociférations! Le triste, c'est que je ne t'estime pas. Je ne t'ai jamais estimé... 6*

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L e V i e u x : . . . A qui parles t u ? L u i : A un vieil homme sans clairvoyance ni bonté. L e V i e u x : J e suis ton père! L u i : Qu'est ce que ça veut dire? Que ma mère était jolie et riche, et qu'elle t'a aimé. La paternité, pour toi, n'a pas representé autre chose. Quand elle se résume dans un incident physiologique, tu comptes que je vais me pâmer de vénération dès que tu l'invoqueras î . . . Tu ambitionnes mon respect ? Qui de nous deux en doit à l'autre? Pourquoi respecte t'on les pères, les vieillards? Parce qu'ils sont aux portes poignantes de la mort ? Tu as un paquet d'années à trainer sur la terre, et moi il ne me reste . . . peut être pas une semaine . . . Tu m'as transmis un jour, sans y penser, la vie. Chaque jour je préserve la tienne. Que parles tu de ta paternité encore ! Les rôles sont intervertis. Tu n'as rien, qui ne vienne de moi. C'est moi qui suis ton p è r e . . . Comment soutiendrais t u seulement mon regard? J e suis ton bienfaiteur, que tu as t r a h i . . . J e te sauve. E t tu me hais. L e V i e u x : Non. J e . . . L u i : Tu me hais.

Le Vieux (emporté): Oui! L u i : Allons, tout se dira, cette fois. L e V i e u x (haineusement): Ou plutôt je constate ta haine. Entre nous il ne reste plus qu'elle...

Als aber im Namen der großen Menschheit der Sohn Anklage erhebt gegen die „Väter", die immer wieder Kriege und Schlachten lenken werden, indem sie das Blut der Jungen opfern, ohne je in den eigenen geheiligten Egoismus Zweifel zu setzen, da bricht vor solcher Verantwortung der Alte in reuiger Schuld zusammen vor dem Sohn, dem der sichere Tod bevorsteht, und der Scheidende verzeiht. Den „Alten" gleichen Schlags, die das Sterben der Jungen im Krieg zwar bedauern, aber jene darob preisen, daß sie die Sorgen des Lebens nicht mehr zu ertragen brauchen (so Alice Meynell 1916 in „Length of Days") und zum Ruhm des Vaterlands sterben durften, ihnen wettert der Lyriker O s b e r t S i t w e l l in der Schlußstrophe seines "Youth and Age" (in " Wheels 1918" Third Cycle. Edited by Edith Sitwell. Oxford; p. 16) entgegen: And thus eternally old age shall sit Mouthing youth's sorrows for its benefit. Why can't the old keep quiet, and sit and sigh ? Or, failing that, why can't they fail and die ?

Wie überraschend leicht aber viele Eltern innerlich über den „Heldentod" ihrer Söhne hinwegfanden — eine Entdeckung, die R i c h a r d A l d i n g t o n in seinem mächtigen Antikriegsroman "Death of a Hero" (1929) mit zynischer Verbitterung nachweist — würde selbst manchen illusionslosen Sohn noch staunen gemacht haben : "It would have freed him from certain feelings of responsibility" (p. 4); aber obwohl Aldington's George innerlich gar nichts mit seiner sinnlich-materialistischen Mutter verband

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(„He had such a dislike for his mother that he hadn't seen her jive times in the last five years of his life" p. 13), stößt sie bei seinem Tod hochpathetische Klagerufe aus, die sie — in sentimental empörter „Mutterliebe" — wiederholt, als ein Teil von Georges Vermögen seiner Gattin zugesprochen wird: "Why! wasn't her baby son hers ? Hadn't she borne him, and therefore established complete possession of him and his for the rest of her natural life? What can any woman mean to a Man in comparison with his Mother?" (p. 15). Auch Georges Gattin litt unter einer ähnlich widerlichen Mutter; schon am ersten Abend ihrer Bekanntschaft hatte sie ihm erklärt, weshalb sie allein lebe: "Anything is better than being at home. I don't mind my father, but my mother makes me so nervous when I'm at home that I feel I shall just die if I have to be any longer with her. I am glad you hate your parents, at least one of them. It is so important to recognise these antipathies, which are after all perfectly natural. Most animals hate their mature young. I remember I used to watch the young robins exterminating their fathers, and think how right it was. But it ought to be the mothers. Men sometimes leave each other alone (p. 151).

Und nur weil sie einander ganz unabhängig, männlich frei und ohne gegenseitige Ansprüche gegenüberstehen, sind „Hauptmann Sorrell und sein Sohn" in dem gleichnamigen, in England in drei Jahren durch eine Viertelmillion von Exemplaren verbreiteten Nachkriegsroman von W a r w i c k D e e p i n g (geb. 1877) durch so starke, wortkarge Zuneigung verbunden. In S p a n i e n nahm 1918 J a c i n t o Grau D e l g a d o (geb. 1877) in seinem Meisterdrama „El Hijo pródigo" den Stoff glücklich auf, mit dem 1857 sein Landsmann, der große Prosaist und Ausreißer aus dem Elternhaus, Pedro Antonio de Alarcón, Schiffbruch erlitten hatte: bei Grau ist der gehorsame ältere Sohn ein herzlos harter, neidischer Mensch, dessen Braut mit Recht ihre Sympathien dem liebenswürdig heiteren verlorenen Sohn ebenso zuwendet wie es auch die unbefriedigte Elda, die zweite Frau des greisen Vaters, tut. Sonst bietet das neue spanische Drama die verschiedensten Auffassungen des Vater—Sohn-Problems: 1924 übernahm Gregorio Martínez Sierra den 1909 von B e n a v e n t e aufgeworfenen Sohn—Mutter-Konflikt in sein Schauspiel „La Torre de Marfil", während jener in „Lecciones de Buen Amor" gleichzeitig den Eltern zeigte, was sie ihren Kindern schuldig seien. Dagegen verdammte F e r n á n d e z del Villar in seinem romantisch-pietätvollen Thesenstück „La educación de los padres" (Erstauff. Madrid 31. 1. 1930) die studierten Söhne, die sich ihren ungebildeten Vätern überlegen fühlen, und verlangte, wie einst Wordsworth, daß die Söhne nie mehr lernen sollten als ihre Väter: „la educación de los hijos no debe ser superior a la de los padres

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para que no desmerezcan de ellos"; schließlich hat der unsres Erachtens am meisten versprechende Dramatiker nicht nur der katalanischen, sondern der gesamtspanischen jungen Literatur, der Pessimist MillàsR a u r e l l , in seinem Stück „Eis Fills" (1928; = die Söhne) das grausame Gesetz, daß der Sohn den Vater undankbar verlasse, so lange mitleidlos variiert, bis nach dem Auszug des letzten Sohns über dem vereinsamten Vater der Vorhang sich schließt. Diese notwendige Trennung von den Eltern hatte in F r a n k r e i c h schon 1916 P a u l Géraldy (geb. 1885) in seinem bisher besten Drama „Noces d'argent" dargestellt, ohne sich um das unversöhnliche Beleidigtsein der Eltern seines Helden zu kümmern; und es kann als außerordentlich charakteristisch gelten, daß man gerade jetzt, zu Anfang der 20er Jahre, sieh wieder eines längst vergessenen Romanciers besann und ihn neu herausgab, des Revolutionärs J u l e s V a l l è s (1833—85), der 1879 und 1881 in den beiden ersten Bänden („L'Enfant"; „Le Bachelier") seiner Trilogie „Jacques Vingtras" einen fast dem gleichzeitigen Samuel Butler ebenbürtigen Haß gegen die Eltern proklamierte. Da wir auf Vallès im I. Teil nicht eingingen, sei hier nachtragend ein Blick seinem Werk gewährt, das der Dichter all denen widmete „qu'on fit pleurer dans la famille, qui, pendant leur enfance, furent tyrannisés par leurs maîtres ou rossés par leurs parents." Um, wie es der Dichter und sein Held taten (III. Band: „L'Insurgé"), die Barrikaden der Kommune von 1871 zu bauen für die sozial-demokratische Republik, auf deren Seite „seront tous les fils que leur père a suppliciés injustement" (Paris 1924; II, 60), bedarf es einer Jugend, verdüstert vom Mordwunsch der Eltern gegen die Kinder (I, 39/40), von Abendspaziergängen in Familie, denen man Zuchthausstrafen vorzöge (I, 256), von grausamen Vätern (I, 284: „Assassins! assassins!"), deren einer in spartanischem Pathos sein lOjähriges Töchterchen in den Tod prügelt (so auch noch 1928 bei I s o l d e K u r z ein sanguinischer Vater seinen phantasievollen 10jährigen Sohn; „Nachbars Werner") >,Et on ne l'a pas guillotiné, ce père-là! on ne lui a pas appliqué la peine du talion à cet assassin de son enfant, on n'a pas supplicié ce lâche, on ne l'a pas enterré vivant à côté de la petite morte" (I, 281).

Im Gegensatz zu der vollständig unmenschlichen, verhaßten Mutter1) *) Wenn Jacques „Mutter" zu dieser Frau sagt, die ihn nach dem Autoritätsprinzip „II ne faut pas que lesen fants ainent de volonté" (I, 51) erzieht, so fühlt er, daß er nichts dabei empfindet, daß er es nur tut "pour faire comme dans les livres" (1,115), denn Mütter seien eigentlich entbehrlich . . . „une trique remplacerait assez bien la mienne"; endlich sagt er ihr alles, was er von ihr hält, und schließt mit den Worten : "je ne serai content, voulez-vous le savoir, que le jour où je serai loin de vous!" (I, 351).

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ist der Vater des Helden, ein Opfer seines engen Beamtenberufs, zu Anfang und am Schluß immerhin mitfühlend und sympathisch geschildert. Sie werden „deux ennemis" (II, 142), seit der Vater seine blinde Wut am Sohn ausläßt („II me sangle à coups de cravache, il me rosse à coups de canne sous le moindre prétexte" I, 202) und seit er sich auf das altrömische Recht beruft, er könne seinen Sohn töten, wann es ihm beliebe (I, 366); im Fall einer Flucht werde er ihn als Minderjährigen („Loi infâme: qui met le fils sous le talon du père jusqu'à vingt-un ans!" II, 166) arretieren lassen (I, 377). Aber als der Vater gegen den Sohn, der einfacher Arbeiter werden möchte, zornbebend die Hand erhebt („L'abîme est creusé, — il va arriver un malheur" I, 382) und ihm droht: „ J e te casserai les reins et les jambes" (I, 387), da plötzlich wird Jacques zum Manne und er erwidert: „vous ne me toucherez point. C'est trop tard; je suis trop grand. BAS L E S MAINS! OU GARE A VOUS!" Was er sich damals zuschwor („Je défendrai le DROIT DE L'ENFANT, comme d'autres les DROITS DE L'HOMME. Je demanderai si les perès ont liberté de vie et de mort sur le corps et l'âme de leur fils" I, 388), das wiederholt er später an der Leiche seines Vaters: „si je suis un homme, c'est parce que dès l'enfance je me suis révolté — même contre vous" (II, 424). Aber kehren wir zur Gegenwart zurück! Zur Gruppe der jungen Franzosen stieß nach dem Krieg auch der immer noch jugendfrische André Gide, der nach wie vor der Erzfeind der nationalistischen Pietätsapostel blieb und der ihnen in seinem großen Roman "Les Faux-Monnayeurs" (Paris 1925) mehr als einen Hieb verabreichte : Schon in den Entwürfen zu dem Roman konzipierte er die Gestalt jenes glücklichen jungen Bernard, glücklich, weil er nicht mit einem Vater geplagt ist; in einer Notiz vom 5. 1. 1925 schreibt er („Tagebuch der Falschmünzer" übers. F. Hardekopf. Bln. Lpz. 1929, p. 65): Bernard wird von einem Traditions-Apostel (dem die Tatsache von Bernards außerehelicher Geburt unbekannt ist) belehrt, ein Jeglicher, der sein Leben klug zu führen wünsche, müsse in den Fußtapfen seines Vaters wandeln, u s w . . . . Bernard wagt seinenEinwand nicht zu äußern: „Wenn man diesen Va ter aber gar nicht kennt... ! ? " — Er beginnt sich alsbald eines Nicht-Kennens zu freuen, das ihm erlaubt, sein moralisches Gesetz einzig in sich selbst zu suchen.

Aus diesem Grunde verzichtet er in der endgültigen Fassung (p. 10) auch darauf, nachzuforschen, wer sein Vater ist: „Ne pas savoir qui est son père, c'est ça qui guérit de la peur de lui ressembler. Toute recherche oblige. Ne retenons de ceci que la délivrance. N'approfondissons pas." Und im Gegensatz zu der unerregten Gleichgültigkeit, mit der etwa der Literatursnob Passavant nach längerem angeregtem Gespräch über Literatur sich beiläufig seines soeben gestorbenen Vaters erinnert (p. 55),

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steigert Bernard seine Vaterlosigkeit noch zu einem programmatischen Kampf gegen den Aberglauben von der „Stimme des Bluts" (p. 255): „Et je ne crois pas, au contraire, à ce qu'on appelle si bêtement »la voix du sang«. Oui, je crois que cette fameuse voix n'est qu'un mythe. J'ai lu que, chez certaines peuplades des îles de l'Océanie, c'est la coutume d'adopter les enfants d'autrui, et que ces enfants adoptés sont souvent préférés aux autres." Daß Gide selbst ähnliche Ansichten hegt, deutet er durch erlesen pietätlose Aussprüche fremder Autoren an, die er als Motti über einige Kapitel seines Romans setzte, so z. B. über Kapitel I, 2 einen seine These vom „verlorenen Sohn" bekräftigenden Auszug aus Paul Desjardins „Poussin"-Buch : „II n'y a point de trace, dans les lettres de Poussin, d'aucune obligation qu'il aurait eue à ses parents. Jamais dans la suite il ne marqua de regrets de s'être éloigné d'eux. Transplanté volontairement à Rome, il perdit tout désir de retour, on dirait même tout souvenir." Indem wir noch auf den Roman „Adrienne Mesurât" des französisch schreibenden Amerikaners und zweifachen Literaturpreisträgers J u l i e n Green hinweisen, wo die Titelheldin ihren Vater mit Mordabsicht rückwärts die Treppe hinabwirft, — ähnlich wie in André Gides „Les Caves du Vatican" (1914) Lafcadio seinen alten Schwager aus dem Eilzugsabteil in den Abgrund und in Philippe Soupaults Roman „En joue" (1925) Julien seinen Paten ins Meer wirft, — gehen wir zu der neuesten bedeutenderen Fassung über, die das Vater—Sohn-Motiv in der französischen Literatur gefunden hat, zu Roger Martin Du G a r d ' s (geb. 1881) Romanzyklus „Les Thibault" (seit 1922), dessen Hauptheld Jacques mehr als einmal an Gides „Falschmünzer" erinnert, welch letzteren Roman Gide übrigens seinem Freunde Martin Du Gard zueignete. Jacques Thibault ist mit seinem Kameraden Daniel der Marseiller Schule und indirekt dem tyrannisch-pietistischen Vater entflohen, einem fanatischen Katholiken, dem Stifter einer Besserungsanstalt für mißratene Kinder, in die er jetzt gleich den eigenen Sohn stecken kann, den er nach seiner Einfangung wie einen Sträfling behandelt. Obwohl ihn sein verständiger älterer Bruder Antoine, ein frei denkender Arzt, endlich aus der Anstalt losreißt, verschwindet Jacques abermals; diesmal hält ihn der Vater, dessen Krankheit den vierten, sein Nichtsterbenkönnen den fünften und sein endlicher Tod den sechsten Band des Zyklus gigantisch ausfüllen, für tot und stirbt, bereuend, wie wenig nah er dem eigenen Sohn gekommen sei (VI: „La Mort du Père" Paris 1929): J'ai eu deux fils. Ils m'ont respecté, ils m'ont craint ; mais, dès l'enfance, ils se sont écartés de moi... Orgueil, orgueil 1 Le mien; le leur... Pourtant, est-ce que je n'ai pas fait tout ce que devais ? Est-ce que je ne les ai pas, dès le plus jeune âge, confiés à l'église ? Est-ce que je n'ai pas veillé à leur éducation, à leur instruction ? Ingratitude..

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Mon Dieu, jugez-moi; est-ce ma faute? . . . Jacques s'est toujours dressé contre moi. Jusqu'à son dernier jour, jusqu' à la veille de sa mort !

Der Vater stirbt am Morphiumgift, das ihm sein älterer Sohn, der Arzt, aus Mitleid gibt; Jacques taucht am Sterbebett des grausig Verscheidenden auf, zu spät, um den seltsamen Alten, der die Briefe seiner Söhne pietätvoll sammelte und ein zwiespältiges Testament hinterließ, endlich kennen zu lernen. Jacques erkennt, daß die Kluft zwischen Sohn und Vater unübersteigbar sei, daß „un pauvre homme, peut-être, venait de mourir; que cet homme était son père, et qu'il l'avait entièrement ignoré Quand nous nous trouvions en face l'un de l'autre, il y avait là tête-à-tête deux hommes de même sang, de même nature, et entre ces deux hommes, entre ce père et ce fils, aucun langage pour communiquer, aucune possibilité d'échange: deux étrangers!" Mit diesen hoffnungslos klingenden Sätzen schließen wir unsere Betrachtung ab. Läßt sich der in so unversöhnliche Extreme auseinandergespaltene Abgrund je überbrücken ? Gibt es jenseits von These und Antithese eine Synthese, ein „drittes Reich" ? Möge Rudolf Kassner („Die drei Reiche", a.a.O.p. 278) recht behalten, der—vielleicht der Schlußverse des Rilkegedichts „David singt vor Saul" (Ges. W. I I I , 21) gedenkend — die Ansicht aussprach, „daß die Psychologie mit ihrem Vater und Sohn-Motiv, dem Vaterkomplex usw. in eine Sackgasse geraten sei, vielmehr den Menschen in eine solche gebracht habe und daß es die Aufgabe der Physiognomik oder dessen, was wir so nennen, sei, ihm daraus herauszuhelfen und damit nicht nur den Sohn, sondern auch den Vater zu retten. Die letzte Absicht der Gestalt oder des heiligen, unverletzlichen Antlitzes oder der Ebenbildschaft ist nicht der Vater und nicht der Sohn, sondern der Mensch, oder, was dasselbe ist, der Vater im Sohn und der Sohn im Vater."

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Wals II

STOFF- UND M O T I V G E S C H I C H T E DER D E U T S C H E N LITERATUR Herausgegeben von P A U L M E R K E R und G E R H A R D

LÜDTKE.

Es handelt sich um ein groß angelegtes Sammelwerk, bestehend aus Reihen von Einzelheften darstellender Art, die je einen vielbehandelten Stoff oder ein häufiger wiederkehrendes Motiv auf ihrem Schicksalsgang innerhalb der deutschen Literaturgeschichte verfolgen. Die behandelten und ausgewerteten Dichtungsinhalte sollen als Exponenten der jeweiligen Kulturstimmung und Stilrichtung erscheinen und somit Bausteine zur Geschichte des geistigen Lebens und der seelischen Entwicklung des deutschen Volkes bilden. Das Gesamtwerk wird in Einzelheften von je etwa drei Rogen Lexikonformat ausgegeben. Jedes Heft, das im Rahmen des Gesamtunternehmens selbständig unter dem Namen des Verfassers erscheint, ist einzelkäuflich zu erwerben. Bisher sind erschienen : 1. Die Jungfrau von Orleans in der Dichtung. Von W I L H E L M Groß-Oktav. IX. 74 Seiten. 1929.

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2. Tristan und Isolde in der französischen und deutschen Dichtung des Mittelalters und der Neuzeit. Von W O L F G A N G G O L T H E R . Groß-Oktav. VI, 72 Seiten. 1929. RM 4 — 3.Julianus Apostata in der deutschen Literatur. Von K Ä T E P H I L I P . GroßOktav. IV, 78 Seiten. 1929. R M 5.— 4. Parzival in der deutschen Literatur. Von W O L F G A N G G O L T H E R . Groß-Oktav. VI, 64 Seiten. 1929. R M 5.— 5. Heidelberg als Stoff und Motiv der deutschen Dichtung. Von R U D O L F K. G O L D S C H M I T . Groß-Oktav. VI, 74 Seiten. 1930. R M 4.— 6. Ahasverus, der ewige Jude- Von W E R N E R Z I R U S . Groß-Oktav. IV, 73 Seiten. 1930. R M 5.— 7. Das Judith-Motiv in der deutschen Literatur. Von O T T O B A L T Z E R . Groß-Oktav. IV, 62 Seiten. 1930. R M 5.— 8. Napoleon in der deutschen Literatur. Von M I L I A N S C H Ü M A N N . Groß-Oktav. V I I I , 87 Seiten. 1930. RM 7 — 9. Dido in der deutschen Dichtung. V, 95 Seiten. 1930.

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