Das Universum hinter dem Stacheldraht. Memoiren eines sowjet-ukrainischen Dissidenten [1. ed.] 9783838218052, 9783838218076, 9783838218199, 9783838218106, 9783838278063


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German Pages 564 [574] Year 2023

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung zur ukrainischen Ausgabe
Einleitung zur deutschen Ausgabe
I. In der Rolle eines ins Licht fliegenden Schmetterlings
1. Die Grundsteinlegung des Schicksals
Die Familie als Verhängnis und Glücksbringer
Bestäubung mit der Epoche der »Sechziger«
Dem Dienst für Richelieu ausweichen
Die Erfahrung weiterer Prüfungen
2. Endlich in Kyjiw
Burlak
Persönlichkeiten »meines« Kyjiws
Im Milieu der ukrainischen »Fronde«
3. Die Epoche der »Helsinki-Bewegung«
Dem Ruf der Zeit folgen
Über die Gründungsmitglieder der Gruppe und ihre
Dokumente
II. Die Zeit des Unrecht-Gerichtes
1. Verhaftung und Untersuchungshaft
»So sieht es also aus!«
Und zu jener Zeit in Freiheit …
Wendepunkte des Schicksals
Auch Tyrannen haben Angst
2. Das Gericht
Intermezzo 1: Die Etappe ins Lager
III. Das Universum hinter dem Stacheldraht
1. Das Arbeitslager aus der Nähe
Der Lageplan des Lagers
Natur und Klima
Das Kontingent der Häftlinge
Verwaltung und Aufseher
Lageralltag und Tagesablauf
2. In den Zangen des strengen Vollzugs
Lagerverpflegung
Briefwechsel
Wiedersehen mit den Verwandten
Lagermedizin
Umerziehung durch Zwangsarbeit
3. An der Spitze des Kampfes
Im Kampf für Würde und Rechte
Das nationale Leben im Lager
Das religiöse Leben in der »Zone«
4. Als die Seele den Stacheldraht berührte
Die Bildung einer persönlichen Weltanschauung
Blanker Seelennerv
Das Lied des Herzens
Intermezzo 2: Die Etappe in die Verbannung
IV. Unter den Kasachen
1. Sich einen Platz an der kasachischen Sonne erkämpfen
2. Hilfe der Verwandten und Einrichtung des Alltags
3. Meine Wohnung in der Verbannung
4. Im Kaleidoskop von Verlust und Gewinn
5. Alltag und Feiertage im Jahr 1985
6. Alltag und Feiertage im Jahr 1986
Intermezzo 3: Wieder an der Schwelle eines neuen Lebens
V. Schlussfolgerungen
1. Der Preis des Wachstums in Freiheit
2. Zur Frage der Genese des ukrainischen Dissidententums
3. Die Werte des Dissidententums und die Gegenwart
4. Das »Bermudadreieck« des Dissidententums:
Verbrechen, Strafe und Vergebung
5. Der Kommunismus auf der Anklagebank
Das Evangelium eines Narren in Christo
Dank
Nachwort
Abkürzungen und Worterklärungen
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Das Universum hinter dem Stacheldraht. Memoiren eines sowjet-ukrainischen Dissidenten [1. ed.]
 9783838218052, 9783838218076, 9783838218199, 9783838218106, 9783838278063

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Myroslaw Marynowytsch

Das Universum hinter dem Stacheldraht Memoiren eines sowjet-ukrainischen Dissidenten

Mit einem Vorwort von Timothy Snyder und Nachwort von Max Hartmann

UKRAINIAN VOICES Collected by Andreas Umland 39

Sasha Dovzhyk (Ed.) Ukraine Lab

Global Security, Environment, Disinformation Through the Prism of Ukraine With a foreword by Rory Finnin ISBN 978-3-8382-1805-2

40

Serhiy Kvit Media, History, and Education

Three Ways to Ukrainian Independence With a preface by Diane Francis ISBN 978-3-8382-1807-6

41

Anna Romandash Women of Ukraine

Reportages from the War and Beyond ISBN 978-3-8382-1819-9

42

Dominika Rank Matzewe in meinem Garten

Abenteuer eines jüdischen Heritage-Touristen in der Ukraine ISBN 978-3-8382-1810-6

The book series “Ukrainian Voices” publishes English- and German-language monographs, edited volumes, document collections, and anthologies of articles authored and composed by Ukrainian politicians, intellectuals, activists, officials, researchers, and diplomats. The series’ aim is to introduce Western and other audiences to Ukrainian explorations, deliberations and interpretations of historic and current, domestic, and international affairs. The purpose of these books is to make non-Ukrainian readers familiar with how some prominent Ukrainians approach, view and assess their country’s development and position in the world. The series was founded, and the volumes are collected by Andreas Umland, Dr. phil. (FU Berlin), Ph. D. (Cambridge), Associate Professor of Politics at the Kyiv-Mohyla Academy and an Analyst in the Stockholm Centre for Eastern European Studies at the Swedish Institute of International Affairs.

Myroslaw Marynowytsch

DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Memoiren eines sowjet-ukrainischen Dissidenten

Mit einem Vorwort von Timothy Snyder und Nachwort von Max Hartmann

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internet at http://dnb.d-nb.de.

Coverentwurf nach Mikhailo Heina

ISBN-13: 978-3-8382-7806-3 © ibidem-Verlag, Stuttgart 2023 Alle Rechte vorbehalten Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und elektronische Speicherformen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, stored in or introduced into a retrieval system, or transmitted, in any form, or by any means (electronical, mechanical, photocopying, recording or otherwise) without the prior written permission of the publisher. Any person who does any unauthorized act in relation to this publication may be liable to criminal prosecution and civil claims for damages.

Meinen Allerliebsten gewidmet: Mama Ljuba, Schwester Nadijka und Ehefrau Ljuba, und ebenso allen, die es wagten, den Verfolgten zu lieben, den »besonders Gefährlichen« nicht zu meiden, und den Verurteilten zu begnadigen.

Inhalt Inhalt................................................................................................................ 7 Vorwort ......................................................................................................... 11 Einleitung zur ukrainischen Ausgabe ................................................... 33 Einleitung zur deutschen Ausgabe ........................................................ 35 I.

In der Rolle eines ins Licht fliegenden Schmetterlings ........... 39 1.

Die Grundsteinlegung des Schicksals ............................... 39 Die Familie als Verhängnis und Glücksbringer............... 41 Bestäubung mit der Epoche der »Sechziger« ................... 68 Dem Dienst für Richelieu ausweichen .............................. 76 Die Erfahrung weiterer Prüfungen ................................... 93

2.

Endlich in Kyjiw................................................................. 101 Burlak .................................................................................. 101 Persönlichkeiten »meines« Kyjiws .................................. 111 Im Milieu der ukrainischen »Fronde«............................. 127

3.

Die Epoche der »Helsinki-Bewegung« ........................... 138 Dem Ruf der Zeit folgen ................................................... 138 Über die Gründungsmitglieder der Gruppe und ihre Dokumente ......................................................................... 144

II. Die Zeit des Unrecht-Gerichtes .................................................... 195 1.

Verhaftung und Untersuchungshaft ............................... 195 »So sieht es also aus!« ........................................................ 195 Und zu jener Zeit in Freiheit … ....................................... 212 Wendepunkte des Schicksals ........................................... 217 Auch Tyrannen haben Angst ........................................... 224

2.

Das Gericht ......................................................................... 229

Intermezzo 1: Die Etappe ins Lager ........................................ 241

7

III. Das Universum hinter dem Stacheldraht .................................. 251 1.

Das Arbeitslager aus der Nähe ........................................ 251 Der Lageplan des Lagers .................................................. 253 Natur und Klima ................................................................ 256 Das Kontingent der Häftlinge .......................................... 260 Verwaltung und Aufseher ................................................ 269 Lageralltag und Tagesablauf ............................................ 278

2.

In den Zangen des strengen Vollzugs............................. 288 Lagerverpflegung .............................................................. 288 Briefwechsel........................................................................ 296 Wiedersehen mit den Verwandten.................................. 303 Lagermedizin ..................................................................... 311 Umerziehung durch Zwangsarbeit ................................. 322

3.

An der Spitze des Kampfes .............................................. 332 Im Kampf für Würde und Rechte .................................... 336 Das nationale Leben im Lager.......................................... 365 Das religiöse Leben in der »Zone« .................................. 378

4. Als die Seele den Stacheldraht berührte ............................. 406 Die Bildung einer persönlichen Weltanschauung ......... 406 Blanker Seelennerv ............................................................ 413 Das Lied des Herzens ........................................................ 419 Intermezzo 2: Die Etappe in die Verbannung........................ 429 IV. Unter den Kasachen........................................................................ 439 1.

Sich einen Platz an der kasachischen Sonne erkämpfen .............................................................................................. 439

2.

Hilfe der Verwandten und Einrichtung des Alltags ..... 452

3.

Meine Wohnung in der Verbannung .............................. 455

4.

Im Kaleidoskop von Verlust und Gewinn ..................... 464

5.

Alltag und Feiertage im Jahr 1985 ................................... 471

6.

Alltag und Feiertage im Jahr 1986 ................................... 482

Intermezzo 3: Wieder an der Schwelle eines neuen Lebens 495 8

V. Schlussfolgerungen ......................................................................... 515 1.

Der Preis des Wachstums in Freiheit .............................. 515

2.

Zur Frage der Genese des ukrainischen Dissidententums .............................................................................................. 521

3.

Die Werte des Dissidententums und die Gegenwart ... 527

4.

Das »Bermudadreieck« des Dissidententums: Verbrechen, Strafe und Vergebung ................................. 533

5.

Der Kommunismus auf der Anklagebank ..................... 539

Das Evangelium eines Narren in Christo ........................................... 549 Dank ............................................................................................................ 555 Nachwort .................................................................................................... 557 Abkürzungen und Worterklärungen................................................... 561

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Vorwort Ein junger Mann namens Myroslaw Marynowytsch wurde 1977 verhaftet, weil er die Wahrheit über sein Land gesagt hatte. Das Verbrechen, für das er verurteilt wurde, war die Verbreitung von Bulletins über Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetukraine. Als er mit achtundzwanzig Jahren verhaftet wurde, war er Agnostiker. Als er ein Jahrzehnt später freigelassen wurde, war er ein christlicher Ethiker und politischer Denker. Diese Memoiren sind ein bescheidener und demütiger Bericht über einen Mann, der in der Hölle reifte. In den 1970er-Jahren stellten die Menschenrechte eine unerwartete Herausforderung für die sowjetische Macht dar. Zusammen mit den Vereinigten Staaten, Kanada und allen europäischen Staaten außer Albanien unterzeichnete die UdSSR 1975 die Schlussakte von Helsinki. Dieser Vertrag war ein Wendepunkt im Kalten Krieg. Er bestätigte die bestehenden Grenzen, bereitete den Weg für Rüstungskontrollverhandlungen und bekräftigte die Menschenrechte. In der Sowjetunion und ihren osteuropäischen Satellitenstaaten griffen die Bürger das Konzept der Menschenrechte auf, um ihr eigenes öffentliches Handeln zu definieren. Wenn die Menschenrechte nun das Gesetz des Landes seien, so ihre Argumentation, müsse es auch legal sein, Verstöße zu dokumentieren. Die Ukrainische Helsinki-Gruppe, der Marynowytsch 1976 beitrat, folgte dieser Logik. Ihre Mitglieder veröffentlichten Nachrichten über die Schikanen, Verhaftungen, Prozesse und Verurteilungen von Sowjetbürgern. Die Tätigkeit dieser Ukrainischen Helsinki-Gruppe führte unmittelbar zur Verfolgung ihrer Mitglieder, die dann von den Verbliebenen aufgezeichnet wurde. Das Milieu war loyal: Einige der Verhafteten weigerten sich überhaupt Fragen zu beantworten; Marynowytsch behauptete, er sei persönlich für alle Aktivitäten der Gruppe verantwortlich. Myroslaw Marynowytsch wurde am 23. April 1977 verhaftet, fast ein Jahr lang verhört und am 22. März 1978 vor Gericht gestellt. Er wurde zu sieben Jahren Gulag und zu fünf weiteren Jahren 11

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DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT

interner Verbannung verurteilt. Die Einrichtung, in die er geschickt wurde, Perm-36, war vielleicht das berüchtigtste Lager seiner Zeit. In den 1970er- und 1980er-Jahren wurde es für Personen genutzt, die »besonders gefährliche Verbrechen gegen den Staat« begangen hatten, d. h. für Gefangene aus Gewissensgründen. In Perm-36 waren zu dieser Zeit, wie im gesamten Gulag, überproportional viele Ukrainer inhaftiert. Marynowytsch wurde am 14. Mai 1984 aus Perm-36 entlassen und ins innere Exil nach Kasachstan geschickt. Im Jahr darauf wurde Michail Gorbatschow Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. In einer Zeit der Reformen wurde die Bestrafung politischer Gefangener zu einer peinlichen Angelegenheit. Marynowytsch weigerte sich Anfang 1987 einen Antrag auf Amnestie zu stellen, wurde aber noch im selben Jahr zusammen mit anderen Dissidenten freigelassen. Er kehrte aus Kasachstan in die Ukraine zurück, wo er das Ende der Sowjetunion im Dezember 1991 miterlebte. In der unabhängigen Ukraine setzte er sein bürgerliches Engagement fort, das in seiner Arbeit als Dozent und Verwalter der Ukrainischen Katholischen Universität in Lemberg gipfelte. Obwohl diese Memoiren mit Marynowytschs frühem Leben beginnen und mit seiner Zeit in Kasachstan enden, stehen die sieben Jahre im Mittelpunkt, die er als politischer Gefangener im Gulag verbrachte. Das explizite Thema ist für ihn die Bedeutung der Gefangenschaft. Ein implizites Thema ist, wie die nationale Verfolgung der Ukrainer in den 1970er-Jahren Menschen wie Marynowytsch zu einer Form der Dissidenz führte, die ein universelles Ideal beinhaltete. Das Konzept der Menschenrechte kann in seiner Abstraktion edel erscheinen: bestimmte Verpflichtungen, die jeder Staat gegenüber jedem Menschen einhalten muss und die sich aus einem ethischen Ideal ergeben, das keine Macht ändern kann. Angesichts der formalen rechtlichen Verpflichtungen, die die kommunistischen Regime 1975 in Helsinki eingegangen waren, könnten die Menschenrechte ein praktisches Instrument sein, um gegen sie vorzugehen. Doch das Edle und das Praktische erklären

VORWORT

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nicht ganz die Anziehungskraft. Die Dissidenten von damals, an die man sich heute am besten erinnert, wie z. B. Václav Havel, sprachen weniger von den Menschenrechten als Konzept oder Instrument, sondern vielmehr von ihrem Bedürfnis, den Anstand in den faden kommunistischen 1970er-Jahren zu verteidigen. Es ging um das ungestörte Leben des Einzelnen mit all seinen unberechenbaren Verpflichtungen. Die Beschäftigung mit den Menschenrechten konnte also mit nationalen Fragen zu tun haben, musste aber nicht. Wenn doch, dann war es das Gefühl, dass nationaler Ausdruck und Solidarität Teil eines normalen menschlichen Lebens sein können und untrennbar mit einer Persönlichkeit verbunden sind. Die Idee war nicht, dass jeder eine Nationalität haben muss – und schon gar nicht dieselbe –, sondern, dass die Nationalität ein Element des inneren Lebens vieler Menschen ist, sodass die Unterdrückung der Nationalität auch die Unterdrückung des Individuums bedeutet. Ein paar Schnappschüsse aus Marynowytschs Leben vor dem Gulag zeigen, wie diese beiden Themen miteinander verwoben sind. Marynowytsch wurde 1949 in einer ukrainischen Familie in der Westukraine geboren, erhielt eine ukrainische und russische Schulbildung und sprach beide Sprachen. Als hervorragender Schüler im Fach Physik wurde er 1967 zu einer Hochschulprüfung in Kyjiw, der Hauptstadt der Sowjetukraine, eingeladen. Da er wusste, dass er ein Risiko einging, aber sich und seiner Erziehung treu bleiben wollte, bat er darum, die (mündliche) Prüfung nicht auf Russisch, sondern auf Ukrainisch abzulegen. Im Prinzip war dies erlaubt, aber in der Realität wurde ihm davon abgeraten. Er erhielt eine schlechte Note, was ihn daran hinderte, zu studieren, wo und was er wollte, und was auch eine persönliche Demütigung darstellte. Hätte er sich entschieden, die Prüfung auf Russisch abzulegen, wäre vielleicht alles anders gekommen. Stattdessen studierte er am Lemberger Polytechnikum in der Westukraine. Marynowytsch fühlte sich ohnehin zu Kyjiw hingezogen, dass er als Zentrum der ukrainischen Kultur und als Hauptstadt einer zukünftigen unabhängigen Ukraine betrachtete. In den 1970er-Jahren, als Kyjiw noch eine russischsprachige Stadt war, mag dies eine romantische Vorstellung gewesen sein. Die ukrainische Sprache

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DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT

wurde mit den Provinzen und der Vergangenheit assoziiert. Nur wenige Sowjetbürger oder gar Beobachter von außen konnten sich vorstellen, dass die UdSSR noch zu ihren Lebzeiten zu Ende gehen könnte. Für Marynowytsch lag der Reiz von Kyjiw in der Anwesenheit von Ukrainern, die ihre Kultur am Ärmel trugen und damit zeigten, wer sie inmitten des Grauens um sie herum waren. Im Mai 1973 wurde er verhaftet, nachdem er Blumen am Fuße des Denkmals für den ukrainischen Nationaldichter Taras Schewtschenko niedergelegt hatte. Marynowytschs Beschreibungen des Lebens in Kyjiw in den frühen 1970er-Jahren taucht der russische Kolonialismus aus dem Inneren der Sowjetmacht auf. Marynowytsch erinnert sich an einen Kyjiwer Freund, der für seine Mutter, die gerade einen Herzinfarkt erlitten hatte, keinen Krankenwagen rufen konnte, weil der Disponent sich weigerte, einen Anruf auf Ukrainisch entgegenzunehmen. Dem verzweifelten Sohn wurde gesagt, er solle »eine menschliche Sprache sprechen«, was Russisch bedeutete. Später, als Marynowytsch im Lager war, musste er mit seiner Mutter Russisch sprechen, wenn sie ihn besuchte. Doch was bedeutet es, durch den Gebrauch seiner Muttersprache vom Hochschulzugang und vom sozialen Aufstieg ausgeschlossen zu werden, wenn diese Sprache im Prinzip offiziell unterstützt wird? Was bedeutet es, verhaftet zu werden, weil man Blumen vor einem Denkmal niederlegt, das stehen darf? Dies zeugt von einem seltsamen Kolonialismus, der keinen klaren kolonialen Auftrag hat. In den 1970er-Jahren wurde von den Ukrainern erwartet, dass sie ihre eigene Kultur als rückständig betrachten, aber es gab keinen Grund, die russische Sprache als fortschrittlich zu betrachten – außer in dem rein persönlichen Sinne, dass ihre Verwendung das Leben leichter machen würde. Zu diesem Zeitpunkt war die Grundidee, dass die sowjetische Kultur für die pragmatischen Zwecke derjenigen, die den Staat verwalteten, vereinfacht werden sollte. Was aber, wenn einige Menschen es einfacher fanden, nach ihren eigenen Vorstellungen zu leben, statt nach Bequemlichkeit und Konformität? Vor dem Hintergrund der 1970er-Jahre in der Sowjetunion lief die scheinbar abstrakte Idee der Menschenrechte darauf hinaus, dass ein Leben für individuelle Zwecke und nicht

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für die Bequemlichkeit der Mächtigen gelebt werden sollte. In dieser Situation war ein Dissident jemand, der Uniformität nicht als Selbstzweck akzeptierte. Die Ukraine stellte für die Sowjetunion von Anfang bis Ende eine Herausforderung dar. In der Tat hat die nationale Frage die Marxisten immer beschäftigt. War nationale Loyalität ein Artefakt der feudalen Vergangenheit, die mit der kapitalistischen Entwicklung verschwinden sollte und daher für die sozialistische Zukunft irrelevant war? Oder könnte die nationale Identifikation tatsächlich mit dem Kapitalismus entstehen und eine praktische Herausforderung für diejenigen darstellen, die eine internationale Revolution anstreben? Im Ersten Weltkrieg hatten sich sowohl die Arbeiter als auch die sozialistischen Führer in einem katastrophalen Konflikt, der Dutzende Millionen Menschenleben forderte, auf die Seite ihrer eigenen Nationen gestellt. Das war ein demoralisierender Schlag für die radikale Linke. Lenin zog daraus jedoch die Schlussfolgerung, dass der Kapitalismus an den Rand des Abgrunds gedrängt worden war und dass eine Revolte im rückständigen Russischen Reich die Industrienationen in die Revolution treiben und die Geschichte zu ihrer nächsten Etappe vorantreiben könnte. Die bolschewistische Revolution von 1917 sollte einen globalen Flächenbrand herbeiführen, in dessen Verlauf alle nationalen Fragen in sich zusammenfallen und die Welt sozialistisch werden würde. Sie begann mit einem Bürgerkrieg und mit Kriegen gegen die Nationen an ihren Grenzen. Sie endete in etwa innerhalb der Grenzen des Staates, in dem sie begonnen hatte, nachdem sie auf allen Seiten auf nationalen Widerstand gestoßen war. Die 1922 gegründete UdSSR war weder russisch noch global, sondern etwas dazwischen. Sie war eine Ansammlung von nationalen Gruppen in ganz Eurasien, von denen die Russen die zahlreichsten waren. Das wichtigste nicht russische Gebiet des alten Reiches war die Ukraine, die das bolschewistische Experiment vor die größten Herausforderungen stellte. Von allen nationalen Fragen in der Geschichte der kommunistischen Politik erwies sich die ukrainischrussische als die wichtigste. Im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter der

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DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT

Nationalbewegungen, waren die Gebiete der heutigen Ukraine zwischen dem Russischen Reich und der Habsburger Monarchie aufgeteilt. Die ukrainische Nationalbewegung begann in den 1820er-Jahren im Russischen Reich, in der Ost- und Zentralukraine. Taras Schewtschenko (1814–1861), der Nationaldichter, an dessen Denkmal Marynowytsch Blumen niederlegte, war ein Beispiel für die europäische Romantik. Er verteidigte eine kleinere Sprache gegen eine größere und feierte eher die Vergangenheit des einfachen Volkes als die Abstammung der Mächtigen. Jahrhundertelang war die ukrainische Nationsbildung eine Angelegenheit des Sammelns von historischem und ethnografischem Wissen, eine Aktivität, die als zulässiger Teil einer größeren Studie über Russland angesehen wurde. Der Krimkrieg (1853–1856) und ein polnischer Aufstand (1863–1864) förderten eine Haltung, die die russische Sprache mit dem kaiserlichen Staat identifizierte. In den 1860er- und 1870er-Jahren unterdrückten die kaiserlich-russischen Behörden den Gebrauch der ukrainischen Sprache. Die ukrainisch-nationalen Aktivitäten verlagerten sich über die Grenze in die Habsburgermonarchie, die ab 1867 ÖsterreichUngarn hieß. Dank einer freien Presse und freier Wahlen konnte sich die nationale Politik entfalten. Die Ukrainer in Österreich-Ungarn hatten auch so etwas wie ihre eigene Kirche. Die Unierte Kirche, die 1596 mit dem Ziel gegründet worden war, die Kirchen des westlichen und des östlichen Ritus zu vereinen, wurde ab 1839 im Russischen Reich aufgelöst. Diese Kirche überlebte jedoch unter den Habsburger Kaisern, die sie in »Griechisch-Katholisch« umbenannten, wie sie noch heute bekannt ist. Einer der Großväter von Marynowytsch war ein GriechischKatholischer Priester (verheiratete Männer durften Griechisch-Katholische Priester werden). Der östliche Teil des habsburgischen Kronlandes Galizien wurde zum Zentrum der ukrainischen Nationalbewegung, obwohl man immer davon ausging, dass das ukrainische Kernland jenseits der Grenze im Russischen Reich lag. Der Erste Weltkrieg brachte für einen Großteil Osteuropas die nationale Selbstbestimmung, nicht aber für die Ukraine. Das lag

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nicht an mangelnden Bemühungen. Die Ukrainer der Habsburgermonarchie gründeten einen westukrainischen Staat, der von den Polen besiegt wurde. Nach der russischen Revolution vom November 1917 gründeten die Ukrainer in Kyjiw eine weitere Republik. Das ukrainische Gebiet war ein wichtiger Schauplatz des Bürgerkriegs zwischen den Roten und den Weißen, den Armeen der Revolution und der Restauration. Im Jahr 1919 griff die polnische Armee als Verbündeter des Kyjiwer Staates ein. Nach einer kurzen Eroberung von Kyjiw wurden die Polen (und ihre ukrainischen Verbündeten) im Sommer 1920 von der Roten Armee in die Außenbezirke von Warschau zurückgedrängt. Ein Gegenangriff im August besiegte die Rote Armee und beendete die Kämpfe. Das Ergebnis war ein Friedensvertrag im Jahr 1921 und eine polnisch-sowjetische Grenze, bei der Ostgalizien (und einige andere, hauptsächlich von Ukrainern bewohnte Gebiete) von Polen eingegliedert wurde, während der Großteil der ukrainischen Gebiete unter bolschewistischer Herrschaft blieb. Die Rote Armee sollte durch Warschau und weiter nach Berlin marschieren. Das Ende der Kämpfe in Europa im Jahr 1920 bedeutete auch das Ende der Erwartungen, dass die bolschewistische Revolution der Beginn einer globalen Umgestaltung sein würde. Das bolschewistische Russland musste ein Staat werden und die ukrainische Frage beeinflusste die Form, die dieser Staat annahm: eine Sowjetunion, eine nominelle Föderation nationaler Republiken. Die Erfahrung der Revolution hatte gelehrt, dass die nationale Frage unvermeidlich war. Fast niemand bezweifelte damals, dass die Ukraine eine Nation war; die Frage war, wie man diese historische Realität mit der Vision einer sozialistischen Zukunft in Einklang bringen konnte. Die sowjetische Lösung in den 1920er-Jahren war die »Ukrainisierung«: die Förderung von Ukrainern im Staats- und Parteiapparat und die Unterstützung der ukrainischen Kultur in der Erwartung, dass dies politische Loyalität schaffen würde. Die 1920er-Jahre waren somit ein reiches Jahrzehnt für die ukrainische Kunst, Literatur und Wissenschaft, sodass eine Reihe von Aktivisten, die sich zuvor für Galizien entschieden hatten (und sich nach 1918 in Polen wiederfanden), nach Osten in die Sowjetukraine zogen.

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DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT

Die Ukrainisierung funktionierte einigermaßen gut, solange die sowjetische Revolution zwischen der Übernahme der politischen Macht 1917 und der kommunistischen Mission, eine Planwirtschaft aufzubauen, in der Schwebe hing. Die Ukrainisierung fiel zeitlich mit der Neuen Ökonomischen Politik zusammen, die ein gewisses Maß an freiem Unternehmertum legalisierte und den Bauern erlaubte, Land zu besitzen und es nach eigenem Gutdünken zu bewirtschaften. Dies war wichtig für die Ukraine, wo in den letzten Jahrzehnten des Russischen Reiches ein intensiver (und manchmal gewaltsamer) Kampf um das Privateigentum geführt worden war. Ende der 1920er-Jahre konsolidierte Stalin jedoch seine Macht; im Jahr 1928 leitete er die zweite große Umgestaltung ein: die Wirtschaftsrevolution. Ihr zentrales Element war eine forcierte Industrialisierungskampagne, die durch die Entnahme von Kapital aus der Landwirtschaft finanziert werden sollte. Stalin sprach von einer inneren Kolonisierung: Reichere landwirtschaftliche Regionen wie die Ukraine sollten im Namen von Entwicklung und Fortschritt geopfert werden. In der Praxis bedeutete dies, den Bauern ihr Land wegzunehmen, sie zur Arbeit in Kolchosen zu zwingen, Getreide gegen harte Währung zu exportieren und die Arbeitskraft derjenigen, die sich wehrten, in Konzentrationslagern auszubeuten. Da diese Kollektivierung der Landwirtschaft nicht zu einer Verbesserung der Ernteerträge führte, gab Stalin den ukrainischen Beamten und den Ukrainern im Allgemeinen die Schuld. Kulturpolitische Maßnahmen, die die Ukrainer begünstigten, wurden gestoppt und die neue Generation von Aktivisten gesäubert. Führende Schriftsteller wurden hingerichtet oder in den Selbstmord getrieben. Da Stalin das Problem in der Ukraine als ein Problem des politischen Widerstands behandelte, wurde die Kollektivierung 1932 verschärft. Die Kolchosen und Dörfer, die die Produktionsziele nicht erreichten, wurden beschlagnahmt und vom Rest der Wirtschaft abgeschnitten. Den Bauern wurde verboten, in die Städte zu gehen, um zu betteln, und sie wurden in Baracken eingesperrt, wo sie im Dunkeln verhungern mussten, wenn sie es versuchten. Den Einwohnern der Sowjetukraine war es verboten, die Republik zu verlassen.

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Die Folge war der Hungertod von fast vier Millionen Menschen. Marynowytsch bezeichnet diese Gräueltat als »Holodomor«. Diese einschneidenden Veränderungen in der sowjetischen Politik gegenüber der Ukraine hatten wenig mit den Handlungen der Ukrainer und viel mit größeren, innen- oder außenpolitischen Erfordernissen zu tun. Angesichts ihres landwirtschaftlichen Potenzials, ihrer geografischen Lage im Westen und ihres demografischen Gewichts befand sich die Ukraine stets in einer heiklen Lage. Sie war für die sowjetische Führung von großer Bedeutung, hatte aber keine nennenswerte Vertretung innerhalb des sowjetischen Systems, das auf der zentralen Kontrolle durch eine kleine Gruppe von Parteiführern beruhte. Die Kehrtwende in der Politik gegenüber den Ukrainern von den 1920er- bis zu den 1930er-Jahren war charakteristisch. Obwohl die späteren Veränderungen nie so drastisch waren wie der Wechsel zwischen positiven Maßnahmen und massenhaftem Aushungern, wurde die Frage, ob die Ukraine als Bedrohung oder als Vorteil behandelt werden sollte, nie eindeutig geklärt. Nach dem Überfall Deutschlands und seiner Verbündeten auf die Sowjetunion im Jahr 1941 war die Ukraine plötzlich wieder wichtig, da sie Schauplatz von Kämpfen war und als Sowjetrepublik (mit Ausnahme von Belarus) am meisten unter der deutschen Besatzung zu leiden hatte. Stalin bezeichnete die Ukraine in der Kriegszeit daher als heldenhaft. Nachdem Deutschland besiegt war, folgte 1946 jedoch eine Politik der kulturellen Zentralisierung. Nach Stalins Tod im Jahr 1953 trat eine gewisse Entspannung ein. Unter seinem Nachfolger Nikita Chruschtschow protestierten die Ukrainer für kulturelle Autonomie und gegen die Russifizierung. Eine vielfältige »1960er-Gruppe« von Schriftstellern, Künstlern und Wissenschaftlern führte eine kulturelle Blüte an, die mit der der 1920er-Jahre vergleichbar war. Zwischen 1963 und 1972 war Petro Shelest Erster Sekretär der ukrainischen Sektion der Partei; er ließ diesen Strömungen einen gewissen Raum zur Entfaltung. Es waren die Jahre, in denen Marynowytsch ein Teenager und Student war. Diese Tendenz wurde von Leonid Breschnew umgekehrt, der Shelest 1972 als ersten ukrainischen Sekretär ablösen ließ.

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DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT

Marynowytsch schloss in jenem Jahr sein Studium am Lemberger Polytechnikum ab, arbeitete eine Zeit lang in Lemberg, leistete seinen Militärdienst und kam 1974 nach Kyjiw. Er kam in ein Kyjiw, das erneut einer intensiven Russifizierung unterworfen war. Das spielte eine große Rolle. Aber es spielte auch eine Rolle, woher er kam. Marynowytsch wurde 1949 in Ostgalizien geboren. Dieses Gebiet gehörte bis 1918 zu den Habsburgern und dann von 1918–1939 zu Polen. Obwohl die Ukrainer in Polen unter verschiedenen Formen der Diskriminierung litten, wurde das politische und soziale Leben der Ukrainer in den 1930er-Jahren weit weniger behindert als in der Sowjetukraine. Im Polen der Zwischenkriegszeit wurden die Ukrainer zwar schikaniert und diskriminiert, aber die Grundstruktur der ukrainischen Gesellschaft blieb intakt. Die Traditionen der religiösen Praxis, der wirtschaftlichen Genossenschaften, der lokalen Medien und der nationalen Politik wurden fortgeführt. Die ukrainische Gesellschaft in Polen blieb von der Ermordung durch Hungertod und dem Terror der 1930er-Jahre verschont. Der vorherrschende Trend in der ukrainischen Politik im Polen der Zwischenkriegszeit war demokratisch und zentristisch. Eine kleinere Strömung in der ukrainischen Politik war die Organisation der ukrainischen Nationalisten, die mit Gewalt gegen gemäßigte polnische Politiker vorging, die sich um eine Verbesserung der polnisch-ukrainischen Beziehungen bemühten. Als Polen 1939 zerstört wurde, spielten diese Nationalisten eine größere Rolle. Nazideutschland und die Sowjetunion, die damals als De-facto-Verbündete im Rahmen des Molotow-Ribbentrop-Pakts kämpften, fielen von Westen und Osten her ein. Nach der Niederlage Polens wurde das Land unter den Eroberern aufgeteilt, wobei die Sowjetunion etwa die östliche Hälfte erhielt. Ende 1939 wurde Ostgalizien von der Sowjetunion annektiert. In weniger als zwei Jahren wurden diese Gebiete der sowjetischen Politik der vorangegangenen zwei Jahrzehnte unterworfen: Deportationen, Terror, Verstaatlichungen, Kollektivierung. Die ukrainischen Nationalisten hatten sich der polnischen Herrschaft widersetzt; sie sahen in Deutschland das Mittel, das Polen zerstören konnte. Jetzt hofften sie, dass Deutschland die UdSSR zerstören würde.

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Als Deutschland 1941 in die Sowjetunion einmarschierte, erreichte die Wehrmacht als Erstes genau die Gebiete, die gerade in die Sowjetunion eingegliedert worden waren, wie etwa Ostgalizien. In Ostgalizien und in der gesamten Sowjetukraine erwartete ein Großteil der Bevölkerung, dass die deutsche Herrschaft der sowjetischen Kollektivierung und dem Terror vorzuziehen sei. Am meisten litten die Juden, die Opfer einer deutschen Massenerschießungskampagne wurden, die immer mehr lokale Komplizen fand. Die überwiegende Mehrheit der Juden in der Ukraine wurde in den Jahren 1941 und 1942 ermordet, in der Regel über Gruben in der Nähe ihrer Wohnorte. Weil die Deutschen die verhassten Kolchosen beibehielten, Kriegsgefangene aushungerten und mörderischen Terror ausübten, wandte sich die ukrainische Meinung gegen sie. Nachdem die Rote Armee die Deutschen im Februar 1943 in Stalingrad besiegt hatte und der Krieg damit eine Wende nahm, bildeten ukrainische Nationalisten in der Westukraine eine Partisanenarmee: die UPA. Ihr Plan war es, den Sowjets zu erlauben, die Deutschen zu besiegen, und dann die Macht von den Sowjets zu übernehmen. Im Jahr 1943 führte sie eine ethnische Säuberung der örtlichen Polen durch. Tatsächlich verwickelte sie die Sowjets in einen blutigen und zum Scheitern verurteilten Krieg, der sich dem Ende zuneigte, als Marynowytsch geboren wurde. Die Sowjetmacht setzte die ethnische Säuberung fort und zwang Ukrainer und Polen über die 1945 errichtete Grenze zwischen der Sowjetukraine und dem neuen kommunistischen Polen. Marynowytschs Familie wurde von dem neuen kommunistischen Regime Polens aus ihrem Dorf vertrieben. Diese Vertreibungen wurden in der polnischen kommunistischen Propaganda als Reaktion auf den ukrainischen Nationalismus dargestellt. Im Gulag traf Marynowytsch auf Ukrainer einer älteren Generation, die sehr lange Haftstrafen wegen gewaltsamen Widerstands gegen die Sowjetmacht verbüßten. Marynowytsch war also das Kind einer vertriebenen Familie in einem Gebiet, das erst seit sehr kurzer Zeit unter sowjetischer Herrschaft stand. Ostgalizien hatte sich durch den Massenmord an den Juden und die Vertreibung der Polen drastisch verändert. Es wurde ukrainisch in diesem

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negativen demografischen Sinne und gleichzeitig sowjetisch in einem politischen Sinne. In Städten wie Drohobytsch (wo Marynowytsch aufgewachsen war) und Lemberg (wo er studierte) stellten die Ukrainer in Ostgalizien zum ersten Mal eine demografische Mehrheit dar. Sie lebten in einer größeren Einheit namens »Ukraine«, die jedoch eine Sowjetrepublik ohne Souveränität war. Die Institutionen, die die ukrainische Zivilgesellschaft in Ostgalizien jahrzehntelang geprägt und unterstützt hatten, wie Genossenschaften und Zeitungen, waren nicht mehr möglich. Die Griechisch-Katholische Kirche wurde zwangsweise in die russisch-orthodoxe Kirche eingegliedert, die der Sowjetmacht unterstellt war. Führende Vertreter der Griechisch-Katholischen Kirche, darunter Metropolit Josyf Slipyj, wurden in den Gulag deportiert. Slipyj wurde bis 1963 in den Lagern festgehalten; Marynowytsch bezieht sich auf seine Memoiren, die von der Ukrainischen Katholischen Universität veröffentlicht wurden. Marynowytsch wuchs also in den 1950er- und 1960er-Jahren in der westlichen Sowjetukraine in einem Umfeld auf, in dem ein besonderes religiöses Engagement im Hintergrund stand, obwohl er sich selbst als Agnostiker betrachtete. Als junger Mensch nahm er die sowjetische Macht als selbstverständlich hin und sympathisierte mit dem Kommunismus. In den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren, solange Shelest Erster Sekretär in der Ukraine war, konnte man davon ausgehen, dass eine Art säkularer ukrainischer Identität in der Sowjetunion zulässig sein würde. Doch in Kyjiw stieß Marynowytsch auf neuartige Hindernisse. Seine Verhaftung wegen des Niederlegens von Blumen war symptomatisch für größere Veränderungen. Ab 1972 wurden ukrainische Schriftsteller und Aktivisten systematisch verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Breschnew hatte seine Macht gefestigt, Shelest verlor seine Position, und ein neues Kalkül trieb diese Repressionen an. Breschnew war weniger ideologisch als seine Vorgänger und weniger ehrgeizig. Er lenkte den offiziellen Blick von der Zukunft auf die Vergangenheit und legte den Traum vom Kommunismus zugunsten eines Kultes um den Zweiten Weltkrieg beiseite. Die Gegenwart sollte konsumorientiert sein, aber ohne die politischen Werte des Westens. Die Sowjetunion sollte also funktional werden

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und von gebildeten Schichten mit technischen Abschlüssen, die Russisch sprachen, bedient werden. Schließlich würden die sowjetischen Völker durch den »realen Sozialismus«, der laut Breschnew bereits existierte, miteinander verschmelzen. Von den Ukrainern wurde erwartet, dass sie ihre Nationalität opferten, aber nicht im Dienste eines universellen Ideals. Ukrainische Bücher sollten aus den Schulen entfernt und die ukrainische Sprache an den Universitäten an den Rand gedrängt werden, aber warum das so sein sollte, blieb unklar. Die Identität sollte der Effizienz geopfert werden. Die Menschen wurden als Mittel zum Zweck verstanden, aber in Wirklichkeit gab es keinen Zweck: außer vielleicht der Selbsterhaltung einer alternden Elite. Die Russifizierung der 1970er-Jahre drang in das Privatleben ein. Für einen jungen galizischen Ukrainer in der Metropole wie Marynowytsch fühlte sich das wie eine Einschränkung der normalen Kameradschaft an. In seinem Bericht über die Mitte der 1970erJahre in Kyjiw verschmilzt das soziale Leben mit dem nationalen Leben: Sein engster Freund ist ein anderer engagierter Ukrainer. Er spricht mit seinen Freunden in seiner Muttersprache; er spricht in der Öffentlichkeit in seiner Muttersprache; er erinnert sich mit seinen Freunden an die ukrainische Vergangenheit. Sein Vergehen war, wie er sagt, »der Versuch, in der Hauptstadt der Sowjetukraine ein normales ukrainisches Leben zu führen«. Wie ihm seine Vernehmungsbeamten 1977 klarmachten, lag das Problem nicht in seinen inneren Überzeugungen, sondern in seinem öffentlichen Handeln. Wir befinden uns nicht mehr in den 1930er-Jahren, als Stalin bekanntlich sagte, dass Sowjetbürger für ihre Gedanken bestraft werden könnten. Diese Ära des großen Terrors war auch eine Zeit der großen Visionen von einem neuen Sowjetmenschen, der umgestaltet und umfunktioniert werden konnte. In den 1970er-Jahren hatte die sowjetische Geheimpolizei keine solchen Ambitionen mehr. Es machte keinen Sinn, im Namen einer strahlenden Zukunft, die es nicht mehr gab, Schmerzen zuzufügen. Nach Marynowytschs Darstellung hätten sich seine Vernehmer mit Heuchelei zufriedengegeben. Ein guter Sowjetbürger war kein Gläubiger, sondern jemand, der seinen Unglauben für sich behielt und sich wie alle anderen verhielt. Bei der Macht ging es nicht mehr

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darum, das eigene Ich zu verändern, sondern es unter Quarantäne zu stellen. Normal war es, sich anzupassen. Marynowytsch schien andere Vorstellungen davon zu haben, was normal war. Für ihn war es normal, so zu leben, wie er wollte. In schwierigen Zeiten, wie sie nun einmal herrschten, war es normal, sich ehrenhaft zu verhalten, denn das war es, was Freunde und Familie erwarten würden. Normal war nicht, was war, sondern was sein sollte. Diese Art von Alltagsidealismus in Bezug auf die Gestaltung des individuellen Lebens entsprach der Idee der Menschenrechte, die sich gerade durchsetzte. Ironischerweise hatte sich die Sowjetunion 1975 die Menschenrechte zu eigen gemacht, um die Dinge so zu belassen, wie sie waren. In der Schlussakte von Helsinki hatten die Unterzeichner den territorialen Status quo gebilligt. Das war es, was Breschnew wollte: Stillstand. Doch der Preis, den er dafür zahlte, war die Bekräftigung einer universellen Idee, die zu Forderungen nach Veränderungen führte. Daraus ergab sich ein implizites Problem für Breschnews Realsozialismus. In seiner Version der Geschichte war alles so gut, wie es sein konnte, alle Ideale waren erfüllt, soweit dies möglich war, und es gab nichts mehr zu sagen. Wenn eine Ideologie unaufrichtig ist, ist es schwierig, sie mit einer anderen Ideologie infrage zu stellen. Die Menschenrechte boten keine alternative Vision der Zukunft, sondern eine andere Sichtweise auf das Hier und Jetzt. Wenn es auf die Gegenwart ankommt, dann ist das individuelle menschliche Leben das Wichtigste in der Gegenwart. Ein Leben konnte nur dann individuell sein, wenn es einem Menschen erlaubt wurde, einige der Werte, die ihm normal erschienen, zu artikulieren und zu verwirklichen. Die Sprache der Menschenrechte vermittelte, dass eine Beziehung zwischen dem inneren und dem äußeren Leben wünschenswert ist. Es sollte normal sein, dass ein Mensch zumindest einige Vorlieben und Überzeugungen ausleben kann, anstatt sie alle zu verbergen und ständig zu lügen. Es sollte normal sein, dass die Menschen eine gewisse Freiheit im Leben haben, ihre eigenen Ansichten zu äußern und ihre eigene Kultur zu wählen. Der Einsatz für die Menschenrechte bedeutete, eklatante Verstöße des Staates zu dokumentieren: Verhaftungen, Repressionen,

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Deportationen – sehr oft nur, weil man über die Menschenrechte sprach. Die Menschenrechte boten somit einigen Sowjetbürgern wie Marynowytsch und seinen Freunden in der ukrainischen HelsinkiGruppe eine Möglichkeit, den impliziten sowjetischen Wert der Konformität direkt infrage zu stellen, ohne die explizite Ideologie des Sozialismus infrage zu stellen. Diese Dissidenten betonten ihre eigene Rechtmäßigkeit, indem sie ihre Aktivitäten offen erklärten und behaupteten, dass ihre einzige Absicht darin bestehe, das eigene Engagement der Sowjetunion für das Recht zu würdigen. Die sowjetischen Behörden erkannten die implizite Bedrohung sofort und versuchten, die nach 1975 entstandenen Menschenrechtsnetzwerke zu zerschlagen. Menschenrechtsaktivismus wurde als die gefährlichste Form des politischen Verbrechens behandelt und die Aktivisten entsprechend verurteilt. Während seiner Arbeit für die Ukrainische Helsinki-Gruppe wurde Marynowytsch von einem Freund gefragt, ob er bereit für das Gefängnis sei. Die Frage ließ ihn innehalten. Er wusste zwar, dass eine Inhaftierung bevorstand, aber er konnte kaum wissen, wie sie aussehen würde. Als er verhaftet wurde, war er ein junger Mann mit einigen ethischen Verpflichtungen, guten Freunden und einer Mutter und Schwester, die er als Vorbilder betrachtete. Während des Verhörs erlebte er eine Epiphanie (Gotteserscheinung); als er verurteilt wurde, war er gläubiger Christ. Im Lager wurde er zum Philosophen: Er schrieb Satz für Satz auf entwendete Papierschnipsel, die zusammengerollt, versteckt und schließlich aus dem Lager herausgeschmuggelt werden mussten, und zwar auf eine Art und Weise, die denjenigen, die etwas von diesen Dingen verstehen, bekannt vorkommen wird. Der Gulag, in dem mehrere Millionen Menschen gefangengehalten wurden und der Millionen von Menschen das Leben kostete, ist im offiziellen Russland von heute so gut wie vergessen. Perm-36 war zufällig die letzte würdige Gedenkstätte für den Gulag auf dem Gelände eines ehemaligen Lagers. Es diente eine Zeit lang als bescheidenes, aber wertvolles Museum für den Gulag als Ganzes, während Hunderte von anderen Lagern abgebaut wurden oder der Wildnis überlassen. Dann fiel

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Perm-36 der Erinnerungspolitik von Wladimir Putin zum Opfer. Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Jahr 2014 wurde das Museum als ausländischer Agent bezeichnet, weil es die ukrainischen Faschisten verherrlicht habe. Die alte sowjetische Propaganda floriert in Putins Russland: Gefangene aus Gewissensgründen und Feinde Russlands verschmelzen. Das Museum wurde so umgestaltet, dass sich der Besucher mit den Lagerwächtern identifizieren kann. Was vom Gulag übriggeblieben ist, sind die staatlichen Archive, die von Historikern genutzt werden, und die Erinnerungen der Überlebenden. Der berühmteste ist Alexander Solschenizyn, dessen 1973 auf Russisch und ein Jahr später in Übersetzung erschienenes Buch »Der Archipel Gulag« die Diskussion über die sowjetischen Konzentrationslager im Westen endgültig eröffnete. Frühere Gulag-Erinnerungen wurden von Menschen polnischer oder polnisch-jüdischer Herkunft verfasst, die das, was sie »Reise in das Land der Lager« (Julius Margolin, 1949), »Unmenschliche Erde« (Józef Czapski, 1949), oder »Welt ohne Erbarmen« (Gustaw Herling-Grudziński, 1951) nannten, mit der Welt außerhalb der Sowjetunion vergleichen konnten. Der Ukrainer Danylo Shumuk, der drei Jahrzehnte im Gulag verbrachte, veröffentlichte seine Erinnerungen 1984. Die Memoiren des Metropoliten Slipyj, die auch seine Erinnerungen an achtzehn Jahre im Gulag enthalten, erschienen 2014. Marynowytschs Beschreibungen von Perm-36, das er und andere Häftlinge als »die Zone« bezeichneten, müssen aufmerksam gelesen werden, denn er zeigt eine gewisse männliche Tendenz, die Gefahren und Folterungen indirekt zu beschreiben, nur wenn es für die Entwicklung einer Anekdote oder eines Themas notwendig ist. Diesen Stil entwickelte er auch in den Briefen an seine Mutter und seine Schwester. Perm-36 war eine Strafvollzugsanstalt des »Sonderregimes«, die für Personen bestimmt war, die als Gefahr für den Staat eingestuft wurden. Als Marynowytsch 1978 seine Strafe antrat, waren etwa sechzig Gefangene hinter dem siebenfachen Stacheldraht eingesperrt. Die meisten von ihnen wurden, wie Marynowytsch, wegen Äußerungen verurteilt, die sie gesagt, veröffentlicht oder verbreitet hatten. Eine unverhältnismäßig große Zahl von

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ihnen waren Ukrainer. Einige Häftlinge gehörten einer früheren Generation an, die für ihren bewaffneten Widerstand gegen die Sowjetmacht (z. B. in der UPA) bestraft worden war. Menschen verschiedener Nationalitäten waren als Kollaborateure mit dem deutschen Besatzungsregime verurteilt worden. Es war typisch für die sowjetische Politik, politische Gefangene als Nazis zu bezeichnen. Die Assoziation des ukrainischen politischen Lebens mit dem Faschismus hat sich in Russland seit dem Ende der Sowjetunion fortgesetzt, insbesondere während der russischen Invasion in der Ukraine im Jahr 2014. In Marynowytschs Bericht über das Gefängnis findet der Leser verschiedene Arten von Grausamkeiten, die über die inhärente Grausamkeit von Jahren der Isolation von der Welt bei harter Arbeit hinausgehen. Perm-36 befand sich nicht in der Stadt Perm, die etwa neunhundert Meilen östlich von Moskau liegt, sondern etwa sechzig Meilen weiter nordöstlich – mitten im Nirgendwo. Das Klima war bedrohlich: nicht so tödlich wie in anderen Lagern im hohen Norden, aber dennoch fünf Monate im Jahr Tag und Nacht Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. Die Arbeit selbst war gefährlich. Marynowytsch, der zu Ohnmachtsanfällen neigte, wurde zur Arbeit als Dreher eingeteilt. Für die Häftlinge galten Regeln, die unmöglich alle eingehalten werden konnten. Ein Bett nicht richtig zu machen (in den Augen eines Wärters), die Kleiderordnung nicht einzuhalten (in den Augen eines Wärters) oder den Wärtern gegenüber »respektlos« zu sein, konnte zu einer Bestrafung führen. Psychologischer Missbrauch war die Norm. Den Gefangenen wurde erzählt, dass ihre Freunde sie an die Polizei verraten und ihre Frauen sie mit ihren Freunden betrogen hätten; Wärter und Geheimpolizisten taten alles, um die Gefangenen glauben zu machen, dass sie ganz allein seien. Gesundheitliche Probleme führten zu medizinischer Folter. Häftlingen, die erkrankten oder operiert werden mussten, wurde gesagt, sie müssten versprechen, ihr Verhalten zu bessern (mit anderen Worten: ihre Schuld einzugestehen), bevor sie medizinisch behandelt würden. Mykola Rudenko, ein Mitgefangener und Mitglied der Ukrainischen Helsinki-Gruppe, war im Zweiten

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Weltkrieg verwundet und als Invalide eingestuft worden. Dieser Status wurde ihm 1982, etwa vier Jahrzehnte nach seiner Verletzung, als er einundsechzig Jahre alt war, in Perm-36 aberkannt. Daraufhin wurde er zu Arbeiten eingeteilt, die er nicht ausführen konnte, und für die Nichterfüllung seiner Quote bestraft. Die Häftlinge reagierten auf solche Schandtaten mit Sympathiestreiks, für die sie in Strafzellen eingewiesen wurden. Dabei handelte es sich um dunkle, kalte Kammern mit Wasser oder Eis auf den Böden und an den Wänden, unebenen Brettern als Betten und ohne Sanitäranlagen. Es war Routine, dass Gefangene für sechs Monate in diese Strafzellen eingewiesen wurden. Der aufmerksame Leser wird feststellen, dass Marynowytsch einen Großteil seiner siebenjährigen Haftstrafe in Strafzellen verbrachte, in der Regel wegen solcher Solidaritätsbekundungen. Marynowytsch, der als junger Mann seine erste Haftstrafe im Gulag verbüßte, betont, dass er von anderen politischen Gefangenen gelernt habe, wie man sich zu verhalten habe. Seiner Darstellung nach unterstützten sich die Dissidenten im Allgemeinen gegenseitig. Innerhalb der engen Grenzen des Lagers wurden Themen wie die nationale Frage, die außerhalb des Lagers vielleicht zu Meinungsverschiedenheiten geführt hätten, zu fruchtbaren Diskussionen. Marynowytsch stellt fest, dass die Zeit im Lager »viele Dinge für den russischen Häftling verändert hat«, der nun in der Minderheit war und mit Menschen konfrontiert wurde, deren nationale Identifikation sich mit ihrer Entscheidung, für die Menschenrechte zu leiden, vermischte. Er erinnert sich an Debatten darüber, ob das sowjetische System als totalitär oder imperial zu verstehen sei. Er berichtet, dass im Lager ein ukrainisch-jüdischer Dialog über die Geschichte begann. Einige der Häftlinge, wie Joseph Zissels und Marynowytsch selbst, setzten diese Begegnung nach ihrer Entlassung fort. Heute ist die jüdisch-ukrainische Geschichte ein wichtiger Lehr- und Forschungsgegenstand an Marynowytschs Ukrainischer Katholischer Universität. Menschenrechtsaktivisten haben Fakten aufgezeichnet und veröffentlicht. Die Idee war, dass das Regime an den Standards gemessen werden sollte, die es formell akzeptiert hatte, und dass nur die Beweise von Menschenleben, die durch die Repression zerstört

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wurden, diesem Zweck dienen konnten. Diese Arbeit wurde erstaunlicherweise in Perm-36 selbst fortgesetzt. Die Häftlinge schrieben immer wieder Briefe an die höheren Behörden, in denen sie sich über ihre Behandlung beschwerten, wohl wissend, dass dies nur zu ihrem persönlichen Nachteil gereichen konnte. Marynowytsch erinnert sich: »Wir sind nie von der Wahrheit abgewichen, denn die Wahrheit selbst konnte verdammender sein als alle Worte. Ebenso konnte die Realität selbst zynischer sein als jede Beschreibung.« Häftlinge, die solche Briefe schrieben, wurden im Lager wegen »Verzerrung der sowjetischen Realität« bestraft. Das wahrheitsgemäße Berichten über persönliche Erfahrungen in einer sowjetischen Strafanstalt war der Grund für weitere Bestrafungen in dieser Einrichtung. Die Wahrhaftigkeit dieser Memoiren geht tief. Marynowytschs persönliche Ehrlichkeit über sein Leben verbindet sich mit einer seltenen und attraktiven Bescheidenheit. Er schreibt offen über die Dummheit seiner eigenen Jugend und der seiner Freunde im Kyjiw der frühen 1970er-Jahre. Wir sehen seine Unreife, weil er reif genug ist, sie zu offenbaren. Er akzeptiert, dass sein Leben ganz anders hätte verlaufen können: wenn er einen besseren Job bekommen oder einen weniger moralisch anspruchsvollen Freundeskreis gewählt hätte. Er glaubt, dass seine Handlungen eher das moralische Beispiel seiner Mutter und seiner Schwester widerspiegeln als irgendwelche besonderen Tugenden von ihm selbst. Das moralische Risiko besteht seiner Meinung nach darin, stolz darauf zu sein, das Richtige zu tun. Er entschied sich dafür, zur Verteidigung der Werte ins Gefängnis zu gehen, und musste dann dem widerstehen, was er »ansteckende Anfälle von Ruhm« nennt. Die Prosa verläuft auf zwei Schienen: der physischen und der metaphysischen: Die eine Hälfte [von mir] war mit dem normalen physischen Überleben eines politischen Gefangenen beschäftigt, indem ich mir meinen Lebensraum im täglichen Widerstand gegen die Lagerverwaltung einrichtete. Meine andere Hälfte schwebte weiterhin im metaphysischen Raum und sammelte weitere ›Beulen‹, während ich experimentierte und meine religiöse Achtsamkeit perfektionierte.

Er glaubt, dass es »keine bessere Gelegenheit gab, die eigene christliche Hingabe zu testen« als im Gulag.

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Die vielleicht größte Herausforderung dieser Memoiren für die meisten Leser wird die Diskussion über Freiheit sein. Für die Menschen im Westen wird es verlockend sein, sich vorzustellen, dass sie in den 1970er- und 1980er-Jahren frei waren und dass das Buch, das sie in den Händen halten, eine Beschreibung der sowjetischen Unfreiheit ist. Das ist nicht ganz die Position von Marynowytsch. Natürlich schildert er die Schrecken des Lagers (»die Zone«) und der Sowjetunion selbst (»die große Zone«) deutlich. Und doch spricht Marynowytsch von sich und seinen Gefährten als freien Menschen. Zur Freiheit gehört die Übereinstimmung zwischen dem inneren und dem äußeren Leben. Das bedeutet, dass es ein Innenleben geben muss, eine Reihe von Verpflichtungen gegenüber religiösen, ethischen oder ästhetischen Werten, die die Welt so sehen, wie sie sein sollte – im Gegensatz zu der Welt, wie sie ist. Freiheit würde dann auch eine gewisse Fähigkeit voraussetzen, diese Werte in der Außenwelt zu verwirklichen, oder, wenn das nicht möglich ist, Risiken einzugehen oder für sie zu leiden. Genau das hatten Marynowitsch und seine Mitgefangenen aus Gewissensgründen getan. Marynowytsch wählte die Werte, die er verteidigen wollte. Weil er eine Wahl getroffen hat, kann er sein eigenes Handeln als Opfer, als Leiden, das einen Sinn hatte, bezeichnen. Der Schmerz hatte einen Sinn, denn er schloss die Lücke zwischen einer fehlerhaften äußeren Welt und den von den Menschen vertretenen Werten. »In einem solchen Opfer«, schreibt er, »behält der Leidende die Handlungsfähigkeit, während der Peiniger an den Rand gedrängt wird«. Er erkennt an, dass er sich durch die Fähigkeit, seine eigene Geschichte zu erzählen, in einer anderen Position befindet als Menschen, die zu Unrecht inhaftiert sind, sich aber die Gelegenheit nicht ausgesucht haben. Freiheit, so glauben wir, bedeutet, einem Impuls nachzugeben und sich zu beschweren, wenn dies nicht möglich ist. Doch je impulsiver unsere Handlungen sind, je mehr sie ein vorübergehendes Gefühl widerspiegeln, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie die Macht von jemandem oder etwas anderem widerspiegeln. Wenn wir dem Impuls nachgeben, dann verkümmert unser Innenleben, und die äußere Welt bestimmt alles. Dieser Prozess ist

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abgeschlossen, wenn wir das Wort Freiheit selbst aufgeben und es unseren Momenten unreflektierter Wut und unserem bestialischen Selbst zuordnen. Wenn wir keinen Unterschied mehr zwischen Freiheit und Instinkt sehen, endet die Geschichte der Freiheit. Es mag nicht wie Freiheit erscheinen, seinen Kopf in eine Latrine zu stecken. Wir finden Fäkalien körperlich abstoßend. Wir würgen. Unsere Sinne und unsere Nerven drängen uns, wegzugehen. Als im Jahr Perm-36 ein russischer Dichter Geburtstag hatte, verfasste jeder seiner Freunde ein Gedicht für ihn und trug es auf die einzige Weise vor, die er hören konnte: nämlich durch die für die Exkremente gegrabenen Tunnel. Die Gedichte zu hören, bereitete dem Mann Freude. Nur freie Menschen konnten sich eine solche Geste einfallen lassen und sie in die Tat umsetzen. Marynowytsch ist sich darüber im Klaren, dass dieses Bild die Leser verwirren wird, und betont, dass dies zu jener Zeit ganz natürlich erschien. Er zitiert Semen Glusmans Memoiren: In Perm-36 »schufen wir unsere eigene Welt, und wir waren frei«. Marynowytsch stellt sich gegen die elementarsten Instinkte. Er trat mehrmals in den Hungerstreik – eine Aktion, die direkt gegen die physische Notwendigkeit gerichtet ist. Einmal hungerte er zwanzig Tage lang aus Solidarität mit einem Mitgefangenen, dem Russen Sergej Kowaljow, der ebenfalls in den Hungerstreik getreten war. »Der Selbsterhaltungstrieb«, schreibt er, »schreit laut, wenn man in den Lauf eines Maschinengewehrs starrt, von bösartigen, abgerichteten Hunden umgeben ist, in überfüllten Fahrzeugen erstickt, durch Unterernährung so erschöpft ist, dass der Körper anschwillt … Aber genauso wenig wie Heldentum ist Angst ewig«. Marynowytsch glaubt, dass »das Leiden, das ich ertragen habe, mir die geistige Kraft gegeben hat, die meinem Leben seinen wahren Sinn gegeben hat«. Dieser metaphysische Sinn ist eine Begegnung mit Gott. Der irdische Sinn entsteht in der Gemeinschaft mit anderen: mit Mithäftlingen, mit denen und für die er gelitten hat, mit ukrainischen Mitbürgern, mit sowjetischen Mitbürgern, mit allen, deren Menschenrechte verletzt wurden und werden. Solidarität ist Ausdruck einer freien Entscheidung. Timothy Snyder New Haven, Connecticut, USA

Einleitung zur ukrainischen Ausgabe Möge unter unseren Füßen auch ein Ararat bleiben, ein Land des Friedens inmitten der Flut des Untergangs. Früher oder später geht das Wasser zurück, und die Täler werden grün. Aus dem Brief an meine Frau Ljuba vom 11.Februar 1987; während der Verbannung

Im Blick auf Gottes Ewigkeit hatte ich bisher mehrere Leben, die sich nur durch ihre schmerzliche Dramatik und die damit verbundenen radikalen Veränderungen unterschieden. Dies zeigt sich auch in meinem persönlichen Lebensbaum an seinen deutlich sichtund unterscheidbaren »Jahresringen«. Zwei davon – der des Dissidenten und der der Zwangsarbeit – sind Ringe, die unvermeidlich und gottgefügt sind. Dadurch bekam ich Anteil an dem, dass das »Imperium der gekrümmten Rücken und der treu ergebenen Gesichter und einstimmig erhobenen Hände« (Jewhen Swerstjuk) beseitigt werden konnte, wofür ich heute noch dankbar bin. Im Rückblick kann ich Gott nur danken für mein bisheriges Leben mit all seinen Schwierigkeiten und Prüfungen. Ich hatte schon immer den Eindruck, dass jeder Mensch unter uns wie eine andere Taste auf der himmlischen Klaviatur ist, die immer wieder vom göttlichen Pianisten berührt wird. Wenn es dazu kommt, ist es wunderbar, wie wir auf der uns bestimmten Taste in seiner Harmonie erklingen. Gott hält seinen Finger aber nicht immer auf unserer Taste. Für jeden von uns gibt es die Zeit der Erniedrigung, wenn neben uns andere Tasten deutlich hörbar erklingen, während der eigene Einfluss nachlässt, sich gesundheitliche Beschwerden melden, oder sich große Pläne zerschlagen. Wenn wir dem Buch des Predigers im Alten Testament Glauben schenken wollen, hat aber jede Zeit im Leben eines Menschen seine besondere Bedeutung. Mein Bericht über die Ukrainische Helsinki-Gruppe ist zwangsläufig subjektiv gefärbt wie sämtliche Erinnerungen in diesem Buch. Entscheidend ist die Frage: Entspricht es der Wahrheit? Ab und zu erwische ich mich beim Gedanken, dass vieles, was mir

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damals wichtig war, in meinem Gedächtnis verloren ging und sich Fehler nicht vermeiden ließen. Was ich wirklich garantieren kann: Absichtliche Entstellungen gibt es nicht. Wenn ich dieses Buch schreibe, tue ich es offen und ehrlich. Sollten sich meine Erinnerungen jedoch trotzdem von denen anderer unterscheiden, wäre dies völlig normal. Alle, die diese bewegte Zeit durchstehen mussten, besitzen damit ihr eigenes »Hologramm«, ihre eigene »Videoaufzeichnung« der Geschehnisse in der Ukrainischen Helsinki-Gruppe. Mit diesem Buch wollte ich keine Beweise für einen zweiten Nürnberger Prozess sammeln, obwohl ich nicht daran zweifele, dass das kommunistische System eine klare Verurteilung verdient. Wenn es einmal doch noch dazu kommen sollte, dass der kommunistische Wahnsinn verurteilt wird, könnte sich unsere Welt entscheidend vorwärtsentwickeln. Hier geht es aber nur um meine Erinnerungen und nicht um eine Anklageschrift, obwohl ich der Überzeugung bin, dass das, was ich geschrieben habe, längstens ausreicht, ein abschließendes Urteil über das kommunistische System zu fällen. Das Wichtigste für uns alle ist aber das, was über jedem belastenden Beweis steht und letztlich allein zählt: die Liebe – die Liebe meiner Angehörigen, die Brüderlichkeit meiner Freunde, die Würde des menschlichen Opfers und die Spuren der Menschlichkeit sogar bei einem Verbrecher. Die Chronik von Satans Taten kann niemals so gewaltig sein wie die strahlenden Spuren von Gottes Licht, die meine gefangene Seele in jener Zeit durchflutet haben. Dieses Licht ist stärker als alle Finsternis in der Kerkerzelle.

Einleitung zur deutschen Ausgabe Die Pointe meines Vorworts zur ukrainischen Ausgabe erwies sich als prophetisch: Heute sind wir Ukrainer tatsächlich erneut zur Zielscheibe geworden, auf die Russland seinen Fokus richtet – zynisch und verlogen vor den Augen der ganzen Welt. Der einzige Unterschied liegt darin, dass wir heute keine Pappzielscheibe mehr sind, sondern beweglich geworden, weshalb wir versuchen, wenn irgend möglich, die auf uns gerichtete Speerspitze in einen Bumerang zu verwandeln. Russlands aktueller Krieg in der Ukraine bestätigt die Erfahrung meines Gefängnislebens und ergänzt sie weiter. Für uns, die politischen Gefangenen des kommunistischen Regimes, zeigt sich einmal mehr erneut in aller Deutlichkeit, dass die bisher ungebüßten Verbrechen wie zurückgebliebene Körner auf dem Getreidefeld eine fürchterliche Ernte bringen. Meine Vorahnung bestätigte sich in großem Ausmaß, weil Putin sein Regime inzwischen tatsächlich in eine Reinkarnation des tschekistischen Regimes des früheren kommunistischen Imperiums verwandelt hat. Er will nicht nur die Zeit anhalten, er hat Russland zum Phantom seiner »Vergangenheit« zurückgeführt wie zuvor Stalin oder Iwan der Schreckliche und damit seinem Volk die Zukunft geraubt. In der ganzen Geschichte Russlands wurde bisher faktisch nie ein Mensch für seine begangenen Verbrechen bestraft; nach wie vor hängt Dostojewskis berühmte Titelgebung »Schuld und Sühne« wie ein Damoklesschwert über diesem Land. Während ich diese Memoiren dem deutschen Leser anbiete, stelle ich fest, dass vor dem Hintergrund der jüngsten Verbrechen Russlands in Butscha und Irpin, Mariupol und Charkiw, Izyum und Cherson die Misshandlungen der Gefangenen im Gulag vergleichsweise geringer waren. So musste ich zum Glück nicht diese Art körperlicher Folter ertragen, die bereits Tausende meiner unglücklichen Landsleute in diesem schicksalhaften Jahr 2022 erlitten und noch weiter erleben werden. Nun zeigt sich, dass diese Gräueltaten nach all dem großen Leid und den unzähligen Toten während der Zeit der Dissidenten den Charakter der russischen 35

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Regierung nach der Stalin-Ära und derjenigen von Putin nur vorläufig zu verschwinden schienen. Der aktuelle Krieg bestätigt auch, dass die nur bedingte »Aufschubpause« der tragischen Regel keineswegs ein Ende bereitete, weil die Gewalt schon immer ein unvermeidlicher Begleiter der Macht war. Deshalb stimme ich nach wie vor dem noch lebenden russischen Historiker Yuri Afanasyev völlig zu, wenn er schreibt: Müssen wir wirklich dieses Russland retten mit seinem ganzen Despotismus der Behörden, in dem jeder Einzelne und letztlich die Mehrheit der Bevölkerung zum Objekt der Unterdrückung geworden ist? Meine Antwort kann da nur ein entschiedenes Nein sein. […] Russlands Paradigma muss unbedingt geändert werden.

Als die Ukraine in den 1970er-Jahren versuchte, vertreten durch die Ukrainische Helsinki-Gruppe, sich der europäischen Zivilisation der Menschenrechte anzuschließen, lag der Schwerpunkt bei der Bewertung der kommunistischen UdSSR in ihrem totalitären Wesen. Die Tatsache, dass es sich um das reinkarnierte Russische Reich handelte, war erst im Hintergrund ersichtlich. Mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 legte Putin aber seine imperialen Absichten buchstäblich offen, ohne sie in ein politisch korrektes Papier zu verstecken. Russland und damit nicht nur Putin, sondern ein bedeutender Teil der russischen Gesellschaft leiden heute unter Phantomschmerzen, und nur Gott weiß, in welchen Abgrund sie das ganze russische Volk noch führen wird. Diese Schlussfolgerungen mindern keineswegs meine dankbaren Erinnerungen an die russischen Mitfreunde, mit denen ich das schimmelige Lagerbrot teilte. In meinen Augen sind sie die »fünfzig Gerechten«, für deren Wohl ich ebenfalls bereit bin, für die ganze sündige Stadt bei Gott um Gnade zu bitten (vgl. Genesis 18, 23–26). Aus dem Munde meines russischen Lagerkameraden Wladimir Balachonow hörte ich einmal diesen Satz, dessen Kern die Welt erst heute zu erkennen beginnt: »Als Russe muss ich die Welt vor der Bedrohung warnen, die das russische Volk für die ganze Menschheit ist. Die einzige Rettung für die Welt und für uns alle besteht darin, das Russische Reich zu zerstückeln und den Russen

EINLEITUNG ZUR DEUTSCHEN AUSGABE

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nur diejenigen Länder zu überlassen, auf denen sie sich im 15. Jahrhundert als Nation bildeten.« Das ukrainische Volk kennt ein wichtiges Sprichwort, dass ihm in seinen schweren Zeiten schon oft Hoffnung gab: »Gottes Mühlen mahlen langsam«. Die Ukraine trat mehr und mehr in Gottes Welt ein und warf die Fesseln ihrer Versklavung ab. In dieser Zeit, in der alle Völker dieser Welt mit Entsetzen auf ihrem Smartphone die Folgen der Gräueltaten der russischen Armee in der Ukraine sehen, dürfen wir endlich mit der Unterstützung einiger mitfühlender Nationen rechnen. Ich bin allen Bürgerinnen und Bürgern Deutschlands dankbar, dass sie nun auch mit uns sind. Ich hoffe, dass meine Memoiren in dieser Zeit ein nützliches Schaufenster sein können, in das wir ohne unsere Smartphones sehen, wie sich dieses ganze Drama erneut entfaltet, das so alt wie diese Welt ist: der Kampf zwischen Gut und Böse.

I. In der Rolle eines ins Licht fliegenden Schmetterlings 1. Die Grundsteinlegung des Schicksals Meine Geburtsstunde als Dissident erlebte ich in Kyjiw im Kabinett eines Offiziers des KGB. Er leitete die sogenannte »Erste Abteilung« in der Firma »Positron« in Iwano-Frankiwsk und alle Beschäftigten des Werkes standen unter seiner Beobachtung. Ich kam gerade von einer Dienstreise aus Kyjiw zurück, wo ich auf Veranlassung des KGB am 22. Mai 1973 von der Miliz verhaftet worden war, da ich Blumen am Denkmal von Taras Schewtschenko niedergelegt hatte. Für einen KGB-Funktionär aus der Provinz war es ein außergewöhnlicher Fall, der ihn in Form einer dienstlichen Rüge bedrohte. Sein Zögling machte sich strafbar, und dies vor den Augen des KGB der Hauptstadt! Ich erhielt eine heftige Ermahnung. Mir war aber klar, dass die »väterlichen« Ratschläge den erwünschten Effekt verfehlten, als er mich eindringlich warnte: »Bedenken Sie: Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns.« Ich antwortete schlicht: »Gut, dann bin ich gegen euch.« Ich staune noch heute, dass ich so klare Worte riskierte. Heute wäre von mir wohl eher vorsichtig zu hören: »Einerseits …, andererseits …« Es war für mich eine große Erleichterung wie bei einer Geburt, wenn der erste Schrei des Kindes verheißt, dass die Wehen der Geburt überstanden sind. Alle, die eine ähnliche Befreiung von Angst erlebt haben, begreifen, wie sehr die Seele aufatmet, wenn sie von der Last der Ungewissheit befreit wird. Ich werde es bis zu meinem Lebensende nicht fertigbringen, alle Züge eines Homo sovieticus aus mir herauszupressen: Ein Mensch behält sein »angeborenes Trauma« möglicherweise für immer. Gleichzeitig bin ich Gott dankbar, dass an diesem für mich so wichtigen Tag aus dem ideologischen Kokon eines »Sowjetmenschen« ein aktives Leben als Dissident und Andersdenkender begann.

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Der erwähnte Gang zum Denkmal von Schewtschenko war ein Akt des Ungehorsams und zugleich die Frucht eines Kompromisses. Nach den politischen Verhaftungen der Jahre 1972 und 1973 waren am Denkmal die Massendemonstrationen nicht mehr möglich, die während des Chrustschow’schen »Tauwetters« üblich gewesen waren. Schewtschenko zu ehren war zwar offiziell nicht verboten, aber wurde auch nicht gefördert. Mit der herrschenden Doktrin der »Verschmelzung aller Nationen« erwartete die Regierung von ihren Bürgern eine loyale Haltung, die sich von jedem Nationalismus, den es noch gab, freiwillig und gerne lossagte. Das Niederlegen von Blumen am Denkmal des Dichters genau am 22. Mai hieß, ein unausgesprochenes Tabu zu brechen. Es wurde so bewertet, als wäre unser sozialistisches Vaterland ein Objekt ideologischer Sabotage von den Bandera-Anhängern aus der Diaspora. Um die Nationalitätenpolitik der KPdSU zu untergraben, veranlassten diese die ukrainischen Gemeinden im Ausland, Taras Schewtschenko nicht nur am 9. und 10. März, sondern auch am 22. Mai zu ehren, am Tag der Überführung seiner sterblichen Überreste aus Petersburg via Kyjiw nach Kanew zur Umbettung in seine ukrainische Heimat. Alle Ukrainer, die versuchten, die neue Tradition auch in der kommunistischen Ukraine zu pflegen, wurden automatisch als Personen registriert, die nicht loyal zur Sowjetmacht standen, oder noch schlimmer: nationalistisch gesinnt waren. Während des Chrustschow’schen »Tauwetters« versöhnte man sich zuerst mit den feierlichen Massenveranstaltungen der Aufsässigen am Kyjiwer Denkmal des Poeten. Dann wurde erneut damit begonnen, die Teilnehmer brutal auseinanderzujagen und auf verschiedene Art und Weise zu verfolgen. Manchmal wurden sogar Nicht-Ukrainer festgenommen. So hörte ich etwa von einem Georgier, der auch kam, um Schewtschenko zu ehren, dass er ins »Kittchen« gesteckt und wegen »ukrainisch-bourgeoiser nationalistischer Gesinnung« angeklagt wurde. Wir alle, ich und meine neuen Freunde Mykola Matusewytsch und Natalja Faustowa (heute Jakowenko), waren uns bewusst: Wir werden verhaftet, wenn wir an diesem 22. Mai 1973 gegen Abend zum Denkmal gehen. Vielleicht geschieht es aber nicht, da es dann noch nicht als

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eine provokative politische Aktion angesehen wird, wenn wir schon früh am Morgen mit den Blumen kommen. So machten wir es ganz. Wir gingen langsam zum Denkmal hin, legten wortlos die Blumen nieder und fühlten fast körperlich, wie wir von verborgenen, wachsamen Augen beobachtet wurden. Wir verneigten uns schweigend, standen einen Augenblick zum Gedenken da und gingen dann weg: meine Freunde zur Arbeit und ich zum Flughafen Shuljany, von wo ich nach Iwano-Frankiwsk fliegen wollte. Offenbar war alles gut gegangen. Im Flughafen Shuljany hielten mich jedoch Milizionäre fest, brachten mich auf das Revier, durchsuchten meine Sachen und stellten dann die sakramentale Frage: »Warum sind Sie denn zum Schewtschenko-Denkmal gegangen?« Wir waren also beobachtet worden. Offenbar war an diesem Tag Schewtschenkos Denkmal bereits am Morgen zu besuchen nicht ganz ungefährlich … Ich erinnere mich nicht mehr, was ich antwortete, und es spielt auch keine Rolle. Der Knackpunkt war die Frage. In ihr lag, wie in der Spirale der DNS, der Code der ganzen antiukrainischen nationalen Politik der KPdSU. Dieser Politik »verdanke« ich meine erste Bekanntschaft mit dem KGB. Wobei es längst schon, wie sich später erwies, ein Auge auf mich geworfen hatte. Wofür es zwei wichtige Gründe gab: die »befleckte« Geschichte meiner Familie und meine »antisowjetische Aktivität« am Polytechnikum in Lwiw. Nun will ich mehr darüber erzählen. Die Familie als Verhängnis und Glücksbringer Das Ausfüllen von Personalbögen war für meine Schwester Nadijka und mich schon immer ein psychologisches Problem. In der Sowjetunion waren die Fragebögen so aufgebaut, dass »verdächtige Elemente« sofort ausfindig gemacht werden konnten. Offensichtlich war unsere Antwort auf die Frage: »Gibt es Verwandte im Ausland?« sehr verdächtig. »Ja. Die Schwester meiner Mutter, Maria Menzinska lebt in Australien. Die Schwester ihres Vaters, Kateryna Senytsch, in den USA. Weitere Schwestern des Vaters, Maria und Sofija Deberré, in Frankreich.«

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Allein schon durch diese Aufzählung konnte ein gewöhnlicher sowjetischer Personalchef »viereckige« Augen bekommen. Nicht besser war es, wenn es um meinen Vater ging. Er hatte den Vornamen Franko, zu Hause auch Franik genannt, ähnlich wie der österreichische Name Franz. Das hatte aber nichts zu tun mit Iwan Franko oder mit dem spanischen Diktator Francesco Franko. Wer aber konnte das wissen – es lohnt sich bestimmt, es zu überprüfen … (ich scherze). Sein Nachname erregte keinen Verdacht: Ditsjo. Ähnliche ukrainische Nachnamen waren in der Region geläufig. Ich vermute, es war, weil die Familie meines Vaters in dem Teil des Dorfes lebte, das den Namen »Falkenberg« trug, wo damals deutschsprachige Siedler wohnten. Das Geschlecht meines Vaters stammt vom ukrainisierten österreichischen Geschlecht der Dietze. Ich kannte aber meinen Großvater Iwan Ditsjo nicht. Er starb 1917, kurz nachdem mein Vater geboren wurde. Meine Großmutter Hanna musste ihre vier Kinder allein großziehen. Der auf österreichische Art gut klingende Nachname Dietze, klang auf Ukrainisch wirklich nicht schön. Wie sehr litten Nadijka und ich doch in unserer frühesten Jugend, wenn wir ständig die Verdrehung hören mussten: »Die…jak? (Die… wie?) Ditsa? Di-tsiu-o?« Ich ahnte offenbar damals schon, dass ich meinen Nachnamen nicht lange tragen werde. Den ersten Versuch, den Nachnamen des Vaters in den Mädchennamen der Mutter zu ändern, unternahm ich, nachdem sich unser Vater von meiner Mutter scheiden ließ und ich sechzehn Jahre alt war. Ich ging mit einem Antrag auf das Standesamt, wurde aber abgewiesen, da es ein Gesetz gab, dass eine solche Änderung erst im Alter von achtzehn Jahren erlaubte. Wieder zu Hause reagierte ich fast hysterisch, da mein Pass nun doch auf den Nachnamen »Ditsjo« beantragt werden musste. Aber am 5. Januar 1967, am ersten Tag nach meinem achtzehnten Geburtstag, ging ich erneut auf das Standesamt und wurde wieder von derselben Mitarbeiterin empfangen. Sie lächelte und sagte dann: »Nun ändere ich Ihren Nachnamen unverzüglich, da Sie sich wirklich dafür entschieden haben.« So wurde ich zu Myroslaw Marynowytsch.

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Mit dieser Namensänderung tat ich lediglich das, was mein Großvater mütterlicherseits, der Priester Josyp Andrijowytsch Marynowytsch, getan hatte. Sein Geburtsname war »Furla«, was vermutlich vom Namen »Firlai« stammt. Als er sich auf das Priesteramt vorbereitete, wurde meinem Großvater bewusst, dass sein Nachname von den Dorfbewohnern als nicht sehr wohlklingend empfunden wurde. Und er wählte einen Nachnamen, der sich aus dem Namen seiner geliebten Großmutter Maryna zusammensetzte. Ihm folgte sein jüngerer Bruder Antin Andrijowytsch, der ebenfalls ein Marynowytsch wurde. Nach der Namensänderung fühlte ich mich im psychologischen Sinn erleichtert, in bürokratischer Hinsicht dagegen nicht. Ich musste immer wieder die Änderung in den Personalbögen angeben. »Hm …, er ist ein Mann und keine Frau und er hat seinen Namen geändert. Weshalb denn?« Es kam noch dazu, dass es auch mit dem neuen Namen Probleme gab: Er war zwar wohlklingender, aber dennoch weniger treugesinnt. Und zwar deshalb, weil, erstens, mein Großvater ein Geistlicher war, ein Oberpriester mit dem Recht, die Mitra zu tragen. Er war damals Pfarrer des Dorfes Stebnyk (Rayon Drohobytsch, Oblast Lwiw) und später Probst von Drohobytsch. Jeder, der unter sowjetischen Verhältnissen lebte, wusste, was es hieß, aus der Familie eines Geistlichen zu stammen. Meine Mutter musste immer wieder ihre »Unzuverlässigkeit« eintragen, wenn sie auf den Personalbogen schreiben musste: »Tochter eines Geistlichen«. Sie und ihre Schwester Jewgenija (zu Hause Nusja genannt), mussten auch zu verschiedenen Ämtern gehen, wo versucht wurde, sie für die öffentliche antireligiöse Propaganda zu gewinnen. Gottlob ohne jeden Erfolg. Unsere Unzuverlässigkeit wurde durch einen zweiten Grund verstärkt. Der Bruder meiner Mutter, Antin Josypowytsch Marynowytsch, wurde 1944 verhaftet (natürlich als »Volksfeind«) und verstarb bereits 1946 in einem Konzentrationslager in Magadan. Meine Mutter erzählte, eines der Beweismittel für seine »kriminelle Tätigkeit« wären die Noten der Hymne »Noch ist die Ukraine nicht gestorben« gewesen, die bei einer Durchsuchung beschlagnahmt worden waren. Sie hatte seinen Tod erahnt. Für ein geachtetes

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Mitglied der Dorfgemeinschaft und einen Mann, der seine Ehefrau liebte und Vater zweier Kinder war, bedeutete der plötzliche Wechsel aus der geordneten Welt eines gottesfürchtigen Familienlebens in die Teufelei der Wachmannschaften und des Konzentrationslagers einen totalen Schock. Er schrieb in seinem zweiten (und letzten) Brief an seine Angehörigen: »Ich hätte nie gedacht, dass Menschen solche Bestien sein können.« Ziemlich verdächtig war auch mein Geburtsort. Das Dorf Komarowytschi in der Region Dobromyl in der Oblast Drohobytsch liegt dicht an der Grenze zu Polen. Jeder, der in dieses Gebiet gelangen wollte, musste einen speziellen Passierschein aufweisen. In meinem Fall war der Geburtsort leicht zu ertragen. Schlimmer sah es für meine Mutter, ihren Bruder und meine Schwester Nadijka aus: Als Geburtsort war in ihren Pässen das Dorf Wijsko in Polen eingetragen, auf der anderen Seite der Grenze … Als ich noch klein war, führte mich meine Mutter einmal auf einen Hügel, von dem aus man die Umrisse ihres Heimatdorfes am Horizont sehen konnte. Es war ihre Heimat bis ins Jugendalter, doch für mich war es ein Blick wie für Alice im Wunderland. Diese besondere Seite meiner Biografie ließ mich in meiner Kindheit nicht in Ruhe: »Mutti, warum wurde ich in einem anderen Dorf geboren als ihr alle?« Während mein Geburtsort für mich bloß ein Grund für kindliche Eifersüchteleien war, bedeutete es für meine Eltern immer zusätzliche Schwierigkeiten. Sie hatten den Status von Umsiedlern, da sie gemäß einer Vereinbarung zwischen der Regierung der UdSSR und dem Komitee der Nationalen Befreiung Polens über den sogenannten »freiwilligen Bevölkerungsaustausch« nach dem Krieg aus ihrem Dorf Wijsko in der Nähe des Wallfahrtsortes Kalwaria Pacławska, wo mein Großvater vor dem Krieg Pfarrer war, auf das Territorium der damaligen UdSSR ins Dorf Komarowytsch bei Dobromyl umgesiedelt wurden. Das brachte ihnen viele materielle und seelische Entbehrungen. Diese Gegend musste sich nun mit der neuen stalinschen Grenze abfinden – wie mit einer offenen Wunde, die einen lebenden Körper zerschneidet und die Menschen in »Einheimische« und »Umsiedler« teilt.

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Meine Mutter erzählte mir auch, wie sie zum Grund wurde, dass die ganze Familie während des Krieges in die sowjetische Besatzungszone geriet. Mein Großvater, der das Unheil erahnte, packte alle Habseligkeiten auf den Pferdewagen und trat vor dem Angriff der Sowjets mit seiner ganzen Familie den Weg in Richtung Westen an. Die Tochter Ljuba, meine spätere Mutter, wurde auf den Wagen gesetzt. Doch plötzlich konnte sie den Gedanken nicht mehr ertragen, ihren Geliebten im Dorf zu verlassen. Sie sprang vom Pferdewagen und lief ins Dorf zurück. Und ihren Eltern blieb nichts anderes übrig, als die Pferde zu wenden. Die Geschichte wurde zum ersten Dilemma, das ich in meinem Leben lösen musste. Ich ärgerte mich als Kind oft über meine Mutter, da wir wegen ihr in der kommunistischen »Zone« stecken blieben. Doch wozu sollte ich mich aufregen, wenn ich mir bewusst machte, dass ich gar nicht auf der Welt wäre, wenn meine Mutter damals nicht im Dorf geblieben wäre … Mutter erzählte, dass ich in den ersten zwei Monaten nach meiner Geburt allzu sehr »urbi et orbi« verkünden wollte. Ich hatte mich offenbar so lange angestrengt, bis ein Bruch an meinem Bäuchlein entstand. So wurde ich im Januar während eines Schneegestöbers ins Krankenhaus gebracht, wo ich dann operiert wurde. Meine Versuche, weissagend die Welt zu warnen, fanden damit ein Ende. Meine frühste Erinnerung verbindet sich mit Sambir, wohin meine Eltern nach meiner Geburt zogen. (Sie wohnten unweit der Brücke, die über den Eisenbahndamm führt.) In meinem kindlichen Gedächtnis blieb, da in der ersten Hälfte der 1950er-Jahre in Galizien immer noch die Spuren der Hungersnot von 1947 zu spüren waren: Bratkartoffeln gibt es nur am Sonntag. Seit damals ist für mich dieses Gericht ein Festessen. Mein Vater besorgte auch einmal zusammen mit anderen Männern ein Kalb und schlachtete es auf unserem Hof. Es war die erste Begegnung mit dem Tod, was meine ersten Kindheitserfahrungen sehr prägte. In Sambir lebten wir nur kurz. Bereits 1955 zogen wir nach Drohobytsch um, wo es für meine Eltern leichter war, eine Arbeit und eine Wohnung zu finden. Meine ersten Wanderungen »zu den Säulen des Herkules« sind deshalb mit dieser Stadt verbunden.

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Drohobytsch wurde zu meiner Heimatstadt, nicht durch Geburt, sondern durch meine Erziehung. Ich fühlte mich in der Mittelschule Nr. 2 (heute: Lyzeum) sehr wohl. Sie bescherte mir liebe Lehrer und Freunde und natürlich: meine erste Liebe! Ich bin unter dem Schutz der zärtlichen Liebe meiner Mutter und meiner Schwester Nadijka aufgewachsen. Ich beginne beim Erzählen mit meiner Mutter und mit einer Kränkung, die sie mir gegenüber empfinden konnte: Ich erinnere mich nicht an die ersten Umarmungen meiner Mutter! Ich erinnere mich dagegen, wie mein Vater mich in die Arme nahm. Er tat es selten, deshalb war es etwas Besonderes und blieb mir im Gedächtnis. Die Umarmungen der Mutter waren meine gewohnte Umgebung, die Welt meines Trostes. Ich empfand sie als völlig normal. Heute protestiert alles gegen diese Ungerechtigkeit, mich nicht zu erinnern. Meine Mutter war die Quelle meiner Liebe – einer Liebe tief aus dem Mutterherz, was auch ihrem tiefen Glauben entsprach. Sie war gut vertraut mit den Riten ihrer Kirche. Ich bewunderte schon immer die Aufrichtigkeit ihres Glaubens. Er war völlig frei von allem Fanatismus und von dem unter frommen Leuten verbreiteten Pharisäertum (Heuchelei). Meine Schwester und ich wuchsen auf der Grundlage des Evangeliums ohne jede Moralpredigt und mütterliche Tyrannei auf, einem Glauben mit Herz und Verstand, nicht nur eine religiöse Pflicht. (Ein Tyrann zu sein, versuchte später ihr Söhnchen. Als ich aus der Haft zurückgekehrt war, bedrängte ich meine Mutter mit meinen Ansichten und wollte, dass sie meine eigene doktrinäre Glaubenskonstruktion aufnimmt. Schließlich wehrte sie sich: »Mein Kindchen, lass mich so glauben, wie ich es von klein angewohnt bin und zwinge mich nicht zu etwas anderem!« Wie peinlich mir ihre klaren Worte waren!) Soweit ich mich zurückerinnern kann, arbeitete meine Mutter stets mit Büchern, zuerst in einem sogenannten »Bibliothekskollektor« und später in Buchläden in Drohobytsch, und bevor sie in Rente ging, in der Abonnementsabteilung der Buchhandlung »Kamenjar«. Mir gefielen von klein an die akkuraten Bücherregale, die so viel Interessantes in sich bargen. Für mich bedeutete ein Buch in die Hand zu nehmen und es aufzuschlagen ein Vergnügen wie heute das Einschalten des iPads für die Jugend.

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Ich entdeckte früh in meiner Kindheit, dass mein Vater nicht nur gut, sondern auch böse sein konnte, besonders wenn er betrunken war. Dann ging es laut zu in der Wohnung, die Möbel krachten und unsere Mutter weinte wegen seinen Schlägen. Diese erste Erfahrung von Angst zeigte sich bei mir in einem leichten Stottern. Erst im Erwachsenenalter gelang es mir, es zu überwinden. Gleichzeitig keimte in mir die erste Rebellion. Auf die traditionelle »Testfrage« der Eltern, wen ich mehr liebe: »Mutter oder Vater«, antwortete ich nicht mehr mit den für unsere Gäste zurechtgelegten und vorgetäuschten Worten »beide gleichermaßen«. Mein Vater war in einem traditionellen Geist erzogen worden, einer »patriarchalisch-strengen und konservativen« Tradition mit primitiven Vorstellungen über die Familie und des stolzen Vorrangs des Manns und einer erniedrigenden Unterordnung des »Weibes« unter den Mann. Wenn einer eifersüchtig auf seine Frau war (wie man damals sagte: »auf jede Säule«), war das eine Manifestation der Liebe zu ihr, Schläge waren ein Mittel ihrer Erziehung. Mutter sagte häufig voller bitterer Ironie den Spruch: »Im Mai gefreit, das ganze Leben bereut«. Es blieben mir aber nicht nur verletzende Erfahrungen in Erinnerung. Mein Vater war ein sehr kameradschaftlicher Mensch. Wir wohnten in Drohobytsch in der Nähe der Omnibusstation. Mein Vater, der als Kraftfahrer arbeitete, brachte öfters unbekannte Menschen in unsere Wohnung, denen die Aussicht drohte, auf der Straße übernachten zu müssen. Ich mochte diese Momente sehr, denn sie brachten interessante Begebenheiten mit sich – außergewöhnliche Gespräche, und das Schönste für mich: Ich durfte auf einer auf dem Fußboden ausgebreiteten Matratze schlafen. Ich war selten allein mit meinem Vater. Ich erinnere mich aber an eine Zeit, wo wir durchaus hätten Freunde werden können. Er wollte mir einmal seinen Hauptberuf, »das Chauffieren«, beibringen. So fuhr er zwei- oder dreimal mit mir aus der Stadt heraus und übergab mir dann das Lenkrad – ich war aber offenbar als sein Schüler unverständig, oder er verlor die Geduld. So wurde der Unterricht bald eingestellt. Ich kann nicht auf alle Einzelheiten eingehen, warum und wie in mir die Liebe zum Vater erlosch. Er ist längst verstorben und

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möge in Frieden ruhen. Ich sage nur, dass ich alles Väterliche ablehnte, extrem und typisch für einen Jugendlichen. Hier ein Beispiel, das nicht so sehr meinen Vater als vielmehr mich selbst in ein unschönes Licht rückt: Kurz bevor er uns verließ und zu einer anderen Familie zog, beschloss mein bereits stark angetrunkener Vater mich auf die Probe zu stellen. Ich war damals etwa vierzehn Jahre alt und las gerade ein Buch. Ich hörte nicht zu, was er sagte. Erst später wurde mir bewusst, dass er drohte, »Säure zu trinken«. Ich zuckte nur mit den Achseln und glaubte ihm kein Wort. Ich rührte mich auch dann nicht, als er auf den Boden fiel und zu röcheln begann. Es war für mich sein typisches Theater. In diesem Moment trat meine Großmutter Hanna ins Zimmer und stieß, nachdem sie alles wahrgenommen hatte, einen Schrei aus. Es stellte sich heraus, dass er tatsächlich Salzsäure getrunken hatte. Die Großmutter konnte es nicht fassen, dass ich ignorierte, was mein Vater tat. Auch der Milizionär schaute mich erschüttert an, als er mich in dieser Sache verhörte. Ich gebe offen zu, dass ich in diesem ersten Verhör meines Lebens später über meine Antwort auf die Frage: »Junge, kannst du wirklich so herzlos sein?!« erschrak. Nun, ich bin lange und hart zu dieser Unempfindlichkeit gekommen … Zum Zeitpunkt, als ich meinen Nachnamen änderte, lebte mein Vater bereits bei einer anderen Familie. Trotzdem schmerzte ihn meine Absage sehr und er versuchte einmal sogar, mich dafür zu schlagen, als er betrunken war und wir uns zufällig auf dem Hauptplatz von Drohobytsch trafen. Seither verstehe ich, dass meine Tat (die Namensänderung) für mich zwar eine Erleichterung war, anderen aber Leiden bereitete. Heute würde ich meine damalige Entscheidung nicht mehr als vorbildlich bezeichnen. Die damaligen familiären Probleme hinterließen im Herzen meiner Großmutter Hanna eine tiefe Wunde. Sie liebte mich unendlich, war aber gezwungen, ihrem Sohn in eine andere Familie zu folgen. In meiner rebellischen Phase gab es auf meiner »Ikonostase« nur zwei »heilige Menschen«: meine Mutter, die mich mit ihrem Gebet und ihrer Liebe jeden Tag und jede Stunde vor dem Bösen bewahrte, und meine von mir verehrte Schwester Nadijka, die für mich zum geliebten Ersatzvater, Lehrer und Freund wurde.

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Bei meiner Mutter sind auf eine wunderbare Art Ängstlichkeit und Mut verbunden. Sie erinnerte sich oft an Überfälle des NKWD (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) in ihrer Jugendzeit und zitterte bis ans Lebensende, wenn sie unbekannte Schritte im Korridor hörte. Nach meiner Verhaftung brachte sie mir aber furchtlos Päckchen, »putzte die Klinke« der Kabinette des KGB und besuchte mich im Lager und in der Verbannung. In den letzten Jahren vor meiner Verhaftung, als ich mir wünschte, dass alle den Kampf gegen das Sowjetsystem aufnehmen, hielt ich meine Mutter für viel schwächer als sie tatsächlich war. Ich ärgerte mich sogar häufig über sie. Heute schmerzt es mich, wenn ich daran denke. Doch das KGB war schlauer als ich: Sie begriffen sehr gut, welche Rolle meine Mutter in meinem Leben spielte. Deshalb liebten sie sie überhaupt nicht. Einer sagte mir einmal sehr direkt: »Das alles ist das Resultat Ihrer unierten frommen Erziehung!« Nun ja, das KGB irrte sich in diesem Fall nicht. Schon in den Tagen der Unabhängigkeit der Ukraine, als es möglich wurde, nahm Mutter mich und Nadijka zweimal mit in ihr Familiendorf, das jetzt ganz polnisch ist. Die Griechisch-Katholische Kirche und das Denkmal für die Kämpfer der Ukrainischen Galizischen Armee (UGA) standen noch, sie wurden von der großen ukrainischen Gemeinde von Przemyśl gepflegt. Das Gehöft des Großvaters dagegen war völlig verwildert, was meine Mutter erschütterte. In ihrer Erinnerung lebte das bukolische Bild des Paradieses ihrer Kindheit. Das Dorf Wijsko zeigte sich uns gegenüber sehr freundlich als eine starke Gemeinschaft. Ich denke bis heute gerne an die damaligen Bewohner von Wijsko. Unterdessen erscheinen Bücher über das Dorf, die alte Heimat wird regelmäßig aufgesucht und man trifft sich, um sich gemeinsam an die Vergangenheit zu erinnern. Wenn ich mir die unheilbaren Wunden vor Augen führe, fällt es mir leichter, mir die Gefühle der polnischen Bewohner der »Kresy« vorzustellen, die »ihre« Orte in Lwiw oder in Drohobytsch besuchen. So etwa Professor Zenon Bankowski aus Großbritannien, ein ethnischer Pole, der mich unlängst bat, sein Fremdenführer zu sein und der in Lwiw das Haus seines betagten Vaters ausfindig machen wollte.

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Meine Mutter brachte mir bei, die Heimat zu lieben und die Fremde nicht zu hassen. Sie kannte die ethnischen Besonderheiten der Polen, Russen und Juden. Nicht alles daran gefiel ihr. Sie nährte aber nie den Hass. Als echte Christin verstand sie es, dass auch wir Ukrainer nicht frei von Sünden sind. Unser Haus war immer offen für alle Gäste. Das nicht leichte Schicksal einer Frau hatte für meine Mutter eine besondere »menschenrechtliche« Folge. Mir war noch kein einziges Barthaar gewachsen, als ich mich einmal zwischen meinen Vater und meine Mutter stellte; entschlossen, meine Mutter zu beschützen, als der betrunkene Vater sie schlagen wollte. Ich konnte es als Jugendlicher nicht ertragen, wenn eine Frau in meiner Gegenwart erniedrigt wird. Das ist mir heute noch zuwider. Eine gewisse Zeit machte ich mir sogar zur Regel, bei Schulfesten mit allen Mädchen zu tanzen. Ich forderte zum ersten Tanz dasjenige Mädchen auf, das die geringsten Chancen hatte, einen Jungen abzubekommen. Es war für mich eine Form des Protestes. Ich wurde damit kein völliger »Feminist«, da mich jede Art von Ideologie abstößt, dennoch wurde ich später ihr »Verbündeter«. Ich verdanke das den Mitgliedern des Bundes der ukrainischen Frauen in Drohobytsch. Meine Mutter ahnte voraus, dass vor ihrem Sohn ein schwerer Weg liegt. Seit meiner Geburt hatte ich auf der rechten Wange ein Muttermal. Es wurde damals gesagt, es bedeute ein besonderes Schicksal. Meine Mutter sagte deshalb in meiner Kindheit einmal zur eigenen Beruhigung: »Du wirst sicher nie ein Spion.« Na ja, es stimmt, ein Spion wurde ich nicht, aber mein Muttermal stand mir auch nicht im Weg, als »kanadischer Spion« bezeichnet zu werden. (Warum gerade ein kanadischer und nicht ein amerikanischer Spion? Bei Gott, das weiß ich nicht! Diese Lüge verbreitete das KGB in Wasylkiw während meiner Zeit als Dissident.) Es war nicht das einzige Merkmal, mit dem ich besonders »gezeichnet« war. Gegen Ende meines Studiums am Lemberger Polytechnikum bildete sich genau an der Stelle, wo sich die Frauen in Indien einen »Tupfen« (»Bindi«) aufmalen, auf meiner Stirne ein weiteres auffälliges Muttermal. Es kam von selbst und ganz unerwartet. Ich, meine Mutter und Nadijka waren sehr erstaunt und dachten sogar daran, mit mir in einen Kosmetiksalon zu gehen, um

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das Muttermal entfernen zu lassen. Aber nach etwas mehr als einem Jahr verschwand es wie von selbst. Irgendwo las ich später, dass Muttermale an diejenigen gesandt werden, auf die eine besondere Heimsuchung wartet … Als ich erwachsen wurde und bereits meine politischen Sympathien zeigte, bat mich meine Mutter: »Mein Sohn, mach bloß nicht bei einer Untergrundorganisation mit!« Ich versprach es ihr völlig aufrichtig, da ich wirklich keinen Hang zum Untergrund hatte. Als ich später Mitglied der Ukrainischen Helsinki-Gruppe wurde, machte mir meine Mutter einmal den Vorwurf: »Ich habe dich so sehr gebeten, nicht einer illegalen Gruppe beizutreten, und du hast nicht auf mich gehört.« Ich antwortete völlig zutreffend: »Verzeih mir, Mama, aber diese Gruppe ist nicht illegal.« Der Vorwurf war »hausgemacht«. Ihr mütterliches Gefühl hatte zwei »Kämmerchen«. In einem lag die mütterliche Angst, dass ihrem Kind etwas zustößt. Welche Mutter kennt nicht die Macht dieser Worte. Das Kind musste doch vor jeder Gefahr beschützt werden. Im anderen »Kämmerchen« lag der Stolz auf ihren Sohn, was das KGB gut erkannte. Mykola Rudenko schrieb über diesen Stolz in seinen Erinnerungen aus der Zeit als ich Mitglied der Ukrainischen Helsinki-Gruppe: Myroslaw lud seine neuen Freunde, die Mitglieder unserer Gruppe, zu seinem Geburtstag nach Kalyniwka [im Original nicht richtig: »nach Bojarka«] ein, wo er gerade lebte. Ich lernte dort auch seine Mutter kennen. Am meisten beeindruckte mich an ihr, wie sie uns dankte, dass wir ihren Sohn in die Helsinki-Gruppe aufgenommen hatten und ihm unser Vertrauen zeigten. Es war wahrhaft ein aufrichtiger Dank, obwohl es meiner Ansicht nach viel natürlicher für eine Mutter gewesen wäre, uns zu schelten, statt zu danken. Sie war ein Vorbild für manche Familien: Myroslaws Mutter war eine wahrhafte galizische Intellektuelle. Dieses Milieu war mir zuvor völlig unbekannt.1

Als bei meiner Mutter die Nachricht aus dem Lager eintraf, dass ich in einen Hungerstreik getreten war, hungerte sie ebenfalls. Nicht aus politischen Gründen, sondern bloß, weil sie aus 1

Mykola Rudenko. Das größte Wunder – das Leben: Erinnerungen. Kanadisches Institut für ukrainische Studien. Kyjiw/Edmonton/Toronto: Verlag »Taxon«, 1998, S.435 (im Weiteren: Mykola Rudenko. Das größte Wunder – das Leben).

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psychologischen Gründen nichts mehr essen konnte. Später erzählte sie mir: »Allein schon beim Gedanken, dass du im Hungerstreik bist, blieb mir das Essen wie ein Kloß im Hals stecken.« Meine Mutter glaubte damals an eine besondere Stafette der Generationen. Ihre eigene Mutter Maria Marynowytsch (Mädchenname: Menzinska) legte sich absichtlich auf den Zementfußboden, um sich vorstellen zu können, was ihr ältester Sohn Antin erlebte, als er ins Gefängnis des NKWD geworfen wurde. Und so werde ich mich in diesem Buch noch oft an meine Mutter erinnern. Zu meiner Schwester Nadijka hatte ich schon von klein an eine besondere Beziehung. Als ich aus der Entbindungsstation gebracht wurde und meine Mutter mich wickeln wollte, schrie die vierjährige Nadijka: »Pass auf, dass du ihn mir nicht erdrückst!« Ich war ihr Eigentum – und meine Mutter in dem Fall im Abseits. Nachdem für mich Nadijka die erste Lehrerin wurde, wurde ich für sie ihr erster Schüler, den sie wie ein Brikett aus Plastilin formen konnte. Manchmal fiel dieses »Brikett« ihr aus der Hand und trieb manchen Unfug. Mal zog er sein Schwesterlein an den Haaren, mal rannte er um die Ecke und jagte der Schwester einen Schrecken ein. Meistens wurde aber unser »Luxus« einer bescheidenen Kindheit durch zwei geteilt. Es reichte völlig aus, einen Hocker umgekehrt aufzustellen, die Beine mit Großmutters Kopftuch zu bedecken: Und schon schauten daraus die beiden Kinderköpfe; sofort kamen von irgendwo eine prächtigen Zarentochter und ein tapferer Prinz auf dem Pferd und damit der ganze Zauber des geliebten Märchens. Nadijka erfuhr in ihrer frühen Kindheit einen schweren Schicksalsschlag. Die Ärzte stellten eine schreckliche Krankheit fest, die in unserer Region ziemlich häufig war: Skoliose (Rückgratverkrümmung). Die Eltern verkauften das Fundament des Hauses, das sie gerade bauten, und Mama nahm Nadijka mit nach Kyjiw, wo sie eine Physiotherapie erhielt. Als die Krankheit sehr rasch fortschritt, vermuteten wir, dass sich die Ärzte in ihrer Einschätzung geirrt hatten. Die Rückgratverkrümmung nahm bereits in kurzer Zeit die letzte bzw. die dritte Stufe an. So zog über Nadijkas Jugend eine dunkle Wolke der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit auf. Andere Frauen wären an ihrer Stelle längst zerbrochen,

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doch bei Nadijka gewann die Lebensfreude die Oberhand. Es ist einfach nur erstaunlich, wie sie nach diesem Schlag zur Seele der Schüler-, Studenten- und später der Lehrerschaft werden konnte. Die Tatsache, dass sie invalid war, hinderte Nadijka nicht, den gutaussehenden Mann Leonid Lahodny aus Riwne zu heiraten. Als Familie hatten sie aber kein leichtes Schicksal. Bereits in den ersten Tagen ihrer Ehe (sie heirateten am 25. Juli 1970) zeigte sich, dass die beiden es nicht einfach haben werden. Das bestätigt auch das ungewöhnliche »Hochzeitsfoto«, das nach einem Missverständnis zwischen uns von mir stümperhaft am Hochzeitstag aufgenommen wurde. Die jungen Leute hatten schon einige schwere Schicksalsschläge hinter sich und sie passten auch in ihrem Charakter nicht zueinander. Ebenso wichtig ist, dass sie dennoch ein reines Geschenk des Schicksals füreinander waren. Nadijka hat auch mein philosophisches Credo programmiert. Einmal teilte sie mit ihrem kleinen Bruder ihre philosophische Entdeckung, das Konzept der »goldenen Mitte«. Das prägte sich sofort in mir als Mechanismus des »Imprinting« ein: Von da an und bis heute fixiere ich zunächst in allem die entgegengesetzten Seiten, um die »goldene Mitte« zu finden. Noch später fiel mir auf, dass das ukrainische Wappen im Trisub »dem Dreizack« dieselbe Logik hat: Beide Seiten zeigen zueinander das normale und das gespiegelte Muster (R und Я). Dazwischen windet sich ein Bündel, das beide verbindet und versöhnt. Nadijka war damals Studentin der englischen Philologie im Pädagogischen Institut von Drohobytsch und kannte meine Neigung zum Lernen von Sprachen gut. Von ihr gewöhnte ich mir eine gute englische Aussprache an und merkte mir auch, dass Hemingway ein Name ist und deshalb das Wort auch nicht in einem Wörterbuch nachgeschlagen werden kann, wie es eine ihrer Mitstudentinnen im Unterricht tat. Nadijka beendete das Studium glänzend und fuhr dann als junge Spezialistin nach Riwne an die Mittelschule Nr. 15. Dort in Wolhynien warf sie schließlich den »Lebensanker« für ihr ganzes weiteres Leben aus. Meine Schwester war es auch, die mich überzeugte, nicht Philosophie oder Geschichte zu studieren, sondern ein Studium an

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einer polytechnischen Hochschule anzutreten. In den 1960er- und 1970er-Jahren verdammte eine humanistische Bildung die Leute zu einer unendlichen ideologischen Indoktrination. Die Sphäre der exakten Wissenschaften war dazu vergleichsweise eine Oase der Freiheit. Schließlich bewegen sich Elektronen nicht deshalb in eine bestimmte Richtung, weil es die kommunistische Partei will, sondern weil es dem physikalischen Gesetz entspricht. Später entnahm ich der Presse, dass Leonid Pljuschtsch auch diese Meinung vertrat: »Die Naturwissenschaft ist das Gegengift gegen die ideologische Säuberung. Schließlich war ideologische Falschheit in den exakten Wissenschaften unmöglich.«2 Für Nadijka kam es nicht in Frage, ihren Bruder nach seiner Verhaftung zu verleugnen oder zu verurteilen. Das sagte sie den Mitarbeitern des KGB gleich zu Beginn. Umsichtig und gleichzeitig kühn hielt sie die Verbindung mit anderen Dissidenten und deren Angehörigen aufrecht und überstand die erniedrigenden »Spießrutengänge« der Leibesvisitationen (vollständige Entkleidung), als sie und meine Mutter mich im Lager im Kutschyno (Region Tschusowoj, Oblast Perm) besuchten. Im Blick auf mich entschlüpfte ihr nie ein vorwurfsvolles oder beleidigendes Wort. Ganz im Gegenteil, ihre Liebe, Zärtlichkeit und Güte schien noch hundertfach zu wachsen. Außerdem wiederholte sie beständig ihr Mantra: »Alles wird gut!« Sehr rasch begriff ich in der Haft: Die zuverlässigsten Säulen meines Universums sind meine Mutter und meine Schwester Nadijka. Sie beide legten das Fundament meines Charakters und meiner weltanschaulichen Einstellung. Das Wichtigste dabei war, was ich zu Beginn meines ersten Essays »Das Evangelium eines Narren in Christo« im Lager schrieb: »Meine Mutter und Schwester Nadijka gewidmet, von denen ich zum ersten Mal die Wissenschaft der Liebe ergründen konnte.« Meine Erzählung über die Quellen meiner Weltanschauung in der Kindheit wäre aber unvollständig, wenn ich nicht meinen 2

Leonid Pljuschtsch. Seiten der Krimgeschichte. »Wir erwachten aus der Lethargie der Hoffnungslosigkeit, des gleichgültigen Empfindens der Versklavung« (http://ru.krymr.com/content/article/26978284.html). Alle russischsprachigen Zitate im Text dieses Buches wurden übersetzt von Ljuba Marynowytsch.

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Großvater erwähnen würde, der 1907 vom Griechisch-Katholischen Bischof Kostjantyn Tschechowytsch die Priesterweihe erhielt. Mit ihm traf ich mich zwar nur selten und nur im Sommer oder zu Festtagen, doch sein Einfluss war gewaltig. Meine Erinnerung an sein Gehöft (heute ist die damalige Pfarrei im Dorf Stebnyk in mehrere Wohnungen aufgeteilt) ist umhüllt von einer außergewöhnlichen Wärme: der Hund Karus, der sich bei jeder Begegnung immer so lieb an mich schmiegte; der Geruch der Tomaten aus Großvaters Garten (heute riecht keine Tomate mehr so wunderbar); die fünf Rubel, die der Großvater feierlich für jede meiner »Fünf[en]« im Schuljahreszeugnis (damals die beste Note) abzählte … Außerdem erinnere ich mich, wie gerne ich beim Großvater das Geschirr abwusch, sehr zur Freude des Dienstmädchens Hanna! Den fettigen Schmutz liebte ich natürlich nicht, umso mehr aber den Anblick des sauberen Geschirrs. Einige wenige Handbewegungen und gleichzeitig ein so eindrückliches Ergebnis! Dieser Effekt gefällt mir heute noch. Mit meinem Großvater ist auch die Erinnerung an meine eigene »Wanderung zu den Säulen des Herkules« verbunden. Nach einer längeren Zeit wollte ich wieder einmal gerne meinen Großvater sehen, wofür ich aber den Zug benutzen musste. So begab sich der kleine Junge, ohne es jemandem zu sagen, auf den Weg zum Bahnhof, der gute drei Kilometer entfernt lag. Als ich in einem Kiosk ein Spielzeugauto sah, änderte ich mein Vorhaben und entschied mich, es zu kaufen – mit diesem wäre die Reise zum Großvater doch schneller und nicht so anstrengend. In meiner Hosentasche hatte ich einige Papierchen, die Kopeken darstellten, die ich mit Bleistift gemalt hatte. So hatte ich doch Geld. Ich hielt das Geld der Kioskverkäuferin entgegen und bat sie, mir das »Auto« zu verkaufen. Als sie mir das Auto aber nicht verkaufen wollte, machte ich mich beleidigt weiter auf den Weg zum Bahnhof. Dort gab mir ein verärgerter Schaffner ein entschiedenes Nein zu meinem Wunsch »Ich möchte Opa sehen«, als er sah, wie ich in einen Waggon klettern wollte. In Tränen aufgelöst schlenderte ich langsam nach Hause zurück. Zu Hause empfing mich eine verzweifelte, aber nun glückliche Mutter sowie mein Vater, der mich mit Humor fragte: »Na, wie

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viele ›Klapse‹ soll ich dir denn geben?« Worauf ich mit meinem Gefühl der Gerechtigkeit antwortete: »Einen«. Mutter erinnerte sich später, dass ich damals in Wirklichkeit doppelt so viel auf den Hintern verdient hätte. Die Erinnerung an meinen Großvater hatte auch im Erwachsenenalter die Kraft, meine Handlungen in Richtung des Guten zu korrigieren. Auch wenn diese These auf Leser nicht sehr überzeugend wirken mag, denn in meiner Jugend bin ich atheistischer Skepsis nicht aus dem Weg gegangen. Mein Großvater hat mir Respekt vor dem Priestertum beigebracht, aber das hat mich nicht daran gehindert, die gesamte Schule der kommunistischen Indoktrination zu durchlaufen: als Oktoberkind, Pionier und später als Komsomolze. Es ist wichtig, zu betonen: Die Erinnerung an meinen Großvater beeinflusste mich weniger ideologisch als ethisch; indem ich verstand, dass ihm meine schlechten Taten nicht gefielen. Ich wollte in seinem Andenken würdig bleiben (was mir natürlich längst nicht immer gelang). Mein Großvater wurde für mich zum Vorbild einer tiefgründigen aristokratischen Haltung, nicht dieser primitiven »Aufgeblasenheit«, mit der ein eitler »Parvenü« auf der Leiter emporsteigt, um auf die oberste soziale Stufe zu kommen, sondern mit dieser würdevollen Geisteshaltung, die aus jedem Blick, aus jeder Geste spricht. Ich kann mich nicht erinnern, dass es mir mein Großvater jemals mit Worten erklärte – sein Beispiel genügte vollkommen. Die gesellschaftlichen Umstände der 1920er- und 1930er-Jahre brachten es mit sich, dass zum Leben eines ukrainischen Griechisch-Katholischen Priesters fast unabwendbar die Opposition zur polnischen Macht oder mindestens die Konkurrenz mit der Römisch-Katholischen Geistlichkeit gehörte. Als Priester des Dorfes Wijsko befand er sich in einer angespannten Beziehung zu den örtlichen Franziskaner-Patern. Deshalb wurde er auch mehrmals inhaftiert: in den Jahren 1919/20 im berühmten Bryhidky und 1922 im Gefängnis des Bezirksgerichtes Przemyśl.3 3

Hier und im Weiteren sind die Materialien über meinen Großvater den Forschungen von Priester Bogdan Prach, Rektor der UKU, entnommen: Bogdan Prach. Klerus der Przemysker Diözese und der Apostolischen Verwaltung der

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Noch im Jugendalter versuchte ich zu verstehen, was »einen fleißigen [Griechisch-Katholischen] Priester, aktiven Bürger und eine Autorität unter der Geistlichkeit der Przemysker Diözese zwang, im traurigen Jahr 1946 zur Orthodoxie überzutreten.« Dass Zwang ausgeübt wurde, war klar. Er traf die Entscheidung im Gefängnis, wo sich damals ein großer Teil des GriechischKatholischen Klerus befand. Alle Inhaftierten wurden auf grausamste Art gefoltert – man wollte aber den Kindern in der Familie davon nicht erzählen. Priester Bogdan Prach weist in seiner Nachforschung darauf hin, dass seine Entscheidung vom Versprechen beeinflusst war, dass der im November 1944 verhaftete Sohn Antin freigelassen wird. [Das Versprechen wurde allerdings nicht erfüllt. Sein Sohn verstarb 1947 in Kolyma.]4

In meiner Jugendzeit sah ich einmal einen sowjetischen Dokumentarfilm über das Pseudo-Konzil von 1946 in Lwiw (sein Titel lautete wohl: »Die letzten Seiten«). An einer bestimmten Stelle geht die Kamera an den Teilnehmern vorbei. Plötzlich taucht das Gesicht meines Großvaters auf: angespannt, gequält und voller Tragödie. Alle Teilnehmer waren vom Schicksal gezeichnet und sahen eingeschüchtert aus. Es waren einfach nur noch erkaltete Masken terrorisierter Menschen. Diese Gesichter sagten mir mehr über die bedrückende Atmosphäre der damaligen Ereignisse als viele historische Untersuchungen. Genau dies bildete in mir den ersten Keim für die Entscheidung, die ich 1990 traf, als ich aus der Orthodoxie in den Schoß der Griechisch-Katholischen Kirche zurückkehrte, um die historische Gerechtigkeit, die meinem Großvater versagt wurde, wiederherzustellen. Während meines Aufenthaltes in Philadelphia (bereits in den Jahren der Unabhängigkeit) sagten mir gut informierte Leute, mein Großvater wäre mit mehreren anderen Priestern auf Beschluss des Untergrundes zur Orthodoxie übergetreten: Man wollte »retten, was zu retten war«. Das mag so stimmen, aber ich brauchte für

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Lemkiwschtschyna, in 2 Bd., Bd. 1: Biographische Abrisse (1939–1989). Lwiw: Verlag der Ukrainischen Katholischen Universität, 2015, S.291 (im Weiteren: Bogdan Prach. Klerus der Przemysker Diözese). Ebd. S.24.

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diesen Schritt, was kaum erstaunt, diese Rechtfertigung nicht. Ich will und kann meinen Großvater nicht richten. Ich verneige mein Haupt einfach vor allen Priestern, die im sibirischen »Golgatha« (an all diesen schrecklichen Orten) Griechisch-Katholisch blieben und sich nicht dem grausamen Druck beugten. Ich beteilige mich auch nicht, wenn heute die damals Abtrünnigen verflucht werden. Schließlich wurde der Griechisch-Katholische Klerus in jenen satanischen Zeiten Opfer eines brutalen Proselytismus, also der Konversion zu einem anderen Glauben durch die Gewalt des Staatsterrors. Dafür sind nicht diejenigen zu verurteilen, die dem Terror erlagen; es muss die Macht selbst gerichtet werden, die dafür verantwortlich war. Außerdem will ich auch nicht die guten Taten vergessen, die in Galizien durch diese sehr gewissenhaften Priester vollbracht wurden. Dass Priester Josyp ein guter Seelsorger war und sich bis heute Kirchgänger mit guten Worten an ihn erinnern, bestätigte mir eine wichtige Tatsache. An der Wende der 1980er- zu den 1990er-Jahren verlangten Hitzköpfe, als die Pfarrei von Stebnyk zur GriechischKatholischen Rechtsprechung zurückkehrte, die Gedenktafel an Priester Marynowytsch wegen »seines Verrates« von der Kirchenwand entfernen zu lassen. Zum Glück wurden sie weder vom damaligen Pfarrer, Priester Petro-Josef Geriljuk-Kupczinski, noch von der Mehrheit der Kirchengemeinde unterstützt. In meinen Familienalben findet sich auch ein Foto aus der Zeit von Mychajl Melnyk, der damals Griechisch-Katholischer Priester war und den das Moskauer Patriarch vor dem Pseudokonzil der Pfarrei meines Großvaters in Lwiw zum Bischof weihte. Bald danach kam es zu einem tragischen Ereignis. Im Oktober 1955 sollte eine Pilgerfahrt zu den Feierlichkeiten der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) anlässlich des zehnten Jahrestages des Pseudokonzils durchgeführt werden, zu dem Bischof Melnyk und Priester Wolodymyr Konowsky, Sekretär der Diözesenverwaltung, zusammen mit meinem Großvater fahren sollten. Mein Großvater erkrankte damals heftig, womit er unmöglich reisen konnte. Die beiden anderen Priester aßen dann, bevor sie am 7. Oktober in Lwiw in den Zug nach Kyjiw stiegen, gemeinsam zu Frühstück bei Pankraty, dem Erzbischof der ROK von Lwiw und Ternopil. Wolodymyr starb am

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9. Oktober als Erster noch im Eisenbahnwaggon und Bischof (Erzpriester) Mychajl später in seinem Hotelzimmer in Kyjiw. Der offizielle Befund lautete »verschlepptes Herzleiden«. In Drohobytsch ging aber das Gerücht um, beide seien vergiftet worden. (Es gibt Beweise, die es bestätigen. Der Pathologe Jakowlew offenbarte der Frau von Priester Kunowsky vor seinem Tod, ihr Mann wäre in Wirklichkeit vergiftet worden.5) Ich erinnere mich an das Bild des riesigen Begräbnisses, wie die Leute dicht aneinander von der Truskawezer Straße bis zur Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit und hin zum Friedhof standen. Meine späteren Gespräche mit einigen Bischöfen und Pfarrern der Untergrundkirche bestätigten die für mich unerwartete Tatsache. Praktisch niemand beteiligte sich daran, diejenigen zu verurteilen, die 1946 zur Orthodoxie übertraten. Selbstverständlich billigten sie die Entscheidung nicht und hielten sie auch für falsch. Damals bestätigten alle – jeder auf die eigene Art – nur: »Die Zeit damals war so schrecklich, dass ich nicht das Recht habe, jemanden zu verurteilen.« Die ganze Angelegenheit darf sicher nicht moralisch relativiert werden, doch jeder weiß in diesem Moment tief in sich, was in Gottes Gebot steht: »Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet« (Matthäus 7,1). Die wichtigste Antwort erhielt ich 1996 von der GriechischKatholischen Kirche, als Bischof Julijan Woronowsky mich einlud, mich der Delegation der Diözese von Sambir-Drohobytscher anzuschließen, um der ersten Sitzung des Konzils des Patriarchats der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche (UGKK) beizuwohnen. Der Sekretär des Konzils, Bischof Julijan Gbur, sandte mir die offizielle Einladung. Die großzügige Geste hatte eine hohe symbolische Bedeutung: Der Enkel eines Teilnehmers des Pseudokonzils in Lwiw von 1946 war fünfzig Jahre später an der ersten Sitzung des Konzils der neugeborenen Kirche dabei! Derselbe Name, dieselbe Familie – und dazwischen der tiefe Graben des früheren Dramas, den die Kirche auf eine christliche Weise zuschütten wollte. Die Familie meines Großvaters mit all ihren Verzweigungen war patriotisch gesinnt (wie eigentlich die ganze Familie 5

Bogdan Prach. Klerus der Przemysker Diözese, S.572.

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väterlicherseits). So ist es auch nicht erstaunlich, dass ich in einer Atmosphäre der Liebe zur Ukraine aufwuchs. Von meiner Mutter übernahm ich den geistigen Code des Ukrainertums: die Poesie von Taras Schewtschenko. Sie las mir seine »Haidamaken« vor. Ich brach damals in Tränen aus, als ich mir die Hinrichtung der Kinder von Gonta vorzustellen versuchte. (Weitere seiner Tragödien kannte ich damals noch nicht.) Von den Eltern lernte ich auch »Noch ist die Ukraine nicht gestorben« und andere Volkslieder zu singen, besonders die Lieder der Schützen. Überhaupt liebte ich Lieder. Deshalb ist es kein Wunder, dass ich gemeinsam mit meiner Mutter im Chor des Kulturhauses in Drohobytsch mitsang. Ich liebte es auch sehr, Fotos aus dem Leben meiner Mutter vor dem Krieg zu betrachten, die im Dorf vor dem »Haus der Bildung« oder vor dem steinernen Grabmal der Ukrainisch-Galizischen Armee (UGA) im Dorf Wijsko aufgenommen worden waren. Für mich war es die fantastisch schöne Welt der galizischen Patriarchalität: Auf fast allen Fotos standen im Mittelpunkt der Pfarrer, der Dorfälteste und der Direktor der Schule. Beeindruckend ist auch das Foto von Kindern, unter denen meine künftige Mutter war, als das ganze Dorf gerade den »Muttertag« feierte. Heute wundere ich mich, dass ich da noch nicht auf der Welt war. Durch meine Mutter erfuhr ich von den Grausamkeiten des NKWD (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) in der Nachkriegszeit und über ihre beliebte Verfahrensweise, wie sie die Angehörigen der gefallenen ukrainischen Partisanen ermittelten. Die Körper der Ermordeten lagen damals auf dem Dorfplatz auf dem Erdboden. Dann mussten alle Dorfbewohner, insbesondere die Frauen, vorbeilaufen. Wie meine Mutter mir bestätigte, hielt nicht nur eine der Mütter mit unglaublicher Anstrengung ihren Schrei beim Anblick des ermordeten Sohnes zurück, um sich und die übrige Familie nicht zu verraten. Von meiner Mutter weiß ich auch, wie es war, als »die schönste Blüte des ganzen Dorfes in den Wald [d. h. in die Ukrainische Aufstandsarmee (UPA)] ging«, um sich vor den Besatzern zu schützen. Diese oder ähnliche Probleme erlitten damals fast alle galizischen Familien und ganz bestimmt alle Pfarrerfamilien. In allen vorsowjetischen Leben lag etwas, was als fetter ideologischer Fleck

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in den Personalangaben galt. Es verdammte die Menschen, für immer zur Kategorie der Unzuverlässigen zu gehören. Sich eventuell davon zu befreien, hätte bedeutet, den Weg des Verrates gehen zu müssen: den Verrat an der eigenen Familie, der Wahrheit und der Ehre. Diese Verwundbarkeit durch eine mögliche Verfolgung hatte aber zugleich einen positiven und einen negativen Effekt. So reichten sich einerseits die Familienmitglieder die Hände und hielten den Kontakt aufrecht, mitunter bis in die dritte oder vierte Generation. Zu den Meinigen zähle ich nicht nur die Familien der Marynowytsch und Ditsjo mit all ihren Verzweigungen bis hin zu den Schatynsky, Pywowar, Taschuta, Kosowytsch und Hytschky, sondern auch die Familien der Menzinsky, Schmorhun, Hryzak, Wynnytschenko, Melnytschenko, Doschtschanko, Maklin, Senytsch, Jazyk, Wynnyzky und Osobdsa – und hier zähle ich nur diejenigen auf, die am nächsten verwandt mit mir sind. Ich bin stolz darauf, dass ich zu dieser großen und miteinander freundlich verbundenen Familie gehöre und spüre zu allen eine ganz besondere Liebe, obwohl ich erst im Erwachsenenalter wirklich begriff, wer zu welchem Zweig gehört, als ich mich daran machte, den »Familienstammbaum« zusammenzustellen. Die adelige Herkunft meiner galizischen Familie ist für mich kein leeres Wort und kein Grund zum Spott. Sie bedeutet für mich diese als bedrückend umrissene, aber leicht in Erfahrung zu bringende Atmosphäre einer Würde und eines Aristokratismus, eines Wohlwollens und wortlosen Einvernehmens, ohne die ein Galizier verdorrt und die er anstrebt, egal in welcher Welt er gerade lebt. Dennoch bin ich nicht ohne jede Kritik gegenüber den Galiziern. Im Unterschied zu sämtlichen anderen ukrainischen Gebieten sind nur in Galizien die Überreste dieses besonderen Phänomens erhalten geblieben, was als »Familiennest« oder »Familienschwarm« bezeichnet wird. Das alles ist für mich mit der Assoziation eines großen Bienenhofes verbunden, in dem ich den belebenden Honig aus dem Bienenstock schöpfen konnte: Es waren wichtige Lektionen, die mir eine gewisse Ordnung für meinen Lebensweg gaben. So gehe ich nun das Wagnis ein, meine Familie noch näher zu beschreiben, und

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gestehe allen, die das nicht interessiert, das Recht zu, es zu übergehen und dann weiterzulesen. Meine Mutter war das sechste und letzte Kind in der Familie des Priesters Josyp und Maria Marynowytsch. Nadijka und ich hatten so viele Tanten (oder wie in Galizien gesagt wird: »Tets« oder »Tjots«) oder Onkel und Tanten (die Wujkos und Stryikos)6. Den ältesten Bruder meiner Mutter, Antin, erlebten wir nicht mehr. Sein Schicksal als Häftling (er war in Magadan) teilte ich später auch. Ich erinnere mich noch an den schönen Sopran seiner Witwe, Tante Olga, und an ihre Tochter Marijka, die die familiäre Stütze des »Zweigs« der Kosowytsch aus dem Dorf Kosiw waren. Olgas Sopran wurde an die Enkeltochter Oksana vererbt. An Stepan (oder: Stefyk, wie ihn die Familie nannte) Marynowytsch, Sohn eines »Volksfeindes«, erinnerte man sich noch lange in Dobromyl (Oblast Lwiw) als an einen ausgezeichneten Arzt und Gynäkologen. Ich lernte an seinem Beispiel, was eine hohe Arbeitsethik bedeutet. Im Sommer 1986 gelang es ihm endlich, sich einmal für einen Urlaub loszureißen, als er einen Ferienscheck für eine Schiffsreise mit dem Dampfer »Admiral Nachimow« bekam. Es war der erste und letzte Urlaub für Stepan: Am 31. August starb er bei einem Schiffsunglück in der Nähe von Noworossijsk. Er hinterließ in Dobromyl seine Frau Jewgenija als Witwe und ihre drei Töchter: Oksana, Shanna und Olesja, die letzte wurde im Januar 1987 geboren, ohne je einmal ihren Vater erblicken zu können. Mutters älteste Schwester Olena (Tante Lena), Pianistin von Beruf, heiratete Jaroslaw Schatynsky, ebenfalls einen Musiker. Einige Zeit wohnten sie in Drohobytsch, sodass sich meine Jugendzeit eng mit der Jugendzeit ihrer Kinder Markijan, Natalja und Bogdan verflocht. Was die junge Natalja über ihren Mädchentraum redete, machte mir später möglich, die Kraft zu verstehen, die in einem Wunschtraum liegt. Seither fürchte ich mich nicht, auch zu träumen – sogar dann nicht, wenn es sich um etwas handelt, das unerreichbar scheint. (Wie wenn ich damals schon eine Ahnung hatte, was ich später einmal als Ermutigung von Patriarch Jossyf Slipyj hören würde: »Das Große wünschet!«) In jenem Fall gab es sogar einen 6

Wujko: Bruder der Mutter, Stryjko: Bruder des Vaters.

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Nebeneffekt: Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, wenn gewisse Dinge in meinem realen Leben nie geschehen wären. Bogdan und ich haben, indem wir die Musketiere nachahmten, tapfer unsere jugendlichen »Degen« des d’Artagnan gekreuzt. Für uns spielte es keine Rolle, wenn unsere Degen von der Seite her gesehen, wie ganz normale Stöcke aussahen. Gemeinsam tauchten wir auch in die geheimnisvolle Welt der Fotografien ein. Bogdan und ich gerieten damit vor seinen Eltern einmal enorm in Misskredit, weil wir von Bogdans erstem Stipendium ein tragbares Filmvorführgerät kauften, ein Wunderwerk der damaligen Technik. Dank dieser harmlosen Missetat verfüge ich heute über eine gewisse, wenn auch nur kurze Filmaufnahme dieser Familie. Unter ihnen bin auch ich zu sehen, als Jüngling noch ohne Schnurrbart. Mutters zweite Schwester, Maria Menzinska (Tante Maljuschka), und ihre Familie, die während des Krieges aus dem unruhigen Europa nach Australien ausgewandert waren, lernte ich 1993 kennen, als Nadijka und ich das erste Mal diesen Kontinent betraten. (Onkel Osyp, der Mann der Tante, war zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben.) Während unserer Kindheit und Jugendzeit war der australische Zweig unserer Familie eine Welt außergewöhnlich schöner Fotografien aus dem Ausland – eine Welt, die mir als Maßstab von Eleganz und Stil diente. Später bekam Tante Maljuschka für ihre aufopferungsvolle gesellschaftliche Arbeit in Australien den Staatsorden der britischen Königin Elisabeth II., worauf wir sehr stolz waren. Ihre Kinder Jurko Menzinsky, Irca Doschtschak und Darzja Maklin wurden für mich zum Vorbild dessen, wie die Liebe zur Ukraine und die Erinnerung an die Familie auch auf dem fünften Kontinent erblühen kann. Ich bin meiner australischen Familie dankbar für ihre großen Anstrengungen, von diesem weit entfernten Kontinent auf das Schicksal der ukrainischen Dissidenten aufmerksam zu machen (besonders auf mein Schicksal) und sich für unsere Freilassung einzusetzen. Onkel Slawko (Jaroslaw Marynowytsch), der geliebte Bruder meiner Mutter, wurde auch für mich zu einer Legende, die ich lieben lernte. Er war ein glänzender Musikwissenschaftler, lebte in der Nachkriegszeit in Kyjiw und arbeitete im Kulturministerium.

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An einem Zipfel seiner Jugendzeit erwischte ihn noch der Krieg, und genau das schaffte es, sein ganzes Leben zu zerstören. Mir blieb er als eine zarte Orchidee in heftigem Frost in Erinnerung. Von seinem musikalischen Talent profitierten häufig Untalentierte und das verstärkte in mir eine beständige Feindseligkeit gegenüber den ministerialen Beamten. Er kam selten zu uns nach Drohobytsch. Als er an Tuberkulose erkrankte und sich im Sanatorium von Koncha-Zaspa aufhielt, fuhr ich als dreizehnjähriger Junge mit Tante Lena Schatynska und der Cousine Natalja nach Kyjiw, um ihn zu besuchen. Dort lernte ich auch Tante Ira und ihre Tochter Olenka näher kennen, mit der ich mich sehr anfreundete. Als echter Galizier mochte ich Kyjiw schon, ohne es zuvor je einmal gesehen zu haben. Aber als ich es dann sah, fand ich meine Liebe völlig bestätigt. Im darauffolgenden Jahr 1964 ergab sich für mich erneut ein Anlass, nach Kyjiw zu fahren, aber diesmal schon mit meiner Mutter: zur Beerdigung von Onkel Slawko. Über eine weitere Schwester der Mutter, Jewgenija (Tante Nusja), wurden Nadijka und ich in die Welt des ukrainischen Märchens eingeführt. Sie beherrschte es, Märchen zu erzählen, und tat dies mit großem Vergnügen. Der Krieg nahm ihr ihren Auserwählten und sie blieb dann allein. Meine Tante, ein kristallreines Wesen, war während ihres ganzen Lebens ein exotisches Wunder vor dem Hintergrund des zynischen sozialistischen Pragmatismus, der bereits damals in Kraft getreten war. Zudem lehrte mich ihr Schicksal, welch heimtückische Krankheit Diabetes ist. Die Familie Menzinsky stand meinem Großvater als die Familie seiner Frau sehr nahe. Seitdem sind bereits zwei Generationen groß geworden, doch ich fühle mich immer noch zu ihnen als eine Quelle meiner Identität hingezogen. Die Sippe der Menzinsky ist sehr verzweigt und ich bin nicht imstande, alle zu erwähnen, die mir in meinem Leben begegnet sind. Zu einer wahren geistigen und lebenswichtigen Stütze in frohen und tragischen Zeiten wurde mir zudem die Familie von Modest und Hanna (Nusja) Menzinsky. Genau sie zeigten dem jungen Studenten wie einem kleinen Kind, wie Lesja und Tarasyk beigebracht werden kann, mit Messer und Gabel

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zu essen. Sie wurden mir zum Vorbild elterlicher Liebe und des Rückhalts. Eine besondere musikalische Familie sind die Menzinskys. Es ist eine Tradition, die möglicherweise aus dem musikalischen Ruhm des Opernsängers Modest Menzinsky hervorging, der heute fürwahr der himmlische Patron der Familie ist. Auch die weiteren Generationen der Familie schließen sich der musikalischen Tradition an – von der Violoncellistin Mutter Nusja über die Pianistin Lesja und den Violoncellisten Taras mit seiner Ehefrau und Geigerin Olesja bis hin zu seinen Söhnen: dem Violoncellisten Modest und dem Geiger Lewko. Es betrifft auch noch den Lwiwer Zweig der Menzinsky, Danko (Bogdan) und Stefa mit ihren Kindern, die auch Musiker sind: Sohn Igor und Tochter Oksana Melnytschenko, die mit ihrem Sohn, dem Geiger Markijan, im fernen Australien »hängen geblieben« ist. Im Herbst 2013 wurde Markijan zur Freude der ganzen Familie Preisträger des Internationalen Oleg-Krysa-Violonistenwettbewerbes in Lwiw. Ohne die bereits älteren Eheleute der Familie Schmorhun, Onkel Iwas und Tante Sonija, hätte ich kein Bild von den edlen Beziehungen zwischen Mann und Frau erhalten, obwohl es natürlich ein sehr idealistisches Bild ist. Ich erinnere mich, wie Tante Sonija, als ich ein Jüngling war, der Gedanke kam, dass ich, als ich auf meine älteren Verwandten schaute, meine eigene Beziehung zu meiner zukünftigen Ehefrau gleichberechtigt gestalten will. Als sie mich einmal stutzig und sehr skeptisch ansah, war ich sehr verwirrt: Sie sagte mir kein einziges Wort, aber faktisch sagte das schon alles. Ja, mein weiteres Leben beseitigte alle Utopien, doch es war für mich wichtig, in den Winkelgassen meiner Seele das heilige Modell einer wahrhaft platonischen Idee einer Familie zu finden. Zu den Schmorhun nach Drohobytsch ging ich jeweils mit meiner Mutter wie zu einer Wallfahrt. Dort sog ich jedes Wort der Erwachsenen auf, jedes Element ihrer galizischen Alltagskultur. Und blieb gleichzeitig auch der Junge, der gerne Sandburgen mit Oksana baute, der Enkelin der Hausherren. Ich entsinne mich, dass durch sie Wörter wie »Zarewna« (»Zarentochter«), »Ritter« und »Kristallpaläste« in meinen Wortgebrauch kamen. Mit der Zeit wurde mir genauso die Lwiwer Wohnung ihres Sohnes Jewgen

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Schmorhun, seiner Frau Olga und ihrer Töchter Oksana und Lesja zur Heimat. Bis heute hängen dort alte Bilder ihres Heimathauses, die für mich meine Kindheit bedeuten. Jewgen Schmorhun wird für immer in die Geschichte von Lwiw eingehen als einer der drei (zusammen mit Stefanija Schabatura und Senowij Saljak), die am 3. Mai 1990 auf der Spitze des Lwiwer Rathauses die blau-gelbe Flagge hissten. Meine Studentenjahre in Lwiw kann ich mir ohne Tante Darzja Garasymiw aus der Familie der Schtschurowsky nicht vorstellen, die ebenfalls mit der Familie der Menzinsky verbunden war. Obwohl Tante Darzja viel älter war als ich, konnte sie eine aufrichtige Freundin sein, da sie eine erstaunlich junge Seele besaß. In ihrer Wohnung wurde der ewige Nimmersatt eines Studenten verköstigt und meine Seele wie ein Blumenväschen mit nährendem Wohlwollen »aufgefüllt«. Dieselbe Fähigkeit hatten auch Tante Darzjas Tochter Lida und ihr Mann Oles Hryzak. Diese Gaben ererbten auch ihre Töchter: Radusja Sternjuk und Natalja Bews. Ein ganzes »Viertel« in meinem Herzen nimmt die Familie vom Bruder meines Großvaters ein, Antin Marynowytsch (Onkel Antusja, wie ihn die ganze Familie nannte). Er war zwanzig Jahre jünger als mein Großvater: Er und Tante Ira, seine Frau und die Kinder Borys, Lida und Igor (formal sind es Cousine und Cousins meiner Mutter) waren im gleichen Alter wie ich. Sie waren meine Freunde in meiner Kindheit und Jugendzeit. Igor und seine Frau Nanja waren es, die für mich seit Anfang der 1990er-Jahre zu einem ständigen Hafen im New Yorker Brighton Beach wurde. Im Schicksal von Borys hinterlässt mein eigenes Schicksal aber auch eine schmerzliche Spur, davon aber später. Von der Familie meines Vaters blieb mir, außer Großmutter Hanna, nur sein Neffe Omeljan Jazyk in Drohobytsch am nächsten, der Sohn von Tante Kateryna Senytsch, die noch vor dem Krieg der Arbeit wegen nach Amerika auswanderte und dort während dem Krieg verblieb und später ein zweites Mal heiratete. Ich traf sie und ihre dortigen Söhne, Jewgen Senytsch und Joseph Jazyk, erst Anfang der 1990er-Jahre und wir waren sofort sehr freundschaftlich miteinander verbunden. Den Kontakt zu den Verwandten der beiden Töchter der Großmutter, Maria und Sofija (Sonija) Deberré, die

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vor dem Krieg nach Frankreich gezogen waren und dort zwei Brüder heirateten, konnte ich dagegen nicht herstellen. Irgendwann im Jahre 1990, als ich in Frankreich war, versuchte ich die Telefonnummer von Tante Sofija (Maria war zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben) herauszufinden und rief sie an, doch sie wollte sich nicht mit mir treffen. Sie berief sich dabei auf ihre Krankheit. Tante Sofija hatte ein langes Leben: hundertdrei Jahre. Im Herbst 2015 verschied sie und ging in den ewigen Frieden ein. Mit der Familie meines Vaters in der Oblast Lwiw waren die Kontakte nicht so eng, obwohl ich mich bis heute erinnere, wie ich mit Großmutter Hanna zu ihren Verwandten ins Dorf Posada fuhr. Dort schloss ich Freundschaft mit der fast gleichaltrigen Kateryna, mit der ich mich damals traf. Wenn ich mich an sie erinnere, riecht es aus bestimmten Gründen immer nach Wald und Pilzen … Omeljan verstarb 2012 plötzlich und wurde in Drohobytsch bestattet. Mit Stepan Osoba treffe ich mich heute noch ab und zu. Er ist mein einziger Verwandter väterlicherseits, zu dem ich eine nähere Beziehung aufrechterhalte. Wie ersichtlich wurde, ist der Stamm meiner Verwandtschaft weit verzweigt und hat in der ganzen Welt Wurzeln geschlagen, was für mich ein wahres Geschenk ist. Meine Sippe ist der »Tiegel«, in dem meine ersten Werte und meine Kultur geformt wurden. Daraus übernahm ich viele Traditionen, die bis heute für mich wertvoll sind. Die oben erwähnte Anfälligkeit unserer Familie für Verfolgungen hatte manchmal sehr unangenehme Seiten. Als mein Leben als Dissident zu meiner Inhaftierung führte, wurde es längst nicht von all meinen Verwandten begeistert aufgenommen. Die passive, ängstliche Haltung war manchmal so heftig, dass die Gründe zu befürchten, die Verhaftung des »Volksfeindes« könnte alle betreffen, ernst genommen werden mussten. Die Amplitude der verschiedenen Reaktionen war daher sehr breit: von einer schweigenden, aber offensichtlichen Billigung bis hin zu Stolz auf mich, über Ablehnung bis hin zur Verurteilung bei denen, die es auch meiner Mutter sagten. Es gab sogar einen einzigen Fall einer eigenhändig geschriebenen Verurteilung, die dem Dokument meines Kriminalfalls beigefügt wurde.

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Es gab eine Verwandte, die so ihren Bruder retten wollte, der unter Verdacht geraten war, nachdem er den Text der »Deklaration der Ukrainischen Helsinki-Gruppe« von mir erhalten hatte. Diese Tat war wirklich nicht sehr rühmlich. Ich gebe die Schuld nicht so sehr ihr als dem System, das bewusst die Furcht vor Verfolgungen nährte. Als ich schon in Haft war, beschäftigte mich der Gedanke, inwieweit mein Gefängnisschicksal in einzelnen Momenten meiner Kindheit und Jugend angelegt ist. Eigentlich erstaunt es nicht, wenn wir den Zusammenhang von Ursache und Wirkung beachten, der offensichtlich ist. Erstaunlich ist eher, wie gut gefügt und geordnet mein Schicksal erscheint, wenn ich im Buch meines Lebens blättere. Bestäubung mit der Epoche der »Sechziger« Die Schule wurde zu einem weiteren »Schmelztiegel«, in dem sich die verschiedenen Seiten meiner Persönlichkeit wunderbar vermischen konnten. Ich war begeistert von Nadijkas Erfolg. Die ganze Zeit wollte ich sie einholen und übertreffen. Vielleicht beendete ich auch deshalb fast jedes Jahr die Schule als bester Schüler. Wir beide gingen in die Mittelschule Nr. 2, was für mich ein großes Glück war. Meine Lehrer teilte ich nie in Einheimische und Fremde ein, in Galizier und die vom »Osten«. Ihnen allen bin ich zutiefst dankbar für das, was sie mir beibrachten. Besonders dankbar bin ich auch dafür, dass es in unserer Schule diese Lehrer aus dem Osten der Ukraine gab und ich so in der Sphäre eines mit seiner Gemeinschaft verbundenen Ukrainers aufwachsen durfte. Für mich war Kyjiw nicht wie bei meinen Eltern bloß traumhaft vergoldete Kuppeln hinter den Grenzsteinen des Flusses Sbrutsch, sondern mein Erdboden, mein natürliches Gravitationszentrum. Diese gesamte ukrainische Weltanschauung schätze ich sehr. Ich erinnere mich auch dankbar und von Herzen an Iryna Josypiwna Stadnyk, meine erste Lehrerin,7 die in der Oblast 7

Die erste Klasse absolvierte ich in der Drohobytscher Mittelschule Nr.10, die damals auf der Strijska-Straße war, doch ich erinnere mich nicht an den Namen

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Drohobytsch aufwuchs (später erfuhr ich, dass sie die Spielgefährtin von Atena Paschko war); oder an Walentyna Oleksijiwna Butenko, meine Klassenlehrerin, die aus der Oblast Tscherkasy kam. Von ihr konnten wir immer einmal den für uns völlig unerwarteten Satz hören: »Oh, ihr meine Krokodile!« Sie sprach das so liebenswürdig aus, dass sich unsere Kinderherzen nicht irren konnten. Ich werde mich auch das ganze Leben lang an das Lächeln von Jelisaweta Kostjantyniwna Pasternak erinnern, unserer Lehrerin für die russische Sprache und Literatur. Sie tadelte mich mit Humor, ich hätte den Aufsatz etwas flegelhaft beendet, obwohl sie in Wirklichkeit an meinem jugendlichen Schreibversuch große Freude hatte und mir ein aufrichtiges »Ausgezeichnet« gab. Eigentlich erfuhr ich von den meisten Lehrern viel Liebe und Wohlwollen. Später wurde mir aber auch gesagt, dass nicht alle Lehrer die Taten verstehen konnten, für die ich verhaftet wurde. Aber wer kann heute noch bis in jedes Detail diese typisch-sowjetische Unterordnung ganz verstehen? Ganz besonders erinnere ich mich an den Lehrer, der mich am meisten in meiner staatsbürgerlichen Entwicklung beeinflusste: Iwan Mychajlowytsch Rafa, ein Galizier mit Leib und Seele, der von 1964–1966 mein Musiklehrer war. Alle, die auch nur etwas mit der Geschichte der ukrainischen Wiedergeburt vertraut sind, wissen, wie aufrecht und stark die Flamme unseres nationalen Geistes damals loderte. In dieser Zeit erlaubte das KGB Iwan Mychajlowytsch schon nicht mehr, in seinem Fach als Lehrer der ukrainischen Sprache und Literatur zu unterrichten. Er beeinflusste uns aber auch weiterhin außerhalb des Klassenzimmers, da er mit uns in Kontakt blieb. Es war wirklich ein »vollkommenes Sich-Kurzschließen« unserer Herzen: Ich kann mich noch an Verse aus Gedichten des Sechzigers Mykola Winhranowsky erinnern, die mir Iwan Mychajlowytsch auf dem Weg von der Schule nach Hause zitierte: Marie, träumt, Träumlein mein, Mein Mariechen, ruhelos … (›Enten fliegen!‹) Volk mein, wie schön ist es, Dass ich dich hab auf der Welt.

meiner damaligen Lehrerin. So blieb in meinem Herzen nur die Erinnerung an meine erste Lehrerin, die erwähnte Iryna Josypiwna.

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DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Nicht verweht? Wird nie verwehen! Blieb bloß noch eine Wiege, – Kinder kommen! Jetzt schon allen seid willkommen.

Ich war buchstäblich berauscht von dieser Poesie, die sich tief in mir verankerte. Später las ich in einer Erzählung von Mykola Horbal, wie Wadym Smohytel Mykola Worobjows Gedichte zitierte und es beeindruckte mich, wie ähnlich unsere Wahrnehmung war: Heute erinnere ich mich nicht mehr an den Inhalt der Gedichte, aber, o Gott! Wie berauschend diese Poesie doch für mich war: Alle Spitzel in Kyjiw verschwanden sofort, die Welt war nur noch schön und gut und es war, als würden Engel um uns fliegen. Bis heute hüte ich diese glückliche Stimmung tief in mir.8 Uns tief in Iwan Rafas Seele, die völlig in den 1960er-Jahren verwurzelt war. Er glühte buchstäblich von dieser Empfindung und konnte nicht anders, als andere ebenso zu entzünden. Von derselben Bewunderung las ich später auch in den Erinnerungen von Switlana Kyrytschenko: Wie meine Mutter las er uns mit seiner klangvollen, wunderbaren Stimme Gedichte vor und sprach mit uns – und das mit einer solchen Leidenschaft und Ehrlichkeit. Es war, als ob ein Jüngling auf einer hohen Gebirgskette steht; unter seinen Füßen breitet sich das Gras aus, das grenzenlose Leben liegt vor ihm, an seinen Schultern wachsen Flügel und es ist ihm einfach so viel auf dieser Erde möglich. Mit seinen Liedern begeistert er die Herzen …

Nicht nur Switlana bemerkte diese Flügel, denn es fand sich eine Macht, die die Flügel zerbrechen wollte. Das KGB bog sehr heftig an den Zweigen seines Lebens. Er hatte ein viel zu poetisch zartes Wesen, um sich nach jedem Verbiegen wieder aufrichten zu können. Es wird erzählt, seine Frau bedrängte ihn, da sie seine Verhaftung befürchtete. Sein Überlebenswille ließ immer mehr nach. Er gab seine Seele dann doch zum Teil dem KGB und verlor immer mehr den Lebensmut. Es war kein Leuchten und keine Reinheit mehr in ihm zu finden. Er lebte noch bis zu Beginn der gorbatschowschen Perestroika, schied aber trotzdem noch jung aus dem Leben – ein weiteres fast vergessenes Opfer dieses totalitären Regimes.

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Mykola Horbal. Präsentation des Lebens (Romanfassung). Kyjiw; VAT »Poligrafknyha«, 2006, S.33 (im Weiteren: Mykola Horbal. Präsentation des Lebens).

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Meine persönlichen Vorlieben, die später mein Wesen bestimmen sollten, können bis in meine Schulzeit zurückverfolgt werden: Es ist die Liebe zum Buch und das feine Gespür für gut geschriebene Worte; die Liebe zu den kirchlichen Festtagen und das aktive Hören der »Feindsender«; die Bereitschaft, die eigene Würde zu verteidigen und gleichzeitig gewisse Kompromisse (vielleicht nicht immer nur ehrliche und passende) einzugehen – all das begann in meiner frühen Schulzeit. Als ich in die siebte oder achte Klasse ging, fand ein sehr seltenes Ereignis in Drohobytsch statt: ein Kongress von Studenten aus der ganzen Sowjetunion. Die ganze Jugend zog in das örtliche Stadion, wo die Feierlichkeiten stattfanden. Und ich … ich saß zu Hause und vertiefte mich in das Lesen der Trilogie »Drei Musketiere« von Alexandre Dumas, von der es mir unter größter Anstrengung gelang, den nächsten Band auszuleihen. Sogar meine Mutter scheuchte mich aus dem Haus und war erstaunt, warum ich nicht ins Stadion gehen wollte. Für mich gab es gerade etwas viel Interessanteres zu entdecken: die geistige Welt meines geliebten Helden Athos. Meine in der Schule geschriebenen Aufsätze zählten immer zu den besten, auf Ukrainisch und auf Russisch. Ich liebte es schon damals, mit dem Wort zu experimentieren und den Wechsel der Bedeutungen durch Wortspiele zu erleben. Auch in anderen Dingen hatten die Lehrer mit mir kein Problem: Ich sang im Schulchor, war im Tanzensemble und eine gewisse Zeit auch im Instrumentalorchester. Parallel besuchte ich die Musikschule in Drohobytsch (zu meinem Leidwesen in einer Klasse der von mir gehassten Handharmonika; es war viel billiger als Klavier). In der zweiten Schulstufe war ich stets gut gelaunt. Ohne mich konnten keine Feste oder Wanderungen in die Karpaten durchgeführt werden. Unvergesslich bleiben mir die Auftritte der Städte-Olympiaden, so etwa die Darbietung des Liedes »Mein Kyjiw« im Duett mit Marijka Smetana, meiner ersten Liebe in der Schulzeit. Nadijka war mir aber auch da ein Vorbild: In meiner Erinnerung gibt es ein Bild, wie sie als Schülerin der neunten Klasse in ukrainischer Tracht auf die Bühne des örtlichen Kulturhauses

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geht und mit ihrer wunderschönen Stimme Schewtschenkos »Topolja« (»Die Pappel«) singt. Die Liebe zu kirchlichen Festen, besonders zum Weihnachtsfest, war bei mir sehr stark und beständig. Noch als kleiner Junge ging ich immer zum Fenster meiner benachbarten Freundin Nadja Mychajliwska (heute: Turtschyk), um von dort von Haus zu Haus mit Gesang und Gratulation zum Fest umherzuziehen, Gaben zu sammeln und schließlich ein prunkvolles Wunder zu sehen: einen Weihnachtsbaum, der viel reicher geschmückt war als unserer. Heute wundere ich mich, wie Nadja überhaupt meine schwache Kinderstimme durch das Fenster hören konnte! Zusammen mit dieser Nadja schickten mich meine Eltern zur Erstkommunion in die Kirche. Auf dem Weg dahin hörten wir damals die Empörung eines Russisch sprechenden Mannes: »Sie sind doch noch so jung und schon werden sie verheiratet!« Meine Schulfreunde und ich vereinten sich alle Jahre ohne Unterbrechung zu einer Schar zusammen und zogen dann unter Gesang herum, um Gaben zu sammeln, was auch die mächtige Sowjetpropaganda nicht verhindern konnte. Im Gegenteil: Wir fühlten uns geehrt, in der Weihnachtszeit zu unseren Verwandten und Freuden herumzuziehen oder am Karfreitag zum Leintuch Christi zu gehen, obwohl wir wussten, dass die Schule verpflichtet war, bei allen Kirchen in Drohobytsch eine »Lehrerwache« aufzustellen, um ungehorsame Schüler zu registrieren. Alle unter uns gaben sich jede erdenkliche Mühe, ein Wunder in unserer Erfindungsgabe zu vollbringen, um in der Osterwoche nicht zu dem von der Schule angekündigten obligatorischen Subbotnik gehen zu müssen. Die Schule brachte mir die ersten Freuden und gleichzeitig die ersten Herausforderungen jugendlicher Freundschaft. Ihor Jajus und Marijka Smetana, Nadja Mychajliwska und Lena Jeremenko, Chrysanta Glucha und Ljeschek Katrynjak, Ljuba Iwanyk und Lisa Domanska, Ljuba Trusch und Roman Rusewytsch – nur schade, ich kann gar nicht alle erwähnen und von ihnen erzählen. Sie alle wurden zu kleinen Teilen eines großen Schulmosaiks, dessen Gesamtbild sich für immer in mein dankbares Gedächtnis einprägte: Unsere zweite Schule nie vergiss Unsere Heimatschule, dies freundlich Haus,

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Und auch die reine Freundschaft, das flammende Liedchen, Die ersten Träume im Herzen, im Herzen, dem jungen.

Die Aufsässigkeit der »Kälberjahre« machte keinen Bogen um mich. Ich erinnere mich an ein scharfes Wort von Sofija Iwaniwna Karpinska, unserer Mathematiklehrerin, wobei ich wie ein unbändiges und noch nicht eingerittenes Fohlen zusammenfuhr und ihr als Antwort entgegenwarf: »Ich bin doch kein Pferd, dass Sie antreiben können!« Ich erinnere mich noch an diesen Wirbelsturm meiner Teenagergefühle. Meine politische Bildung erhielt ich, wie viele andere auch, durch die »Feindsender«: Radio »Liberty«, »Voice of America«, »BBC« und »Deutsche Welle«. Durch sie hörte ich von allen verbotenen Büchern, angefangen mit Solschenizyns »Ein Tag im Leben von Iwan Dennissowitsch«. Ich beteiligte mich auch einmal an einem Quiz von »BBC«, in dem es darum ging, wer sich am besten im englischen Lebensstil auskennt. In diesen Jahren klebte mein Ohr sehr häufig am Rundfunkempfänger und ich perfektionierte jedes Mal meine Meisterschaft im Herausfischen der Stimme des Sprechers aus dem Rauschen der sowjetischen Störsender. Es ist bemerkenswert, dass ich in der Schule im Politikunterricht fast als Bester dastand, da ich mit großem Erfolg die von den erwähnten Radiosendern empfangenen Nachrichten aufbereitet und die entsprechende ideologische Korrektur vorgenommen hatte. Die Lehrer kamen nicht darauf und lobten mich für die Vollständigkeit der von mir zusammengestellten Nachrichten. Ich erinnere mich auch an einen Moment während einer Versammlung im Kulturhaus von Drohobytsch, als ich und Nadijka von der Ermordung des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy am 22. November 1963 hörten. Er war damals das Idol der galizischen Jugend. Die Umstände seines Todes prägten sich sehr in mein jugendliches Gedächtnis ein, wie auch der Name seines offiziell als schuldig angesehenen Mörders Lee Harvey Oswald und später des tatsächlichen Mörders: Jack Ruby. Wie alle anderen verfolgte auch ich sehr aufmerksam den Wettlauf zwischen der UdSSR und den USA um die Vorherrschaft im Weltraum. Ich war erschüttert, als nahe Jekaterinburg das amerikanische Aufklärungsflugzeug »U-2« mit dem Piloten Powers

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abgeschossen wurde, und verfolgte auch die Wende in der KaribikKrise und den Zweikampf zwischen Nikita Chruschtschow und John F. Kennedy. Ich war mir überhaupt nicht bewusst, dass die Welt gerade am Rande eines Atomkrieges stand. Wir spotteten gemeinsam über Chruschtschow, der mit seinem Schuh heftig auf das Rednerpult der UNO in New York pochte, völlig erregt die Umstände seines Sturzes erörterte und dabei misstrauisch auf Leonid Breschnews aufgeblasenes Gesicht schaute. Das Zweite Vatikanische Konzil und die Wahl des Patriarchen Jossyf Slipyj zum Kardinal, der Bau der Berliner Mauer und die Niederschlagung der Arbeiterdemonstration in Nowotscherkassk sind dagegen an mir vorbeigegangen. Mit einem Schmunzeln stellte ich später fest, wie sich plötzlich die offizielle Rhetorik der ewigen Freundschaft zwischen dem sowjetischen und dem chinesischen Volk veränderte und die Beziehungen zwischen beiden Staaten abgebrochen wurden. Zusammen mit allen »beglückten« Galiziern machte ich mich über die Versprechen des XXII. Parteitages der KPdSU lustig: »Die jetzige Generation der Sowjetmenschen wird im Kommunismus leben.« Wir freuten uns sehr, als die Kampagne der Entlarvung des Personenkultes Stalins begann und seine Überreste aus dem Mausoleum herausgetragen wurden. Ich freute mich auch, als in Moskau am 10. Juni 1964 ein Denkmal für Taras Schewtschenko enthüllt wurde. Ich wusste damals noch nicht, dass die UdSSR damit um jeden Preis verhindern wollte, dass die USA sie in dieser Hinsicht überflügelte, da ein gleiches Denkmal am 27. Juni in Washington aufgestellt werden sollte. Etwas verwirrt war ich, als die Stadt Stanislaw in Iwano-Frankiwsk umbenannt wurde. Ich liebte es doch so sehr alle Beschlüsse der Macht zu kritisieren – und Iwan Franko aber war mir geradezu heilig … Meine Jugendzeit forderte natürlich auch ihren Tribut. So hörte ich begeistert Elvis Presley, The Beatles und die Rolling Stones, womit ich eine große Empörung vonseiten meines Onkels Jaroslaw Schatynsky auslöste. In seinen Augen war mein musikalischer Geschmack (und mit ihm auch meine weltanschaulichen Prinzipien) endgültig verdorben. Auf den sowjetischen Leinwänden liefen auch die für mich unvergesslichen Filme »My Fair Lady«

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mit Audry Hepburn, »Die Regenschirme von Cherbourg« mit Catherine Deneuve, »Die glorreichen Sieben« mit Yul Brynner. In meiner frühen Jugend gab es zudem ein Freudenfest, als ich zwei Folgen der französischen »Drei Musketiere« sehen konnte. Ich empfinde bis heute dieses Schaudern, mit dem ich die ersten Bilder des Filmes in mich aufsog. Die Musik dieses Films kann auch heute noch völlig elektrisieren. Die ersten Schritte meiner Welt als Junggeselle eröffneten mir auch die Geheimnisse der Mode. Ich litt in wahrstem Sinne, als ich Schlaghosen tragen sollte, da alle echten Jungs gerade die ultramodernen »Schlauchhosen« trugen. Als meine Mutter mir für die Abschlussfeier in der Schule einen althergebrachten Anzug kaufte, lehnte ich mich endgültig auf. Während sie auf der Arbeit war, holte ich, bevor ich zur Feier ging, ihre alte »Singer«-Nähmaschine und machte die Hosenbeine so eng, dass mir die Hose kaum passte. Als meine Mutter mich, den Glücklichen, in der Schule sah, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen. Das bisher beschriebene Bild meines Schullebens sieht aber zu rosig aus, sodass es nun angebracht ist, es etwas näher auf den Erdboden zu bringen. Das heißt für mich, dass ich nun auch von meiner Karriere als Komsorg (Komsomolorganisator) erzählen muss. Meine Leitungsbegabung musste zwangsläufig einen formalen Ausdruck finden: Deshalb wurde ich zum Klassen-Komsorgen gewählt. Von meiner Seite war es kein Zufall, da ich diese Herausforderung mit dem ganzen Idealismus der Jugend anpackte. Sie wurde natürlich durch die allgemeine propagandistische Stimmung in der Schule befördert; und selbstverständlich wurde ich dafür eifrig benutzt. Bis jetzt hatten mich meine enge elterliche Bindung vor dem Einfluss der Straße bewahrt, vor dem Einfluss der sowjetischen Schule aber doch nicht völlig. Selbstverständlich hat das Wort des Lehrers mich sehr beeinflusst, aber das war für mich nicht einfach nur gut. Sein Wort trug auch wie ein trojanisches Pferd den Keim ideologischer Dornen in sich. So ergab sich auf meinem seelischen »Acker« eine trügerische Saat. Ich konnte an einem Tag ganz begeistert, wenn auch nur leise, »Noch ist die Ukraine nicht gestorben« singen und am nächsten Tag voller Begeisterung im Stadtkomitee des Komsomol beweisen, das wir Komsomolzen

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zwar nur einige wenige sind, was aber ändern wollen. So war bei mir das eine und das andere, und das durchaus aufrichtig, da beidem eine beachtliche Dosis Idealismus zugrunde lag. Ich beklage mich aber nicht über mein Schicksal, das damit meiner Jugend auch die rote Farbe auf die Fahne spritzte, da auch das heilige Sonnenlicht in sich die Farbe Rot hat. Ich beklage mich nicht, dass ich trotz meiner traditionellen religiösen Erziehung eine Zeit lang nicht der atheistischen Skepsis erlag. Es brachte mich dazu Widersprüche zu erkennen und damit die wichtigste Voraussetzung: eine objektive Sicht verstehen zu lernen. Heute bezeichne ich die kommunistische Ideologie sehr bestimmt und ganz gelassen als eine verbrecherische Sicht, egal wie humanistisch einige ihrer Postulate einem erscheinen können. Und nicht genug, ich erzähle auch immer wieder allen, die daran Interesse haben, ganz bewusst von diesem Teil meiner Biografie, um meine Zuhörer zu überzeugen: Zur Entwicklung einer persönlich starken Überzeugung kann auch ein sehr gewundener Weg führen. Später spielte aber meine Entwicklung einen üblen Scherz mit mir. Bei der Vorbereitung des »Biografischen Handbuches der Dissidenten« zum Druck gab die Gruppe der Bürgerrechtler in Charkiw einem ihrer Mitarbeiter den Auftrag, meine autobiografischen Angaben zu erfassen. Als er meinen Worten voller jugendlichen Idealismus zuhörte, die sich auch im Komsomol zeigen, schrieb dieser Junge ohne jede böse Absicht: »Er verteidigte in seiner Jugend die kommunistischen Ideale«, was sehr heftig klingt. Diese Worte wurden dann veröffentlicht und begleiten mich seither mit zahlreichen journalistischen »Einschüben« in Interviews …

Dem Dienst für Richelieu ausweichen So entschloss ich mich: Ich studiere Physik. Attraktive Studierende schauten mich aus den Reklameschriften der »roten« Universität an und ich träumte davon, auch einer unter ihnen zu sein. Ein Professor dieser Universität reagierte dann völlig unerwartet auf meinen Brief. Ich war damals immer noch Schüler der zehnten Klasse. Es war für mich ein Wink des Schicksals. Meine Klassenkameradin

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Chrysanta Glucha und ich fuhren dann mit unseren rosaroten Träumen nach Kyjiw. Wir zwei hatten die Goldmedaille für hervorragendes Lernen erhalten. Nach den Regeln der damaligen Zeit reichte es nun aus, die erste Fachprüfung mit einem »Ausgezeichnet« zu bestehen: So bist du schon in der Universität. Die Prüfung in Physik legte ich auf Ukrainisch ab. Der Prüfende war damit aber nicht einverstanden und zwang mich, zum Russischen zu wechseln. Ich aber blieb stur und gab nicht nach, obwohl ich begriff, dass mir das teuer zu stehen kommen könnte. Und tatsächlich, die Prüfung dauerte nicht lange: das Resultat nur die Note »Befriedigend«. Das war für jemanden mit einer Goldmedaille alles andere als »befriedigend«, es war erschütternd. Meine Kameradin absolvierte dann die Prüfung auf Russisch: das Resultat war »Ausgezeichnet« – sie wurde sofort immatrikuliert. Ich kann aber nicht beweisen, dass der Grund allein in der Sprache lag. Chrysanta war wirklich eine starke Schülerin und in die Physik verliebt. Ich empfinde das Durchfallen immer noch als eine Ungerechtigkeit dieses Lehrers, befördert durch meine sprachliche Sturheit. Aus Langeweile legte ich dann noch die schriftliche Prüfung in Mathematik ab, obwohl ich mich nicht darauf vorbereitet hatte. Das Resultat: »Gut«. Aber mir war klar, dass ich den Wettbewerb nicht bestehe. Ich nahm also meine Dokumente wieder an mich und kehrte nach Drohobytsch zurück und damit, wie ich glaubte, mit einer mich demütigenden Niederlage. (Ich brauchte sehr lange, bis ich begriff, dass sich die scheinbare Niederlage in Wirklichkeit in etwas Gutes verwandelt hatte). Ich akzeptierte danach willenlos den Vorschlag, die Stelle eines »entlassenen Sekretärs des Komsomolkomitees« im Drohobytscher Werk für Bohrtechnik zu übernehmen. Ich nahm die Arbeit auf und es fiel mir sofort eine sehr umfangreiche Arbeit zu, da 1966/67 in der ganzen Sowjetunion die Komsomolausweise erneuert wurden. Da meine Arbeit mit regelmäßigen Besuchen beim Stadtkomitee des Komsomol verbunden war, lernte ich allmählich den wirklichen Stand der Dinge kennen (verdeckte Korruption, Neid der Funktionäre, die nicht wirklich überzeugt waren). Mein Komsomol-Idealismus löste sich so allmählich auf.

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Im darauffolgenden Jahr, 1967, wurde ich bereits am Polytechnikum in Lwiw immatrikuliert und ohne Probleme in die elektrophysikalische Fakultät aufgenommen (ohne »Beziehungen« und ohne Bestechung!). Ich bekam auch einen Platz im Wohnheim, zuerst in der Suworow-Straße (der heutigen Sacharow-Straße) und ein Jahr später in der Widkrytaja-Straße. Als »erfahrener Sekretär des Komsomol« wurde ich fast automatisch zum Komsorgen der Studiengruppe bestimmt, aber nicht lange. Die letzte KomsomolAktion mit meiner Beteiligung war, soweit ich mich erinnere, die Durchführung einer allgemeinen Versammlung, während der wir, gemäß dem Plan der Leitung, unseren Kommilitonen Andrij Choma verurteilen sollten. Er und seine Frau hatten sich kirchlich trauen lassen. Das war in den Augen der Parteibonzen ein großes Vergehen, was den Ausschluss aus dem Komsomol bedeutete. Der gesamte Studienjahrgang, mich eingeschlossen, verteidigte aber unseren Kameraden und so war meine »Komsomol-Karriere« endgültig vorbei. Formal blieb ich noch in der Organisation, aber bereits ohne jede Aktivität und selbstverständlich nicht mehr als Komsorg. In meinem Studienjahr war die Studentenschaft ein kleines Abbild eines »babylonischen Mix der Rassen und Sprachen«. Die Fakultät genoss ein hohes Ansehen und bildete Fachleute in einer damals sehr modernen Fachrichtung aus, der »Halbleitertechnik«. Ein wesentlicher Prozentsatz des Studienjahres waren Kinder der russischsprachigen Elite in Lwiw. Umgekehrt gab es in unserem Wohnheim mehrheitlich ethnische Ukrainer aus der Oblast Lwiw, aber auch aus den Karpaten. Es gab auch ethnische Polen und sogar einen Georgier. Unsere Beziehung untereinander war zeitweise nicht einfach, manchmal sprühte es Funken infolge unserer nationalen, sozialen und weltanschaulichen Gegensätze. So rief etwa einmal die Russin Mascha Starikowa, als sie die Buchauslage betrachtete, verwundert aus: »Da fiel es tatsächlich jemandem ein, den ›Mowgli‹ auf Ukrainisch zu veröffentlichen.« Es erinnerte mich daran, dass ein beträchtlicher Teil der »sowok« (»Sowjetbürger«) der heiligen Überzeugung war, dass das „Kapital“ von Marx im Original auf Russisch verfasst worden sei.

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Die Jugendzeit hat ihre eigenen Gesetze und so war die Atmosphäre im Studienjahr im großen Ganzen sehr freundschaftlich. Das förderte besonders die gemeinsame Arbeit im Kolchos noch vor Beginn des Studienjahres9 (es waren wohl zwei Wochen), während der wir feste Freundschaften schlossen. Wir ernteten Hopfen. Seither blicke ich immer voller Nostalgie auf die berühmten Hopfenplantagen bei Brody, wenn ich im Zug nach Riwne fahre. Während der Kolchosarbeit lernte ich auch meine nächsten Freunde im Institut kennen: Halyna Lewkowa, Wira Andruchiw und Roman Juretschko sowie die beiden Freunde Fedir Maruschtschak und Saschko Parchomenko aus der Oblast Kyjiw und Tscherkassy. Mit den beiden und den schon erwähnten Juretschko und Jewgen Prysjashny wohnte ich auch in einem Zimmer im Studentenwohnheim. Ich war kein Ingenieur aus Berufung und studierte ziemlich durchschnittlich. Ich verstand gut, dass ich diejenigen nicht erreichen konnte, die sich durch ihre Begabung in der Mathematik oder im Ingenieurwesen auszeichneten. Ich konnte gerade noch in einer Skizze erklären, wie der Strom in einem elektrischen Stromkreis fließt, aber wie genau er durch die Leitung ins Zimmer kommt: Da war mein Unglück bereits geschehen. Umso größer war mein Erstaunen, als es mir bei einer Prüfung gelang, die beste Note zu erhalten. Ich werde mich immer an diese Prüfung in Thermodynamik erinnern. Sie gehört zu den kompliziertesten Fächern; der Dozent war zudem einer der strengsten, sodass meine Aussicht miserabel war. Um mich nicht lange quälen zu müssen, ließ ich mich als einer der Ersten prüfen. So halbwegs antwortete ich auf die theoretischen Fragen, aber die Übung zur Berechnung der Entropie in der chemischen Reaktion konnte ich gar nicht lösen: An die entsprechende großartige Formel konnte ich mich einfach nicht erinnern. Ich gab deshalb gegenüber dem Dozenten offen zu: »Ich weiß die Formel nicht, aber da ein fester Stoff und eine Flüssigkeit aufeinander reagieren und sich dabei ein Gas bildet, kann ich nur folgern, dass die Entropie zunimmt.« Der Dozent schaute mich neugierig an, nahm 9

An den sowjetischen Hochschulen war es zu Beginn eines Studienjahres üblich, die Studenten z. B. zur Hopfenernte, Tomatenernte oder Weinlese zu schicken, da das sowjetische Kolchossystem mit der Ernte schlecht zurechtkam. Die Studenten waren eine kostenlose Arbeitskraft.

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mein Studienbuch und … trug ein »Ausgezeichnet« ein. Als ich damit zu meinen Kommilitonen herausging, wunderte ich mich nicht im Geringsten, dass sie mich verdächtig anschauten. Insgesamt bereute ich nie, auf meine Schwester gehört und das Polytechnikum absolviert zu haben. Die exakten Wissenschaften brachten mir die nötige Disziplin für mein Denken bei. Dank ihnen ging ich anders heran, um verschiedene Probleme zu analysieren, und bediente mich sogar eines anderen Wortschatzes. Mychajlyna Kozjubynska kämpfte, wenn sie mich las, nicht nur einmal mit mir wegen meines aus ihrer Sicht übermäßigen Gebrauchs technischer Ausdrücke. Das Wichtigste aber war, dass ich lernte, ein Volk und eine Gesellschaft als ein dynamisches System anzusehen, wenn es von der Seite her betrachtet, seine Gesetzmäßigkeit in einer anderen Dimension des Daseins anlegt. Aus wissenschaftlicher Sicht ist das selbstverständlich nicht zulässig. Mich hat aber schon immer eine ganzheitliche Sicht der Welt beeindruckt, die auch etwas mit mir zu tun hat. Ohne sie komme ich auch heute nicht aus … In einem der Studienjahre luden Saschko und Fedir mehrere Leute zu sich nach Hause ein, also in die Oblast Tscherkasy und Kyjiw. Es war meine erste Reise in die Gegend von Schewtschenko. Ich schaute aufgeregt aus dem Busfenster und erwartete ein Wunder. Als ich im Dorf Babytschi (Oblast Tscherkassy) ankam, sagte ich abends naiv zu Saschko: »Wann wollen wir uns denn die ›Nestabende‹ anhören?« Er verstand den Sinn der Frage nicht. Die Leute im Dorf saßen doch schon längst am Abend vor ihrer »Flimmerkiste«, da für sie schon lange die alte ethnografische Ukraine gestorben war. Für mich war das eine totale Überraschung. Mit derselben Studentengruppe fuhren wir einmal weg, um uns die Karpaten anzusehen. Da aber das Geld nicht allzu gerne in unseren Taschen klimperte, beschlossen wir, Güterzüge zu benutzen. So fuhren wir also in Richtung Karpaten, doch wohin denn genau? Einfach so, wie Gott es gibt! Wir waren fröhlich, saßen im letzten Waggon, hatten herrliche Landschaften vor uns, winkten sorglos den Beschützern der Brücken und Bahnübergänge zu. Plötzlich sahen wir, wie der Zug in eine Station einfuhr, wo nicht unsere, sondern polnische Waggons standen. Wir dachten: Nun sitzen wir in der Patsche. Und tatsächlich, eine Gruppe Grenzsoldaten kam

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auf uns zu und brachte uns auf die Wache. Es stellte sich heraus, dass wir im grenznahen Sianky eingetroffen waren. Wir wurden auf der Wache verhört und durchsucht. Da wir nicht einmal darauf gekommen waren, unsere Dokumente mitzunehmen, machte der Chef der Grenzwache eine Meldung an den höheren Vorgesetzten. Es sah aber so aus, als hörte er ein lautes Machtwort. Darauf warf er vor Wut den Hörer auf, und brüllte uns an: »Los, haut ab!« Das war meine zweite Bekanntschaft mit Verhören, offensichtlich ist das mein Schicksal … Ich verfolgte das politische Leben weiter sehr aufmerksam. Meine ersten Jahre im Institut waren gezeichnet vom Schmerz über die Selbstdiskreditierung Amerikas. Die Ergebnisse der WarrenKommission, die den Mord an John F. Kennedy untersuchte, weckten kein Vertrauen. Und dann kam noch etwas Unvorstellbares: Am 4. Mai 1968 wurde Martin Luther King und am 5. Juni Robert Kennedy ermordet. Das war für mich eine große Erschütterung. Später korrigierte sich das Bild etwas durch die Erfolge der USA im Weltraum, die erfolgreichen bemannten Flüge der »Apollo-Raumschiffe« zum Mond mit der unvorstellbaren Fernsehübertragung des Ausstiegs der Astronauten auf der Mondoberfläche. Damals saß die ganze Welt wie gefesselt an den Fernsehbildschirmen. Bestürzt verfolgte ich auch eine Reihe damaliger Kriege: den unrühmlichen Militäreinsatz der USA in Vietnam, den blitzartigen Sechstagekrieg Israels im Nahen Osten und dann den chinesischsowjetischen militärischen Konflikt auf der Halbinsel Damanski. Dieser und ähnliche Konflikte machten die Welt verworrener, als ich es mir am Anfang vorstellte. Fast den größten Einfluss auf die Bildung meiner damaligen Weltanschauung hatte der »Prager Frühling«. Im Herbst 1968 geschah in Lwiw ein ungewöhnliches Ereignis: Sowjetische Panzertruppen kehrten aus der Tschechoslowakei zurück, mit deren Hilfe der Kreml der rebellischen Freiheitsliebe von Prag ein Ende gesetzt hatte. Noch im August, als fünf sozialistische Armeen die Tschechoslowakei besetzten, verfolgte ich aufmerksam die Geschehnisse und hörte pausenlos Radio. Ich erinnere mich an den betäubenden Eindruck der Stimme des tschechischen Sprechers, der die Direktreportage aus dem Studio führte und darüber berichtete, wie die

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sowjetischen Truppen das Fernseh- und Rundfunkzentrum angriffen, Soldaten Korridore und Räume einnahmen und in das Studio einbrachen … Dann brach die Stimme ab und es wurde ruhig. Mit meiner Seele war ich ganz auf der Seite der Okkupierten. Voller Trauer nahm ich auch Abschied von Jan Palach, der sich als Zeichen seines Protestes gegen die sowjetische Okkupation selbst anzündete. In diesen Septembertagen schaute ich gemeinsam mit tausenden Einwohnern von Lwiw in die Gesichter der Soldaten, die aus ihren Panzern herausblickten. Es war sogar etwas gruselig: Die Soldaten waren niedergeschlagen, schauten uns alle ängstlich an, und die Lwiwer schwiegen und wirkten besorgt. Zumindest war das mein Eindruck. Es waren doch irgendwelche standardmäßigen Begrüßungen aus den Lautsprechern zu erwarten wie bei der Parade am 1. Mai. Doch nein, ich kann mich an so etwas nicht erinnern (vielleicht wollte ich es auch nicht wahrnehmen). Es herrschte ein allgemeines Schweigen, nur das Getöse der Panzerketten war zu hören. Mir kamen deshalb die Ereignisse, die zwei Jahre später geschahen, völlig logisch vor: die Verleihung des Nobelpreises für Literatur an Alexander Solschenizyn, die Gründung des Moskauer Komitees für Menschenrechte mit Andrej Sacharow an der Spitze und die ersten Unruhen im polnischen Gdansk. Der damalige Student lebte aber nicht nur von der Politik. In den beiden ersten zwei Jahren meines Studiums gewöhnte ich mich zunächst an Lwiw und meine Liebe zur Stadt begann … mit einer kindischen Eifersucht. Da ich bis kurz zuvor Einwohner von Drohobytsch war, nahm ich mit großer Trauer die Nachricht auf, dass 1959 Drohobytsch den Status einer Gebietsstadt verlor. Ich war sogar gekränkt, weil meine Stadt damit der benachbarten »Rivalin« unterstellt wurde. Allein die Tatsache, dass über die sehr alte Stadt Drohobytsch eine Stadt regierte, deren erste Erwähnung etwa eineinhalb Jahrhunderte später datiert ist, hat in mir, dem Bürschchen, Protest hervorgerufen. Ein Hauch dieser Eifersucht blieb mir bis heute, obwohl es unterdessen nur noch ein Lächeln hervorruft. Für Lwiw empfand ich gleichermaßen Begeisterung und Skepsis. Richtig verliebt in die Stadt machte mich erst die schöne

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Studentenzeit. Das alles kam mit unseren jugendlichen Rendezvous und Abenteuern daher, die ich zusammen mit meinen Freunden vom Polytechnikum erlebte. Der Zustand meiner Verliebtheit prägte sich buchstäblich an den Fassaden der Gebäude und den geheimnisvollen Straßenecken. Meine Jugendträume drangen in alle Ritzen der architektonischen Verzierungen und setzten sich dort für immer fest. So wurde Lwiw zur Stadt meiner romantischen Jugend, an der ich die Verzwicktheit der engen Straßen, aber auch das spontane Mosaik der Baustile und den fantastischen Umstand liebe, immer irgendeinen lang gehegten Jugendtraum in ihr zu beleben. Dennoch gab es zwischen mir und Lwiw auch eine gewisse Distanz. Heute verstehe ich, dass ich das wahre Lwiw, das ich im bürgerlichen Sinne lieb gewinnen könnte, einfach noch nicht kannte. Die Stadt war durch Verfolgungen stark unter Druck gesetzt und schloss sich einem Neuankömmling nicht gleich auf. Der Widerstand des damaligen Lwiw bestand nicht in direkten offiziellen Manifestationen, sondern darin, entgegen allem seine eigene Lebensweise bewahren zu können. Als die Weihnachtskrippen auf die Straßen der Stadt hinausgezogen wurden, unter denen ich Iryna und Ihor Kalynez, Stefa Schabatura, Olena Antoniw, Olga und Mychajlo Horyn, Ljuba und Bogdan Soroka, Jaroslaw Kendsjor, Familie Krypjakewytsch und noch eine weitere Gruppe mit anderen Leuten aus Lwiw hätte treffen können, fuhr ich gerade nach Drohobytsch, um mit meiner Familie Weihnachten zu feiern. Daher begegneten wir uns nicht, obwohl wir in derselben Stadt lebten, aber in Parallelwelten. Lwiw zeigte sich mir bisher mehr von seiner konformistischen und düsteren Seite; vielleicht deshalb, weil ich selbst so war. Das Rebellische in mir war damals immer noch durch meine Treue zum Sowjetischen begrenzt. Ich suchte aber nach einem Wunder. Als mir meine Freundin Orysja Sawtschuk Anfang der 1970er-Jahre einen ukrainischen Serdak nähte, zog ich diesen oft an und spürte, was für eine Herausforderung es ist. Obwohl ich dieselben Straßen entlangging, kreuzte sich mein Weg nie mit der großen Schar derer, die dieselbe ukrainische nationale Tracht (Swytky und Serdaky) trugen. Mich ärgerte auch die Tatsache, wie die Leute in der

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damaligen Oblast Lwiw selbstverständlich die Lieder der ukrainischen Schützen gut kannten und genau wussten, wo gesungen werden konnte und wo nicht. Ich erinnere mich, wie ich einmal als Gast bei einer Hochzeitsfeier das Schützenlied anstimmte. Ich hörte von überall den erschrockenen Ruf: »Sei ruhig, sei ruhig!« Ich verstand schon, warum, aber meine junge Seele sehnte sich unterbewusst nach dem kühnen und offenen Geist des Widerstands, der mich einige Jahre später in Kyjiw so sehr packte. Ich musste noch eine weitere wichtige Prüfung bestehen: Ich wollte unbedingt diejenigen kennenlernen, die ich zuvor aus meinem Leben ausgeschlossen hatte. Es begann mit unseren Gesprächen im Wohnheim. Während einer Fahrt nach Kyjiw erschütterte mich die völlige Russischsprachigkeit der ukrainischen Hauptstadt. Obwohl ich die Stadt liebte, verhielt ich mich ihren Bewohnern gegenüber eher abweisend (mit der Orangenen Revolution veränderte es sich, als mir bewusstwurde, welch verheerende Folgen die damals in allen Propagandablättern angepriesene nationale Politik der KPdSU hatte). Ich teilte aber meine Gedanken ganz offen mit meinen Freunden im Studentenwohnheim (oder kann man sich denn eine Jugend ohne irgendeine Rebellion vorstellen?). So löste der unter uns Studenten ironisch bezeichnete bekannte Wein »Biomizin« (»Bile mizne«, »starker Weißwein«) rasch unsere Zungen. Eigentlich war es eher erstaunlich, dass ich beim KGB erst so spät verraten worden war. Ich wurde erst in meinem dritten Studienjahr in die Erste Abteilung des Institutes gerufen, wo ich dann schwerwiegend beschuldigt wurde: einer verzerrenden Auslegung der nationalen Politik der KPdSU – und außerdem der Verbreitung bösartiger Lügen, die die Partei verleumdeten. Der letzte Vorwurf wurde durch die Tatsache provoziert, dass es in unserem Jahrgang nur einen Kommunisten gab: Iwan Startschuk, der dann beim Diebstahl einer Jahresarbeit seines Kommilitonen erwischt wurde; der Skandal war gewaltig: Die Studenten ergötzten sich genüsslich an seiner Zugehörigkeit zur kommunistischen Partei und das KGB musste gehörig die »Ärmel hochkrempeln« und die Situation irgendwie zurechtbiegen.

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Ich war psychologisch überhaupt nicht auf die Einladung zum KGB vorbereitet, oder genauer, ich war nicht auf die Botschaft gefasst, die mir aus dem Mund meines Gesprächspartners entgegenkam: »Sie werden wegen Ihres ständigen antisowjetischen Geschwätzes im Wohnheim aus unserem Institut exmatrikuliert.« Später begriff ich, dass da mehr als bloß ein naives studentisches »Fischlein am Haken« zappelte. Nach der Drohung folgte sofort die Formel zur »Errettung«: »Wir können die Entscheidung revidieren, wenn Sie durch Ihre Tat beweisen, dass Sie kein Feind der Sowjetmacht sind. Sie müssen uns einfach zeigen, dass Sie mit uns zusammenarbeiten, damit Feinde wie Sie rechtzeitig entlarvt werden können.« So hätte ich gemäß der Vorstellung des KGB die große Reihe der Informanten und Zuträger ergänzen müssen. Meine Erschütterung über den mir drohenden Ausschluss aus dem Institut war natürlich groß. Zunächst fehlte mir die Kraft, die Mitarbeit entschlossen abzulehnen. Ich wählte die Methode, die mir damals am klügsten erschien. Einer meiner Verwandten beschrieb es einmal so: »Tue so, als ob du einverstanden bist, aber stelle dich dann dumm an und sage, dass du nichts gehört und nichts gesehen hast.« Doch woher sollte ich damals wissen, wie sehr sich das KGB an diesen »Einfaltspinseln« die Zähne ausbiss! Es kam mir aber die »Vorsehung« zu Hilfe. Nach dem Gespräch mit dem Zuständigen des KGB kehrte ich ins Wohnheim zurück. Und siehe da: Meine Kameraden saßen gerade am Tisch, tranken Wein und »droschen« Anekdoten über den Generalsekretär Leonid Breschnew. »Was sie jetzt sagen, muss ich mir nun merken und mich dann hinsetzen und eine Denunziation schreiben«, dachte ich mir und war entsetzt. Aber es kam mir sofort die rettende Lösung. Ich unterbrach das Gespräch und erzählte ihnen, wo ich gerade gewesen war und sagte: »Ich muss natürlich jetzt alles tun, um meinen Hals aus der Schlinge zu ziehen. Damit es mir gelingt, bitte ich euch, in meiner Anwesenheit nichts politisch Gefährliches zu erzählen.« Die Jungs hörten mir verwundert zu und nickten – und fuhren dann fort, Witze über Breschnew zu reißen. Es erstaunte mich gar nicht, dass sie alldem gar keine Beachtung schenkten. Ihr spontanes Vertrauen erzeugte in mir aber den Eindruck, dass ich immer noch

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nicht wusste, wie es mir gelingen würde, mich aus dieser Schlinge zu befreien, aber für mich war klar: Ich würde niemals ein Informant werden. Ich hatte zudem noch Glück, da sich an diesem Tag unter meinen Freunden nicht der Kommilitone befand, auf den unser Verdacht später fallen würde, dass er mich denunziert hatte (und ich erwähne seinen Namen auch nicht, da ich es nicht direkt beweisen kann.) Das KGB wusste zunächst nicht, dass ich mich von meinem Joch befreien wollte. Bald danach wurde aber die »Katze aus dem Sack gelassen«; mein weiteres »Nichts gehört und nichts gesehen« verärgerte das KGB sehr. Ich bekam aber für meinen, wenn auch nur kleinen, Ungehorsam eine Strafe: Mir wurde der »Dopusk« (Zulassung zur Militärausbildung) entzogen und ich wurde vom militärischen Lehrgang ausgeschlossen. Das hieß, dass ich nach Beendigung des Studiums in der Armee nicht als junger Leutnant wie die anderen, sondern als einfacher Soldat dienen musste. So führte bereits von Beginn an der Druck des KGB dazu, dass zwei unterschiedliche Instinkte in mir zusammenprallten: der Instinkt der Selbsterhaltung, der zu einem Kompromiss mit der Macht drängte – und der moralische Instinkt oder die Stimme des Gewissens, der mich zwang, die Wahrheit zu verteidigen. Ich war damit aber nicht der Erste und auch nicht der Letzte, dessen Seele zu einer Arena des »Kampfes der Kulturen« (Samuel Huntington) wurde. Wie der weitere Verlauf mir zeigte, hatte das KGB aber die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Ich wurde vor dem staatlichen Schlussexamen in eine konspirative Wohnung in Lwiw bestellt (irgendwo in der Gegend des heutigen Geschäftes »Oleksij« an der Straßenecke Kyjiwska- und der Rusowytsch-Straße). Mir wurde ein schmackhaftes »Zuckerbrot« angeboten. Sie hätten die Arbeit mit mir einfach falsch gemacht. Um es zu korrigieren, schlug mir das KGB eine radikal andere Bedingung der Zusammenarbeit vor: eine Aspirantur am Polytechnischen Institut, eine Wohnung in Lwiw, gute Perspektiven für meine Karriere und den beruflichen Aufstieg. Dabei wurde nur eines von mir verlangt: die Bereitschaft, bedingungslos die Aufträge meiner Bevollmächtigten zu erfüllen. Zum Glück war für mich damals das Angebot völlig undenkbar. Dazu erwiesen mir einige Ereignisse einen sehr guten Dienst.

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Ausgerechnet im fünften Studienjahr lernte ich in Kyjiw Mykola Matusewytsch und die Gruppe seiner ukrainischen Freunde kennen, die sich um den Chor »Homin« von Leopold Jaschtschenko sammelten. Orysja Sawtschuk, die ich bereits erwähnte, stellte uns gegenseitig vor. Sie war gerade nach Kyjiw gezogen, um dort zu arbeiten. Sie lud mich Anfang Mai ein, aus Lwiw zu einer illegalen Maifeier (das traditionelle ukrainische Frühlingsfest) zu kommen. Ich war beeindruckt von diesem Anlass in dieser für mich neuen Gesellschaft. Der Maidan vor der Metrostation »Bilschowyk«, wo das allgemeine Treffen stattfinden sollte, war mit einem Meer ukrainisch bestickter Hemden (»Waschywankas«) übersät und von der Kraft der wunderschönen ukrainischen Sprache erfüllt. Vor dem funkensprühenden ukrainischen Humor verlor der Galizier aus der Provinz und voller Komplexe ganz den Kopf. Dieses erste Picknick im Wald hatte für mich eine völlig magische Wirkung. Meine Seele wurde an den Steilhängen des Dnipr, wohin wir später einmal zur Erholung fuhren, von den wunderbaren Liedern und dem schwungvollen huzulischen Reigentanz »Arkan« tief berührt. Als ich ganz beflügelt nach Lwiw zurückkehrte, war ich immer noch im Zustand einer völligen Begeisterung. Ich hatte mein Herz in Kyjiw verloren, wo nun meine neuen Freunde waren und wo sich auch Mykola Matusewytsch befand. Die stürmische Kraft, mit der Mykola damals in meine Seele trat, lässt sich nur mit der Wildheit eines Gebirgsbachs vergleichen. Mykola, der Feuer und Flamme war, verwandelte mich bis in Mark und Bein. Er verspottete meinen galizischen Konformismus und vertrieb meine jugendlichen Minderwertigkeitsgefühle mit einem Wort, er machte mich zu einer Ruine, auf der er begann, einen neuen Charakter aufzubauen. Mykola hatte bereits eine gewisse Erfahrung mit Verfolgungen durch das KGB, da er 1972 von seinem Studium an der Fakultät für Geschichte im Kyjiwer Pädagogischen Institut exmatrikuliert worden war, angeblich »wegen ungenügender Studienleistungen«. In Wirklichkeit war der Grund seine damaligen »Sympathiebekundungen« gegenüber der verfolgten ukrainischen Intelligenz (siehe

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»Chronik der laufenden Ereignisse«10, Ausgabe 43). Er hatte bereits brutale Verhöre im KGB überstanden, was seinen »Lehrer« in den Augen des begeisterten »Schülers« noch einige Stufen erhabener erscheinen ließ. Zu Beginn geschah meine Schulung durch eine stürmische Korrespondenz: Wir wollten einfach alles miteinander teilen, selbst die geringsten Ereignisse, Beobachtungen und Gefühle. Ziemlich rasch bildete sich dann ein identisches Wertesystem in uns und eine ähnliche Sicht auf die Umwelt. Mein Leben wurde damit hundertfach interessanter und fröhlicher, nur schon, wenn ich mich an das komische Telegramm erinnere, dass Mykola mir eines Tages sandte: »Im Busch flimmert etwas …« Wir lachten beide aus vollem Hals und stellten uns vor, wie sich das KGB abquält und zu entschlüsseln versucht, was sich hinter dem Unsinn versteckt! Dank Mykola kam es zu einer weiteren Bekanntschaft, die bis heute zu den schönsten Erinnerungen meines Lebens zählt. Es ereignete sich auf dem Platz vor dem Museum der Ukrainischen Kunst in Kyjiw (ich glaube, es war auch 1972), als wir in der Schlange zu einer Ausstellung impressionistischer Bilder aus der Privatsammlung des amerikanischen Milliardärs Armand Hammer standen, mit dem sich die Sowjetmacht in Szene setzte. Mykola und ich hatten abgemacht, Walentyna Tschornowil, die Schwester des vor kurzem verhafteten Wjatscheslaw, und Iryna Wolyzka, die Tochter der Dichterin Atena Paschko, zu treffen. Ich hörte bereits von der romantischen und gleichzeitig leidenden Liebe zwischen Atena und Wjatscheslaw: Ihre Liebe wurde für uns, die rebellische Jugend der 1970er, zu einem Symbol und nahm verschiedene Beinamen an: »poetische Liebe, kämpferische Liebe, Kasemattenliebe, Kerkerliebe« und andere, die den verschiedenen Aspekten von Wjatscheslaws Biografie entsprachen. Atena ertrug das alles und erkämpfte ihre eigene heldenhafte Biografie, 10

Die »Chronik der laufenden Ereignisse«, die hauptsächliche Quelle der Nachrichten über das Dissidentenleben und das Leben im Konzentrationslager, wurde in der UdSSR über die Kanäle des illegalen Selbstverlages (russ.»Samisdat«) verbreitet. Im Weiteren wird sie im Text manchmal abgekürzt als »Chronik«. Alle Zitate aus der russischsprachigen Ausgabe sind im Text meiner Erinnerungen ins Ukrainische übersetzt.

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indem sie dem allmächtigen KGB und dem unwürdigen System die Stirn bot. Als Wjatscheslaw verhaftet wurde, setzte sie, wo sie nur konnte, das von ihm Begonnene fort. Die freundschaftlichen Blicke der Mädchen, die Herrlichkeit des gemeinsamen Erlebens der Kunst und die Empfindung, dass diese Bekanntschaft mich zu jemandem machte, der zur Spitze des Volkes gehört – all das prägte sich unauslöschlich in mein nach Heldentat durstendes Gedächtnis ein. Das Angebot meines Bevollmächtigten vom KGB war mit dem Angebot von Kardinal Richelieu an d’Artagnan, in seine Garde einzutreten, vergleichbar. Ich konnte wie der Musketier von mir sagen: Alle meine Freunde gehören zum Kreis der Ukrainer-Patrioten und alle Feinde mit ihrer für mich unbegreiflich fatalen Zufälligkeit dienen dem KGB. Folglich würden sie es auch nicht gut aufnehmen und nicht verstanden werden. Schließlich lehnte ich das verlockende Angebot ab, ohne nur im Geringsten zu schwanken. Ich sagte, dass ich andere Pläne für mein Leben hätte und ich bin dafür mein ganzes Leben Gott dankbar, dass ich mir die als Freunde wählte, denen gegenüber ich mich schämte, unwürdig zu handeln. Als ich bereits verhaftet war, sagte mir mein Untersuchungsführer und Offizier des KGB Oleksandr Beresa, der den Auftrag hatte, mich zum Informanten zu bewegen, einmal sehr deutlich, was das für mich heißt. Er wusste sehr genau, dass mein Großvater Priester gewesen war und dass ich Verwandte im Ausland hatte. Das KGB war aber dennoch entschlossen, mich als Agenten einzusetzen. Die »stümperhafte Arbeit« meines Kurators versaute aber meinem Bevollmächtigten alles. Falls in dieser Tatsache nur ein Körnchen Wahrheit stecken sollte, war die Unfähigkeit dieses KGBManns meine Rettung. Als ich dann trotzdem unsicher wurde wegen dem Vektor meines Schicksals, den ich wählte, wurden meine Gründe bald sinnlos. Am 12. April 1973 besuchte ich das erste Mal die Wohnung von Atena Paschko in der Nischtschynsky-Straße 14, wo ich als Gast immer willkommen war. Ich ging ohne jede Vorahnung, was mich erwarten würde. Erst als ich die Wohnung betrat, begriff ich die mystische Bedeutung meiner Anziehung zu diesem Haus: Am Tisch saßen gerade auch, außer den Hausherren, der Vater und die

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Mutter von Wjatscheslaw Tschornowil. Sie waren kurz zuvor von der Gerichtsverhandlung zurückgekehrt, auf der Wjatscheslaw das ungerechte Urteil verlesen wurde: sechs Jahre Haft und drei Jahre Verbannung. Ich saß völlig erschüttert da mit dem Gefühl, dass sich jetzt in mir meine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zur Beratschlagung versammelten. Von diesem Augenblick an waren mir die Leiden dieser Menschen heilig, da sie völlig zu Unrecht angeklagt wurden. Der Weg, den sie nun gingen, wurde auch zu meinem persönlichen Weg. (Und hier ergeben sich weitere Parallelen zu meinem Lieblingsroman von Dumas: So etwa der Augenblick, als d’Artagnan entschloss, sich zusammen mit den Gardisten an der Seite der Musketiere im Duell zu messen. Dann fällst du eine Entscheidung für dein ganzes Leben.) Die Bekanntschaft schenkte mir das Gefühl einer ehrlichen Zugehörigkeit zu etwas ganz Großem. Allmählich zeigte sich auch, dass nicht nur ich dieses Gefühl hatte. Mychajlyna Kozjubynska beschrieb es so: Alle Unterdrückungen und Verfolgungen, materielle Entbehrungen und Schwierigkeiten im Alltag und die fehlende Möglichkeit, sich in einer ›legalen‹ Dimension zu entwickeln, wurden durch den Reichtum und die Freude des Umganges mit Menschen, die zu dieser legendären ›kleinen Handvoll‹ von Menschen gehören, die aus Intuition und scheinbar gegen alle Vernunft vom Sieg der ›Menschlichkeit‹ über die ›Grausamkeit‹ überzeugt sind, vollkommen kompensiert, in Anlehnung an die Worte von Iwan Franko. Es ist einfach ein wahres Glück, Zeuge von kleineren und größeren Siegen werden zu dürfen. Um keinen Preis möchte ich mein Schicksal gegen ein anderes eintauschen. Es ›betrog‹ mich wirklich ›nie‹ …

Im Verlauf der nächsten vier Jahre, die mir bis zu meiner Verhaftung blieben, ging ich immer wieder in die ruhige Wohnung in Lwiw, wo die »drei Wasyliwna«, Großmutter, Tochter und Enkelin, lebten. Ich kam nicht nur als Gast, ich war ein Pilger. Und jedes Mal verließ ich die Wohnung nicht ohne ihren herzlichen Segen verspürt zu haben. In der Nischtschynsk-Straße hörte ich dann auch das erste Mal die Gedichte von Atena, zitiert von ihrer Tochter Iryna, deren gedämpfte Stimme in der mit Abhörgeräten gespickten Wohnung eine besondere Bedeutung erhielt:

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Wie schläft’s sich denn, o Frau Auf Pritschen … S’sind doch keine Diebin, weder eine Mörderin. Das Bad gebührt ja Ihnen. Allmorgendlich In guten Wässern duftend Von Kamillenkraut …

Ich lief wie ein Entenküken, das einfach dem ersten sich bewegenden Gegenstand hinterherläuft und ihn als seine Mutter betrachtet, in meiner Seele dem wunderbaren Gedicht und ihrer Schöpferin nach. Von nun an empfand ich die Poesie von Atena ganz natürlich mit Leib und Seele mit mir verwandt. Später erfuhr ich dann auch, dass dieses Gefühl des Kontrasts zwischen dem Versuch des KGB, die Frauen der Gefangenen zu erniedrigen und ihrem würdig und erhabenen Verhalten ziemlich verbreitet war. Es zeigt sich etwa in einem Gedicht von Oleksa Risnytschenko, in dem sie das Antlitz der Angeklagten Nina Strokata beschrieb: Sie saßen, Nina, auf dem Thron – und nicht auf der Anklagebank, o nein, nicht so!11

Ich erfuhr zudem neue Einzelheiten, wie das KGB Wjatscheslaw Tschornowil nach seiner Verhaftung auf keinen Fall erlauben wollte, dem »rebellischen Ehepaar« eine Genehmigung zur Eheschließung zu erteilen. Deshalb übte das KGB im Hinblick auf seine Liebe jeden erdenklichen Druck aus, als er im Untersuchungsgefängnis in der Straße des Friedens 1 in Lwiw (der heutigen BanderaStraße) einsaß. Atena wurde am Tag nach der viele Stunden andauernden Durchsuchung verhaftet und in dasselbe Gefängnis gebracht. Es gab dort dann eine zufällige Begegnung der beiden im Korridor, durch die demonstriert wurde, dass auch die Geliebte verhaftet worden war (und für drei Tage ebenso seine Schwester Walentyna). Während der unerwarteten Begegnung, bei der 11

Odessaer Welle. Dokumente, Werke, Erinnerungen der Gewissenshäftlinge. Zusammengestellt von P.Otschenaschenko, O. Risnykiw, D.Schupta. Odessa: Druk, 2006, S.212 (im Weiteren: Odessaer Welle).

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Wjatscheslaw mit einem lauten »Atena! Halte dich tapfer!« reagierte, knickten die Beine von Atena ein und sie konnte nur noch weitergehen, indem sie sich an der Wand abstützte. In der Nacht vor dem dritten Tag konnte sie schließlich zu ihren völlig beunruhigten und doch tapferen Verwandten gehen: zu ihrer Mutter mit ihrer »grenzenlosen Liebe, ihrem Verständnis, ihrer außergewöhnlichen Güte, ihrem Taktgefühl und ihrem aristokratischen Geist« (ich zitiere Atena) und zu ihrer Tochter, die für ihre Mutter eine feste Stütze war. So entfaltete sich bei ihr das ganze Paket einer stürmischen Blutsbruderschaft mit Wjatscheslaw Tschornowil, der seine Atena dann erst während seiner Verbannung in Jakutien 1978 heiraten konnte. Die Schlüsselwörter, mit denen sich ihr damaliges Leben bezeichnen lassen, sind Wörter wie: Verhöre, Durchsuchungen, Denunzierungen, Abhören, Provokationen, psychologischer Druck und viele andere Qualen. Wenn ich mit Atena über Dinge sprechen wollte, die das KGB nicht hören sollte, gingen wir jeweils hinaus, um einen Spaziergang auf der Nischtschynsky-Straße und ihrer Umgebung zu machen. Interessant ist auch, dass das KGB offenbar im Dissidentenumkreis von Atena das Gerücht verbreitete: »Atena und Myroslaw verhalten sich merkwürdig. Sie verstecken sich außerhalb der Wohnung und flüstern miteinander, da sie meinen, es könne sie niemand hören …« Ich vermute, sie ärgerten sich ganz gewaltig, dass sie nicht zumindest einige Fetzen unseres Gespräches verfolgen konnten. Es war ein ungleicher, aber würdiger Zweikampf zwischen Atena und dem KGB. Die Gedichte, die sie damals verfasste und die ich im Archiv fand, sind wie Kardiogramme, auf denen ihre Schmerzensgeschichte sichtbar werden: Wozu denn denken? Nicht zu denken wagen – Als wäre ein Roboter – ein Roboter! Nur im Rhythmus schreiten, Nur im Takt schreiben Als Stiefel über Blumen gehen Als Stiefel – wie ein Stiefel!

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Die Erfahrung weiterer Prüfungen Kehren wir in das Jahr 1972 zurück, als ich das Studium am Polytechnikum in Lwiw beendete und im August nach Iwano-Frankiwsk umzog. Ich arbeitete dort im Werk »Positron«, in dem Halbleitergeräte hergestellt wurden. Offensichtlich wurde ich dort wieder bespitzelt und dann in die Erste Abteilung bestellt. Der Betrieb war ein »halbmilitärisches« Werk und so erstaunt die Aufforderung nicht weiter. Das KGB versuchte nach wie vor, mich zu überzeugen und griff dabei zur bewährten Methode von »Zuckerbrot und Peitsche«. Ich arbeitete in der Informationsabteilung als Übersetzer aus der englischen Sprache. Als die Gelegenheit entstand, eine Ausstellung für Geräte unseres Werkes in Wien zu organisieren, sollte ich als Ausstellungsleiter, der Englisch sprach, auch hinfahren. Ich wurde in die Erste Abteilung gerufen und gefragt: »Nun, wie steht’s mit Ihnen – arbeiten Sie jetzt mit uns zusammen oder nicht?« Da ich es schon das erste Mal abgelehnt hatte, konnte ich nicht ins Ausland reisen. Ich arbeitete weiter in diesem Werk. Bereits im Herbst des folgenden Jahres wurde ich aber zur Armee eingezogen. Da ich zu meinen Arbeitskollegen eine gute Beziehung hatte, versuchte die Leiterin Nina Brahina (eine Russin, die erst kurz zuvor aus der Nähe von Moskau zu uns gekommen war), sich mit dem Wehrkreiskommando zu verständigen, damit ich nicht zum Wehrdienst eingezogen würde. Es wurde aber entschieden abgelehnt, in Berufung auf eine Anweisung des KGB. Das folgende Jahr des Militärdienstes als Soldat wurde zu einer weiteren Etappe meiner Entwicklung zum Menschenrechtler. Ich wurde den Luftverteidigungstruppen zugeteilt, die im russischen Wologda stationiert waren. Der bedingungslose Gehorsam fiel mir sehr schwer, obwohl ich kein genetischer Rebell bin. Dort begegneten mir aber die damals übliche Grobheit der Offiziere und Brutalität der Soldaten, was sich natürlich nicht gut vertrug mit einer noch sehr empfindlichen Seele, in der das menschliche Ferment noch am Reifen war. Dieses Phänomen ist in allen Armeen dieser Welt weit verbreitet. In den 1970er-Jahren veredelte sich damit

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keine große Idee: Der junge Wein schuf, statt dass er Helden hervorbrachte, oft völlig moralische Krüppel. Das KGB belästigte mich in der Armee nicht besonders, obwohl mir aus dem Mund einer seiner Offiziere zu verstehen gegeben wurde, dass ich mich unter seinem wachsamen Auge befände. Die ganze dreckige Arbeit, die Soldaten zu überwachen, erfüllten die Armeebonzen, die aber, was allgemein bekannt war, eine Abneigung gegen ihre Konkurrenz aus dem KGB hatten. Als ich später meine Situation in der Armee und in der Haft verglich, hob ich immer hervor, dass es im ersten Falle für mich psychisch belastender war. In der Haft konnte wenigstens Protest erhoben werden – mündlich oder in einem klaren Antrag an den Staatsanwalt. In der Armee war es völlig unmöglich. Es ist mir aber während der Armeezeit doch ein Protest in Erinnerung geblieben, da er einen Fluch provozierte, der das ganze Leben zäh an mir kleben blieb. Es wurde unserem Soldatenzug einmal befohlen, eine offensichtlich viel zu schwere Arbeit auszuführen, die unsere Kräfte völlig überforderte, da uns keine Zeit gewährt wurde, um neue Kräfte zu sammeln. Ich protestierte: »Wann sollen wir uns erholen?« Mein Kompaniechef sah mich streng an und fügte ausdrucksvoll hinzu: »Du kannst dich dann in deinem Grab erholen!« Es stellte sich heraus, dass es sich als prophetisch erwies … Die für die Armee traditionelle »Schikanierung« war in unserer Abteilung einigermaßen erträglich, da wir acht Mann mit einer Hochschulbildung waren und damit in eine besondere Kategorie gehörten. Unsere Unteroffiziere erkannten schnell, dass sie von uns mehr profitierten, als wenn sie uns zu ihrem Vergnügen missbrauchten. Ich wurde zum »Kompanieschreiber« und verfasste dabei Texte für zahlreiche Gratulationen und Liebeswünsche, mit denen die Unteroffiziere ihre Geliebten beschenkten oder ihre »debilen« Alben ausschmücken wollten. Als wir bereits zu den »Alten« gehörten, gelang es uns in unserer Abteilung, die »Schikanierung durch die Altgedienten« auszurotten (zumindest während unseres Armeedienstes). Zu zwei meiner damaligen guten Freunde, dem Juden Gennadij Plotkin aus Leningrad und dem Abchasier Gurami Parulua aus

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Suchumi, hielt ich später den Kontakt aufrecht. Mit Gennadij treffe ich mich bis heute fast jedes Jahr in den USA, wohin er 1978 ausgewandert war. Im Juli 2007 organisierten wir sogar zu dritt ein nostalgisches Treffen in Suchumi. Gurami verstarb leider im Herbst 2013. In der Armee stieß ich zum ersten Mal auf das klassische Problem der kollektiven Verantwortung. Schon in meiner frühen Jugendzeit ließ ich mir einen Schnurrbart wachsen. Die Barthaare begannen unter der Nase gerade zu wachsen und ich pflegte es als ein neues Element meiner Identität. Als ich mich auf die Armee vorbereitete, wusste ich, dass es in der Sowjetarmee nur Georgiern erlaubt war, einen Schnurrbart zu tragen. Es war noch ein Privileg aus Stalins Zeiten und wurde offiziell so erklärt, dass der Schnurrbart für einen Georgier eine »Sache ihres Nationalstolzes« wäre. (Stalin merkte es sich sehr genau!) Ich machte mich darüber heftig lustig: »In der UdSSR ist es offensichtlich nur Georgiern erlaubt, einen Nationalstolz zu haben.« Es war klar, es sträubte sich alles in mir beim Gedanken, den Schnurrbart freiwillig abzurasieren. Ich weigerte mich auch, es nach der Einberufung zu tun. Einige Zeit wurde es noch geduldet, aber dann kam der bemerkenswerte Tag, als mein Kompaniechef den Entschluss fasste, den Eigensinnigen endlich zu bändigen. Es war ein Samstag, der Tag, als die ganze Kompanie in die Sauna geführt wurde. Als alle antreten mussten, vermeldete der Kommandant: »Die Kompanie geht sich erst dann waschen, wenn Soldat Marynowytsch seinen Schnurrbart abrasiert hat.« Ich weigerte mich. Die Kompanie stand nun also da. Zehn Minuten. Zwanzig Minuten. Schließlich hielt es einer nicht mehr aus – und plötzlich schrie die ganze Kompanie vereint: »Gelten für dich andere Regeln? Schaut her, welch großartiger Herr er sein will! Los, geh endlich und rasiere den Bart, wir wollen endlich in die Sauna!« So wurde ich meinen Schnurrbart los – und seither mag ich das Prinzip der kollektiven Verantwortung überhaupt nicht. Der Hauptverdienst in meiner Entwicklung zum Menschenrechtler gehört aber ohne Zweifel dem bereits erwähnten Mykola Matusewytsch, meinem damaligen allerbesten Freund. Er zog mich am Schopf auf die Höhe einer Unerschrockenheit und des

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staatsbürgerlichen Ungehorsams, die ich allein auch mit Mühe nie erklommen hätte. Durch ihn wurde ich furchtlos. (Diesen Effekt beobachtete ich später auch bei einigen unserer anderen Freunde.) Dank Mykola wurde ich zum Homo erectus, einem Menschen mit aufrechtem Gang. Meine Bildung zum Dissidenten wurde zudem ergänzt durch die Materialien des Selbstverlages, von denen ich schon zuvor größtenteils über Radio »Swoboda« und andere »Feindsender« gehört hatte. Ab und zu sind Mykola und mir auch Fotokopien dieser Materialien oder »löchrig gelesene«, auf der Schreibmaschine angefertigte Abschriften in die Hände geraten. So wurde ich etwa mit dem Buch »Internationalismus oder Russifizierung?« von Iwan Dsjuba vertraut, das für die meisten Dissidenten zu einem wahren Buch der Offenbarung wurde. Heute wird das Buch eher skeptisch eingeschätzt. Dazu als Beispiel ein Auszug aus den Erinnerungen von Mychajlyna Kozjubynska: Mir bedeutete das Werk viel und es wurde mir zu einem besonderen nationalen ›Liknep‹ [›Liquidierung des Analphabetentums‹]. Es klärte mich auf und formulierte das, was in mir schlummerte und gedanklich noch nicht verarbeitet war. Viele heutige Menschen, die keinen Sinn für historische Dinge haben, neigen nicht mehr wie damals dazu, darin einen ›revolutionären‹ Inhalt zu erkennen, da dort die Meinung durch Zitate von Lenin gestützt wird. Für die damalige Zeit ist aber die konkrete und historische Bedeutung von Dsjubas Wahrheit zutreffend: Die Klischees von innen her zu brechen und dann neue Ideen einzuführen; die Dogmen auf ihrem ideologischen Terrain zu erschüttern, die der breiten Öffentlichkeit vertraut sind, die die Terminologie und das System der Konzepte mit ihrer Muttermilch aufsogen. Der Everest kann schließlich nur überwunden werden, wenn zuerst einige zugänglichere Gipfel bezwungen werden.12

Seit der Zeit, als ich Mykola kennenlernte, brannte meine Seele voller Begierde nach dem von mir erträumten Kyjiw, was mir zuvor noch nicht möglich war – und dies umso mehr, nachdem ich mich noch vor der Einberufung zur Armee im September 1973 mit Maria Labowka vermählte, der Freundin meiner Kindheit, die aus dem Städtchen Stebnyk in der Oblast Lwiw kam, wo mein Großvater, der Priester Josyp Marynowytsch, als Pfarrer seinen Dienst tat. Die 12

Mychajlyna Kozjubynska. Buch der Erinnerungen, S.50.

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Labowkas waren damals seine Nachbarn. Mykola war natürlich Brautführer bei unserer Hochzeit. Er wurde später zu einem meiner wichtigsten Eingeweihten, als das Leben mit meiner Frau hauptsächlich wegen meiner Schuld in eine Sackgasse geriet. Er besuchte mich auch im Truppenlager in Wologda und empfing mich gemeinsam mit unseren Freunden auf dem Bahnhof in Kyjiw, als ich nach einem Jahr Armeedienst in die Ukraine zurückkehrte. Als dann mein familiärer Herd, ohne je richtig erglüht zu haben, endgültig erlosch, kam ich dank Mykolas Hilfe psychisch aus dem fürchterlichen Stress und meinem Schuldkomplex nach der Scheidung heraus. So fügte es sich schließlich, dass ich nach Kyjiw übersiedelte. Zuvor wurde mir in Iwano-Frankiwsk, wohin ich nach der Armee zurückgekehrt war, eine andere Stelle im Werk angeboten. Allerdings wusste man dort bereits, dass ich sie nicht annehmen würde. Ich ließ dann alles hinter mir in der kleinen Hoffnung, eine dauerhafte Wohngenehmigung in Kyjiw zu erhalten und auch eine Arbeit zu bekommen. Im Herbst 1974 setzte ich mich dann in den Zug. Meine Mutter blieb nun allein im Haus zurück, da meine Schwester Nadijka zu der damaligen Zeit bereits in Riwne an der Mittelschule Nr. 15 unterrichtete. Der Sohn flog nun wie ein Insekt zum Licht hin nach Kyjiw …

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Schwester Nadijka in der Blüte ihres Lebens

In den Armen ihres Vaters, Franko Iwanowytsch Ditsjo

Mit meiner Mutter bei einer Demonstration, 1950er-Jahre Mutter Lyubov Marynowytsch in ihrer Jugend

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Eine Gruppe von Studenten vor dem Eingang des Lemberger Polytechnikums

Neben mir – Günter Korzak, mein Freund aus der Studentenzeit in Lwiw, der 2015 mein Buch »Die ukrainische Idee und das Christentum« in die deutsche Sprache übersetzte und herausgab

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Atena Paschko und Wjatscheslaw Tschornowil im Exil in Jakutien, 1978

Matusewytsch und ich in den frühen 1970erJahren – unzertrennliche Freunde

In der Armee an einer Konsole

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2. Endlich in Kyjiw Burlak In dieser Zeit war die Front der nationalen Selbstverteidigung in Kyjiw in sich stark zerrissen, gespalten und durch die ständigen Niederlagen fast völlig demoralisiert. Das Chrustschow’sche »Tauwetter« war schon vorbei und damit dem »Nationalismus« ein Ende gesetzt. Der Schriftsteller Iwan Dsjuba wurde 1972 für die Verfassung der revolutionären Arbeit »Internationalismus oder Russifizierung?« aus dem Schriftstellerverband der Ukraine ausgeschlossen. In demselben Jahr wurde zudem Sinowija Franko verhaftet und gezwungen, einen reuevollen Artikel für die »Literarische Ukraine« zu schreiben. Die harte Hand des neuen Parteiführers der Ukraine, Wolodymyr Schtscherbyzky, war überall zu spüren. Er hatte es sich zum Ziel gesetzt, die »Ordnung wiederherzustellen«. In diesem schwarzen Jahr erfolgte dann auch die Massenverhaftung der ukrainischen Intelligenz, was zu großer Ratlosigkeit und Hoffnungslosigkeit führte, da eine neue Phase der Russifizierung begonnen hatte. Die Ukrainophoben rieben sich die Hände. Der Untersuchungsführer sagte einmal dem verhafteten Sinowij Antonjuk: »Jetzt haben wir zehn Jahre Ruhe!«13 Dann kam die Nachricht, dass Iwan Dsjuba öffentlich Buße tat und aus der Haft entlassen wurde. Ich erinnere mich, wie Mykola Matusewytsch und ich über das Ereignis sprachen. Wir hatten den Eindruck, dass unser Banner gefallen war. Wir beide, die noch sehr jung waren, bemühten uns nicht besonders, die genauen Umstände zu erfahren, die Iwan Dsjuba dazu bewegt hatten, seinen mutigen Schritt zu tun. Unsere Missbilligung war eindeutig und wir verstanden: Wenn die Truppenfahne fällt, geht auch ihr Geist unter. Später sagte Switlana Kyrytschenko: »Du, mein lieber Iwan, du hast damit nicht nur auf dich allein gezielt …«14 Die Folgen bekam ich bereits im Jahr 1975 am eigenen Leib zu spüren. Meine ukrainische Sprache verursachte in jeder 13 14

Zitiert nach: Mykola Horbal. Präsentation des Lebens, S.208. Switlana Kyrytschenko. Menschen nicht vor Angst, S.100.

102 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Personalabteilung, zu der ich mich auf der Suche nach Arbeit machte, einen Schock und allerlei Grobheiten in den unterschiedlichen staatlichen Stellen: eine Übermacht der Informanten, die Einschüchterung meiner Freunde durch das KGB und absurde Beschuldigungen. So beschuldigte der Partorg die Choristinnen des auseinandergejagten Chors »Homin« und meine gute Freundin Alla Kowal der »Ausführung antisowjetischer Tänze« (gemeint war der huzulische Arkan). Über all das könnte man weinen, oder einfach nur lachen. Mykola und ich wählten das Zweite, oder genauer: Er war es, der uns begeisterte und die erste Geige spielte. Ohne ihn wäre ich sicher wieder in meine begrenzte Welt der galizischen Provinz zurückgekehrt. Das Chrustschow’sche »Tauwetter« wurde zwar von unserem Gelächter nicht kleiner oder leichter, aber die Ironie und der Spaß half uns jungen Menschen zu überleben. Meine Erzählung über den fröhlichen Flitter, der uns das Leben erträglicher machte, barg aber die Gefahr in sich, der ich nach meiner Entlassung während einer Gastfreundschaft begegnete, ohne es zu erwarten. Ich wurde gebeten, etwas über meine Dissidenten- und Lagerjahre zu erzählen. Da die Atmosphäre bei Tisch allzu tragische Berichte nicht förderte, begann ich mich an etwas zu erinnern, das speziell und auch lustig war. Plötzlich sagte einer meiner Zuhörer aber sehr ernst: »Nun verstehe ich, es war möglich, eingesperrt im Lager zu sitzen und das war eigentlich gar nicht so schlimm«. Mir blieb nur übrig, leicht ironisch zu bemerken: »Ja, man konnte eingesperrt sitzen. Doch warum sind Wasyl Stus, Walerij Martschenko oder Oleksa Tychy denn damals gestorben?« Für mich begann dann eine neue Lebensphase und ich musste mir mein Leben an einem neuen Ort einrichten. In rein praktischer Hinsicht begab ich mich zur Familie Matusewytsch als ihr »Pflegekind«. Es ist schwierig, aufzuzählen, was die Mitglieder dieser Familie mir alles Gutes taten, und das waren außer Mykola vor allem Nastja Fedoriwna, seine Mutter, Biologielehrerin in der Wasylkiwer Mittelschule, und Tamila, seine Schwester, damals Ingenieurin im Werk für elektronische Rechentechnik (VUM). Ihre Wohnungen in Wasylkiw und Kyjiw wurden zu meiner Heimat. Ihre Festtage

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 103 und ihr Alltag waren auch meine. Und ihre Kühlschränke, nebenbei gesagt, ebenso. Beide Frauen, Nastja Fedoriwna und Tamila, waren völlig furchtlos, wenn es um den KGB ging. Im Fall von Nastja Fedoriwna erklärt es sich vielleicht durch ihre (ererbte) aristokratische Erscheinung und durch den Umstand, dass zwischen ihrem Sohn Mykola und ihr eine besondere geistige Beziehung bestand. Beide waren ein »System der Stütze« zueinander. So wollte auch Mykola mutig sein, damit seine Mutter stolz auf ihn sein konnte – und seine Mutter war mutig, um in den Augen ihres Sohnes nicht im Ansehen zu sinken. Von Tamilas Furchtlosigkeit zeugt sehr eindrücklich eine wichtige Sache. Am 4. März 1977 gab es besonders in Kyjiw ein kleines Erdbeben (das Epizentrum lag in Bukarest). Mykola und ich waren damals schon Mitglieder der Ukrainischen Helsinki-Gruppe und rechneten mit der Verhaftung. Wir wussten nur noch nicht, wann sie erfolgt. Wir hatten bereits einige Observationen, Durchsuchungen und offizielle Verwarnungen hinter uns. Die ständige Aufmerksamkeit durch das KGB hing uns langsam zum Hals heraus. Zum Zeitpunkt des Erdbebens war ich gerade zusammen mit Mykola in Tamilas Wohnung. Wir saßen im Zimmer und waren mit etwas beschäftigt, als plötzlich das Geschirr in der Anrichte zu scheppern begann. Aus der Küche war Tamilas Stimme zu hören: »Seht, Leute! Verfluchter KGB, nun rütteln sie schon das Haus durch!« Nachdem ich in die Oblast Kyjiw umgezogen war, übernachtete ich meistens in der Wohnung von Nastja Fedoriwna in Wasylkyw an der Gagarin-Straße 14, Whg. 16 oder in Kyjiw, in der Wohnung von Tamila an der Lepse-Straße 3, Whg. 60. Heute noch staune ich, wie die beiden Leute den obdachlosen Vagabunden aushielten, der kein Geld zum Leben hatte. Ich muss offen gestehen, ich hatte nur ab und zu einen Lohn, was im weiteren Verlauf auch verständlich wird. Die Möglichkeit von Nadijka und meiner Mutter, mir finanziell zu helfen, war damals begrenzt. Als es später völlig unangenehm wurde, ihnen im Weg zu stehen, begannen Mykola und ich in Kyjiw eine Privatwohnung zu mieten – zuerst in einem kleinen Haus auf der Tatarka und dann in

104 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT einem ähnlichen Haus gegenüber dem Haus der Autoren an der Chmelnyzky-Straße (der damaligen Lenin-Straße), wo Borys Antonenko-Dawydowytsch wohnte. Nahe zu uns war zudem die Wohnung von Mychajlyna Kozjubynska. Heute können dankbare Nachfahren übrigens an den von uns gemieteten Wohnungen keine Gedenktafel anbringen: Die beiden Häuser wurden schon längst abgerissen … Nastja Fedoriwna suchte für mich nach aller erdenklichen Arbeit und machte mich mit Leuten bekannt, die mir irgendwie nützlich sein konnten. Dafür sind Mykola und ich ihr sehr dankbar – und ebenso meine Mutter und Nadijka, was mich betrifft. Unsere Familien lernten einander auch kennen. In unseren Alben blieb auch ein wunderbares Foto unserer beiden Mütter erhalten. Ich vermute, es wurde in Schewtschenkiw auf der Familiendatscha aufgenommen, da beide Mütter Harke und Forke in den Händen halten. Auf dem Foto sind sie alle noch jung, lächeln und sind glücklich. Am Beispiel der Familie Matusewytsch kommt ein Schicksal zum Ausdruck, das mich das ganze Leben verfolgt: Ich kann denen, für deren Hilfe ich am meisten dankbar bin, nicht nur gleichwertig meine Achtung erweisen. Ich schaffe ihnen auch immer wieder irgendwelche Unannehmlichkeiten. Es ist sinnlos, dagegen anzukämpfen, da es unvermeidlich ist und ich es ja nicht wollte. So etwa im Fall eines Mannes, der unsere Tamila umwarb. Mykola und ich bedauerten sehr, dass Tamila, eine echte Schönheit und ein Vorbild als ukrainische Frau, länger geschieden blieb. Als wir einmal zu einem festlichen Essen mit einem wahrscheinlichen Anwärter, der um ihre Hand anhielt, eingeladen waren, freuten wir uns sehr und ich wollte irgendwie nachhelfen. Als das Gespräch während des Mittagessens für einen Moment ohne Grund verstummte, wollte ich die Situation mit einem Lied retten. Ohne lange zu überlegen, stimmte ich das erstbeste Lied an, das mir einfiel. Es war das Lied »Am Fluss ich Wäsche wusch« aus Transkarpatien. Als ich dann an die Textstelle kam: »Ich wünschte mir einen jungen Burschen, es wurde mir aber ein alter Knabe zur Frau gegeben«, wurde es mir glühend heiß, denn der Anwärter war wirklich nicht mehr jung. So wirkte das Lied als Affront der Freunde der Auserwählten. Natürlich verstärkte sich die Spannung

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 105 am Tisch noch mehr. Ich errötete wie eine rote Beete und sang das Lied mit ganzer Kraft bis zum Ende; und das ganz allein … Bald danach trennten sich die potenziell Auserwählten. Für mich wurde der Fall zu einem traurigen Symbol dessen, wie ungeschickt ich damals Tamila »dankte«. In dasselbe Unheil geriet ich auch einmal mit Nataljas Mann, Wasyl Jakowenko. Natalja (damals noch Faustowa) hatte ich, so glaube ich, im April 1973 in den Karpaten kennengelernt. Damals arbeitete sie gemeinsam mit Mykola Matusewytsch im Zentralen Staatlichen Historischen Archiv der USSR in Kyjiw. Sie schloss sich bald auch der Schar der Kyjiwer an, mit der ich mich kurz zuvor bekannt gemacht hatte. Mit ihrem Geist der Karpaten und unserer Jugendlichkeit sorgten wir für eine wunderbare Atmosphäre. Wie immer stand Mykola im Zentrum – mit seinem aufgestellten Wesen und seiner inspirierenden und präzisen Ausdrucksweise. Wenn er unter uns war, waren unsere Gespräche nicht einfach Gespräche, sie waren geradezu ein »intellektuelles Fegefeuer«, eine Kaskade glänzend-polemischer Einfälle. So passte Natalja mit ihrer ausgefeilten ironischen Sprache sehr gut zu ihm. Ich konnte mich damit niemals messen. Und ich meine, sie erwarteten es auch nicht. Schließlich möchte ein Meister des Wortes nicht nur würdige Rivalen, sondern auch dankbare Verehrer haben. Die Wohnung von Natalja in der Bratyslawska-Straße in Kyjiw stand mir immer offen und war geprägt durch ihre liebenswürdige und gastfreundliche Atmosphäre. In der kleinen und engen Küche wurde viel Kaffee getrunken und oft gelacht. Ein ganzer »Klub von Kaffeetrinkern« fand dort seine Heimat. Für Natalja war es immer ein Fest, wenn wir beide, Mykola und ich, uns gemeinsam mit weiteren Freunden bei ihr trafen. Gleichzeitig war ich einfach stolz, dass sie mich als ihren Freund akzeptierte. Ich hatte Respekt vor ihr und akzeptierte den offensichtlichen Unterschied in der Schärfe unseres Intellektes. Interessant war die Reaktion eines jungen Studenten der Psychologie, der einmal in Nataljas Wohnung zu Gast war. Er hörte zunächst unseren Gesprächen nur zu und sprach dann sein professionelles Urteil: »Ich weiß nicht, wer ihr eigentlich seid. Ich vermute

106 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT aber, dass ihr bestimmt Probleme mit eurer gesellschaftlichen Umgebung bekommt. Und wenn ihr nicht ganz vorsichtig seid, bekommt ihr auch Probleme mit der Macht.« Diese kleine Episode blieb mir sehr im Gedächtnis. Es war schon beeindruckend, wie leicht unser oppositionelles Verhalten schon in nur völlig belanglosen Gesprächen zu erkennen war. Ungefähr zur gleichen Zeit heiratete Natalja Wasyl Jakowenko. Wir alle waren natürlich zur Hochzeit bei ihnen im Dorf Selyschtsche eingeladen, aus dem Wasyl stammte. Wasyl begriff wohl erst dann, so meine ich, als er heiratete, dass er nicht nur Natalja heiratete, sondern auch die ganze Schar ihrer Freunde, die nicht die Absicht hatten, sich von Natalja zu trennen. Nach ihrer Eheschließung zog er zu Natalja und bot mir kurz danach an (nachdem er offensichtlich auch seine Frau dazu überredet hatte), mit ihm in seiner »Junggesellen-Einzimmer-Behausung« in Woskresenzo zu wohnen. Dieses Angebot war für mich einfach nur wunderbar und mein Herz erfüllte sich mit einer Dankbarkeit, für die sich keine Worte finden lassen. Das rote Warnsignal, das ich damit einmal mehr etwas angestellt hatte, was unangebracht war, schaltete sich damals bei mir aber noch nicht ein … Es vergingen ungefähr zwei Monate, bis ich einmal bei Natalja in der Wohnung vorbeischauen wollte, bevor ich zur Arbeit ging. Ich wollte ihr einen »Scherz« hinterlassen. Von der Idee völlig hingerissen, zeichnete ich symbolische Spuren auf den Fußboden, die auf den Diwan hin ausgerichtet waren. Darauf legte ich einen Zettel: »Spuren hin zu unserem Glück«. Den ganzen Tag erwartete ich vergebens einen fröhlichen Anruf von Natalja. Als ich abends wieder zu Hause war, fand ich den Zettel und darauf einen zurückhaltend-ironischen Kommentar von Wasyl. Es war wieder einmal typisch für mich. Ich rief sofort Natalja an und entschuldigte mich. Die beiden brauchten lange, um sich zu beruhigen. Was Wasyl betraf, war er der Situation gewachsen. Er verstand, dass es einen gewissen Unterschied zwischen Fehlverhalten und Verrat gibt. Ich zog dann aber trotzdem aus Wasyls Wohnung aus, auch deshalb, weil die jungen Eheleute ihre beiden Wohnungen in eine größere auf der Showkowytschna-Straße tauschten.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 107 Mykola Matusewytsch und ich beschlossen auch einmal zusammen mit Wasyl Schkljar, damals ein junger Schriftsteller, der mit Mykola befreundet war, etwas über unser Junggesellenschicksal in Erfahrung zu bringen. Überall in Kyjiw war vom Ruhm einer polessianischen Wahrsagerin die Rede. Die drei Kyjiwer Junggesellen kamen also zu dem Schluss, dass sie entschieden zu wenig über ihr Schicksal wussten, wenn sie Blütenblätter einer Kamille nach dem Prinzip »Sie liebt mich, sie liebt mich nicht!« ausreißen. Da Entscheidungen in unserem Alter blitzartig getroffen werden, saßen wir schon bald im Autobus und fuhren in ein einsames Dorf in der Polessia. Das Groteske der Situation zeigte sich schon im Augenblick, als wir uns dem Haus der Wahrsagerin näherten. Auf dem Hof waren viele Frauen und Mädchen, die ruhig in der Schlange standen. Wie auf diesem Hintergrund die drei jungen Männer aussahen, kann man sich gut vorstellen. Die Anwesenden nahmen die ganze Prozedur ungewöhnlich ernst. Wir aber unterdrückten krampfhaft unser Lachen und wagten es nicht, den feierlichen Moment zu stören. Diese Freiheit nahmen wir uns erst später. Was die Alte uns Jungs dann alles wahrsagte, erinnere ich mich nicht mehr. Mir jedenfalls sagte sie: »Du wirst dreimal verheiratet sein und erst das dritte Mal glücklich und für immer.« Wenn ich formal urteile, geschah es auch. Erheblich mehr Einwände hatte ich gegenüber einer anderen Prophezeiung dieser Großmutter und Wahrsagerin: »Um dich herum dreht sich ein Staatsgebäude. Es dreht sich und dreht sich, doch du kommst nicht hinein.« Daran erinnerte ich mich später im Untersuchungsgefängnis des KGB. Es sollte eigentlich jemand eine Klage gegen diese Lügnerin einreichen! Die Frau ließ den jungen Aufrührer im Stich! Das Leben in Kyjiw brachte aber nicht nur komische Geschichten, was ich später illustriere. Die Fähigkeit, das Komische im Tragischen zu sehen, war bei Mykola und mir fast unbegrenzt. Als Beispiel nehme man nur die Art meiner Arbeitsbeschaffung. Mein erster Arbeitsplatz in Kyjiw war die Stelle eines technischen Redakteurs der Zeitschrift »Grundschule«, als die zuständige Mitarbeiterin gerade in ihrem Schwangerschaftsurlaub war. Hanna Iwaniwna Suschan, die Mutter unserer neuen Freundin Olga

108 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Heijko, arrangierte es aufgrund ihrer Beziehungen. Für sie war Wolodymyr Semytschasny, der richtige Mann im Kyjiwer Führungskreis, ein guter Bekannter. Ihre Empfehlung genügte ihm völlig. Für uns war sie einfach eine liebe und gastfreundliche Frau, die an außergewöhnlichen Jungs wie uns interessiert war, die angefangen hatten, öfters in ihre Wohnung in der Tumanjak-Straße 8, Whg. 101 zu kommen, und sie zögerte nicht, ihnen zu helfen. Man muss sich den Schock von Alla Maksymiwna Lukjanez, der Chefredakteurin der Zeitschrift, vorstellen, als sie vom KGB erfuhr, wen sie eingestellt hatte. Im großen Ganzen war diese Frau durchaus sympathisch und überhaupt nicht boshaft, doch ihr Sicherheitskonzept basierte auf einer völligen Loyalität zur Macht. Als der Illustrator dann einmal für die Titelseite der Zeitschrift ein Bild vorschlug, auf dem die blauen und gelben Farben überwogen (eine blühende Wiese vor dem Hintergrund eines blauen Himmels), gab es in der Redaktion einen handfesten Skandal. Mykola und ich waren noch zu jung, um dem damaligen typischen Eifer mit Verständnis zu begegnen. So überredete mich Mykola einmal, über Nacht ein Päckchen mit einem Wecker an seinem Arbeitsplatz liegenzulassen, der dann laut rasselte. Ich weiß nicht, ob der Unfug den erwarteten Effekt brachte, aber bald danach rief die Redakteurin ihre ehemalige Mitarbeiterin aus dem Mutterschaftsurlaub zurück, obwohl sie sich von der Geburt noch nicht erholt hatte! Die gesamte Redaktion verstand das aber alles gut. Beim Abschiedsimbiss entschuldigte sich die vorzeitig zurückgerufene Mitarbeiterin bei mir, als sie begriff, auf welche Weise sie benutzt worden war. Sie sagte mir, dass sie eigentlich nur für einige Tage zur Arbeit kommen sollte, bis der Bescheid über meine Entlassung angekommen wäre. Zur Erinnerung an diese Zeit ist in meinem Hausarchiv ein Exemplar der Zeitschrift »Grundschule« (Nr. 5, 1976) aufbewahrt, wo im Impressum der Eintrag zu finden ist: »Technischer Redakteur, M. F. Marynowytsch«. Trotz meiner Kritik an dem damaligen Verhalten von Alla Maksymiwna erinnere ich mich dennoch mit einem guten Gefühl an die Arbeit in der Redaktion.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 109 Es lohnt sich auch von einem Moment zu erzählen, als ich unsicher wurde. Hanna Iwaniwna Suschan wollte mich zunächst in der Redaktion der Ukrainischen Sowjet-Enzyklopädie unterbringen. Als ich zum Gespräch ging, war ich mir bewusst, dass es damals wohl fast die renommierteste Redaktion in Kyjiw war. Es war sehr schwierig, dort eine Chance zu erhalten. So schlich sich in meinen Kopf der listige Gedanke ein: »Wenn sie dich anstellen, gehe ich dieses Jahr am 22. Mai wahrscheinlich nicht zum Schewtschenko-Denkmal.« Das war also dieser berühmte Augenblick! Für mich völlig überraschend war das Fischlein faktisch schon bereit, den Köder zu schlucken. Zu seinem Glück schenkte ich aber dem Versuch, den Fisch zu fangen, keine Beachtung und zog nicht an der Angel. (Oder, wie Lina Kostenko es sagte: »Als Likeria das Glück der Unsterblichkeit einholte, merkte sie es gar nicht.«) Wie viele solcher Gedanken lauern doch im Leben auf uns, durch die für uns der Weg in eine völlig andere Richtung gehen kann, wenn wir die Aufmerksamkeit verlieren! Zum Glück fühlten sich meine Bevollmächtigten damals so stark, dass sie psychische Feinheiten nicht interessierten. Es kam jedenfalls nicht zur Arbeit an der Ukrainischen Sowjet-Enzyklopädie. Meine zweite Arbeitsstelle nach der Anstellung bei der Zeitschrift »Grundschule« war die Arbeit als Freiwilliger bei der »Gesellschaft der Liebhaber des Buches in der USSR«, die damals in einem renommierten Gebäude (dem Deutschen Konsulat vor dem Krieg) auf der Straße Jaroslawiw-Wal 3 untergebracht war. Bereits am ersten Arbeitstag lud mich dann ein junger Partog dieser Einrichtung ein, mit ihm zu Mittag zu essen, wo er mich vertraulich fragte: »Bist du noch nicht Mitglied der Partei? Das kann doch nicht sein! Du musst aber schleunigst eintreten. Dann bist du Kommunist. Und dann kommt eine Wohnung, sie kommt einfach. Alles kommt, verstehst du mich? Alles kommt.« Einige Tage später vermied er mir in die Augen zu sehen, als er erfuhr, wem gegenüber er sich so unüberlegt anvertraut hatte! Ich kündigte nach mehreren Monaten selbst bei dieser Arbeitsstelle. Es war einfach nur traurig, sich mit einer von niemand benötigten Aufgabe länger zu beschäftigen. Die Organisation war

110 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT offensichtlich nur dazu da, dem bekannten Schriftsteller Wadym Sobko einen Zufluchtsort zu ermöglichen. Zum dritten Arbeitsplatz fand ich, als ich meine Seele zu verbergen begann. Vorher hatte ich vergeblich nach einer Arbeit in Kyjiw gesucht. Mit meiner ukrainischen Sprache erschreckte ich alle, die die Anzeigen machten, dass sie einen Mitarbeiter suchten. Mit sichtlicher Angst in den Augen wurde mir dann jeweils mitgeteilt, der erforderliche Mitarbeiter wäre bereits gefunden worden. Beim Verlag »Technika« beschloss ich dann, als ich nach Arbeit fragte, eine List anzuwenden und sprach in der Kaderabteilung auf Russisch. Sofort bekam ich die Stelle eines technischen Redakteurs. Ich wartete aber die drei Tage ab, die gesetzlich vorgesehen waren, bevor der Bescheid über die Arbeitsaufnahme rechtswirksam wurde. Erst danach begann ich, mit allen auf Ukrainisch zu verkehren. Die Erschütterung meiner Vorgesetzten kann man sich gar nicht vorstellen. Ich arbeitete gerne dort und die Beziehungen zu den Kollegen waren wirklich sehr gut. Ich ging auch zusätzlicher und unbeliebter Arbeit nicht aus dem Weg und war so bald einer von ihnen. Ich ahnte aber, dass es nicht lange dauern würde. Ende 1976, als ich bereits Mitglied der Ukrainischen Helsinki-Gruppe war, rief mich der Verlagsdirektor zu sich und schlug mir vor, einen Antrag auf Versetzung in eine im Rang höhere und besser bezahlte Arbeit als literarischer Redakteur zu stellen. Ich musste aber gleichzeitig den Antrag auf Entlassung von der bisherigen Stelle als technischer Redakteur schreiben. Ich blickte den Direktor aufmerksam und mit einem Lächeln an und gab ihm zu verstehen, dass ich den Trick durchschaue. Ohne ein Wort zu sagen, schrieb ich dann die beiden Anträge. Ich war mir bewusst, viele andere Dissidenten hätten in einer ähnlichen Situation bis zum Letzten gekämpft, was aber nicht meiner Natur entspricht. Ich bevorzuge es, einen Menschen Auge in Auge seinem Gewissen zu überlassen und es war mir auch klar, dass wohl kaum ein Wunder geschieht. Der Direktor erfüllte schließlich auch das, was von ihm erwartet wurde. Nach den Weihnachtsfeiertagen teilte er mir in meinem Arbeitszimmer mit, die Umstände hätten sich verändert. Der Verlag müsse die Stelle des

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 111 literarischen Redakteurs kürzen, für die ich angestellt worden war. Den Antrag auf Kündigung nahm er jedoch an. Er verbarg dabei seinen Blick vor mir, denn er wusste ganz genau, was er tat. Er verhielt sich aber so verlegen, dass ich ihn mit meinem Lächeln beruhigen musste, da ich von Anfang an verstanden hatte, worum es ging und deshalb nicht verwundert war. Der Schlussstrich wurde etwa einen Monat später gezogen. Die Arbeitskollegen teilten mir mit, auf Anweisung des Direktors wäre eine Prämie für meine gewissenhafte Arbeit bereitgestellt worden. Alle begriffen, was geschehen war, und waren psychologisch völlig auf meiner Seite. Über meine letzte Arbeitsstelle in der Zeit vor der Verhaftung erzähle ich später noch, um den chronologischen Ablauf nicht zu stören. Persönlichkeiten »meines« Kyjiws Unser damaliges Leben in Kyjiw war sehr spannend. Ich sage »unser«, da Mykola und ich seit meinem Umzug nach Kyjiw unzertrennlich waren. Die Leute verwechselten manchmal sogar unsere Namen. Sie hatten auch allen Grund, den bekannten Ausspruch Majakowskis mit etwas anderen Worten auszudrücken: »Wir sagen ›Mykola‹ und meinen ‚›Myroslaw‹ – und umgekehrt gilt es ebenso.« Wenn wir jemandem unser Leben hätten beschreiben sollen, hätten wir ihm gesagt: Wir unterstützen die verfolgten Patrioten und die Familien der Inhaftierten, nehmen am ukrainischen Leben in Kyjiw teil oder initiieren Anlässe. Sonst führen wir ein ganz normales, jung-fröhliches Leben. Diese drei Aufgaben hätten sich jedoch kaum voneinander trennen lassen. Im Blick auf unseren damaligen Lebensabschnitt schrieb Wira Lisowa über uns: Nach dem Abtransport der verurteilten politischen Häftlinge in die Lager (1972–1974) formierte sich ein Kreis von Verwandten und Freunden, die in der Freiheit blieben. Wir begannen nun, aktiver miteinander zu kommunizieren, entgegen aller Behinderung durch das KGB. Wir stellten die Verbindungen zu den Familien der Inhaftierten aus anderen Städten und Dörfern der Ukraine her und pflegten unter uns gewisse Bräuche: Glückwünsche zum Geburtstag, gemeinsames Feiern von Neujahr und anderen Festtagen, Schewtschenko-Festlichkeiten und Feiern zur Einschulung. Besonders schön machten das Halyna Didkiwska und ihre Mutter Hanna Polikarpiwna

112 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT sowie Switlana Kyrytschenko und Tamila Matusewytsch und weitere Leute. Walentyna Berdnyk organisierte Schneiderkurse, die sie in der Wohnung von Wira Lisowa anbot. Unsere Isolierung in einer Gesellschaft, in der Verwirrung, Schweigen und Angst herrschten, brachte uns einfach zusammen. Dies gab uns die Möglichkeit, Neuigkeiten aus den Lagern und über die Familien der Inhaftierten auszutauschen.15

Bei gewissen Lesern taucht wohl die Frage auf: »Gut, doch wo blieb denn eure antisowjetische Tätigkeit, wegen der euch die Arbeitsstelle gekündigt, ihr zum KGB geschickt und euch ›Rowdytum‹ angehängt wurde?« Es war für uns nie einfach, jemandem zu erklären, was es denn alles war. Es ging um das öffentliche Bekenntnis zu unserer ukrainischen Identität; um die demonstrative Solidarität mit den Gefangenen und um die Weigerung, sich von denen loszusagen, die »unter der Fuchtel des KGBs stehen«; um die Pflege nationaler und religiöser Traditionen; um die Weigerung, sich nicht der Furcht zu beugen, die unser sozialer »Reif« war und unser »Fass« zusammenhielt; und um Aussagen wie die von Lesja: »Unter Tränen lache ich und singe inmitten des Unheils auch noch Lieder.« Unsere »Hauptschuld« bestand eigentlich nur darin, dass wir ein ganz normales ukrainisches Leben führen wollten, womit sich das System herausgefordert sah und wir es verdienten, bestraft zu werden. In dieser Phase des ukrainischen Dissidententums war Borys Dmytrowytsch Antonenko-Dawydowytsch die Hauptsäule, ein ukrainischer Schriftsteller und Zeitzeuge der fast gesamten Geschichte der Ukraine unter der Sowjetmacht. Ich traf ihn nur selten, da keiner sich oft auf eine Pilgerreise aufmachte. Bei ihm hatte ich schon von der ersten Minute dieses Gefühl eines Pilgers zu seinem Herrn. An den ersten Abend kann ich mich aber nicht mehr erinnern. Für mich war es wie die Wasserflut nach einem kräftigen Regenguss, die aber nicht wirklich tief in den durch die lange

15

Wira Lisowa. Siebzigerinnen // Zona (Ausg. der Gesamtukrainischen Gesellschaft der politischen Häftlinge und Repressierten), Nr.12, 1997, S.3–12. Viel später, am 7. Februar 2008, wurde der Beitrag unter dem Titel »Die Frauen in der Widerstandsbewegung der siebziger Jahre« im Internet veröffentlicht: https://ar chive.khpg.org/index.php?id=1202337115.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 113 Trockenheit aufgeplatzten Erdboden eindringt. Unser Gespräch wurde von Mykola Matusewytsch und den beiden Frauen beherrscht, entweder Atena Paschko oder Mychajlyna Kozjubynska, und es war nicht viel anders bei meinen weiteren Besuchen. Borys Dmytrowytsch fand jeweils durch sein natürliches Verhalten sofort die Aufmerksamkeit und behielt sie. Er verlor nie den Gesprächsfaden – auch dann nicht, wenn er manchmal in seinen Gedanken abschweifte. Was er uns sagte, war einfach nur aufrichtig und wahr. Das KGB versuchte aber immer wieder vergeblich, aus Borys Dmytrowytsch einen »Seelenfänger« in der nicht-evangelischen Bedeutung des Wortes zu machen. Borys Dmytrowytsch beeindruckte mich vor allem durch seine ritterliche Gestalt und seine Rüstigkeit, die er sich bis ins höchste Alter erhalten konnte, und durch seine Galanterie gegenüber den Frauen und sein ewig jugendliches Aussehen. Niemand konnte sich seiner Begeisterung für die Helden der ukrainischen Thermopylen entziehen – für all diese, die an der ungleichen Schlacht bei Kruty beteiligt waren – diesen jungen »Rittern des Absurden«, von denen damals ganz Kyjiw in der Nähe von Askold Abschied genommen hatte. Nicht einmal ein kleines Zeichen blieb vom Grab dieser jungen Leute zurück, deshalb streuten Mykola Matusewytsch und ich unsere Blumen halt nur auf den Rasen … Borys Dmytrowytsch war für viele der geistige Vater. Er musste eine wirklich besondere innere Kraft besitzen, um im ganzen sowjetischen gesellschaftspolitischen Durcheinander und den endlosen Verfolgungen klar und hell strahlen zu können und anderen, ungeachtet der entwürdigenden Absurdität seines Rittertums, auch noch Licht zu schenken, deshalb wurde er auch für meine zukünftige Ehefrau Ljuba und mich zum geistigen Vater. Ihm und Mychajlyna Kozjubynska und einigen weiteren Leute mit einer an Güte reichen Seele stand es denn auch zu, den Lebensweg von Borys Dmytrowytsch zu erhellen, der voller Leid war. Ich erinnere mich nicht mehr, wie kränklich er damals schon war. Ich sehe ihn immer noch als unermüdlichen Erzähler in seinem Sessel und mit dem Hündchen »Palma« auf seinen Knien vor mir, oder militärisch-stramm, wenn wir Weihnachtssänger ihm auf seinen Wunsch hin – sein geliebtes »Ewiger Revolutionär« als

114 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT »Koljadnyki« – sangen, denn der »weihnachtliche Umzug mit Gesang und Gratulation zu den Festtagen« (»Koljaduwannja«) freute ihn immer sehr. Er verhielt sich immer äußerst bescheiden, wenn ihm Ehre erwiesen wurde. Zugleich diente er für viele als »Steckdose«, an die sich all diejenigen, die ihre Energie verloren hatten, anschließen konnten. Genauso bescheiden empfing uns Weihnachtssänger auch Wira Awhustiwna Hmyria, die Witwe des berühmten ukrainischen Opernsängers Borys Romanowytsch. Sie lud uns immer wieder begeistert ein und empfand offensichtlich eine Seelenverwandtschaft mit uns. Sie litt immer noch sehr am Verlust ihres Mannes und spielte deshalb Aufnahmen seiner Stimme liebevoll vor, zeigte uns seine Sachen und freute sich über jede Gelegenheit, sie nochmals zu berühren. Mir bleibt auch die wunderschöne Bluse von Hrymia mit den Plattstickereien von Kornblumen in besonderer Erinnerung. Aus den Erzählungen ihrer Freunde erfuhr ich später, wie einfühlsam Wira Awhustiwna auf die Nachricht der Verhaftung von Mykola und mir reagiert hatte. Ich werde nie vergessen, wie sie nach unserem Ergehen fragte. Wir mussten uns nie über unsere Position in politischen Fragen einig werden und waren uns, in der heutigen Computersprache ausgedrückt, einfach »default-mäßig« vollkommen einig. In der damaligen Lenin-Straße wohnte neben Borys Dmytrowytsch auch Mychajlyna Kozjubynska. Es lässt sich sicher gut vorstellen, wie aufgeregt ich war, als ich sie zum ersten Mal besuchte. Ihr Name war die Zierde und der Stolz der Bewegung der Sechziger und legitimierte in den Augen des Volkes das Dissidententum. Eine Bewegung, der sich Persönlichkeiten wie die Nichte von Mychajlo Kozjubynsky anschlossen, musste moralisch und national berechtigt sein. Damit konnte sie wenigstens etwas das Trauma ihrer ukrainischen Gesinnung kompensieren, das sie durch die bolschewistische Begeisterung ihres Sohnes erlitt, des Schriftstellers Jurij. Sie vertraute ihrem Freundeskreis alles an, was ihr wichtig war, sodass sie sich ihres berühmten Familiennamens würdig erwies. Auch uns vertraute sie völlig und war überzeugt, dass wir nie über ihren Namen lästern würden.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 115 Für den 25/26-jährigen Junggesellen war auch die Freundschaft mit Mychajlyna Chomiwna eine große Ehre; ihren Humor und ihr Lachen werde ich nie vergessen, und ebenso, wie sie sich an einem Scherz ergötzen konnte. Ich erinnere mich gut, dass ich von ihr einen Brief erhielt, als ich bereits meine Frist im Lager Nr. 36 in der Ortschaft Kutschyno (Oblast Perm) angetreten hatte, mit der humorvollen Beschreibung, wie sich Kyjiw gerade auf die Feierlichkeiten seines 1500-jährigen Bestehens vorbereitete. Sie schrieb voller Ironie: »Kyjiw wusch den Hals für das große Dekolleté.« Was sie alles erleiden musste, machte sie immer wieder sehr traurig. Als sie an ihrem Geburtstag aus ganzem Herzen das Lemkenlied »Kirchhöfe« sang, tat sie dies voller Schmerz, da sie an Mykola Horbal denken musste, den Autoren des Liedes, der damals bereit ein politischer Häftling war. Wenn ich mich an sie erinnere, hilft mir die Beschreibung von Switlana Kyrytschenko mehr als meine eigene Erinnerung: Mychajlynas Geburtstag. Auf dem Tisch liegen die Glückwünsche von Iwan Switlytschny und im Brieftext finden sich auch die Noten des Liedes und oben die Bezeichnung ›Kirchhöfe‹. Mychajlyna setzt sich dann an ihr altes Fortepiano und legt den Brief auf das Notenpult. Die Melodie ergießt sich sehnsüchtig und es lässt sich gut heraushören, wie die Noten den Schmerz und Zorn und die Schwermut verstärken, wie der Schrei im Blick auf die leere Wiege, die im Wind hin- und herschaukelt … Dann wird es so still, als ob der Schnee den ganz verwaisten Kirchhof bedecken würde. An diesem Tag sind am Tisch alle, die ihr nahestehen, versammelt, und die vielen Gesichter lassen erahnen, was in ihnen gerade vor sich geht. Dann erheben wir uns und bilden einen Kreis um sie, tief bewegt und schweigend.

Ich bin Mychajlyna Chomiwna ewig dankbar, dass sie uns als ihren Freunden (und später auch in ihren Werken), die häusliche und familiäre Welt des ukrainischen Schriftstellertums offenbarte. Ich muss offen gestehen, dass ich damals wie ein Papagei das höhnisch-traditionelle Lied »Traktor auf dem Feld dyr-dyr-dyr – wir sind für Myr, wir sind für Myr« (»Myr« = Frieden) wiederholte, mit dem die Schüler ihren Lehrer Pawlo Tytschyna an den Pfahl ihrer kindlichen Erniedrigung banden. Michajlyna eröffnete mir auch die geistige Welt des wahren Tytschyna, dieses Schriftstellers, der schon in seiner Jugendzeit glänzte, der aber noch zu schwach war,

116 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT um sich dem bolschewistischen »Tsunami« zu widersetzen, wie er es später tat. Mychajlyna blieb der Ritterlichkeit des Geistes der Sechziger treu, den sie in sich vereinte. Als immer mehr von den Sechzigern nach Sibirien (und oft in die Ewigkeit) gingen, hielt sie tapfer die Fahne der Bewegung aufrecht. Später werde ich noch erzählen, wie wichtig mir war, was sie für meine persönliche Entwicklung zum Dissidenten leistete. Das ukrainische Kyjiw der 1970er-Jahre konnte sich niemand ohne Oksana Jakiwna Meschko vorstellen. Sie war der Promoter sämtlicher irgendwie möglicher Bürgeraktionen, deren Abischt die Wiedergeburt des nationalen Bewusstseins war; all dieser Diskussionen, die uns herausforderten und der damit verbunden stürmischen Begeisterung. Oksana Meschko gehörte einer besonderen Kategorie von »Weckrufern« an, die keinen mehr ruhig schlafen ließen. Wie viele Ideen wurden durch ihr ständiges Mahnen und Drängen in den Menschen ausgelöst, wie viele Artikel oder Bücher unter ihrem Einfluss geschrieben! Alle, die ihr literarisch etwas schuldig blieben, gingen ihrer vorwurfsvollen Ironie aus dem Weg: bis ihre Werke erscheinen konnten und in die Schatzkammern der ukrainischen Kultur Einzug hielten. Solchen »Weckrufern« nahe zu sein war keine einfache Angelegenheit. Oksana Jakiwna war bereits eine Legende, als sie noch lebte. Ihre bestimmte und fast herrische Art konnte sogar eine kleine Panik auslösen in unserem noch sehr zartbesaiteten ukrainischen Kosakentum. Ihr Sohn Oles Serhijenko sagte mir einmal, sie gehöre zu den Menschen, die einen ausgeprägt starken Charakter besitzen und für ihre Mitmenschen Despoten sein können, »so eine Frau war meine Mutter«.16 Noch lange vor der berühmten Margaret Thatcher hatte Kyjiw seine eigene »eiserne Lady«, wobei diese Beschreibung viel zu blass erscheint im Vergleich zu anderen Analogien. Wie Wasyl Owsijenko sich erinnerte, nannte Jurij Lytwyn 16

Ich gebe nicht nach! Zum 100-jährigen Geburtstag von Oksana Jakiwna Meschko / Charkiwer Bürgerrechtsgruppe; zusammengestellt von W.W. Owsijenko, O.F. Serhijenko; künstlerischer Gestalter B.Je.Sacharow. Charkiw: Folio, 2005, S.68 (im Weiteren: Ich gebe nicht nach! Zum 100-jährigen Geburtstag von Oksana Jakiwna Meschko).

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 117 Oksana Jakiwna »unsere Jeanne d’Arc«. Am besten bezeichnete er sie mit: »unsere uns alle liebende und unsterbliche Kosakenmutter«.17 Was ein Fäkalienkübel (»Parascha«) in einer Gefängniszelle bedeutete, wusste Oksana Jakiwna ebenfalls sehr gut. Sie wurde unter Berija vom »hohen« proletarischen Gericht verurteilt, »dieser uns allen gut bekannten und traurigen »Troika«, von der ein mutiger Mann einmal sagte: »Jetzt bist du noch jung und hübsch, im Lager alterst du aber mehr und mehr und erhältst einen krummen Rücken.« Diese Worte erschienen mir als der passende Refrain im Blick auf ihr gesamtes Leben. Als ich O. Meschko kennenlernte, taten die Jahre bereits das ihnen zugehörige und die früher noch schlanke Mädchengestalt war bereits etwas gekrümmt. Dasselbe wurde uns auch über Oksana Jakiwna erzählt, nachdem sie in den 1970er-Jahren ihrem Richtigen zufällig auf der Straße in Kyjiw begegnete. Sie erkannte ihn sofort, obwohl auch er gealtert war. Sie nahm zuvor eine aufrechte Haltung ein und sagte sich: »Nein: Niemals soll mich der gekrümmt sehen!« Alle sahen sehr wohl die Folgen ihres Alters, aber niemand sah ein Zeichen einer Gebrochenheit, auch nicht in den schlimmsten Zeiten der neuen Welle an Verfolgungen, die sie nach meiner Verhaftung erlebte, als sie in eine psychiatrische Klinik eingesperrt wurde. Hier ein wichtiger Hinweis von Switlana Kyrytschenko: Als Oksana Jakiwna nach ihrer Entlassung aus der Klinik für Geisteskranke vor unserer Tür stand - mit ihrem ganzen Aussehen, ihrer typischen Gangart, ihrer hohen Frisur und ihrem aufrechten Rücken, dazu noch die Spitzen ihrer Frisur bis hin auf ihren Schultern, sagte ich: ›Was ist denn im Unterschied zu dir eine legale Königin oder eine illegale Liebhaberin?‹ Sie beantwortete meinen entzückten Blick mit einem siegreichen Lächeln und leicht zugekniffenen Augen: ›Ihr dachtet wohl, dieses Weib wäre gebrochen? Ich habe starke Gene!‹18

Es war aber nicht leicht, mit Oksana Jakiwna befreundet zu sein: Kaum jemand, den ich zuvor kennenlernte, forderte uns stärker heraus. Ihre besondere Begabung zeigte sie in ihrer Art, wie sie die 17 18

Wasyl Owsijenko. Kosakenmutter (Oksana Meschko) (http://museum.khpg.o rg/1460818318). Switlana Kyrytschenko. Menschen nicht vor Angst, S.397.

118 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Menschen ermutigte, tapfer zu sein, und ihnen die Kraft gab, ihre Ängste zu besiegen. Mit ihr befreundet zu sein, konnte sogar unbequem werden. Sie geizte aber auch nicht mit Lob und konnte die Größe einer zukünftigen Frucht schon in den winzigen Körnern eines Talents erkennen und freute sich mit, wenn andere Menschen die Ehre erhielten, die ihnen zustand. Mindestens mit einem kurzen Absatz sollte auch erinnert werden, wie sich die Beziehung zu ihren ständigen unerwünschten Begleitern gestaltete, die nicht nur einmal ihre Wohnung und sie selbst durchsuchten. Die damals schon alte Frau wurde verhaftet und in die Verbannung in die Region von Chabarowsk gebracht. Einfach nur zu sagen, sie wäre völlig furchtlos und kompromisslos gewesen, hieße überhaupt nichts über sie zu sagen. Nach einem Gespräch mit Oksana Jakiwna konnte sich keiner hinter dem »Ich wusste ja nicht, was ich tat« verstecken. Sie sagte einem mitten ins Gesicht, was sie wirklich dachte, womit sie manche bis zur Weißglut brachte. Die Bevollmächtigten des KGB drehten in ihrer Anwesenheit manchmal buchstäblich durch und versuchten, sich auf jede erdenkliche Art an ihr zu rächen. Wir lernten auch den Science-Fiction-Schriftsteller Oles Berdnyk kennen, der kurz zuvor aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen worden war. Sein bisheriger Lebensweg war bereits sehr traurig, wie er es später auch selbst beschrieb: »Existenzbedingungen wie ein Bettler; fehlende Möglichkeit, gedruckt zu werden; ewige Verfolgung durch die Sicherheitsorgane; Durchsuchungen, Abhörungen, Provokationen und Ausplünderungen der literarischen Archive; die Unmöglichkeit, schöpferisch tätig zu sein …«19 Er war ein hochgewachsener und wohlgebauter Mann mit langem hellem Haar und sah mit seinem Habitus wie ein frommer Prophet aus, was er offensichtlich bewusst pflegte. Später erfuhr ich, dass er tatsächlich religiöse Offenbarungen erlebte. Die missionarische, prophetische Dimension seiner Persönlichkeit war kein Zufall und außerordentlich stark bei ihm vorhanden. Er zeigte uns seine Bilder, in denen sich seine Persönlichkeit sehr eindrücklich zeigte. Berdnyk besuchte uns auch einmal (es war wohl schon 19 Aus dem Brief an W. Schtscherbyzky vom 18.März 1977.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 119 dann, als wir bereits die Wohnung in der Lenin-Straße hatten). Wir konnten ihm ansehen, wie ihm unser damaliger spaßbetonter Stil hohl und nicht ernsthaft genug vorkam. Ein solch ehrwürdiger Mann wie er konnte nicht anders als zu reagieren, wenn er auf unserem Tisch voller Getränke und Speisen eine Flasche Wein mit der eigenhändig angefertigten Aufschrift »Tränen für Mao« entdeckte. In diesen Septembertagen war der Tod Mao Zedongs vermeldet worden. Wenn ich nur zuvor daran gedacht hätte und nicht erst danach! An meiner Bekanntschaft mit Halyna Didkiwska, der Ehefrau des verhafteten Jewhen Pronjuk, die in Kyjiw wohnte, kann ich mich leider nicht mehr erinnern. Heute würde ich wohl sagen, sie wäre ein Mensch mit einem besonders starken evangelischen Fundament gewesen. Sie musste viel Leid und viele gemeine Provokationen durch das KGB ertragen, überstand alles aber sehr standhaft und dachte keine Sekunde daran, sich von ihrem Ehemann loszusagen, damit sie endlich ihre Ruhe hatte. In einer Gesellschaft, die ihr freundlich gesinnt war, war sie immer das Epizentrum der Liebe und des Friedens. Immer noch berührt mich ihr im Kehlkopf gebildetes zentralukrainisches »a«, das ich so nicht schaffe: »Los, lasst uns a-anstimmen!« Außer ihr gehörten noch weitere Frauen und Angehörige der damaligen politischen Häftlinge zu uns. So eröffnete mir einmal Leonida (familiär: Lolja) Switlytschna die besondere Welt ihrer »Wohnung an der Umanska« (Haus 35, Whg. 20), an die sich viele Sechziger noch heute erinnern. In ihrer Wohnung war immer noch die Wärme des inhaftierten Hausherrn Iwan Switlytschny zu spüren. Lolja tat alles, um seinen Geist zu erhalten. Wie konnte es deshalb anders sein, als dass in der Wohnung immer noch seine Bücher herrschten. Der Zauber der Wohnung bestand darin, dass sich dort kein Mensch verloren fühlte und sofort die besondere Gastfreundschaft der beiden Hausherrinnen erfahren konnte. Die einfachste Bewirtung sah dann wie ein Bankett aus. Lolja hatte wie Mychajlyna einen ausgeprägten Sinn für Humor, den sie besonders in ihrem Umkreis pflegte. Mir blieb nur eine damals heute gute bekannte Anekdote im Gedächtnis, die sich im Umfeld eines der nächsten sowjetischen Jubiläen abspielte.

120 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Die Sprachrohre der Propaganda plapperten gerade überall und sehr aufdringlich, egal ob der Fernseher oder das Radio eingeschaltet wurde oder nicht. Die Anekdote endet damit, dass sich der Held, der in ungebügelten Hosen zur Arbeit erschien, mit dem später sehr bekanntem Satz rechtfertigte: »Schon allein das Bügeleisen anzuschalten macht mir Angst!« Ich höre bis heute den charakteristischen Tonfall von Loljas Stimme mit ihrem vergnüglichen und zerschmetternden Humor … Wira Lisowa, die Frau des verhafteten Philosophen Wasyl Lisowy, ergriff mich immer wieder mit ihrer würdigen Gelassenheit und ihrer aufrechten Haltung. Als Mykola und ich bereits als Mitglieder der Ukrainischen Helsinki-Gruppe in ihr Haus kamen, begegnete uns in ihrem Verhalten keine Spur von Furcht. Mehr über ihr würdiges Auftreten bei meiner Gerichtsverhandlung später. Die Frau durchstand große Qualen und ertrug sie tapfer. Später sah ich sie aber nicht mehr in den Zusammenkünften der Präsidien. Sie tat nie etwas bloß deshalb, um dafür besonders geehrt zu werden, sondern einfach, um ein reines Gewissen zu bewahren. Wie ich Walja Tschornowil kennenlernte, die Schwester von Wjatscheslaw, beschrieb ich schon. Sie führte einen ständigen und kräftezehrenden Kampf mit dem KGB um ihr Recht, unterrichten zu dürfen, und vergötterte gleichzeitig ihren berühmten Bruder. Waljas Gemüt war sehr eigensinnig, wenn sie gereizt wurde, was dem KGB bestens gelang. Walja litt sehr unter ihrem ewig chaotischen Alltag und sprach oft den Wunschtraum aus, dass es in ihrer Küche endlich warmes Wasser gäbe. Walja heiratete später Mykola Plachotnjuk, der ein Opfer der Strafpsychiatrie wurde. Ihr Leben nahm dann erneut den hohen Sinn einer Selbstaufopferung an. Bei Borys Dmytrowytsch lernte ich die Eheleute Switlana Kyrytschenko und Jurij Badsjo kennen, über den man sich zuflüsterte, er schriebe ein großes analytisches Buch (»Das Recht zu leben«). Das KGB wusste bestimmt davon, da es viele zur Hälfte bloß fantastische Geschichten rund um sein Buch gab. Dieses Werk war einmal »zufällig verschwunden«. Als Jurij es dann erneut schrieb, wurde es während einer Durchsuchung wieder beschlagnahmt und der Autor wurde verhaftet.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 121 Dieses Ehepaar erfuhr viel Leid, sodass Switlana manchmal zu schrecklichen Dingen greifen musste: Ich ging zur Apotheke, kaufte mir ein Dreiliterglas mit destilliertem Wasser und begann einen Hungerstreik. Ich verfasste den Text [eines Telegrammes]: ›Ich erkläre einen Hungerstreik aus Protest gegen die Verfolgung meines Sohnes und den moralischen Terror an seiner ganzen Familie. Switlana Kyrytschenko‹. Mit ›moralischem Terror‹ meine ich, dass Jurij alle persönlichen Wiedersehen mit seiner Familie während Dauer von drei Jahren entzogen wurde, und ich meine auch die endlosen Kündigungen bei jeder Arbeit – sogar als Postbotin und Kindermädchen, und die vielen telefonischen Erpressungsversuche.20

Beim bereits erwähnten Antonenko-Dawydowytsch lernte ich zudem seine Stieftochter Jaryna Timoschenko kennen. Sie war die Tochter von Hanna Antoniwna, der Ehegattin des Schriftstellers, den sie wie ihren eigenen Vater behandelte. Ich lernte auch Walentyna Popeljuch kennen, die Frau des inhaftierten Wasyl Stus, aber es ergab sich kein näherer Kontakt. Wenn ich es richtig verstanden habe, machten Walentyna die ständigen Verfolgungen sehr zu schaffen. Freundschaftlich geprägt war die Bekanntschaft mit Lilja (Walerija) Andrijewska, der Frau des Dichters und Literaturkritikers, obwohl wir uns nur selten sahen. Jewhen Swerstjuk war damals bereits in der Lagerhaft. Eines Tages machte mich Mykola Matusewytsch mit Tetjana Shytnikowa, der Ehefrau des verhafteten Mathematikers Leonid Pljuschtsch bekannt, der in die Klapsmühle geworfen wurde. Heute erinnere ich mich nur noch an das Mehrfamilienhaus am linken Ufer des Dnipr (Straße der Enthusiasten 33, Whg. 36), wo sich ihre Wohnung befand, und an ihre eindrückliche Erscheinung: voller Entschlossenheit, ihren Mann den Fängen der Strafmaschinerie zu entreißen. Eines Tages besuchte ich zusammen mit Mykola Matusewytsch auch Nina Mychajliwna Martschenko (damals: Smushanyza), die Mutter von Walerij, der bereits seine Strafe in verschiedenen Lagern für zu unabhängige und national ausgerichtete Journalisten abbüßte. Dass ich ihn bald im Lager persönlich treffen würde, wusste ich natürlich noch nicht. Seine Mutter hatte

20 Switlana Kyrytschenko. Menschen nicht vor Angst, S. 551.

122 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT die Aufgabe, ihren Sohn zu beschützen und ihn vor aller Ungerechtigkeit und Unglück zu bewahren. Die Jahre unserer großen Freundschaft bis zu ihrem Tod im vorgerückten Alter und der gegenseitigen Verehrung standen uns noch bevor. Wir sahen Mykola oft zusammen mit seiner Schwester Alla. Später freute es uns sehr, als wir erfuhren, dass die beiden heirateten, nachdem Mykola Horbal aus der Haft zurückkam. Die legendäre Alla Horska traf ich leider nicht mehr lebendig an. Von ihr hörte ich zum ersten Mal durch Mykola Matusewytsch, als ich einmal am Haus ihres Schwiegervaters in Wasylkiw vorbeiging, wo Alla am 28. November 1970 ermordet worden war. Tief bewegt standen wir vor dem Haus und fühlten uns wie Pilger. Später erzählte Nadja Switlytschna noch mehr über sie, als sie bereits aus der Haft zurückgekehrt war. Von ihr blieb mir nur eine kleine, aber sehr bezeichnende Geschichte. Gemäß Nadijkas Worten ging sie eines Tages mit Alla und weiteren Freunden in ein Restaurant, um etwas zu feiern: Plötzlich kam ein angetrunkener Mann in den Raum, der aus irgendeinem Grund sehr beängstigend und sehr wütend auf uns wirkte. Als ihn die Kellner nicht bedienen wollten, ergriff er eine leere Flasche, zerschlug sie an einer Säule und schaute uns dann herausfordernd an. Die Kellner befahlen ihm, das Glas einzusammeln, doch der Betrunkene gab nicht nach. Alle verfolgten schweigend, was geschehen war. Dann stand Alla auf, ging zur Säule und begann, das Glas einzusammeln. Es ging eine ganz besondere Gelassenheit und ein Verständnis für den Mann von ihr aus, da sie einen Menschen in ihm sah, der ein Trauma erlitt. Er verließ schließlich sehr verlegen, geschlagen und still den Saal.

Diese Geschichte erklärte mir mehr über Alla als die größte biografische Abhandlung es könnte. Wenn ich einmal beschreiben müsste, was es heißt, »aus dem Teig eines Dissidenten zu bestehen«, werde ich mich vor allem an diese wunderbare Begebenheit erinnern. Wertvoll ist mir auch eine Erinnerung an eine episodenreiche, aber durchaus angenehme Bekanntschaft mit der Jüdin Olena Juchymiwna Janowska aus Kyiw. Nach ihren eigenen Worten war sie ein »Kind der Ukrainisierung« und sprach mal ukrainisch und mal russisch. In ihrem Charakter war sie eine ausgeprägte

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 123 Kyjiwerin, eine der Hiesigen: Es war einfach deutlich sichtbar, auf welchem Boden sie verwurzelt war. Sie war eine sehr mutige Person, weil sie eine Scheinehe mit dem politischen Häftling Danylo Schumuk einging, als dieser sich nach seiner Entlassung irgendwie in Kyjiw »anheften« musste. Ich saß zunächst voller Hemmungen in ihrer Wohnung, da ich sie erst kennenlernen musste. Mykola stritt lebhaft mit der Hausherrin, die er schon länger kannte und mochte. Plötzlich stellte ich fest, dass wir es gar nicht wagten, vom Essen zu nehmen, dass sie uns so reichlich aufgetischt hatte. Sie forderte uns schließlich mit viel Humor auf: »Esst bitte und ziert euch nicht! Wenn ich es schon für euch hingestellt habe, heißt das, dass es mir wirklich nicht zu schade ist.« Mykola und ich mussten laut lachen, dieser typisch jüdische Humor war uns noch nicht vertraut und es war für uns einfach lustig. Dieser Ausspruch gehört seither zu einem meiner liebsten. Nur noch nebelhaft erinnere ich mich an unsere Fahrt nach Uman (es war neben Mykola und mir noch jemand anders dabei, vielleicht war es Mychajlyna). Wir wollten Nadja Witalijwna Surowzowa besuchen. Diese Frau war wie Borys AntonenkoDawydowytsch ein Relikt aus einer längst vergangenen und uns unbekannten Epoche. Auf dem Weg nach Uman erzählten mir meine Freunde, Nadja Witalijwna wäre in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts vom Marxismus begeistert gewesen. Sie sagte sich aber deshalb nicht von ihrem Ukrainertum los und repräsentierte die ukrainische kommunistische Bewegung, wofür sie selbstverständlich mit einer langen Haft büßte. Als Erinnerung an dieses Treffen habe ich lange eine damals in Uman erstellte Aufnahme mit Nadja Witalijwna aufbewahrt, die mir aber inzwischen verloren ging. Weil der Name Nadja Witalijwna in der Ukraine zu Unrecht wenig genannt wird, beschreibe ich noch einen Besuch, wie ihn Mychajlyna Kozjubynska erzählte: Eine mittelgroße, schmuck gekleidete ältere Frau öffnet die Tür und mir kommen eine wertvolle Halskette, ein Keptar und lockige graue Haare entgegen. Ein freundliches Lächeln, die Augen strahlen, sie freut sich aufrichtig, uns begegnen zu können […], dann sitzen wir am Tisch. Der Kaffee dampft, das Gespräch kommt in Gang, zwanglos und ohne Ende. Es konnte

124 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT nur gesagt werden: Hier versteht jemand, wirklich einander zuzuhören, und jeder weiß, was und wie zu antworten ist. Dir gegenüber steht ein weiser und in sich noch erstaunlich junger Mensch […]. Alle fühlen sich ungezwungen und feierlich zumute, teilhaftig am größten Luxus auf dieser Welt, dem Umgang von Mensch zu Mensch.21

Zum Kreis von Mykola, Tamila und Natalja Jakowenko gehörten noch einige andere, mit denen wir uns häufig trafen. So etwa waren es Ein die Choristen des »Homin«: Alla Kowal, Ludmyla Sawtschenko und Iwan Debeljuk, die stets zu uns hielten. Iwan war gerade verliebt in Alla, die er später heiratete. Und ja, ich gebe zu, auch ich schaute eine bestimmte Zeit in ihre Richtung, da sie sehr fröhlich und harmonisch auf mich wirkte. Es fällt mir schwer, alle Gelegenheiten zu erwähnen, als wir beieinander waren. Für mich wurde sie aber nur zu einer kleinen und herzlichen Quelle einer ungetrübten Freundschaft. Zum Glück gibt es noch ein Foto von einer unserer Reisen in die Oblast Tscherkassy, aufgenommen vor einem Haus aus Schewtschenkos Zeiten. Nebenbei erwähnt, war ich einmal einen ganzen Abend auf dem Gehöft von Ljuda Sawtschenko zu Besuch (es war gerade ein Festtag). Die Begegnung blieb mir als ein einziges Gerinne voller Schmerz in Erinnerung. Da meine Schwester Nadijka bei mir zu Besuch war, nahm ich sie an diesem Abend mit. Mykola und ich standen meistens in einer guten Beziehung zueinander, doch manchmal war Mykola sehr impulsiv in seinem Charakter und konnte sich dann fast nicht beruhigen. Ludmyla hatte an diesem Abend auch russischsprachige Nachbarn zu sich eingeladen, die sich neben meine Schwester setzten. Nadijka stimmte schließlich zum allgemeinen Vergnügen eine russische Romanze an, worauf Mykola aber sehr erregt reagierte und mit viel Gepolter eine Flasche auf den Tisch warf. Die freudige Stimmung war natürlich sofort zu Ende und ich fuhr mit Nadijka weg. Dies war wohl der schwierigste Moment in meiner Beziehung zu Mykola. Ich hätte damals fast unsere Beziehung aufgelöst und brauchte eine längere Zeit, um mich vom Schock zu erholen. Vergleichbare Momente dieses hysterischen

21

Mychajlyna Kozjubynska. Buch der Erinnerungen, S.74f.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 125 »Dostojewskitums« vergifteten aber weiter meine Beziehung zu Mykola, sodass ich mich zunehmend von ihm distanzierte. Gute Freunde waren auch Nina und Jewgen Obertas. Ihre gastfreundliche Wohnung in der Nähe der Metrostation »Minska« stand mir stets offen, sodass ich nicht nur einmal bei ihnen übernachtete. Ihre Ehe war – ich schreibe bewusst »war«, da die beiden heute leider geschieden sind –, eine typisch »kyjiwer-galizische« Beziehung: Nina kam aus der Gegend von Kyjiw und Jewgen aus der von Iwano-Frankiwsk. Wie ich noch erzählen werde, mussten beide während der Gerichtsverhandlungen von mir und Mykola als Zeugen auftreten. Sie taten es mit großem Respekt mir gegenüber. Immer offen und gastlich war die Wohnung von Olga und Pawlo Stokotelny in Borschtschahiw, wo sie zusammen mit ihrer Mutter lebten. In dieser Familie verband sich eine große Kühnheit in der Verteidigung des Rechts, ein Ukrainer zu sein, mit einem vorsichtigen Verhalten im Blick auf mögliche Angriffe durch das KGB. Im Jahr 1976 versammelten sich in ihrer Wohnung oft die späteren Teilnehmer unserer Schar, um ihre Repetitionen durchzuführen. Dort feierten wir auch das Neujahr 1977, unser Fest wurde jedoch völlig unerwartet getrübt. Damals war ich mit Raisa Serhijtschuk verheiratet und wohnte in Kalyniwka in der Nähe von Kyjiw. Über die genauen Umstände der zivilen Ehe mit Raisa erzähle ich nicht, was nicht allein an mir liegt, füge aber sofort hinzu, dass Raisa zwar keine Neigung zum Dissidentenleben hatte, mir aber immer wieder sehr half. Ungeachtet des riesigen Drucks gegenüber ihr und ihrer Tochter Walja hielt sie tapfer alle Verfolgungen durch das KGB aus. Sogar als wir bereits geschieden waren, hielt sie zusammen mit Walja und ihrer Schwester Antonina Sajtschenko an der Beziehung zu uns fest. Mit Raisa machte ich einmal auch ab, dass beide in die Wohnung der Stokotelnys kommen und wir zusammen feiern sollten, wenn wir vom Umzug zurück wären. Als wir tatsächlich kamen, erzählte uns die völlig verängstigte Mutter der Stokotelnys, dass plötzlich eine unbekannte Frau zu ihnen gekommen sei. Sie hätte hartnäckig gefordert, dass sie hineingelassen werde, die Mutter sich aber geweigert hätte. Ich begriff sofort, dass es Raisa sein musste. Mitten in der

126 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Neujahrsnacht musste sie wieder nach Kalyniwka zurück. Es war damals für die Gastgeber wirklich nicht leicht, den ständigem Druck des KGB auszuhalten. Als kurz zuvor Switlytschna aus dem Lager nach Kyjiw zurückkehrte, kümmerte sich, in Vorahnung seines Schicksals, Pawlo Stokotelny besonders um die Nöte dieser Frau. Ich selbst hatte zuvor ihre wenigen, kaum ersichtlichen Signale nicht beachtet, sodass mich die Nachricht, dass Nadijka und Pawlo heirateten, überraschend erreichte. Ich wusste auch nicht, wie gut Pawlo psychologisch bereits auf das vorbereitet war, was ihn erwarten würde, als Nadijka in die USA auswanderte. Wie es sich später erwies, war dies für Nadijka und ihren Sohn Jarema die einzig rettende Lösung. Pawlo konnte dann sein unerwartetes Schicksal doch noch akzeptieren. Ebenso würdig war die Haltung von Pawlos Schwester Olga. Sie ertrug standhaft die Hetze bei der Arbeit wegen ihrer Unterstützung des ukrainischen Dissidentenkreises. Als Mykola Horbal erneut hinter Gitter kam, bereits nach seiner Scheidung von Alla Martschenko, fuhr sie zu ihm in die Kolonie, wo sie heirateten. Zu unserer Gruppe gehörte auch Orysja Sawtschuk, meine Freundin aus der Zeit am Polytechnikum in Lwiw. Durch sie lernte ich Mykola Matusewytsch und den ganzen Kreis seiner Freunde kennen. Orysja war eine fröhliche und sehr umgängliche Freundin. Ihre Art zeigte sich auch in ihrem Verständnis für Mykolas manchmal sehr abenteuerliche Ideen. Noch heute muss ich voller Reue an Oksana Franko denken, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin des Zentralen Staatlichen Historischen Archivs in Kyjiw arbeitete. Ich lernte sie an einer unserer der Erholung dienenden Reise auf der Datsche der Matusewytschs im Dorf Schewtschenkiwka (Oblast Kyjiw) kennen, was mir eine große Ehre war, da Oksana aus der Familie des Bruders von Iwan Franko »Onufrij« stammte. Wir verstanden einander gut – und so wurde sie auch von unserer Gruppe akzeptiert. Ich sage »voller Reue«, da eine bis heute ungesühnte Sünde wegen der Beschädigung ihres Passes auf meinem Gewissen liegt. Unsere Gruppe vergnügte sich einmal fröhlich am Ufer eines Flusses unweit der Datsche der Matusewytsch, als sich bei mir der »Mephistopheles meldete«:

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 127 dieser Zustand, wenn ich den Verstand verliere und »etwas Komisches machen« will. Die dumme Idee, Oksana völlig unerwartet auf die Arme zu nehmen und noch bekleidet ins Wasser zu werfen, war eine völlig spontane Entscheidung und Mykola kam mir zur Hilfe – und »schwupp« lag Frau Oksana dank unserer starken Hände schon im Wasser. Erst jetzt begriff ich, welche Dummheit ich begangen hatte, als ich ihr verdattertes Gesicht sah. Sie zeigte uns ihren völlig durchnässten Pass, was heute noch an meinem Gewissen nagt. Im Milieu der ukrainischen »Fronde« Wie schon erwähnt, war die wohl größte Sünde, die einem nationalbewussten Ukrainer in Kyjiw angelastet werden konnte, sein Wunsch, seine ukrainische Identität zu bewahren. Heute fällt es schwer, sich vorzustellen, wie provozierend das für eine breitere Öffentlichkeit war. Der Auftritt zweier junger Männer auf öffentlichen Plätzen (von unserer größeren Gruppe gar nicht zu sprechen), offen und ohne jeden Komplex ukrainisch sprechend und die nicht nur an dem interessiert sind, was bürgerlich als üblich galt, sondern noch an vielem anderen interessiert zu sein, war schon für sich eine rebellische »Fronde«. Ich erinnere mich noch gut an die mürrischen Blicke der Kyjiwer Bevölkerung im öffentlichen Verkehr oder auf den Straßen und an die Atmosphäre der Verunsicherung oder Verachtung, mit denen sie sich von uns distanzierten. So war etwa das Lesen von selbst herausgegebener Literatur eine sehr gefährliche Rebellion. Ich weiß nicht mehr, unter welchen Umständen es war, aber ich kam gerade an einen traditionellen Satz verbotener Literatur heran, darunter etwa: »Verstand schafft Leiden« (von Wjatscheslaw Tschornowil), einige Auszüge aus Artikeln von Walentyn Moros oder die Werke »Kathedrale in Baugerüsten« und »Iwan Kotljarewsky lacht« (von Jewhen Swerstjuk) und das Buch »Wind im Gesicht« (von Mykola Rudenko) und noch viele weitere, die ich vergessen habe. Ich war kein besonders eifriger Leser, was die Untergrundliteratur betraf. Ich las einfach das, was mir gerade in die Hände geriet.

128 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Spannender waren öffentliche »oppositionelle« Auftritte. So erinnere ich mich an einen Fall aus den Jahren 1975 oder 1976. Wir beschlossen, mit unseren Freunden das Iwan-Kupala-Fest zu feiern. Da wir wussten, dass wir das in Kyjiw unmöglich tun können, fuhren wir in ein Dorf, aus dem ein Mädchen unseres Kreises stammte. (Der genaue Name der Ortschaft ist mir entfallen.) Wir fuhren von Kyjiw mit der elektrischen Vorortbahn und weiter mit dem Bus. Als wir endlich ankamen, war es spannend, zu beobachten, wie offensichtlich das ganze Dorf schon wusste, dass »BanderaAnhänger« bzw. »Banditen« kommen und etwas Schlimmes geschehen würde. Wir ahnten, was das KGB plante: zu verhindern, dass es zum Kontakt mit der Bevölkerung kommt. Das Dorf war völlig angespannt, wie uns die Verwandten des Mädchens erzählten. Das zeigte sich schon daran, dass das Dorf wie ausgestorben wirkte. Was tun? Wir waren ratlos und winkten ab, gingen dann zum Fluss, machten ein Lagerfeuer und begannen, spre von Iwan Kupala zu feiern. Da wir alle gute Sänger waren, wirkte das sehr gut. Gegen Abend, als es dämmerig wurde, begann sich auch die Dorfjugend zu versammeln. Sie standen zuerst etwas entfernt und beobachteten uns. Dann machten sie auch ein Lagerfeuer. Als es bereits völlig dunkel war, kam einer nach dem anderen zu uns und schließlich feierte ein gutes Dutzend junger Leute den Abend mit uns bis zum Schluss. Auch die »Koljada«, den Weihnachtsumzug, vergaßen wir nicht. Soweit ich mich erinnern kann, organisierten wir ihn zwei Jahre nacheinander auf den Straßen von Kyjiw (1975/76 und 1976/77). Unter den damaligen Kyjiwer Verhältnissen zu Weihnachten »umherzuziehen«, war eigentlich unmöglich. Wir waren deshalb als Gruppe nur am 31. Dezember unterwegs, aber auch an einem religiös-neutralen Tag war es nicht einfach, eine »Koljada« durchzuführen, da das KGB alles unternahm, um es zu verhindern. Am 31. Dezember 1975 beschlossen sie denn auch, Mykola Matusewytsch zu provozieren und zu verhaften. Ich übernachtete gerade nicht in Kyjiw und wollte mich am Morgen mit Mykola treffen. Er war aber nicht dort zu finden, wo wir eigentlich abgemacht hatten. Also ging ich zu seiner Wohnung und fand ihn nicht – und ebenso

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 129 wenig an anderen Orten. Er war einfach nirgends zu finden. Es musste also etwas geschehen sein. Ich beschloss, so rasch wie möglich etwas zu unternehmen und mir ein Taxi zu nehmen und zu Olga Heijko zu fahren, Mykolas damaliger Frau. Da gerade kein Taxi kam, hielt ich das erstbeste Auto an, das daherfuhr. Auf die Frage, ob er mich mitnähme, reagierte der Fahrer positiv. Ich stieg ein und plötzlich brachte mich etwas Unfassbares auf den Gedanken, dass ich in ein KGB-Auto eingestiegen wäre! Ich lachte dann einfach laut los und der Fahrer sagte zu mir: »Weshalb lachen Sie denn? Vielleicht vergeht Ihnen das Lachen bald.« Ich antwortete: »Sie brauchen es mir nicht zu erklären. Ich verstehe, in welches Auto ich eingestiegen bin.« Das Auto brachte mich zum Hotel »Ukraina« (es war noch auf dem Schewtschenko-Boulevard, wo heute das Hotel »Premier-Palast« steht). Ich wurde zu einem Gespräch in ein Hotelzimmer geführt und machte mir die Hoffnung, etwas über Mykola zu erfahren. Das Gespräch entwickelte sich aber sehr komisch: Es ging eigentlich um nichts. Ich wurde langsam nervös, doch der Befrager des KGB beruhigte mich: »Nein, nein, warten Sie noch etwas, warten Sie noch etwas!« und dann verschwand er für eine längere Zeit. Endlich begriff ich, dass sie mich wohl absichtlich aufhielten. Als mein Gesprächspartner wieder erschien, bestand ich darauf: Für mich war das Gespräch zu Ende und ich ging. Ich verließ das Hotel mit einem unangenehmen Gefühl, das sich schwer beschreiben lässt. Später las ich bei Mychajlyna Kozjubynska dieselbe Formulierung des Zustandes: Einmal hielt ich es nicht mehr aus, unterbrach den mir aufgezwungenen ›erzieherischen‹ Dialog mit den Worten: ›Mir reicht’s. Lassen Sie mich nach Hause gehen, ich muss mir die Hände waschen.‹22

Ich machte mich schließlich weiter auf die Suche nach Olga Heijko und wir fingen gemeinsam an, reihum die Miliz anzurufen. Schließlich wurde klar, warum ich so lange festgehalten worden war. Genau zu derselben Zeit stand Mykola vor Gericht und wurde zu fünfzehn Tagen »wegen Rowdytum« verurteilt. Die 22

Mychajlyna Kozjubynska. Buch der Erinnerungen, S.84.

130 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Inszenierung des Rowdytums geschah somit auf die klassische Art. Es kam ein Mann auf ihn zu und bat ihn um eine Zigarette. Als Mykola stehen blieb, um eine aus der Schachtel zu nehmen, begann dieser laut zu schreien: »Hallo, warum greifst du mich an?« Und so weiter. Kaum zu glauben: Plötzlich kam die Miliz daher und einige »Zeugen« tauchten auf und Mykola wurde in Handschellen abgeführt. Für unsere »herumziehende Bande« bedeutete der Verlust von Mykola am 31. Dezember selbstverständlich einen schweren Schlag. Wir beschlossen aber, weiter »herumzuziehen«: Selbstverständlich würden wir dem psychologischen Druck niemals nachgeben! Das Einzige, was wir gegenseitig abmachten, war, dass alle unter uns den Pass mitnehmen und jede Einladung auf ein Gläschen oder etwas Ähnlichem kategorisch ablehnen. Wir gingen als geschlossene Gruppe und versuchten beieinanderzubleiben. Die Leute reagierten sehr freundlich auf unser »Umherziehen« und so hob sich unsere Stimmung allmählich, soweit das überhaupt möglich war, da wir sahen, wie sie uns gezielt beobachten. Ein anderes Mal, 1977, »Mykola befand sich schon unter uns«, lief unser »Herumziehen« sehr angespannt ab und sogar mit einer gewissen Konfrontation. Die Milizionäre traten an uns heran und sagten: »Hört auf und geht nach Hause!« Die Leute reagierten jedoch immer noch sehr freundlich. Wir wurden in den Geschäften mit Süßigkeiten reichlich beschenkt und in den öffentlichen Verkehrsmitteln kam uns ein Lächeln entgegen. Wir gingen selbstverständlich auch zu den uns bekannten Leuten, den schon erwähnten: Borys Antonenko-Dawydowytsch, Mychajlyna Kozjubynska, Wira Awhustiwna Hmyra und dem Übersetzer und Literaturwissenschaftler Hryhorij Kotschur. Wieder füge ich eine Erinnerung von Mychajlyna Kozjubynska hinzu: Wir feierten selbstverständlich auch das Neujahr 1977: Wir zogen erneut umher […]. Olga Heijko, Halynka Didkiwska, Mykola Matusewytsch und Myroslaw Marynowytsch waren mit uns in der Gruppe […]. Am eindrucksvollsten ist mir aber Folgendes im Gedächtnis geblieben: Mitternacht naht bereits heran, wir sind auf der Tscherwonoarmijska, uns gegenüber liegt die Straße mit dem kürzlich abgebrannten und schwarzen Gerippe des Hauses

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 131 von Maria Sankowjetska. Die Jungs schweigen und rufen uns dann mit ihren Gesten einer nach dem anderen ins Treppenhaus. Sie stimmen dann an den Abgängen zwischen den Stockwerken ein Koljada-Lied an, das ich zuvor noch nicht kannte: ›Weine nicht, Rahel …‹ und dazu ›Herzliche Glückwünsche an unsere Freunde im Ural und Magadan‹.23 [Ich erinnere mich, es war zehn Uhr abends und im Ural schon Mitternacht.]

Hier noch einige andere spannende Erinnerungen aus dieser Zeit. Es gastierte in Kyjiw gerade das »Maria-Sankowjetska«-Theater aus Lwiw mit der Inszenierung von »Sankowjetska«, einem eigenen Stück. Die Vorstellung galt als sehr revolutionär und wurde überall lebhaft diskutiert. Ich erinnere mich etwa an den Satz des Gendarmen: »Was in Moskau eine Rebellion ist, ist in Kyjiw bereits eine Revolution.« Es ging um die Tatsache, dass in Kyjiw die Unterdrückung immer größer war als in Moskau. Mykola und ich wussten, dass es in dieser Vorstellung viele patriotisch gesinnte Menschen geben würde, und beschlossen deshalb, eine bewusste Demonstration zu organisieren. Der eine von uns zog ein gelbes Hemd an, der andere ein blaues (ich weiß nicht mehr, wer was) und kamen so an. Einer unserer Bekannten sah uns dann vor der Vorstellung und bekam einen riesigen Schrecken: »O Jungs, ihr habt schon etwas drauf und müsst immer etwas anstellen!« »Wir gehen nur gemeinsam, und das blaue und gelbe Hemd sehen einfach schön nebeneinander aus«: Wer es kannte, verstand es gut. Noch während der Vorstellung, als der Gendarm den erwähnten Satz aussprach, beginnen wir beide, lautstark zu applaudieren; und es geschieht der berühmte Reflex: Die Leute begannen ebenfalls in die Hände zu klatschen – und dachten erst später darüber nach, weshalb sie geklatscht hatten, erschraken dann und wurden ruhig … Als die Vorstellung zu Ende ging, traten wir mit Blumen auf die Bühne. Wir gingen schön nebeneinander auf die Bühne, sodass wir eine blau-gelbe Flagge mit unseren Hemden bildeten. Wir übergaben die Blumen und begannen mit den Schauspielern ein Gespräch, um mindestens einige Minuten mit der Flagge dastehen zu können. Als wir wieder im Saal landeten, sagte einer von uns Rebellen (es war wohl Halynka Didkiwska): »O mein Gott, Jungs,

23

Switlana Kyrytschenko. Menschen nicht vor Angst, S.204.

132 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT o mein Gott, habt ihr denn keine Angst?« »Was ist denn?« Wir zwinkerten ihr verschmitzt zu. »Es sind nur Hemden, mehr doch nicht …« Studienreisen durch die Ukraine waren damals für mich wichtige Ereignisse. Während einer solchen Reise lernte ich meine zukünftige Frau Ljuba kennen. Im Herbst 1976 schlossen Mykola und ich uns einer Exkursion an, die der Verlag »Sowjetische Schule« organisiert hatte und bei dem Olga Heijko als Korrektorin arbeitete. Die Reise war mir sehr wichtig: Ich besuchte zum ersten Mal die Stadt Poltawa und die vielen berühmten Namen dieser Stadt »schossen« mir in den Kopf, einer nach dem anderen: Iwan Kotljarewsky, Panas Myrny, Wolodymyr Korolenko … Am meisten erinnere ich mich an den Empfang im Museum von Panas Myrny. Der Museumsführer bat eventuell Interessierte, auf dem einzigartigen und historischen Klavier zu spielen, auf dem bereits Mykola Lysenko und die ganze Plejade der zu dieser Zeit vorhandenen ukrainischen Künstler gespielte hatten, als sie auf Besuch beim Hausherrn waren. Ich wagte es dann auch und spielte einige Akkorde, tief bewegt in meiner Seele. Im Bus und an den Haltestellen unterwegs sprachen Mykola und ich dann mit den anderen uns unbekannten Teilnehmern der Reise und scherzten mit den Mädchen. Mit mehreren von ihnen schlossen wir nähere Bekanntschaft und Freundschaft, so besonders mit der Korrektorin des Verlages »Hochschule«, Ljuba Heina. Wir luden sie ein, sich unserer »umherziehenden« Bande anzuschließen, die wir gerade organisierten. Ljuba schloss sich uns dann auch an, wir beide ahnten aber nicht, dass der Himmel damals bereits begonnen hatte, unsere Schicksale zu verweben. Mit dieser Gruppe fuhren wir auch, um die Nordukraine (Tschernihiw, Nowhorod-Siwersky, Sumy, Schostka, Hluchiw und Baturyn) kennenzulernen. Die Reise wurde hauptsächlich von Natalja Jakowenka organisiert und wir wollten vor allem die HetmanHauptstädte kennenlernen. Bis heute sehe ich noch den halbverfallenen Baturyn-Palast vor meinen Augen, der damals ohne Dach war. (Nun ist gottlob alles renoviert.) Während der Reise »schossen« dann noch weitere Namen in meinen Kopf: Mykola Gogol, Panteleimon Kulisch, Hetman Iwan Masepa … Wegen Kulisch

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 133 trage ich aber noch eine Schuld auf meinem Gewissen, die ich nicht wollte. Wir fanden dann das Haus, das in Zusammenhang mit Panteleimon Kulisch stand, es war wohl in der Stadt Woronish, in der Oblast Sumska, wo er geboren worden war, oder vielleicht war es auch im Vorwerk Motroniwka (im heutigen Ortsteil Oleniwka) in Tschernihiw, wo er verstarb. Wir befragten die Leute und machten viel Aufhebens um die Tatsache, dass das Haus nicht gepflegt wurde. Wir erfuhren aber später, dass das Haus bald nach unserem Besuch abgerissen worden war, damit keine weiteren Leute mit Gedanken wie unseren angezogen würden … Es war der 9. oder 10. März 1977, als ich zusammen mit Mykola Matusewytsch und unserer weiblichen »Unterstützergruppe« (Tamila Matusewytsch, Olga Heijko, Ljuba Heina, Natalka Poklad, Halynka Didkiwska und weiteren Personen) zu einem Schewtschenko-Abend in die Philharmonie von Kyjiw ging. Es war gerade die Zeit, als die »Breshnew’sche Demokratie« zu herrschen begann und wir also nicht viel Gutes erwarten konnten. Damals war wohl schon Mykola Schamota der berühmt-berüchtigte Direktor des Literaturinstitutes »T. Schewtschenko« der Akademie der Wissenschaften der UdSSR diejenige Person, die in der Zeit der Hetzkampagne gegen Mychajlyna Kozjubynska auch sagte: »Wer gegen die Kündigung von Kozjubynska stimmt, stimmt gegen die Sowjetmacht.« So erstaunt es nicht, dass dieser sich mit größerer Freude über Lenin äußerte als über Schewtschenko. Er erinnerte uns daran, dass Wolodymyr Iljitsch Schewtschenko so sehr liebte, dass er sogar einmal an einen Gedenkabend nach Krakau ging, obwohl dieser Abend von einem »nationalistischen Geist« geprägt war. In diesem Stil ging es dann weiter bis zum Ende des Vortrags. Das Konzert hatte mit einem Lied über die Partei begonnen. Im weiteren Verlauf kam aber kein weiteres Lied mit einem Text von Schewtschenko vor, nur Volkslieder. Es wurden aus dem Werk von Taras Schewtschenko nur einige Auszüge aus dem »Tagebuch« gelesen – und das auch noch auf Russisch. Wir wussten also, der ganze Abend würde in diesem Geiste verlaufen. Während der Pause ersannen Mykola und ich aber einen Plan. Der zweite Teil war wirklich nicht besser als der erste: Gegen Ende wurde aber doch noch etwas Schönes gesungen; wohl das

134 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Lied: »Hörst Du, mein Bruder«. Die Leute wurden lebhafter und eine kräftige Ovation entlud sich. Nun wurde natürlich das Lied »Vermächtnis« gewünscht, wie es früher immer üblich gewesen war. Als Antwort erklang aber erneut ein »politisch-korrektes« Lied, mit dem dem Publikum zu verstehen gegeben wurde, dass das »Vermächtnis« nicht vorgetragen würde und das Konzert zu Ende sei. Als das Lied zu Ende war, ging ich gemäß unserem Plan auf die Bühne, erhob die Hand, forderte Ruhe und bat die Leute, den Saal noch nicht zu verlassen. Ich sprach etwas ins Mikrofon wie: »Liebe Freunde! Während des Eröffnungsvortrags haben wir mit großer Dankbarkeit gehört, wie sehr Wolodymyr Iljitsch Lenin das Werk Schewtschenkos liebte. Zudem sollten wir auch nicht vergessen, dass Wolodymyr Iljitsch nicht nur die ›Appassionata‹ von Beethoven liebte, sondern auch das ›Vermächtnis‹ [›Sapowit‹] von Schewtschenko. So lasst uns gemeinsam das ›Vermächtnis‹ singen!« (Ein absoluter Bluff, aber im Stil des Abends.) Ich musste nur auf die ersten Reihen blicken. Bereits zu Beginn meines Aufrufes erkannte ich, wie die Menschen mir zulächelten und nickten. Der Zustimmung des Publikums war ich mir also sicher. Ich setzte mich ans Klavier und bereitete mich vor, den ersten Akkord zu spielen. In diesem Augenblick rannte ein erschrockener junger Mann auf die Bühne und schrie: »Das Konzert ist beendet! Keinerlei Laienkunst hier!« Und eine junge Frau kam aus den Kulissen eilig auf mich zu, griff mich heftig am Arm und zischte mir ins Ohr: »Hören Sie sofort auf!« Ich maß etwas die Kraft mit ihr, verstand aber, dass ich mich nicht auf der Bühne mit ihr schlagen konnte. Ich stand auf, drehte mich zum Publikum um und zeigte einfach meine Ratlosigkeit – man lässt mich nicht machen … Hier begann der zweite Akt. Mykola Matusewytsch sprang auf die Bühne und wandte sich mit seiner donnerhaften Stimme an das Publikum: »Liebe Leute! Schämt ihr euch denn nicht?« Der Saal, der brechend voll war, antwortete völlig unerwartet einstimmig: »Eine Schande!« Mit dieser Unterstützung sprangen wir von der Bühne und unsere Freunde kamen zu uns: Wir begannen, das »Vermächtnis« zu singen. Bereits nach einigen Sekunden stimmte der ganze Saal mit ein. Der junge Mann und die junge Frau liefen

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 135 verzweifelt auf der Bühne hin und her, schrien und versuchten, dem Einhalt zu gebieten. Dann begann das Personal die Beleuchtung abwechselnd aus- und einzuschalten, doch der Saal sang weiter. Schließlich wurde das Licht völlig ausgeschaltet. Damit beging man einen großen Fehler. Im dunklen Saal erklang das »Vermächtnis«, gesungen von Hunderten von Stimmen, einfach fantastisch. Offenbar begriff das zuletzt auch das Personal. Das Licht wurde wieder eingeschaltet und ich sah, wie viele Frauen vor Rührung weinten. Im weiteren Verlauf sangen wir das Lied nun ohne jede Behinderung bis zum Ende. Dann streckten sich uns Dutzende Hände entgegen: »Danke! Danke! Ihr seid einfach Prachtkerle!« Gerührt und hingerissen beschlossen wir, zu warten, bis alle Leute ihre Mäntel in der Garderobe abgeholt hatten, und zogen uns dann selbst an. Hier begann der dritte Akt. Wir gingen aus der Philharmonie heraus und ich erstarrte buchstäblich. Das ganze Konzertpublikum stand im Halbkreis auf dem Platz vor der Philharmonie. In der Mitte des Halbkreises befand sich ein Auto: Wir verstanden sofort, dass es vom KGB war – und zu ihm ein ungehinderter Zugang. Niemand sagte etwas, aber das Schweigen war mehr als genug! Wir mussten einfach nur lachen, da wir verstanden, dass uns niemand zum Auto bat, und freiwillig würden wir nicht einsteigen. Wir bogen nach links ab und gingen in den Fußgängertunnel. Das Publikum nahm uns zum Schutz in ihren Halbkreis auf. Auf der Straße kamen dann noch weitere Menschen auf uns zu und bedankten sich. Auf dem Chreschtschatyk löste sich der Halbkreis allmählich auf. In unserer Begeisterung gingen wir als ganze Gruppe noch zum Schewtschenko-Denkmal, wo wir noch einmal das »Vermächtnis« sangen. An diesem Abend hielt uns niemand fest. Bis zur Verhaftung verblieb uns aber nur etwa ein Monat, das KGB konnte wohl noch etwas warten …

136 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT

Mykola Matusewytsch mit seiner Mutter Nastja Fedoriwna und seiner Schwester Tamila im Exil im Dorf Kira, Region Tschita, 1984

Mykola Rudenko, Vira Lisova, Oksen Lisovyi, Jewhen Swerstjuk, Vasyl Lisovyi bei Kyjiw, Mai 1985

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 137

Eine Gruppe von Kyjiwer und Lemberger Dissidenten verabschiedet Nadja Switlytschna ins Ausland (von links nach rechts): Oksana Meschko, Wira Lisowa, Mychajlyna Kozjubynska, Nadja Switlytschna, Odarka Husjak, Michajlo Horyn, Atena Paschko, Walentyna Tschor

Mychajlyna Kozjubynska in ihrer Jugend, Kaniw, 1961

Ljuba, meine zukünftige Frau, Kyjiw, Anfang der 1980er-Jahre

138 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT

3. Die Epoche der »Helsinki-Bewegung« Dem Ruf der Zeit folgen Das neue Jahr 1976 in Kyjiw unterschied sich zunächst kaum von den vorherigen Jahren. Nur vereinzelte, geflüsterte Gerüchte deuteten darauf hin, dass der Kelch der ukrainischen Geduld allmählich bis zum Rand gefüllt war. So trat der Science-Fiction-Schriftsteller Oles Berdnyk in den Hungerstreik, nachdem seine Bücher am 13. August 1976 aus allen Bibliotheken und dem Buchhandel entfernt und vernichtet worden waren (aus dem Schriftstellerverband war er bereits 1973 ausgeschlossen worden, da er es wagte, frei und eigenständig zu denken). Die Entscheidung über das Werk des bekannten Autors utopischer Romane war offenbar von der Hauptverwaltung für den »Schutz der Staatsgeheimnisse in der Presse« (!) beim Ministerrat der UdSSR getroffen worden. Eine Welle der Vernichtung geistigen Eigentums und künstlerischer Werke rollte nun über die mordwinischen Lager, was Proteste und Hungerstreiks der Betroffenen auslöste. Aus dem Frauenlager ShiZo-385/3 im mordwinischen Dorf Baraschewo erreichte uns die Nachricht, dass 150 Gemälde von Stefa Shabaratura durch das KGB vernichtet worden waren. Wie es genau war, ist mir nicht in Erinnerung geblieben: Mykola Matusewytsch und ich protestierten jedenfalls gegen diesen Vandalismus und zeigten unsere Solidarität mit der Künstlerin. Die Nachricht, dass wir sie unterstützten, erreichte sie später auch. Sie schrieb uns und bedankte sich. Nadijka Switlytschna wurde nach einer vierjährigen Haft plötzlich entlassen. In Kyjiw begann es gerade nach dem Geist des mordwinischen »Naturschutzgebietes« zu riechen, wo die Steppengrasblume der ukrainischen Nation durch das Gesetz gut »geschützt« wurde. Als ganze Gruppe bereiteten wir Nadijka einen herzlichen Empfang. Wie dieser genau ablief: Darüber liegt in meiner Erinnerung ein dichter Nebel. Hier aber die Erinnerung von Switlana Kyrytschenko: Eines Tages liefen wir zum Bahnhof, um Nadijka zu treffen. Sie wurde nach der Entlassung zu ihrer Mutter in der Oblast Luhansk gebracht. Bis heute habe ich noch das Bild vor Augen: Vom Ausgang des Zugwaggons kommt

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 139 uns eine kleine, etwas zu Boden gebeugte Gestalt entgegen, wie eine Ameise mit einem riesengroßen Rucksack.24

Nadijka war für ihren Bruder Iwan eine Schwester, die seinem würdigen Auftritt entsprach. Wie er trug sie den besonderen Zauber der Warmherzigkeit und der absoluten Unverträglichkeit gegenüber jeder Art von Arglist in sich. Das kam später auch den Zuhörern von Radio »Swoboda« in ihrer charakteristischen Stimme entgegen, nachdem es ihr gelungen war, in die USA zu fliehen. Nadijka Switlytschna war für mich und Mykola das lebendige Vorbild dieser schon dann berühmten Tapferkeit, mit der sich das politische Frauenlager in Mordwinien besonders auszeichnete. Es begann gerade ein neuer gesellschaftspolitischer »Wind« zu blasen, wobei noch nicht klar war, wohin er wehen würde. Heute würden wir bestimmt sagen, der neue »Wind« sei die Idee der Menschenrechte gewesen. Er zog ziemlich stürmisch in mein Leben ein – und gleichzeitig von drei verschiedenen Seiten. Die erste Stimme kam mir aus den Sendern »Swoboda«, »Stimme Amerikas«, »BBC« und »Deutsche Welle« entgegen. Die neue Rhetorik der Menschenrechte zeigte sich besonders deutlich, als Breschnew am 1. August 1975 an der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) im Namen der Sowjetunion das Schlussdokument unterzeichnete, in dessen »dritten Korb« unter anderem die Verpflichtung der Staaten zur Wahrung der Menschenrechte zu finden war. Breschnew kam offensichtlich nicht auf die Idee, dass es Menschen geben könnte, die die von ihm unterzeichneten Rechte und Freiheiten unmissverständlich ernst nahmen. Sie wurden dann zum Lackmustest, der der ganzen Welt zeigte: »Seht her!« Die Sowjetunion unterzeichnete das internationale Dokument, unser einfacher Test, aber die Tätigkeit von Menschen, die die westliche Gesellschaft über Verletzungen der allgemeinen Menschenrechtsdeklaration und der Helsinki-Vereinbarungen informieren, zeigt: »Das sowjetische System ist antidemokratisch und Breschnews Unterschriften sind nichts wert!«

24

Switlana Kyrytschenko. Menschen nicht vor Angst, S.194.

140 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Bald darauf wurde der Präsident der USA, Jimmy Carter, zum Sprachrohr der Philosophie der Menschenrechte. Er begann bald nach seiner Wahl am 2. November 1976, die Verpflichtung mit einer Kampagne für den Kampf um die Menschenrechte umzusetzen. Als erster Staatsmann überführte er diesen Kampf aus der Arena der bürgerlichen Gesellschaft in die der internationalen Beziehungen. Natürlich gelang ihm nicht alles, da der Widerstand groß war. Der Verdienst Carters, eines sehr frommen Protestanten, zugunsten der Stärkung der zivilen Ordnung der Menschenrechte ist aber unbestritten. Damals gab es noch diese Überreste eines Zeitalters, das große Ideen hervorbringen konnte und in dem sich noch würdige Staatsmänner finden ließen. Jimmy Carter wurde sofort mein Held und sein Aufruf zur aktiven Bürgerrechtstätigkeit fand bei mir ein begeistertes Echo. (Obwohl ich mich 2014 in Bezug auf seine Haltung zur russischen Aggression in der Ukraine kritisch äußerte, möchte ich keineswegs sein damaliges Werk schmälern.) Viele Jahre später, Anfang 1997, fiel mir das Los zu, ihm persönlich während einer kurzen Audienz im Office seiner Stiftung in Atlanta (USA) meinen Dank aussprechen zu dürfen. Das Foto zeigt den beglückenden Moment, als ich ihm für sein Engagement für die Menschenrechte danke, was mein ganzes weiteres Leben entscheidend prägte. Seine Präsidentschaft wird zwar in den USA nicht als erfolgreich angesehen und das wundert mich auch nicht: Wer sich auf das »Reich, das nicht von dieser Welt ist« ausrichtet, kann unmöglich in dieser erfolgreich sein! Die dritte Stimme kam mir aus dem Munde von Oksana Meschko auf Ukrainisch entgegen. Mykola und ich trafen zufällig Oksana, als wir eines Abends (es war der 9. oder 10. November 1976) durch die Straßen von Kyjiw gingen (es war wohl die Petscherska-Straße).25 Es war nur ein kurzes Gespräch. Oksana Meschko sagte uns: »Mykola Rudenko organisiert eine Gruppe, die für die Menschenrechte kämpft. Wir brauchen junge Leute wie euch, macht doch auch mit!« Und weiter sagte sie, wenn wir uns

25

Meine und Mykolas Erinnerungen über den Eintritt in die Gruppe unterschieden sich in Details, sodass ich den Lesern meine Version anbiete und vor der Existenz einer zweiten warne.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 141 dazu entschließen würden, müssten wir zu Mykola Danylowytsch nach Koncha-Zaspa fahren. Wir verabschiedeten uns. Ich ging zusammen mit Mykola weiter – und wir hörten in uns hinein: in das erste leise Flüstern unseres neuen Schicksals, das nun zu uns kam. Wir machten uns nichts vor und verstanden beide: Das bedeutet viel mehr, als bloß eine »Koljadky« (Umzüge zu Weihnachten und Neujahr) zu organisieren. Es war uns völlig klar, dass man uns deswegen verhaften und bestrafen würde: Das Flüstern des Schicksals würde sich früher oder später in das Knirschen der Schlösser einer Gefängniszelle und das Weinen unserer Angehörigen verwandeln. Wir waren uns auch bewusst: Wenn wir die Einladung ablehnen, würden wir es uns nie verzeihen können. Dann wird in unserem Gewissen immer dieser »Wurm« nagen, dass es die Möglichkeit gab, wir aber Angst hatten und den Schritt doch nicht wagten. Damals war ich erst achtundzwanzig Jahre alt. In diesem Alter die Selbstachtung zu verlieren, hätte bedeutet, sein Lebensziel zu verfehlen und in den Zustand einer völligen Unterwürfigkeit zu fallen. Ein Mensch, der sich selbst erniedrigt, kann unnöglich ein vollwertiger Bürger sein, was sich besonders bei den Männern zeigt: Wer seine Selbstachtung verliert, ruiniert sich selbst. Es blieb uns keine Wahl. Iwan Hel schrieb später: »Unter den Bedingungen eines totalitären Regimes hat ein normaler Mensch keine Wahl«26 So entschieden wir uns, in die Gruppe einzutreten. Damit mussten wir uns auch psychisch auf die mögliche Verhaftung einstellen. Die Stimme einer großen Geschichte siegte in uns über den Instinkt unserer Selbsterhaltung – und das nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal. Wie dankbar bin ich Gott noch heute, dass ich damals genau diese Entscheidung traf! Mykola Rudenko und ich fuhren danach am 10. oder 11. November nach Koncha-Zaspa, wo wir von den Hausherren sehr genau erfuhren, dass in der Nacht zum 10. November mehrere Steine in ihre Wohnung geflogen waren. Mykola Danylowytsch war gerade nicht anwesend, da er am Abend in Moskau in der Wohnung 26

Iwan Hel. Dissidentenbewegung in der Ukraine (Befragung) (http://archive.k hpg.org/ index.php?id=1163785533). Hervorhebung im Orginal.

142 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT von Oleksandr Ginsburg eine Pressekonferenz durchführte, wo er die Gründung der Ukrainischen Gruppe zur Förderung der Einhaltung der Helsinki-Vereinbarungen erklärte (diese lange Bezeichnung gefiel eigentlich niemanden, sodass wir für unter uns kommunikative, aber inoffizielle Belange bald die Bezeichnung »Mitwirkungsgruppe« oder »Ukrainische Helsinki-Gruppe« verwendeten). In der Wohnung waren nur die beiden Frauen anwesend: Rudenkos Frau Raisa Panasiwna und Oksana Jakiwna. In jener Nacht hatten beide viel durchgestanden. Oksana Jakiwna wurde an der Schulter durch einen Stein verletzt, obwohl sie sich mit Kissen bedeckte. Als Mykola Danylowytsch von seiner Reise zurückgekehrt war und alles erfuhr, beschloss er, ein »politisches Stillleben« anzufertigen. Er legte mehrere Bände von Marx und Engels aufeinander und obendrauf die Steine, die durch das Fenster geflogen waren. Dann fotografierte er das Arrangement und gab ihm den Namen »Steine, die Waffe des Proletariats«. Das Foto mit dem Text: »Wie das KGB die Gründung der Ukrainischen Helsinki-Gruppe willkommen hieß« wurde dann in den Westen übermittelt und in der ganzen Welt verbreitet. Mykola und ich hörten Mykola Rudenko gut zu, betrachteten die Fotografie – und in uns keimte die jugendliche Euphorie: Jetzt beginnt für uns beide ein spannender und wichtiger Kampf! Mykola Danylowytsch fragte uns zuerst etwas aus: Wer wir wären und wofür wir eigentlich lebten. Wir kamen überein, in die Gruppe einzutreten und akzeptierten alle Bedingungen ihrer Tätigkeit, insbesondere den Umstand, dass sie keine illegale Gruppe wäre. Wir unterzeichneten schließlich die Deklaration der Gruppe und gaben unsere Namen und Anschriften an. So gehörten wir auch zu den zehn Gründungsmitgliedern der Ukrainischen Helsinki-Gruppe. Erstaunlicherweise erinnerte sich Mykola Danylowytsch noch an etwas, was mir überhaupt nicht in Erinnerung blieb: Als ich Myroslaw fragte, was ihn in die Helsinki-Gruppe führte, antwortete er, ohne zu zögern: ›Ich möchte an der Bestattung des letzten Imperiums auf dieser Welt teilnehmen.‹ Ich erinnerte mich später, als ich bereits im Lager im Ural war, wo wir beide landeten, wieder an seine vielleicht etwas zu pathetische Antwort. Doch es stellte sich dann heraus: Myroslaw konnte sich

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 143 überhaupt nicht mehr daran erinnern. Ich jedenfalls behielt sie für mein ganzes Leben.27

Es mag sein, dass ich mir den Satz auch deshalb nicht merkte, weil er zu pathetisch klingt. Offenbar hatte das KGB unseren Eintritt in die Gruppe nicht notiert, da einige Zeit nichts geschah. Wir fuhren noch einige weitere Male in die gastfreundliche Wohnung der Rudenkos, wo wir stets freundlich und offenherzig empfangen wurden. Dadurch zog es uns immer wieder zu dieser aufrechten Bruderschaft. Wir versuchten, auf die Hausherren dieselbe Regel zu übertragen, die wir beide, Mykola und ich, in unserem Umgang mit den »Leuchtsternen« des Dissidentenkreises benutzten: die Anrede nur mit dem Namen und stets per »Sie«. So etwa: »Sie, Mykola«, »Sie, Atena«. Mykola Danylowytsch konnte diese Art aber nicht akzeptieren. Raisa Panasiwna erzählte es mir einmal ganz vorsichtig. Der friedliche Umgang unter uns war jedoch nur die Ruhe vor dem Sturm. Sobald über Radio »Swoboda« die Deklaration der Gruppe mit den Koordinaten aller Mitglieder verlesen wurde und so auch unsere, veränderte sich unsere Situation bereits am folgenden Tag schlagartig. Ich merkte mir den Morgen dieses Tages offenbar sehr gut. Wir beide, Mykola und ich, übernachteten gerade bei seiner Schwester an der Lepse-Straße. Ich stand schon früh auf, um zur Arbeit zu gehen. (Ich arbeitete immer noch im Verlag »Technika«.) Es war Spätherbst und in der zweiten Novemberhälfte war es morgens noch dunkel. Ich verließ den Hauseingang und ein Auto stand vor mir: Ich erschien und die Scheinwerfer gingen an. Ich fand keinen Ausweg und ging auf das Auto zu. Es setzte sich langsam zurück, behielt mich im Lichtkegel der Scheinwerfer. Ich ging im Schein weiter, bis der Weg nach rechts abbog. Mir war völlig klar: Da wird psychologischer Druck ausgeübt – ich verstand die Bedeutung. In mir blitzte auch der Gedanke auf: »Bedeutet das bereits die Verhaftung oder wird mir nur Angst gemacht?«

27

Mykola Rudenko. Das größte Wunder – das Leben, S.435.

144 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Etwa einen Monat später heftete sich ein ganzer »Schwanz« an mich und es spielte keine Rolle mehr, wohin ich gehen wollte. Dasselbe erlebte Mykola. Es war nun nicht mehr eine heimliche Beobachtung, sondern eine uns provozierende Beschattung, mit der uns ein Schreck eingejagt werden sollte. Wenn du beschattet wirst, ist das natürlich sehr unangenehm; besonders dann, wenn dir buchstäblich auf die Hacken getreten wird. Aber wir waren noch jung und es gilt, wie es die Amerikaner sagen: Make fun of this (macht euch einen Spaß daraus). So erlaubten Mykola und ich uns eines Abends einen Scherz. Wir rannten nur scheinbar vor unseren Verfolgern weg, versteckten uns und beobachteten, wie sie hektisch hin und her liefen. Ein junger Mann rannte mit seinem Funkgerät an uns vorbei und wir hörten, wie er meldete: »Irgendwo hier sind sie vorbeigelaufen.« Es war einfach nur eindrücklich, wie viele Leute an unserer Überwachung beteiligt waren: mit all ihren Funkgeräten, mehreren Pkw und sogar einem Lkw! Nach etwa einem Monat hob der KGB die demonstrative Beschattung auf und es wurde etwas ruhiger. Dann wurden uns aber unsere Existenzmittel weggenommen: Mir wurde vom Verlag »Technika« gekündigt, Mykola vom Haus für Gesundheitsbildung. Von nun an bekamen weder er noch ich eine Anstellung oder Arbeit. Die ganze finanzielle Last unseres Unterhaltes lag damit auf den Schultern unserer Verwandten, vor allem auf der Familie der Matusewytsch. Über die Gründungsmitglieder der Gruppe und ihre Dokumente Zu Beginn dieses Abschnittes ist es angebracht, meine Überlegungen betreffend einige dokumentarische Dinge anzuführen. Es geht vor allem um die Frage, wer aus einem formalen Standpunkt als Gründungsmitglied bezeichnet werden kann. Die erste Liste der Gruppe zählte zehn Personen, die die Deklaration28 unterzeichneten.

28

Die Texte der Deklarationen und alle weiteren in diesem Abschnitt erwähnten Dokumente der Ukrainischen Helsinki-Gruppe enthält das Buch: Die

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 145 Nr.

Name, Vorname und Vatersname

Anmerkungen

Strafe für die Mitgliedschaft in der Ukrainischen Helsinki-Gruppe (UHG)

1

Rudenko, Mykola Danylowytsch

2

Berdnyk, Oleksandr Pawlowytsch

Freiheitsentzug vom 5. Februar 1977 bis Oktober 1987 Freiheitsentzug vom 6. März 1979 bis 14. März 1984

3

Hryhorenko, Petro Hryhorowytsch

4

Kandyba, Iwan Oleksijowytsch

(Vorsitzender der Gruppe) Schriftsteller, Dichter Science-Fiction-Schriftsteller, politischer Häftling zu Zeiten von Berija Kampferprobter General, in Ungnade gefallen, Vertreter der UHG in Moskau Jurist, kurz zuvor noch ein politischer Häftling

5

Lukjanenko, Lewko Hryhorowytsch Marynowytsch, Myroslaw Frankowytsch Matusewytsch, Mykola Iwanowytsch

6

7

8

Meschko, Oksana Jakiwna

9

Strokata, Nina Antoniwna

Jurist, kurz zuvor politischer Häftling Diplomingenieur, zu jener Zeit arbeitslos Historiker, zu jener Zeit von der Hochschule verwiesen und arbeitslos Rentnerin, politischer Häftling aus den Zeiten von Berija, Mutter des politischen Häftlings Oles Serhijenko Mikrobiologin, damals unter Überwachung in der Stadt Tarusa, Oblast Kaluga, RSFSR; Frau des politischen Häftlings

Aberkennung der Staatsbürgerschaft der UdSSR am 13. Februar 1972 Freiheitsentzug vom 24. März 1981 bis 9. September 1988 Freiheitsentzug vom 12. Dezember 1977 bis 30. November 1988 Freiheitsentzug vom 23. April 1977 bis 2. März 1987 Freiheitsentzug vom 23. April 1977 bis Februar 1989 Freiheitsentzug vom 13. Oktober 1980 bis 5. November 1985

Gemeinsam mit ihrem Ehemann am 30. November 1979 aus der UdSSR ausgewiesen und die Staatsbürgerschaft aberkannt

Ukrainische Gruppe zur Förderung der Erfüllung der Helsinki-Vereinbarungen, Bd. 2: Dokumente und Materialien. 9. November 1976 – 2. Juli 1977, in der elektronischen Bibliothek der Charkiwer Bürgerrechtsgruppe unter dem Link abrufbar: http://library.khpg.org/files/docs/Part2.pdf.

146 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT

10

Tychy, Oleksij Iwanowytsch

Swjatoslaw Karawansky29 Lehrer, damals arbeitslos; ehemaliger politischer Häftling

Freiheitsentzug vom 5. Februar 1977 bis 6. Mai 1984, verstarb im Gefängniskrankenhaus der Stadt Perm.

Schon aus dieser einfachen Aufzählung zeigt sich, wie sich die Mitglieder durch ihren Zugang zur Gruppe und ihre Bereitschaft zum politischen Kampf wesentlich unterschieden. Lewko Lukjanenko hatte bereits fünfzehn Jahre Lager auf dem Buckel. Wie viele wussten, war er schon zuvor für die Idee einer rechtmäßigen Abtrennung der Ukraine von der Sowjetunion verurteilt worden. In den Augen der damaligen Sowjetmacht war es ein Verbrechen, das mit dem höchsten Strafmaß »Erschießung« geahndet werden konnte. Lukjanenko erhielt dann genau diese Strafe; sie wurde aber später in fünfzehn Jahre Haft umgewandelt. Was »Gerechtigkeit und Humanität« für ein sowjetisches Gericht damals hieß, erfuhren außer Lukjanenko noch fünf weitere Mitglieder UHG: Oksana Meschko, Oles Berdnyk, Oleksa Tychy, Iwan Kandyba und Nina Strokata. Unter uns gab es auch Leute mit einem nicht sehr einfachen Lebenslauf, wie etwa Mykola Rudenko, dem Gründer der Gruppe. Zuvor war er ein »Politruk«, ein überzeugter Kommunist, in dem der idealistische Ursprung überwog. Als die Heuchelei in der damaligen Sowjetunion offenkundig wurde, vertrug es sich nicht mehr mit seinem Idealismus. So drängte es ihn, die Legitimität der Macht grundsätzlich von einem menschlichen Standpunkt aus in Zweifel zu ziehen. Derselbe Idealismus bewegte Petro Hryhorenko. Zuvor war er ein tapferer General und ein überzeugter Kommunist, der bereits große Erfahrung im Kampf gegen die Macht auf dem Buckel hatte und der sich durch ein starkes ethisches Empfinden auszeichnete. Beide, Rudenko und Hryhorenko, mussten zudem den Status eines Geisteskranken durchstehen. Hryhorenko

29

Sein Name wurde in einigen Dokumenten nach russischer Manier verfälscht: Strokatowa.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 147 verbrachte fast acht Jahre in der Psychiatrie; Rudenko wurde einem psychologischen Zwangsgutachten unterzogen (damals verließ ihn seine erste Frau): Nur dank der Anständigkeit eines Arztes wurde er nicht eingesperrt. Vor dem Hintergrund dieser bekannten Persönlichkeiten mit großen Namen sahen wir zwei relativ junge Menschen, Mykola Matusewytsch und ich, viel blasser und politisch wenig gebildet aus. In meiner damaligen bürgerrechtlichen Position lag weniger der politische Ungehorsam gegenüber dem sowjetischen System als die echte Erkenntnis der Bedeutung der Problematik der Menschenrechte. In dieser Phase meines Dissidententums nahm die Verlogenheit des sowjetischen Systems eine unerträglich groteske Form an, sodass es unmöglich wurde, sich damit abzufinden und gleichzeitig auch noch zu achten. Somit war es in erster Linie nicht so sehr ein Kampf für konkrete politische Ideale, sondern vor allem für die menschliche Würde; einfach für das Recht, ein Mensch zu sein. Der Schmerz der nationalen Unterdrückung und die Wut auf das totalitäre System konnte ich damals nicht voneinander trennen. Wenn ich mich richtig erinnere, waren Mykola und ich chronologisch nicht die letzten Gründungsmitglieder der Gruppe: Rudenko wartete immer noch auf die Zustimmung von Iwan Kandyba. Er kam extra in das Städtchen Pustomyty in der Oblast Lwiw, um seine Mitgliedschaft in der Gruppe zu beantragen. Kandyba sagte zuerst noch nicht zu, da er befürchtete, Rudenko sei ein vom KGB zugeschickter Agent. In der ersten Meldung über die Gründung der Gruppe vom 11. November werden deshalb weder Mykola und ich noch Iwan Kandyba namentlich erwähnt. In der Deklaration der Gruppe tauchen aber die Namen schon auf. Wie bereits gesagt, traten wir beide erst einige Tage nach der formalen Bekanntgabe in die Gruppe ein und Iwan Kandyba ebenso, nachdem er bei Nadja Switlytschna abklärte, ob die Bildung der Gruppe nicht bloß eine Provokation sei. Das dem nicht so war, konnte man sich später aus den Nachrichten der »Feindsender« überzeugen. Das war also die aus zehn Personen bestehende Zusammensetzung der Gruppe bis zur Verhaftung von Mykola Rudenko. Bereits am Tag danach trat Petro Wins formal in die Gruppe ein, der Sohn des Leiters der ukrainischen Christen-Baptisten und Sekretärs

148 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT des Kirchenrates der Evangeliums-Christen-Baptisten (ECB), der erneut in Haft war. Petro war zweifelsohne ein mutiger junger Mann aus einer mutigen Familie. Sein Eintritt in unsere Gruppe war für uns eine weitere wichtige Legitimation gegenüber der ukrainischen Gesellschaft und der internationalen Gemeinschaft. Es kamen schließlich noch weitere Mitglieder zur Gruppe hinzu, sodass die Frage entstand, wer genau als Gründungsmitglied bezeichnet werden kann. Für mich war die Verhaftung von Mykola Rudenko und Oleksij Tychy die entscheidende Grenze, mit der die erste organisierte Etappe der Gründung der Gruppe beendet war. Anschließend geschahen aber viele weitere Veränderungen. Ich bin mir auch bewusst, dass es etwas ungerecht gegenüber Petro Wins war, der der Erste derer war, die bald danach hinzukamen. Wenn er auch als Gründungsmitglied bezeichnet worden wäre, wäre es genauso unfair für andere gewesen, so etwa für Olga Heijko-Matusewytsch, Mykola Horbal, Josyp Sisels oder Wasyl Owsijenko, die nur wenig später der Gruppe beitraten. Es könnte jemand auch bemängeln, dass in der ersten Nachricht von Mykola Rudenko über die Gründung der Gruppe der Name von Mykola Matusewytsch und mir fehlte, obwohl wir zu den Gründungsmitgliedern zu zählen waren. Es müsste also auch diese Version analysiert werden, doch es muss auch erwähnt werden, dass in der damaligen Nachricht der charakteristische Nachsatz »und weitere« zur Liste der Namen hinzugefügt wurde. Aber für Mykola Rudenko war die Zusammensetzung der Gruppe mit den genannten Personen keineswegs abgeschlossen. Er erwartete noch die Zustimmung weiterer Personen. Für mich aber war die Deklaration der UHG entscheidend, die das formale (nicht für die Presse bestimmte) Dokument über die Gründung der Gruppe war, was die Unterschriften bezeugen. Wenn wir über die Mitgliedschaft in der Gruppe sprechen, sollten wir noch eine andere Ungerechtigkeit erwähnen. Die obige Liste der Gruppenmitglieder enthielt diejenigen nicht, die ihre Mitgliedschaft nicht erklärten, obwohl sie nicht weniger aktiv für das Wohl der Gruppe arbeiteten und nicht weniger Verantwortung trugen. Das betrifft vor allem Raisa Rudenko, die selbstlose Ehegattin des Kopfes unserer Gruppe, die faktisch unsere Sekretärin war und

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 149 bescheiden den Löwenanteil der praktischen Arbeit erledigte. Doch seither sind die Erinnerungen von Mykola Danylowytsch bereits veröffentlicht, aus denen hervorgeht, welch große Stütze die äußerlich kleine und zerbrechliche Frau für ihn war. Es schien uns manchmal auch, dass sie wesentlich stärker auf diesem Boden stand als der ewig romantische und »ideell beunruhigte« Mykola Danylowytsch. Über ihre funktionale Mitgliedschaft in der Gruppe besteht deshalb kein Zweifel, ebenso über die Verfolgungen, die sie durchmachte, inklusive in Zusammenhang mit ihrer Haft. Switlana Kyrytschenko erinnerte sich auch, dass das KGB diese Frau schon vor ihrer Inhaftierung gnadenlos schikaniert hatte: Vor einem Jahr Durchsuchung auf dem Bahnhof in Moskau. Berdnyk verriet ihr Versteck, wo die von ihr abgetippten Werke von Mykola lagen. [Wer sonst könnte so viel schreiben, außer seine Frau?] Diesen Frühling ereignete sich am helllichten Tag auf der schmalen Straße von der Chaussee bis zu ihrem Gehöft ein Überfall: Ein unbekannter Mann (in Koncha kennen sich alle) entriss der Frau die Tasche aus den Händen, die sie aus Kyjiw mit sich genommen hatte. Sie spürten sie beim Bahnhof auf und sahen, dass sie eine Rolle mit den neusten Lagergedichten von Rudenko aus dem Schließfach entnahm.30

Unschätzbar war die Hilfe derer, die sich neben Raisa Panasiwna ebenfalls um den Druck unserer Materialien kümmerten oder uns auf eine andere Art unterstützten. Immer hilfsbereit waren zudem Tamila Matusewytsch und Olga Heijko. Diese wurde, als sie viel durchstehen musste, die Ehefrau von Mykola und hielt sich ebenfalls sehr nahe zu uns. (Nebenbei bemerkt: Als sie sich auf dem Standesamt trauen ließen, schrieb ich ihnen ein lapidares Gedicht, von dem mir nur drei Zeilen geblieben sind: »Es heirateten zwei Familien / die von Heijko, königlichen Blutes / und die des berühmten Schülers Skoworodas«.) So fügte sich Olga sehr gut in unsere Gesellschaft ein und machte sich furchtlos daran, uns zu unterstützen. Es gelang ihr auch, verschiedene Schreibmaschinen auszuleihen, auf denen sie die Materialien der Ukrainischen HelsinkiGruppe abtippen konnte. Als ich später erfuhr, dass Olga nach unserer Verhaftung offiziell in die Gruppe eingetreten war, bestätigte

30

Switlana Kyrytschenko. Menschen nicht vor Angst, S.414.

150 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT es mich lediglich in der Überzeugung, was für eine außergewöhnlich mutige Frau diese Freundin war. Sie war sehr stark dem Druck ihrer Eltern ausgesetzt, vor allem durch ihren völlig sowjetischen Vater. Wie ich später erfuhr, war es für Olga nicht leicht, in die Gruppe einzutreten, ebensowenig für Josyp Sisels, Mykola Horbal und Wolodymyr Malenkowytsch. Einige Zeit galten sie als undeklarierte Mitglieder der Gruppe. Den gleichen Status hatte Hanna Mychajlenko aus Odessa.31 Heute ist es ziemlich schwierig, die ganze Logik des Status zu rekonstruieren, da die Suche nach möglichen Mitgliedern der Gruppe zu Beginn durchaus aktiv geschah, wie Switlana Kyrytschenko bezeugt (November 1976): Ich war gerade nicht zu Hause, als Oksana Jakiwna [Meschko] zu Jurij [Badsjo] kam. Sie berichtete kurz über die Bildung der Ukrainischen Helsinki-Gruppe und schlug dann vor, mich den Gründern anzuschließen. Sie war etwas gereizt, da sie schon zwei Absagen erhalten hatte: sowohl von Borys Dmytrowytsch [Antonenko-Dawydowytsch] als auch von Mychajlyna [Kozjubynska]. Mychajlyna kannte die ›Grenzen dessen, was ihr möglich ist‹ sehr genau: sich würdig zu verhalten, Prinzipientreue, Freunde auf beiden Seiten der Gitter zu unterstützen, nicht abzuschwören, aber auch nicht ›ins Feuer‹ zu gehen, so etwas ist wirklich nicht ihr Schlachtfeld. Jurko sagte ebenfalls ab: Solange das noch nicht zu Ende geschriebene Manuskript ›Das Recht …‹ [›Das Recht zu leben‹] auf dem Tisch steht, kann ich es noch nicht verantworten.32

Nach wie vor gab es viele weitere Veränderungen. Wie ich später noch ausführlicher berichten werde, wurde die psychologische Atmosphäre für uns immer schwieriger. Selbst denen, die Optimisten waren, wurde endgültig klar, dass die Mitgliedschaft in der Gruppe Haft hieß. Zudem verstärkte sich nach den ersten Verhaftungen der Verdacht, dass sich der Gruppe auch Agenten des KGB bemächtigt hatten. Ich nehme an, dass Oksana Meschko, die damals als die inoffizielle Leiterin der Gruppe betrachtet wurde, bestrebt war, mögliche Anwärter zu schützen oder sie zu prüfen, bevor ihre formale 31

32

Odessaer Welle, S. 15.Siehe auch: Diagnose des KG: Schizophrenie. Interview von Jurij Sajtzew mit Hanna Mychajlenko. Dokumente/Einführender Beitrag, Zusammenstellung und Redaktion Ju.D.Sajtsew, Lwiw: »I. Krypjakewytsch«, Institut für Ukrainekunde der Nationalen Akademie der Wissenschaften (NAN) der Ukraine, 2008, S.45ff. Switlana Kyrytschenko. Menschen nicht vor Angst, S.203.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 151 Mitgliedschaft erklärt werden konnte. Das ist wohl auch der Grund, dass es den der Status eines »undeklarierten Mitgliedes« gab. Josyp Sisels erinnert sich wie folgt an diese Zeit: Das war eine Idee von Oksana Meschko. Im Laufe des Jahres 1978 traf ich mich oft mit ihr und übergab ihr einige Nachrichten über die Verletzung der Menschenrechte, insbesondere in der Psychiatrie. Noch im Frühling des Jahres 1978 schlug ich ihre Kandidatur für den Eintritt in die Helsinki-Gruppe vor, da faktisch alle ersten Mitglieder der Gruppe verhaftet worden waren. Nicht nur ich, wir alle, auch Mykola Horbal, Olga Heijko und ebenso Wolodja Malynkowytsch, gingen dann zu ihr. Sie zog aber alles hinaus und sagte: ›Wozu braucht ihr das denn? Man wird euch dafür verhaften.‹ Wir bestanden aber darauf und sagten, dass eine Nachfolge wichtig ist. Wenn Leute laufend eingesperrt werden, muss sich die Zusammensetzung ständig erneuern. Was bleibt uns sonst übrig? Da die Gruppe gegründet worden ist und die erste Zusammensetzung verhaftet wurde, müssen doch einige die Verhafteten ersetzen … Anschließend stellte sich heraus, dass sie uns trotzdem in die Gruppe aufnahm, uns aber sagte, wir wären undeklarierte Mitglieder. Es macht eigentlich keinen Sinn, da nur die deklarierte Mitgliedschaft für die Öffentlichkeit wichtig ist, vielleicht noch mehr als die konkrete Tätigkeit … Nach meiner ersten Verhaftung erreichte Sinowij Krasiwsky zuletzt jedoch, dass endlich allen dieser Status gegeben wurde, wenn er tatsächlich dabei sein wollte. Als ich Anfang Dezember 1978 verhaftet wurde, wurde zum ersten Mal bekannt, dass ich seit August Mitglied der Gruppe gewesen war. Das gilt nicht nur für mich, sondern auch für weitere neue Mitglieder.33

Dank der Erinnerung anderer erfuhren wir von einer ganzen Reihe weiterer Freiwilliger (Volontäre). So ist etwa die Liste der Frauen, die uns unterstützten und die Wira Lisowa in ihrem Artikel34 erwähnte, einfach beeindruckend. Sie alle schufen um uns eine zweite und besonders wichtige Staffel. So wäre es ungerecht, diese Staffel als weniger verdient oder nicht so ehrenvoll zu betrachten. Da dieses Buch keine wissenschaftliche Abhandlung über die Gruppe ist, sondern ein Erinnerungsbuch, werde ich keine weitere und vollständige Untersuchung durchführen, wie neue Mitglieder in mehreren Wellen der Gruppe beitraten. Insgesamt waren es 41. Ich beschränke mich hier auf die Zeit bis zu meiner eigenen Verhaftung. Nun die Liste derer, die nach den ersten Verhaftungen am 5. Februar 1977 beitraten:

33 34

Josyp Sisels. Wenn nicht jetzt …: Artikel, Interviews, Vorträge. Kyjiw: Dukh i Litera, 2006, S.50. Wira Lisowa. Die Siebzigerinnen. Zona, Nr.12, 197, S.11.

14. Mai 1977

Juni 1977

3. Oktober 1977

25. Oktober 1977

1977

26. Februar 1978 30. April 1978 Juni 1978

August 1978

Oktober 1978

Oktober 1978

November 1978

12

13

14

15

16

17 18 19

20

21

22

23

11

Zeitpunkt des Eintrittes 6. Februar 1977

Nr.

Melnyk, Mychajlo Spyrydnowytsch

Malynkowytsch, Wolodymyr Dmytrowytsch Switlytschna, Nadja Oleksijiwna

Sisels, Josyp Samujlowytsch

Pljuschtsch, Leonid Iwanowytsch Sitschko, Wasyl Petrowytsch Sitschko, Petro Wasyljowytsch Lytwyn, Jurij Tymonowytsch

Kalynytschenko, Witalij Wasyljowytsch Strilziw, Wasyl Stepanowytsch

Heijko Matusewytsch, Olga Dmytriwna Horbal, Mykola Andrijowytsch

Name, Vorname und Vatersname Wins, Petro Heorhijowytsch

ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 152

Freiheitsentzug am 23. Oktober 1979; einen Tag vor der Entlassung, am 22. Oktober 1984, erneut in Haft bis 5. Mai 1987 Ausländischer Vertreter der UHG, aus der UdSSR ausgewiesen im Januar 1976 Freiheitsentzug am 5. Juli 1979 bis 7. Juli 1985 Freiheitsentzug am 5. Juli 1979 bis 26. März 1985 Freiheitsentzug am 6. August 1979; erneute Verurteilung am 24. Juni 1982; starb im Lager am 5. September 1984 Freiheitsentzug vom 8. Dezember 1978 bis Dezember 1981; erneute Verhaftung und Haft am 19. Oktober 1984 bis Oktober 1987 Unter Androhung der Verhaftung reiste er am 1. Januar 1980 nach Deutschland aus; gewisse Zeit ausländischer Vertreter der UHG Am 12. Oktober 1978 aus der UdSSR ausgewiesen; ausländische Vertreterin der UHG Unter Androhung der Verhaftung schied er in der Nacht zum 10. März 1979 aus dem Leben

Eine Reihe kurzzeitiger Verhaftungen vom 8. Dezember 1977 bis 15. Februar 1979 Freiheitsentzug am 12. März 1980; zum Zeitpunkt der Freilassung am 12. März 1983 erneut verhaftet bis zum 12. März 1986 Freiheitsentzug am 23. Oktober 1979; am Tag der Freilassung, dem 23. Oktober 1984, erneut verhaftet bis 23. August 1988 Freiheitsentzug am 29. November 1979 bis 18. April 1988

Strafe für die Teilnahme an der Ukrainischen Helsinki-Gruppe (UHG)

DER

18. November 1978

3. Februar 1979

Februar 1979

Februar 1979

Februar 1979 Februar 1979

Februar 1979 Februar 1979

Februar 1979

22. Mai 1979

Oktober 1979

Oktober 1979

Oktober 1979

Oktober 1979

24

25

26

27

28 29

30 31

32

33

34

35

36

37

Sokulsky, Iwan Hryhorowytsch

Krasiwsky, Senowij Mychajlowytsch Lesiw, Jaroslaw Wasyljowytsch

Karawansky, Swjatoslaw Josypowytsch Schabatura, Stefanija Mychajliwna Rebryk, Bogdan Wasyljowytsch Priester Romanjuk, Wasyl Omeljanowytsch Senyk, Iryna Mychajliwna Schumuk, Danylo Lawrentijowytsch Schuchewytsch (Beresynsky), Jurij Romanowytsch Tschornowil, Wjatscheslaw Maksymowytsch Stus, Wasyl Semenowytsch

Owsijenko, Wasyl Wasyljowytsch Popowytsch, Oksana Senoniwna

ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 153

Freiheitsentzug am 15. November 1979; am Tag des Ablaufs der Frist, am 15. November 1981, erneut verurteilt bis 1986 Freiheitsentzug am 11. April 1980 bis 2. August 1988

Zum Mitglied der UHG in der Haft erklärt, freigelassen 17. August 1983 Zum Mitglied der UHG in der Haft erklärt, freigelassen am 4. Januar 1987 Zum Mitglied der UHG in der Haft erklärt, freigelassen am 21. November 1989 Zum Mitglied der UHG in der Verbannung erklärt; freigelassen 1983 ohne Rückkehrrecht in die Ukraine (kam erst 1985 zurück) Freiheitsentzug am 14. März 1980; starb im Konzentrationslager in der Nacht zum 4. September 1985 Freiheitsentzug am 12. März 1980 bis November 1985

Zum Mitglied der UHG in der Haft erklärt; freigelassen am 2. Oktober 1987 Zum Mitglied der UHG in der Haft erklärt; ausgewiesen aus der UdSSR am 13. November 1979 Zum Mitglied der UHG in der Haft erklärt, freigelassen am 2. Dezember 979 Zum Mitglied der UHG in der Haft erklärt, freigelassen 1984 Zum Mitglied der UHG in der Haft erklärt, freigelassen 1981

Freiheitsentzug am 8. Februar 1979 bis 21. August 1988

DER

Oktober 1979

November 1982

Oktober 1983

1985

38

39

40

41

Horyn, Mychajlo Mykolajowytsch Martschenko, Walerij Weniaminowytsch Ruban, Petro Wasyljowytsch

Rosumny, Petro Pawlowytsch

154 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STAC

Zum Mitglied der UHG in der Haft erklärt; starb am 7. Oktober 1984 im Gefängniskrankenhaus Zum Mitglied der UHG in der Haft erklärt; freigelassen am 25. Mai 1988 und aus der UdSSR ausgewiesen

Freiheitsentzug am 8. November 1979 für drei Jahre; freigelassen im Dezember 1982 Zum Mitglied der UHG in der Haft erklärt; freigelassen am 2. Juli 1987

155 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT

Ich möchte die Leser vor einem merkwürdigen Anachronismus bewahren, wenn bestimmte Gesetzmäßigkeiten der heutigen auf eine vergangene Zeit übertragen werden. Die Entscheidung, der Gruppe beizutreten, wurde von einigen Personen manchmal unter den Bedingungen einer Verfolgung oder sogar im Gefängnis getroffen. Sie hatten längst nicht immer die Möglichkeit, einen formalen Antrag zu schreiben oder ihre Mitgliedschaft mit dem Leiter der Gruppe abzustimmen (umso mehr, wenn sie bereits im Lager waren oder bei Oksana Meschko, die in Kyjiw war). Die Bemerkung von Oksana Jakiwna im Brief an Petro Hryhorenko muss mit der nötigen Ruhe aufgenommen werden: »Die Liste neuer Mitglieder, die veröffentlicht wurde, macht unterdessen keinen Sinn. Wir setzten doch keinen Schlusspunkt.«35 Die Mitglieder der Gruppe hatten kein Internet, E-Mail oder Fax. Es war bereits ein unvorstellbares Glück, eine Schreibmaschine zur Verfügung zu haben. Die Telefongespräche wurden abgehört. Jeder Entschluss, in die Gruppe einzutreten, war für die meisten ein Akt der Aufopferung, verbunden nicht nur mit einem persönlichen Verlust, sondern auch mit Gefahr für das ganze Umfeld. Mit anderen Worten: Der Entschluss sollte nicht mit dem Gewicht von Gold aufgewogen werden, sondern mit dem Preis des eigenen Blutes. Wenn jemand in die Gruppe eintrat, übernahm die Person freiwillig die Verantwortung für alle Dokumente, selbst wenn er an deren Entstehung nicht beteiligt gewesen war. Wenn ein Name unter den Dokumenten der Gruppe fehlte, bedeutete das überhaupt nicht, dass die Person kein Mitglied der Gruppe war oder dem Inhalt eines Dokumentes nicht zustimmte. Man sollte sich deshalb eher wundern, wie die Ukrainische Helsinki-Gruppe unter diesen schrecklichen Bedingungen überhaupt existieren konnte. Ljudmyla Aleksejewa, Mitglied der Moskauer Helsinki-Gruppe und eine selbstlose Menschenrechtlerin, unterstrich stets, dass sie und ihre Kollegen die Mitgliedschaft in

35

Ich gebe nicht nach! Zum 100-jährigen Geburtstag von Oksana Jakiwna Meschko, S.178.

156 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT der UHG als einen Kamikaze-Akt empfanden und zu einem unvermeidlichen Opfer bereit waren. Dieselbe Gefahr eines Anachronismus lauerte auch dann auf uns, wenn wir uns in die Dokumente der Gruppe vertieften. Sie dürfen nicht mit den Augen eines heutigen wissenschaftlichen Mitarbeiters oder Politikers gelesen werden. Damals war jedes Wort, das erwähnt wurde, mit Blut geschrieben. Jede Notiz, die jemand auf dem Schreibtisch zurückließ, wurde geheim durch Mitarbeiter des KGB durchgesehen oder sie wurden bei der Durchsuchung beschlagnahmt. Die Erwähnung einer jeden Person in den Papieren war ein Grund, sie zum Verhör beim KGB zu bestellen. Selbst ein belangloser Besuch oder die Begegnung mit einem Menschen auf der Straße führten automatisch dazu, dass die Person in die Liste der Verdächtigen des KGB aufgenommen wurde. Damit musste nicht nur auf das eigene Schicksal, sondern auch auf das Schicksal anderer geachtet werden. Es gab natürlich den Ausweg, alles einfach nur im eigenen Gedächtnis zu behalten. Ich persönlich hatte schon von der Jugend an und bis heute ein schwaches Gedächtnis für Namen, Daten und Gesichter. Ich höre jemandem zwar zu, aber nach einer Woche habe ich den Inhalt bereits vergessen. Deshalb ist es für mich auch eine Katastrophe, wenn ich mir keine Notizen machen kann. Zahlreiche Fehler, die Fakten betreffen und in den Unterlagen der Dissidenten erscheinen, sind der Beweis dafür, dass andere ähnliche Probleme hatten. So liegen die Bedeutung und der historische Wert der Dokumente nicht so sehr in ihrer intellektuellen Brillanz als in ihrer Wirkung; das heißt in der Tatsache, dass sie im passenden historischen Moment bekannt wurden. Das geschriebene Wort der HelsinkiGruppen löste jedes Schweigen auf, das den Anschein erwecken konnte, alles sei in Ordnung. Deshalb war jedes Wort explosiv. Sein historischer Wert liegt nicht so sehr in seiner dokumentarischen Gründlichkeit, die unter den damaligen Bedingungen schwer zu erreichen war, sondern darin, womit jedes einzelne Wort bezahlt wurde. Das erste offizielle Dokument der Ukrainischen HelsinkiGruppe war selbstverständlich die Deklaration, die Mykola

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 157 Rudenko schrieb. Noch heute ist sie für mich völlig einwandfrei. Hier die Ziele, die sich die Gruppe setzte: 1.

2.

3.

4.

Dieses Dokument ist ein Aufruf an weitere Kreise der ukrainischen Öffentlichkeit, die Deklaration der Menschenrechte zu unterstützen. Unser Ziel ist es, dass die rechtlichen Beziehungen zwischen Bürger und Staat international als Hauptdokument anerkannt werden. Überzeugt davon, dass Friede zwischen den Völkern ohne freien Kontakt von Mensch zu Mensch und ohne freien Nachrichten- und Gedankenaustausch nicht gesichert werden kann, unterstützen wir die humanitären Artikel der Schlussakte der Konferenz über Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Unser Ziel ist es, dass auf allen internationalen Konferenzen, in denen die Ergebnisse des Zustands der Einhaltung der Helsinki-Vereinbarungen erörtert werden, die Ukraine als souveräner europäischer Staat und Mitglied der UNO durch eine eigene Delegation vertreten ist. Mit dem Ziel des freien Nachrichten- und Gedankenaustausches ist die Akkreditierung von Vertretern der ausländischen Presse in der Ukraine und die Einrichtung unabhängiger Presseagenturen und dergleichen anzustreben.

Auf die so formulierten Ziele dieser Erklärung müsste heute noch jede gesellschaftliche Organisation stolz sein, auch wenn die Ukraine unterdessen formell ein unabhängiger Staat wurde. Leser, die etwas zu bemängeln haben, werden noch bemerken, dass die ideologische Hauptachse des Dokuments der Schutz der Menschenrechte war. In unserer Deklaration griffen wir weder die Frage nach der politischen Ordnung der Sowjetunion noch der Notwendigkeit eines Sturzes der Sowjetordnung auf. Für viele Persönlichkeiten der Bewegung, die uns unterstützten, war dies die wesentliche ideologische Schwäche der Ukrainischen HelsinkiGruppe. In den 1990er-Jahren spielte mir Nadijka Switlytschna einmal eine Tonaufzeichnung eines Auftrittes von Jaroslaw Stezko vor, des damaligen Vorsitzenden der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), in der er die Dissidenten für ihre damalige

158 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Begrenztheit ihrer Forderungen vernichtend kritisierte und die Ukrainer aufrief, ihnen nicht zu vertrauen. Die damalige Gruppe war jedoch stets bestrebt, legal zu handeln. Ihr Mandat hatte einen bürgerrechtlichen und keinen politischen Charakter. In der Deklaration und den weiteren Dokumenten ist deutlich festgelegt, dass wir auf konkrete Verletzungen der Menschenrechte hinweisen. Der Schluss der Unzulässigkeit des Sowjetsystems drängte sich aber von selbst auf. Als wir z. B. schrieben, dass entgegen den Artikeln der allgemeinen Deklaration der Menschenrechte oder der Helsinki-Vereinbarungen über die Freiheit der Menschen, den freien Verkehr von Gedanken oder Nachrichten in der Sowjetunion ein ukrainischer Schriftsteller ins Gefängnis musste und seine Werke nur im Westen veröffentlicht werden konnten, wird deutlich, dass es in unserem Land ein totalitäres System gab, das bekämpft werden musste. Der Eindruck einer ideologischen Minderwertigkeit der Dokumente der Gruppe spielte uns aus Sicht der üblichen nationalistischen Doktrin nicht nur einmal einen bösen Scherz. Um dies zu beschreiben, muss ich die chronologischen Markierungen durchbrechen und über einen Moment aus der Zeit der Untersuchung meines Kriminalfalls erzählen. Im Memorandum der UHG Nr. 5 gab es einen Satz, der für uns grundsätzlich wichtig war: »Wir schaffen keine Illegalität und haben nicht die Absicht, die sowjetische Ordnung zu stürzen.« Dieser Satz sollte klarstellen, dass unsere Gruppe eine bürgerrechtliche und keine politische Initiative war. Es liefen damals bereits die Ermittlungen in der Sache Mykola Rudenko und Oleksa Tychy. Die Feststellung in unseren Dokumenten, was die rechtliche Grundlage unserer Tätigkeit betraf, könnte unseren Freunden indirekt zur Hilfe werden. Das Dokument war in die USA gelangt, wo es zur Veröffentlichung in der Zeitung der ukrainischen Diaspora »Swoboda« (»Freiheit«) bereitgestellt wurde. Ich nehme an, dass die Redakteure, als sie auf diesen gewissen Satz stießen, ihn für einen Druckfehler hielten. Wie sonst wäre es möglich gewesen, dass die Dissidenten, die im Westen als Kämpfer gegen das Sowjetsystem wahrgenommen wurden, nicht die Absicht hätten, es zu stürzen! Und

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 159 siehe da, mein Ermittler Oleksandr Beresa zeigte mir das »Beweisstück« meiner verbrecherischen Tätigkeit: einen Auszug aus der Zeitung »Swoboda« (»Freiheit«) mit den Worten: »Wir schaffen keine Illegalität, was zeigt, dass wir beabsichtigen, die Sowjetordnung zu stürzen.« In diesem Passus wurde nur das Wort »nicht« weggelassen. Es war klar, ohne dieses Wort veränderte sich der Sinn des Satzes völlig. (Ich würde sogar sagen: verlor ganz seinen Sinn.) Der Ermittler erhielt damit ein wichtiges Argument: »Hier ist der Beweis, dass Sie gegen die sowjetische Ordnung aufgetreten sind!« Nur ein einziges Wort fehlte, doch die damit verbundene Veränderung des Sinns und entsprechend die rechtlichen Folgen dieser falschen Korrektur waren gewaltig. Zweifelsohne übertreibe ich nicht die Bedeutung des Falles für unser konkretes Schicksal. Er beeinflusste die Rhetorik der Ermittlung, jedoch nicht den Charakter und das Maß des Urteils. Es war für uns auch wichtig, dass die Helsinki-Gruppen in der ehemaligen Sowjetunion der erste Versuch waren, nicht einfach nur im Untergrund zu handeln. Es gab nun eine schriftliche Erklärung unserer Grundsätze und Ziele. Diese selbstbewusste Bereitschaft, der Macht offen die Stirn zu bieten, beeindruckte mich sehr. Dass unsere herrschende Macht auf eine offene Form des Protestes nicht vorbereitet war, vergrößerte zwar unser Risiko, veränderte aber unsere moralische Position in keiner Weise. Die damalige Situation erforderte Leute, die bereit waren, ihr Recht im realen Leben einzufordern und aufzuzeigen, wie unfähig unsere Staatsmacht war, dieses zu garantieren. Die Unterzeichner der Deklaration waren eine Art »kollektiver Lackmustest«, ohne den es nicht möglich gewesen wäre, den »Säuregrad« der sowjetischen Ordnung festzustellen. Diese Schlussfolgerung wurde auch durch Mykola Matusewytsch bestätigt: Die Helsinki-Gruppe nahm ich zunächst nicht als eine Bewegung ernst, die tatsächlich fähig war, etwas in dieser Welt zu verändern … Den größten Sinn in der Gründung der Gruppe sah ich in einer sehr einfachen Sache: In ihrer demonstrativen und öffentlichen Erklärung: ›Wir haben vor euch

160 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT keine Angst.‹ Das ist bereits alles. Wir waren einfach müde, uns nur fürchten zu müssen.36

Es lohnt sich, weiter zu präzisieren: Unsere Gruppe war nur einer der frühen Versuche, offen zu handeln. Vom formalen Standpunkt her war es der erste Versuch, in der Ukraine eine Bürgerrechtsorganisation zu bilden, die Gründung eines Bürgerkomitees für den Schutz von Nina Strokata im Dezember 1971, zu dem auch Wasyl Stus, Leonid Tymtschuk, Petro Jakir und Wjatscheslaw Tschornowil gehörten. Das Komitee konnte aber damals seine Arbeit nicht aufnehmen, da alle Mitglieder im Januar 1972 schon nach etwas mehr als zehn Tagen verhaftet worden waren. So entstand in der Erinnerung der Mitglieder der Helsinki-Gruppe die Meinung, unsere Gruppe wäre die erste gewesen, die wirklich aktiv wurde. So sagte etwa Oksana Meschko: »Es war ein besonderer Kampf: der erste legale Kampf in unserer Geschichte.«37 Die Tatsache, dass ich die Deklaration der UHG in die englische Sprache übersetzte, vergaß ich beinahe. Das Urteil, in dem mir die Menschenrechtsarbeit als Verbrechen zur Last gelegt wurde, erinnerte mich schließlich daran und Mykola Rudenko bestätigte es: Er [Myroslaw] beherrschte die englische Sprache und übersetzte unsere Deklaration in die Sprache von Walt Whitman, damit unsere amerikanischen Freunde zusammen mit dem Original auch die englische Variante der Deklaration erhalten konnten. Das versetzte sie dermaßen in Erstaunen, dass dieses Detail sogar in den Rundfunksendern erwähnt wurde.38

Dennoch sollte die Bedeutung der Tatsache nicht übertrieben werden. Ich kann mich nur wundern, wie kläglich meine Übersetzung war, wenn ich mein damaliges Niveau der Beherrschung der englischen Sprache in Betracht ziehe. Für das KGB hatte sie nur deshalb einen Wert, weil die Verbreitung des Dokumentes der Beweis für meine »feindliche Absicht« war.

36

37 38

Mykola Matusewytsch: »Ich gewann den Zweikampf mit den KGBlern, weil ich die Angst besiegte.« (Interview von Wasyl Schkljar mit M. Matusewytsch). Molod Ukrainy, Nr. 126 (17462) v. 6.11.1996, S.3. Ich gebe nicht nach! Zum 100-jährigen Geburtstag von Oksana Jakiwna Meschko, S.288. Mykola Rudenko. Das größte Wunder – das Leben, S.435.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 161 Die Haupttätigkeit der Gruppe bestand im Monitoring der Einhaltung der Helsinki-Vereinbarungen, d. h. im Schreiben von Memoranden für die Nachrichten über die Verletzung der Helsinki-Vereinbarungen in der Ukraine. Sie ermöglichte sich einen Überblick über die Verletzung der Rechte zu verschaffen; so etwa in Nr. 1 oder beispielsweise in Nr. 3 im Fall von Josyp Terelja, in Nr. 8. zu Wira Lisowa und in Nr. 11 zu Nadja Switlytschna. Die Gruppe sandte die Dokumente an alle Mitgliedsländer der Helsinki-Konferenz, die sich durch ihre aktive Verteidigung der Menschenrechte hervortaten – vor allem die USA, Kanada, Großbritannien und die BRD. Die ausländischen Diplomaten und Journalisten in Moskau waren dabei unsere Mittelspersonen. Dank den Rundfunksendern »Swoboda«, »Stimme Amerikas«, »BBC« und »Deutsche Welle« verbreitete sich die Nachricht über die Bildung der Ukrainischen Helsinki-Gruppe sehr rasch. Im Westen wurde zunächst angenommen, es wäre eine ukrainische Filiale der Moskauer Gruppe gegründet worden. In diesem Zusammenhang möchte ich zweimal Mykola Rudenko zitieren. Zum Beginn beziehe ich mich auf seinen offenen Brief »An alle Menschen guten Willens«: In den Nachrichten über die Gründung unserer Gruppe tauchte die Nachricht auf, wir wären eine ›Unterabteilung‹ der Moskauer Gruppe zur Förderung der Erfüllung der Helsinki-Vereinbarungen. Das stimmt aber so nicht. Unsere Beziehung gründete auf Freundschaft und Zusammenarbeit, nicht auf Unterordnung.

Später erläuterte er in einem Interview die Situation so: Da es in Kyjiw keine ausländischen Vertretungen und Journalisten gab, übernahm P. Hryhorenko die Rolle des ›Verbindungsmanns‹ zur Moskauer Gruppe, deren Mitglied er war, und auch gegenüber der ganzen Welt. Er ›vertonte‹ sofort alle unsere Materialien. Nebenbei gesagt: Am Anfang war die Nachricht im Umlauf, in der Ukraine wäre eine Filiale der Moskauer Gruppe gebildet worden. Das kommt aus dem westlichen Stereotyp unserer Zweitrangigkeit. Die Moskauer Gruppe hat das Missverständnis jedoch

162 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT sofort dementiert. Wir traten von Beginn an als eine selbstständige Kraft im Blick auf eine zukünftige Unabhängigkeit auf.39

Danach traten sowohl die Ukrainische Helsinki-Gruppe als auch alle anderen neu gegründeten nationalen Helsinki-Gruppen als völlig eigenständige Gruppen auf: die Litauische (25. November 1976), die Georgische (14. Januar 1977) und die Armenische (1. April 1977). Alle waren selbstständig, auch hinsichtlich ihrer Entscheidungen. Kein Moskauer mischte sich je in unsere Belange ein. Das heißt aber nicht, dass die Moskauer eindeutig alles billigten. So maß aus Sicht mancher Moskauer Dissidenten die Ukrainische HelsinkiGruppe dem nationalen Element eine zu große Aufmerksamkeit bei, was der ausschließlich demokratischen Natur der Helsinki-Bewegung schaden würde. Über gewisse Reibungen mit den Moskauer Dissidenten schrieb später Oksana Meschko an Petro Hryhorenko. Ich muss aber eingestehen, dass es verwunderlich gewesen wäre, wäre es anders gewesen: Die Gruppe hat Gründe, unzufrieden zu sein, und ich bin verpflichtet, darüber zu schreiben. Ich sage das aber nicht, um zu streiten, sondern zur Stärkung und Einigkeit. Wenn es um die Gruppe geht, gibt es keinen Unfrieden, keine Vorwürfe und Streitereien. Das ist auch meine Absicht und Taktik, Petro Hryhorowytsch, ich weise deshalb alles Kleinliche und Persönliche ab.40

Es war faktisch eine imperiale Überzeugung, die hinter der demokratischen Fassade mancher russischen Dissidenten stand. Dies bezeugte später auch Josyp Sisels: Selbst in den Dissidentenzeiten sah ich, wie imperial die russischen Dissidenten eingestellt waren. Sie waren gegen die konkrete Sowjetmacht, aber zugleich für die Erhaltung des Imperiums und darüber wurde nie diskutiert. Der Zerfall des Imperiums war für uns ein Glücksfall; ich denke dabei vor allem an unsere Dissidenten in den nationalen Grenzgebieten: den georgischen, litauischen und ukrainischen, zu der ich selbst gehöre. Wir 39 40

Durchbruch zum Willen (Mykola Rudenko über Petro Hryhorenko) (hattp:// museum.khpg.org/1204008234). Ich gebe nicht nach! Zum 100-jährigen Geburtstag von Oksana Jakiwna Meschko, S.179.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 163 kämpften aber nicht für den Zerfall des Imperiums. Für die Mehrzahl der Russen, einschließlich der Intelligenz und der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen, war der Zerfall eine Tragödie, wie auch Putin sagte.41

Wie dem auch sei: Die russischen Bürgerrechtler konnten uns Mitglieder der UHG dennoch überzeugen, die nationale Sache an zweite Stelle zu setzen, und ihre Ermahnung führte nie zu einer direkten Einmischung oder zu irgendwelchen Ultimaten. Obwohl wir völlig unabhängig in den Fragen des Inhalts unserer Dokumente waren, waren wir nie unabhängig bei der Verbreitung in den Westen. Für uns war die Hilfe der Mitglieder der Moskauer Helsinki-Gruppe unschätzbar wichtig. Denn sie zeigten damals ihre höchste Treue zur Demokratie: Selbst, wenn sie glaubten, das Engagement der ukrainischen Mitglieder der HelsinkiGruppe in der nationalen Sache sei übertrieben und schade den ausschließlich demokratischen Ideen, unternahmen sie nie den Versuch, unsere Kontakte mit ausländischen Vertretern zu unterbinden. Mir jedenfalls ist nichts darüber bekannt.42 Im Gegenteil: Sie taten alles, um den Kontakt herzustellen und stellten dabei ihre Wohnungen für diese Treffen und für Pressekonferenzen zur Verfügung. So muss ohne den geringsten Zweifel gesagt werden: Ohne ihre Hilfe hätten die »nationalen« Helsinki-Gruppen nie funktioniert. Außerdem stellten sie den Familienmitgliedern der Verfolgten ihre Wohnungen für Aufenthalte zur Verfügung, wenn sie via Moskau zu ihren Nächsten und Verwandten fuhren, die sich in Lagern befanden. Auf diesem Weg kam auch die Hilfe der Solschenizyn-Stiftung zu den Familien der Inhaftierten. Dafür gehört den Moskauer Dissidenten bis heute alle Ehre und unser Dank. In der Zeit, als ich in der Gruppe war, verfassten wir elf Memoranden. Heute sind sie alle im Internet abrufbar und so will ich den Inhalt der Dokumente nicht nacherzählen, sondern die 41 42

Josyp Sisels. »Donbas« – Das ist unser Gaza-Streifen (http://web.archive.org/ web/20150625174352/http://glavcom.ua./articles/25908.html). Wie Oksana Meschko bezeugt, sind unsere Materialien nicht immer in den Westen gelangt. Dahinter steckt auch kein böser Wille der Moskauer, da die Umstände der Übermittlung mitunter sehr ungünstig waren, und bestimmte Materialien aus verschiedenen Gründen im Westen nicht veröffentlicht werden konnten.

164 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Umstände der Abfassung so beschreiben, wie sie mir im Gedächtnis geblieben sind. Memorandum Nr. 1 wurde durch Mykola Rudenko im November und Dezember 1976 vorbereitet. Mykola Danylowytsch arbeitete sehr gründlich bei der Verfassung und war sich seiner Verantwortung bewusst. Ich habe immer noch den Tisch vor Augen, an dem er in seiner Wohnung in Koncha-Zaspa saß. Ich war sehr beeindruckt von seiner Solidität und Reife. Er saß am Tisch und las Mykola Matusewytsch und mir sein Gedicht »Kreuz« vor, das dem Thema des Holodomor gewidmet war. Er besprach mit uns auch den Text des erwähnten Memorandums. An diesem Tisch empfing er alle seine Besucher, die es nach der Gründung der Gruppe gemäß den Worten von Rudenko zu ihm zog: Meine Wohnung in Koncha-Zaspa war immer sehr belebt, da es viele Verwandte der politischen Häftlinge zu uns zog. Sie brachten uns genaue Nachrichten über ihre Väter, Ehemänner und Kinder, die aus politischen Motiven verfolgt wurden. Bald stellten wir auch eine fast vollständige Liste der Verfolgten zusammen.43

Das Problem der Urheberschaft der Dokumente der Gruppe besprachen wir dann einmal besonders mit Rudenko während eines Waldspazierganges in Koncha-Zaspa. Wir kamen überein, dass wir im Falle einer Verhaftung und einer Ermittlung aussagen werden, da wir keine illegale Gruppe sind und in der Sache nichts Antistaatliches erblicken. In allem anderem würden aber alle nur von sich sprechen. Zudem würden alle ihre Beteiligung an sämtlichen Dokumenten erklären, damit die »Schuld« nicht auf jemanden allein fällt. Ich prägte mir die Verabredung tief ein und sie war auch die Grundlage meines Verhaltens in der Zeit der Ermittlung. Diese Tatsache war uns sehr wichtig. Oksana Jakiwna erinnerte sich später an die Überzeugung Rudenkos, dass die Mitglieder der Gruppe nicht verhaftet würden.44 Nun ja, das mag so gewesen sein, dass er darauf hoffte, nicht verhaftet zu werden und dafür sorgte, keine formalen Gründe für die Inhaftierung zu geben. 43 44

Mykola Rudenko. Das größte Wunder – das Leben, S.434. Wasyl Owsijenko. Kosakenmutter (Oksana Meschko) (http://archive.khpg.org /index. Php?id=1121792907).

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 165 Meine Erinnerung an die Gespräche belegen zumindest aber, dass auch er sich auf die Verhaftung psychisch vorbereitete. Nach der Verfassung der Deklaration und des Memorandums Nr. 1 stand die Frage über die Verbreitung der Dokumente an. Es versteht sich, dass wir alle sehr daran interessiert waren. Natürlich würden es dann die ausländischen Rundfunksender und die Presse befördern. Bereits am 17. November 1976 wurde nämlich in Washington auf Initiative von Osyp Sinkewytsch, der damals den Nachrichtendienst »Smoloskyp« (»Fackel«) leitete, zur Unterstützung der Gruppe das Komitee der Helsinki-Garantien für die Ukraine gegründet. Auf ihm ruhte schließlich der Löwenanteil der Verfassung und Verbreitung der Nachrichten. Im Oktober 1978 wurde in den USA auch eine Auslandsvertretung der UHG aufgebaut (mit Petro Hryhorenko, Nina Strokata und Nadija Switlytschna, denen sich später auch Leonid Pljuschtsch anschloss, der sich in Frankreich niederließ). Sie nahmen je einen Teil der Kommunikationsfunktion auf sich und engagierten sich für die Verteidigung der verfolgten oder bereits inhaftierten Bürgerrechtler und hielten die Verbindung zu den internationalen Organisationen aufrecht. Die Vertretung gab zudem das Monatsbulletin »Bote der Repressionen in der Ukraine« heraus, während der Verlag »Smoloskyp« (»Die Fackel«) unter Wasyl Symonenko die Materialien der UHG in ukrainischer und englischer Sprache verlegte. Wir in der Ukraine wollten aber einen Teil der Arbeit selbst machen. Wir verteilten deshalb unsere abgetippten Exemplare an unsere Verwandten und Freunde. Später wurden wir meistens deswegen verhaftet und es wurde als »Beweismittel« für unser Urteil benutzt. Wie wir später aus den Gerichtsunterlagen entnehmen konnten, war die Art der Verbreitung der Dokumente der Gruppe mit vielen großen Verletzungen menschlicher Schicksale verbunden. Ich erwähne hier nur das Schicksal meines Verwandten Borys Marynowytsch, dem ich im April auf der Straße je ein Exemplar unserer Deklaration und des Memorandums Nr. 11 gab, damit er sie kennenlernen konnte. Die Mitarbeiter des KGB erfassten diesen Moment. Am Tag meiner Verhaftung erteilten sie Borys dann eine aufschlussreiche und dramatische »Lehre«. Wie die Moskauer »Chronik der laufenden Ereignisse« berichtet, wurde er während

166 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT einer Touristenreise ins Ausland aus dem Zug geholt und zurück nach Kyjiw gebracht, wo er drei Tage hintereinander verhört wurde. So hatte er später große Probleme an seiner Arbeitsstelle. Auch seine Schwester Lida, die ihn vor dem Schlimmsten bewahren wollte, verurteilte schriftlich seine Taten. Ich erfuhr bereits in der Haft, was Lida bei dieser Gelegenheit alles erlitten hatte, war aber damals bereits nicht mehr so heftig verletzt. Deshalb reagierte ich im Brief an meine Verwandten am 13. Dezember 1978 mit den Worten: Schade, dass Lida sich ihre vorübergehende Schwäche so sehr zu Herzen nahm. Ich wäre ganz und gar undankbar, wenn in meiner Erinnerung ihre damaligen Worte alle mir immer wieder erwiesene Liebe und Güte zunichtemachen und mir erlauben würden, gleichgültig an ihrem gastfreundlichen Haus und ihrem Schicksal vorbeizugehen. ›Richtet nicht, so werdet ihr nicht gerichtet!‹ Möge diese christliche Weisheit Friede und Eintracht in unsere Herzen bringen.

Ebenfalls wichtig ist es, an eine Lektion des Lebens zu erinnern, die mir im Frühling 1977 Mychajlyna Chomiwna Kozjubynska erteilte. Als jüngstes Mitglied der Ukrainischen Helsinki-Gruppe wollte ich, wenn irgend möglich, weitere Leute in unsere oppositionelle Bewegung einbeziehen. In einem bestimmten Moment vernachlässigte ich aber das Recht eines Menschen, »sich nicht auf die Schießscharte werfen zu müssen«. Ich wollte damals die Unterschrift eines unserer gemeinsamen Bekannten als Unterstützung der Petition der Gruppe erhalten und tat es ziemlich taktlos. Durch mein unvorsichtiges Verhalten hätte der betroffene Mensch sehr leiden können. Niemals zuvor hatte ich Mychajlyna Chomiwna so zornig gesehen. Mich betreffend sagte sie sehr bestimmt: »Myroslaw, man muss nicht pauschal die ganze Menschheit lieben. Es reicht, wenn du den konkret vor dir stehenden Menschen liebst.« Das wurde mir zu einer wichtigen Lektion für mein ganzes Leben! Während der Vorbereitung des Memorandums Nr. 1 wurden zwei offene Briefe an den Westen gerichtet: Der Erste von Mykola Rudenko an alle Menschen guten Willens über die Beweggründe und Umstände der Gründung der UHG, datiert mit 14. November, und der Zweite von Oles Berdnyk an den Präsidenten der USA, Jimmy Carter, mit der Bitte, ihm politisches Asyl zu gewähren,

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 167 datiert mit 17. November. Es gingen damals auch einige selbstverlegte Materialien durch seine Hände, so etwa die Broschüre von Walentyn Turtschyn »Die Trägheit der Angst«45, dessen Titel ich mein ganzes Leben nie vergessen werde wegen der Präzision seiner Diagnose des Zustands der damaligen sowjetischen Gesellschaft; oder die »Nachrichten aus WS 389/37 …«, aus denen die Situation in den »Arbeitsstraflagern« ersichtlich wurde. Ende Januar erhielten wir von Lewko Lukjanenko den Artikel »Stoppt das UnrechtGericht!«; und wir vervielfältigten und verbreiteten ihn. Der Leiter unserer Gruppe bereitete damals auch das Arbeitsdokument Protokoll Nr. 1 vom 15. Dezember über die Aufteilung der Pflichten zwischen den Mitgliedern der Gruppe vor. Dieses Dokument war ein Abbild der Bestrebungen Mykola Rudenkos, der Welt aufzuzeigen, dass unsere Gruppe ihre Tätigkeit nicht versteckte, sondern ganz offen führte. Wir beide, Mykola Matusewytsch und ich, unterstützten dieses Protokoll, weil es für uns klar war, dass es uns dank unserer Jugend und Mobilität zufiel, zum »Nachrichtenkollegium« zu gehören. Lewko Lukjanenko hatte zudem einige gut begründete Bedenken über das Protokoll. Er richtete unsere Aufmerksamkeit auf die Befürchtung, dem KGB könnte das Dokument als Begründung der Qualifikation unserer Tätigkeit nach § 64 (Beteiligung an einer antisowjetischen Organisation) dienen und ihm die Möglichkeit geben, uns eine längere Haftzeit »aufzubrummen«. Auch Rudenko stimmte dieser Argumentation zu. Das Protokoll Nr. 1 wurde deshalb abgelehnt, was das KGB keineswegs hinderte, es während einer Durchsuchung in der Wohnung von Mykola Rudenko zu beschlagnahmen und den Materialien in unserem Verfahren als »Beweismittel« beizufügen. Die Eingebung von Lewko Lukjanenko stellte sich damit als richtig heraus. Bei einem Treffen mit seiner Frau Raisa am 4. Juli 1977 teilte ihr der damals bereits festgenommene Mykola Rudenko mit, dass ihm zuerst nicht nur »kriminelle Aktivitäten« nach Art. 62 des Strafgesetzbuches der Ukrainischen SSR (»Antisowjetische

45

Walentyn Turtschyn. Die Trägheit der Angst. Sozialismus und Totalitarismus. New York: Chronika, 1978, S.295 (http://www.ihst.ru/projects/sohist/papers/tur chin/content.htm).

168 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Agitation und Propaganda«) zur Last gelegt wurden, sondern auch nach Art. 64 (»Organisationstätigkeit zur Begehung besonders gefährlicher Staatsverbrechen sowie Beteiligung an einer antisowjetischen Organisation«). Später wurde diese Idee aber aufgegeben. Es ist mir nicht mehr bewusst, weshalb eine weitere Erklärung der UHG (zur Verfolgung von Petro Ruban) völlig getrennt von allen anderen dastand. Vermutlich war Ende 1976 die Vorstellung noch nicht geklärt, welche Form unsere Memoranden annehmen sollten. Deshalb trug das Dokument nur eine Bezeichnung als Nachricht: »Von der Ukrainischen Bürgergruppe zur Förderung der Einhaltung der Helsinki-Vereinbarungen«. In den ausländischen Rundfunksendern wurde dann eifrig die Geschichte über den Intarsienkünstler Petro Ruban diskutiert, der gerade verhaftet worden war, weil er als ehemaliger politischer Häftling »seine Schuld nicht erkannt hatte«. Er hatte zum 200. Jahrestag der USA für das amerikanische Volk ein Geschenk angefertigt: das Modell eines Buches aus Holz mit Intarsien. Das Buch wurde aber aus der Werkstatt gestohlen. Ruban wurde dann des Diebstahls von Materialien in der Möbelfabrik bezichtigt, wo er damals arbeitete und wurde zu acht Jahren Haft verurteilt. Lewko Lukjanenko schrieb dann zur Verteidigung des Künstlers den Artikel »Stoppt das Unrecht-Gericht!« Ende 1976 sprachen alle in der UdSSR über die Menschenrechte. Am 15. Dezember wurde die Freilassung von Luis Corvalán und seine Ankunft in der UdSSR verkündet. Alle Zuhörer ausländischer Radiosender erfuhren sofort, dass er gegen den russischen Dissidenten und politischen Häftling Wladimir Bukowski ausgetauscht worden war. Das Ereignis führte damals beinahe zum Höhepunkt der Kampagne für die Menschenrechte, die Jimmy Carter als Präsident der USA ausgelöst hatte. Es gibt dazu ein zerschmetterndes Scherzlied aus der Feder von Wadym Delone: Man tauschte einen Hooligan Gegen Luis Corvalán. Wo find’ man solch ’ne Hure, Um sie gegen Breschnew auszutauschen?

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 169 Die Sowjetpropaganda zierte sich aber, das politische »Austauschgeschäft« näher zu erläutern. Das Zugeständnis der UdSSR war aber deutlich. Doch das KGB wollte nicht einfach aufgeben und wir erfuhren es bald. Im Verlauf vom 23. bis 25. Dezember wurden vom Staatsanwalt von Moskau sanktionierte Durchsuchungen der Wohnungen von M. Rudenko, O. Berdnyk, L. Lukjanenko, O. Tychy und I. Kandyba durchgeführt. Die genauen Umstände und die Atmosphäre wurden später ausführlich in der Eingabe von Mykola Danylowytsch an den Staatsanwalt von Moskau beschrieben. Die Staatsanwaltschaft des Lenin-Rayons der Stadt Tschernowez hatte zudem für den 10. November eine Durchsuchung bei Josyp Sisels geplant, der dann einige Monate später Mitglied der Gruppe wurde. Schon damals arbeitete das KGB mit seiner typischen verlogenen Taktik. Während der Durchsuchung wurden auf dem Schreibtisch von Mykola Rudenko amerikanische Dollar und auf dem Schrank von Oles Berdnyk pornografische Postkarten platziert und dann »entdeckt«. In der Strafsache von Oleksij Tychy kursierte ein auf dem Dachboden beschlagnahmter, mit Lehm verschmierter alter deutscher Karabiner, von dem Tychy gar nichts wusste. Einige Zeit später wurden die Strafbestände (z. B. bei Wjatscheslaw Tschornowil, Mykola Horbal, Jaroslaw Lesiw und vielen anderen) auf Grundlage ähnlich unattraktiver Unternehmungen des KGB gefälscht. Josyp Sisels wurde wegen angeblicher Beteiligung an der Sache Morgulis durchsucht, der auch wegen Pornografie beschuldigt wurde. Einer der KGB-Mitarbeiter sagte später sehr treffend: »Wir konnten einfach nicht noch mehr zu Märtyrern [d. h. Menschen nach ausschließlich politischen Paragrafen – M. M.] als bisher machen.« Wie in den Dokumenten der Gruppe erwähnt wurde, unterstützten wir beide, Mykola Matusewytsch und ich, damals solidarisch den von Mykola und Raisa Rudenko erklärten Hungerstreik aus Protest gegen die totale Durchsuchung ihrer Wohnung. An die genauen Umstände des Hungerstreiks kann ich mich aber nicht mehr erinnern. Nach den Durchsuchungen veränderte sich die psychologische Stimmung in der Gruppe wie bereits erwähnt sehr. Es erstaunt

170 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT kaum, wenn wir ihre Folgen in Betracht ziehen. O. Berdnyk und M. Rudenko schrieben in einem Aufruf an den internationalen P.E.N.Club vom 5. Januar 1977: Fast das gesamte literarische Archiv wurde uns geraubt: Dutzende Notizbücher mit Gedanken zu neuen Werken, unvollendete Novellen und (futurologische) Romane, tausende Zeilen Poesie, die unmöglich wiederhergestellt werden können, und die philosophische Arbeit ›Gnosis und Gegenwart‹ [bei M. Rudenko]. Auch die Arbeiten ›Heilige Ukraine‹ und ›Alternative Evolution‹ und viele andere Werke von O. Berdnyk wurden beschlagnahmt.

Mit dem Werk »Heilige Ukraine«46 konnte ich mich noch vor der Beschlagnahmung vertraut machen und einzelne Gedankengänge länger in meinem Gedächtnis behalten. Heute können Forscher im Autor der »Heiligen Ukraine« leicht den späteren Anführer der Vereinigung »Ukrainische Geistige Republik« erkennen, die er Ende der 1980er- / Anfang der 1990er-Jahre anführte. Wie ich bereits schrieb, war Sorgfalt einer der Charakterzüge der Arbeit von Mykola Rudenko. Deshalb endeten die ersten Memoranden immer mit dem typischen Satz: »Das unterzeichnete Exemplar wird durch die Gruppe zu ihrer Förderung aufbewahrt.« Ich vermute, dass dieser Zusatz das KGB besonders reizte, da er nach einem Eingriff in das nur ihm zustehende Recht aussah. So musste nach allen Durchsuchungen bereits präzise vermerkt werden: »Das unterzeichnete Exemplar wird sorgfältig in der Ermittlungsabteilung des KGB aufbewahrt.« Kurz danach wurde noch eine andere öffentliche Erklärung im Namen der Gruppe veröffentlicht: ein Appel an die kommunistischen Parteien der USA und von Kanada über die drohende Verfolgung, die Jurij Orlow, Leiter der Moskauer Helsinki-Gruppe, und Oleksandr Ginsburg sowie Ljudmyla Aleksejewa, alles Aktivisten der Gruppe, bedrohte. Memorandum Nr. 2 und 3 waren mit dem 20., respektive dem 22. Januar 1977, datiert. Den Inhalt des Memorandums Nr. 2 hatten wir zuvor sorgfältig vorbereitet. Wir bemühten uns, Rudenko bei 46

Der Artikel »Heilige Ukraine« ist im gleichnamigen Buch auf S.13 enthalten (http://diasporiana.org.ua/wp-content/uploads/books/8089/file.pdf).

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 171 der Auswahl von Beispielen über den Zustand der Ungleichberechtigung des ukrainischen Volkes zu unterstützen. Wenn ich heute das Dokument lese, erkenne ich die Gedanken, die ich damals selbst auch offen aussprach. Heute vermeide ich alles zu sagen, da sich herausstellen könnte, dass es die Gedanken anderer gewesen sein könnten, die sich fest in mein Gedächtnis eingenistet haben. Das Memorandum Nr. 3 war besonders dem Schicksal von Josyp Terelja gewidmet, dem Leiter der »Initiativgruppe für den Schutz der Rechte der Gläubigen und der Kirche in der Ukraine« und ebenso der Verfolgung der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche und ihrer Gläubigen. Matusewytsch und ich trafen uns dazu einmal mit Josyp in unserer damals in Tatarka gemieteten Wohnung. Das Treffen hinterließ einen bedrückenden Eindruck. Wir alle waren unter Stress, da wir mit einem widersprüchlichen Gefühl in uns kämpften: Wie verhindern wir, dass wir in eine Unannehmlichkeit oder sogar in eine Provokation geraten – und wie schaden wir gleichzeitig damit nicht der Sache? Wie können wir gleichzeitig die vielen wichtigen Nachrichten doch sammeln und übermitteln? Von diesem Widerspruch geprägt, verhielten wir uns alle nicht so natürlich wie sonst, was zweifellos beiden Seiten auffallen musste und die gegenseitige Spannung verstärkte. Das war damals unser typischer psychischer Zustand unter den Bedingungen der notgedrungenen Konspiration. Josyp Terelja sah damals sehr merkwürdig aus, weil er bereits völlig bizarre Dinge erzählte, stark vermischt mit Mystik. Es musste immer zuerst herausgefiltert werden, ob das, was er gerade gesagt hatte, auch wirklich zutraf – und was er sich nach den unzähligen harten Verfolgungen, die er erlitten hatte, nur eingebildet hatte und so übertrieb. Es war für uns deshalb klar, dass im Text von Memorandum Nr. 3 nur allgemeine Feststellungen über die Verletzung der Menschenrechte erwähnt werden sollten, die es bei ihm auch wirklich gab. Die Beschreibung der konkreten Verfolgungen überließen wir so seinem Gewissen. Wir fügten dann dem Memorandum einfach noch seine persönliche Erklärung hinzu. Nach vielen Jahren erfuhr ich, dass auch die Väter im Vatikan ähnliche Zweifel hatten, als sie hörten, was Terelja ihnen erzählte, dem es gelang, in den Westen auszureisen. Zuvor war stets Josyp

172 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Terelja das Symbol der Verfolgung der Griechisch-Katholiken gewesen. Was Terelja erzählte, war manchmal so fantasievoll formuliert, dass ihm nicht ganz vertraut werden konnte. Nun ist es auch für mich daran zu erklären, warum meine Unterschrift und die von Matusewytsch unter einigen Dokumenten der Gruppe fehlten, besonders unter den Memoranden Nr. 2 und 3. Es war derselbe Grund: die psychische Situation in unserem Kreis. Ende Januar war die erste Euphorie nach der Gründung der Gruppe bereits verflogen. Alle spürten nun die Überwachung. Es wurde ihnen an der Arbeitsstelle gekündigt oder sie hatten andere Schwierigkeiten. Alle begriffen, dass wir unter einer äußert heftigen »Glocke«, d. h. Überwachung standen. Die massenhaften Durchsuchungen Ende 1976 und der Verlust wertvoller Dokumente stressten uns sehr. Es herrschte allgemein eine große Nervosität. Wir alle verstanden, dass wir früher oder später verhaftet werden, wussten aber nicht, wann genau. Das erzeugte eine große Anspannung, die unvermeidlich war. Wir alle waren damals wie von Sinnen. Wir verstanden nur allzu gut, dass das KGB nun seine ganze Aufmerksamkeit auf uns richtete, damit es uns seine Agenten schicken konnte. Es reichte schon, zu bemerken oder sich vorzustellen, dass sich gewisse Leute merkwürdig verhielten und der Verdacht blühte sofort auf. In dieser Hinsicht gab sich das KGB natürlich jede Mühe. So fanden wir es etwa komisch, als dann die »jüdische Karte« ausgespielt wurde, indem unter den Leuten Gerüchte in der Art verbreitet wurden: »Glaubt ihr wirklich, das ist eine ukrainische Gruppe? Wer ist denn alles in der Gruppe? Matusje-je-witsch, Marino-owitsch …« (Sie sprachen das mit einer betont karikierten jüdischen Betonung aus.) Und meine Nachbarn in Kalyniwka in der Nähe von Kyjiw, wo ich gerade wohnte, kannten mich als »kanadischen Spion«. Die Verantwortung für die extreme »Spiono-manie«, die sich unter Dissidenten zu verbreiten begann, lag nicht bei uns, sondern beim KGB, das alles unternahm, um das entsprechende Gefühl zu verstärken. Dies betrifft auch die Situation, deren Opfer Mykola Matusewytsch und ich gerade geworden waren. Im Januar kam Mykola Danylowytsch erneut aus Moskau zurück, wo er unsere Dokumente übergeben hatte. Er berichtete uns

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 173 über einige seiner Begegnungen. Mir fiel damals der Gedanke ein: Wir alle stehen zwar unter Gottes Gnade, aber beide, Mykola Danylowytsch und ich, werden dennoch irgendwann einmal verhaftet. Was sollen wir dann tun? Wir bleiben ganz sicher weiterhin Mitglieder der Gruppe, wissen aber nicht, wohin wir gehen und wohin wir unsere Dokumente übergeben sollen und was wir weiter tun müssen. Ich trat also zu Raisa Panasiwna in die Küche, teilte ihr meine Gedanken mit und rätselte: »Ich weiß nicht, wie ich mit Mykola Danylowytsch darüber reden kann, denn er ist manchmal so abweisend.« Sie vertrat dann die Meinung: »Am besten ist es, wenn du ihm einen Brief schreibst. Schick ihn aber nicht per Post, gib ihn mir. Ich werde ihm den Brief weitergeben. Ich mache das selbst häufig, wenn ich ihn von etwas überzeugen will. Selbst wenn er rebelliert, beruhigt er sich dann wieder.« Kaum war ich zu Hause, schrieb ich ihm einen Brief und stimmte ihn mit Mykola Matusewytsch ab. Der Inhalt war wie folgt: »Mykola Danylowytsch. Wir könnten bald verhaftet werden und müssen uns deshalb überlegen: Es wäre doch gut, mehr über unsere Partner in Moskau zu wissen? Zum Beispiel ihre Adressen.« Ich erinnere mich noch gut, ich verwendete unvorsichtigerweise die Worte: »Es wäre doch gut, mehr zu wissen, wie die ›Dissidentenküche‹ in Moskau funktioniert.« In Klammern natürlich, doch egal … So ließen wir ihm also den Brief zukommen. Mein Gott! Was ging dann los! Für Mykola Danylowytsch war völlig klar, was geschehen war: »Aha, die beiden wurden also doch extra in unsere Gruppe geschickt. Sie haben sich nur ein wenig bei uns umgesehen, gewannen unser Vertrauen und nun wollen sie von uns alle Adressen und Kontakte herausfinden.«47 Als Mykola und ich das nächste Mal zu Rudenko fuhren, erklärte er uns sehr strikt: »Ich setze euch in Kenntnis, dass ihr unter Verdacht steht. Ich werfe euch nicht aus der Gruppe, aber ich entferne nun eure Namen aus dem zweiten und dritten Memorandum. Denkt daran, von nun an werden wir alle eure Schritte sehr genau verfolgen. Egal, wohin ihr auch geht, wir werden alle vor euch warnen …« 47

Das Bedauerlichste daran war, dass das KGB diese Adressen und Kontakte bereits bestens kannte.

174 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Ich stürzte mich auf Raisa Panasiwna: »Ich habe doch alles genau so gemacht, wie du mir angeraten hast!« Sie sagte dann nur: »Ich weiß überhaupt nichts …« Mykola und ich waren völlig entgeistert. Es war offenbar nicht genug, dass wir jeden Tag mit unserer Verhaftung rechnen mussten. Nun mussten wir also auch das Misstrauen der eigenen Leute erdulden. Oksana Yakivna begann dann, uns zu verdächtigen, obwohl wir überhaupt nicht zu irgendwem nach irgendwo gegangen waren. All unsere ehrlichen Bemühungen konnten doch nicht umsonst gewesen sein! Es baute sich eine völlig logische Reihe auf. Von da an erschütterte mich die Logik des Verdachtes ganz: Selbst die unschuldigsten Dinge an uns hatten plötzlich einen besonderen Sinn und fügten sich wie die Teile eines »Puzzles« im bekannten Kinderspiel eng zu einem für sie völlig logischen Bild zusammen: Und die Hauptteile in diesem »Puzzle« waren für sie offenbar Mykola Matusewytsch und ich. Das ist die Geschichte der Streichung unserer Namen aus den Memoranden Nr. 2 und 3. Die Unterlagen zum Gerichtsurteil bezeugten später klar, dass das KGB während einer Durchsuchung bei Mykola Rudenko alle früheren und von uns unterzeichneten Varianten beider Memoranden beschlagnahmt hatte. Sie hatten also unsere Unterschriften bemerkt und das wurde uns nun im Gericht zur Last gelegt. Um unsere Unterschriften als eine völlig bewiesene Tatsache ging es auch in den Gerichtsunterlagen von M. Rudenko und O. Tychy.48 Heute weiß ich nicht mehr, ob wir uns nach unserer Verhaftung je noch einmal mit Mykola Danylowytsch, Raisa Panasiwna und Oksana Jakiwna trafen. Ich fürchte, ich verwechsle es mit einem späteren Treffen mit den beiden Frauen, das nach unserer Freilassung stattfand. Ich erinnere mich aber noch gut an eine andere Ungerechtigkeit in unserem damaligen Umgang: Ich sagte einfach etwas ganz Normales, sah in ihrem Gesicht aber ein spöttisches Lächeln: Sprich nur, sprich, wir wissen schon, was bei dir los ist.

48

Oleksa Tychy: Gedanken über das heimatliche Donezker Land, Bd. 1. Zusammengestellt v. W.W. Owsijenko, M.W. Olijnyk, W.F. Piwen, Je.B. Fialko. Donezk: TOV »Polihrafichny dim ›Donechchyna‹«, 2012, S.264f. (im Weiteren: Oleksa Tychy. Gedanken über das heimatliche Donezker Land).

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 175 Ich möchte aber sofort unterstreichen: Das, was ich hier beschreibe, ist eine Erinnerung an eine Ungerechtigkeit und keine bleibende Kränkung. Ich habe meinen Freunden schon längst ihr damaliges ungerechtes Verhalten verziehen, da ich nur allzu gut weiß, unter welchen schwierigen und unerträglichen Bedingungen wir alle damals standen. Mit Mykola Danylowytsch konnte ich mich später im Lager aussprechen. Im Blick auf Raisa Panasiwna war es dann für mich nicht mehr nötig. Nach all den Jahren begegnen wir uns heute so, als ob unser gegenseitiges Vertrauen nie in Zweifel gezogen worden wäre. Ich werde diese mutige Frau mein ganzes Leben lang bewundern. Um zu verdeutlichen, ob mein Gefühl damals gerechtfertigt oder unangebracht war, beleidigt gewesen zu sein, zitiere ich einen kleinen Auszug aus ihrer Erzählung über die eigene Verhaftung: Und dann wurde ich verhaftet – und Sie müssen wissen, es war genau dann, als bereits die elfte Durchsuchung bei mir stattfand. Ich spürte bei dieser Durchsuchung aber noch eine andere Hand, da sie alles mitnahmen, was ich eigenhändig geschrieben hatte – jede Zeile, egal was es war, ob es sich um die Helsinki-Gruppe handelte oder nicht. Und ich wusste, dass sie mich dieses Mal mitnehmen werden.

Nachdem Raisa Panasiwna die erste Auflage dieses Buches gelesen hatte, schickte sie mir ihre eigenen Memoiren, in denen sie beschrieb, wie die Situation betreffend dem Verdacht Mykola gegenüber entstanden war. Ihre Erinnerungen befinden sich nun auch in meinem Archiv. Ich erlaube mir, ein längeres Zitat aufzunehmen, da ich es für mich sehr wichtig halte: Ich erinnere mich an einen sehr unglücklichen Vorfall, als Myroslaw Marynowytsch und Mykola Matusewytsch sich nicht trauten, Rudenko selbst zu fragen, was im Falle einer Verhaftung geschehen müsse. Mit wem sollten sie da in Moskau Kontakt halten? Ich riet ihnen, ihm einen Brief oder eine Notiz zu schreiben, den ich an ihn weiterleite. Und so geschah es auch.

Und später: Nachdem ich Rudenko die Notiz gab, ging ich zur Arbeit. Inzwischen war aber Berdnyk zu Mykola Danylowytsch gegangen und ich konnte nicht wissen, worüber sie gesprochen hatten. Als ich von der Arbeit zurückkam, sagte mir Rudenko auch nichts über die Notiz (ich dachte, es sei alles in Ordnung). Er erzählte, dass Berdnyk da war. Aber kein Wort über das, worum es ging.

176 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Er sagte auch in den folgenden Tagen nichts. Ich fand das aber etwas seltsam. Ich vermutete, dass er sich wohl wie immer seine Gedanken machte und belästigte ihn nicht mit meinen Fragen. Dann kam der Tag, an dem wir abgemacht hatten, dass sich alle bei uns treffen. Auch M. Matusewytsch und M. Marynowytsch kamen zu uns. Berdnyk war damals wohl nicht dabei. Während ich in der Küche Tee kochte und einige von Rudenko vorbereitete Dokumente nachdruckte, wurde mir gegennüber das Misstrauen ausgesprochen, das Matusewytsch und Marynowytsch betraf (ich hörte es aber nicht selbst). Zum Abschied kamen die geschockten Jungs dann zu mir in einen anderen Raum und erzählten es mir. Ich war völlig fassungslos, da ich wirklich nichts davon wusste oder es verstehen konnte. Also sagte ich zu ihnen: Ich weiß wirklich nichts davon. Und es war für mich auch merkwürdig, da zuvor Rudenko eigentlich alles mit mir besprochen hatte. Als alle gegangen waren, sagte mir Rudenko nichts über das Misstrauen gegenüber den Jungs oder über das, was bei der Sitzung, die gerade stattgefunden hatte, besprochen wurde. Fassungslos schwieg auch ich. Am nächsten Tag fragte ich, was geschehen war und warum er Matusewytsch und Marynowytsch verdächtigte? Dann sagte mir der liebe Mann, dass er noch am selben Tag Berdnyk den Zettel, den er von mir erhielt, gezeigt hatte. Dieser machte ihn auf das verdächtige Interesse der Jungs an der »Dissidentenküche« aufmerksam. Er sagte mir aber nicht, dass nicht nur sie unter Verdacht standen, sondern ebenso auch ich. Ich hatte ihm die Notiz übergeben! Und ich hatte ihnen geraten, ihm zu schreiben! Oles Berdnyk sagte schließlich zu ihm: ›Mykola Danylowyscht, ich vermutete schon länger, dass Raya nicht einfach so deine Frau wurde, sie wurde dir vom KGB geschickt.‹ Ich gab offen zu, dass ich persönlich den Jungs geraten hatte, diesen ungElücklichen Zettel zu schreiben. Woher sollte ich wissen, dass O. Berdnyk mit so viel Gespür ›unsere Spionagegruppe entlarven‹ würde? Mykola Danylowyscht vertraute ihm doch sehr. Später begann mein Mann zu analysieren, wie wir beide uns kennenlernten, wie sich unsere Beziehung entwickelte, und kam dann zum Ergebnis, dass ich mich in keiner Weise weiter mit ihm treffen sollte. Doch es war war genau umgekehrt. Schließlich verstand er, dass mich niemand zu ihm geschickt hatte und die Jungs auch keine Spione waren, und er erkannte, dass er ohne Berdnyk niemals auf diese Verdächtigung gekommen wäre. Leider hatte er aber keine Zeit, es ihnen zu sagen, da er einige Tage später verhaftet wurde. Ich persönlich zweifelte aber nie an der Zuverlässigkeit der Jungs […]. Berdnyk erzählte Oksana Yakivna sofort von ihrem Misstrauen gegenüber Marynowytsch und Matusewytsch. Und dann ging der Klatsch los … Vielleicht wurden die Gerüchte vom KGB selbst verbreitet. Schließlich belauschten sie, was in unserem Haus gesprochen wurde. Das wäre für sie ein großer Vorteil gewesen, den sie gerne benutzt hätten. Ich meine, es war auch so.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 177 Da war noch diese Tatsache: Berdnyk besuchte jede Woche einen ihm bekannten KGB-Mann in der Volodymirska Str. 33. Rudenko fragte ihn, warum er denn so oft dahin ginge. Seine Antwort war: ›Wenn ich mit ihm spreche, kann ich vielleicht besser seine Pläne und Maßnahmen erkennen.‹ Rudenko und ich waren offensichtlich ihm gegenüber viel zu unerfahren und leichtgläubig. Auch Oksana Yakivna vertraute ihm völlig. Auch sie hätte es besser nicht getan.

Erst später geschah es dann doch noch. Doch zuerst kam der 5. Februar 1977, der Tag der Verhaftung von Mykola Rudenko und Oleksa Tychy und gleichzeitig von Jurij Orlow und Oleksandr Ginsburg in Moskau. Mykola und ich gingen damals völlig ahnungslos auf der Mychajliwsky-Straße in Richtung des damaligen Platzes der Oktoberrevolution (heute: der Maidan, der Platz der Unabhängigkeit). Plötzlich sprang aus einem Auto eine Gruppe junger Männer, drehte uns die Arme herum und drängte uns in ein Auto: »Ruhe! Ruhe und ja keinen Widerstand! Steigt ins Auto!« Wir wurden in das Gebäude des KGB in der damaligen RosaLuxemburg-Straße gebracht (der heutigen Lypska-Straße) und wurden einige Zeit in getrennten Zimmern festgehalten. Dann wurde uns die offizielle Verwarnung vorgelegt, deren Hauptbotschaft war: »Wenn ihr eure verbrecherische Tätigkeit nicht sofort einstellt, werden wir euch verhaften.« Doch es war uns klar, dass wir nicht beabsichtigten, unsere Mitgliedschaft in der Gruppe aufzulösen und unsere Tätigkeit einzustellen. Nach Hause zurückgekehrt, erfuhren wir, dass genau an diesem Tag ebenfalls Durchsuchungen in der Kyjiwer Wohnung von Tamila Matusewytsch an der Lepse-Straße und in der Wohnung von Raisa Serhijtschuk im Dorf Kalyniwka in der Nähe von Kyjiw stattgefunden hatten. Damals ließ sich Raisa auch standesamtlich trauen und ich zog zu ihr nach Kalyniwka. Das bedeutete automatisch, dass ihre bisherige Wohnung aufgelöst wurde. Sie wurde nun auch in das KGB-Register aufgenommen. Um diese Durchsuchungen ging es dann in den Dokumenten der Gruppe. Nachdem wir von der Verhaftung Rudenkos erfahren hatten, gingen wir zu Raisa Rudenko, um nachzusehen, wie es ihr geht. Wir spürten an ihrer Kälte, dass ihr Argwohn uns gegenüber noch vorhanden war.

178 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Yosyp Terelya sagte uns dann auch, dass Oksana Yakivna »mit Sicherheit wüsste, dass wir vom KGB sind«. Wir vermieden dann das Thema der Verdächtigung und verkehrten mit Oles Berdnyk weiter, wie wenn nichts geschehen wäre. Wir hatten den Eindruck, dass er nun der Wichtigste der Gruppe war, obwohl wir uns einig waren, dass wir nach Rudenkos Verhaftung niemand anderen als Leiter der Gruppe offiziell benennen würden. Ich wusste auch nicht, was Berdnyk wirklich über uns dachte. In diesem Fall hielten wir an Mykola fest und erwiesen ihm unsere Achtung, da unsere Namen wieder in den Dokumenten der Gruppe erschienen, wofür wir ihm sehr dankbar sind. Wir begannen auch wieder, Materialien für ein neues Memorandum zu sammeln. Wie ich bereits erwähnte, erfuhren wir aber erst nach der Veröffentlichung der ersten Ausgabe dieses Buches aus den Memoiren von Raisa Rudenko, dass er es war, der den Verdacht gegen uns verbreitet hatte. Ich weiß nicht, was seine genauen Motive waren. Wahrscheinlich löste die damalige allgemeine Stimmung bei ihm diesen psychischen Stress und das Misstrauen aus. Wir besuchten auch Lewko Lukjanenko in Tschernihiw, um uns mit ihm im Blick auf diese Situation zu beraten. Lukjanenko war bereits damals eine Legende, weil er früher zum Tode verurteilt worden war und erst nach einem langen Aufenthalt in der Todeszelle seine Todesstrafe in fünfzehn Jahre Haft umgewandelt wurde. Diese lange Zeit saß er auch ab. Der Mann hatte also eine reiche Lagererfahrung und geriet nicht so leicht unter Verdacht. Er spielte damals eine wichtige Rolle in meinem Leben – nicht nur, weil er uns sehr gelassen vertraute. Es war auch deshalb, weil er einmal ein sehr väterliches Gespräch mit uns führte: »Jungs, seid ihr wirklich bereit, ins Gefängnis zu gehen? Und versteht ihr auch, wie das für euch enden wird? Wenn ihr dazu nicht bereit seid, ist es besser, jetzt Abstand zu nehmen.« Ich erinnere mich noch gut an den Tonfall und die Bedeutung dieses für uns in einem gewissen Sinn entscheidenden Moments. Einen Augenblick lang wurde ich sehr nachdenklich. Dann aber antwortete ich ganz bewusst: »Ja, ich bin bereit.« Später kamen mir diese Worte während der Ermittlung und meiner Haft oft in Erinnerung, als es gar nicht mehr zum Scherzen war. Wie sehr hatten sie mich doch diszipliniert und was für

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 179 eine Kraft hatten sie mir geschenkt! Wie wichtig es doch ist, die richtigen Fragen zur richtigen Zeit zu stellen. Wie sich am Stil mehrerer weiterer Memoranden der UHG erkennen lässt, war Oles Berdnyk der wichtigste Verfasser. In dieser Reihe entstand als erstes das Memorandum Nr. 4 »Über neue Repressalien in der Ukraine gegen die Gruppe (Helsinki)«, datiert mit 9. Februar. Selbstverständlich war es der Verhaftung von Mykola Rudenko und von Oleksa Tychy gewidmet und es gab erneut Durchsuchungen in dieser Sache. Ergänzt wurde es durch einen »Offenen Brief an die Regierungen der Unterzeichnerländer der Helsinki-Vereinbarungen«. Ich erzähle den Inhalt hier nicht, rate aber, es selbst zu lesen. Es findet sich dort gutes Material mit zahlreichen Fakten. Stattdessen erzähle ich mehr über meine Reise gemeinsam mit Matusewytsch nach Lwiw und Drohobytsch ungefähr Ende Februar. Damals fand gerade die im Memorandum Nr. 4 erwähnte Durchsuchung statt. Der Grund zur Reise war unsere Absicht, einige Zeit aus Kyjiw zu verschwinden, wo wegen der Verdächtigungen eine für uns sehr schwierige und psychisch sehr belastende Atmosphäre herrschte. Wir kamen nach Lwiw und besuchten natürlich sofort Atena Paschko, die wir sehr mochten. Sie sagte uns: Jungs, was tut sich bei euch in der Gruppe? Es muss etwas sehr Schlimmes gewesen sein. Mychajlo Horyn erzählte mir, es wäre eine Nachricht aus Kyjiw von Mykola Rudenko eingetroffen, Matusewytsch und Marynowytsch wären Agenten. Horyn kennt euch ja nicht, aber ich habe ihm geschworen, dass es nicht stimmt, denn ich kenne euch sehr gut.

Atena nahm dann die Verbindung zu Horyn auf und wir verabredeten uns, miteinander zu sprechen. Wir trafen uns am Ort, den er bestimmt hatte – auf einem Feld, wo wir nicht so einfach abgehört werden konnten und uns völlig offen und aufrichtig aussprechen konnten. Er bestätigte uns, dass es diese Nachricht aus Kyjiw gab; und wir erzählten ihm, weshalb wir verdächtigt wurden. Michajlo Horyn war sehr betrübt wegen des Missverständnisses in der Gruppe, das für uns sehr schwerwiegend war. Er versuchte, uns irgendwie behilflich zu sein. Für Mykola Matusewytsch und mich war es damals sehr wichtig, dass Atena Paschko und Mychajlo

180 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Horyn zu unseren Gewährsleuten wurden, indem sie bezeugten, dass die Verdächtigungen uns gegenüber völlig unbegründet waren. Es lässt sich aber schwer weitergeben, wie groß die Dankbarkeit war, die wir beide verspürten! Danach fuhr ich mit Mykola nach Drohobytsch. Meine Mutter lebte damals in einer provisorischen Wohnung. (Es war ein Zimmer in einem speziell dazu bestimmten Gebäude, wo vorübergehend Leute untergebracht wurden, bis die Sanierung ihrer eigenen Wohnungen abgeschlossen war.) Dort fand die Durchsuchung statt, von der in Memorandum Nr. 4 die Rede ist. Sie wurde aber sehr unprofessionell und roh durchgeführt. Es geschah damals so: Meine Mutter und Mykola kamen mit mir spät am Abend von einem Konzert zurück. Plötzlich schaute ein Nachbar in unser Zimmer hinein und fragte nach etwas völlig Absurdem. Wir zuckten mit den Achseln, doch schon nach wenigen Momenten verstanden wir, worum es ging: Er überprüfte, ob wir alle da waren. Dann stürmte eine ganze Bande von Funktionären in unser Zimmer: »Wir müssen euch durchsuchen.« Es wurden uns einige Dokumente gezeigt, die alle typisch nach KGB aussahen, sogar die Zeugen! Ich sagte ganz ruhig zu ihnen: »Bitte zeigen Sie uns Ihre Pässe.« Einer der Zeugen empörte sich: »Was erlauben Sie sich denn? Welchen Pass denn?« Ich gab als Antwort: »Und was erlauben Sie sich denn? Sie sind verpflichtet, einen Pass bei sich zu führen, wenn Sie als Zeuge kommen.« Der Leiter der Gruppe tat weiter so, als hätten sie die Zeugen einfach von der Straße geholt. Er befahl dann: »Gehen Sie und holen sie Ihren Pass.« Also holte der Zeuge ihn, doch siehe da, welch Geschenk vom Himmel – da war ein Stempel, der zeigte, dass er beim KGB arbeitete! Zwar nicht als ein Offizier, aber als Hausmeister oder etwas Ähnliches. Mit diesem Glück hatte ich nicht gerechnet! Ich wandte mich nun an den Leiter und zeigte mit dem Finger auf den Stempel: »Wen haben Sie da als Zeugen genommen? Er ist ein Mitarbeiter des KGB! Kennen Sie denn nicht das Gesetz, dass ein Mitarbeiter der Untersuchungsorgane kein Recht hat, Zeuge zu sein?« Ich verbot ihnen kategorisch, eine Durchsuchung durchzuführen, indem ich mich weiter auf den Verstoß des Gesetzes berief. Dann wurden Mykola und ich auf das Milizrevier gebracht, wo

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 181 eine Leibesvisitation vorgenommen wurde. Nachdem wir zwei oder drei Stunden festgehalten wurden, ließen sie uns laufen. Gleichzeitig wurde bei meiner Mutter eine Durchsuchung durchgeführt, allerdings keine vollständige. Es wurden nur unsere persönlichen Sachen durchwühlt. Heute zeigt sich sehr klar, dass die Arbeit der Gruppe trotz aller Schwierigkeiten und Missverständnisse und trotz der erwähnten zwei Verhaftungen erneut aktiver wurde. Die ganze Reihe der genauen Terminangaben der neuen Dokumente der Gruppe beeindruckt mich auch heute noch: 10. Februar 1977: ›Offener und einstimmig beschlossener Brief‹ von Berdnyk an den P.E.N.-Club in Sache Verhaftung von Mykola Rudenko. 11. Februar: Eingabe von Oksana Paschko an den Generalstaatsanwalt der UdSSR in Bezug auf Gesetzesverletzungen während der Durchsuchung in ihrer Wohnung und weiterer gesetzeswidriger Verfolgungen. 15. Februar: ›Memorandum Nr. 5: Die Ukraine im Sommer 1977‹. An die Mitgliedsländer der Belgrader Sommerkonferenz 1977‹. Unter diesem Dokument stehen die Unterschriften aller Mitglieder der Gruppe, die noch in Freiheit verblieben waren. Irgendwo las ich auch, der Text wäre von seinem Verfasser Oles Berdnyk nicht mit sämtlichen Mitgliedern der Gruppe abgestimmt worden. Ich erinnere mich aber, dass der Text mit mir abgestimmt war. 21. Februar: ›Memorandum Nr. 6: Über die sogenannten inneren Angelegenheiten des Staates‹; alle acht Unterschriften vorhanden. 1. März: Offener Brief von Oles Berdnyk an das Präsidium des obersten Sowjets der UdSSR und den Kongress der Vereinigten Staaten von Amerika über die Nachricht, dass am 3. März Berdnyk als Protest gegen die Verhaftung Mykola Rudenkos in den Hungerstreik trat. 15. März: ›Memorandum Nr. 7: Die Ukrainische Gruppe zur Förderung der Menschenrechte – die ersten vier Monate‹. Es unterschrieben damals alle, außer Iwan Kandyba. (Offenbar konnte er nicht erreicht werden.) Der Anhang zum Memorandum Nr. 7 datiert mit 10. März, vermittelt eine gute Vorstellung über die unzähligen Durchsuchungen, die bei den Eltern, der Schwester, der Ehefrau und der Schwiegermutter von Mykola Matusewytsch sowie in der Wohnung von Myroslaw Marynowytsch in Kalyniwka (›in der Sache: O. Tychy‹) stattfanden. 15. März: ›Memorandum Nr. 8: Über die Verfolgung von Wira Lisowa, der Ehefrau des politischen Häftlings‹. Mykola Matusewytschs Unterschrift und meine eigene fehlen aus unbekannten Gründen (mehr darüber später). 18. März: ›Memorandum Nr. 9: Über den brutalen Rechtsbruch in der Ermittlungsakte von M. Rudenko‹. Das Dokument wurde persönlich von Oles Berdnyk unterzeichnet. 18. März: Eingabe von Oles Berdnyk ›An den Ersten Sekretär des ZK der KP der Ukraine, W. W. Schtscherbyzky‹ mit je einer Kopie an die Anschriften:

182 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Kongress der USA, Washingtoner Komitee zur Förderung der Erfüllung der Helsinki-Vereinbarungen in der Ukraine und an Dr. A. Swarun [Leiter von ›Smoloskyp‹ und Präsident des Komitees der Helsinki-Garantien für die Ukraine]. In dieser Eingabe informierte Berdnyk, dass er wegen der weiteren Verfolgungen ab dem 23. März gezwungen war, nochmals in einen Protest: Hungerstreik zu treten. 23. März 1977: ›Memorandum Nr. 10‹. Mit diesem Dokument verbindet sich ein für mich unverständliches Rätsel. An den genauen Text erinnere ich mich nicht mehr. Er ist aber auch nicht in den vorhandenen Sammelbänden der Dokumente der Gruppe enthalten. Die ›Chronik der laufenden Ereignisse‹ (Ausgabe 45) teilt mit, dass das Memorandum ›über Familien berichtet, die aus unterschiedlichen Gründen versuchten, aus der UdSSR auszureisen und sich an die Gruppe um Hilfe wandten‹. Es ist durchaus möglich, dass dieses Memorandum irgendwelche Erläuterungen von Oles Berdnyk enthielt über Hindernisse, die seiner persönlichen Ausreise aus der UdSSR im Wege standen. 20. März: ›Memorandum Nr. 11: Über das Schicksal von Nina Switlytschna‹. Unter dem Dokument stehen sieben Namen, doch mit der Name von Iwan Kandyba.

Heute ist es interessant, die Aufzählung mit den Worten eines der Untersuchungsführer zu vergleichen, die nach Rudenkos Verhaftung ausgesprochen wurden: »Wir reißen das Unkraut nun anders aus, nicht wie 1972, dann kann es nicht erneut aufkeimen!« (»Chronik«, Ausgabe 45). Wie sich aber zeigte, hatten die harten Verfolgungen und Drohungen den entgegengesetzten Effekt: Die Ukrainische Helsinki-Gruppe verstummte nicht, sondern im Gegenteil, sie blühte weiter auf mit neuen Dokumenten und Petitionen. Er, M. F. Marynowytsch beteiligte sich an der Anfertigung des Memorandums Nr. 8. Er besuchte die Frau zusammen mit einer Person, die zu nennen er sich weigerte. Die Aufzeichnungen des Gesprächs mit Lisowa sind aber im Dokument enthalten. [Über die Position, die Wira Lisowa bei unserem Gericht vertrat, erzähle ich im nächsten Abschnitt.]

Das Fehlen meiner und Mykolas Unterschrift unter dem Memorandum Nr. 8 erkläre ich mit einer Zufälligkeit, weil es etwa möglich war, dass eine gewisse Zeit keinen Kontakt hergestellt werden konnte. Mykola und ich waren gerade in der Wohnung von Wira Lisowa in der Bratyslawska-Straße 4, Whg. 192 und notierten uns alle Fakten des gesetzeswidrigen Druckes, der ihr gegenüber durch das KGB ausgeübt wurde. Wira Lisowa wusste aber, dass wir Notizen für ein zukünftiges Memorandum sammelten, und war auf

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 183 eine mögliche Verfolgung gefasst. Unsere Beteiligung an der Sammlung der Daten, die Wira Liwowa erstellt hatte, ist außerdem dokumentarisch bestätigt durch das KGB, da dieses während meiner Durchsuchung Notizen beschlagnahmt hatte. Sie werden ebenfalls im Urteil erwähnt: Unter den Dokumenten, die wir im März und April 1977 verfassten, war auch eine Erklärung von Gefangenen aus verschiedenen Lagern: »Wir politische Häftlinge der mordwinischen Lager …« sowie die Erklärung »An alle Christen dieser Welt«, indem protestantische Christen ihre Brüder und Schwestern aufriefen, für die damaligen inhaftierten Mitglieder der Helsinki-Gruppe zu beten. Wir lasen auch das Manuskript »Wie denn sonst?« des damals auch verfolgten Kunstwissenschaftlers Wasyl Barladjan aus Odessa. Und wir besprachen die Möglichkeit, ein separates Memorandum über ihn zu verfassen, nachdem er am 2. März verhaftet worden war. Das letzte Memorandum der Gruppe, dessen Mitautor ich auch werden würde, war das Material über das Schicksal von Nadja Switlytschna, die von den Mitarbeitern der KGB gejagt und in die Enge getrieben wurde. Die beiden »namenbezogenen« Memoranden »über Wira Lisowa und Nadijka Switlytschna« betrachte ich insgesamt auch als unsere eigenen, da Mykola und ich am meisten an der Verbreitung beteiligt waren. Nadijka wandte sich am 10. Dezember zudem an die Gruppe (und ebenfalls an das Zentralkomitee der KPdSU!) mit einer Erklärung, die mit den Worten endete, die später berühmt wurden: »Ich halte es jenseits aller Menschenwürde, ein Bürger des größten, mächtigsten und perfektesten Konzentrationslagers dieser Welt zu sein.« Es war, wenn ich mich richtig entsinne, der erste Fall, als sich eine »einfache« Bürgerin mit einer Erklärung über die Verletzung ihrer Rechte an unsere Gruppe wandte. Dieser Präzedenzfall hatte für mich eine große Bedeutung. Da der Text der Erklärung beschlagnahmt worden war, schrieb ihn Nadijka am 5. Januar noch einmal. Sie bat die Gruppe, ihr zu helfen, »irgendwo auf dieser Welt einen Ort zu finden, wo ich mit meinem Sohn in Ruhe leben kann, ohne um mein eigenes Schicksal und das meines Sohnes ständig bangen zu müssen.« Die gesetzwidrigen Verfolgungen von Nadja Switlytschna häuften sich immer mehr:

184 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Nach der Haftentlassung bekam sie keine Wohngenehmigung in Kyjiw, erhielt keine Arbeitsstelle und es wurde ihr mit einer erneuten Verhaftung gedroht wegen »Schmarotzertum«. Als sie trotzdem als Hoffegerin in einem Kindergarten auf der SchtschorsStraße Arbeit fand, wurde ihr nach dem Verhör bei dieser Arbeitsstelle nach einer gewissen Zeit auch gekündigt.49 Nachdem Nadijka all diese Verfolgungen erduldet hatte, verzichtete sie auf die sowjetische Staatsbürgerschaft. Deshalb kam für uns die Zeit, ein separates Memorandum zu erstellen, was die Gruppe dann auch tat – mit meiner und Mykolas aktiver Unterstützung. Der Eindruck der Intensität der Arbeit der Gruppe wird noch verstärkt, wenn daran erinnert wird, wie oft wir damals reisen mussten. So fuhr ich z. B. im Dezember 1976 zusammen mit Mykola Matusewytsch nach Moskau, wo wir uns mit Jurij Orlow trafen. Und im März 1977 fuhr ich im Namen der Mitglieder der Gruppe in das Dorf Jishiwka in der Oblast Donezk, dem elterlichen Nest von Oleksa Tychy, um seine Mutter nach der Verhaftung ihres Sohnes zu besuchen. Ich konnte ihr Haus ausfindig machen (das Dorf war übrigens damals noch ukrainischsprachig), machte mich mit ihr bekannt und erkundigte mich nach ihrem Ergehen. Maria Kindratiwna empfing mich sehr herzlich und voller Vertrauen, zeigte mir Familienfotos und bewirtete mich großzügig. Heute erinnere ich mich nicht mehr, ob ich ihr auch materielle Hilfe brachte. Unterwegs machte ich einen Halt in Kramatorsk, wo ich Serhij Iwantschenko besuchte, meinen Kameraden aus der Armeezeit. Ich verschwieg vor ihm nicht, dass ich unter der »Glocke« des KGB wäre, d. h. überwacht würde. Er wollte mir aufrichtig helfen, indem er mir anbot, mich bei ihm zu »verstecken«. Später sah ich in den Materialien der eigenen Akte das Protokoll seines Verhörs, wo er – offensichtlich schon eingeschüchtert – erzählte, was während unserer Begegnung geschah. Es wird daraus ersichtlich, mit welchem Eifer das KGB meine Reisen verfolgte, was zu erwarten war. 49

Auf der Website der Charkiwer Bürgerrechtsgruppe (http://archive.khpg.org /index.php?id=1121767765) ist ein hervorragendes Interview gespeichert, das Nadijka Switlytschna Wasyl Owsijenko und Wachtang Kipiani gab. Dort sind alle diese außergewöhnlichen Geschichten beschrieben und auch die Periode der Bewegung der Sechziger.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 185 An die Reisen unseres inoffiziellen Leiters der Gruppe und weiterer unserer Mitglieder kann ich mich nicht mehr erinnern (vielleicht wusste ich auch gar nichts davon). Aus der »Chronik« erfuhr ich schließlich auch, dass Oles Berdnyk Ende März nach Donezk zum Verhör in der Sache von Rudenko und Tychy einbestellt worden war. Er fuhr aber nicht hin und auch nicht die ebenfalls bestellten Oksana Meschko und Petro Winst. Berdnyk wurde bereits auf der Straße in Kyjiw verhaftet und mit Gewalt nach Donezk gebracht, verhört und dann laufengelassen. Rund um dem 20. März beauftragte mich die Gruppe, nach Moskau und Tarusa zu fahren und mich mit Petro Hryhorenko und Nina Strokata zu treffen. Ich hatte damals meine Arbeitsstelle schon gekündigt, sodass ich viel Zeit und genügend Kraft hatte. Ich fuhr zu diesen Treffen mit einer großen inneren Anspannung. Der Name des Generals Hryhorenko machte mich allein schon durch seinen Klang neugierig. Er legitimierte auf eine besondere Weise die Bewegung der Dissidenten. Wenn sich schon Generäle an der Kritik der Sowjetmacht beteiligten, die die Möglichkeit hatten, sich aller Güter und Privilegien zu erfreuen, war mit diesem System tatsächlich etwas nicht in Ordnung. Und dazu noch die höchsten militärischen Ränge und der Erfinder der Wasserstoffbombe (Andrei Sacharow)! Ich war sehr beeindruckt, dass Hryhorenko nicht einer dieser Stabslakaien war, die es sich in allem schön bequem machen und sich an die Stiefel der Machthaber schmiegen. Er war ein kampferprobter General, worin die Garantie dessen lag, dass jeder Soldat, der kühn in die Augen des Todes geblickt hatte, seinen Blick auch nicht von einer gefährlichen Wahrheit abwenden konnte. Im Namen des Generals lag das mir teure Ukrainertum. Er war für mich ein weiterer Landsmann, dessen Seele sich nicht mit Betrug und Ungerechtigkeit abfand, obwohl er in Moskau lebte. In seiner Vorstellung war die Ukraine vor allem eine Kindheitserinnerung. Er spürte aber sofort und noch lange vor unserer persönlichen Bekanntschaft in meinem Namen den Geist der Blutsverwandtschaft heraus. In Hryhorenkos Entschluss, sich nicht nur der Moskauer, sondern auch der Ukrainischen Helsinki-Gruppe anzuschließen, lag sein Tribut an die nationale Herkunft, die sich unter den damaligen

186 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Bedingungen immer mehr in ihm festigte. Es ging aber nicht um das Gefühl einer nationalen Überlegenheit oder um etwas anderes, die bei einem typischen Ethno-Neophyten häufig mit einem Nationalgefühl verbunden ist. In gewisser Weise ähnelte seine Rückkehr zum Ukrainertum auch seiner Zuwendung zur Bewegung der Krimtataren. In beiden Fällen war der wichtigste Faktor seiner Motivation ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen für das nationale Unrecht, das jemand erleiden konnte. Ich bin der Ansicht, wenn er damals unter Volksstämmen im Zentrum Afrikas gelebt hätte, hätte er sich auch dort auf die Seite des Stammes der Verachteten gestellt. Seine primäre Empfindung war eine ethische und nicht eine nationale Angelegenheit. Moskau empfing mich gerade mit einer Kälte, die für mich nicht nur klimatisch bedingt war. Ich konnte in dieser berüchtigten »Hauptstadt des Tschornomors« nie einfach bloß ein Tourist sein. Es schien, als ob mich die ganze Kälte des Imperiums dort erwürgte und versuchte, mein Bewusstsein einzufrieren; und dass irgendwo in der Megapolis hinter den »zahnbewehrten« Mauern des Kremls in einem Tresor der Schlüssel zum ukrainischen Schicksal aufbewahrt war. Eine noch größere Kälte kam mir aber in meinem Gedanken entgegen: Du kleines »Insekt« willst dich wirklich dieser gigantischen Maschinerie widersetzen? Doch nein, du kannst jetzt nicht mehr zurück! In mir überwog aber eindeutig der Stolz: Dir fällt die Ehre zu, durch die Gruppe ein Teil dieser mehr oder weniger verzweifelten und tollkühnen Menschen zu sein. Mir war aber etwas frostig zumute beim Vergleich dieser beiden Größen. Nun betrat ich also als schüchterner Provinzler die Wohnung von Petro Hryhorenko, der wusste, dass in meinem Kopf ein heilloses weltanschauliches Durcheinander entstanden war und dem sein Titel als Mitglied der UHG einen Vorschuss an Ehre gab. Von meiner damaligen Unreife zeugte bald ein besonderer Moment in unserem Gespräch. Petro Hryhorowytsch gab mir, nachdem er mich sehr freundlich und voller Vertrauen empfangen hatte, einen seiner Texte zum Durchlesen. Ich erinnere mich, dass es sich um das Pass-System als Kennzeichen eines Polizeistaates handelte. Es erschütterte mich und ich konnte mein Erstaunen nicht verbergen: »Kann ein Staat ohne ein Pass-System überhaupt

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 187 existieren?« Petro Hryhorowytsch lächelte nur und hielt mir dann eine kurze Vorlesung über die Grundlagen der Demokratie. An den Kern der Aussage erinnere ich mich nicht. Mich beeindruckte mehr die Tatsache, dass er sich mit keinem Wort und mit keinem Muskel seines Gesichts die Naivität meiner Frage anmerken ließ und mir nicht das Gefühl gab, ein Ignorant zu sein, der ein Menschenrechtler sein möchte. Das wurde mir zu einer doppelten Lektion, sowohl in demokratischer Theorie als auch in der Beachtung der Menschenwürde, deren Bedeutung Petro Hryhorovych anscheinend nicht einmal besonders betonte. Das Hauptziel meines Besuches war, den Hausherrn mit dem Entwurf des nächsten, des 11. Memorandums der UHG, bekanntzumachen, was ich selbstverständlich tat. Mein Gedächtnis behielt aber keine Kommentare seinerseits. Er würde aber sicher das Dokument unterzeichnen, ich hätte es sonst bemerkt. Nachdem ich meine Verlegenheit überwunden hatte, erzählte ich Petro Hryhorowytsch kurz von der Situation in der Gruppe. Ich verstand gut, dass er das Sprachrohr einer Gruppe war, dessen Stimme nicht nur in Moskau sofort gehört wurde, da es dort viele ausländische Diplomaten und Journalisten gab, sondern damit auf der ganzen Welt. Die Wohnung der Familie Hryhorenko war sehr bescheiden, offensichtlich keine Generalswohnung. Die untersetzte Statur des Hausherrn erfüllte fast den ganzen Raum, obwohl er zu Hause bei Weitem nicht der einzige war. An diesem Tag lernte ich auch seine Frau und ihren kranken Sohn Oleg und sogar die Krimtatarin Ajsche Seitmuratowa kennen. Sinaida Mychajliwna war eine besondere Hausherrin, deren Freundlichkeit einfach nur bezauberte und deren aufrichtige Offenheit einfach phänomenal war. Bereits nach wenigen Minuten erweckte sie bei mir den Eindruck, wir würden uns schon lange kennen und wir wüssten wirklich alles übereinander. (Zwei Jahrzehnte später, während einer meiner Reisen in die USA, telefonierten wir mehrmals miteinander. Es ergab sich aber, dass die damalige Begegnung ihr völlig genügte, um mir gegenüber ein ganzes Leben lang ein besonderes Vertrauen zu erhalten.)

188 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Die Frau verdient es, mit besonders freundlichen Worten im Gedächtnis behalten zu werden, wie es etwa Mykola Horbal tat: Ihre damalige Schönheit konnten selbst die Jahre nicht verdecken. Sie war sehr aufmerksam und neugierig. Nebenbei erfuhr ich, dass sie Russin war und dass Petro Hryhorenko ihr zweiter Mann ist; der erste wurde als ›Volksfeind‹ erschossen. ›Ich dachte, ich kann mich hinter den breiten Schultern eines Generals verstecken‹, sagte mir Sinaida Mychajliwna, ›aber auch dieser Mann erwies sich als jemand, der die Wahrheit sucht‹. Mit dieser Aussage konnte ich mir gut das Phänomen eines in Ungnade gefallenen sowjetischen Generals erklären. War es nicht gerade diese Frau, die in ihm Zweifel an Stalins Unfehlbarkeit gesät hatte und ihn lehrte, ›die demokratischste Gesellschaft der Welt‹ genauer unter die Lupe zu nehmen? War es nicht dank der Erfahrung seiner Frau, die die Schrecken der Unterdrückung überlebt hatte, dass Grigorenko selbst begann, über den Sinn des Lebens, seine Herkunft und das Schicksal seines ukrainischen Volkes nachzudenken? […] Ihre Moskauer Wohnung war stets offen für alle, die vom totalitären Regime vertrieben oder verfolgt wurden, und nicht nur für Ukrainer.50

Die Persönlichkeit Petro Hryhorenkos wurde damals vor allem mit dem Schicksal der Krimtataren in Verbindung gebracht, die Stalins Wahn der Kollektivschuld eines ganzen Volkes zum Opfer fielen. Die Entscheidung des Generals, das Recht der Krimtataren auf eine Rehabilitation und die Rückkehr in ihre Heimat offen zu unterstützen, stand ganz in Einklang mit der besten Tradition der Moskauer Dissidenten, was sie zu einem Leuchtturm für viele Wahrheitsliebhaber in der ganzen Sowjetunion machte. Meiner Meinung nach spielte in seiner Entscheidung gleichzeitig unbewusst seine ukrainische Natur eine wichtige Rolle. Wie so oft bei uns Ukrainern hatte sich bei ihm auch der Gerechtigkeitsgedanke gegenüber dem Etatismus durchgesetzt, doch in der Realität triumphierte der Staat. Es muss auch gesagt werden: Der potenziell gefährliche islamische Faktor wurde damit beseitigt und der Sewastopoler Ruhm der russischen Waffen wurde hinreichend befestigt, das Territorium der Krim für die Sommerhäuser des Kremls, die Allunions-Sanatorien und Villen für die »verdienten Pensionäre« gesäubert. Wie kann dann überhaupt noch ein echter Freund des Staates protestieren? Das moralische Gefühl sagte aber Petro Hryhorenkos deutlich: »Es ist wirklich eine Ungerechtigkeit!« Die Stimme des Gewissens eines 50

Mykola Horbal. Präsentation des Lebens, S.211f.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 189 Staatsbürgers war der kategorische Imperativ seines gesellschaftlichen Verhaltens. Von all dem hatte ich damals nur eine schwache Vorstellung. So hütete ich mich im Gespräch mit Ajsche, das krimtatarische Thema aufzunehmen, obwohl ich ihr gegenüber fast instinktiv eine gewisse Sympathie empfand. Ajsche hatte ja ein wichtiges Objekt ihrer Aufmerksamkeit vor sich: Petro Hryhorenko. Und sie zeigte ihren Respekt und ihre Ehre in ihrem Verhalten gegenüber dem Hausherrn. Noch mehr: Ihr Verhalten wurde mir später zu einem Symbol. Als ich im Lager Erzählungen über die Liebe der Krimtataren zu Petro Hryhorenko hörte, »wie er zum Nationalhelden dieses Volk wurde«, tauchte in mir sofort Ajsche auf. Ich kann mich daran erinnern, wie sie aussah, aber bewusst oder unbewusst hatten sich die Zeichen ihrer Liebe, mit der sie Petro Hryhorowytsch mit ihrem Wesen umgab, fest in mich geprägt. Während unserer Gespräche hörte ich zum ersten Mal den Namen Mustafa Dshemiljew, des Anführers der Krimtataren. Seine Bereitschaft zum Opfer und seine Furchtlosigkeit beeindruckten mich sehr und setzte meine eigene geistige Messlatte hoch. Da ich nach dem Besuch Moskaus noch nach Tarusa (einer Kleinstadt bei Serpuchow in der Oblast Kaluga) fahren sollte, wo sich damals Nina Strokata-Karawanska, ein anderes Mitglied unserer Gruppe in einem speziellen Regime befand, um auch ihr den Text des Memorandums zu erklären, besprach Petro Hryhorenko mit mir die Fahrtroute. Mein Aufenthalt in der gastfreundlichen Wohnung des Generals dauerte also nicht sehr lange. Es war eine kurze sachliche Unterhaltung, die bereits nach dem gemeinsamen Mittagessen weiterging, und schon fuhr ich los. Als wir uns verabschiedet hatten, ahnte ich noch nicht, dass ich den Herrn des Hauses das erste und letzte Mal gesehen hatte. Der Besen des Kremls, der »fleißig« den Lebensraum der glücklichen und sorgenfreien Sowjetbürger von jeden erdenklichen Unzuverlässigkeiten säuberte, fegte uns beide auf verschiedene Seiten weg: mich ins Lager im Ural, Petro Hryhorenko nach Amerika, wo er nach dem Entzug der sowjetischen Staatsbürgerschaft sein Leben zu Ende führen musste. Dies erzählte mir später Nadja Switlytschna, die Petro Hryhorenko und seine ganze Familie sehr mochte und die

190 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT versuchte, mit ihm in Kontakt zu bleiben. Ich erhielt von ihr einige Fotos des alten Generals, aufgenommen bereits am Ende seines irdischen Lebens. Er verstarb genau in dem Jahr, als ich aus der Verbannung in Kasachstan in die Ukraine zurückkehrte. Ich betete an seinem Grab in Bound Brook anfangs der 1990er-Jahre während einer meiner ersten Besuche in den USA. So fuhr ich nach Tarusa und suchte die Wohnung von Nina Strokata auf. In dieser Stadt war sie gemeinsam mit Kronid Ljubarsky in Verbannung. Sie empfingen mich sehr freundlich und hießen mich, am Tisch Platz zu nehmen. Ich berichtete ihnen einiges und wir redeten, bis schließlich einer von ihnen es nicht mehr aushielt: »Was tut sich bei euch in der Ukraine?« Sie begannen dann von sich zu erzählen: »Wir haben Sie sehr genau beobachtet, aber Sie reagieren völlig normal! Sie müssen wissen, wir haben eine Nachricht von Rudenko aus Kyjiw erhalten: Wenn Myroslaw Marynowytsch zu euch kommt, seid bitte vorsichtig. Er ist sehr wahrscheinlich ein KGB-Agent!« Ich zeigte Ihnen offen meine Ratlosigkeit: »Es liegt an Ihnen, ob sie das glauben wollen oder nicht. Das ist die Situation, in der wir uns beide befinden.« Wir unterhielten uns ganz offen und freundschaftlich. Und sie waren auch sehr aufrichtig zu mir. Dann gaben sie mir einige Briefe mit auf den Weg. Doch es wäre besser gewesen, sie hätten das nicht getan … Als ich am nächsten Tag, am 28. März, von Tarusa nach Serpuchow weiterfuhr, wurde ich dort durchsucht und all meine Materialien wurden beschlagnahmt.51 Es war so: Auf dem Bahnhof in Serpuchow kam plötzlich die Miliz zu mir und sagte, sie hätten Zeugen, dass ich mit Goldsachen handle, und sie müssten mich deshalb überprüfen. Ich verstand sehr wohl, worum es ging. Sie wollten mich einfach mit einem Vorwand durchsuchen. Von ähnlichen Präzedenzfällen schrieb auch Mykola Rudenko in Memorandum Nr. 1: Nach einer gesetzwidrigen Durchsuchung des ehemaligen politischen Häftlings Oleksa Tychy wurde er unter dem Verdacht eines Ladendiebstahls festgehalten. Der Aufseher fing an, ihn zu schlagen. Als Tychy seinen 51

In Ausgabe 45 der »Chronik der laufenden Ereignisse« ist fälschlicherweise angegeben, dasss ich damals mit Petro Wins von Tarusa zurückkam. Es ist schon möglich, dasss Petro einmal in Tarusa war, aber sicher nicht mit mir am 28.März.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 191 Protest gegenüber dem Oberstleutnant des KGB, W. O. Melnykow, aussprach, fluchte der Mann und schrie: ›Wer sind Sie denn?‹ In Wirklichkeit brauchte das KGB dieses Festhalten nur, damit es bei O. Tychy die Manuskripte beschlagnahmen konnte. Zwei Tage später wurde er laufen gelassen. Die Manuskripte wurden ihm aber nicht zurückgegeben.

Ich wurde auf das Milizrevier gebracht, wo sich eine ganze Komödie abspielte: Sie begannen, mich zu befragen. Weshalb ich denn gefahren wäre und mit welchem Ziel und wo ich sonst noch überall gewesen wäre. Ich fing dann auch an, ihren ironischen Ton zu übernehmen, da ich schon wusste, wie es ausging. Während der Diskussion begannen sie auch, über den Holodomor zu reden. Die Milizionäre empörten sich und sagten, die Beschuldigung der Sowjetmacht wäre völlig ungerechtfertigt. Es wären den Bauern zwar Lebensmittel genommen worden, aber dafür hätten sie Kleider erhalten. Ich sagte: »Selbst, wenn es so gewesen wäre, wie hätten sie sich von Kleinern ernähren können, wenn ihnen zuvor alles Essen weggenommen wurde?« Unsere Diskussion war rein ideologischer Natur. Sie durchsuchten schließlich meine Aktentasche. Und siehe da: Es gab tatsächlich etwas, entweder ein Buch oder ein Heft. »Oh, oh, oh, das ist aber etwas Antisowjetisches! Sie zwingen uns, einen Vertreter des KGB zu rufen.« Es verging eine ganze Stunde, bis endlich jemand kam. Er begann, sich umzusehen: »Ja, das ist ein schwerwiegender Fall, wir müssen Sie durchsuchen. Ziehen Sie sich aus! « Ich antwortete: »Ich mache das nicht. Wenn Sie das wirklich wollen, dann ziehen Sie mich selbst aus.« Wir feilschten lange, bis ich schließlich genug hatte, da ich nur meine Zeit verlor und sehr wohl verstand, dass sie mich nicht im Guten freilassen würden. Ich sagte deshalb plötzlich: »Ihr seid hier so viele Männer und bringt es nicht fertig, mich zu durchsuchen? Ich muss nun zurück nach Moskau.« Es ärgerte sie natürlich und sie begannen böswillig an meiner Kleidung zu reißen, zogen sie aus und fanden natürlich die dort versteckten Papiere. Es waren einige Exemplare des Memorandums Nr. 11 und Briefe, die mir Nina und Kronid mitgegeben hatten. Vor allem der Verlust der Briefe plagte mich eine Zeit lang. Denn wie sollte ich beweisen können, dass sie mir weggenommen wurden und ich sie nicht der »zuständigen Stelle« brachte?

192 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Von den eigenen Leuten verdächtigt zu werden, war mir ein entsetzlich unangenehmer Gedanke. Ich machte mir aber umsonst Sorgen. Über die Durchsuchung und die Beschlagnahmung der erwähnten Briefe berichtet auch die »Chronik der laufenden Ereignisse« (Ausgabe 45). Wie die Ausgabe 46 der »Chronik« nachweist, waren Durchsuchungen der Freunde von Nina und Kronid ein ganz normaler Vorgang und wunderte sie keineswegs: Am 29. Mai wurden Pinchas Abramowytsch Podrabinek und sein Sohn Kyrylo (Vater und Bruder von Oleksandr Podrabinek), die aus Tarusa zurückgekehrt waren, festgenommen. Bei der Bahnhofsmiliz wurde ihnen gesagt, dass sie wegen Drogenschmuggels verdächtigt sind, und es wurde eine Leibesvisitation durchgeführt. Sie beschlagnahmten den Prospekt einer im Selbstverlag veröffentlichten wissenschaftlichen Zeitschrift.

Von einem letzten Fragment meines Schicksals vor der Verhaftung möchte ich auch noch erzählen. Es geht um die Geschichte meiner Anstellung als … Plakatkleber und geschah am 19. oder 20. April 1977. Ich sah in den »Kyjiwer Stadtnachrichten« (»Kyjiwmiskdowidka«), dass ein Plakatkleber gesucht wird. Ich erschien mit meinem Pass und Diplom und eine ziemlich stattliche und würdige russischsprechende Leiterin empfing mich. Ich legte meine Dokumente auf den Tisch und sagte: »Ich würde gern bei Ihnen als Plakatkleber arbeiten.« Sie sah sich die Dokumente an und rief beeindruckt: »Mit Hochschuldiplom?!« Ich sagte: »Ja, mit Diplom. Ich gehe jetzt aber hinaus und warte auf dem Korridor. Rufen Sie beim KGB an und fragen sie, ob mir erlaubt wird, zumindest als Plakatkleber zu arbeiten. Ich habe es inzwischen völlig satt. Rufen Sie an.« Sie schaute mich verblüfft an und sagte: »Nein, Sie gefallen mir. Ich rufe nirgendwo an, ich stelle Sie ein.« Auf diese Weise begann ich dann zu arbeiten. Ich wurde beauftragt, zwei Tage lang mit einer anderen Person zur Arbeit zu gehen, um die Erfahrung des Klebens zu machen. Am dritten Tag, einem Samstag, musste ich dann allein in mein Revier gehen. Am Samstagmorgen, dem 23. April 1977, hatte aber das Schicksal andere Pläne mit mir: Ich wurde am Morgen verhaftet. Später verschaffte es mir eine große Befriedigung, dass ich in allen KGB-Annalen als Plakatkleber erfasst worden bin. Das KGB wollte das eigentlich nicht, da es sie in eine ziemlich komische Situation

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 193 brachte. Ich konnte gar nicht verstehen, warum selbst diese Arbeit für das KGB gefährlich sein konnte. Später erfuhr ich von einem Untersuchungsführer. »Oha, wer weiß denn, was Sie angeklebt hätten!«

Mit US-Präsident Jimmy Carter in seinem Büro. Atlanta, Februar 1997

Oles Berdnyk

Die Gründungsmitglieder der Ukrainischen HelsinkiGruppe: Mykola Rudenko, Leiter der Gruppe

194 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT

Petro Hryhorenko

Iwan Kandyba

Lewko Lukjanenko

Myroslaw Marynowytsch

Mykola Matusewytsch

Oksana Meschko

Nina Strokata

Oleksa Tychy

II.

Die Zeit des Unrecht-Gerichtes

1. Verhaftung und Untersuchungshaft »So sieht es also aus!« Am Morgen des 23. April 1977 waren Mykola Matusewytsch und ich gerade in der Wohnung seiner Schwester an der Lepse-Straße in Kyjiw, wo wir übernachtet hatten. Um halb sieben hörten wir plötzlich ein Klingeln an der Türe. Tamila stand auf, ging zur Tür und fragte: »Wer ist da?« Draußen rief eine Frauenstimme: »Ein Telegramm!« Tamila öffnete – und in der Wohnung war fast nichts mehr zu sehen außer diesen »Helden« des Staates. Immer wieder hörten wir: »Ruhe! Ruhe!« Mykolas erhobene Stimme war aber nicht leicht zu beruhigen … Es war einer der typischen Tricks des KGB. Mykola Rudenko berichtete über einen ähnlichen Vorfall in seinem Appell an die Moskauer Staatsanwaltschaft am 28. Dezember 1976: Diejenigen, die die Durchsuchung durchführten, drangen auf ihre typische, heimtückische Art in die Wohnung ein: Die Zeugin des KGB, I. I. Prychodko, klopfte an die Türe, um scheinbar ein Telegramm auszuhändigen. Es war eine Lüge – eine Absprache zwischen der Zeugin und denen, die die Durchsuchung vornahmen.

Viel später hörte ich in Holland von einer interessanten Definition der Demokratie: Demokratie ist, wenn jemand bei Ihnen an der Tür klopft und Sie denken, es ist die Post – und es ist auch wirklich die Post. Mir gefiel das, weil es in meinem Fall auch so war, nur mit einem umgekehrten Ergebnis. Man erklärte uns, dass eine Durchsuchung der ganzen Wohnung und auch eine Leibesvisitation erfolgt, allerdings woanders. Wir machten uns bereit. Mykola ließ sie warten, bis wir mit dem Frühstück fertig waren (aus irgendeinem Grund blieb mir das im Gedächtnis: Wir aßen Salat mit Treibhausgurken und Smetana), tranken Kaffee – und dann brachte man uns zum Auto. Tamila als Hausherrin blieb zurück mit jenen, die die Durchsuchung vor Ort durchführten. Wir wurden wieder auf das Kyjiwer Stadtrevier des 195

196 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT KGB in der Rosa-Luxemburg-Straße gebracht und in unterschiedliche Zimmer gesetzt. Das gab uns Zeit, uns zu beruhigen. Dann kam Oleksandr Fedorowytsch Beresa. Von diesem Moment an war er der zuständige Ermittlungsbeamte für meinen Fall 51, in dem Mykola Matusewytsch mein Mitangeklagter war. Beresa legte mir einen Haftbefehl vor, ausgestellt vom Staatsanwalt, datiert auf den 22. April. Mir schossen sofort zwei Gedanken durch den Kopf: »Aha, so sieht es also aus!« Und: »Wie überleben das Mutter und Nadijka?« Der Verlauf des weiteren Gesprächs war kurz – faktisch war es aber mein erstes Verhör – nur an den Inhalt kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich wurde in das Untersuchungsgefängnis (SISO) des KGB gebracht, dass sich damals im Hof des KGB der Unionsrepublik an der Wolodymyrska-Straße 33 befand – im »grauen Haus«, wie man damals in Kyjiw sagte. Der Leiter des Untersuchungsgefängnisses, Oberst Saposhnykow, nahm mich persönlich in Empfang. Noch einmal geschah eine gründliche Leibesvisitation, indem man sogar, wie Wasyl Owsijenko es ironisch ausdrückte, »in unaussprechliche Orte« schaute. Anschließend musste ich mich an das gewöhnen, was der Patriarch Jossyf Slipyj in seinen Erinnerungen erwähnt: »Ich erinnere mich, wie unangenehm es war, die Hände von Schurken an sich zu spüren.«52 (Ich war später im Lager fasziniert davon, die Eindrücke des Patriarchen mit meinen eigenen in ähnlichen Situationen zu vergleichen. Angesichts seiner Bekanntheit stellte ich mir seinen Stress aber größer vor.) Dann wurde ich in eine Zelle gebracht, in der sich schon ein Häftling befand. Wie ich später erfuhr, handelte es sich um den russischsprachigen Walerji – einen »Walutschik« (Devisenschieber). Die eiserne Tür krachte hinter mir zu – und ich landete in einer völlig anderen Welt, einem völlig neuen Leben. Mein Körper zuckte noch eine gute Woche weiter. Ich grübelte nach, was noch zu tun wäre und was an wen weitergegeben werden müsste. Es meldete sich ständig das Gefühl psychischen Stresses, das jedes Mitglied der

52

Jossyf Slipyj. Erinnerungen / Redaktion Priester Iwan Dazko, Maria Horjatscha. Lwiw – Rom: Verlag der UKU, 2014, S.157 (im Weiteren: Jossyf Slipyj. Erinnerungen).

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 197 UHG erlebte. Dann beruhigte ich mich und fand mich schließlich ab: »Du, junger Mann, du bleibst für lange hier. Du kannst es nicht ändern, also beruhige dich.« Das führte zu einer gewissen Erleichterung, da alles klar und voraussehbar wurde. Die Ungewissheit hatte ein Ende. Früher stand ich auf und dachte: »Wann werde ich verhaftet: heute oder morgen?« Nun war es schlicht Tatsache: Du bist verhaftet! Das spezifische Geräusch, wenn hinter dir die Zellentüre zukracht, hat noch einen anderen Effekt: Du verstehst, dass du nun ganz allein den Machthabern ausgeliefert bist, ohne deine Freunde und Kollegen, unter denen du eine bestimmte soziale oder politische Rolle hattest. Nur der Offizier steht vor dir, der dich verhört, und die Maschinerie des KGB mit ihrer ganzen Macht. Es gibt niemanden, auf den du dich stützen kannst außer deinen eigenen Willen und dein Gewissen. Es taucht deshalb die wichtige Frage auf: Was ist für dich das, was zu dir gehört und wofür du bereit bist zu leiden? Was wurde dir von anderen gesagt, was dir nichts bedeutet? Ich erinnerte mich an Levko Lukianenskos bedeutungsvolle Worte, als Mykola und ich der UHG beitreten wollten: »Jungs, seid ihr bereit, ins Gefängnis zu gehen? Versteht Ihr, wie das alles enden kann?« Nun kam die Zeit, zu zeigen, dass mein Ja keine Prahlerei gewesen war. Zum Glück ist die Autorität, der du vertraust, zwar nicht physisch, aber in deinem Geist unsichtbar mit dir. Du bist in deinen Gedanken damit verbunden. Auf die Frage hin, warum einige Gefangene nicht zerbrachen, fasste Eduard Kuznetsov, ein prominenter sowjetjüdischer Dissident, es treffend zusammen: Alles hängt von deiner Bezugsgruppe ab, mit der du dich verbunden fühlst und die du behalten willst. Wenn es eine solche Gruppe gibt, reißt du dich zusammen und fühlst dich verpflichtet, ihr gerecht zu werden, ob du willst oder nicht.53

Ich gewöhnte mich allmählich an den neuen und wesentlich einfacheren Alltag. Die Zelle in der Untersuchungshaft war hell und geräumig. Zwei Betten, zwei Nachttische, ein mattverglastes Fenster. 53

Eduard Kusnezow. »Sei ein Held bis zum Ende oder wandele dich zum Zuträger«.

198 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Die Ordnung war so, wie sie sein sollte. Den Regeln entsprechend, schaute der diensthabende Wächter alle paar Minuten durch das Guckloch und kontrollierte, wie sich die Gefangenen benahmen. Morgens und abends wurden wir zur Toilette und zum Waschbecken geführt. Einmal in der Woche wurde uns erlaubt, die Anstaltsdusche zu benutzen. Wir wurden zu zweit dorthin geführt und mit einem zynischen Lächeln gewarnt: »Macht keinen Blödsinn.« Dreimal am Tag öffnete sich die »Futterluke« der Zelle und es wurde Essen ausgeteilt. Ich weiß nicht mehr, was sie uns gaben, erinnere mich aber, dass ich mich nach Honig sehnte. Nachts wurde das Licht nicht ausgeschaltet, daran musste man sich gewöhnen. Später hörte ich im Lager eine Geschichte, ironisch erzählt von Semen Glusman: Aus einer Publikation des Genossen Corvalán erfuhren wir, dass die Gefängniswärter des General Pinochet die Gefangenen brutalen Torturen aussetzten, indem sie nachts in den Zellen das Licht nicht ausschalteten. Und wir, Häftlinge der UdSSR, gewohnt an andere, stärkere Erscheinungsformen von Brutalität, hielten das grelle Licht in der Gefängniszelle für eine Art Norm.54

Zu diesem Licht, nebenbei gesagt, gibt es eine besondere Geschichte. Durch das Guckloch schauten dienstlich nicht nur Aufseher, sondern auch Aufseherinnen. So geschah es einmal, dass sich bei meinem Mithäftling aus physiologischen Gründen an einer Stelle im Schlaf die Bettdecke erhob. Plötzlich öffnete sich die Zellentür mit Getöse und wir wurden geweckt: Die Aufseherin beklagte sich erregt, mein Mithäftling mache das extra, um sie zu verführen. Noch schlaftrunken begriff er lange nicht, worum es ging. So wurde nicht nur ein Häftling vom nächtlichen Licht nervös … Während meines Aufenthaltes im Untersuchungsgefängnis, der fast ein Jahr dauerte, teilte ich meine Zelle mit drei Mithäftlingen: Mit Walerij und Witalij, an den Namen des dritten kann ich mich nicht mehr erinnern. Es war klar, sie wurden nicht aus

54

S.F. Glusman. Zeichnungen aus dem Gedächtnis, oder Erinnerungen eines Häftlings, Kyjiw: Verlagshaus Dmitrij Burago, 2012, S.178 (im Weiteren: S.F.Glusman. Zeichnungen aus dem Gedächtnis, oder Erinnerungen eines Häftlings).

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 199 politischen Gründen verhaftet: Sie wurden wegen »Devisenspekulation« oder anderer Sünden gefasst. Sie waren aller Wahrscheinlichkeit nach im Einverständnis mit dem KGB mit mir zusammen. Ich würde jedoch übertreiben, wenn ich sage, dass die beiden gezielt etwas aus mir herauskriegen oder mir unerträgliche Bedingungen verschaffen wollten. Unsere Gespräche waren neutral und nicht aggressiv. Valerij war zur Zeit der Verhaftung mit dem Sohn von Wolodymyr Schtscherbyzky, einem ukrainischen Partyboss, befreundet. Er erzählte mir viele interessante Dinge über den Lebensstil der mächtigen Elite und über ihre zunehmend kriminellen Unternehmungen und ihre Drogensitzungen. Der dritte Zellengenosse befremdete mich mit seiner totalen Ignoranz – ich konnte mir nicht vorstellen, dass einer die Schule beendete und nicht weiß, dass der Mond um die Erde kreist! Im Allgemeinen wurden wir (und in meinem Beisein auch meine anderen Zellengenossen) im Rahmen der »sowjetischen Regeln« behandelt. Die Aufseher sprachen uns mit der Höflichkeitsform »Sie« oder als »Bürger« an. Ich nehme an, dass sich in meinem Fall eine solche Höflichkeit nicht so sehr mit Vorschriften oder der hohen Klasse des wichtigsten SISO-Untersuchungsgefängnisses des KGB der USSR erklären lässt, sondern dadurch, dass das KGB den »verleumderischen« Charakter der Aussagen der Ukrainischen Helsinki-Gruppe über die Misshandlung von Häftlingen beweisen musste. Mein Untersuchungsführer betonte später mehrfach: »Sie können sich doch selbst überzeugen: Hier werden keine ungesetzlichen Methoden angewendet. Alles, was Sie schrieben, ist eine reine Verleumdung!« Mykola Matusewytsch wurde aber geschlagen – mindestens damals, als er mehrere Monate nach unserer Verhaftung einmal auf dem Korridor rief: »Myroslaw, man schlägt mich!« Ich pochte aus Protest an die Türe und verkündete einen dreitägigen Hungerstreik. Zufällig erfuhr ich dann, dass Mykola zur selben Zeit auch einen dreitägigen Hungerstreik ausgerufen hatte. Der Staatsanwalt plauderte es aus. Als er in meine Zelle kam, um die Sache zu klären, fragte er mich: »Wie lange wollen Sie im Hungerstreik bleiben?« Ich erwiderte: »Ich mache es nicht, um Selbstmord zu begehen. Ich mache es nur drei Tage.« Er murmelte »Hmm, es sieht so aus, als hättet

200 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT ihr euch verabredet …« Also hungerte Mykola auch. Es war der einzige Fall während der Untersuchungshaft, dass ich auf eine solche Form des Protestes einging. Über andere Häftlinge, die nicht in meiner Zelle waren, kann ich nichts sagen. Später erst erfuhr ich, dass man sich gegenüber dem bekannten Schriftsteller Helij Snjehirjow in diesem SISO sehr brutal verhielt. Er hatte Prostatakrebs, woran er bald verstarb. Er ertrug riesige Qualen, nicht nur durch die Krankheit, sondern auch durch Folter Gott einer »aufrichtigen Reue«, die das KGB als Preis für medizinische Hilfe und Schmerzmittel verlangte. Der Reuebrief von Snjehirjow, veröffentlicht am 1. April 1978 in der Zeitung »Radjanska Ukraina« (»Sowjetische Ukraine«) unter dem Titel »Ich schäme mich und verurteile mich dafür«, war genau auf diesem Wege errungen worden. So funktionierte das Prinzip der »individuellen Herangehensweise« bei der Behandlung Gefangener durch den KGB. Im Gedenken an die unvorstellbaren Qualen, die Snjehirjow vor dem Tode ertrug, möge sein Name in aeternum Bestand finden! Ich nehme an, dass das KGB bei mir eine gewisse Hoffnung hatte, dass ich »zerbreche«. Mein Verhalten förderte gegen meinen Willen diese Illusion. Ich bin in meinem Wesen normalerweise nicht grob und aggressiv. Wenn mit mir normal gesprochen wird, antworte ich nie als Erster bissig. Meine Weichheit erzeugte bei ihnen wohl den Eindruck, dass ich schon nachgeben werde, wenn ich noch ein bisschen bearbeitet werde. Sie würden nur noch etwas mehr Zeit brauchen, um mich zu überzeugen. Doch meine äußere Höflichkeit widerspricht keinesfalls der Stärke meiner Position. Ich wurde ungefähr einmal pro Woche zum Verhör geholt. Mit der Zeit gewöhnte ich mich an die Haftbedingungen. Eine geringe Häufigkeit der Verhöre erschien mir sogar ärgerlich. Da mir Nachrichten von außen fehlten, wurde es mir in der Zelle manchmal langweilig. Die zwei offiziellen Zeitungen, die »Prawda« (»Wahrheit«) und die »Iswestija« (»Nachrichten«), waren offenkundig zu wenig, um meinen Hunger nach Information zu stillen. Die Verhöre waren immerhin eine Abwechslung. Ich hatte zudem keine Schuld auf mich geladen und musste nichts verbergen. Für mich war es spannend, die Zelle zu verlassen und ins Kabinett des

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 201 Untersuchungsführers zu gehen. Aus seinen Fragen erfuhr ich, was es Neues für mich gibt. Deshalb konnte ich dieses »Hände auf den Rücken!« und das mehrfache Abtasten auf dem Weg zum Verhörraum gut durchstehen. In meinen Verhören zeigte sich die bereits erwähnte individuelle Behandlung. Auch für die anderen Häftlinge war dieses SISO und die Verhöre überhaupt kein Vergnügen. So sagte etwa Oles Schewtschenko während einer Rede am 15. September 2015 im Kyjiwer Museum für Literatur im Rahmen einer Dichterlesung über Mykola Horbal: Verhöre wurden bis zur Erschöpfung durchgeführt – in der Karwoche 1980 wurde ich von 10 Uhr früh bis 22 Uhr abends verhört, die einzige Unterbrechung war, um den Krankenwagen für mich zu rufen.

Auf dem Weg zum Arbeitszimmer des Untersuchungsführers und zurück in die Zelle gab es in meinem Fall keinerlei Überraschungen, keine »zufälligen« Begegnungen, keine Inszenierungen. Es gab allerdings einen Moment, als ein Aufseher, der mich zum Untersuchungsführer brachte, den Augenblick abpasste, als uns andere nicht hören konnten, sich sehr menschlich beklagte, dass ich noch so jung einfach mein Leben ruiniere. Natürlich ist es am leichtesten, das Verhalten mit der Erfüllung als Auftrag des KGB, den Häftling »psychologisch« zu bearbeiten, zu erklären. Aber ich bin bis heute überzeugt, dass er aufrichtig offen sprach und nicht auf Befehl handelte. Das war die typische Logik eines Sowjetmenschen, für den die wichtigste Überlebensregel ist, nicht aufzufallen, sich nicht mit der allgegenwärtigen Macht anzulegen, denn sonst verliert man ganz bestimmt. Die Ermittlung führte der schon erwähnte Oleksandr Fedorowytsch Beresa. Ein Ukrainer, denn seine ukrainische Sprache war echt. Mit mir sprach er ausgeglichen und ruhig – ich mit ihm ebenfalls. Es kam vor, dass wir sogar scherzten. Einmal erzählte er mir bis aufs Wort genau einen beinahe antisowjetischen Witz. Sehr rasch erfasste ich die primitive Absicht seiner Fragen und machte mich behutsam über ihn lustig, indem ich ihm vorsagte, welche Frage er zu stellen vergessen hatte. Aber weil alle Fragen sehr ernst und bürokratisch feierlich klangen, verdoppelte das die Komik der

202 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Situation. Denn es sah so aus, als ob der Angeklagte durch seine eigenen Hinweise dem Untersuchungsführer half, sich zu entlarven. Ab und zu kam zu den Verhören der Untersuchungsführer von Mykola Matusewytsch, Leonid Pawlowytsch Berestowsky. (Ich nenne den Namen so, wie ihn die »Chronik der laufenden Ereignisse« erwähnt und wie ihn sich Wasyl Owsijenko merkte, obwohl er sich in meinem Gedächtnis als Beresowsky einprägte.) Ich vermutete, dass er meine Antworten auf bestimmte Fragen hören wollte. Später erfuhr ich, dass Mykola die Taktik gewählt hatte, auf Fragen überhaupt nicht zu antworten. Mitte der 1990er-Jahre erläuterte Mykola mir selbst seine damalige Position: Ich machte vor denen keine Aussagen und ließ mich im Allgemeinen nicht auf Gespräche ein, außer dass ich mir manchmal einen psychologischen Zweikampf erlaubte. Ich sagte ihnen: ›Braucht Ihr etwa dieses Spiel? Nun, dann vergnügt euch selbst, aber ohne mich. Ihr Jungs schießt in dasselbe Tor und wollt auch noch, dass ich euch die Bälle zuspiele? Nie und nimmer!‹ Ihnen fiel, nebenbei gesagt, mein Schweigen schwerer als mir. Sie drückten auf die schmerzhaften Stellen, erwähnten die Mutter, die Schwester … Sie baten mich, mit ihnen zumindest über Fußball zu reden. Verhöre gab es viele, die Untersuchungsführer wechselten wie abgehetzte Pferde. Ich war enttäuscht. Ich stellte mich auf einen komplizierten, angespannten Zusammenstoß ein. Als ich aber diese Zunft näher betrachtete, begann ich mich zu langweilen.

Ich aber habe mich bei den Verhören an jene Verhaltensweise gehalten, die ich, wie bereits früher erwähnt, mit Mykola Matusewytsch abgestimmt hatte. Offiziell ging ich davon aus, dass wir keine illegale Gruppe waren und öffentlich in unseren Dokumenten verkündeten, dass wir nicht gegen die Sowjetmacht als solche auftreten, sondern gegen die Verletzungen der Menschenrechte, die Vertreter der Macht verursachten. Deshalb hielt ich es nicht für notwendig, im Untergrund zu bleiben und über alles zu schweigen. Im Gegenteil, ich bestätigte, dass es eine bürgerliche und offen tätige Gruppe war und dass sie die Erfüllung der Helsinki-Vereinbarungen, die von Breschnew selbst unterzeichnet worden sind, förderte und öffentlich ihre Absichtserklärung abgab. Ist denn eine Bürgerinitiative etwas Schlechtes, ist sie etwa in der Sowjetunion verboten? So möchte ich an dieser Stelle einen Smiley setzen …

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 203 Übrigens, gänzlich naiv war ich nicht und deshalb warnte ich sogleich den Untersuchungsführer, dass ich nur von mir sprechen werde und kein Protokoll unterschreibe, wo andere erwähnt werden. Deshalb wurde im Urteil so häufig die Formel wiederholt: »Anfang Dezember 1976 erhielt M. F. Marynowytsch von einer Person, die zu nennen er sich weigerte […] und anschließend verbreitete er sie unter Personen, die er nicht nannte.« Schließlich begriff ich, dass andere Menschen das Recht auf eine andere Verhaltensweise haben und ich nicht berechtigt bin, sie zu kritisieren. Dieser Linie blieb ich ziemlich treu und aus Versehen »verletzte« ich sie nur in einem oder zwei Fällen, was mir damals natürlich den Schlaf raubte. Wie schon im vorangegangenen Abschnitt erwähnt, bestand ich darauf, dass ich Verfasser aller elf Memoranden war. Nun, ein solcher Entschluss war leichter zu formulieren, als ihn einzuhalten. Oleksandr Beresa machte sich sehr über mich lustig, als er von mir diese Behauptung hörte. Am meisten setzte mir der Gedanke zu, das ich mir so scheinbar dem Verdienst anderer zuschreiben will. Aber ich wiederholte hartnäckig, dass ich der Autor des einen oder anderen Dokumentes bin. Klar, der Untersuchungsführer verstand all das gut. Deshalb stoßen wir in Matusewytschs und meinem Urteil auf den typischen und realistischeren Satz der Art: In der zweiten Januarhälfte 1977 besprachen die Angeklagten M. I. Matusewytsch und M. F. Marynowytsch mit M. D. Rudenko das von Letzterem für die weite Verbreitung erstellte antisowjetische Dokument unter dem Titel ›Memorandum Nr. 2‹. Sie billigten es und zeigten durch ihre Unterzeichnung, dass sie Mitautoren und Komplizen bei der Herstellung dieses feindlichen Dokumentes waren.

Nimmt man jedoch die Protokolle meiner Ermittlung zur Hand, so sind meine eigenen Formulierungen bewahrt, dass die Dokumente von mir erstellt wurden. Ungefähr an dieselbe Position hielten sich auch andere Mitglieder der Gruppe: so z. B. Rudenko und Oles Berdnyk. In meinem Urteil gibt es eine Notiz, dass meine Autorenschaft der Dokumente der Gruppe durch:

204 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Beweise des Zeugen O. P. Berdnyk bei der vorausgegangenen Ermittlung und durch ihn im Gericht nachgewiesen ist und dass der Autor der Memoranden Nr. 4, 5, 6, 7, 8, 11 ein kollektiver Autor ist. Mitautoren der Memoranden sind also alle Personen, in deren Namen sie erstellt sind.

Lewko Lukjanenko erklärte ebenfalls bei der Gerichtsverhandlung von Mykola Rudenko, dass »die Autoren alle Mitglieder der Gruppe waren, die diese Dokumente unterzeichneten«. Ein Interview von Oksana Jakiwna Meschko enthält übrigens eine Behauptung, auf die ich reagieren muss: Bei uns bestand eine Vereinbarung zwischen den Mitgliedern der Ukrainischen Helsinki-Gruppe, nichts zu protokollieren. Alle unsere Vorgänger führten Protokolle und unterschrieben sie nach dem Abschluss der Ermittlung. Wir schwiegen. Matusewytsch unterschrieb kein Protokoll. Sie stießen ihn die Treppe herunter, wie ich weiß. Lukjanenko genauso. Lukjanenko sogar vor Gericht, als er in Horodnja vor Gericht erklärte: ›Ich bitte Sie: bringt mich in die Zelle und urteilt ohne mich.‹55

Ich vermute, hier haben wir es mit einer Überlagerung des Gedächtnisses zu tun. Möglich ist auch, dass nach unserer Verhaftung manche Mitglieder der Gruppe beschlossen, überhaupt keine Aussagen zu machen, als sie sahen, wie das KGB mit unseren Aussagen manipulierte. Möglicherweise sah auch die persönliche Position von Oksana Jakiwna nach der Erfahrung ihrer vorangegangenen Haft so aus. Wie es auch gewesen sein mag – man kann die mutige und ehrenhafte Position von Oksana Meschko und Mykola Matusewytsch nicht als eine solche ansehen, die mit allen Mitgliedern der Gruppe abgestimmt war. Meine Äußerungen über die Autorschaft und das eigene Tippen der Texte der Gruppe bescherten mir neue und ziemlich komische Sorgen. Die Ermittlung musste beweisen, dass ich sie auf der bei uns beschlagnahmten Schreibmaschine »Ukraina-2« schrieb, d. h., sie musste eine gerichtliche Untersuchung durchführen. So setzte man mich eines Tages an die Maschine, gab mir irgendeinen Text zum Abschreiben – und vor mir war ein Problem. Wusste ich doch, dass in Wirklichkeit Olga Heijko die Dokumente getippt

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Ich gebe nicht nach! Zum 100-jährigen Geburtstag von Oksana Jakiwna Meschko, S.308.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 205 hatte. Wenn ich so tippte, wie ich es konnte, würde das Gutachten ohne Weiteres ergeben, dass ich mit dem Schreiben nichts zu tun hatte, und meine Aussagen würden dann in der Luft hängen. Somit lag meine einzige Rettung darin, verschieden zu tippen, also jedes Mal die Art des Tastenanschlags und das Tempo des Tippens zu verändern. Vielleicht ergaben sich damit Besonderheiten, die Olgas Art zu tippen, glichen. So könnte ihr Stil für meinen gehalten werden. An jenem Tag war ich nass wie nach einem Bad. Ich war damals ein ungeschickter Schreibmaschinenschreiber und verzerrte mir jedes Mal wieder die Muskeln, um unterschiedlich zu tippen. Wie groß war meine Freude, als ich, nachdem ich mich mit dem Inhalt der Akte vertraut gemacht hatte, das Ergebnis der gerichtlichen Begutachtung las, dass »festzustellen, ob M. F. Marynowytsch die Dokumente tippte oder nicht, unmöglich ist«! Mit anderen Worten: Es wurde nicht bestätigt, dass ich es war, aber auch nicht widerlegt. Deshalb finden wir im Urteil später oft: Mit dem Ziel der weiten Verbreitung dieses verleumderischen Dokumentes vervielfältigte M. F. Marynowytsch in russischer und ukrainischer Sprache mindestens neunzehn Exemplare auf der Schreibmaschine, die von M. I. Matusewytschs Frau, O. D. Heijko, ausgeliehen war.

Dabei war klar, dass Olga Heijko bei Gericht das ihrige verdiente und ihr das Schreiben unserer Dokumente trotzdem zur Last gelegt wurde. Für mich jedenfalls war es psychologisch wichtig, dass ich alles in meiner Kraft Stehende tat, um die »Schuld« auf mich zu nehmen. Von meinem Untersuchungsführer erfuhr ich meinen neuen Status als »besonders gefährlicher Staatsverbrecher« (natürlich nur dann, wenn ich nicht bereute). Das klang für mich sehr komisch. Ab und zu sagte ich deshalb ironisch: »Es entsteht der Eindruck, dass Mörder für die Staatsmacht nicht so gefährlich sind wie wir Dissidenten.« Darauf nickte er ganz ernst mit dem Kopf und bestätigte: »Ja, Mörder sind nicht so gefährlich, denn sie infizieren andere nicht wie Sie.« Oleksandr Beresa machte sich über uns auch deswegen lustig, da in einigen unserer Dokumente oder Briefe der Name der

206 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT finnischen Hauptstadt falsch geschrieben war: nicht »Helsinki«56 und »Helsinker«, sondern »Helsynki«, »Helsynkische« und dergleichen. »Weshalb wissen die Mitglieder der Gruppe, die für sich den Namen der finnischen Hauptstadt wählte, nicht einmal, wie er richtig geschrieben wird?«, meinte er voller Ironie. Ich ließ mir nichts schuldig bleiben und äußerte mich ebenfalls ironisch über einige Formen der Ermittlung. So wiederholte etwa der Untersuchungsführer Beresa oft die Bemerkung: »Wir verurteilen Sie nicht für Ihre Überzeugung – Sie können alles denken. Wir verurteilen Sie aber dafür, was Sie aussprechen, d. h. für Ihre konkreten Taten.« Worauf ich scherzte, dass die Sowjetmacht eine wissenschaftliche Entdeckung machte und eine eigenartige Hirnoperation durchführte, die das Denken vom Sprechen trennt. Es war interessant, später zu lesen, dass diese Eigenheit der sowjetischen »Rechtsprechung« während der Ermittlung auch bei Mykola Rudenko (und vielen anderen Angeklagten) ersichtlich wurde. Deshalb sagte er in seinem letzten Wort: Über drei Monate wurde ich verhört. Jeden Tag wollten die Oberstleutnante des KGB folgende Wahrheit in meinen Kopf zwingen: Niemand wird bei uns wegen seiner Überzeugung verurteilt. Es geht darum, ob es jemand dann auch sagt. Das ist der Unterschied zwischen einem Menschen und einer Schildkröte.57

Der Untersuchungsführer erinnerte mich in einem Gespräch daran, dass wir eigentlich nach § 64 des StGB der USSR verurteilt werden sollten, d.Wie h. für die Beteiligung an einer antisowjetischen Organisation, aber klar wurde, dass das KGB diese Linie nicht mehr verfolgt. Es hinderte ihn allerdings nicht, das Thema als ein »Brecheisen« zu benutzen, um das Misstrauen von Mykola Rudenko Matusewytsch mir gegenüber zu verstärken. In der Beschreibung des Gerichtes über Rudenko finden wir deshalb die interessante Episode (»Chronik der laufenden Ereignisse«, Ausgabe 46):

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Die Tradition, den Buchstaben »h« in der ukrainischen Sprache durch den Buchstaben »г« (»g«) zu übertragen, kam schon in der unabhängigen Ukraine auf. In der Diaspora schrieb man »Gelsinki« (»Helsinki«). Mykola Rudenko. Das größte Wunder – das Leben, S.542.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 207 M. Rudenko bat [vor Gericht], die Aussagen von Matusewytsch und Marynowytsch zu verlesen, […] damit die Mitglieder der Ukrainischen HelsinkiGruppe aus diesen Angaben zur Überzeugung gelangen, dass sie verleumderisch, provokatorisch und schrecklich sind. Es wird dort gesagt, dass es keine Bürgergruppe, sondern eine illegale antisowjetische Organisation ist.

Es kann deshalb nur vermutet werden, was Mykola Danylowytsch über uns aufgenötigt wurde! Das war sich auch der Autor bewusst, wenn er in der »Chronik« schreibt: »Diese falsche Information wurde M. Rudenko untergeschoben.« In den Anmerkungen zum Dokument ist für mich deshalb eine wichtige Notiz enthalten: Beim Wiedersehen [am 4. Juli 1977] sagte Rudenko der Ehefrau, dass er an die verleumderischen Geständnisse von Matusewytsch und Marynowytsch nicht glaubt, sondern es für eine Provokation seitens des KGB hält.

Tatsächlich versuchte das KGB mit allen Kräften die verhafteten Mitglieder der Gruppe zu diskreditieren. Eine Tradition hatten die Gerüchte, dass wir »zerbrachen« und (über andere) »auszupacken begannen«. Nachdem er von seiner Ehefrau ein Päckchen zum Geburtstag erhalten hatte, wurde Olga Heijko-Matusewytsch im KGB sogar gesagt, Mykola Matusewytsch »führe sich gut auf«, was eine gezielte Fälschung war, weil fast zu derselben Zeit Mykola im Untersuchungsgefängnis geschlagen wurde – und zwar dafür, dass er ihnen ziemlich auf den Wecker ging. Wir Verhafteten konnten die Gerüchte leider nicht mehr widerlegen. Umso wertvoller waren uns deshalb Beispiele des Vertrauens. Über einen solchen Fall will ich nun erzählen, obwohl ich erst später davon hörte. 1977 versuchte mich mein Freund aus der Armeezeit, Gennadij Plotkin, ausfindig zu machen als er in Drohobytsch war, wo ich früher wohnte. Erst später erfuhr er über Radio »Swoboda«, dass ich verhaftet wurde. Nachdem er in die Vereinigten Staaten emigrierte, stellte er die Suche nicht ein. Er gelangte an Petro Hryhorenko, der ihm auch antworten konnte. Der Brieftext übermittelt wunderbar den Geist dieser schon fast vergessenen Epoche:

208 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT 20.08.1982 Sehr geehrter Gennadij! Selbstverständlich kenne ich Myroslaw Marynowytsch. Ich bin Mitglied der Ukrainischen Helsinki-Gruppe. Seit mich das KGB aus der UdSSR ausgewiesen hat, bin ich Vertreter der Gruppe im Westen. Als Sie im Sommer 1977 auf der Suche nach Marynowytsch waren, war er bereits in Haft. Ich war noch in Moskau und kämpfte um die Freilassung der verhafteten Mitglieder der Gruppe. Man verurteilte ihn zu sieben Jahren Haft und fünf in der Verbannung. Nach den neusten Angaben ist er im Tschystopoler Gefängnis. [Weiter kommt die Adresse, obwohl die Information falsch war: Eine Zeit lang hatte ich wirklich die Verlegung in das Tschystopoler Gefängnis angestrebt, kam aber letztlich nicht dorthin. – M. M.] Sie fragen, ob die Möglichkeit einer postalischen Verbindung zu ihm besteht. Warum denn nicht? Wir beide leben Gott sei Dank in einem freien Land [USA], in dem die Kommunikation durch nichts eingeschränkt ist. Und dieses Land unterhält vertragliche Beziehungen mit der UdSSR über den Postverkehr. Es muss Briefe annehmen und seinen Bürgern zustellen, die von der amerikanischen Post eintreffen. Da aber die UdSSR beliebige Verträge verletzen kann, empfiehlt die amerikanische Post ihren Bürgern, Briefe und Ansichtskarten mit Rückschein zu senden und außerdem Pakete und Päckchen zu versichern. In diesen Fällen kann man für nicht zugestellte Sendungen Schadenersatz fordern. Ich kenne Ihre materiellen Möglichkeiten nicht, aber wenn sie vorhanden sind, können Sie der Ehefrau ein Paket senden. Beim Schreiben muss man daran denken, dass Zensur herrscht (wie Sie ihn ausfindig machten, und darüber, dass Sie den Brief an seine Ehefrau schickten, und dergleichen). Wenn Sie ansprechen, wie Sie ihn fanden, beziehen Sie sich nicht auf Radio ›Swoboda‹. Besser, Sie erfinden einen Zufall: Sie hätten einen Landsmann kennengelernt, und es stellte sich heraus, er kenne Marynowytsch. Wenn dann der Name eines Landsmannes benötigt wird, nennen Sie meinen Vorund Vatersnamen (nicht Nachnamen) in der ukrainischen Transliteration (Petro Hryhorowytsch). Ich wünsche Ihnen Erfolg. Sie können ein edles Werk tun, indem Sie die Verbindung zu mir herstellen. Sie muntern den Geist eines guten Menschen auf, obwohl er sich auch ohne sie hervorragend verhält, sowohl mutig vor Gericht wie auch im Gefängnis. Er beteiligte sich an der Gründung und Arbeit der Ukrainischen Helsinki-Gruppe. Gott möge Sie und Ihre Familie schützen. Gruß von mir und Sinaida Mychajlowna. Hochachtungsvoll, P. H.

Es ist überflüssig hervorzuheben, dass dieser Brief sehr wertvoll für mich war. Durchgelesen habe ich ihn erst, als Petro Hryhorowytsch schon nicht mehr am Leben war. So war es offenbar ein Gruß vom Ort, wo es »kein Leid und keine Trauer« mehr gibt; und was

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 209 wichtiger ist, wo es keine Durchsuchungen und Psychiatrien, geheime Tyrannei der Partei und keine raffinierte Teufelei des KGB mehr gibt … Die weiteren Verhörprotokolle zeigten, dass sowohl Mykola als auch mir »Verbrechen« zur Last gelegt wurden, die auf dem Territorium der RSFSR verübt worden waren: Mykola wegen einer Reise und weil er sich mit Jurij Orlow, dem Leiter der Moskauer Helsinki-Gruppe, traf – und mir wegen meiner Reise zu General Petro Hryhorenko nach Moskau und zu Nina Strokata nach Tarusa, und wegen Übergeben »verleumderischer« Dokumente in Serpuchow. So tauchte in unserem Urteil noch § 70 des StGB der RSFSR auf. Mit Mykola wurde härter umgegangen. Man fügte noch »Rowdyverbrechen« hinzu, die er angeblich in den Karpaten 1972 begangen haben sollte. Ich erfuhr es noch während der Ermittlung. Es war für mich eine Gelegenheit, mich über Oleksandr Beresa lustig zu machen. Denn es kam heraus, dass man Verbrecher, die in längst vergangenen Jahren ein »Rowdyvergehen in besonders schwerem Ausmaß« (offenbar gut dokumentiert) begangen hatten, ganze fünf Jahre in Freiheit herumlaufen ließ und damit die friedlichen Sowjetbürger der Gefahr eines neuen Angriffs durch ungestrafte Hooligans aussetzte! Es war völlig offensichtlich, dass das KGB die »Rowdygeschichte« für einen passenden Zeitpunkt zurückgehalten hatte. Beresa wurde selten nervös. Es war stets meine Unnachgiebigkeit, mit der ich das eine oder andere Element meiner Position verteidigte. Er schrie einmal: »Wozu machen Sie sich zum Helden? Wer sind Sie schon? Schon ganz andere zerbrachen daran. Sogar Iwan Dsjuba gestand seine Schuld ein – sind Sie denn Dsjuba?« Worauf ich mit Nachdruck antwortete: »Nein, ich bin nicht Dsjuba, und deshalb zerbreche ich nicht.« Nach meiner Freilassung erfuhr ich, dass etwa dasselbe Verfahren beim Verhör von Mykola Matusewytsch angewendet wurde: Ich ahnte, was sie brauchten. Sie brauchten mein, wenn auch klitzekleines Zerbrechen, sei es nur ein kleiner Riss; bloß, um meiner Umgebung und

210 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT meinen Freunden zu zeigen: Schaut her, ihr dachtet doch, dass er aus Stahl sei, aber in Wirklichkeit … in Wirklichkeit drücken wir euch alle nieder … Ich erreichte, dass die Aktion, welche die KGBler mit mir machten, nicht nur auf mich, sondern auch auf meine Nächsten und Verwandten angewendet wurden. ›Sie sind ihnen nicht ebenbürtig, Mykola Iwanowytsch. Schauen Sie sich doch an, das Gefängnis ist nicht für Sie gemacht.‹ Sie brauchten nämlich mein Zusammenbrechen, mein Zurückweichen … Obwohl sich der moralische Stoß gegen andere richtete.58

Interessanterweise begriff ich erst in einem kürzlichen Gespräch mit Wasyl Owsijenko in vollem Maße, dass ich um eine psychiatrische Begutachtung herumkam. Ich weiß nicht, weshalb. Der Untersuchungsführer Beresa erwähnte diese Möglichkeit nie. Ich kann also ganz offen sagen: Gott ließ seine Gnade walten. Ich musste nicht im berüchtigten »Serbsky«-Institut für Gerichtspsychiatrie untersucht werden, einem Ort besonderer Qualen, die andere politische Häftlinge ertragen mussten. Ich erinnere mich aber, dass ich mit dem Untersuchungsführer das Thema General Petro Hryhorenko diskutierte. Beresa behauptete ernsthaft, er wäre psychisch krank. Nachdem er auf psychiatrisches »Zerbrechen« verzichtet hatte, bezichtigte mich der Untersuchungsführer eine gewisse Zeit der Homosexualität. Offiziell berief er sich auf Angaben unserer Bekannten Ljudmyla, die kurze Zeit mit ihrer Freundin oft zu Mykola und mir in die Lenin-Straße kam. Ich weiß bis heute nicht, ob die Frauen geschickt wurden, oder sich einfach nur nach Mykola und mir umschauten. Wie es auch sein mag, ihre Aussagen sollen den Verdacht erweckt haben, ich und Mykola seien homosexuell. Später las ich in den Akten, dass der Untersuchungsführer vielen Leuten, die er verhörte, ähnliche Fragen über mich stellte. Die überwiegende Mehrheit widerlegte den Verdacht. Auffällig ist, dass sich genau heute, Mitte 2013, wenn ich diese Zeilen schreibe, im Internet eine von der Krim gestartete Fälschung verbreitet, dass Oles Schewtschenko, ebenfalls Mitglied der UHG und mein Kollege im Lager WS-389/36, in Wirklichkeit wegen

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Mykola Matusewytsch. »Ich gewann den Zweikampf mit den KGBlern, weil ich die Angst besiegte.« (Interview von Wasyl Schkljar mit M. Matusewytsch). Molod Ukrainy, Nr.126 (17462) v.06.11.1996, S.3.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 211 angeblicher Homosexualität verurteilt worden wäre. Das war der Dank der russischen neoimperialen Kamarilla für seine prinzipielle Position in der Frage der neuesten Glorifizierung Stalins. Die Fälschung war so plump und ungehobelt – doch das Prinzip des Anschwärzens ist so alt wie die Erde. Während der Verhöre saß ich an einem speziellen Tischchen an der Türe. Es gab eine bestimmte Regel. Ich wollte mir einmal die Füße vertreten und bat, im Raum hin- und hergehen zu dürfen. Beresa erlaubte es, was eigentlich verboten war. Während ich spazierte, gab ich mir der Versuchung hin und schaute auf die Irynynska-Straße (eine Seitenstraße der Wolodymyrska), auf die ich aus dem Fenster des Kabinetts blicken konnte. Nach mehreren Monaten Isolation führte der Blick auf eine lebendige Straße zu einer verblüffenden Einsicht. Heute gehe ich ohne jede Emotion am Gebäude des Sicherheitsrates der Ukraine (SBU) auf der Wolodymyrska-Straße vorbei … Später las ich bei Stus in seiner »Kirche der Heiligen Iryna«: Es schlagen die Flügel voll Sehnsucht, wie nur kann ich sie stillen auch jetzt? Die Frau überließ ich der Schmach, die Mutter überließ ich dem Unglück. Die eigene Schwester schlägt sich gen Mauern wie ein Kuckuck gegen die Brust. O Herr! Die Welt, die heiligt sich nicht, verrückt sind wir alle geworden.

Mein Eindruck von der lebendigen Stadt war umso schärfer, sodass ich mich lange weigerte, in den Freigang zu gehen, der mir als Häftling per Gesetz zustand. Ich erinnere mich, dass mich einfach der kompakte Betonhof ärgerte – von oben überzogen mit Stacheldraht –, in dem ich mich im Freigang »ergötzen« sollte. Als ich nach mehreren Monaten spürte, dass es mir gesundheitlich nicht guttat und mir frische Luft fehlte, änderte ich meine Meinung und begann, in den Freigang zu gehen. Bereits beim ersten Mal wurde ich belohnt: Ich sah in einer Ecke des »Hofes« einen grünen Halm, der sachte aus einem Haufen durch den Wind angewehter Erde herauswuchs. So erlebte ich noch eine Überraschung, da ich nie vermutete, wie schön ein schwaches Hälmchen sein kann!

212 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Und zu jener Zeit in Freiheit … Nun ist es angebracht, mit einigen Zeilen zu beschreiben, was sich damals gerade außerhalb der Grenzen unseres Untersuchungsgefängnisses ereignete. Als ich am 23. April 1977 verhaftete wurde, erfolgte gleichzeitig wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel auch eine Durchsuchung des KGB in der Wohnung meiner Schwester Nadijka in Riwne. Man filzte sie gründlich und lange. Sie wurde durchsucht und erfuhr die schreckliche Nachricht: Ihr Bruder wurde bereits als »besonders gefährlicher Staatsfeind« verhaftet. Am folgenden Tag erfuhr es auch meine Mutter und für beide wurde es sehr düster. Nadijkas Arbeitsstelle und ihre Karriere als Lehrerin standen in Frage. Die Schule war ja die vorderste Linie der ideologischen Front! Ich nehme an, dass sie nur deshalb an der Arbeitsstelle bleiben konnte, da man wusste: Harte Sanktionen gegen die Familie würden meine Position noch verfestigen. Wie ich bereits sagte, hatte das KGB trotzdem die Hoffnung, dass es gelingen könnte, mich zu brechen – das »Zuckerbrot« hatte also mehr Bedeutung als die »Peitsche«. Bei der Durchsicht der Brief-Archive nach dem Tode meiner Mutter stieß ich auf ein Heft, in dem sie ihre Vernehmung beim Oberuntersuchungsführer am 8. Juni 1977 beschrieb. Klar, dass mich diese Notizen sehr bewegten. Sonst war das Verhör nicht speziell: Mutter zählte unermüdlich Beispiele meines positiven Verhaltens auf, zeigte meine Belobigungsurkunden und versuchte aufrichtig, mir zu helfen. Dafür war mir die Notiz besonders wichtig, die beschrieb, was am Tag nach meiner Verhaftung und unmittelbar danach geschah: An diesem Tag wurde bei meiner Nadijka eine Durchsuchung durchgeführt, die von sieben Uhr früh bis sieben Uhr abends dauerte. Man nahm alle Briefe von Myroslaw mit. Wie gewöhnlich meldete ich am Sonntag um zwölf Uhr ein Telefongespräch mit Nadijka an und erfuhr von ihr, dass Myroslaw verhaftet wurde. Um vier Uhr fuhr ich mit dem Moskauer Zug nach Sdolbunow, wo mich Nadja voller Tränen empfing. Wir unterhielten uns auf einer Bank. Etwa eine Stunde später fuhren wir nach Riwne. Wir redeten lange, ohne zu schlafen und weinten die ganze Nacht. Am Montag früh kehrte ich aus Sdolbunow mit dem Moskauer Zug nach Hause zurück. Nun begannen schwere Tage, jeder Gedanke galt unserem geliebten Jungen.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 213 Von meiner Mutter und auch meiner Schwester distanzierten sich manche Leute, einige wechselten sogar die Straßenseite. Einige Familienmitglieder kamen mit Vorwürfen, die Mehrheit aber unterstützten sie. Zum Glück hatte in Riwne der Ehemann meiner Schwester keine Angst und verließ sie deshalb nicht. Noch enger wurden die Beziehungen zu Freunden aus Riwne wie Musja Ryshko und Walja Fabrowska, den Familien Brise, Kurjanyk, Depo, Sinkewytsch, Siruk, Dantschukow, und auch zu einer ganzen Schar von Freunden aus der Schule und dem Institut, z. B. Marijka Lewyzka (Markus), Danusja Hrynda und Walerij Jachymowytsch. In Drohobytsch erlebte meine Mutter außerhalb der eigenen Familie viel Sympathie von Senja Baran, den Familien von Nadja und Josyp Turtschyk, von Maria und Wlodko Kusan, Ira und Ihor Jajus. Auch alte Freunde wie die Familien der Kawky und Sowjaky und Nachbarn, einige russischsprachigen Familien, etwa die Familie Poljowi distanzierten sich ebenfalls nicht. Frau Domanska, die Mutter meiner Mitschülerin, begegnete meiner Mutter einmal auf der Straße in Drohobytsch und warf ihr vor: »Weshalb gehen Sie mit gesenktem Blick? Jetzt den Kopf nur noch höher! Sie brauchen sich nicht zu schämen: Ihr Sohn ist ein Held!« Allen genannten und ungenannten Freunden, die uns in der schweren Zeit die Hand reichten, bringe ich heute vor Gott ein großes Wort des Dankes entgegen. Am gleichen 23. April wurden in unserer Angelegenheit neben den schon erwähnten bei vielen anderen Leuten Durchsuchungen durchgeführt, insbesondere bei den Eltern von Mykola Matusewytsch, in meiner Wohnung mit R. Serhijtschuk in Kalyniwka, bei B. D. Antonenko-Dawydowytsch, M. Kozjubynska, L. Heina, Je. Obertas, H. Kowalenko, O. Lapin, meinem Verwandten B. Marynowytsch. Ebenfalls betroffen waren L. Lukjanenko, O. Meschko, N. Switlytschna, L. Ruban (Ehefrau von P. Ruban), W. Owsijenko und seine Nichte L. Rjabucha. Einige der Aufgezählten verhörte man mehrmals: N. Switlytschna zweimal, Antonenko-Dawydowytsch dreimal, Je. Obertas sogar sechsmal. Alle erlebten großen Stress, mussten Unannehmlichkeiten bei der Arbeit und neue Verfolgungen erdulden. Bereits einige Tage nach unserer Verhaftung am 29. April erschien in der Zeitung

214 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT »Literaturna Ukraina« (»Literarische Ukraine«) eine Schmähschrift von Hornowy »Für einfach so bekommt keiner Geld«. Darin wurden Mychajlyna Kozjubynska und Borys Antonenko-Dawydowytsch beschuldigt, »Almosen« vom Westen erhalten zu haben. Sie schrieben Entgegnungen. Als sie keine Antwort erhielten, gingen sie zur Redaktion. Dort konnte ihnen kein Brief eines »empörten Lesers« gezeigt werden, auf die sich der Autor dieses Artikels berief. Es gab eine ganze Reihe von Verfolgungen, die Mychajlyna am besten beschrieb: Die repressive Schlinge um mich begann sich 1977 in Verbindung mit den Verhaftungen von Mitgliedern der Helsinki-Gruppe enger zu ziehen. Ich gehörte formal nicht zur Gruppe, verkehrte aber aktiv mit einigen Mitgliedern, vor allem mit Myroslaw Marynowytsch und Mykola Matusewytsch. (Sie mieteten ein Zimmer in einem alten Gebäude auf der ehemaligen LeninStraße mir gegenüber – ich fühlte mich jeweils gut aufgehoben in ihrer ungezwungenen jungen Gesellschaft.) Am 23. April 1977 […] wurde bei mir während einer Durchsuchung ein Exemplar eines Aufrufs der Helsinki-Gruppe gefunden. Nach einigen Tagen wurde während der Mittagspause unerwartet eine Versammlung des Kollektivs des Verlages einberufen, auf der die Frage nach meiner Entlassung von der Arbeitsstelle wegen antisowjetischer Tätigkeit stand. Die Tochter von Mychajlyna, die gekommen war, mich zu unterstützen, sagte, dass in den hinteren Reihen überhaupt niemand abgestimmt hatte. In den Augen der Leitung musste man sich aber positiv äußern. Die Menschen erhoben unwillig die Hand für die Entlassung … Zwei stimmten dagegen: die Sekretärin Ljudmyla Korobowa und meine Kollegin aus der Redaktion, Ljuba Heina (zukünftig Marynowytsch). Sie stand demonstrativ auf und hob die Hand ›dagegen‹, das war zu der Zeit wahrlich eine Heldentat, und es ist schwer, sich vorzustellen, was mit ihr danach angestellt wurde.59

Als Zeichen des Protestes gegen die Verhaftung ihres Mannes Mykola rief Olga Heijko-Matysewytsch aus dem Komsomol einen Hungerstreik aus. Am 14. Mai wandte sie sich mit einer Erklärung an Amnesty International, in der sie bekannt gab, dass sie in die Ukrainische Helsinki-Gruppe eintritt. Wie es bereits früher geschehen war, schlossen sich der Gruppe mit jedem Mal weitere Mitglieder an, die bereit waren, durch ihren gewaltlosen Widerstand das

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Mychajlyna Kozjubynska. Buch der Erinnerungen, S.83.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 215 unmenschliche Wesen des kommunistischen Regimes offenzulegen. Die Gruppe selbst veröffentlichte eine ganze Reihe von Nachrichten über unsere Verhaftung und Dokumente, die den Protest gegen die neuen Verfolgungen zum Inhalt hatten. So wurde eine Erklärung an das Präsidium des Obersten Sowjets der USSR sowie ein Aufruf (Brief Nr. 2) an die Regierungen der Teilnehmerländer der Helsinki-Vereinbarungen verfasst. Mit einem separaten Aufruf vom 3. Juni 1977 wandte sich Oksana Meschko an die Belgrader Konferenz. Am 29. Juni trat eine Reihe von Mitgliedern der Moskauer Gruppe mit einer Beschreibung der Situation in den HelsinkiGruppen zu deren Förderung auf. Oksana Meschko, die damals der nicht formelle Kopf der Moskauer Gruppe war, schrieb dann General Petro Hryhorenko: Wie schwer es für uns ist, für mich persönlich, weiß Gott allein. […] Aber ich ändere mein Wesen nicht und gebe nicht nach. Unsere besten Leute sind hinter Gittern, alle, die mich lieben und die ich liebe.60

Das alles hatte eine unschätzbare Bedeutung: Die harten Repressionen zerbrachen die Mitglieder der Gruppe nicht nur nicht, sondern – welch erstaunliche Sache! – gaben ihr jedes Mal scheinbar einen zweiten Atem. 36 Jahre später wiederholte sich derselbe Effekt auf dem Euromaidan: Je brutaler die Repressionen seitens der Macht wurden, umso größer und tapferer wurde die Antwort der Gesellschaft … Die Mütter von Mykola und mir trafen sich gegenseitig. Auch andere Familienmitglieder dachten nach und überlegten sich, wie uns zu helfen wäre. Ihre weitere Beziehung gestaltete sich nicht einfach: Die Weigerung, einen Protestaufruf zu unterzeichnen, konnte zwischenmenschliche Spannungen oder sogar Vorwürfe hervorrufen. Unsere Verwandten versuchten alles zu tun, was sie konnten, um uns zu helfen, aber jeder machte es entsprechend seines Wesens, seiner politischen Vorstellungen und der Freiheit seines

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Ich gebe nicht nach! Zum 100-jährigen Geburtstag von Oksana Jakiwna Meschko, S.178.

216 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Gewissens. Ein Unterschied im Verhalten war nicht zu vermeiden. Aber es wäre gewiss eine Sünde, jemandem Vorwürfe zu machen. Die Maschinerie der Unterstützung durch die Verwandten der Häftlinge, die damals in der bürgerlichen Gesellschaft funktionierte, lief nun voll an. Die Namen unserer Verwandten wurden in die Liste derer aufgenommen, die eine eventuelle Hilfe durch die Solschenizyn-Stiftung benötigten.61 Nur von dieser Hilfe zu leben, war aber nicht möglich. Ihre psychologische Bedeutung war aber enorm. So gebührt den Moskauern und ihren Kontaktpersonen in der Ukraine (eine Zeit lang waren es Wira Lisowa in Kyjiw, Olena Antoniw in Lwiw sowie Jewgen Sacharow in Charkiw), Ehre und Lob für die Hilfe. Es gab Fälle der spontanen Unterstützung. So begegnete meine Mutter in Drohobytsch auf der Straße einem alten Herrn, der ihr zuflüsterte, dass die illegale Gemeinde der Griechisch-Katholiken materielle Hilfe sammle. Eilig gab er ihr den Umschlag mit Geld und lief davon. Mutter war bis ins Innerste gerührt. Ein Kanal der Unterstützung lief auch durch die Ukrainer in der Diaspora an. So gingen die große Drohobytschaner Dr. AnnaHalja Horbatsch (wahrlich ein nicht formeller Kulturattaché der Ukraine in Deutschland), Sinowij und Lida Marzjuk aus München, Sinowija Bihun aus den USA, Osyp Krasij aus Großbritannien sowie viele andere einfache und bescheidene Botschafter des barmherzigen Gottes, der über unsere Verwandten wachte, in unser Familiengedächtnis ein. Wie viele Pakete füllten ihre Hände mit dem Allernötigsten für jene in der Ukraine, die unter dem Druck des KGB standen! Wie viele Briefe und Postkarten schrieben sie, in die sie ihre Seele und ihr Herz legten! In Dissidentenkreisen reichte es aus, ihre Namen zu erwähnen (sagen wir »Frau Halja«) und alle

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Die Bürgerstiftung der Hilfe für politische Häftlinge und ihre Familien (Solschenizyn-Stiftung) wurde Ende 1973 dank einer Vereinbarung zwischen Alexander Solschenizyn und Oleksandr Ginsburg gegründet. Die Grundlage der Stiftung bildeten Solschenizyns Honorare für sein Werk »Archipel Gulag«. Verwalter der Stiftung in Russland waren zu verschiedener Zeit Oleksandr Ginsburg, Arina Sholkowska-Ginsburg, Malwa Landa, Tetjana Chodorowytsch, Kronid Ljubarsky, Serhij Chodorowytsch und Andrij Kistjakowsky.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 217 verstanden sofort, um wen es ging: Die Gesichter strahlten und es ergoss sich eine Welle herzlicher Hilfsbereitschaft in meine Seele … Wendepunkte des Schicksals Kehren wir zurück in meine Zelle im Untersuchungsgefängnis des KGB, in der ich noch keine Ahnung hatte, welche Wendepunkte des Schicksals auf mich warteten. Es nahte der August 1977, der mir radikale Veränderungen in meiner weltanschaulichen und geistlichen Existenz brachte. Während eines Verhörs bemühte sich Oleksandr Beresa, meine Haltung zum pfingstkirchlichen Appell »an die Christen der Welt, für die inhaftierten Mitglieder der verschiedenen HelsinkiGruppen zu beten« zu erkunden. Ich antwortete auf die Frage fast wörtlich: »Ich bin diesen protestantischen Christen für ihre Unterstützung sehr dankbar, sie berührt mich sehr. Ich persönlich bin der Religion gegenüber eher gleichgültig.« Ich verstehe, dass vielen meiner Leser diese Worte aus dem Munde des Enkels eines Priesters zumindest erstaunlich erscheinen. Aber das war damals der wahre Zustand meiner Seele: Einerseits mochte ich es nie, wenn Leute die Kirche lächerlich machten; andererseits konnte ich ganz gut damit leben, den Namen Gottes nicht zu erwähnen. Aber Gott bereitete eine große Umwälzung in meinem Leben vor – eine, die meine Denkweise und mein Leben insgesamt gründlich veränderte. Er ist der Erste, der tut, wozu er uns in einem bekannten Vers des Evangeliums aufruft: »Ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen« (Matthäus 25,36). Ich bin nicht zu ihm gekommen – er ist zu mir gekommen. Und sein Kommen wurde für mich wirklich eine Wiedergeburt, nach der ich nicht mehr gleichgültig auf die Worte der Bibel schauen konnte: »Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Brausen, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist« (Johannes 3,8). Diese Erfahrungen zu beschreiben, ist nicht einfach. Selbst im Lager, als ich meine Gefühle mit Mykola Danylowytsch Rudenko teilte, spürte ich, wie unzureichend Worte sind. Dabei hatte ich vor mir doch einen Menschen, der eine ähnliche Verwandlung erlebte und mich schon bei den

218 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT ersten Worten verstand! Schon damals wurde mir bewusst, dass ich irgendwie in Worte fassen musste, was sich nicht in Worte fassen lässt. Ich hätte das Ereignis nicht erwähnt, wenn Rudenko mich nicht darum gebeten hätte. Er hat meine Beschreibung später als Anhang in seine eigenen Memoiren aufgenommen. Es geschah am 24. August 1977. Ich war gerade von meinem Verhör zurückgekehrt und schritt aufgewühlt von der Unterhaltung mit meinem Ermittler auf der kurzen »Champs-Élyseés« meiner Zelle auf und ab, völlig in Gedanken versunken. Meine Überlegungen führten mich zu Mykola Rudenkos Wirtschaftsmonologen, einer beispielhaften Samisdat-Publikation. Die Monologe handelten von einem theoretischen Duell zwischen Karl Marx und François Quesnay, dem französischen Physiokraten, über das denkwürdige Ende des vierten Bandes von »Das Kapital«, in dem Marx am Ende seines Lebens seinen Irrtum eingestand. Der französische Denker unterteilte die Gesellschaft auf eine andere Weise in Klassen als Marx: nicht nach dem Vorhandensein von Produktionsmitteln, sondern nach dem eigentlichen Charakter der Produktion. Während ich in der Gefängniszelle umherging, »platzierte« ich nicht nur die Klassen nach dem Schema von Quesnay, sondern sah jedes Mal auch deutlicher die Dynamik der Beziehungen zwischen ihnen oder genauer – wie der Übergang der Menschen von einer Klasse zur anderen funktioniert. Zuerst konzentrierte sich die Mehrheit der Menschen auf die Klasse der Landwirtschaft; dann konzentrierten sich die Arbeiter auf die Klasse der Landwirtschaft; und dann begannen die Arbeiter (Proletariat) die Hauptrolle zu spielen, um schließlich durch diejenigen ersetzt zu werden, die ihren Verstand benutzen. Diese Klasse wuchs. Mein Gehirn dachte intensiv und präzise weiter nach, und ich konnte mir die Klassen klar vorstellen, ohne sie auf Papier zu zeichnen. Da diese Art des Denkens die wichtigsten Tendenzen unserer Zeit in sich vereinte, löste mein Gefühl der Annäherung an die Wahrheit ein Gefühl der geistigen Euphorie aus. In dem Moment, als alle Klassen zu einer einzigen verschmolzen, schrie etwas in mir: »Das ist die totale Vereinigung!« Und meine Vision veränderte sich plötzlich. Ich sah die ganze Erde klar und deutlich, wie in einem Hologramm mit der gesamten Oberfläche, das Gras in der Steppe war

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 219 von einer wogenden Masse von Menschen bedeckt, die durch ihre unterschiedlichen Leidenschaften auseinandergerissen wurden und sich in alle Richtungen orientierten. Doch das Chaos hielt nicht lange an. Plötzlich tauchte an einer Stelle des Globus – und verzeiht mir, es war die Ukraine – eine große Gestalt auf. Obwohl ich zu diesem Zeitpunkt weit davon entfernt war, religiöse Erfahrungen zu machen, konnte ich erkennen, dass es sich bei dieser Gestalt um Christus handelte. In diesem Augenblick richtete sich die gesamte »wogende Masse« der Menschen wie Eisensägespäne in einem Magnetfeld auf diese Figur aus. In der Weltkugel und in mir wuchs eine große Spannung heran. Schließlich flammte vor meinen Augen ein starkes Licht anstelle der Erdkugel auf. Ich spürte einen richtigen Schlag – und sprang sogar zurück, kniff die Augen zusammen und … verlor das Bewusstsein. Von diesem Moment an verfiel ich drei Tage in einen tranceähnlichen Zustand. Mit meinen Gedanken (genauer: meinen Gefühlen, meinem ganzen Wesen) schwebte ich außerhalb unserer Welt – und gleichzeitig verrichtete ich die üblichen Dinge in der Zelle, nahm durch die »Futterluke« das Essen entgegen, ging, schlief, wusch mich und reagierte, wie sich später herausstellte, nicht auf meinen Mithäftling und antwortete nicht auf seine besorgten Fragen. Es war ein Gefühl, wie wenn ein Strom unfassbarer Nachrichten in mich fließt, aber nicht zerlegt in einzelne Gedanken, sondern mir als ganzes »Paket« dargeboten wird. Es ist unmöglich, diesen Zustand in Worten zu beschreiben, es würde das Bild nur verzerren. Ich kam erst am vierten Tag wieder zu mir und stellte fest, dass ich monotone Glockenschläge hörte, und fragte meinen Mithäftling Walerij: »Warum läuten sie in der Wladimir-Kathedrale so lange?« Als Antwort hörte ich erleichtert: »Bist du endlich wach geworden? Was ist mit dir? Welche Glocken? Bist du etwa verrückt geworden?« Nun erfuhr ich, dass ich drei Tage in einem Schlafzustand gewesen war. Später erzählte mir Mykola Danylowytsch im Lager, dass er seinerzeit ähnliche Zustände erlebt hatte und ich Glück gehabt hätte, dass alles so rasch vorüberging. In meinem

220 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT jungen Alter (ich war damals 29 Jahre) könne ein solcher Lichtblitz mit Verrücktheit enden. Die folgenden Tage in der Zelle des Untersuchungsgefängnisses ähnelten einer dem anderen. Ich wachte mit Gedanken auf, die ich früher nie hatte. Das kleinste Detail aus dem Alltag konnte einen ganzen Strom philosophischer oder metaphysischer Gedanken in mir hervorrufen. Es entstand der Eindruck, dass vor mir ein »Informationspaket« aufgeschnürt wurde, das während des besonderen Zustandes in mich hineingebracht worden war. Heute habe ich keine Angst mehr, das Wort Offenbarung zu benutzen, aber damals war es für mich noch abschreckend. Es dauerte lange, bis ich mich an die Leichtigkeit gewöhnt hatte, mit der ich Dinge erkannte, die mir vorher nicht zugänglich waren. Ich war in der Lage, Erklärungen für mein persönliches Schicksal und meine Handlungen zu finden; sie schienen nicht mehr zufällig zu sein, sondern bekamen eine enorme prophetische Dimension. Eigentlich war es ein Zustand eines beinahe absoluten Determinismus, der jeden meiner Schritte und Handlungen als unvermeidlich bestätigten. Hier ein Beispiel, das sich in mein Gedächtnis einprägte: Gegen Herbst führten mich meine Gedanken einmal zum Periodensystem, das wir unter dem Namen Mendelejews kennen. Für mich war es bereits zu einem partiellen Abbild eines allgemeingültigen größeren Gesetzes geworden, das alle Lebenserscheinungen betrifft. Die offensichtlichen Ähnlichkeiten zwischen bestimmten Phänomenen riefen eine Flut von Hypothesen in mir hervor. Die von Lanthan angeführte Gruppe der Elemente umfasst vierzehn weitere Elemente, die unter dem gemeinsamen Namen »Lanthaniden« zusammengefasst sind. Analog dazu umfasst das Kästchen des gedanklichen Systems mit der Bezeichnung »Rossija« genauso vierzehn Elemente (Republiken), die in der ganzen Welt unter dem Sammelnamen »Russland« bekannt sind. Lange spielte ich mit diesem Periodensystem. Mir machte es aber zu schaffen, dass ich mich nicht mehr an bestimmte Punkte auf der Tabelle erinnern konnte. Aber ich musste sie unbedingt präzisieren! Deshalb wandte ich mich an den Untersuchungsführer Beresa mit der Bitte, meine Familie zu benachrichtigen, mir das Periodensystem zu bringen. Diese Bitte war sehr ungewöhnlich für

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 221 einen »politisch Angeklagten«. Etwas verwirrt fragte er mich: »Wozu brauchen Sie es? Garantieren Sie mir, dass Sie es nicht gegen die Interessen der Ermittlung verwenden?« Die Frage brachte mich zum Lachen. Ich weigerte mich, eine Garantie zu geben. Das aber hieß, dass ich ohne Periodensystem blieb! Es verging eine Woche und dann fuhr der Wagen der »Gefängnisbibliothek« an meinem Fensterchen vorbei. Wie gewöhnlich gab es Romane der Epoche Stalins über die Siege der Kommunisten in der Periode der Kollektivierung und Industrialisierung. Plötzlich erblickte ich das Buch »Dmitrij Mendelejew« aus der Reihe »Das Leben bemerkenswerter Menschen«. Ich ergriff es wie ein Geier und konnte mein Glück nicht fassen. Nachdem ich später das Buch zu Ende las, konnte ich das komplette Periodensystem daraus aber auch nicht herstellen, nur einzelne Teile. Nun ja, ich litt also weiter. Der Untersuchungsführer sagte dann einmal während des Verhörs zu mir: »Ihre Verwandten haben Ihnen populär-wissenschaftliche Zeitschriften mitgegeben. Ich habe sie angeschaut – Sie können sie mitnehmen!« Man stelle sich meine Verwunderung vor, als ich in der Zelle eine der Zeitschriften durchblätterte – und da sah ich genau den Teil des Periodensystems, der mir fehlte! Ich war völlig überwältigt. Und dies ist nur ein Fall der Bedeutung der Ereignisse, die ich seither ständig verspürte. Der gesamte weitere Vorgang der Neuentdeckungen glich dem Abwickeln eines Wollknäuels. Tag für Tag, Gedanke für Gedanke erschloss sich mir dieses »Informationspaket«, das sich praktisch in einem Augenblick in mich legte. Interessanterweise führte mich mein Gedankengang immer wieder zu den Weisheiten, die uns die Bibel vermittelt. Allerdings hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch kein umfassendes Verständnis dieses Buches. Alles, was ich über die Bibel wusste, kam aus der Literatur, aus der allgemeinkulturellen Kenntnis und aus dem, was sich im Gedächtnis des Kindes von den Besuchen in der Kirche eingeprägt hatte. Umso erstaunlicher war es für meinen säkularisierten Verstand, auf Bibelangaben zu treffen, die ich irgendwann verächtlich verworfen hatte (z. B. die Geschichte von Adam und Eva und der Verführerin, der Schlange).

222 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT So bemerkte ich gar nicht, wie ich zu einem gläubigen Menschen wurde. Der Glaube kam nicht infolge eines Gefühls der Schwäche eines Häftlings vor der Maschinerie des Unrecht-Gerichtes des KGB, wenn einem keine Hoffnung bleibt, außer die auf Gott, sondern als Ergebnis des Bewusstwerdens seiner offensichtlichen Präsenz. Aber nichts bleibt für immer. Nach ein oder zwei Monaten begannen sich wieder Zweifel in meine Seele zu schleichen. »Mensch, warum bezeichnest du etwas als Offenbarung, das höchstwahrscheinlich Halluzinationen eines übermüdeten Gehirns waren?« Damals waren bereits vier Monate deines ständigen Aufenthaltes in der Zelle ohne jede frische Luft vergangen, du kamst vom Verhör aufgeregt zurück, also ist das alles einfach ein Schrei deines erregten Gemütes, mehr nicht. Danke Gott, dass du nicht »durchgedreht« bist. Ich musste bis zur nächsten Offenbarung warten, als ich bereits im Lager war, um zu begreifen, dass es keine Halluzinationen waren. Mehr dazu später … Aus dieser intellektuell stürmischen Zeit blieb mir noch eine andere Geschichte im Gedächtnis, die die Liste meiner seltsamen Gefängnisgeschichten ergänzt. Freie Zeit hatte ich viel und so begann ich vor lauter Nichtstun die Zahl des biblischen Tieres, d. h. die Zahl 666, auszurechnen (Offenbarung 13, 18). Dabei regte mich Pierre Besuchow aus dem Roman »Krieg und Frieden« von Leo Tolstoi an, den ich gerade von Neuem las. Im Buch wurde eine allgemein bekannte Art benutzt, die Zahl zu ermitteln, indem den Buchstaben des Alphabets Zahlenwerte zuordnet wurden. Mich konnte aber dieser Weg nie überzeugen, er ergibt ein zu großes Feld für willkürliche Interpretationen. Außerdem ist es schwierig, mit Sicherheit zu sagen, in welcher Sprache die alten Hebräer den Namen des Tieres in der Offenbarung verschlüsselten. Ich begann deshalb darüber nachzudenken, was in der gegenwärtigen Welt uns mit dem Leben der uralten Juden vereint. Mir kam in den Sinn: Sonne und Mond! Eben sie sind uns von Gott für die Dauer unserer Zeit gegeben. Ihre sichtbare Bewegung am Himmelsgewölbe ist genau dieselbe geblieben wie vor zweitausend Jahren. Also beschloss ich, nach kalendarischen Zusammenhängen zu suchen. Ich erinnerte mich daran, dass der hebräische Kalender ein Mondkalender

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 223 war – mit anderen Worten, der Monat wurde auf der Grundlage von 29 Tagen für einen Monat und 30 Tagen für den nächsten berechnet, mit 29,5 als Mittelwert. Dann begann ich, über die Figur des Antichristen nachzudenken, aber vom entgegengesetzten Standpunkt aus. Für mich war es offensichtlich, dass der Antichrist im weltanschaulichen Sinn der Antichrist Wladimir Lenin ist – nur nicht als der mittelalterliche Antichrist mit Hörnern und Schwanz, sondern als reelle geschichtliche Person, die das Christentum verneint und den Menschen eine radikal antichristliche Weltanschauung aufzuzwingen versucht. Da ich mich entschied, die Sache aus der Perspektive des Kalenders zu betrachten, musste ich nun versuchen, das Rätsel zu lösen, indem ich berechnete, wie lange Lenin lebte. Geboren wurde er am 22. April 1870, am 21. Januar 1924 verstarb er. Nach unserem Kalender sind das 53 Jahre und 9 Monate. Interessant – und wie viel Monate würde das nach dem jüdischen Kalender ergeben? Ich rechnete also die Anzahl der Tage aus, die Lenin lebte (und ich berücksichtigte auch die Schaltjahre). Das Ergebnis: 19.634 Tage. Ich teilte die Zahl durch 29,5 und erhielt … 665,56; d. h. Lenin starb im 666. Mondmonat seines Lebens. Ich gebe zu, als ich Zahlen ausrechnete und ich schon die ersten zwei Sechser berechnet hatte, begann meine Seele zu zittern … Diese Geschichte, so unglaublich sie sein mag, war nur eine blasse Illustration dessen, wie stürmisch die Vorgänge waren, die sich in meiner Seele abspielten. Es war erst der Anfang eines Phänomens, das ein besonderes Geschenk Gottes für ungerecht Inhaftierte ist. Später zeigte es sich in meinem Lagerleben wieder sehr deutlich. In einer Gefängniszelle eingeschlossen zu sein, beraubt einen Menschen nicht seiner Freiheit – im Gegenteil, sie nimmt ihm den Ballast unwichtiger Sorgen ab und macht ihn deshalb frei! Seit dieser gesegneten Erkenntnisse tauchte auch ein weiterer wichtiger Imperativ in mir auf: Beobachte alles, was um dich geschieht mit größter Wachsamkeit, da sich wichtige Lektionen darin verbergen können. Es ist ein fataler Fehler, anzunehmen, dass Gott schweigt. Er ruft uns laut zu, wir hören ihn aber nicht. Wie die Gesetze Gottes in allen Phänomenen der lebendigen Natur um uns geschrieben sind, so sind auch die Winke Gottes um uns verstreut: In

224 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Menschen, mit denen uns das Schicksal zusammenführt; in Problemen, über die wir stolpern; in unerwarteten Brüchen, mit denen Gott die Seiten unseres Lebens umblättert. Unsere Aufgabe ist es, diese Winke Gottes zu erkennen und sie richtig zu lesen. Schließlich ist die ganze Welt um uns seine kraftvolle Sprache, sein wunderbares Esperanto. Auch Tyrannen haben Angst Ende August hörten die Verhöre plötzlich auf. Der Untersuchungsführer Beresa deutete mir aber an: »Vielleicht werden Sie gar nicht vor Gericht gestellt.« Ich las die Presse und verstand, worum es ging. Es begann gerade die Belgrader Konferenz der OSZE. Die amerikanische Delegation brachte die Liste aller Helsinki-Beobachter mit, deren Freilassung der Westen anstrebte, und ebenfalls die Dokumente der Helsinki-Gruppen. Moskau war deshalb bereit, uns freizulassen, weil sie annahmen, dass sie während der Verhandlungen gewisse Zugeständnisse machen müssten. Und tatsächlich, mehrere Monate vor dem westlichen Weihnachtsfest gab es keinerlei Verhöre – ich saß bloß in der Zelle. Am 5. Januar wurden die Verhöre aber wieder aufgenommen und ich begriff, warum: Die Konferenz war beendet, die Delegierten abgereist, um Weihnachten zu feiern. Es wurde offensichtlich, dass ungeachtet der historischen Tatsache, dass auf der Konferenz die Stimme der sowjetischen Bürgerrechtler angehört wurde, es nicht gelang, sie zu schützen. Wie es aber schien, war in der Forderung nach unserer Freilassung nur die amerikanische Delegation tatsächlich aktiv, wogegen es Europa vorzog, sich an seine geliebte Realpolitik zu halten. Der Fall lehrte mich ein für alle Mal, dass der anmaßenden Prahlerei der Diktatoren nie zu trauen ist, sie reagieren auf internationalen Druck. Auch Tyrannen haben Angst, zugespitzt gesagt: Sie fürchten sich am meisten. Wenn alle westlichen Delegationen geschlossen abgestimmt und gehandelt hätten, hätte das Schicksal der Mitglieder der Helsinki-Gruppen in der UdSSR ganz anders aussehen können …

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 225 Die Verhöre wurden also wieder aufgenommen. Ziemlich rasch wurde der entscheidende Schlussstrich gezogen: Mein »Verbrechen« wurde festgestellt. Es kam also die Zeit, in der ich mich mit den Prozessakten vor Gericht vertraut machen musste. Im Gebäude des Kyjiwer Regionalgerichts, ich kann mich aber auch irren, war ein besonderer Raum mit den für mich bereitgestellten Ordnern des Verfahrens Nr. 51 hergerichtet. Ich erinnere mich, dass ich einen psychischen Schock erlebte, als ich durch verschiedene Ritzen in der Metallblende der »grünen Minna« nach draußen schauen konnte. Die Kyjiwer sahen so aus, als ob nichts geschehen wäre: Junge Leute umarmten sich, Frauen gingen mit ihren Einkaufsnetzen geschäftig ihren Angelegenheiten nach. Kyjiw und mit ihm auch die ganze Welt bemerkte nicht, dass ich mich schon fast ein Jahr unschuldig in der Kasematte abquälte! Der Schmerz, der meine Brust durchschnitt, war sehr heftig. Ich erinnere mich auch heute manchmal wieder daran, wenn ich an neue politische Häftlinge denke: Ob sie wohl dasselbe durchstehen? Oder wie fühlen sich heute Soldaten der ATO/OOS (Anti-Terror-Operation/Einsatz der Streitkräfte im Ausland), die im Urlaub nach Hause zurückkehren und sehen, wie andere junge Männer das Leben genießen, Spaß mit Mädchen haben, während sie sich unter Beschuss in Schützengräben verstecken müssen? Ich begriff damals nicht, dass es keinen Sinn macht, den Kyjiwern Vorwürfe zu machen, da meine Traurigkeit vom Egoismus meines Schmerzes ausging. Darüber Herr zu werden, war schwer. Die Einsichtnahme in die Akten ist eine routinemäßige Arbeit: Du sitzt und liest der Reihe nach jeden der acht Ordner. Der Untersuchungsführer sitzt daneben und liest ebenfalls etwas für sich. Am meisten erregten die Protokolle der Verhöre der anderen meine Aufmerksamkeit, da die menschlichen Schicksale dahinter trotz der bürokratischen Sprache der Ermittlung zum Vorschein kamen. Die einen bewahrten gefasst die Würde und umgingen sorgfältig die vom Untersuchungsführer vorbereiteten »Minen«: So ging es mir mit den Materialien der Verhöre von Natalja Jakowenko, Maria Labowka und Raisa Serhjtschuk. Die Protokolle der Verhöre anderer Freunde zeigte das Bestreben, mich und Mykola aktiv zu unterstützen. Du nimmst in dir einfach wahr, wie ein Menschenherz vom

226 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Wunsch durchdrungen ist, mich zu unterstützen, dir aber vor lauter Furcht Schaden zufügt! Ich kann die Namen nicht aufzählen, doch es waren viele. Mitunter triffst du auf die Angst des Verhörten um sich selbst und dann siehst du die Bereitschaft, die Version des Untersuchungsführers zu unterstützen und auf unaufrichtige Reue für eine unbedachte Bekanntschaft mit uns. Dann blätterst du nicht nur eine Seite deiner Ermittlungsakte um, sondern eines Lebensabschnittes, das dich mit diesem Menschen verband. So stieß ich eines Tages beim Umblättern plötzlich auf ein Papierchen mit handschriftlichem Text. Ich schlug es auf und las – und dort stand mit der Handschrift meines Untersuchungsführers Beresa scheinbar ein Arbeitsplan geschrieben: »Für M. M. und M. M. eine Vorführung von Filmen über den Kampf mit dem Nationalismus organisieren« und dergleichen. Dann gab es eine Bemerkung, die ich fast vergessen hätte: Er schlug vor, einen ihrer eigenen Leute in unsere Zellen einzuschleusen; sie müssten vorgeben, ebenfalls Gefangene zu sein, und versuchen, etwas über uns herauszufinden. Einfacher ausgedrückt: Informanten zu organisieren. Ich saß da, irrsinnig vor Freude, dass ich es gefunden hatte. Eine andere Sache war: Was soll ich damit tun? Ich dachte, dass ich die Karte nicht herausnehmen konnte, denn ich wurde auf dem Weg zur Zelle mehrmals durchsucht. (Heute sage ich, Wjatscheslaw Tschornowil hätte sich an meiner Stelle schon etwas einfallen lassen. Aber ich bin nicht Tschornowil …) Deshalb beschloss ich, einfach nur mein moralisches Vergnügen zu genießen. Aber diese Karte nahm ich mit, ging zum Untersuchungsführer und sagte: »Oleksandr Fedorowytsch, ich habe ein interessantes Papier gefunden. Ich vermute, es ist auch für Sie interessant, es zu lesen. Ich hatte dabei bereits mein Vergnügen.« Ich legte ihm das Papier vor. Die Reaktion von Beresa war unvorstellbar! Er errötete wie eine rote Birne und konnte mir nicht in die Augen schauen. Stumm steckte er das Papierchen ein und machte den Anschein, er lese ganz ruhig weit. Ich benutzte das Papierchen nicht, um eine zerschmetternde Eingabe an den Staatsanwalt zu schreiben. Ich bereute es nie, so gehandelt zu haben. Es war mein geistiger Sieg, den ich mehr schätzte als zeitweilige Siege in juristischen Kämpfen mit dem KGB.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 227 Bevor die Einsichtnahme in die Akten meines Falls zu Ende ging, löste ich beiläufig noch ein wichtiges Dilemma. Eines Tages hatte mir der Untersuchungsführer einen Rechtsanwalt vorgestellt, der mich nach Ansicht der Ermittlung vor Gericht verteidigen könnte. Unser Gespräch dauerte nicht lange: Vor mir saß ein äußerlich korrekter, aber zutiefst unsicherer Mann. Mir wurde schon übel beim Gedanken, wie er vor den Richtern kriecht und im Blick auf meine jugendliche Unreife um Verständnis bittet und auf die gute Beurteilung meines Arbeitgebers hinweist. Ich verzichtete entschieden auf den Rechtsanwalt und erklärte, dass ich mich beim Gerichtsverfahren selbst verteidigen werde. Sie beließen es so und ich bin überzeugt, dass der Rechtsanwalt das Kabinett mit großer Erleichterung verließ. Schließlich kam der Tag, als unsere gemeinsame »Arbeit« mit dem Untersuchungsführer Beresa offiziell zu Ende ging. Die Verabschiedung war in einem gewissen Maße warmherzig. Er bat mich in einem angenehmen, aber ernsthaften Ton (da er glaubte, im Recht zu sein) meine Position nochmals zu überdenken und zu bereuen, worauf ich lediglich mit der Hand abwinkte. Ich erinnere mich auch, dass er mich nach meinen Zukunftsplänen fragte, worauf ich im Scherz antwortete: »In etwa zehn Jahren komme ich zu Ihnen ins Kabinett und lade Sie auf eine Tasse Kaffee ein.« Er lachte, da er genau wusste, dass ungebrochene politische Häftlinge die Höchststrafe erhalten – in meinem Fall zwölf Jahre. Das Merkwürdigste daran war, dass ich ein Prophet war und mein Versprechen tatsächlich einhielt! Mehr darüber später. Der Staatsanwalt, es war vielleicht Ju. Antonenko, der erste Stellvertreter des Staatsanwaltes der Kyjiwer Region, der später im Gericht auftrat, stellte dann noch eine Frage: »Wenn Sie nicht bereuen, werden Sie die ganze Strafe absitzen. Welche Aufgabe stellen Sie sich für diese Zeit?« Meine Antwort war spontan und erstaunt mich bis heute: »Nicht verbittert zu werden« …

228 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT

Das Gebäude des ehemaligen KGB in Kyjiw in der Wolodymyrksa-Straße 33

Ein typischer Freiganghof

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 229

Mit Anna-Halja Horbatsch in Kyjiw nach meiner Entlassung aus der Haft

2. Das Gericht Die Gerichtsverhandlung für Mykola und mich fand nicht in Kyjiw statt, sondern in Wasylkiw, im Gebäude des Stadtbezirksgerichtes. Die ukrainische Volkstradition besagt, dass jemand einen Segen bekommen sollte, bevor er eine Reise antritt – ich erhielt ihn offensichtlich. Das machte auf mich einen großen Eindruck und es machte mich stark. Ich schrieb später in meinem ersten Lager-Essay »Das Evangelium eines Narren in Christo«: Genau dann, als mich die zähneknirschende ›grüne Minna‹ aus dem Kyjiwer Untersuchungsgefängnis zum Gericht transportierte, sah ich durch eine Ritze im Metallpanzer das goldene Kreuz der Sophienkathedrale. Es zog einige Sekunden an wir vorbei, im Hintergrund nur gleichgültig verspielte Wolken. Ich verstand, was es bedeutete: Wenn sie dich für immer gefangen nehmen und dich kriechen lassen, musst du lernen, nach oben zu blicken. Ich danke dir, meine ukrainische Weisheit! Du hast besser als alle eitlen und törichten Kyjiwer verstanden, wie sehr du den Segen Christi für diese Ungerechtigkeit brauchst!

Ich wurde im hiesigen Untersuchungsgefängnis untergebracht, das als nichts anders als ein Kerker bezeichnet werden kann: Die Zelle war winzig, die Pritschen für eine undefinierte Anzahl von

230 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Menschen bestimmt und es gab die berühmte »Parascha« (Fäkalienkübel), die unveränderliche Heldin der Folklore der Häftlinge. Eine oder zwei Nächte nächtigte mit mir ein anderer »Verurteilter«, dem es ebensowenig gelang, sich als Häftling zu verstecken: Die staatliche Natur sprang einfach aus ihm hervor. Aber ich ließ es mir nicht anmerken, dass ich mich an die Pläne des Untersuchungsführers erinnerte, die auf seinem Papierchen notiert waren. Ich gab ihm sogar eine neutrale Notiz »für die Freiheit« mit. Die weitere Zeit meines Gerichts verbrachte ich allein: Weitere Interessenten, den Fäkalienkübel zu riechen, gab es nicht mehr. Die Zusammensetzung der Richterbrigade gebe ich nicht an, sie sind am Anfang des »Urteils« aufgezählt. Aber über den Richter muss ich erzählen. Er hatte einen verhassten Nachnamen »Dyschel«, was dem russischen Wort »dyshlo« (Deichsel) sehr nahekam. Wir verhafteten Bürgerrechtler und künftige politische Häftlinge konnten uns daran nicht satthören, da es sich auf ein russisches Sprichwort bezog: »Ein Gericht ist wie ein dyshlo – in welche Richtung man es dreht, in diese Richtung es auch geht.« Er verurteilte Nadijka Switlytschna, Jewhen Swerstjuk, Semen Glusman, Ljuba Serednjak, Mykola Plachotnjuk, Wasyl Stus, Leonid Pljuschtsch, Hehorhij Wins und wohl auch noch Wjatscheslaw Tschornowil. Er war wahrlich der »Pate« der Mehrheit der ukrainischen politischen Häftlinge. Sein Name war die Quelle unerschöpflichen Humors für viele seiner »Klienten«. Das Gerichtsverfahren begann am 22. März 1978 und hatte den Charakter einer sowjetischen Farce, wie sie im Lehrbuch steht. Die Gerichtsverhandlung galt als öffentlich zugänglich. Der recht große Saal war mit Mitarbeitern des KGB vollgestopft, mit »zuverlässigen« Juristen und Studenten der juristischen Fakultät. Und keine einzige mir bekannte Person! Das beunruhigte mich und ich legte gleich am ersten Tag Protest ein wegen der Abwesenheit meiner Verwandten. Doch ich war in Gerichtsverhandlungen ein Neuling und wusste noch nicht, wie ich mich im Gerichtssaal verhalten musste. Vor Beginn der Verhandlung wurde noch ein anderer Angeklagter hereingeführt: Mykola Matusewytsch, der aus demselben Grund angeklagt war. Man brachte ihn mit Gewalt, da er nicht

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 231 kommen wollte. Ich gebe offen zu, als ich ihn sah, wurde es mir ums Herz bange: eine gebrochene Hand, Wutausbrüche … Zudem war ich fassungslos, wie Mykola aussah: Er ließ sich offensichtlich die Haare nicht schneiden, deshalb hatte er lange Haare, ganz bis auf die Schultern fallend. Alles sah irgendwie gauklerhaft aus. Die Gerichtsverhandlung begann und Mykola erklärte sofort: »Ich weigere mich, an dieser Farce teilzunehmen!« Nun verstand ich, dass wir verschiedene Verhaltensweisen gewählt hatten. Das Gericht beachtete Mykolas Erklärung nicht. Er protestierte weiter und stellte dem Richter schließlich die Frage: »Was muss ich tun, damit ich herausgeführt werde?« Der Richter Dyschel antwortete: »Herausführen kann man Sie nur, wenn Sie das Gericht beleidigen.« Mykola lachte auf: »A-ah, das kann ich ohne Weiteres!« Und er fing an, Dinge zu reden, die der Richter sehr rasch nicht duldete und die Anweisung gab, Mykola herauszuführen. Deshalb war er die ganze Zeit nicht im Gerichtssaal anwesend, bis zum Moment der Urteilsverkündung. Mykola wusste nicht, welche Verhaltenslinie ich wählte. Er befürchtete, dass meine Weichheit mich nachgiebig gemacht hätte. Während er herausgeführt wurde, schrie er bloß: »Myroslaw, lass dich nicht demütigen!« Aber meine Linie war schon definiert, und ich wollte nicht von ihr abweichen. So nahm ich vom ersten Tag an der Gerichtsverhandlung allein teil, sowohl als Angeklagter als auch als mein Verteidiger. Der Anwalt von Matusewytsch, Karpenko, war ebenfalls am Prozess dabei. Wenn er etwas sagte, dankte ich ständig Gott, dass es mir gelang, ihn als meinen »Verteidiger« fernzuhalten. Ich kann mich heute sicher nicht mehr an alle Momente des Gerichtes erinnern. Es sind mir nur Fragmente geblieben, die kein vollständiges Bild ergeben. Es ist aber klar, dass ich die Position verteidigte, die ich während der Ermittlung eingenommen hatte, also dass ich auf den rein menschenrechtlichen Charakter der Ukrainischen Helsinki-Gruppe bestand. Im Gedächtnis blieb mir auch ein Moment, der ziemlich komisch war. Als ich ein weiteres Mal meine Position begründete, wollte ich mich auf Worte von Lenin berufen (worauf genau weiß ich im Moment nicht mehr), sie waren jedenfalls sehr angebracht, da sie meine Handlungen explizit

232 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT bestätigten. Ich begann: »Sogar Lenin selbst sagte …« Als der Richter Dyschel begriff, was nun geschah, unterbrach er mich mit einem pathetischen Falsett: »Sprechen Sie den Namen Lenin nicht aus! Aus Ihrem Munde klingt er wie eine Gotteslästerung!« Wie mir scheint, war das eine sehr schöne Bestätigung der These von Alain Besançon62 über die quasireligiöse Natur der kommunistischen Ideologie. Dieser pathetische Satz entspricht voll und ganz der fast identischen Erklärung des Chefs des KGB der USSR, W. Semytschasny, dass es »unzulässig ist, dass ein Schauspieler die Rolle Lenins in einem Film spielt und in einem anderem die Rolle eines Schacherers, Verbrechers, Ignoranten oder Säufers«. Diese Anekdote machte damals im ganzen Land die Runde. Am besten erinnere ich mich an einzelne Momente aus den Zeugenaussagen, die am folgenden Tag begannen. Für mich am wichtigsten war der Auftritt von Nadijka Switlytschna. Sie wurde als Zeugin bestellt, um die verbrecherische Tätigkeit Matusewytschs und mir bei der Verfassung des Memorandums Nr. 11 zu bestätigen. Nadijka aber wandte sich sofort mit einem Protest an das Gericht, warum denn unsere Freunde, die am Eingang frieren, nicht in den Saal gelassen würden. Der Richter begann zu erklären: »Sie sehen doch, der Saal ist bereits voll.« Ich stand auf und erklärte, Nadjka weigere sich wegen dem faktisch nicht öffentlichen Charakter, am Prozess teilzunehmen. Ich aber war täglich zur Verhandlung im Saal anwesend. Wenn ich mich erheben und dem Richter eine Antwort geben sollte, sagte ich deshalb immer denselben Satz: »In Anbetracht der Tatsache, dass das Gericht einen nicht öffentlichen Charakter hat, weigere ich mich, an der Verhandlung teilzunehmen.« Später berichteten mir zur Mutter und Nadijka, dass sie an diesem Abend (wahrscheinlich am 22. März) von Mitarbeitern des KGB eiligst über die Gerichtsverhandlung informiert wurden (bis zu diesem Zeitpunkt wussten sie noch nichts). Sie brachten die beiden mit dem Zug von Drohobytsch und Riwne nach Kyjiw. Schon

62

Alain Besançon. Das Unglück des Jahrhunderts: Über Kommunismus, Nazismus und Einzigartigkeit des Holocaust. ÜberS.a. d. Franz. von T. Marusyk. Kyjiw: Univ. Verlag »Pulsary«, 2007, S.65ff.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 233 am nächsten Tag erblickte ich sie plötzlich im Saal. Eigentlich ist das nicht der richtige Ausdruck. Bevor ich sie erblicken konnte, sah ich nur zwei leuchtende bunte »Fleckchen«. Sie lächelten mir zu, um mir nicht zu zeigen, wie schmerzlich es für sie war und damit für mich leichter werde. Nadijka, so schien mir, war rosafarben gekleidet, zumindest als ein rosafarbenes Leuchten blieb sie mir in der Erinnerung. Ich habe es aber anders im Gedächtnis als meine anonymen Freunde schrieben. Meine Mutter und Nadijka traten wirklich vor Gericht als Zeugen auf. (Ich kann mich nicht erinnern und nehme deshalb an, ich hätte mich nicht sehr in das vertieft, was sie sagten. Ich freute mich über ihr Erscheinen und litt auch mit ihnen.) Sie mussten wohl gemäß Gesetz zuerst an der Barriere erscheinen, wo alle Zeugen auftreten. Vielleicht war es so. Mir blieben seit der Urteilsverkündigung einfach diese »Fleckchen«. Wie es auch gewesen sei, dieser Eindruck, den ich im vorangegangenen Absatz beschrieb, prägte sich so sehr in mein Gedächtnis, dass ich mich immer daran erinnern werde. Wie rasch auch meine Verwandten doch noch in den Gerichtssaal gebracht wurden, es veränderte mein Verhalten nicht. Ich weigerte mich weiterhin, am Prozess teilzunehmen. Der Richter empörte sich: »Weshalb weigern Sie sich denn? Schauen Sie, Ihre Verwandten sind auch anwesend!« Ich antwortete: »Ja, die Verwandten sind zwar hier, aber man lässt die noch am Eingang Wartenden nicht hinein.« Deshalb blieb ich den Gerichtsverhandlungen weiterhin fern. Wie ich kürzlich erfuhr, lief es im Gerichtsfall der »Troika«, Nina Strokata, Oleksa Risnykiw und Oleksij Prytyka aus Odessa fast gleich: Vor dem Gerichtsgebäude versammelte sich immer eine große Gruppe, die es wagte, die Angeklagten zu begrüßen. Obwohl das Gericht als ›öffentlich‹ erklärt wurde, war das Heuchelei: Es wurden keine der Interessenten in den Saal gelassen, da die Plätze bereits von den ›Jungs in Zivil‹ besetzt waren. Risnykiw erklärte oft, er werde sich so lange weigern, an der Verhandlung

234 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT teilzunehmen, bis der Vater, seine Schwester und seine Ehefrau hineingelassen würden. Darauf erlaubte ihnen der Richter, in den Saal zu gehen.63

Später wurde mir bekannt, dass am 24. März Ljuba Murshenko die Erlaubnis erhalten wollte, bei meinem Prozess anwesend zu sein, sie wurde aber zur Miliz gebracht und dort den ganzen Tag festgehalten. Und kürzlich las ich in den Erinnerungen von Oleksandr Podrabinek die Geschichte seiner Reise zu mir ins Gericht, von der ich nur mit einem Ohr etwas mitbekam: 1978 war reich an Gerichtsverfahren. Am 22. März wurde in der Stadt Wasylkiw nahe Kyjiw der Fall von Myroslaw Marynowytsch und Mykola Matusewytsch, ebenfalls Mitglieder der Ukrainischen Helsinki-Gruppe, angehört. Gemeinsam mit Tanja Osipowa fuhr ich zum Gericht. Wir hatten keine Hoffnung, in den Gerichtssaal zu gelangen, rechneten aber damit, zumindest vor dem Gebäude gemeinsam mit unseren anderen ukrainischen Freunden zu stehen. Daraus wurde nichts. Sobald wir zum Gericht kamen, nahm uns die Miliz schweigend und ohne Gründe zu nennen fest und brachte uns zurück nach Kyjiw. Wir saßen einige Zeit im Bahnhof auf dem Milizrevier und die Milizchefs verlangten, dass wir die Fahrkarten nach Moskau selbst bezahlen. ›Wir haben nicht die Absicht, jetzt nach Moskau zurückzukehren. Weshalb sollten wir dann Fahrkarten für den Zug kaufen?‹, entgegneten Tanja und ich. Nach langen und schwierigen Verhandlungen mit den obersten Vorgesetzten kauften uns die Kyjiwer Polizeibeamten auf ihre eigenen Kosten trotzdem Fahrkarten und brachten uns zum Zug … Wie üblich herrschte auf dem Bahnhof ein Gedränge. Einige Polizeibeamte bahnten uns den Weg. Irgendwann verloren sie ihre Aufmerksamkeit und gingen ein Stück weit vor uns. An der nächsten Quertreppe stieß ich Tanja in die Seite, wir schauten uns um und liefen nicht hinter den Polizisten nach oben, sondern rannten nach unten zum Ausgang. Wir gingen im Gedränge völlig unter. Nach einigen Minuten waren wir bereits im Hinterhof des Bahnhofs in irgendwelchen Gassen. Wir nahmen ein Taxi und fuhren ins Zentrum der Stadt.64

Kehren wir nochmals zu den Aussagen der Zeugen zurück. Die schon erwähnte Nadja Switlytschna verhielt sich unerschrocken und selbstbewusst. Sie bestätigte, dass sie es gewesen war, die die Erklärung der Helsinki-Gruppe eingereicht hatte (aber sie nannte die Person nicht, die ihr die Erklärung übergeben hatte). Nadijka 63 64

Odessaer Welle, S.27. Aleksander Podrabinek. Dissidenten. Redaktion Jelena Schubina. Moskau: AST, 2014, S.237f.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 235 wehrte alle Attacken des Richters Dyschel gekonnt ab. So etwa, als er den bemerkenswerten Satz aus ihrem UHG-Appell verlas: »Ich erachte es nach allem, was ich erlitten habe, für jenseits der Menschenwürde, Bürger des größten, mächtigsten und perfektesten Konzentrationslagers der Welt zu sein.« Als er anschließend begann, sich über einen solchen Vergleich zu empören, unterbrach ihn Nadijka: »Der heutige Prozess über Marynowytsch und Matusewytsch sind die beste Bestätigung dafür«. Der Richter seufzte, Nadijka habe in den vier Jahren, die sie in Haft war, »nichts gelernt«. Das sogenannte unparteiische Publikum äußerte sich entsetzt, wie zu erwarten war. Allen war klar, dass Nadijkas Weltanschauung und die »sowjetische Wirklichkeit« unvereinbar waren. Vor Gericht wurde noch eine weitere Mandantin der Ukrainischen Helsinki-Gruppe bestellt: Wira Lisowa. Ihre Verfolgungen waren Gegenstand des Memorandums Nr. 8. Wira begrüßte mich herzlich und sprach tapfer, aber es war deutlich zu sehen, wie sehr sie Angst hatte, mich zu gefährden. Sie wusste nicht, dass ich die Echtheit meiner Unterschrift unter dem Dokument zugab und bestätige, die Nachrichten für ihr Memorandum zusammengetragen zu haben. Deshalb hütete sich Wira zunächst, auf ähnliche Fragen des Richters zu antworten. Um ihr zu helfen, rief ich von meinem Platz aus: »Wira, du kannst alles erzählen, wie es war!« Nachdem sie das gehört hatte, sprach sie freimütig und sehr eindrücklich. Sie bestätigte die Richtigkeit der Nachrichten, die im Memorandum aufgeführt waren, was die Umstände ihrer Verfolgung seitens des KGB betraf. Der Gang von Oles Berdnyk zum Zeugenstand war majestätisch, wenn nicht gar dramatisch. Bevor er den Richter anhörte, verbeugte sich Oles in meine Richtung in östlicher Manier, faltete also die Handflächen wie zum Gebet, und wandte sich dann mit donnernder Stimme an Dyschel: »Wofür verurteilen Sie ihn?« Dieser war einen Moment völlig verblüfft. Oles Berdnyk verhielt sich so, als ob er selbst im Saal der Hauptankläger war – und das war wirklich schön. Allerdings war klar, dass er mit einem solchen Standpunkt nicht lange in Freiheit bleiben konnte. Die Reaktion der »empörten Sowjetbürger« im Gerichtssaal bezeugte dies ebenfalls.

236 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Sehr zu schaffen machte den Richtern noch eine andere Zeugin, Mychajlyna Kojubinska. Der Staatsanwalt wollte sie in eine Sackgasse treiben. Mit großem Vergnügen schilderte er das Protokoll der Durchsuchung ihrer Wohnung, bei der der Text der Erklärung der Ukrainischen Helsinki-Gruppe in einem alten Stiefel gefunden wurde, der in einem staubigen Dachbodenschrank versteckt worden war. Wie jeder Hausfrau war es Mychajlyna unangenehm, es zu hören; sie errötete und wurde nervös. Der Staatsanwalt stellte dann lächelnd die »tödliche« Frage: »Wenn in der Deklaration der Gruppe, wie Sie sagen, nichts Verbrecherisches war, warum haben Sie sie dann so gut versteckt?« Er rechnete damit, dass Mychajlyna nachgeben, den Kopf verlieren und anfangen würde, sich zu rechtfertigen. Aber sie richtete sich auf und sagte entschlossen: »Ja, ich bedaure es sehr, dass ich das Dokument so gut versteckt habe. Ich hätte es in einem Rahmen an der sichtbarsten Stelle meines Zimmers aufhängen sollen!« Es war eine wahre Pracht, den Staatsanwalt anzusehen: Er lief einfach nur grün an. Man konnte sich gut vorstellen, mit welcher Dankbarkeit ich, der Angeklagte, die Worte aufnahm! Als der als Zeuge bestellte Borys Dmytrowytsch AntonenkoDawydowytsch nicht vor Gericht erschien, da er sich auf eine Krankheit berief, wurden im Gericht seine Aussagen verlesen, in denen er sich weigerte, Personen zu nennen, von denen er Dokumente der Ukrainischen Helsinki-Gruppe erhalten hatte. Genauso weigerte sich Jewgen Obertas, das zu tun. Er wurde vom Gericht nicht nur zu seiner Tätigkeit in der Gruppe, sondern auch zu den »Rowdy-Verbrechen« von Mykola befragt (mehr darüber später). Jewgen sprach mutig, gab ehrlich zu, dass Mykola und ich seine Freunde und er unsere Tätigkeit voll und ganz unterstützte. Er weigerte sich, Aussagen in unserer Sache zu machen, wofür er nach dem Gericht durch »Arbeit zu seiner Verbesserung« büßen musste. Als Zeugin wurde auch meine damalige Ehefrau Raisa Serhjtschuk bestellt. Ich war erstaunt über die Würde, die sie während ihrer Befragung an den Tag legte. Sie war weit entfernt vom Kampf der Dissidenten, aber sie hatte ein stabiles moralisches Rückgrat und spürte den Unterschied zwischen Gut und Böse sehr

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 237 richtig. Sie sprach vorsichtig und ließ sich vom Gericht nicht verleiten, etwas gegen mich auszusagen.65 An den Auftritt von Mykolas Verwandten, seiner Eltern (Nastja Fedoriwna und Iwan Petrowytsch), der Schwester Tamila, Onkel und Cousine und seiner Ehefrau Olga Heijko kann ich mich kaum mehr erinnern. Vielleicht hat sich hier eine unverständliche Erinnerungslücke aufgetan, so wie es bei den Zeugnissen meiner Familie der Fall war. Ich entsinne mich nur, dass Nastja und Tamila sich würdig und tapfer verhielten. Olga sogar außergewöhnlich kühn, dass der Richter ihr zeigen musste, wo sich die Anklagebank befindet, und sagte: »Wenn Sie ein Mitglied der Gruppe sind, dann ist dort Ihr Platz.« In Ausgabe 49 der »Chronik der laufenden Ereignisse« wurde eine Aussage festgehalten, die mir nicht mehr bewusst war: Olga Heijko verweigerte die Antwort auf die Frage des Staatsanwaltes: ›Halten Sie sich auch jetzt noch für ein Mitglied der Gruppe?‹ Der Richter darauf: ›Angeklagter Marynowytsch, was sagen Sie dazu? Marynowytsch: ›Ich verweigere die Teilnahme an einer nicht öffentlichen Gerichtsverhandlung.‹ Richter: ›Marynowytsch, ich höre auf, sie zu verstehen. Das Schicksal Ihres Freundes hängt von Ihren Worten ab. Eine Sache ist es, wenn Sie einfach nur Zeuge sind – und eine ganz andere, wenn Sie Mitglied der Gruppe sind. Dann ist Ihr Platz neben ihnen – und Sie wiederholen nur Ihr: ›Ich verweigere.‹ Als es um Ihre Interessen ging, konnten Sie sagen: Es ist ethisch. Doch nicht auf Freunde Rücksicht zu nehmen: Ist das Ihrer Meinung nach wirklich ethisch?‹ ›Ein sowjetisches Gericht hat nicht über Ethik zu befinden‹, ergänzte Marynowytsch seinen stereotypen Satz.

Traurig anzusehen war der Auftritt des Ehemannes von Mykolas Cousine L. Studsinsky. (In der Liste des Gerichtes wird er nicht erwähnt. Im Urteil aber doch, da er trotzdem aussagte.) Studsinsky wollte nicht zugeben, dass er das Exemplar der Deklaration, dass Mykola zur Kenntnisnahme seinem Onkel und seiner Cousine übermittelte, heimlich beim KGB abgab. Der Richter überredete ihn lächelnd und väterlich, es einzugestehen, aber er schwieg lange. 65

Raisa reichte die Scheidung nicht gleich ein, sondern wartete die passende Zeit ab, um mir bei Bedarf behilflich zu sein. Die Umstände unserer zivilen Ehe rechtfertigen ihren Schritt voll und ganz. Ich empfinde bis heute gegenüber dieser Frau zusammen mit ihrer Schwester Tonja und Tochter Walentyna große Hochachtung und Dankbarkeit.

238 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Als er wie auf einer heißen Herdplatte der Hölle schmorte, bestätigte er es schließlich stumm: »Ach, dieses Kleinrussland!« Die gerichtliche Verhandlung der »Rowdy-Sache« von Matusewytsch dauerte lange und war langweilig. Der »Geschädigte« W. Danyliw, übrigens ein Galizier aus Iwano-Frankiwsk, trat zur Aussage auf und zusätzlich elf weitere. Soweit ich verstand, sahen an diesem fünf Jahre zurückliegenden Tag in Kryworiwnja einige russischsprachige Touristen eine Huzulin, die nach lokalem Brauch eine Pfeife rauchte. Sie begannen, sich über sie lustig zu machen. Mykola hörte das und machte dem schnell ein Ende. Es entstand ein Handgemenge, während dem die Jungs ihre Fäuste walten ließen. Dann trennte sie ein Kluger – und damit war Schluss. In der offensichtlich gefälschten Darstellung des KGB sah alles viel schlimmer und »politischer« aus. Der Richter Dyschel fuhr aus der Haut und versuchte den Vorfall unter Teil 2, § 206 zu subsumieren. Mit dem »Geschädigten« ergab sich eine ganze Komödie. Er wurde als Erster in den Gerichtssaal gebracht. Der Richter fragte pro forma, ob er jemanden auf der Anklagebank erkenne. Danyliw schaute mich an (ich erinnere mich, er saß allein), und sagte: »Ja, dort sitzt Matusewytsch.« Es kam zu einer Verwirrung. Bis zur Pause verhielten sich noch weitere Zeugen aus der Gruppe ebenso, bis das KGB den entsprechenden Drill vornahm. Als Danyliw begriff, dass er etwas verwechselte, schaute er die ganze Zeit schuldig in meine Richtung und verstand wenig. Seine Aussagen waren ungeschickt. Es war ihm offensichtlich nicht wohl, das Handgemenge mit Mykola so auszudrücken, wie es ihm das KGB vorflüsterte. Auch als Geschädigter wollte er sich nicht zu erkennen geben. Das KGB musste in der Pause mit ihm arbeiten. Danach lief die Sache zügiger über die Bühne. Nun kamen wieder andere Zeugen – und vor mir breitete sich eine Auswahl der Charaktere des »Homo sowjeticus« wie ein Stapel Spielkarten aus. Mutig und wirklich ehrlich waren die Auftritte der Zeugen von Mykolas Seite: der Eheleute Nina, Jewgen Obertas und Walentyna Hirenko. Sie alle bestritten, dass das Handgemenge »außergewöhnlich gefährlich« gewesen sei oder einen »politisch nationalistischen« Hintergrund gehabt habe. Besonders ausdrucksstark war die Widerlegung von Mykolas »antirussischen« Motiven durch

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 239 seine Freundin Walentyna Hirenko, die selbst russischsprachig war und im Gericht in russischer Sprache auftrat! Schließlich »drückte« Richter Dyschel die Sache zum gewünschten Ergebnis. Am 29. März trat das Gericht erneut zusammen, um das Urteil zu verlesen. Mykola Matusewytsch wurde wieder hereingebracht. Ich kann mich gut an den liebevollen Blick von Nastja Fedoriwna erinnern, mit dem sie ihren Sohn buchstäblich streichelte. Hinsichtlich des Urteils hatte ich keine Illusionen: Weil ich nicht zerbrach, wusste ich, dass ich die maximale Frist bekomme. In mir kam die Befürchtung auf, es würde mir eine kürzere Frist als Mykola gegeben, da wir zwei unterschiedliche Verhaltensweisen gewählt hatten. Das wäre für mich eine Katastrophe gewesen. Es hätte so ausgesehen, als hätte ich ihn verraten. Zuerst wurde die Frist von Mykola verlesen, dessen Handlung gemäß Teil 1, § 62 StGB der USSR und 70 des StGB der RSFSR sowie gemäß Teil 2, § 206 des StGB der USSR mit der höchsten Punktzahl bewertet wurde: Sieben Jahre Freiheitsentzug in Lagern mit strengem Vollzug und fünf Jahre Verbannung. Gespannt wartete ich auf mein Urteil. Als wieder »sieben Jahre plus fünf« erklangen, fühlte ich mich einfach glücklich: Gott sei Dank wurde mir gleichviel gegeben! Aber die Freude verflüchtigte sich rasch, als ich Mutter und Nadijka ansah: Sie hatten die Höchststrafe offenkundig nicht erwartet. Mutters Gesicht trübte sich. Nadijka berichtete später, dass in ihrem Kopf der Gedanke pulsierte: »Warum denn so viel?!« Mykola Matusewytsch schaffte es noch zu fragen: »Wie ist es mit einem Schlusswort?« Doch er wurde wieder an den Händen gefesselt und aus dem Gerichtssaal geführt. Mykola hatte nicht gewusst, dass das letzte Wort am Ende der vorangegangenen Sitzung hätte verlangt werden müssen, d. h. noch vor der Urteilsverkündung. Später beschrieb er es so: Man brachte mich nur zum Urteil. Ja, leider verwehrte man mir das letzte Wort, denn genau dann wollte ich etwas ›Heroisches‹ sagen. Und so war ich

240 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT schrecklich enttäuscht. Wenn ich ehrlich bin, wollte ich mich über sie lustig machen.66

Ich verzichtete auf das Schlusswort und wiederholte, meiner Tradition gemäß, die Formel, dass ich mich weigere, an der Gerichtsverhandlung teilzunehmen. Und so kehrte ich als ungebrochener »besonders gefährlicher Staatsverbrecher« in die Zelle zurück … Später erfuhr ich aus der »Chronik« (Ausgabe 49), wie ideologisch unsere Sache für die Werktätigen in der »Volkspresse« dargestellt wurde: Eine Woche vor dem Prozess erschien in der RayonZeitung »Iljitschs Weg« der zerschmetternde Artikel von P. Barsinsky »Schwarze Undankbarkeit« über M. Matusewytsch und seine Verwandten. Am 19. März druckte die Gebietszeitung »Kyjiw ska Prawda« diesen Artikel ab. Am 15. April erschien in der Zeitung »Iljitschs Weg« auch noch ein Artikel von Barsinsky mit dem Titel »Anfeindung«, in dem nicht nur Marynowytsch und Matusewytsch, sondern auch »andere Gehilfen, insbesondere die Antisowjetler Oleksandr Berdnyk und Jewgen Obertas« gebrandmarkt wurden. Im Artikel wurde ausgesagt, dass die Redaktion Briefe erhielt, deren Autoren forderten, dass sich Berdnyk und Obertas »für ihre Taten vor Gericht verantworten müssen«. Eine Kassationsbeschwerde schrieb ich nicht, es hatte keinen Sinn. Sein Anwalt schrieb offenbar im Namen Mykolas (aber offensichtlich nicht auf dessen Wunsch hin), eine Kassationsbeschwerde. Ich blieb nach dem Urteil noch bis zum 8. Juni im Untersuchungsgefängnis, bis das Kassationsgericht im Stile der typischen sowjetischen Imitationen »das Urteil in Kraft setzte«. In diesen Tagen geschah noch etwas, was ein Wiedersehen mit meiner Mutter ermöglichte: Mein Vater verstarb am 4. April 1978 plötzlich an einer Herzattacke. (Ich erinnere daran: Er war damals von meiner Mutter geschieden und die beiden wohnten getrennt.) Es war zu erwarten, dass ich zur Beerdigung nicht zugelassen würde. Ich wurde nicht einmal über seinem Tod informiert. Kurz danach erreichte meine Mutter ein Wiedersehen mit mir. Es 66

Mykola Matusewytsch: »Ich gewann den Zweikampf mit den KGBlern, weil ich die Angst besiegte.« (Interview von Wasyl Schkljar mit M. Matusewytsch). Molod Ukrainy, Nr. 126 (17462) v.06.11.1996, S.3.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 241 geschah im Kabinett des Leiters und er fragte, wie ich diese Nachricht aufnehme. Ich entsinne mich, dass ich sagte: »Möge er bei Gott ruhen. Ich behalte von nun an das Schlechte nicht mehr, das er uns antat.« Das Wiedersehen endete in einem stürmischen Konflikt mit dem Obersten Saposhnykow. Als wir uns verabschiedeten, umarmte mich meine Mutter und flüsterte mir etwas ins Ohr. Ich verstand sie aber nicht. Aber Saposhnykow hörte dieses Flüstern und begann wütend zu schimpfen. Ich empörte mich sofort: »Was erlauben Sie sich? Wie können Sie es wagen, meine Mutter zu beleidigen?« Ich wurde dann sofort aus dem Kabinett gebracht. Meine heldenhafte Mutter blieb allein im Kabinett zurück, um von einem wütenden KGBler in Stücke gerissen zu werden … Dann kam der Tag, als das Urteil in Kraft trat und ich wie ein Verbrecher kahlgeschoren wurde. Ich wurde nun mit »Bürger Verurteilter« angesprochen. Ich erwartete mit jeder Minute die kommende Etappe. Im Buch meines Lebens begann wieder eine neue Seite …

Intermezzo 1: Die Etappe ins Lager Am 9. Juni 1978 wurde ich schließlich aus meiner Zelle im Untersuchungsgefängnis geholt und ins Lager geschickt. Mein erster Eindruck war äußerst intensiv. Ich wusste damals noch nicht, was mich denn alles erwarten würde, es wird jedoch in der Gefängnisliteratur eindrücklich beschrieben.67 An diesem Tag wurden alle zu einer bestimmten Stelle im hinteren Teil des Bahnhofs in Kyjiw gebracht. Da dies ein offener Bereich war, wurde uns befohlen, uns hinzusetzen. Die ganze Gruppe war dann von Soldaten mit Schäferhunden umzingelt. Ich war nicht in der Mitte, sondern am Rand und erinnere mich noch gut

67

Jeder, der sich mit der Beschreibung einer typischen Etappe, angefertigt von Jurij Orlow, vertraut machen möchte, kann in die Dokumente der Moskauer Helsinki-Gruppe (1976–1982) schauen. 1979: Dokument Nr. 87 »Über die Lage der Häftlinge in den Lagern der UdSSR« (http://web.archive.org/web/201707 15022247/http://www.mhg.ru/history/15D81EC).

242 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT an das wilde Bellen eines Schäferhundes neben meinem Gesicht. Ein unvergesslicher Eindruck. Dann wurden wir zum »Stolypin« gebracht (spezieller Eisenbahnwaggon für den Transport von Sträflingen), wo ich als »besonders gefährlicher Staatsverbrecher« in eine Einzelzelle gesperrt wurde. Alle anderen Häftlinge, alles Kriminelle, kamen in große Abteile mit langen Pritschen. Es waren sehr viele, nur mit Müh und Not konnte man sie in das Abteil stopfen. Auf der mir gegenüberliegenden Seite befand sich eine kleine Zelle mit zwei Frauen. Eine davon, die vermutlich das erste Mal zu einer Etappe gebracht wurde, weinte die ganze Zeit. Die zweite dagegen war es offenbar schon gewohnt. Als die Kriminellen die Frauen sahen, begannen sie sofort mit ihnen anzubändeln, machten scharfe Witze oder verlangten, dass sie die »Weiße Kamille« singen, ein damals sehr bekanntes Häftlingslied mit einem anzüglichen Text. Die Häftlinge begannen, ohne die Frauen zu fragen, dieses Lied zu singen und ergötzten sich an der Wirkung. Bei jedem neuen Anflug schmutziger Witze heulte die völlig verängstigte Frau im Nachbarkäfig aber noch mehr … Die Wache schritt immer wieder durch den Gang, schaute durch die Gitter und schrie die Häftlinge mit Schimpfwörtern an. Dann setzte sich der Zug endlich in Bewegung. Zum Glück hatte einer der Begleitpersonen das Fenster etwas heruntergelassen, um frische Luft hereinzulassen. Ich stieg auf die obere Pritsche und schaute auf die Hügel und die Glockentürme der Lawra in Kyjiw, die an mir vorbeizogen. Der Zug fuhr dann über eine Eisenbahnbrücke – und ich nahm für eine lange Zeit sehr bewegt Abschied vom Dnjepr und der Stadt, meiner damaligen Heimat. Nachts musste ich erstaunt feststellen, dass die Soldaten auf die Bitte der Häftlinge, sie zur Toilette zu führen, nicht reagierten. Es war nur morgens erlaubt. Wenn jemand früher musste, war das sein Problem. So verstummten die ständigen Bitten der Leidgeprüften allmählich und es ließ sich nur erahnen, wie die Leute ihr Problem lösten. Später las ich in den Erinnerungen von Patriarch Jossyf Slipyj, wie er seine Etappe erlebte:

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 243 Jede Etappe war ein schreckliches Kreuz Gottes und sie zu beschreiben eine einzige Qual: unter Banditen, Hunger und Kälte, ohne jede Möglichkeit, auch den natürlichsten Bedürfnissen nachzukommen, unter Misshandlung durch die Wachmannschaft, mit Diebstählen und dergleichen.68

Es fällt schwer, sich unter diesen Bedingungen eine geistliche Persönlichkeit von der Größe dieses Patriarchen vorzustellen … Wenn ich heute meine Eindrücke mit denen anderer Häftlinge vergleiche, sehe ich, wie gnädig mir Gott dennoch war und mir keine übermäßigen Prüfungen sandte. Ich zitiere aus einem Bericht von Jewhen Swerstjuk: Auf der Etappe hatte ich im Waggon einen ›Dreiteiler‹ für mich allein. Den Kriminellen in den anderen Zellen wurde gesagt, es werde ein besonders gefährlicher Faschist transportiert, der Kinder umgebracht hätte. Wegen der Kinder löste das ein großes Geschrei aus. Mykola Rudenko und Oleksa Tychy waren wegen ›Smischtorg‹ (›Gemischtwarenhandel‹) im provinziellen Drushkiw schuldig gesprochen worden. Der KGB erzählte den Leuten, zwei Saboteure, die in einer Wurstwarenfabrik arbeiteten, seien verurteilt worden, weil sie in für Kinder bestimmte Wurstwaren Glassplitter gemischt hätten.69

Gegen morgen näherte sich der Zug bereits Charkiw. Endlich wurden wir auf die ersehnte »Toilette« herausgeführt. Ich nahm also die Seife, Handtuch, Zahnpasta und Zahnbürste – und wartete, bis ich an der Reihe war. Der Soldat öffnete die Türe und schaute mit großen Augen auf das, was ich in den Händen hielt. Schließlich begann er laut zu fluchen. Ich verstand nicht, womit ich mich schuldig gemacht hatte, und schaute ihn nur an. Seine Wut wurde so noch größer. Endlich begriff ich, dass es an meinen Toilettenutensilien lag. Ich legte sie beiseite und ging hinter dem Soldaten her. Nun wurde alles verständlich: Die Toilette hatte keine Türe, das Verrichten der Notdurft erfolgte in Anwesenheit der Begleitperson unter der Mündung seiner »Kalaschnikow« und Waschen »stand mir gar nicht zu«. Nun begriff ich, welche Zumutung das Handtuch, die Seife und »oh, welche Frechheit!« Zahnpasta und Zahnbürste

68 69

Jossyf Slipyj. Erinnerungen, S.188. Audioaufzeichnung von Wasyl Owsijenko v. 23.12.2012, die sich in seinem persönlichen Archiv befindet.

244 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT waren. Das hieß: »Du willst weiter ein Mensch sein, o Mann? Beim Eintritt hier lass alle Hoffnung fahren!« Solche Momente erlebte jeder politische Häftling auf die eine oder andere Weise. Nun kam also die Zeit, wo du nur diese Wahl hast: Entweder du lässt dich durch die Erniedrigung deiner Menschenwürde zerstören, oder du sagst dir ein für alle Mal, was die anderen politischen Häftlinge dir raten: »Nein, es wird ihnen niemals gelingen, mich zu erniedrigen!« So entsteht ein schützender psychischer Schild, der dir hilft, die endlosen Entkleidungen, Leibesvisitationen und Verhöhnungen gelassen zu ertragen: »Sie können mit mir machen, was sie wollen, aber mir meine Würde zu nehmen, wird ihnen niemals gelingen!« Gleichzeitig war ich überzeugt, dass die Begleitperson sich der unerträglichen Erniedrigung durch seine Arbeit bewusst war. Er musste stundenlang zusehen und sogar aufmerksam das Verrichten der Notdurft der Häftlinge verfolgen. Es ist also durchaus möglich, dass diese oder eine ähnliche Erniedrigung meinen Begleitposten so wütend machte. Während einer anderen Etappe, welche genau, weiß ich nicht mehr, zerrte mich ein Soldat beim Einstieg ohne Grund in den Vorraum, legte seine Maschinenpistole an mich und sagte: »Du antisowjetischer Schweinehund, jetzt bringe ich dich um!« Und du weißt dann nicht, was gerade in seinem Kopf vor sich geht: Tut er es oder tut er es nicht? Vielleicht bemerkst du, dass er mit Drogen vollgepumpt oder besoffen ist. Diese Gefängnistradition war gut bekannt: »Die Obrigkeit lässt schreckliche Gräueltaten zu, wie etwa, dass Häftlinge wie Fliegen erschossen werden. Sie sind eh nur Psychopaten und entartete Banditen.«70 In Charkiw wurde ich dann in das bekannte Durchgangsgefängnis mit dem für sich sprechenden Namen »Kalter Berg« gebracht. Ich, ein noch junger und unerfahrener Häftling, kam nun in eine Zelle, wo bereits ein Häftling saß. Wir redeten miteinander und kamen automatisch zum üblichen Thema solcher Begegnungen: Ich berichtete über meine Strafsache und er über seine. Sofort zeigte sich ein anderes Gefängnisphänomen: In der Beziehung unter den Häftlingen entstand eine gewisse Brüderlichkeit, da jeder 70

Jossyf Slipyj. Erinnerungen, S.198.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 245 Häftling den gleichen Status wie du hatte. Ich hörte ihm wohlwollend zu und nickte bei jedem Satz. Er beschrieb ungefähr die folgende Situation: In seiner Heimat Kyschynew gab es einen Scheißkerl, der allen ein Hindernis war. Man konnte ihn ganz und gar nicht ändern. Mein Gesprächspartner war einmal zu Besuch und da war wieder dieser nervige Mann, der allen auf den Wecker ging. Und dann: »Ich hielt es nicht mehr aus, nahm eine Flasche, schlug sie auf seinen Kopf und brachte ihn um.« Ich erstarrte, nachdem ich begriff, dass ein Mörder vor mir stand. Er machte weiter und schaute mir ins Gesicht: »Das Böse musst du vernichten, das ist doch so?« Ich war völlig überrascht. Meine Erschütterung war noch viel größer, als man es sich vorstellen kann. Seither kann ich diese Klügelei einiger Freunde nicht mehr hören, man müsse sich mit dem Bösen nicht beschäftigen, man müsse es einfach vernichten! Auf solche Worte kann ich nicht mehr nur zustimmend nicken … Ich war nicht lange mit diesem Mörder in der Zelle. Ich, ein »besonders Gefährlicher«, wurde in einer Einzelzelle untergebracht, in der ich zum ersten Mal nach langer Zeit aus dem Lautsprecher eine Übertragung von Liedern hören konnte. Wenn ich es richtig verstehe, wurde ich nicht in einer Todeszelle untergebracht, wie es mit beinahe allen politischen Häftlingen gemacht wurde, die durch dieses Gefängnis gingen. Als ich dann im Radio plötzlich meine geliebte Anna Herman hörte, die »Einmal im Jahr blühen die Gärten« sang, begann ich sehr bewegt, in der Zelle zu tanzen. Wenn ich heute dieses Lied höre, tanze ich in meinen Gedanken auch heute noch. Nach Charkiw kamen Etappen durch die Durchgangsgefängnisse von Sysran (vielleicht gab es zuvor noch einen Halt in Saratow), Kasan und Perm. Wir wurden in allen Gefängnissen jeweils für mehrere Tage festgehalten, zumeist bis zu einer Woche, bis wieder genug Häftlinge für die nächste Etappe bereit waren. Die genauen Umstände in Sysran sind mit Ausnahme eines ganz bestimmten Momentes aus meinem Gedächtnis verschwunden. Ich wurde wieder »zufällig« in eine Gemeinschaftszelle mit kriminellen Verbrechern gesteckt. Ich sage es voller Ironie, denn dieses Versehen war ohne eine Absicht kaum möglich. Den

246 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Vorschriften gemäß mussten kriminelle und »besonders gefährliche« Häftlinge eigentlich getrennt werden. Mit der Absicht, uns eine gehörige »Erziehung« zu verpassen, »vergaß man« aber manchmal das Gesetz. Man ging davon aus, Kriminelle hätten mit Politischen ein besonderes »Vergnügen«. Und das geschah nun auch: Als ich in die Zelle hineingeführt wurde, gaben die Aufseher laut meinen Paragrafen im Strafgesetzbuch bekannt, damit es alle hören konnten und damit auch die Kriminellen. Ich werde mich immer an ihre finsteren, mir feindlich gesinnten Blicke erinnern, die sie damals auf mich richteten, als ich hineinkam. Einer von ihnen befahl mir dann, meine Habseligkeiten abzugeben. Ich versuchte zu protestieren, doch sie kamen langsam auf mich zu und kreisten mich schweigend ein. Ich verstand, dass es keinen Sinn macht, sich ihm zu widersetzen, und gab ihm mein Bündel ab. Soweit ich mich erinnere, nahmen sie mir dann nicht alles, sondern nur die wertvollsten Sachen, so etwa meinen dicken Pullover, den mir meine Mutter mitgegeben hatte. Ich kann es nicht lassen, diesen Fall mit einem anderen zu vergleichen, der mir wesentlich später während einer anderen Etappe geschah. Wieder in einem Durchgangsgefängnis wurde ich erneut »fälschlicherweise« in eine große Zelle gebracht, in deren Mitte die kriminelle Elite der »Verbrecher nach dem Gesetz« saß. Auch sie konnten die Nummer meines Paragrafen gut hören, aber doch im Unterschied zu denen vorhin, baten sie mich in ihren Kreis, wo sie den »Tschyfir brennen«. Ich nippte ab und zu etwas davon und beantwortete ihre Fragen: Woher ich wäre, warum ich sitze usw. Es wurde mir aufmerksam zugehört, ohne mich zu unterbrechen. Als ich aber beim Erzählen auf die Tätigkeit der Ukrainischen HelsinkiGruppe zu sprechen kam, konnte sich einer der Häftlinge nicht mehr bremsen: »Was gegen die Sowjetmacht ist, ist doch richtig. Es bringt gar nichts, sie mit Worten zu bekämpfen. Gegen sie musst du mit Dynamit vorgehen!« Auch an das Gefängnis in Kasan erinnere ich mich noch gut, wohl deshalb, weil sich dort erneut eine komische Geschichte abspielte. Ich wurde wieder in einer Einzelzelle untergebracht, wo es nur die Matratze gab, auf der ich schlafen konnte. Das Essen wurde durch die »Futterluke« gereicht. Eines Tages wurde sie zu einer

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 247 ungewohnten Zeit vom Aufseher geöffnet und er ließ sie weiter offen. Ich hielt es nicht aus und erhob mich vom »Bett«. Als ich herausschaute, war ich verdutzt. In der Zelle mir gegenüber stand die »Futterluke« ebenfalls offen. Und es schaute mich … ein inhaftiertes Mädchen … sehr wohlwollend an. Ich winkte ihr ahnungslos zu, ohne zu wissen, was ich nun tun konnte, und fragte sie, wie es ihr ginge. Später winkte ich ihr zum Abschied nochmals mit der Hand und legte mich wieder auf die Matratze. Nach einigen Minuten brummelte der Aufseher verärgert etwas und schlug meine »Futterluke« krachend zu. Etwas später öffnete er die Türe meiner Zelle, befahl mir, herauszukommen und führte mich in die nun leere Zelle gegenüber: »Sag, was fühlst du jetzt?« Ich schaute ihn verwundert an und verstand gar nichts. Zornig sagte er: »Ein Weib fühlst du, ach, du begnadeter Schw…!« Er brachte mich wieder in meine Zelle zurück und verlor jegliches Interesses an mir. Erst jetzt begriff ich, dass ich nicht mehr im Untersuchungsgefängnis des KGB in Kyjiw bin. Ich war in einer Welt einfacher, sehr natürlicher Reflexe gelandet, an denen die Aufseher gut verdienten. Während dieser langen Etappe machte ich wohl noch eine andere besondere Erfahrung an der Grenze zwischen Leben und Tod. Ich wurde in eine »grüne Minna« gezwängt, in eine dieser engen »Metallbecher« für besonders Gefährliche, die nur für eine Person sind. Wir waren aber zu dritt und es war völlig unmöglich, nebeneinander zu stehen. Wir standen also übereinander und alle bemühten sich, irgendwie doch herausklettern zu können. Da wir auf einer fürchterlich holprigen Straße transportiert wurden, wurde diese Fahrt im »Becher« für unsere drei Körper zu einem einzigen Überlebenskampf und zu einer unendlichen Prüfung. Dazu kam erbarmungslos der stickige Geruch, denn in die Türe dieses Metallsackes waren nur einige wenige Löcher gebohrt, ausgelegt für die ruhige Atmung eines Menschen. Hier aber atmeten drei und diese Fahrt dauerte zwei bis drei Stunden! Jeder von uns war buchstäblich am Ersticken und versuchte mit seiner Nase oder seinem Mund irgendwie die rettenden Löcher zu erreichen. Es war einfach nur schrecklich: War das nun also mein Ende? Da erstaunt es wirklich,

248 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT dass ich dennoch nicht bedauerte, diesen stürmischen Weg gewählt zu haben … Von meinem ersten Aufenthalt im Durchgangsgefängnis blieb mir nichts Besonderes im Gedächtnis. Meine weitere Erinnerung beginnt erst wieder in der Einzelhaft im Strafgefängnis (SHISO – Strafgefängnis, nicht mehr Untersuchungsgefängnis) des Lagers WS-389/36, dass sich in der Ortschaft Kutschyno (Rayon Tschusowoj, Oblast Perm)71 befindet. Dort wurde ich am 6. Juli zur Quarantäne gebracht, die fast eine Woche dauerte und die offen gesagt, psychisch für mich ein völliger Horror war. Hinter diesen Toren waren jene, nach denen ich mich seit über einem Monat sehnte: die politischen Häftlinge, von denen ich bereits im freien Rundfunk gehört und über die wir in unseren Dokumenten geschrieben hatten. Hier also war die Blüte der ukrainischen Nation, von der ich zuvor nur die Legenden kannte. Und nun musste ich noch so lange warten, weil das jemandem so gefiel. In dieser Zeit wurde ich einmal zum Freigang auf den Gefängnishof geführt. Plötzlich sah ich, dass sich ein Klappfenster nach außen öffnete – und sah niemanden, hörte dann aber eine Stimme: »Ich bin Semen Glusman. Wer sind denn Sie?« Ich nannte meinen Namen. »Wissen Sie schon, dass alle Mitglieder der Helsinki-Gruppen für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen sind?« »Was? Nein, unmöglich!« Für mich war diese

71

Anfang der 1970er-Jahre wurden im Permer Gebiet in Russland politische Lager für »besonders gefährliche Staatsverbrecher« eingerichtet. Am 13.Juni 1972 traf dort unter größter Geheimhaltung ein Transport mit mehreren Hundert Häftlingen des strengen Vollzugs ein, die in drei Lagern nahe der Stadt Tschusowoj untergebracht wurden, die der Lagerverwaltung im Dorf Skalny unterstellt waren (»Einrichtung WS-389«): Lager 35 (nahe der Station Wsechswjatsky), Lager 36 (nahe der Ortschaft Kutschyno), Lager 37 (nahe der Ortschaft Polowynka). Diese Häftlinge waren Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung und der nationalen Befreiungsbewegung, Autoren des Selbstverlages, Schriftsteller, Dichter, Journalisten, Juristen, Philosophen, Psychologen, Ärzte, Lehrer: alle verurteilt wegen »antisowjetischer Agitation und Propaganda«. Gemeinsam mit ihnen saßen die »Langfristigen« ihre Frist (25 und 15 Jahre) ab: Kämpfer der UPA, ehemalige Polizeimänner, die nach dem Krieg wegen »Vaterlandsverrat« verurteilt worden waren. Es waren faktisch keine Lager, sondern Gefängnisse mit überstrengem Vollzug. Im Lager WS-389/36 gab es zwei Abteilungen: die des strengen und des speziellen Vollzuges (siehe Buch: Die Widerstandsbewegung in der Ukraine. 1960–1990: Enzyklopädisches Handbuch / Herausgegeben von Osyp Sinkewytsch. Kyjiw: Smoloskyp, 2012, S.561–562).

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 249 Nachricht wie ein »Erdbeben der Stärke sieben«. Wieder zurück in der Zelle begann ich völlig erstaunt mir weitere Gedanken zu machen: »O mein Gott, Nobelpreisträger! Wenn das wirklich so sein sollte, wie könnte es möglich sein? Würde ich zur Preisverleihung freigelassen?« Ich wünschte es mir so sehr … wenn da bei mir nicht die Versuchung einer besonderen Ehrung wäre. Was ich damals erlebte, war für mein ganzes Leben außerordentlich wichtig, es wurde für mich wie eine Art der medizinischen Impfung. Zu meiner Rechtfertigung muss ich sagen, dass mir völlig überraschend wieder die Frage: »Wer sind Sie denn?« entgegenkam. Während meiner Befragung und der Gerichtsverhandlung wurde diese Frage immer wieder durch meinem Untersuchungsführers Beresa und in einem mich sehr demütigenden Ton gestellt … und ich erwischte mich beim Gedanken, dass ich bald vergessen sein werde. Nun hatte ich aber nicht irgendetwas gehört, sondern dass ich wirklich für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wäre! Jeder Mensch hat seine Schwäche – und ich, emotional völlig durcheinander, begann, mich mit dem Gedanken auseinanderzusetzen, ob der Platz auf meiner Brust reichte, um mir die höchste aller Auszeichnungen anzuheften. Wie gut war es, es, dass ich diese besondere Impfung erleben durfte! Als ich dann einige Tage später endlich aus der Quarantäne geholt uns Lager überführt wurde, kam ich schon bald in die reale Sphäre zurück und alles nahm seinen gewohnten Platz ein … und ich schämte mich für meine Schwäche. Nachdem 1978 schließlich die Unterzeichner des Camp-David-Abkommens, Menachem Begin und Anwar as-Sadat, den Friedensnobelpreis erhielten, konnte ich Gott nur danken für diese Zeit der besonderen Versuchung. Es hatten sich bei mir bereits genügend »Antikörper« gebildet, um beides auszuhalten: die Nachricht und die »Attacken einer besonderen Infektion mit Ruhm und Ehre«.

250 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT

Semen Glusman nach seiner Freilassung

»Glas« für den Transport von besonders gefährlichen Straftätern in einem Spezialfahrzeug

Spezialwagen für den Transport Krimineller »Stolypin«

Kaserne des strafrechtlichen Isolators

III.

Das Universum hinter dem Stacheldraht

Am 11. Juli 197872 wurde ich endlich in die Wohnzone des berüchtigten Lagers 36 in die Abteilung für besonders strengen Vollzug gebracht. Es ist unmöglich, meine Gefühle zu beschreiben, als ich durch die Einlasspforte aus der Baracke des Gefängnisses für die Untersuchungshaft in das Lager trat. Ich erinnere mich aber noch gut daran: Nun begann nicht nur eine andere Etappe meines Lebens, es begann ein völlig neues Leben. So etwa muss sich Neil Armstrong gefühlt haben, als er sich zuerst etwas umsah und dann als erster Mensch die Oberfläche des Mondes betrat. Obwohl ich mit meinem Verstand begriff, dass das Lager ein Tal erneuten Leidens sein würde, überwog meine Freude und Hoffnung über die kommenden Begegnungen. Heute würde ich sagen: Es war meine Hoffnung auf Gottes Hilfe. Eine Stelle aus einem späteren Brief an meine Verwandten zeigt in seiner traurig-ironischen Metapher mein Gefühl: 12. Februar 1979: Vor langer Zeit glaubte man, im Ural gäbe es eine Gegend, in der die glücklichsten Menschen auf der Erde in Güte und Liebe wohnen. Es wäre aber für andere Menschen fast nicht möglich, dorthin zu gelangen, hinter die Wälder und den Schnee. Nur ein fabelhafter Vogel könnte sie auf seinen Flügeln dahin bringen.

1. Das Arbeitslager aus der Nähe Zum Zeitpunkt meiner Ankunft waren gerade alle Häftlinge, mit Ausnahme einiger Personen, bei der Arbeit, was mir die Möglichkeit gab, meine wenigen Habseligkeiten abzulegen und mich auf die Begegnungen vorzubereiten. Mir wurde meine Baracke zugewiesen, die Schlafstelle und das Nachtschränkchen. Kurz danach kehrten die Häftlinge aus der Arbeitszone zurück. Eine Gruppe aktiver Kämpfer empfing mich herzlich und mit einem eindrücklichen Ritual, das dafür vorgesehen war, wie ich später erfuhr:

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Die »Chronik der laufenden Ereignisse« (Ausgabe 51) nennt das Datum 6.Juli. Damit ist aber nur festgestellt, dasshier l ich am 6.Juli im Lager zur Quarantäne untergebracht wurde. In die Wohnzone wurde ich am 11.Juli entlassen.

251

252 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Der Empfang eines Häftlings, der neu angekommen ist, war immer ein besonderes Fest im Lager. Zuerst gab es Tee, der extra dafür aufbewahrt worden war und auf eine traditionelle Weise aufgebrüht wurde. Die Ukrainer bildeten einen Kreis mit dem Neuankömmling in der Mitte. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Man hörte ihm aufmerksam zu und schätzte seine Worte ein. Das hieß, ohne etwas sagen zu müssen: Macht nichts. Wir werden es gemeinsam durchstehen. Wir werden es gemeinsam aushalten. Wir sind deine Freunde und du kannst dich auf uns verlassen.73

In meinem Fall war der Empfang etwas ganz Besonderes. Ich war das erste Mitglied einer Helsinki-Gruppe von Menschenrechtlern, d. h. der Erste unter denen, die sich für sie eingesetzt hatten und der nun in der Zone erschien. Ich wurde aber nicht nur von den Ukrainern besonders begrüßt. Man lud mich auch zu einem besonderen Essen ein: gebratene Pilze, zubereitet von meinen neuen Freunden. Als ich es hörte, fragte ich mich: Welche Pilze sollten in diesem Lager wachsen können? Die Jungen lächelten nur geheimnisvoll und zeigten mir dann diese seltenen Gaben der Natur auf dem Hof, die tatsächlich zur Gattung Funghi gehörten. Als essbare Pilze konnten sie aber nicht bezeichnet werden. Nach dem ersten Schreck erklärten mir die Jungs, die Pilze müssten zuerst zweimal ausgekocht und anschließend noch gut gebraten werden. Ich konnte diese Bewirtung natürlich nicht ablehnen, war aber etwas unsicher, ob mein erster Tag im Lager bereits mein letzter wäre … So begann also meine Bekanntschaft mit dem Ort, an dem ich sechs Jahre leben sollte. (In Übereinstimmung mit dem Gesetz wurde dann noch ein Jahr der Untersuchungshaft der Dauer der Haft mit besonders strengem Regime angerechnet.) Ich wusste aber nicht, dass die Zone, in die ich gebracht wurde, sich durch ihre besondere Grausamkeit auszeichnete. Jewhen Swerstjuk schrieb später: Die Zone 36 ist das größte Konzentrationslager und das schlimmste. Es ist die Zone mit sämtlichen Möglichkeiten zur Bestrafung: Strafregime, Strafaufsicht, Strafarbeit, Strafzensur, Strafalltag; auch die Beziehung zur Außenwelt, zu den Verwandten war eine Strafbeziehung. Wir büßten nicht nur

73

Mykola Horbal. Präsentation des Lebens, S.122f.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 253 unsere Haftzeit ab, jeder Tag war mit Strafaktionen verbunden. Das sowjetische Strafsystem war ein menschenverachtendes System.74

Dazu muss noch gesagt werden: Jewhen Swerstjuk zog es wie andere ukrainische Häftlinge vor, die Arbeitskolonie nicht als »Tabir« (ukr.: Lager) zu bezeichnen, sondern als »Lager« (russ: Lager), um die russische Transkription zu bewahren. Ich möchte es aber wie Oleksij Smirnow75 bei den Synonymen belassen: In der Sowjetunion gab es Pionierlager, Jugendlager und Arbeitslager zur Korrektur (Konzentrationslager). Das ganze Land war eigentlich ein einziges sozialistisches Lager … Der Lageplan des Lagers In weiser Voraussicht zeichnete jemand einen Plan für das Lager Kutschyno-36 für den besonders strengen Vollzug, den ich nun nutzen kann. Man muss dabei berücksichtigen, dass die Anordnung im Laufe der Zeit gewisse Veränderungen erfuhr. Es scheint mir, zu meiner Zeit waren einige Elemente nicht mehr so angeordnet. Ich kann mich dabei aber nicht auf mein Gedächtnis verlassen. Ich betrachte die heutige Ansicht, was vom Lager übriggeblieben ist aber mit großem Schmerz. Die Anzahl der Häftlinge war nicht immer dieselbe. Zu meiner Zeit waren in der Zone im Durchschnitt sechzig Personen. Sie waren auf zwei Holzbaracken (1. und 2. Abteilung) verteilt. Jede hatte zwei Gruppen mit 14 bis 16 Personen. Wir schliefen auf Pritschen, die paarweise entlang der Baracke dicht aneinander geordnet waren. Dazwischen gab es je zwei Nachtschränkchen. Ich erinnere mich, dass einige Zeit alle Häftlinge in einer gemeinsamen Baracke untergebracht wurden, verteilt auf Doppelstockpritschen. Im ersten Monat war mir das Schicksal gütig, da meine Pritsche neben der des ukrainischen Dichters Ihor Kalynez lag, wir schliefen aber nicht lange nebeneinander. Anfang August wurde er bereits auf die Etappe geschickt. Mein Nachbar beeindruckte mich 74 75

Audioaufzeichnung von Wasyl Owsijenko v. 23.12.2012, die sich in seinem persönlichen Archiv befindet. Aleksej Smirnow. Die Wahl (http://index.org.ru/nevol/2012-31/18-smirnov. html).

254 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT durch seine innere Gelassenheit und Demut. Er hatte den lustigen Spitznamen »Kalininez« (mit der Betonung auf dem ersten »i«, in Anlehnung an den Allunionsältesten Kalinin). Die Jungs erlaubten sich damit einen Scherz, doch sein Ruf war einwandfrei. Wir unterhielten uns öfters, bis heute schäme ich mich aber wegen meiner damaligen extremen Haltung, mit der ich meinen geduldigen Gesprächspartner manchmal schockierte. In jeder Wohnbaracke gab es ein Lesezimmer, von den Häftlingen scherzhaft als »Lenin-Zimmer« bezeichnet. Dabei denke ich vor allem an Jewhen Swerstjuk. Zum Leid der Aufseher schrieb er dort fast täglich einen Aufruhr und das in unleserlichen Schnörkeln, um die Ments zur Verzweiflung zu treiben. Es sollte eigentlich sofort zu erkennen sein, ob die Schreiberei antisowjetischen Charakter hatte oder nicht. Man muss sich das Lächeln des Herrn Jewgen vorstellen, mit der er die Qual ihrer Entschlüsselung beobachtete! Es gab in jeder Baracke auch ein Zimmer mit Waschbecken. Pissoirs gab es erst gegen Ende meiner Lagerzeit. Zuvor ging man zu jeder Jahreszeit einfach an die Luft in eine separate Toilette, die sich zudem noch an der entferntesten Ecke des Lagers befand. In beiden Hälften der Baracken gab es hinter einer Trennwand aus Glas, sogenannte »Sarkophage«, spezielle große Gestelle mit kleinen Fächern, in denen die Häftlinge ihre Lebensmittel aufbewahren konnten. In der Wohnzone gab es natürlich auch die Baracken, in denen die Kantine, ein Lagerraum, eine Sauna, die Bibliothek und eine Sanitätsstelle untergebracht waren. Und dazu ein Wachraum. Die Gebäude befanden sich an einer zentralen Achse an einer Straße angeordnet, die zum Tor und zum Postenhaus führte, auf der man in die Arbeitszone gelangen konnte. In der Kantine saßen alle mehr oder weniger frei, wobei die Neuankömmlinge in ihrer Wahl eingeschränkt waren und suchen mussten, wo es noch freie Plätze gab. In meinen ersten Monaten erinnere ich mich nur an einen Tischnachbarn, den Juden Wulf

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 255 Salmanson, einen der Leningrader Flieger76. Über ihn blieb mir auch ein Scherz in Erinnerung: Fettes Fleisch widert mich an und umso unzufriedener ich bin, umso mehr ziehen sich die Fettaugen zu mir hin, die auf meiner Balanda schwimmen. Ich gab ihm deshalb weiter, was ich aus Spaß als Schweinefleisch bezeichnete. Ich machte mit ihm dann ab, dass ich es auch essen würde, wenn ich ihn einmal in Israel besuche. Meine Abscheu gegen Fettaugen dauerte aber nicht lang. Am 30. September 1979 schrieb ich bereits in einem Brief nach Hause: Ich kann euch beruhigen, wenn ich sage, dass ich nun alles Fleisch esse, das in meine Schüssel kommt. Ich habe mich lange widersetzt und gab das Fleisch anderen. Und die Zwiebeln zog ich aus der Suppe auf den Rand hinaus. Doch schon ab Juni gab ich mich geschlagen; jetzt ist meine Schüssel immer blank, mit Ausnahme der Blätter, mit denen man die Soldaten ehrt: die Lorbeerblätter. Ich glaube, die essen sie wohl bald auch. Kurzum: Ich habe, wie wir in ähnlichen Fällen sagen, nun alle meine Meckereien aus mir gezogen.

Zu meinem Erstaunen fand ich in der Lagerbibliothek enige für mich sehr wertvolle und interessante Bücher und Zeitschriften, was ich nicht erwartet hatte. Die Häftlinge konnten Zeitungen und Zeitschriften über »Sojusdruk« (»Sowjetpresse«) abonnieren und Bücher über die Allunionsorganisation »Knyga poschtoju« (»Buch per Post«) beziehen. Natürlich nur Bücher, die in der UdSSR erschienen waren, weil unsere Zone nur für politische Häftlinge bestimmt war. Die Dissidenten unter ihnen waren zumeist hochgebildete Fachleute in allen möglichen wissenschaftlichen Disziplinen. Sie abonnierten nur das Wertvollste, was gerade im Land an Büchern und Periodika erschienen. Da jemand auf die Etappe nur das mitnehmen konnte, was er mit seinen eigenen Händen tragen konnte, blieb die Mehrzahl der Literatur in der Bibliothek zurück, weshalb ich dort Raritäten lesen konnte wie das mehrbändige Werk »Ethnogenese und Biosphäre der Erde« von Mykola Leskow oder den »Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich« von Lew Gumiljow. Dieses Buch las ich im Lagergefängnis77 – und erschrak 76 77

Leningrader Flugzeugsache (http://ru.wikipedia.org/wiki/Ленинградское_ самолётное_дело). PKT – »pomeschtschenije kamernogo tipa« (Kerker), Lagergefängnis.

256 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT zutiefst über die dort beschriebenen Gräueltaten. Es wurden in der UdSSR damals die Erzählungen von Agatha Christie in englischer Sprache veröffentlicht, an denen wir unsere Sprachkenntnisse üben konnten. An einer entlegenen Stelle gab es auch einen Volleyballplatz, der im Sommer ziemlich beliebt war. Dort konnten wir spazieren oder einfach Zeit mit unseren Freunden verbringen oder auf dem sogenannten »Hồ Chí Minh-Pfad« eine Runde drehen, der im Laufe der Jahre von den Häftlingen getrampelt war und der dann zu Ehren des vietnamesischen Revolutionsführers als »Onkel Ho« bezeichnet wurde. Manchmal wurden auch die Sendungen des zentralen Allunions-Rundfunks per Lautsprecher übertragen, womit für mich eine besondere Erinnerung verbunden ist, die ich in der Korrespondenz an die Verwandten erwähnte: 30. September 1982: Dieser Tage ging ich einmal die Straße entlang – und da höre ich plötzlich aus den Lautsprechern den berühmten ›Marsch der Saporoger‹. Was für eine optimistische, göttliche Musik! Schon bei den ersten Akkorden wuchsen mir die Flügel aus meinen Schultern.

Natur und Klima Bereits in den ersten Tagen beeindruckte mich der Himmel im Ural. Am Tag hingen die Wolken zumeist tief über der Erde. Es schien, als strecken sie ihre Arme für mich aus und ich könnte sie ganz nahe greifen. Nachts verwandelte sich der Himmel in ein fantastisch glitzerndes Planetarium, unter dessen Kuppel die ganze Milchstraße funkelte. Die Luft war reiner, nicht verschmutzt durch die Emissionen der Industrie. Die Klarheit der Atmosphäre war so, wie ich es noch nie sah. Nachts ging ich einmal aus der Baracke. Ich konnte nur staunen. Es war, als ob ich der erste Adam auf der Welt wäre. Nur der Himmel und Myriaden von Sternen waren da. Ich legte mich auf eine Bank, mit dem Gesicht nach oben. Wieder wurde mir fast unheimlich zumute: Es schien, als fiele das Himmelsgewölbe mit allen seinen Myriaden an Sternen auf mich. Diese Eindrücke flossen auch in die Briefbögen an die Verwandten:

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 257 17. September 1978: Wolken am hiesigen Himmel. Es ist phänomenal. Man könnte stundenlang voller Ehrfurcht diese Schönheit betrachten, wenn nicht im Unterbewusstsein die mystische Urangst vor dem Wunder des Himmels wäre … Die heutige Nacht kann ich nicht vergessen. Ich wurde genau in dem Augenblick von einem Stoß aufgeweckt, als die totale Mondfinsternis einsetzte. Es ist sehr schade, dass meine Augen nicht fähig waren, mir den verwaschenen roten Fleck für ewig zu bewahren, an den sich mein Blick fesselte. Die Nacht und die Ruhe verstärkten den Eindruck. Ich ging auf den Hof und fühlte mich wie der erste Mensch, der von der Größe des Universums überwältigt ist. Ähnliche Gedanken kamen mir selten, sonst würde ein Mensch vor Einsamkeit verdürsten. 20. Mai 1979: Der Frühling am Himmel zeigt die Rückkehr des Zaubers der Schönheit. Jetzt sind die Wölkchen so niedlich wie Rokoko an der Himmelssphäre. 14. August 1981: Am 31. Juli sah ich am Morgen eine Sonnenfinsternis, die bei uns nur partiell war, was mich sehr berührte. Es war die letzte Finsternis in diesem Jahrtausend und vielleicht auch die letzte in meinem Leben! Es ist ein neues und schockierendes Gefühl, etwas zum letzten Male zu sehen. Soweit mir bekannt ist, war die Finsternis in der Westukraine nicht zu sehen, im besten Fall deckte sie die Sonne ein wenig zu. Bei uns blieb nur eine kleine Sichel und es wurde dunkel. Zur Ruhe der Natur ein großer Kontrast. 22. November 1981: Ein klarer Morgen begrüßte mich, verziert mit der Mondsichel und der Venus. Es war beinahe wie am Tag der Abreise von Herrn Jewgen [Swerstjuk].

Die Bergkette im Ural, die mich am Horizont anguckte, erzeugte viele bunte Gefühle. Die Berge haben mich an die Karpaten in der Nähe meiner Heimat Drohobytsch erinnert, was mir guttat. Nicht nur in der Seele, auch im Verstand sah ich die Ähnlichkeit mit meiner Heimat. Ich fand in meinen Briefen die traurige Notiz: 26. September 1979: Das Wetter ist sehr schön, es sind die letzten sonnigen Herbsttage. Heute wollte ich nicht einmal zu einem Spaziergang hinaus. Ich überwand mich und ging trotzdem. Ohne dass ich das wollte, erinnerte ich mich an Ihor [Kalynez], ihn hat ebenfalls der mit gelben Blättern entflammte Wald bedrückt.

Das Klima in diesem Vorgebirge im Ural ist ausgeprägt kontinental: Der Sommer ist heiß und die Winter sehr kalt. Es fiel den Sträflingen nicht leicht, dies zu ertragen und die alten Häftlinge gaben ihre eigenen Erfahrungen, wie wir überleben können, an uns weiter. Natürlich bekamen in meinen Briefen an meine Verwandten all diese Umstände eine romantische oder scherzhafte Färbung. Wenn

258 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT sie meine Beschreibungen lasen, führte das zu einem Sturm ihrer Empfindungen: 13. Dezember 1978: Kutschyno atmet momentan mit einer Dunstglocke und mit der schlechten Vorahnung, dass aus dem geneigten Schifflein des Mondes Forst rieselt: vorgestern: -21 °C, gestern: -31 °C, heute: -38 °C. Ich zog mir Wattehosen und Filzstiefel an, obwohl ich damit noch hätte zuwarten können, und ging sofort zu einem anderen Rhythmus über: Bevor ich mich mehrere Meter bewegte, war bereits ein Quadrant [Viertelstunde] vorbei und ich außer Atem. Dazu ist es zu kalt. Januar 1979: Ich gewöhne mich bereits an den hiesigen Winter und Fröste mit –30 °C bezeichne ich als Taschkent und vertrage sie leicht. Bei –50 °C (bislang war das die niedrigste Temperatur –51 °C) fällt mir die Atmung schwer, sodass ich versuche, draußen nichts zu tun: Ich springe hinaus und laufe, wohin ich gehen muss, und dann erst atme ich wieder. 12. Februar 1979: Es begann ein fürchterlicher Schneesturm. Man tritt in den tiefen Schnee und nach einer Minute ist bereits keine Spur mehr zu sehen. Ich habe mich an euch erinnert und mir eure Gefühle vorgestellt, wenn ihr mich in diesem Schneereich sehen würdet. Ich stimme dazu leise das alte Lied an: ›Und die erbarmungslose Welle spült hinweg die Spuren der Verliebten im Sand …‹ Das Gefühl, wenn du in den Schnee fällst, erinnert mich irgendwie an das wohlige Gefühl beim Betreten eines Perserteppichs. 17. Dezember 1979: Es fiel viel Schnee und in der Dämmerung sah der Stacheldraht wie eine festliche Girlande zu Neujahr aus.

Es war klar, das Dorf Kutschyno bekamen wir nicht zu Gesicht, gut, dass es nur unsere Verwandten kannten. Aus ihren Erzählungen wussten wir: Die Armut war groß, sodass unter den Häftlingen ein schadenfroher Scherz die Runde machte: Die Haftstrafe trugen nicht wir allein, sondern ebenso unsere Lagerverwaltung. Hier eine Beschreibung des Wegs zum Bestimmungsort, später angefertigt von meinem Freund Oleksij Smirnow, der auch dort war: Der Fluss Tschusowa ist halb so breit wie der Moskwa-Fluss. Alle paar Kilometer ein Dörflein. Viele Häuser sind zerstört: Die Dächer eingefallen, die Wände windschief, der Regen prasselt auf die schwarzen Balken. Alle mussten aus dem Bus aussteigen. Der Fahrer wollte nicht bis ans Ende fahren. Bis zum Dorf Kutschyno sind es noch fünf Kilometer. Man konnte den Fahrer dann überreden. Diese letzten Kilometer sind außerordentlich anstrengend. Die ganze Zeit schien es, als würde demnächst hinter der nächsten Biegung die Lagergebäude, Umzäunungen und Kasernen der Bewacher auftauchen.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 259 Wir kamen völlig unerwartet am eigentlichen Tor des Permer politischen Lagers mit strengem Vollzug WS-389/36 an.78

Die »Chronik« (Ausgabe 53) hielt fest, dass im Frühjahr 1979 der Fluss Tschusowa über die Ufer trat und die Verwaltung das Lager vor dem Hochwasser retten musste: Das Lager 36 befindet sich an einem Fluss in einem sehr sumpfigen Gelände. In diesem Frühjahr [1979] wurde, als der Fluss über das Ufer trat, auch das Lager überschwemmt: Das Wasser stand auf dem Territorium ungefähr bis zum Knie. Man brachte das ganze Lager für eine Woche auf den nächstgelegenen Hügel. Alle Häftlinge wurden in einem Armeezelt gehalten. Die Soldaten bewachten sie mit Hunden. Und nach einigen Tagen wurde noch eine Umzäunung aus Stacheldraht errichtet.

Es ist seltsam, dass man uns außerhalb des Lagers gebracht hat. Das hat mich nicht erschüttert, aber von diesem Moment an blieb mir praktisch keine Erinnerung. Ich wundere mich deshalb auch nicht über den Satz, den ich später in einem Brief an Schwester Nadijka schrieb: »Vor Kurzem fiel es mir zu, ein kleines Stück der anderen Welt, nicht nur die Lagerwelt zu sehen. Du glaubst es nicht, aber es war mir absolut egal …« Wesentlich stärker waren meine Eindrücke über dasVerhalten bestimmter Wesen, die der Lagerverwaltung mit Begeisterung halfen, uns zu foltern. Ihnen habe ich ebenfalls viel Platz in meinen Briefen gegeben: 21. Juni 1981: Eine [Sache] bringt mich fast zum Wahnsinn: die Mücken. Die Sonne scheint, aber ich liege nur da und atme frische Luft, doch diese ägyptische Strafe hält mich für eine Zisterne mit unentgeltlichem Blut, zudem unerschöpflich. Ich habe kürzlich ein Foto einer Vergrößerung eines Mückenkopfes in der Presse gesehen und meinem Schöpfer dafür gedankt, dass dieses eklige Getier so schön aussieht unter dem Mikroskop. 12. Juni 1983: Meine getreuen Begleiter, die Mücken, haben es auch nicht einfach. Sie müssen in der kurzen Zeit zwischen den Regenfällen nachholen, was sie versäumt haben und genau so viel Blut aus uns saugen, wie nötig ist, um die Auszeichnung ›Verdienter Spender der UdSSR‹ zu erhalten.

78

Aleksej Smirnow. »Ich dachte, sie sind schlechter …« (Fahrt in ein ehemaliges politisches Lager) (http://web.archive.org/web/20071112184304/http://ww w.fondsozidanie.ru/old/21/5.htm).

260 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Diese Qual glich derer von Generationen Gefangener im Gulag vor uns: »Im Sommer … peinigten uns die Mücken schrecklich. Diese kleinen Dinger, die durch alle Ritzen kriechen und der Stich so brennt.«79 Das Kontingent der Häftlinge Es war schwierig, alle Häftlinge in feste Kategorien einzuteilen, da sich überall Ausnahmen fanden. Wenn man gewisse Feinheiten außer Acht ließ, konnte die Zone in zwei Gruppen eingeteilt werden: jene, die sich friedlich verhielt und der Verwaltung keine Mühe bereitete; und jene, die sich widersetzte und Proteste organisierte. Das Verhalten der Verwaltung den beiden Gruppen gegenüber war verschieden und die Anwendung der Gesetze nicht immer entsprechend. Jede Gruppe umfasste das ganze Spektrum unterschiedlichster Persönlichkeiten, entsprechend der Einmaligkeit des Menschen. Zum ersten Teil gehörten diejenigen, die wegen sogenannten »Militärverbrechen« (Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Besatzungsregime, Dienst in der Hilfspolizei usw.) verurteilt worden waren, und auch welche wegen § 64 des StGB der RSFSR Vaterlandsverrat oder analog ihrer Nationalität. Es waren überwiegend die älteren Häftlinge, die der Verwaltung keinen Widerstand leisteten, sich ruhig verhielten und einfach ihre Zeit absaßen. Man bezeichnete sie auch mit dem Sammelbegriff »die Alten«. Unter ihnen gab es auch solche, die mit den Dissidenten sympathisierten und entsprechend ihrer Möglichkeiten unterstützten. Mit einer gewissen Sympathie erinnere ich mich an den Weißrussen Iwan Braha, der dafür verhaftet worden war, weil er damals als zehnjähriger Junge eingewilligt hatte, im Auftrag der Deutschen ein Warenlager zu bewachen; und ebenso an den Russen Iwan Dadonow, der sich in aller Stille wie ein Vater um mich sorgte. Über diese angeblichen nationalsozialistischen Verbrecher sagte Oleksij Smirnow völlig richtig:

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Jossyf Slipyj. Erinnerungen, S.213.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 261 Die Verurteilung der Letzteren ist eines der schrecklichsten und ein bis heute nicht erforschtes Verbrechen des Sowjetregimes; es gibt ernsthafte Gründe, anzunehmen, dass die Mehrzahl dieser Menschen unschuldig war.80

Unter diesen Alten gab es auch solche, unter denen der KGB ihre Denunzianten am häufigsten rekrutierte. Als wir in den Baracken auf Doppelstockpritschen schliefen, belegte Baranow die Pritsche unter mir. Er berichtete der Obrigkeit KGB ohne jeden Zweifel über jeden meiner Schritte und horchte mich aktiv und begeistert aus. Deshalb entsprach er völlig jener Kategorie, die wegen ihres kriminellen Verhaltens in unserem Lager und auch im gesamten Gulag traditionsgemäß als »Schweinehunde« bezeichnet wurden. Der Lagerdichter Ihor Guberman widmete ihnen eines seiner Gedichte: Das Leben kommt nicht aus ohne Schweinehunde, darin ist auf jeden von uns ein Schweinehund gesetzt, und gäbe es sie plötzlich nicht mehr, müßten wir zum Schweinehündeln her.

Als einzelne Untergruppe in der Kategorie der Alten kann man jene Häftlinge betrachten, die es rundwegs ablehnten, mit dem KGB oder der Lagerverwaltung zusammenzuarbeiten. Sie weigerten sich sogar, ein Begnadigungsgesuch zu schreiben. Hin und wieder schlossen sie sich auch den Protestaktionen an, welche die Dissidenten verkündeten. Es war aber oft nicht so: Ich nehme an, sie hielten einige dieser Aktionen für kindisch. Diese Leute waren vorwiegend wegen Zugehörigkeit zu nationalen bewaffneten Formationen verhaftet worden: ukrainische Kämpfer der UPA (Ukrainische Aufständische Armee), litauische Waldbrüder; und jene, die so oder so der Krieg erfasst hatte. Es waren ältere Menschen, die ihre 25-jährige Haftstrafe abbüßten. Zu dieser Kategorie würde ich auch den Litauer Stasis Mjarkunas, den Letten Juri Bumeister und den Armenier Hryhorij Awakjan zählen. Unter den Ukrainern in dieser Gruppe fand ich zwei Beispiele, die mir halfen, mein Dilemma, hartherzig zu werden oder eben nicht, zu überwinden. Ich erzählte davon auch meinem 80

Aleksej Smirnow. Die Wahl (http://index.org.ru/nevol/2012-31/18-smirnov. html).

262 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Staatsanwalt in Kyjiw. Ein Beispiel war Pawlo Strozen aus der Oblast Ternopil, ein Mitglied der UPA (Kämpfer der Ukrainischen Aufständischen Armee), dessen ausgeprägte Prinzipienfestigkeit sich harmonisch mit seiner natürlichen Güte und Freundlichkeit verband. Er beeindruckte mich durch seinen würdevollen und absolut überzeugenden Auftritt, und das nicht nur mir gegenüber. Walerij Martschenko schrieb über ihn: Unter den Bedingungen einer verzehrenden Arbeit, Unterernährung, Folter und andere Misshandlungen blieben wenige am Leben und noch weniger bewahrten die Treue zu den unvergänglichen Werten. Das waren Alte mit 25 Jahren Strafe: W. Pidhorodezky, W. Pirus, S. Mamtschur (verstorben), P. Strozen, W. Solodky, A. Kyselyk. Sie geben den Neuankömmlingen ein wunderbares Beispiel. Hier entstand bereits ein neuer Kreis in einem neuen Zyklus einer früher noch vorhandenen Menschenfreundlichkeit und der Verpflichtung gegenüber sich selbst und dem Vaterland.81

Auf diesem Hintergrund war das Verhalten eines anderen Mitglieds der UPA, Onufrij Kulak aus Bolechow in der Oblast IwanoFrankiwsk ein völliger Kontrast. Er war ebenfalls unbeugsam stark, Ehre und Lob sei seinen Überzeugungen. Aber den Hass, den er gegenüber der Sowjetmacht und ihren Repräsentanten empfand, hatte seine Psyche unaufhaltsam ruiniert. So kam es mir jedenfalls vor. Allein schon dann begannen Onufrijs Hände zu zittern, wenn er sich an die Ments erinnerte. Er fand für sie schärfste Worte als vernichtende Bezeichnungen. Mir blieb dabei nichts anderes übrig, als Gott für diese beiden Beispiele zu danken, unter denen mich ohne Zweifel das erstere mehr anzog. Eine endgültige Wahl zu seinen Gunsten nehme ich etwas später vor. Ich erinnere mich nicht an alle Namen in dieser Kategorie. Ich hatte auch nicht mit allen ständig Kontakt. Eine weitere und wesentlich spannendere Kategorie waren diejenigen, die nur bedingt als Dissidenten bezeichnet werden konnten. Sie war ebenfalls sehr bunt. Dazu gehörten vorwiegend jüngere Menschen, die nach einem politischen Paragrafen verurteilt wurden: nach § 70 StGB der RSFSR und analog den nationalen. Es war auch der mir zu Last gelegte § 62 StGB der USSR. Es waren 81

»Über die Lage der Häftlinge in den Lagern der UdSSR«.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 263 zumeist Varianten zu antisowjetischer Agitation und Propaganda mit dem Ziel der Schädigung der Sowjetmacht. Es wurden dazu einzelne Personen gezählt, die eigentlich keine Dissidenten waren, aber wegen Vaterlandsverrat (nach § 64 StGB der RSFSR und seine nationalen Entsprechungen) verurteilt wurden. So oder so, die politischen Motive waren in ihrem Fall offensichtlich genug. Diese beiden Gruppen bildeten die wichtigste Kampfabteilung im Lager. Sie war entsprechend im Hauptfokus des KGB und der Lagerverwaltung. Ich wage es nicht, diese Gruppe mit konkreten Namen zu belegen. Ein Politischer nach § 70 passiv und ein Vaterlandsverräter schloss sich manchmal auch dem politischen Kampf aktiv an. Es hing vom konkreten Menschen ab. Während des ersten Jahres meiner Haft waren Gefangene, die aus der Ukraine kamen, meine ersten Brüder: Jewhen Swerstjuk

Ihor Kalynez

Walerij Martschenko

Semen Glusman

Jewhen Pronjuk

Hryhorij Prychodko

Anatolij Sdorowy

Ukrainer, Sechziger-Schriftsteller, verurteilt in Kyjiw wegen Herstellung und Verbreitung selbstverlegter Dokumente Ukrainer, Sechziger-Dichter, verurteilt in Lwiw wegen Schreiben und Verbreitung antisowjetischer Gedichte Ukrainer, Journalist, verurteilt in Kyjiw wegen Herstellung und Verbreitung antisowjetischer Materialien Ukrainischer Jude, Psychiater, verurteilt in Kyjiw wegen Durchführung unabhängiger gerichtspsychiatrischer Gutachten in der Sache des Generals Petro Hryhorenko, nach dem der General psychisch gesund war Ukrainer, Philosoph, verurteilt in Kyjiw wegen Durchführung antisowjetischer Agitation und Propaganda mit dem Ziel der Schädigung und Schwächung der Sowjetmacht Ukrainer aus der Oblast Dnipro, HF-Ingenieur, verurteilt in Kaluga wegen Durchführung antisowjetischer Agitation und Propaganda mit dem Ziel der Schädigung und Schwächung der Sowjetmacht Ukrainer, Physiker, verurteilt in Charkiw wegen Kampf gegen die Russifizierung

264 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Oles Serhijenko

Mychajlo Slobodjan

Oleksij Safronow

Ukrainer, Maschinenbauingenieur, verurteilt in Kyjiw für die Redaktion der Abhandlung von I. Dsjuba »Internationalismus oder Russifizierung?«; Sohn des politischen Häftlings Oksana Meschko Ehemaliger Milizionär aus der Oblast Iwano-Frankiwsk, verurteilt wegen Gründung einer Untergrundorganisation, deren Mitglieder die ukrainische Nationalflagge hissten Ethnischer Russe von der Krim

Zu dieser Gruppe gehörten ebenfalls Häftlinge aus anderen Republiken der UdSSR: Wulf (Sew) Salmanson und Josef Mendelewytsch

Zwei Juden aus Riga, verurteilt wegen der schon erwähnten Sache der Leningrader Flieger

Mychajlo Kasatschkow

Jude aus Leningrad, verurteilt wegen Übermittlung von Nachrichten an Ausländer zwecks Ausreise ins Ausland Russe aus Russland, russischer Diplomat bei der UNO in Genf, inhaftiert wegen des misslungenen Versuchs, politisches Asyl zu stellen Litauer, verurteilt wegen Teilnahme an der Kulturbewegung »Heimatkunde aus Kaunas« Este, verurteilt wegen Teilnahme an der estnischen Demokratiebewegung Ukrainer aus Estland, verurteilt wegen Teilnahme an der estnischen Demokratiebewegung

Wolodymyr Balachonow Scharunas Shukauskas Kalju Mjatik Artem Juskewytsch

Ich unterhielt mich oft mit Norair Hryhorjan, einem armenischen Mitglied der KGB, dem es plötzlich zum Halse herausgehangen hatte, einem ungeliebten System zu dienen, und der begann, für die amerikanische Aufklärung zu spionieren. Ich vertraute ihm und sah, wie er sich aufrichtig an einigen unserer Protestaktionen beteiligte. Seine KGB-Vergangenheit brachte ihm in der Zone aber keine Freunde. Selten schlossen sich damals unseren Aktionen Iwan Popadytschenko (Ukrainer, gebürtig aus der Oblast Poltawa, aber verhaftet in Leningrad; Sportlehrer), Borys Monastyrsky aus Makijwka, Jurij

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 265 Dsjuba aus Charkiw, K. Ismahilow, Maiboroda, Wolodymyr Osipow und E. Sarkisjan an, von denen ich nicht viel berichten kann. Nach einiger Zeit hat sich das Kontingent der Häftlinge in der Zone verändert. Die einen gingen in die Verbannung (z. B. Ihor Kalynez, Jewhen Swerstjuk, Jewhen Pronjuk und noch weitere Personen). Sie füllten die Zone 1979/80 wieder mit anderen Leuten: Senowij Krasiwsky

Bohdan Klymtschak Mychajlo Monakow

Oleksandr Sahirnjak

Serhij Kowaljow Oleksandr Ohorodnikow Jurij Fjodorow Wadym Arenberg

Leonid Lubman

Antanas Terljazkas Wiktor Niitsoo

Ukrainer aus Galizien, das vierte Mal verurteilt, diesmal wegen Teilnahme an der »Ukrainischen Helsinki-Gruppe« Ukrainer, verurteilt in Lwiw wegen Übertritt der sowjetischen Grenze nach Nordasien Ukrainer aus der Oblast Odessa, verurteilt dafür, dass er als Fremdenführer den Besuchern Karikaturen über den Generalsekretär Breschnew gezeigt hatte Ukrainer, verurteilt wegen des Versuchs, ein Flugzeug auf der Route: Petrosawodsk–Leningrad zu entführen Russe aus Moskau, verurteilt in Vilnius wegen menschenrechtlicher Tätigkeit Russe aus Moskau, verurteilt wegen Gründung einer selbstverlegten Zeitschrift zu Fragen der orthodoxen Wiedergeburt Russe aus Leningrad, ein weiterer Beteiligter an der Sache der Leningrader Flieger Jude aus Leningrad, verurteilt wegen des Versuchs, ein Flugzeug für die Ausreise nach Israel zu entführen, um dadurch die Freilassung von Schtscharansky, Ida Nudel und Slepak zu erreichen Jude aus Leningrad, Ingenieur, verurteilt wegen Preisgabe eines Staatsgeheimnisses in seinen Kontakten mit Ausländern Litauer, verurteilt wegen Beteiligung an der illegalen Freiheitsliga Litauens Este, verurteilt wegen dreister öffentlicher oppositioneller Äußerungen

Der nicht formelle Anführer in dieser Zusammensetzung war Serhij Kowaljow, der über ein außergewöhnliches Menschenrechtsgefühl verfügte und sich sehr gut im Mechanismus des Schutzes der Bürgerrechte auskannte. Es erstaunt nicht, dass seine Stimme

266 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT während seines Aufenthalts in der Zone oft in den Weltmedien gehört wurde. Als er ins Gefängnis von Tschystopol verlegt wurde, kam eine neue Sendung von Häftlingen in die Zone an, darunter: Wiktor Njekipjelow Oles Schewtschenko Henrich Altunjan

Mykola Rudenko

Russe aus Moskau, verurteilt wegen Bürgerrechtstätigkeit Ukrainer, verurteilt in Kyjiw wegen Bürgerrechtstätigkeit Ukrainer armenischer Herkunft, verurteilt zum zweiten Mal in Charkiw wegen Bürgerrechtstätigkeit Ukrainer aus Kyjiw, verurteilt in der Oblast Donezk wegen Gründung der »Ukrainischen Helsinki-Gruppe«

Sie bildeten die neue Gruppe von Häftlingen, die den Widerstand gegen die Lagerverwaltung organisierten. Besonders Wiktor Njekipjelow und Henrich Altunjan bezahlten mit ihrer Verlegung in das Gefängnis von Tschystopol einen hohen Preis. Und wieder kamen neue Gesichter ins Lager. Am nächsten standen mir: Sorjan Popadjuk

Oleksij Smirnow Priester Alfonsas Swarinskas

Ischchan Mkrtschjan Wardan Arutjunjan Tiit Madisson Washa Shgenti

Ukrainer aus Galizien, zum zweiten Mal verurteilt wegen einem von ihnen fabriziertem Fall antisowjetischer Agitation und Propaganda Russe aus Moskau, verurteilt wegen Menschenrechtstätigkeit Litauischer Priester, zum dritten Mal verurteilt wegen ausdrücklich nicht konformistischer Position und Mitgliedschaft im »Katholischen Komitee für den Schutz der Rechte der Gläubigen«, das in Litauen tätig war Armenier, verhaftet wegen der Gründung einer oppositionellen Jugendorganisation Armenier, verhaftet wegen Beteiligung an der armenischen Nationalbewegung Este, verhaftet wegen antisowjetischer Agitation und Propaganda Georgier, verhaftet wegen Beteiligung an der georgischen Nationalbewegung

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 267 Borys Tschernych

Russischer Schriftsteller aus Sibirien, verhaftet wegen Organisation eines unabhängigen Literaturseminars in Irkutsk

Nur selten schlossen sich Jonas Simokaitis aus Litauen, Apollonij Bernytschuk und Jurij Salepa (beide aus der Ukraine), Dmytrij Donskoj, Walentyn Sasimow, Rostyslaw Jewdokimow, Oleksandr Nilow, Witold Abankin, Wolodymyr Jeltschyn (alle sechs aus Russland) und Nuraddin Alijew aus Aserbaidschan unseren Aktionen an. In Berücksichtigung der Tatsache, dass in allen politischen Lagern meistens die Ukrainer die Mehrheit bildeten, lässt sich gut verstehen, weshalb ich damals keine Nostalgie nach der Ukraine verspürte. Die Heimat war da sogar der heimatliche ukrainische KGB! Für mich war wichtig, als Mykola Danylowytsch später in unser Lager kam. Er erkannte damals bereits, dass sein Verdacht mir gegenüber falsch gewesen war. Die Zone bestätigte ihm zudem, dass mein Verhalten im Lager keine Zweifel hervorrief. Dadurch ergab sich zwischen uns eine ganz normale, später sogar eine herzliche Beziehung. Die alten Verdächtigungen berührten wir aber kaum. Die Zone war ein echtes Babylon. Deshalb lassen sich manche Personen schwer einer Kategorie zuordnen. So hielt sich etwa mein späterer Barackennachbar Petro Pawlowytsch Tschorny, Mathematiklehrer aus Pischtschany Brody in der Oblast Kirowohrad von allen Aktionen der Dissidenten fern. Trotz seiner Abwendung wurde er aber nie einer Zusammenarbeit als Agent des KGB verdächtigt. Seine Verurteilung wegen sogenannter »Herstellung antisowjetischer Materialien« war ein weiteres Verbrechen des Systems, da Tschorny bloß ein typischer Einzeldenker war, der die Welt nicht auf eine standardmäßige Weise erfassen konnte. Mit seiner Verhaftung verdiente sich ein Beamter des KGB einen zusätzlichen Sternauf seinen Schulterstücken. Zu den Ukrainern hatte ich eine freundschaftliche Beziehung. Die wichtigsten meiner Freunde werde ich später beim Beschreiben verschiedener Lagersituationen erwähnen. Hier nenne ich nur die vertrauensvolle gegenseitige Beziehung zu Hryhorij Prychodko, an dessen Namen sich meine Mutter lange und dankbar erinnert hat. Es erwies sich, dass er nach seiner

268 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Entlassung den Kontakt zu ihr aufnahm und ihr ausführlich über meine Situation berichtete. Meine Beziehung zu Mychajlo Monkow war ebenfalls freundschaftlich und voller Vertrauen. Er vermied den aktiven Kampf. Er führte aber den wichtigsten Kampf in einem sowjetischen Konzentrationslager an: den Kampf für das Recht, ein ehrlicher Mensch zu sein. Etwa dasselbe Verhalten wählten auch der junge Russe Dmytrij Donskoj und der Este Tijt Madisson, die mir in guter Erinnerung blieben. Eine große Herausforderung für uns typische Dissidenten waren zwei Russen: der überzeugte Monarchist Ihor Ohurzow aus Leningrad und der ebenso überzeugte Kämpfer für die Reinheit der leninschen Ideale, Hryhorij Isajew aus Kuibyschew. Beide kamen zu verschiedener Zeit wegen kritischen Äußerungen über die herrschende Macht ins Lager. Auf diesem Gebiet waren wir uns einig. Aber sie strebten etwas an, was wir überhaupt nicht teilen konnten: Ohurzow träumte von einer Restaurierung des Imperiums der Romanow und Isajew von einer Rückkehr der Sowjetmacht zum idealen Modell des frühen Bolschewismus. Sie beteiligen sich an der Mehrzahl unserer Aktionen, wenn sie keine für sie inakzeptable ideologische Färbung hatten. Sie büßten im großen Ganzen ehrlich ihre Lagerfrist ab. Eine gewisse Zeit versuchte Hryhorij, entgegen unseren Warnungen, mit dem KGB ein Gegenspiel zu führen. Es endete aber fast mit dem Verlust seiner Lagerehre. Gegen Ende meiner Frist kam noch ein exotischer Häftling in die Zone: Jeltshyn, ein Opernsänger aus dem entlegensten Teil Russlands. Ich war von seiner Baritonstimme begeistert, obwohl er, wie ein jeder Profi, es nicht sehr eilig hatte, uns seine Begabung zu zeigen. Es wäre erstaunlich, hätte es unter den brutalen Bedingungen im Lager keine Häftlinge gegeben, die eine fixe Idee gehabt hätten. So glaubte Wolodymyr Balachonow, die Lagerverwaltung setze pharmakologische Mittel mit dem Ziel von Qualen ein, und sie zwinge die Köche, dem Essen spezielle Präparate beizumengen, um bei uns z. B. Hämorrhoiden oder Durchfall hervorzurufen. Leonid Lubman war überzeugt, dass der KGB mithilfe von Funkwellen in seine Gedanken eindrang. Josef Mendelewytsch

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 269 führt in seinem Tagebuch Sätze an, die wir von Lubman öfters hörten: Wieder hat man begonnen, mich zu foltern, Schurken! In meinem Oberkiefer ist ein Funksender montiert, wohin man Signale sendet und Zahnschmerzen bewirkt. Jetzt provozierte man Durchfall. Das ist es, was ich euch erzählen muss. Aber ich kann nicht schweigen. Das ist meine nationale Pflicht!82

Noch ein anderer Häftling, Jonas Simokaitis, fand ständig Beweise für Provokationen gegen ihn durch den KGB. Ich erinnere mich, wie er feststellte, dass jemand in der Nacht Wasser in sein Schuhwerk goss. Bis heute höre ich seine erregten Schreie und Klagen, mit denen er am nächsten Morgen reagierte. Ich wiederhole: An allen diesen Geschichten erstaunt nichts. Das Strafsystem war allumfassend und nicht jede menschliche Psyche hielt das immer aus. Dann braucht ein Mensch einen klaren Grund, der ihm für alles eine Antwort auf seinen Stress gibt. Wenn ich all diese Geschichten erwähne, will ich keineswegs meine Kameraden im Lager weglassen. Denn diesen Lubman erwähnte dann Oleksij Smirnow mit großen Worten: Im Lager ist er der treuste Häftling, ein echter Vagabund. Er war niemals ein Zuträger. Auf die Etappe ging er unbeladen, mit einem kleinen Bündel. Überflüssigen Plunder nahm er nicht mit, alle Ments schickte er zum … und weiter. Er kam nicht aus dem Gefängnis heraus. Weit über ein Jahr häufte er sich im Kerker an. Er irrte sich in seinem Leben als Häftling. Er träumte immer von Amerika … Dort werde ich einmal an einer schweren Krankheit sterben …

Verwaltung und Aufseher Zur Bewachung dieser sechzig besonders gefährlichen Staatsverbrecher standen sieben Reihen Stacheldraht und hunderzwanzig Bewacher und weiteres diensthabendes Personal zur Verfügung. Denn wer hätte jemals daran gezweifelt, dass diese Verbrecher in Wirklichkeit sehr gefährlich waren. Nicht grundlos bemerkte

82

Josef Mendelewytsch. Operation »Hochzeit« (http://jhist.org/zion/zion008_0 8.htm).

270 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Oleksa Tychy in einem seiner Briefe voller Ironie: »Niemand kann uns stehlen. Man bewacht uns zuverlässig.«83 Unser Lagerleiter war Major Shurawkow, sein Stellvertreter im Vollzug war Major Fjodorow, beide Russen. Ziemlich häufig spielten sie die Rolle als die eines bösen Lagerleiters. Diese Rolle konnten sie ja nicht tauschen. Shurawkow war von Natur aus gutmütig. Er machte zwar mit Eifer alles, was von ihm verlangt wurde und bewirkte oft widerliche Dinge, aber es war doch zu spüren, dass er daran sein Vergnügen hatte. Der damalige Leiter der Abteilung des besonderen Vollzugs84 in diesem Lager war Major Dolmatow. Nach dem Tod von Shurawkow wurde er Leiter des gesamten Lagers Nr. 36, lebte danach aber nicht mehr lange. Die Namen Shurawkow und Dolmatow bleiben für immer untrennbar mit dem Namen des ukrainischen Dichters Wasyl Stus verbunden, da jener während ihrer Leitung des Lagers starb. Diese Geschichte ist verbunden mit der Last eines der schrecklichsten Verbrechen des KGB, aber gleichzeitig auch mit Legenden, so etwa: Heinrich Böll habe diesen Dichter als Kandidat für die Verleihung des Nobelpreises vorgeschlagen und mit der angeblich geplanten Verleihung dieses Preises an Stus bestraften sie ihn unter einem Vorwand mit Karzerhaft, nach einem Hungerstreik starb er; vermutlich an Unterkühlung. Es ist traurig, sich von dieser Legende trennen zu müssen. Man sollte aber Wachtang Kipiani für ihre gründliche Untersuchung dankbar sein.85 Wie dem auch sei, die Tatsache der Verbrechen des kommunistischen Systems gegenüber diesem ukrainischen Dichter war offensichtlich. Er verstarb in der Nacht zum 4. September im Kerker des Konzentrationslagers WS389/36 für besonderen Vollzug. Es gab Gerüchte, Shurawkow habe sich das Leben genommen. Es ist möglich, seinen eigenen Wunsch mit einer Tatsache zu verwechseln. Es sieht aber so aus, dass diese Tragödie mit einer ganzen 83 84

85

Oleksa Tychy. Gedanken über das heimatliche Donezker Land, S.121. Im WS-389/36 verbüßten die Strafe die zu Lager sowohl strengen Vollzuges als auch besonderen Vollzuges Verurteilten. Letztere Abteilung hatte die offizielle Bezeichnung WS-389/36-1. Wachtang Kipiani. Stus und Nobel. Entmystifizierung des Mythos.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 271 Reihe anderer Todesfälle verbunden war, an die Wasyl Owsijenko sich erinnert: Am 24. Februar 1989 wurde der 46-jährige Major Dolmatow nur einige Gräber entfernt von Stus begraben. Major Shurawkow starb zehn Tage nach Stus. Shurawkow jr., der operative Leutnant, ertrank im Sommer 1987 im Fluss Tschusowa.86

Was wirklich im Blick auf kommunistische Verbrechen war, könnte die Menschheit nur auf einem 2. Nürnberger Tribunal erfahren, falls es das einmal gäbe … Fjodorow war der Teufel in Person: Ich habe niemals vor und nach ihm einen Menschen gesehen, der einen solch tiefen Satanismus gezeigt hat. Dieser Mann war ein klassischer Sadist. Es war deutlich zu erkennen, wie ihm das Leid anderer ein Vergnügen bereitete. Er stürzte plötzlich in die Zone und suchte sich ein Opfer wie ein Vampir die rettende Ader am Hals eines Unglücklichen. Er war zuvor Leiter einer Frauenkolonie, wo er wegen Missbrauchs seiner Dienststellung entlassen worden war. Meine Seele zuckt von der Vorstellung zusammen, welche Übergriffe das denn gewesen sein konnten. Genauso tief erschüttert war Oksana Meschko, als sie es mit ihren eigenen Augen sah: Im [Uchtynsker Frauen-] Krankenhaus sah ich einen unendlich tiefen Sumpf eines moralischen Zerfalls, dass ich wahnsinnig wurde über die Gemeinheit eines Menschen, wenn sie Gottes Ebenbild verliert und besessen von der Angst vor dem Tod ist und um jeden Preis überleben will.87

Meine Meinung über Fjodorow teilten auch andere politische Häftlinge. Hier eine Beschreibung aus einer Untersuchung einer Gruppe von politischen Häftlingen des Lagers WS-389/35: Jurij Orlow, Mykola Matusewytsch, P. Plujras Plumpa, Walerij Martschenko und Senowij Antonjuk. Sie konnten sie an die freie Welt weitergeben, wo sie als Samisdat veröffentlicht wurde. Hier ein Zitat aus den Untersuchungen der Gruppe Ju. Orlow: 86

87

Wasyl Owsijenko. Herz, Selbstmord oder Mord? (http://web.archive.org/web /20140515022027/http://incognita.day.kiev.ua/sercze-samogubstvo-chu-vbu vstvo.html). Ich gebe nicht nach! Zum 100-jährigen Geburtstag von Oksana Jakiwna Meschko, S.35.

272 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Major Fjodorow ist vielleicht der brutalste Übeltäter des heutigen Systems sowjetischer Lager für politische Gefangene. Er führte persönlich die Mehrzahl der Strafen aus.88

Ein interessantes Detail über Fjodorow hat Norik Hryhorjan89 in seine Erinnerungen aufgenommen. Der Armenier Hryhorij Awakjan konnte irgendwo Samen von Nährpflanzen auftreiben und säte diese in der Arbeitszone neben dem Kesselhaus aus, wo er arbeitete. Doch Major Fjodorow bemerkte plötzlich diese Pflanzen und zertrampelte sie mit seinen eigenen Stiefeln. Es wurde dadurch ein weiterer Verstoß gegen die Ordnung im Vollzug festgestellt und beseitigt … Einen endgültigen Eindruck hinterließ dieser Übeltäter mit der Bestrafung von Jewhen Swerstjuk am Schandpfahl. Es lohnt sich wegen seiner Wirkung, seinen Brief vollständig zu zitieren, umso mehr, da er vermutlich zuvor nie veröffentlicht wurde. Ich gebe ihn so wieder, wie es Herr Jewgen wünschen würde, d. h. in der bei der Wachmannschaft üblichen Sprache: Brief an den Major Fjodorow Bürger Fjodorow! Entschuldigen Sie, Name und Vatersname weiß ich von Ihnen nicht. Sie hatten keinen im Dienst. Können Sie sich an diesen Häftling in den 70er-Jahren in Ihrem Lager 36 in Kutschyno erinnern? Natürlich erinnern Sie sich an Jewhen Swerstjuk. Er war unter doppelter besonderer Überwachung des KGB und des Strafvollzugs. Ich erinnere mich jedenfalls an Sie. Nicht, weil wir viele waren und Sie nur einer. An Sie erinnern sich alle Kinder der verschiedenen Völker, die in die Ukraine, nach Armenien, Litauen, Estland, Israel, Frankreich, Amerika … zurückkehrten. Sie gingen weg und nahmen den unvergesslichen Eindruck eines völlig brutalen Täters mit. Offensichtlich sind Sie sanft in den demokratischen Staat übergegangen und an Nürnberger Beichten, Galgen und sonstigen Symbolen einer Bereinigung vorbeigekommen, die für solche wie Sie im Westen ersonnen wurden. Offensichtlich blieben Sie bei Ihrer Meinung, Strafhandlungen hätte es schon immer gegeben und würde es immer geben. Uns aber bleiben Sie für immer als einer der eifrigen Straftäter in Erinnerung. Für Sie war das Vollzugsgesetz nur ein Vorwand, um Leben zu

88 89

»Über die Lage der Häftlinge in den Lagern der UdSSR.« Hier und im Weiteren handelt es sich um ein Manuskript der Erinnerungen von Norair Hryhorjan, enthalten in den Materialien der Gruppe Soviet dissidents, die im Netz auf Facebook veröffentlicht ist.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 273 zerstören und sich von allem Menschlichen abzugrenzen. Aussetzen, berauben, zwingen, nötigen, wegnehmen, konfiszieren: Das sind Begriffe, die immer in Ihrem Kopf schwirrten und ihre Augen leuchten ließen. Erinnern Sie sich noch, wie ich einmal versucht habe, mit Ihnen ein normales menschliches Gespräch zu führen und sie gefragt habe: ›Major, was ist heute für ein Wochentag?‹ Es war Mittwoch, wir beide wussten das. Aber Sie wogen ab und logen ganz bewusst: ›Donnerstag‹. Nur um die Karten eines Volksfeinds durcheinanderzubringen. Sie betrachteten sogar unsere Mütter, Schwestern und Ehefrauen als Feinde und sahen sie mit Ihren üblen Gedanken an und sagten: ›Durchsuchen!‹ Im Frühjahr, wenn ein Häftling kaum in der Lage war, seine Füße auf den Boden zu setzen, lebten Sie richtig auf. Sie erinnern sich gewiss, als Ihnen eines Abends gemeldet wurde, Häftlinge seien daran, Birkensaft zu trinken. Birken hatten wir genug. Sie kamen mit den Wachleuten wie ein Sturm und schrien: ›Ich werde auch trinken! Ich werde euch …‹ Die Birken ließen Sie natürlich stehen und sogar bewachen, uns aber nahmen Sie das Geschirr weg. Erinnern Sie sich, Herr Major, an Ihren Triumph bei unserer Verabschiedung? Sie hatten sich darauf vorbereitet. Man hat mich einen halben Monat vor Ablauf meiner Frist zur Etappe in Ihr Dienstzimmer geführt. Die Begleitposten und alle Offiziere der Zone waren vollständig anwesend, einschließlich des Arztes und des Lagerfriseurs. Dann teilten Sie Major, mir freudestrahlend ihre Anordnung mit, mich fünfzehn Tage im Karzer einzusperren wegen systematischer Verstöße gegen den Vollzug. Der Arzt wurde gebeten, die folgende Nummer zu beobachten. Dann gaben Sie den Befehl: ›Kahlscheren!‹ Die Wachleute mit den Handschellen hatten Widerstand erwartetet. Und Sie eine stürmische Reaktion von mir. Bei Ihnen, Herr Major, klang der Befehl wie aus dem Mund eines Kriegsoffiziers: ›Feuer!‹ Das war Ihre raffinierte Provokation, aufgebaut als Demonstration Ihrer Missachtung der Gesetze. Denn es gab das Gesetz, den Häftling in den letzten zwei bis drei Monaten vor seiner Freilassung nicht mehr kahl zu scheren. Und da, Major, verdarb ich Ihnen Ihr Drehbuch: Ich nahm Platz, wie man sich gewöhnlich beim Friseur hinsetzt, und ging dann schweigend in den Karzer. Sie wollten mir das Letzte rauben, was der Häftling noch hatte, aber es stellte sich heraus, dass dieses Letzte keinen Wert für mich besaß. In solchen Situationen sah ich in Ihren Augen einen Schimmer von etwas Menschlichem: Es war Ihre Hilflosigkeit. Ich erinnere mich an eine ähnliche Hilflosigkeit, die Sie hatten, als Sie in den Karzer kamen, um meinen Widerstand zu brechen. Wir hatten damals einen Hungerstreik verkündet. ›Was machen Sie denn, kümmern Sie sich überhaupt nicht um Ihre Gesundheit?‹ ›Weshalb denn?‹ antwortete ich. ›Wie weshalb?‹ Man muss doch leben. ›Und weshalb?‹ Da sah ich in Ihren Augen die Ohnmacht eines Straftäters … Wissen Sie, Major, ich bin erneut in unsere Zone gekommen. Mich wunderte, dass von den sieben Einzäunungen keinerlei Spur zurückblieb. Wie viel Arbeit war vonnöten, um so viele Tonnen Stacheldraht abzubauen und zu vernichten!

274 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Das bedeutet, Sie haben sich doch auf einen eventuellen Zeitpunkt vorbereitet, in dem Sie vor Gericht treten müssen. Da fühlten Sie erneut Ihre Hilflosigkeit. Aber das ging wieder vorbei. Die Birken und alles andere steht ohne Bewachung da. Es herrscht eine solche Verwilderung und so viel Unkraut, dass Ihr Kind, der fünfte Winkel, das Gefängnis kaum zu sehen ist. Eine solche Verwilderung herrscht in Ihrer Seele, Major. Alles schien umsonst: Unkraut! Aber das Böse, Bürger Major, mit dem sich Ihre Seele genährt und das Sie an unzähligen Schicksalen vollbracht haben, dieses zerstörerische Böse, ist auf ewig mit Ihrem Namen verbunden. Ich denke, vielleicht braucht man keinen Galgen. Sie tragen ihn im Gedächtnis. Er ist immer bei Ihnen, sogar als man Ihnen den Oberst verliehen hat. Schade, dass die harten Umstände Sie nicht bereuen ließen. Gott gab Ihnen dieselbe Seele wie mir auch und allen anderen. Ja, möge Gott Ihnen verzeihen, dass Sie diese unschätzbare Gabe nicht erkannten, außer im Fluch auf die Seele meiner Mutter. Und wir dagegen, ich vermute, meine Gedanken und Gefühle werden auch von allen andren ehemaligen Häftlingen geteilt, werden Ihnen verzeihen. Der Gerechtigkeit halber hätte man Sie dort im Lager 36 allein als Denkmal, als Exponat lassen sollen, und Sie zwingen, sich zu erinnern und darüber Memoiren zu schreiben, was Sie wann wem angetan haben … 14. Oktober 2002. Jewhen Swerstjuk. Ukraine, 02002 g. Kyjiw, ul. Raskowoj, 8, Whg. 194.90

Ein weiterer Lagerleiter, ein inoffizieller, aber sehr realer und mitunter der wichtigste, war Surowzew, ein verhältnismäßig noch junger Hauptmann des KGB. Er war für die ideologischen Aspekte der Aufgabe eines Lagers verantwortlich. Diese Ideologie durchzog damals alles. Surowzew war nicht nur aus der Ukraine, gebürtig aus der Oblast Ternopil, er unterhielt sich auch mit seinen Landsleuten in seiner wunderschönen ukrainischen Sprache. Ich vermute, gemäß dem Plan der KGB sollte dies das Vertrauen der ukrainischen politischen Häftlinge fördern. Der Eindruck einer Verwandtschaft verschwand allerdings, wenn man über den Sinn dessen nachdachte, was dieser Landsmann uns sagte. So erzählte er mir, die Anzahl der Briefe, die ich erhalten würde, hinge von meinem Verhalten ab, d. h. von meiner Bereitschaft, mit dem KGB zusammenzuarbeiten. Die Rolle solcher Landsleute hat Patriarch Jossyf einige 90

Dieser Brief befindet sich im persönlichen Archiv von Wasyl Owsijenko und ist hier erstmals veröffentlicht.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 275 Jahrzehnte zuvor so zusammengefasst: »Die galizischen Aufseher waren in ihrer Niederträchtigkeit unübertroffene Tiere und Janitscharen.«91 Surowzew war ein treuer Diener der Sowjetmacht, der, wie ich später erfuhr, nach der Erfüllung seiner Lagerpflicht nach Moskau umzog, um dort zu arbeiten, und in die unabhängige Ukraine zurückkehren wollte. Deshalb erstaunt es nicht, dass er während der Ermordung von Wasyl Stus in der Zone war. Zum Kommando der Lagerverwaltung gehörten ebenfalls Hauptmänner, die die Funktion eines diensthabenden Offiziers in der Leitung der Kolonie (DPNK) erfüllten. Das waren damals Dolmatow (später: Major), Tschepkasow, Tschuhajnow, Rak, Haljedin, der Leiter der Operativen Gruppe Roshkow, der Stellvertreter des Leiters für politische Arbeit (Sampolit) Nikomarow; außerdem Wachleute, dazu gehören: Nowyzky, Tschertanow, Kukuschkin, Samokar, Machmudow. In den Erinnerungen von Wasyl Owsijenko sind noch andere Namen angeführt. Einige werden zu Helden meiner weiteren Erzählung. Ich sage hier nur noch: Das Spektrum der Menschlichkeit oder der Unmenschlichkeit war ebenfalls ungewöhnlich groß. Ich hatte einmal das Glück mitzuerleben, wie rasch ein Mensch seinen menschlichen Charakter zerstören kann. Ein sehr junger Wachmann aus der Ukraine öffnete die Türe meines Karzers, in dem ich mit anderen Häftlingen saß. Er wollte etwas von uns und berief sich dabei auf das, was ich ihm so gesagt hätte. Serhij Kowaljow hielt es nicht aus und fragte: »Wenn man Ihnen befiehlt, uns zu töten, werden Sie das auch tun?« Der junge Mann senkte den Kopf und sagte leise »Nein.« Wir erschraken sogar für ihn, falls dies seine Kollegen gehört hätten. Nach mehreren Monaten sperrte mich derselbe Wachmann mit zwei anderen erneut in den Karzer: Ich wurde nackt ausgezogen, erniedrigt und gezwungen, meine warme Unterwäsche abzulegen und die dünne Robe anzuziehen, obwohl draußen Winter war. Unser Junge genoss es gemeinsam mit seinen Leuten, sich an seiner unbegrenzten Macht zu ergötzen.

91

Jossyf Slipyj. Erinnerungen, S.221.

276 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Die Verwandlung des Charakters eines Menschen ist umwerfend … Ich erinnere mich, wie derselbe Wachmann jemanden so sehr schikanierte, dass jener empört schrie: »Ich dachte nicht, dass ein menschliches Wesen so tief sinken kann!« Die Lagererfahrung bestätigt, es gab praktisch keine untere Grenze. Es muss gar nicht präzisiert werden, wie häufig mein Bild der Wachleute negativ war (oder, wie wir sie auch bezeichneten: »unsere Ments«). Der Gerechtigkeit halber muss ich sagen, nicht alle haben ihr menschliches Angesicht so sehr verloren. Ich erinnere mich besonders an den Russen Serhij Swyrydow, über den Henrich Altunjan am besten berichtet hat: Ich erinnere mich gut an einen außergewöhnlichen Fall auf der Ebene des Umgangs mit den Gefängniswärtern. Wir, Wiktor Njekipjelow, Saschko Ohorodnikow, Mykola Rudenko und ich saßen im Kerker (PKT). Am 4. Januar 1982 ging am Abend die Türe auf, der junge Aufseher Serhij Swyrydow kam herein und bat uns, in den Wachraum zu kommen. Wir gingen mit und waren gespannt, was uns erwartete. Ich dachte, von Swyrydow müssen wir wohl kaum etwas Schlimmes erwarten. Er hatte in meine Arbeitszelle geschaut und mich gefragt: ›Haben Sie eine Tasse?‹ Als ich ihm meine Tasse herausreichte, goss er starken Tee ein mit einer sehr wohlschmeckenden Himbeerkonfitüre dazu und gab mir hausgebackene Kekse. Er sagte: ›Greifen Sie zu, die hat mein Großmütterchen gebacken!‹ Wenn ein Aufseher im Gefängnis ein solches Wort wie ›Großmütterchen‹ ausspricht, entsteht ein sehr warmherziges Gefühl. […] Wir traten zu viert in den Wachraum und waren starr vor Staunen. Die Vorhänge vor den Fenstern waren zugezogen, der Raum mit grellem Licht überflutet, auf dem Tisch waren eine riesengroße Pfanne mit Bratkartoffeln, ein Stück Fleisch, Gurken und eine Flasche Wodka. Es stellte sich heraus, dass Swyrydow uns zu seinem Geburtstag eingeladen hatte. Wir aßen köstlich und fürchteten uns dabei nicht, ertappt zu werden. Es lag daran, dass dieser Raum im Gefängnis vollständig von der Zone getrennt war, von innen verschlossen und von außen nicht zugänglich. Spannend ist das Schicksal dieses Wachmanns Serhij Swyrydow. Er absolvierte eine Ausbildung in Moskau an der berühmten und privilegierten Fachschule ›Oberster Sowjet‹. Damit war er ein sogenannter Kreml-Offiziersschüler. Als er einmal mit einem Mädchen in ein Restaurant ging, versuchte ihn irgendein Typ zu provozieren. Es gab eine Schlägerei, in der Serhij seinen Angreifer wegstieß. Jener fiel hin, stieß sich seinen Kopf und verstarb. Obwohl der Verstorbene der Sohn eines hochgestellten Beamten war, konnte man Swyrydow nicht verurteilen. Er war völlig nüchtern gewesen, aber sein Gegner völlig betrunken. Es gab zudem viele Zeugen. Swyrydow wurde vor dem Gefängnis bewahrt, aber man feuerte ihn von der

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 277 Offiziersschule und schickte ihn nach Perm, um als Aufseher zu dienen. So kam er in unsere Zone. Er half uns immer, so gut er konnte. Doch seine Herzensgüte wurde bestraft. Er brachte einmal Oleksandr Ohorodnikow auf dessen Bitte hin ein englischrussisches Wörterbuch, ein Riesenbuch von Müller. Im Gefängnis kam es aber fast täglich zum Filzen, der Durchsuchung der Häftlinge. Man fand das Wörterbuch und schöpfte Verdacht, dass dieses Buch am Zensor vorbeigegangen ist. Von den Wächtern erinnerte sich einer, dass er das Wörterbuch bei Swyrydow zu Hause gesehen hatte. Unter großen Schwierigkeiten hatte er sich in Tschusowoj oder sogar in Perm genau dasselbe Wörterbuch beschaffen können, doch das rettete ihn nur vor dem Tribunal. Man ließ ihn nicht mehr zu uns. Kurz danach wurde er zum Dienst an einen anderen Ort versetzt.92

In meinem Gedächtnis blieb mir auch meine eigene erfolgreiche (und einzige) Absprache mit einem Wachmann, als ich in einem anderen Kerker (PKT) Mitte 1979 saß. Im Unterschied zu Henrich hatte ich mir seinen Vor- und Nachnamen nicht gemerkt. Es war gerade eine notvolle Zeit und ich sandte über diesen Aufseher einen Brief an meine russischsprachige Freundin aus Lwiw, Halja Lewkowa (wir hatten gemeinsam am Polytechnikum studiert), damit sie meinen Verwandten die Bitte übermitteln konnte, ein Paket mit Lebensmitteln an die angegebene Anschrift zu senden. Wie ich annahm, war Halja ein würdiger Mensch: Nachdem sie meinen Brief erhalten hatte, gab sie ihn meine Verwandten. Nach einigen Monaten bekam ich portionsweise durch meinen Aufseher einen Teil dieses Paketes. Es ist klar, die gesamte Lagerverwaltung, vom Leiter der Zone bis zum letzten Aufseher betrachtete uns offiziell als Verbrecher und Verleumder. Diese Rhetorik hatten jeder auf seiner Zunge, als er für seinen Dienst überprüft worden war und entsprechend seine ideologische Position zeigen musste. Das Schicksal schenkte mir aber einen Moment, als ich beim operativen Bevollmächtigten Roshkow herausspüren konnte, was er in Wirklichkeit dachte. Als ich einmal durch die Zone ging, wurde ich Zeuge einer bezeichnenden Szene, als Serhij Kowaljow in Anwesenheit zahlreicher anderer Häftlinge mit diesem Mann über die Kämpfer der UPA stritt. Als

92

Henrich Altunjan. Der Preis der Freiheit: Erinnerungen eines Dissidenten. Charkow: Folio, 2000, S.160ff. (im Weiteren: Henrich Altunjan. Der Preis der Freiheit).

278 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT er sah, wie ich näherkam, winkte mich Roshkow mit der Hand heran, damit ich das Schiedsgericht in ihrem Streit sein konnte. Er sagte: »Hier kommt Marynowytsch. Der lässt nicht zu, dass gelogen wird. Wurde das nicht einem bösen Verleumder gesagt?« Bis heute betrachte ich diesen Augenblick als meinen größten geistigen Sieg über meine Aufseher. Er lüftete den Vorhang zu einer verborgenen Welt und bestätigte mir, dass mindestens ein Teil unserer Bestrafer gut begriff, dass sie es mit unschuldigen Menschen zu tun hatten, d. h. dem Evangelium gemäß: »Die Menschen sahen, was er [Jesus] getan hatte.« Lageralltag und Tagesablauf Man weckte uns jeweils um sechs Uhr. Jeder diensthabende Offizier der Leitung der Kolonie (DPNK) oder jeder Aufseher hatte sein typisches menschenverachtendes Vergnügen, einen Häftling zu erwischen, der sich auch bloß eine Minute verspätete. Es wurde selbstverständlich nur Jagd auf jene gemacht, die sich nicht auf den Weg der Besserung begeben hatten und auf solche, für die man einen zusätzlichen Anlass als Bestrafung finden konnte. Genauso wurden auch wir für eine schlecht gemachte Pritsche bestraft. Besonderes Vergnügen hatte bei einer solchen Jagd der ukrainische Hauptmann Rak. Die Zeit zum Waschen war knapp, da bereits um 06.35 Uhr der allgemeine Appell stattfand. Es lässt sich leicht erraten, dass für Zuspätgekommene selbstverständlich eine Bestrafung blühte. Ich erfuhr auch einmal, dass in den Mordwinischen Lagern nach dem Appell eine Gesundheitsgymnastik ausgeführt würde, natürlich unter der Melodie von »Abschied der Slawin«. Ob es Frühsport in der Zone 36 gab, erinnere ich mich nicht; vermutlich nicht. Die Kleidung eines Häftlings im strengen Vollzug war nicht gestreift, wie man sich die traditionelle Gefängniskleidung vorstellt. Es war eine mit durchgängig schmutziggrauer Farbe, deren einzige Verzierung ein Schildchen mit dem Namen war. Für den Kopf gab es Kardinalskappen. Im Winter trugen alle den Buschlat und Wintermützen mit Ohrenschützern.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 279 Zum Frühstück gingen wir bereits in einer Reihe. Nach dem Frühstück war erneut Antritt in einer Reihe und in einheitlichem Schritt zu den Baracken. Um 07.25 Uhr mussten sich die Häftlinge am Tor versammeln, das in die Arbeitszone führte. Hier erfolgte ein erneuter namentlicher Aufruf: Jeder Häftling ging durch eine Bude, wo die Aufseher ihn obligatorisch durchsuchten. Meistens durchsuchten die Aufseher uns mindestens viermal am Tag – beim Gang in die Arbeitszone, beim Gang zum Mittagessen, beim Gang nach dem Mittagessen und schließlich am Ende des Arbeitstages. Mit der Zeit gewöhnst du dich an dieses Filzen wie an das Ritual deiner Morgentoilette. Wenn man dich einmal nicht befühlt, scheint dir etwas zu fehlen. Eines Tages brachte ich es fertig, als wir in der Arbeitszone waren, meine nächste böse Verleumdung zu schreiben, die die sowjetische, staatliche und gesellschaftliche Ordnung beschämt. Ich versteckte dieses Papierchen in meiner Tasche … und vergaß es. Während des Filzens fühlte der Aufseher dieses Papierchen, nahm es heraus, und fragte gelangweilt: »Was ist denn das?« Ich schaute es an, erstarrte, fasste mich aber wieder: »Aah, das ist nichts«, sagte ich, entriss ich das Papierchen, steckte es in meinen Mund und schluckte es kauend herunter. Wahrscheinlich machte ich dabei ein komisches Gesicht. Der Aufseher konnte sich nicht mehr beherrschen und begann, laut zu lachen, winkte mit der Hand und ließ mich durch. Heute verstehe ich, wie viel Glück ich damals hatte und mir eine Lösung kam. In den Berichten über die Lagerzeit konnte man auch das lesen: D. Hrynkiw wurde in den Karzer gesteckt, weil er es geschafft hatte, vor den Augen des Wächters seine Notizen aufzuessen, d.h., so dem Vertreter der Lagerverwaltung Widerstand geleistet hat.93

Wann das Mittagessen begann und wie lange es gedauert hat, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich auch nicht, wann wir nach dem Arbeitstag in die Wohnzone zurückgebracht wurden. Sicher ist, dass der Arbeitstag genau 8 Stunden an 6 Tagen in der Woche

93

»Über die Lage der Häftlinge in den Lagern der UdSSR«.

280 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT dauerte; unter gewissen Bedingungen war es an einem Arbeitsplatz etwas weniger. Im Jahr 1979 erprobte die Lagerverwaltung eine Zeit lang einen neuen Tagesablauf. Vom früheren unterschied er sich dadurch, dass man vor dem Frühstück, dem Gang zur Arbeit und der eigentlichen Arbeit uns jeweils zehn bis fünfzehn Minuten für die Vorbereitung gab. Offiziell erklärte man es damit, dass die älteren Häftlinge mehr Zeit zur Vorbereitung benötigten. Das Hauptziel war es, den politischen Häftlingen ihre abendliche Freizeit zu verkürzen, die nach Ansicht der Lagerverwaltung nicht bestimmungsgemäß benutzt wurde. Nach diesem neuen Ablauf hingegen endete der Arbeitstag zwei Stunden später. Über das Ende eines Arbeitstages spricht am besten Mykola Horbal: Beim Wegzug im Unterschied zum Hingang zur Arbeit war die Stimmung in der Kolonne etwas lebhafter: die Vorfreude auf Erholung, Schlaf, der Hoffnung auf einen Brief aus der Freiheit oder die Erwartung einer guten Nachricht fügten gehobene Untertöne hinzu. In ihrer Trennung von der übrigen Welt ist die Zone immer wie eine große, empfindsame Membran.94

Es gab eine Zeit, als nach dem Abendessen und dem Abendappell ungefähr um 18.30 Uhr für die politischen Häftlinge zusätzlich Politikunterricht angesagt war, für dessen Ignorieren man hart bestraft werden konnte. Es war eine alte Gulag-Tradition, die bereits dem Patriarchen Jossyf Slipyj zur Last gefallen war: Man führte Vorlesungen über den Kommunismus ein, die man besuchen musste, um sich den Unsinn ungebildeter Idioten anzuhören.95 Die politischen Häftlinge führten einen ständigen Kampf, diesen Politiktunterricht abzuschaffen und erreichten es schließlich. Der Grund für den Erfolg war nicht der Wille der politischen Häftlinge, die diesen primitiven politischen Drill nicht ertragen konnten. Viel wichtiger war, dass ihn auch die Lagerverwaltung nicht mochte. Denn es kostete sie außergewöhnlich viel Nerven, diesen Unterricht für politische Häftlinge durchzuführen, die jedem Wort des Lektors auf den Zahn fühlten. Sie verspotteten mit Vergnügen 94 95

Mykola Horbal. Präsentation des Lebens, S.219. Jossyf Slipyj. Erinnerungen, S.225.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 281 die schwachen sowjetischen ideologischen Formeln, indem sie ihre ironischen Kommentare streuten oder den Lektor mit unbequemen Fragen in die Sackgasse trieben. Anekdotische Perlen, wie der Salat aus dem fein geschnittenen Lebensmittelprogramm der KPdSU, wurden nicht nur im Milieu der hauptstädtischen Spottdrosseln verwendet, sondern auch durch den Mund eines seelisch gereizten Häftlings. Nach solchen verbalen Spießrutenläufen ging der Lektor oft schweißgebadet heraus und brannte nicht vor Verlangen, hierher zurückzukehren. Die Freizeit nach der Arbeit in der Zone teilte sich auf zwischen Gemeinschaft, dem geheimen Schreiben von Nachrichten an die Freiheit oder der großen Zone, wie wir es nannten, dem Lesen von Büchern und Periodika und später dem Anschauen der Fernsehnachrichten. Wie Walerij Martschenko sich erinnert, tat aber die Lagerverwaltung alles in ihren Kräften Stehende, damit es uns nicht langweilig wurde: Man muss dem Genius der sowjetischen Konzentrationslager das Gebürtige zollen: persönliche Durchsuchungen mehrmals am Tag, Konfiszierung von Beschwerden an die höchsten Instanzen, Beschlagnahmung beliebiger Notizen, die man beim Häftling fand, und sogar gynäkologische Untersuchung der Ehefrauen und Mütter, die uns besuchen kamen, füllen den Haftalltag buchstäblich aus. In die Überwachung Verdächtiger wurden bei der Aufbereitung von Nachrichten Häftlinge einbezogen, die mit dem KGB und dem Leiter der operativen Abteilung der Zone zusammengearbeitet haben.96

In den Baracken pflegten wir den gemeinsamen Umgang, wenn es um uns Bewohner ging, oder auch draußen. Auf dem Territorium der Wohnzone konnten sich die Häftlinge frei bewegen. Als ich in die Zone kam, hatten die Häftlinge den »Hồ Chí Minh-Pfad« bereits ausgetreten, den ich erwähnt habe. Es war verboten, sich gegenseitig in verschiedenen Baracken zu besuchen. Doch wir alle verstießen gegen diese Regel und haben entsprechend einiges dafür abbekommen. Die Abendstunden waren für uns wie eine zweite Universität – die Amerikaner würden sagen: post-graduate studies, eine intensive Arbeit an sich selbst sowohl im willensmäßigen als auch im 96

»Über die Lage der Häftlinge in den Lagern der UdSSR«.

282 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT intellektuellen Sinn. Befreit von der Mehrzahl der alltäglichen Sorgen, die für das Leben in Freiheit typisch sind, stürzten sich die Häftlinge auf Bücher und Lehrunterlagen. Dieser freie und zwangslose Zugang war nach der Hitze der Breschnew-Zeit ein unwahrscheinliches Glück. Alle waren zuvor bereits für ihr freies Denken bestraft worden, mehr brauchte man nicht zu fürchten. Was für Diskussionen unter uns aufflammten, welche Höhe des Denkens wir erklommen! Und wie viele herausragende Ideen und berühmte Geschichten konnte ich während des Bestehens des Lagers auf dem erwähnten »Hồ Chí Minh-Pfad« hören! An dieser Besonderheit erfreuten sich alle Häftlinge, die ein freies unabhängiges Denken gewohnt waren. Hier als Bestätigung ein Ausspruch von Jewhen Swerstjuk: Der Begriff des intellektuellen Muts und der Unabhängigkeit ist sündhaft und unmöglich für jene, die sich wie ein blinder Flößer an Zitate von Marx und Lenin halten; dies wird in der Zone und im Gefängnis geradezu kultiviert. Genau hier verläuft der Abgrund zwischen den Häftlingen aus Gewissensgründen, d. h. Menschen, die der Stimme ihres Gewissens folgen und den Knechten, die ständig einen Kompromiss mit ihrem Gewissen eingehen.97

Beim Wort »Lagerdiskussion« taucht in meinem Gedächtnis sofort ein Bild auf: Der schmächtige Semen Glusman verteidigt feurig irgendeinen Gedanken. An den Gedanken erinnere ich mich nicht, obwohl klar ist, dass er überaus antisowjetisch war, aber dieses Bild ist mir im Gedächtnis geblieben, genau wie auf diesem Foto. Eine Eigenheit dieser Diskussionen unter uns Dissidenten war, dass uns alle die Ablehnung der damaligen sowjetischen Realien verband. In der totalen Negierung der kommunistischen imperialen, totalitären und atheistischen Ordnung waren wir uns mit einzelnen Ausnahmen einig, wie dies im Fall des Monarchisten Ihor Ohurzow war. Aber sobald die Rede auf die zukünftige Ordnung unserer befreiten Nationalstaaten kam, gingen unsere Gedanken und politischen Positionen auseinander. Das wurde im Lager als normal empfunden, da die Häftlinge für ihr Recht auf eine 97

Jewhen Swerstjuk. Auf den Wellen der »Freiheit«: Kurzessays. Luzk: VMA »Teren«, 2004, S.198 (im Weiteren: Jewhen Swerstjuk. Auf den Wellen der »Freiheit«).

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 283 eigene Meinung bezahlt hatten. Deshalb galt es als grundlegender Wert. Nur in den 1990er-Jahren wurde dies als negativ empfunden, in den Anfängen der Unabhängigkeit der Ukraine, als wegen der Divergenz der Ansichten unter den Dissidenten keine einheitlich konsolidierte oppositionelle Kraft auftreten konnte. In einem politischen Lager gab es für die Lagerverwaltung kein größeres Vergehen als ein mit kleiner Schrift beschriebenes Papierchen. Jedes solch kleine Stück barg in sich das Verbrechen antisowjetischer Gesinnung und wurde deshalb unverzüglich zwecks Kontrolle beschlagnahmt. Es versteht sich, dass die politischen Häftlinge bemüht waren, solche Papierchen größtmöglich zu nutzen. Man weihte mich sehr rasch in das Allerheiligste des Lebens im Lager ein: die Aufbereitung von Nachrichten für die »Chronik der laufenden Ereignisse«. Das war der Ausdruck eines besonderen Vertrauens, denn zu dieser Aktivität waren nur die zuverlässigsten Häftlinge zugelassen. Zu der Zeit, als ich in das Lager kam, waren das Jewhen Swerstjuk, Semen Glusman, Jewhen Pronjuk, Oleksij Safronow, Hryhorij Prychodko u. a. Sie schrieben nicht nur die eigentliche »Chronik der laufenden Ereignisse«, sondern auch verschiedene andere Texte wie Appelle, Petitionen und dergleichen. Das war eine wunderbar eingerichtete Maschinerie, ein ganzes Förderband, das ganz zu beherrschen dem KGB nicht gelang. Wie Semen Glusman später schrieb, lebten wir als Graue und Hungrige vom Wort. Vom Wort des Schmerzes und der Wahrheit und es gelang uns, es der Außenwelt zu übermitteln.98 Er erwähnt, wie Iwan Switlytschny scherzhaft diese Schreibfabrik als PEN-Club bezeichnet hat … Unsere heilige Mission war, Nachrichten an den Westen, Informationen über die Situation in den sowjetischen Konzentrationslagern zu übermitteln. Wir nahmen diesen Auftrag ernst und Objektivität bei der Schilderung der Ereignisse war uns wichtig. Wir haben auch unsere Emotionen in die Berichte eingeflochten. Wir waren überzeugt, dass die Wahrheit über die Verbrechen des kommunistischen Systems unaufhaltsam Nägel in seinen Sarg 98

S.F.Glusman. Zeichnungen aus dem Gedächtnis, oder Erinnerungen eines Häftlings, S.15.

284 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT treiben würde. Es bestand aber keine übermäßige Hoffnung auf Rettung durch den Westen. Ein Satz machte im Lager die Runde, der von einem der Bestrafer zu hören war: »Die britische Königin wird uns [der UdSSR] deshalb nicht den Krieg erklären.« Der größte Verdienst bei der Entstehung der »Chronik« in der Zone 36 gebührt – der Katze Mary. Sie war der ideale Wächter. Sie erschien schon morgens zu ihrem Dienst und erwählte sich dasselbe Lenin-Zimmer, in denen die Lager-Chronisten ihre Arbeit verrichteten. Ihre Fähigkeit, einen Ment zu riechen, war unübertroffen. Ich weiß nicht, welche Kräfte da am Werk waren, aber sobald der diensthabende Aufseher sein Wachzimmer verließ, etwa zwanzig bis dreißig Meter von uns entfernt, wurde unsere Katze unruhig. Obwohl sie zuvor absolut ruhig gewesen war, dasaß oder lag, zusammengerollt zu einem Knäuel und vor sich hingeschlummert hatte. Ihre Unruhe war für uns ein Signal: Ein Ment kommt von irgendwo und deshalb müssen wir unser Geschreibsel sofort verstecken.99 Leider verschwand Mary später und wir wussten nicht wohin. Man braucht gar nicht zu erwähnen, dass wir die politischen Nachrichten eifrig und gewissenhaft verfolgten. Unsere Diskussionen darüber waren lebhaft und emotional. Wir stellten manchmal gewisse Gesetzmäßigkeiten fest, die uns zuvor nicht in den Sinn gekommen waren, und teilten einander diese Beobachtungen mit. Ich erinnere mich an die Enttäuschung, die ich bei der iranischen Revolution Chomeinis 1978 erlebte. Es war eigentlich keine Revolution, sondern eine Folge davon, wie hilflos das State Department der USA war. Genau eine Woche vor dem Aufstand hatte es einen Bericht veröffentlicht, im Iran sei alles unter Kontrolle und die 99

Im Februar 2015 las ich in Facebook eine hervorragende Erzählung von Aljona Aljonka über die Rolle von Katzen bei ukrainischen Wachposten: »›Die Katze kämpft‹ ist keine Metapher. Sie funktionieren als Psychotherapeuten (oder als ›laufendes Glück‹, wie ein Bataillonskommandeur sagte), fangen Mäuse und Ratten, von denen es in den Befestigungen in der Steppe mehr als genug gibt. Katzen und Kater spüren Detonationen früher als Menschen. Sie beobachten Fremde und warnen vor einer Gefahr. Die Katzen sind zudem einhervorragendes Kader und zeigen mit ihrem Verhalten den Zustand der Soldaten. Ein Psychologe einer Brigade sagte mir einmal, am Verhalten der Katzen könne er sofort erkennen, in welchem Zustand ein Soldat ist und ob er Hilfe benötigt.«

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 285 Macht des Scheichs Pahlavi durch nichts bedroht. Einige Tage später geschah diese Revolution, die das Antlitz der gesamten islamischen Welt veränderte. Dieser Vorfall hat mich gelehrt, gegenüber Verschwörungstheorien skeptisch zu sein, dass irgendwo in Schambali oder in Washington oder in Israel oder sonstwo eine Gruppe von Leuten existieren soll, die angeblich das Weltgeschehen plant und kontrolliert. Das Iran-Abenteuer bewies: Es gibt auf dieser Erdkugel keine Gruppe von Menschen, die den Gang der Ereignisse zu hundert Prozent vorausbestimmen kann. Solche Versuche gibt es zwar, das verstehe ich, aber die Menschen bleiben immer etwas hilflos vor dem Willen Gottes. Deshalb ist für mich nur eine Person, Gott allein, der Lenker der Geschichte … Im Sommer gingen bei schönem Wetter die jüngeren Häftlinge auf den Volleyballplatz. Diese Erinnerungen sind aus meinem Gedächtnis völlig gelöscht. Deshalb war ich erstaunt, was ich in eigenen Briefen las, die ich vor kurzem durchgesehen habe: 21. Juni 1981: An Sonnentagen zog es uns alle auf den Sportplatz, wir spielten Volleyball und ich musste mir dabei unbedingt die große Zehe am Fuß verstauchen und humpelte so die ganze Woche herum. 21. Juli 1982: Ich bin gesund, schlage mich weiter im Volleyball. Heute haben wir uns sogar in zwei Clubs geteilt: in jene, die über 40 sind, und denen noch kein Schnurrbart gewachsen ist. 8. August 1982: Ich fühle mich gut, gesund, und spiele weiter fast täglich Volleyball … Scheinbar zum Trotz meldet sich ein Hexenschuss: erneut dieser verfluchte Stachel. Er schämt sich überhaupt nicht: Wozu soll ich denn Volleyball spielen? 10. Juli 1983: Beim Volleyballspielen habe ich mir den Daumen an der rechten Hand verstaucht …

Für mich bedeutete Freizeit auch die seltene Möglichkeit, singen zu können. Es gab damals in der Zone ein Akkordeon. Ich nahm es oft in die Hand, um die typische ukrainische Katharsis zu durchlaufen: schwermütige ukrainische Volkslieder, gesungen (u. a nach Texten von Schewtschenko), die meine Seele stärken und mich auf Gottes Welt sehen lernen wie die helle, liebe Sonne nach einem Regenschauer. Zum Singen kamen manchmal auch dankbare Zuhörer. Ich erinnere mich, dass mir der bereits ältere Litauer Juri Karlowitsch

286 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Bumeister zugehört hat. Diese schwermütigen ukrainischen Lieder gingen auch ihm sehr ans Herz. Interessant ist zudem, als im Juli 1982 Jeltschyn, ein richtiger Opernsänger aus den Tiefen Russlands, in die Zone kam, ein ausgezeichneter klangvoller Bariton, der im Konservatorium und auf der Opernbühne eingesetzt wurde. Er half mir, nicht eifersüchtig zu sein und meinem einfachen Gesang treu zu bleiben. Ich zog das dem perfekten Gesang vor. Etwa zur Hälfte meiner Frist tauchte im Lager auch ein Fernsehgerät auf. Vor allem die Aufseher benutzten es, aber auch wir bekamen etwas davon ab. Wir hörten die Abendnachrichten »Wremja« (»Zeit«) und erfuhren so überaus interessante Dinge, wie etwa vom tödlichen Hungerstreik einer Gruppe irländischer politischer Häftlinge 1981 im Maze-Gefängnis in Nordirland, von denen zehn starben. Wir hörten diese Reportagen mit verständnisvollen Empfindungen. Auch komische Momente blieben mir im Gedächtnis, so etwa als wir die Fußballweltmeisterschaft in Spanien sehen konnten. Die anderen Spiele des Tages wurden bereits nach der Nachtruhe verbreitet, sodass wir versuchten, mit dem diensthabenden Chef zu vereinbaren, uns als Ausnahme zu erlauben, sie anzusehen. Das gelang uns nicht immer, aber da Hauptmann Rak selbst ein großer Fußballfan war, erlaubte er es uns am ehsten, die Spiele zu sehen. (Natürlich nur unter der Bedingung, dass es an jenem Tag keine Protestaktionen gab.) Die Komik der Situation bestand darin, daß wir zur schweigenden Zügelung unserer Emotionen verdammt waren. Es ist völlig verständlich: Wir fieberten für alle Mannschaften außer der sowjetischen. Uns offen zu freuen, wenn diese verlor (und damit eine kapitalistische Mannschaft gewann) oder zu bedauern, wenn sie ein Tor schoss, konnten wir natürlich nicht. Dann hätte er uns sofort aus dem Raum gejagt. Man konnte nur stumm triumphal oder enttäuscht zuschauen oder mit den Händen fuchteln, damit die Aufseher nichts bemerkten. Mit den Händen fuchteln musste man oft. In meinem Brief an die Verwandten vom 13. März 1982 klingt etwas von meinem Pessimismus an:

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 287 Ich schaue sogar Fußball, Meisterschaft der Pokalsieger, und überzeuge mich wieder von der bestehenden fatalen Gesetzmäßigkeit, dass genau die Mannschaft verliert, die gerade meine gewesen ist.

Im Lager stellte ich verwundert fest, dass es kein ausschließlicher Ort einer nur tragischen und leidenden Existenz war. Wir lachten und scherzten, machten uns übereinander lustig und verspotteten schonungslos die Aufseher. Besonders lebenslustig waren die Jungen und Gesunden. Einem Kranken ist es natürlich nicht zum Lachen … Dies kam auch in meinen Briefen nach Hause zum Ausdruck: 1. September 1983: Weil ein Mensch nicht ohne Emotionen leben kann, habe ich hier auch meine Freuden, die ich subjektiv genauso stark erlebe, wie ihr eure eigenen.

Aus irgendeinem Grund erinnere ich mich an einen feinen freundlichen Scherz, die den jungen Spaßmachern viel Vergnügen bereitete, besonders Sascha Sashirnjak. Einem Häftling, der schon tief schlief, weckte man mit den Worten: »Wasyl [Petro, oder irgendjemand anderer] hat mir gesagt, dass ich dich wecken soll, weil du pinkeln musst. Ich sage dir aber, es ist nicht nötig. Ich habe doch recht, oder etwa nicht?« Die ganze Pointe bestand darin, dass man den Kern dieses tollen Satzes nur dann verstand, wenn man ganz wach geworden war. Dann ergriff das Opfer eine unglaubliche Wut, unter dem Gelächter der Spaßvögel … Um 22 Uhr ertönte das Signal zur Nachtruhe. Mit dem Glockenschlag begann die Jagd der Aufseher nach Verletzungen des Regimes von solchen, die sich nicht rechtzeitig auf die Pritsche gelegt oder sich für eine nächtliche Konversation wieder davon erhoben hatten. Die »Chronik« (Ausgabe 48) hielt eine solche Störung meinerseits nach dem Verlassen des Gefängnisses fest und ich weiß nicht, wie ich mich von dieser Schande vor der Menschheit reinwaschen soll: 10. November 1978: Marynowytsch erhielt einen Verweis für die Aufnahme von Essen nach dem Nachtsignal und für seine Barschheit gegenüber dem Hauptmann Tschuhajnow.

288 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Wenn man manchmal die Zahl der Verletzungen »auffüllen« musste, schalteten die Aufseher das Licht einige Minuten früher an und notierten alle, die bis dahin nicht fertig waren. Am Sonntag war frei und dafür musste man der Partei dankbar sein nach dem Motto: Der Winter ist vorbei, der Sommer ist jetzt – dafür danke der Partei. Man hätte den Sonntag auch abschaffen können, wie das irgendwann im Gulag in den 1940er-Jahren geschah … Am Sonntag konnte sich das kahlgeschorene Volk ein wenig erholen und alles sah scheinbar so aus, wie bei Oksana Meschkos Worten abgeschrieben: Es war immer ruhig in der Zone: Nur am siebenten Tage, als der Herr Zebaoth und die Häftlinge ausruhten, war auf dem Territorium der Zone eine kleine Belebung …100

2. In den Zangen des strengen Vollzugs Lagerverpflegung In den ersten Tagen lernte ich natürlich auch die Lagerverpflegung kennen. Das Essen bereitete eine spezielle Mannschaft von Häftlingsköchen zu, für die es ihre Arbeitspflicht war. Ich zweifle nicht daran, dass diese Köche, wie beispielsweise der Litauer Antanas Terljazkas, alles Mögliche taten, um aus den Lebensmitteln, die sie bekamen, etwas mehr oder weniger Essbares zuzubereiten, was wirklich nicht einfach war. Die »Chronik der laufenden Ereignisse« bewahrte zum Glück einige Mitteilungen, die ein verständliches allgemeines Bild ergaben. Hier nur drei Illustrationen: [Auf der Grundlage der Erklärung von M. Kijrend des Exekutivkomitees des Verbands der sowjetischen Gesellschaften des Roten Kreuzes und des Roten Halbmondes v. 31.12.1977.] Kijrend führt eine Tabelle an, die auf der Basis einer offiziellen Speisekarte von ihm zusammengestellt ist. In dieser Tabelle ist die durchschnittliche Menge an Lebensmitteln angegeben, die ein Häftling täglich erhält. Der Autor berücksichtigt, dass der Häftling faktisch noch weniger bekommt, da ein Teil der Lebensmittel ungenießbar ist. Auf der Grundlage seiner Berechnungen zieht Kijrend die Schlussfolgerung: Defizit an Energie 436 kcal oder 15 %; Eiweißmangel 27,2 %, davon an

100 Ich gebe nicht nach!: Zum 100-jährigen Geburtstag von Oksana Jakiwna Meschko, S.54.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 289 tierischen Eiweißen 68 %; Fettmangel 64 %; Mangel an mineralischen Salzen 53 %; Vitaminmangel: Vitamin A 100 %, Karotin 78 %, Vitamin B1 8 %, B2 47 %, PP 48 %, C 63 %. (»Chronik der laufenden Ereignisse«, Ausgabe 51) 11. Juni 1978: Ungeeignetes Essen in der Kantine. Massenvergiftung. Sechs Personen ins Krankenhaus eingeliefert. (»Chronik der laufenden Ereignisse«, Ausgabe 52) Im Oktober und November [1978] verschlechterte sich die Qualität des Essens: eingeschränkte Auswahl von Graupen; Fischereierzeugnisse, die das Abendbrot sein sollen; es wurden ständig nur der sogenannte Hering herausgegeben, der beim Säubern zerfällt. Wie schon berichtet wurde, sind im Essen große Würmer nachgewiesen, mehrmals. Im Geschäft sind die Fette verschwunden. In zwei Monaten wurde den Häftlingen insgesamt je 200 Gramm Margarine pro Häftling verkauft. (»Chronik der laufenden Ereignisse«, Ausgabe 51)

Hier eine Information, welche die Moskauer Helsinki-Gruppe verbreitet hat: So ist das Schwarzbrot [Roggenbrot] überwiegend nicht durchgebacken, feucht, sauer, schwer; es unterscheidet sich erheblich vom Brot, was im Verkauf ist. Der Fisch [im Gefängnis: Strömling], Tyulka-Sardine, ist versalzen; im Lager gibt es nur gesalzenen Kabeljau oder anderen gesalzenen Fisch, der oft verdorben ist, verfault. Das Fleisch ist von geringster Qualität, Fleischabfälle. Das Sauerkraut, das für die Zubereitung von Kohlsuppe und Borschtsch verwendet wird und das mehrmals in der Woche zur Ration gehört, stinkt, ist halbverfault oder gänzlich verfault. Die Kartoffeln sind den größten Teil des Jahres vertrocknet, mit längst abgelaufenem Verfallsdatum.101

Mit den bereits erwähnten großen Würmern ist eine lustige Geschichte verbunden. Nachdem wir sie in unseren Schüsseln fanden, machten wir Lärm und riefen den diensthabenden Offizier der Leitung der Kolonie. Das war an jenem Tag Hauptmann Rak. Er nahm den Löffel in die Hand, in den wir die Beweismittel gelegt hatten, und sagte dann: »Sollen das denn Würmer sein? Das ist Kascha!« und … aß sie und zeigte damit, dass unsere verleumderischen Launen unbewiesen sind … Gelächter darüber gab es in der ganzen Zone. Später las ich in den Erinnerungen von Semen Glusman, diese Selbstlosigkeit unseres Aufsehers sei keineswegs einzigartig 101 Dokumente der Moskauer Helsinki-Gruppe (1976–1982). 1976: Dokument Nr.3 »Über die Haftbedingungen der Gewissenshäftlinge« (http://web.archive.or g/web/20040301000000*/http://www.mhg.ru/history/1447217).

290 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT gewesen und es hätte in der Zone Nr. 35 manche Beispiele dafür gegeben: Während eines solchen stinkenden Abendessens, wir aßen nur die Kascha und gingen sofort weg, legte Walerij [Martschenko – M. M.], ohne jemandem von uns, seinen Tischnachbarn, ein Wort zu sagen, ein Stück des verfaulten grünen Fisches auf eine Zeitung … und brachte es zum Kabinett im Lagerstab, wo ihn ein Offizier des KGB empfing. Er schlug ihm vor, das Mitgebrachte zu verkosten! Nach einigen Minuten kamen zusammen mit diesem Mann der im Lager diensthabende Offizier Pazkow und die Ärztin (an den Namen dieses ungebildeten Ungeheuers erinnere ich mich nicht) in die Kantine. Er hatte rasch die Situation erfasst. Pazkow und die Ärztin wollten, dass man ihnen ein Stück Fisch gibt. Sie aßen den Fisch sofort gelassen auf. Walerij, der dabei zugegen war, kommentierte lautstark dieses Schauspiel: ›Siehe da, was grenzenlose Ergebenheit den Ideen der KPdSU gegenüber heißt! Was für ein herrliches Beispiel von Tapferkeit und fehlendem Ekel bei einem echten Kommunisten!‹102

Meine Jugend und Gesundheit hatten ihre Vorzüge: Mein Magen verdaute all dieses Essen gut. Er empfand offenbar den Mangel meiner Ration als asketische Diät. In einem meiner Briefe an die Verwandten scherzte ich sogar aus diesem Anlass: 30. September 1982: Zum Schluss möchte ich für euch zwei Zitate aus ›Sa rubeshom‹ [im Ausland] über eine Untersuchung amerikanischer Wissenschaftler abschreiben. Sie hat mich sehr aufgeheitert, sodass ich euch damit auch beruhigen möchte: Die längere Einschränkung der Ernährung bleibt bislang das einzige uns bekannte Verfahren, das Altern aufzuhalten. Es gibt nichts Böses, das sich nicht zum Guten wendet!

Schlechter hatten es die Häftlinge, die einen kranken Magen hatten. So war Senowij Krasiwsky (über ihn später mehr) sehr schlecht dran, da er keine Gerichte mit Zwiebeln essen konnte. Für andere Häftlinge waren die Zwiebeln dagegen ihre Rettung. Herr Senowij musste irgendwie mit dieser Situation fertig werden. Er gab seine Portion jemand anderem. Dieser teilte dann mit ihm sein Essen ohne Zwiebeln, vorwiegend aus seinem Lebensmittelpäckchen. Den Jüngsten und Stärksten in unserem Lager kam ebenfalls zugute, dass alle Portionen des geschnittenen Brotes in einem Stapel herausgestellt wurden, von dem sich jeder nehmen konnte, wie 102 S.F.Glusman. Zeichnungen aus dem Gedächtnis, oder Erinnerungen eines Häftlings, S.180f.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 291 viel er wollte. Obwohl das Brot im Gefängnis gebacken wurde, d. h. aus den schlechtesten Getreidesorten, schwer und oft unausgebacken war. Ähnliches erwähnte auch Patriarch Jossyf: »In dem war alles, nur nicht Mehl.«103 Es war wichtig, selbst zu vermitteln, wie hilfreich eine solch gegenseitige Unterstützung war. Die eigene Ration konnte durch den Kauf zusätzlicher Lebensmittel im Laden ergänzt werden, aber nur einmal im Monat und nur für fünf sowjetische Rubel. Dies konnte einem beinahe wie Honigschlecken vorkommen. Praktisch bedeutete das, dass man im Monat ein Kilo Margarine und ein Kilo Apfelmarmelade kaufen konnte. Wenn aber jemand rauchte und deshalb Machorka kaufte, die er dann auf ein Stück Zeitungspapier streute und damit eine Selbstgedrehte machte oder sogar die Zigaretten Astra kaufte, dann musste er entsprechend einen Teil seiner Lebensmittel opfern. Das betraf auch mich, denn ich rauchte damals ebenfalls. Die Lagerverwaltung betrachtete den Laden als Luxus. Der Entzug des Ladens gehörte deshalb zur Preisliste der beliebtesten Strafmaßnahmen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Versorgung mit Waren im Laden ein ziemlich seltenes Ereignis war und deshalb beinahe heilig. Der zwanglose Genuss war nur in der Nähe der erwähnten »Sarkophagen« möglich; hier fand auch das gemeinsame Teetrinken statt. Tee war, wie allgemein bekannt ist, in der Zone ein spezielles Getränk, das als Ritual genossen wurde. Sorjan Popadjuk warf uns sogar einmal vor, Tee wäre unser Ersatz für Alkohol. Das traf zu, denn gut aufgebrühter Tee hob die Stimmung eines Häftlings deutlich. Tschyfir, d. h. stark aufgebrühter Tee, wurde in politischen Lagern nicht praktiziert: Es gab nur eine Streichholzschachtel Tee auf einen Blechtopf Wasser. Zucker gab es im Lager zu wenig, deshalb trank man den Tee ohne Zucker und wenn es jemand doch gelang, einige Klümpchen zu beschaffen, wurde es in die Mitte gelegt und scherzhaft als Zucker zur Ansicht bezeichnet. Als Ersatz halfen Kissen: einfachste Lutschbonbons, die im Laden gekauft werden konnten. Es konnte der Vorschrift gemäß im Laden nur eine Packung mit 50 g Tee erworben werden, also bestand ein 103 Jossyf Slipyj. Erinnerungen, S.160.

292 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT außerordentlicher Mangel. Tee diente als jene 30 Silberlinge, mit denen der KGB seine Zuträger für die von ihnen erhaltenen Nachrichten bezahlte. Mit Tee war auch eine besondere Auszeichnung verbunden, die in den Augen der Häftlinge die Länge der Häftlingszeit bestätigte: Es war das Ausmaß des Teesteins im Blechtopf. Mit seinen vom Tee schwarzen Wänden konnte sich nur ein erfahrener Häftling rühmen. Zuerst kannte ich diese Regel nicht, die offensichtlich aus den Straflagern für Kriminelle kam. Damit fügte ich Serhij Kowaljow ein unglaubliches Unrecht zu. An jenem Tage ging ich, ein junger Häftling, wegen Krankheit nicht zur Arbeit, wollte aber eine gute Tat vollbringen und wusch das Geschirr. Serhijs Topf war innen schon sehr schwarz und ich habe mich seelensgut abgemüht, mit Sand die starken Teeschichten abzukratzen. Wie groß war doch Serhijs Verzweiflung, als er, von der Arbeit zurückgekehrt, seinen nun schneeweißen Topf kaum erkannte, der ihn, den erfahrenen Häftling, in die Kategorie eines frischgebackenen Neueingezogenen versetzte! Richtigen Alkohol gab es im Lager selbstverständlich nicht, obwohl auch da der für spezielle Provokationen erfindungsreiche Hauptmann Surowzew ein lustiges Vergnügen arrangierte. Eines Tages machte unter den Häftlingen als Scherz die Nachricht die Runde: In der Zone gibt es eine Flasche Wodka. Wer will, soll da oder dorthin gehen. Ich erinnere mich nicht, wer das gesagt hatte und wohin man gehen sollte. Ich kam ohne Alkohol gut aus. Obwohl sich ungefähr zehn Häftlinge darauf einließen, lehnte ich es dennoch ab. Wie dankbar war ich Gott für meine Zurückhaltung, als am nächsten Tag der fröhliche Surowzew mit einer Liste kam und zu jedem ging, der sich hatte verleiten lassen, und sich mit Genuss lustig machte! Auf die Feiertage wie Neujahr oder religiöse Feiertage bereiteten wir uns rechtzeitig vor. Der Autor dieser Zeilen war in der Zone berühmt für seine Torten. Während der Zeit vor einem bestimmten Festtag sammelten wir Brotstückchen, trockneten sie auf den Heizkörpern und zermahlten sie dann zu Mehl. Aus diesem Mehl, vermischt mit Wasser, knetete ich kleine Fladen, trocknete sie in der Bratpfanne und fügte dann zwischen den Lagen eine

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 293 Tortencreme aus Margarine verrührt mit Apfelmarmelade. Heute würde ich nie mehr nur ein einziges Stück dieses kulinarischen Ungeheuers essen, doch damals wurde es als eine echte Delikatesse empfunden. Nach der Freilassung erhielt ich einen Brief vom sibirischen Schriftsteller Borys Tschernych, unserem ehemaligen Lagerkollegen, der sich begeistert an meine Torten erinnerte. Ähnlich war es auch, als ich zu Heiligabend 1979 Kutja zubereitete. Ich beschrieb es in meinem Januarbrief an meine Verwandten: Sogar eine Kutja hatten wir, genauer eine Imitation: Krümel aus Zwieback, Kakao, Honig, Rosinen und Zucker. Es schmeckte allen sehr, ich wurde gefeiert als prima kulinarius.

Der Leser möge dabei nicht erstaunt über diese FeinschmeckerListe sein, denn es gab ab und zu doch einen humanen Akt gegenüber den Verurteilten, der im sowjetischen Strafvollzugssystem möglich war. Wenn ein Häftling bereits die Hälfte seiner Frist abgebüßt hatte, war er berechtigt, von seinen Verwandten einmal im Jahr ein Lebensmittelpaket mit 5 kg und zweimal im Jahr ein Päckchen mit 1 kg zu erhalten. Die Liste der Gegenstände, die von der Freigabe ausgeschlossen waren, war strikt und deshalb versuchten erfinderische Verwandte mit allen Mitteln irgendwelche Regeln zu umgehen, um ihrem Liebsten das Nährstoffhaltigste senden zu können. Hier als Beispiel einer solchen Liste jener Schätze, deren Erhalt ich im Brief an meine Verwandten vom 26. Oktober 1981 mitteilte: Zwei Dosen Butter, Butter in Papier, Speck, Käse, Beutel mit Knoblauch und Zwiebeln, Kaviar und Sardinen, zwei Kuchen, Äpfel, Granatapfel, Rosinen, Johanniskraut, zwei Paar Socken, Einlegesohlen, zwei Kugelschreiber.

Den geheimnisvollen Begriff »zwei Kuchen« muss ich erläutern, denn genau er illustriert auch den Erfindungsreichtum unserer Verwandten, deren Opfer ich auch einmal wurde. Nachdem ich unter anderem ausgezeichnetes hausgebackenes Gebäck erhielt, hob ich es mir als Nachspeise nach dem Abendessen auf. Doch wie groß war mein Erstaunen, als die erwarteten süßen Leckereien in meinem Mund zerschmolzen … konzentriert als salziger Brühwürfel,

294 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT natürlich zur Freigabe verboten! Es stellte sich heraus, dass unter unseren Verwandten ein Ratgeber kursierte, was man in die wenigen 5 kg alles Gute dieser Welt hineinlegen kann, die deine Liebsten mit dir teilen wollten. Die erfinderischen Frauen lernten Brühwürfel in ein gebackenes Gebäck hineinzuformen und hatten damit einige Zeit sogar erfahrene sowjetische Gefängniswärter an der Nase herumgeführt. Wie Switlana Kyrytschenko sich erinnert, war diese Schwesterschaft unserer Frauen und die gegenseitige Hilfe wirklich phänomenal: Die gesamte geschwisterliche Gemeinschaft der Ehefrauen, Zukünftigen, Schwestern und einfach nur Freundinnen, wie z. B. Mychajlyna und Ljuda Lytowtschenko, das Spüren ihrer Nähe und der in freundschaftlichem Geist Verwandten: Es gibt einen Kreis von Frauen auf der einen Seite des Stacheldrahtes in der großen Zone und ein anderer Kreis von Männern und Frauen auf der anderen Seite und sie sind gemeinsam eine Familie. Wie unschätzbar viel das für unser Wohlbefinden bedeutet und besonders für unser Selbstbewusstsein und für die Selbstbehauptung unserer Kinder.104

Wir erfuhren später im Lager, wie diese sorgsam ausgewählten und bis aufs Milligramm abgewogenen Leckereien Gegenstand bitteren Neids in der Mannschaft des Lagers wurde. Der Rayon Tschusowoj im Gebiet Perm war damals eine typische Gegend am Ende der Welt, in die die Köstlichkeiten Moskauer Kaufhäuser nie kamen. Bestimmte Lebensmittel bekamen diese unglücklichen Menschen nie zu sehen und mussten sie trotzdem freigeben, zudem noch an Volksfeinde, Verbrecher! Es ist nicht schwer zu begreifen, was in ihren Seelen vor sich ging. Als Zeichen dieser unverfälschten Bitterkeit und dieser riesigen Kröte, die erdrückt, ein Artikel aus der Zeitschrift »Zu neuem Leben« des Ministeriums des Innern für Häftlinge, die in Ausgabe 54 der »Chronik der laufenden Ereignisse« ausgewertet wurde. Im Artikel wird behauptet, dass im Lager die Dissidenten monatlich aus dem Ausland Pakete und Päckchen im Wert von 250–400 Rubel erhalten. Die Dissidenten überessen sich, übergeben Lebensmittel den eigenen sogar im Kerker (PKT) und den Rest verkaufen sie anderen Häftlingen. Um nicht unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, belügen sie die Wächter, die 104 Switlana Kyrytschenko. Menschen nicht vor Angst, S.347f.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 295 denken, dass sie in die Sauna gehen, um sich zu waschen, doch in Wirklichkeit essen sie dort ihre Vorräte auf.

Von diesem Stuss ist nur wahr, dass die Häftlinge tatsächlich die erhaltenen Pakete untereinander teilten. Der Festtag des einen war ein Festtag für alle. (Es geht dabei vorwiegend um Dissidenten, die sich als eine Familie benahmen, wobei jemanden aus dem erhaltenen Schatz zu bewirten, als allgemeingültige Regel angesehen wurde.) Besonders großzügig im Verteilen der Geschenke an andere war der Kyjiwer Philosoph Jewhen Pronjuk: Er gab nicht eher Ruhe, bis aus dem Paket, das er erhalten hatte, das letzte Stück Essbares verteilt worden war. Wie ich mich doch ärgerte, als er sich kategorisch weigerte, ein Stückchen von uns anzunehmen, als wir ein Paket erhielten! Das war eine erstaunliche Hartnäckigkeit, die zu brechen mir, wie auch den anderen letztlich nicht gelang. Man braucht es gar nicht zu erwähnen, dass für die Lagerverwaltung das Zurückhalten eines Pakets für einen Häftling in der oben erwähnten Preisliste der Strafmaßnahmen eine nicht minder beliebte Sache war, so wie das Vorenthalten des Ladens. Hinzu kommt, dass im Lager ein interessanter Präzedenzfall geschah. Der Häftling Borys Monastyrsky hatte keine Verwandten, die ihm irgendetwas schicken konnten. Er hatte auch kein Geld auf dem Konto, um im Laden einzukaufen, weil alles von ihm verdiente Geld zurückbehalten wurde, um seine Gerichtskosten zu bezahlen. Er schrieb im Mai 1978 an das sowjetische Rote Kreuz mit der Bitte, ihm ein Paket zu senden. Sein Brief wurde beschlagnahmt und der Sampolit Njelipowytsch Monastyrsky erklärte, es stehe ihm nicht zu, Briefe und Päckchen vom Roten Kreuz zu erhalten. Zum Glück konnten Verwandte anderer Häftlinge an jene Pakete senden, die aus verschiedenen Gründen keine Pakete bekamen. So gelang es z. B. meiner Mutter einmal, Mykola Rudenko eine Wärmflasche zu senden und in den letzten Jahren meiner Haft schickte sie Lebensmittelpakete und Päckchen an Oleksandr Sashirnjak, der in der gleichen Baracke wie ich lebte. Sascha und ich waren sehr freundschaftlich zueinander; oft kämpften wir gemeinsam, maßen unsere Kräfte aneinander und nach seiner Freilassung wurde ich sogar Pate seines Sohnes Myroslaw. Bei der

296 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Vorbereitung dieser Erinnerung schrieb ich ihm einen Brief mit der Bitte, mir ein Foto zu schicken, aber es stellte sich heraus, dass er bereits im Jenseits war … Da ich nach meiner ersten Bewirtung mit den gebratenen Pilzen trotzdem am Leben blieb, bereitete ich sie nicht nur einmal selbst zu, als der Herrgott sie auf einige Stellen des nicht ganz zertrampelten Weges auf die Erde streute. In meinen Briefen an meine Verwandten erinnerte ich ebenfalls an weitere Gaben des knauserigen Sommers im Ural: 23. Juli 1981: Die Köche kochen einen schönen Borschtsch aus Brennnesseln und anderem Grasfutter. Was für eine Freude für uns! […] Und was die Beeren betrifft, nach denen mich Nadijetschka gefragt hat, ist die Sache wie folgt: Es gibt sie möglicherweise auch um das Dorf herum, aber auf dem Territorium der Zone ist kein Sträuchlein zu sehen. Doch warum sollten sie hier denn vorkommen, wenn ein irrsinniger Häftling jedes Pflänzchen zerstampft? 21. Juli 1982: Ich trocknete Kamille (für Heilzwecke, ohne Blümchen). Schade nur, dass fast die ganze Linde erfror, denn ihre Blüten milderten die Kamille und das von mir zubereitete Getränk war sehr gelungen.

Eine große Hilfe für unserer Ernährung wurde ein kleines Treibhaus, dass 1981 gebaut wurde und worüber ich meinen Verwandten schrieb: 23. Juli 1981: Man darf wirklich sagen, dass wir seit Kurzem ein Treibhaus haben und es in unserer Kantine hin und wieder etwas Grünes gibt, jeweils ein kleines Bündchen für alle. 23. August 1983: Dieses Jahr steht es bei uns nicht schlecht mit den Gurken – Treibhausgurken, versteht sich. Bereits seit einer gewissen Zeit gibt man uns fast täglich zum Abendbrot je eine frische, schwach gesalzene. Tomaten probierte ich nur einmal. Wir warten zudem noch auf frischen Kohl und Kartoffeln.

Briefwechsel Im Lager für strengen Vollzug war es einem Häftling nur erlaubt, zwei Briefe im Monat zu schreiben: Die Erfinder dieses Gesetzes glaubten, die Möglichkeit, mehr Briefe zu schreiben, schaffe für den Verurteilten zu sehr Zustände wie in einem Sanatorium. Diese Briefe wurden selbstverständlich durch die Zensur gelesen; in der Zone 36 war dies lange Zeit die Tochter des Lagerleiters Major

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 297 Shurawkow. Ihre Arbeit wurde von einem Vormund der KGB, Hauptmann Surowzew, kontrolliert. Die abgeschickten Briefe mit verdächtigem Inhalt wurden oft beschlagnahmt. Eine gewisse Zeit konnte aber anstelle des beschlagnahmten Briefes noch ein weiterer geschrieben werden. In die Kategorie mit verdächtigem Inhalt fiel bereits mein erster Brief aus dem Lager. Der Grund dafür war – mein begeisterter Eindruck des Himmels im Ural. Ich beschrieb, wie unglaublich leuchtend am Himmel Jupiter und Venus wandern und wie erstaunlich gebogen die Mondsichel war. Nach einigen Tagen traf mich Hauptmann Surowzew und sagte voller Ironie: »Nun, Marynowytsch, hielten Sie uns tatsächlich für so naiv, dass wir alle Ihre verschlüsselten Anspielungen durchließen: Jupiter, Venus?« Wie hätte da nicht vermutet werden können, ich hätte mir bloß eine poetische Wahrnehmung erlaubt? Surowzew erkannte offenbar rasch, dass er es mit einem ausgesprochenen Kauz zu tun hat. Im neu für den ersten von mir geschriebenen und danach beschlagnahmten Brief ließ er dennoch diese seltsame Botschaft durch: Ich bitte, mir einige Angaben aus der Geschichte der Musik und der Musikkunde zu beschaffen. Mich interessieren: 1. Wann und von wem wurden die fünf Notenlinien und die sieben Hauptnoten eingeführt? 2. Was ist der Ursprung des Violin- und des Bassschlüssels? 3. Warum wird die Note Do auf der ersten zusätzlichen Linie angeordnet? 4. Warum ist die Note Sol eine Stütznote [erst später erfuhr ich, das eine Stütznote die Note L ist]? 5. Weshalb ist zwischen Mi und Fa, Si und Do kein Zwischenton? 6. Wie erfolgt nach den Harmoniegesetzen der Übergang von Dur nach Moll?

Alles war unverschlüsselt: Ich sprühte völlig von verschiedensten Ideen, durch die ich meine Weltanschauung konstruieren wollte. Nur Gott allein weiß, was in meinem Kopf alles gereift wäre, hätte es zu jener Zeit das Internet bereits gegeben! Später konnte man bereits nicht mehr einen anderen Brief anstelle des beschlagnahmten schreiben. Es gab dazu eine spezielle Begründung der Staatsanwaltschaft im Gebiet Perm: Die Verfahrensweise des Versands von Briefen und des Briefwechsels der Verurteilten ist durch § 34 der Politischen und erzieherischen Arbeit (PWR) geregelt. Alle zur Versendung eingereichten Briefe, auch die

298 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT beschlagnahmten, sind dem in § 64 des Gesetzbuches für die Kolonie der Besserung durch Arbeit (ITK) der RSFSR vorgesehenen Limit anzurechnen.

Niemand kann den sowjetischen Gesetzesschöpfern vorwerfen, dass sie umsonst ihr Brot aßen … Ich erwähnte diese neue Regel auch in meinem Brief vom 16. Mai 1982: Man setzte uns in Kenntnis, dass von jetzt an, falls einer meiner Briefe beschlagnahmt würde, ich kein Recht mehr hätte, eine zweite Variante zu schreiben, da mein Limit bereits erreicht wäre.

Wenn der Zensor zwei Briefe nacheinander beschlagnahmte, verschwand der Häftling während eines langen und beunruhigenden Monats für seine Familie, in vielen Fällen sogar für noch länger. Wenn er mit einer lang andauernden Verlegung in den Kerker (PKT) bestraft wurde, verringerte sich das Limit für einen neuen Brief auf zwei Monate. Dann wurde die Handschrift des Häftlings winzig klein, das Papier dicht gedrängt gefüllt mit Gedanken, die es nicht mehr wagten, verdächtig zu sein … Manchmal strich die Zensorin die verdächtigen Wörter einfach nur dick durch. Dies tat besonders jene Frau, die später anstelle der Tochter des Lagerleiters Shurawkow ihre Arbeit aufnahm. Von diesen Streichungen erfuhr ich eigentlich erst vor Kurzem, als ich daran ging, meine Briefe nochmals zu lesen. Ich versuchte nicht, den verlorenen Inhalt wiederherzustellen. Mindestens eine Gesetzmäßigkeit konnte ich dennoch herausfinden: Die Zensorin strich alle meine fremdsprachlichen Einschübe, egal wie unschuldig ihr Inhalt war. Sozusagen für alle Fälle. Im Brief vom 4. Juli 1982 ist deutlich sichtbar, wie sogar das Schlusswort »Seid gegrüßt!« durchgestrichen wurde. Die Interpretation des Grunds überlasse ich der Fantasie des Lesers … Als in der Freiheit meine Postanschrift bekannt wurde, kamen Briefe ins Lager. Sie führten in mir zu einem richtigen Tsunami an Gedanken und Gefühlen. Wohltuende Liebe kamen mir in den Briefen meiner Mutter und Schwester Nadijka entgegen. Mit warmherzigen Worten meldeten sich auch meine Freundinnen Mychajlyna Kozjubynska, Natalja Jakowenko, Ljuba Heina, und Olga Heijko. Von Osksana Jakiwna kam eine Postkarte. Der Inhalt war

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 299 auf den ersten Blick neutral, aber wie er mich schon angeredet hat und einige andere unmerkliche Nuancen gaben mir zu verstehen: Oksana Jakiwna entschuldigt sich dafür, dass man Mykola und mich verdächtigt hatte, und sie wollte mir das nicht nachtragen. Gemäß dem Gesetz konnten die Häftlinge unbegrenzt Briefe erhalten. Das wäre in Wirklichkeit so gewesen, gäbe es nicht den grauen Wolf hinter dem Berg, d. h. die Zensur. Die »Chronik der laufenden Ereignisse« (Ausgaben 51 und 52) jener Zeit hielt, was mich betrifft, nur einzelne Fälle fest, was ein typisches Phänomen des Lagerlebens vieler Häftlinge war: Der Brief an Marynowitsch von Matusewytschs Schwester aus Kyjiw ist konfisziert worden. Konfiszierte Briefe an Marynowytsch von T. Matusewytsch und Je. Obertas aus Kyjiw […] Konfiszierte Briefe an Marynowytsch von Wal. Tschornowil (Oblast Tscherkaska) […] Konfiszierte Briefe an Marynowytsch von seiner Mutter, I. Kalynez und O. Matusewytsch (Kyjiw).

Es ist klar, dass Briefe aus dem Ausland den Häftlingen mit wenigen Ausnahmen nicht ausgehändigt wurden. Die »Chronik« (Ausgabe 52) bewahrte eine Erinnerung an einen Appell von Walerij Martschenko an den Generalsekretär der UNO, Kurt Waldheim, vom 10. Dezember 1978, in der er seinen Adressaten bat, Briefe aufzubewahren, die im Lager für ihn aus dem Ausland eintrafen und die der Zensor jedes Mal beschlagnahmte: Im Wissen, dass mir ständig zahlreiche Menschen schreiben, die außerhalb der Grenzen der UdSSR wohnen und ich in den fünfeinhalb Jahren keine dieser Briefe erhalten habe, bitte ich Sie darauf einzuwirken, dass ich die entsprechenden Artikel der Deklaration der Menschenrechte sowie der Helsinki-Vereinbarungen für mich in Anspruch nehmen kann.

Interessant ist, dass der Assistent des Staatsanwaltes des Gebietes Perm für die Aufsicht über die Orte des Freiheitsentzuges, Sawjelow, die Beschlagnahmung von Walerijs Appell damit begründete, er wäre an ein Organ adressiert, das für die Lösung der in dieser Erklärung dargelegten Fragen nicht kompetent sei. Von einer solchen Situation meldete mir auch die Gruppe von Jurij Orlow: Die Häftlinge erhalten fast nie Briefe aus dem Ausland, ausgenommen Briefe aus Israel, die etwas seltener konfisziert werden. Während der ganzen

300 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Zeit des Aufenthalts in den Lagern haben M. Kijrend, W. Martschenko, S. Antonjuk, I. Hrabans und viele andere keinen einzigen Brief erhalten, der aus dem Ausland zugesandt wurde. I. Ohurzow erhält hin und wieder Briefe, aber nur aus Polen. P. Plumpa bekam in allen diesen Jahren nur einen Auslandsbrief (6. Februar 1976 aus der Schweiz).105

Es lohnt sich, mehr über diese Ausnahme von Briefen aus Israel zu sagen. Ich vermute, dass sich effektiv der internationale Druck auf die Regierung der UdSSR auswirkte, wie auch im Fall religiöser Literatur, um die es später noch gehen wird. Aber nicht allein. Es wirkte auch das Verständnis einiger Korrespondenten. Ich muss erwähnen, wie einmal in der Zone ein Brief aus Israel von einem ehemaligen Häftling in einem sowjetischen Lager, Jakow Suslensky, eingetroffen war. Diesen Brief ließ man nicht nur durch, sondern händigte ihn mit der besonderen Empfehlung aus, auf einen erfahrenen Menschen zu hören. Weshalb wohl? Deshalb, weil Suslensky, der alle Wasser eines Lagers kannte, im ersten Absatz den Standardsatz schrieb: »Ich hätte doch bereuen müssen.« Erst danach schrieb er weiter über sein Leben in Israel. Wir begriffen sofort die Ironie und die Künstlichkeit seiner Präambel. Wir lachten deshalb nur wegen seiner Findigkeit. Doch die Lagerleitung nahm all das für bare Münze, denn das war ja die für sie gewohnte Sprache. Während einer gewissen Zeit ließ die Zensur in unseren empfohlenen Briefen verschiedene kleine Anlagen zu. So sandte meine Mutter ein kleines Stückchen Sackstoff, auf dem ich dann mit azurblauen Fäden eine philosophische Spirale stickte: 13. Dezember 1978: Ich bereicherte mich und stickte vor einer Woche etwas. Auf Sackstoff, von dem ich viel habe, denn damit wische ich meine Werkbank ab. Ich zweifle, dass durch meine Nadel Meisterwerke entstehen, doch mindestens meine Begeisterung ist eindeutig. Mein Drang zum Sticken ist groß und mein Hunger nach etwas Schönem macht sich bemerkbar, vielleicht ist es aber nur kurzfristig.

Ich muss nicht erwähnen, dass diese Stickerei nicht nur einmal von den mütterlichen Tränen benetzt wurde. Sie nahm sogar meine Stickerei nach Kyjiw mit, um sie ihren Freunden und den Verwandten zu zeigen. Später wurde diese Freizügigkeit mit zusätzlichen 105 »Über die Lage der Häftlinge in den Lagern der UdSSR«.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 301 Päckchen aufgehoben, genau wie die Möglichkeit unterbunden wurde, in Briefen die beliebten Stereoansichtskarten zu erhalten. Viel Freude bereiteten mir Kinderzeichnungen. Doch auch da war der Gesetzgeber bemüht, Häftlinge vor übermäßigen Emotionen zu bewahren: 7. Dezember 1981: Auf die Zeichnungen warte ich mit Ungeduld, obwohl ich mich auf das Schlimmste einstelle. Es stellte sich kürzlich heraus, dass, gemäß neuen Anforderungen, Kinderzeichnungen keinen Brieftext enthalten dürfen und sie dadurch zu fremden Beilagen werden. Es erschüttert mich, dass unsere Kinder das nicht ahnen können.

Die Briefe aus und ins Lager waren für beide Adressaten ein wahrer Segen. Ich könnte einen ganzen Abschnitt nur mit Auszügen von meinen Eindrücken bringen, mit welchen Gefühlen ich jeweils die Briefe aus der Ukraine in meinen Händen hielt. Hier zwei meiner liebsten: 13. Dezember 1978: Weshalb fällt es so schwer aus der Stummheit ein erstes Wort zu holen, das all meine Gedanken enthalten würde, die ich zuvor hatte? Ich habe gerade den nächsten Stapel eurer Briefe erhalten, heute am 5. Dezember, und es wollen sich meine erregten Gefühle wie kleine Kinder nicht in die für sie gemachten Bettchen legen. Bitte um ein Märchen mit glücklichem Ausgang und einer guten Fee. Ich schaue mir ein neues Foto meiner Mutter an, die bereits vorher im Stillen von mir geküsst und so gut eingeübt wurde. Ich suche neue Furchen in ihrem Gesicht, die mein stürmisches Schicksal in sie zeichneten, leider finde ich sie auch. Der stumme mütterliche Vorwurf … Ich bin froh, dass ich sie habe, doch meine Trauer entspricht der Befriedigung, die ein Ukrainer empfindet, wenn er ein schwermütiges Lied singt. 9. Oktober 1979: Schewtschenko lief in seinen kirgisischen Steppen tagelang mit neuen Briefen herum, ohne sie zu öffnen, und ergötzte sich nur an dem Versprechen, die sie in sich bargen. Etwas Ähnliches wirkt auch im Gebiet Perm. Ich wasche den Fußboden [in der Zelle], als ich plötzlich das Knirschen des Eisens hörte. Die Türe geht auf und in meinen nassen Händen landet ein guter Stoß Briefe. Ich lege sie auf den Tisch, aber … wasche weiter, verfluche jede Ritze, in die sich dieser abscheuliche Kalk hineinzwingt. In der Zwischenzeit erforsche ich mit gierigem Blick jeden Umschlag und dehne diese süße Qual noch bis zum Abendbrot aus, das man gerade dann brachte, als ich die Hände abgetrocknet hatte und nach meiner ersten Zigarette den ersten Brief öffnete …

Genauso wichtig waren auch meine Briefe aus dem Lager als Informationsquelle für meine Verwandten. Sie achteten auf jedes Wort,

302 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT jede Betonung. Denn wir wussten im Lager, was mit uns passiert, sie aber konnten es nur erahnen. Ich sagte deshalb meinen Verwandten bei meinem ersten Wiedersehen: Schwerer, viel schwerer habt ihr es gehabt, denn mein Leben war für euch wie ein Bogen unberührtes Papier, auf das sich so leicht die schwarze Farbe trauriger Mutmaßungen und Gemütsbewegungen legte. Für eventuelle außergewöhnliche und kurze Mitteilungen hatte ich mit meiner Mutter einen Geheimcode vereinbart. Doch meistens sind meine Nachrichten gut aus meinen Anspielungen und vorsichtigen Erläuterungen zu finden. So konnte etwa der Satz »starker Wunsch, die Figur zu wahren« den Aufenthalt im Karzer tarnen. Mit meiner Erwähnung, dass ich unendliche Träume von Essen in kleinen Portionen teile, versuchte ich, ihr zu verstehen zu geben, dass ich zu diesem Zeitpunkt im Hungerstreik war. Ob das funktioniert hat oder nicht, weiß ich nicht, doch in meinen Briefen war viel von dieser konspirativ erläuternden Sprache zu finden: 1. September 1979: Das Päckchen bin ich nicht los, man wird es mir einfach nicht bis zum 18. Dezember aushändigen. Eine ähnliche Präzisierung anlässlich meines Wiedersehens: Es wurde mir nicht gestrichen, sondern nur verschoben in Verbindung mit einer Änderung des Aufenthaltregimes, ausführlicher kann ich es nicht beschreiben. 28. Februar 1980: Seit dem 11. Februar änderte sich wieder mein Aufenthaltsregime; es ist wie früher. Das bedeutet, dass ich zwei Briefe im Monat frühestens in einem halben Jahr schreiben kann. Dieses Mal zögert sich die Frist trotzdem hinaus … Bitter, ob man will oder nicht, ich habe mich von der Hoffnung getrennt, euch auch im Jahre 1981 zu sehen.

Es ist verständlich, dass die Häftlinge keine Päckchen oder Pakete verschicken durften. Dies schuf unter Berücksichtigung der strengen Zensur meiner Briefe eine verzweifelte Situation, da sich das Lager in ein schwarzes Loch verwandelte, aus dem keine unzensierte Nachricht mehr gelangen konnte. So zerbrachen sich die Häftlinge oft den Kopf, wie diese Blockade umgangen werden könnte. Manchmal gelang es einem Häftling, sich mit irgendeinem Wächter abzusprechen, damit er im günstigsten Fall für den Häftling einen geheimen Brief oder Päckchen an seine Verwandten oder Bekannten wegschickte. Aber es bestand immer das Risiko, dass

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 303 der Wächter gemäß Auftrag des KGB damit gegen das Regime verstößt. So haben wir 1978 eine ganze Operation durchgeführt, nachdem wir mit einem Aufseher die Möglichkeit vereinbart hatten, ein Buch zu versenden: Wir schnitten einen Teil des Buchdeckels dieses Buches heraus und setzten an jene Stelle dicht beschriebene Dokumente mit Lagerinformation ein. All das führte sehr geschickt der Galizier Mychajlo Slobodjan aus. Wir adressierten das Päckchen nach Kyjiw an den Namen einer Bekannten von Jewhen Swerstjuk, Maja Wowtschuk Blakytna. Aber später wurde bekannt, dass sich unser Päckchen in den Händen des KGB befand und bei den Offizieren stürmische Freude und Hohn hervorgerufen hatte, nicht nur wegen dem Abfangen feindlicher Nachrichten, sondern auch, weil Mychajlo so stolz auf sein Meisterwerk gewesen war und an einer Stelle verborgen hingeschrieben hatte: »Herausgeber: M. Slobodjan«. Dafür musste er zusammen mit allen anderen Autoren dieser Dokumente viel erdulden. Wiedersehen mit den Verwandten Noch größere Aufmerksamkeit widmeten der KGB und die Lagerverwaltung dem Wiedersehen der politischen Häftlinge mit ihren Verwandten. Besuche waren nur von allernächsten Verwandten möglich und ausnahmslos nicht von entfernten Verwandten oder Freunden.106 Den Gesetzen entsprechend, konnte ein Häftling im strengen Vollzug im Verlauf eines Jahres nur ein einziges langes persönliches Wiedersehen bis zu drei Tage bekommen, aber wir waren glücklich, wenn es auch nur einen Tag gab. Dazu kamen zwei kurze Wiedersehen, die bis zu zwei Stunden dauern durften und einmal halbjährlich stattfinden konnten. Die Unterhaltung erfolgte durch eine gläserne Trennwand unter Benutzung eines Telefons. In Wirklichkeit war der Unterschied zwischen dem Recht auf Besuch und es auch zu erhalten gewaltig. Der Grund war einfach: Der KGB wollte um jeden Preis den Fluss gefährlicher Nachrichten 106 Anbei bemerke ich, das Treffen mit Anwälten (wenn man sie überhaupt gewährte) nicht zu dieser Liste gehörten.

304 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT unterbinden, der aus und in die Lager kam. Die Häftlinge versuchten um jeden Preis, die für sie lebenswichtigen Nachrichten zu erhalten oder zu übermitteln. Es war »das verzweifelte Reiben eines Kalbs an einer Eiche« (A. Solschenizyn). Es war naiv, die staatlichen Behörden an das Recht eines Häftlings zu erinnern, Besuche zu erhalten. Manchmal erklärte die Verwaltung völlig offen ihre Handlungen, wie es etwa im Fall von Sorjan Popadjuk war. Im Mai 1978 kam seine Mutter ins Gefängnis nach Wladimir, doch die Verwaltung verweigerte ihm das Recht auf Besuch wegen einer Kleinigkeit. Der Grund dazu war schlicht: Sie besuchte auf ihrem Weg nach Wladimir in Moskau verschiedene Personen mit einer antisowjetischen Haltung und sammelte Neuigkeiten. Damit wurde ihr weiterhin das Recht auf ein Wiedersehen mit ihrem Sohn entzogen.107 [Aus der Studie von Jrij Orlow über die Lager]

An eine ähnliche Situation mit Verwandten erinnert auch Norik Hryhorjan auf Facebook: 1980 wollten meine alten Eltern mich besuchen. Sie schrieben mir in einem Brief, die Verwaltung habe ihnen die Erlaubnis erteilt. Von Jerewan mit dem Flugzeug nach Moskau, von Moskau mit einem anderen Flug nach Perm. Von Perm mit der elektrischen Vorortbahn nach Tschusowoj, von Tschusowoj nach Kutschyno auf dem Lkw. Und was meinen Sie, macht die Verwaltung? Sie sperrt mich zehn Tage in den Karzer und meine Alten wurden weggeschickt … Unterwegs erlitt mein Vater einen Infarkt.

Um Besuche zu verhindern, ließ sich die Verwaltung mitunter auf exotische Spiele ein, z. B. die Einführung einer Quarantäne. Wie aus meinem Brief damals ersichtlich wird, war die Seele der Häftlinge voller Sarkasmus. 30. Dezember 1980: Man setzt uns in Kenntnis, dass im Zusammenhang mit einer ungünstigen epidemiologischen Lage im Tschusowoj Rayon keine Besuche erteilt werden können, bis darüber neu verfügt wird. Wenn es so weit ist, teile ich es euch mit. Der Rayon Tschusowoj hatte kein Glück: Schädliche Bazillen mit rätselhafter, fast mystischer Periodizität besuchten unsere Region. Warum fahren sie denn nicht in die sonnige Schweiz, wo Häftlinge zweimal im Monat Besuch empfangen, Ferien zu Weihnachten und Ostern nicht eingerechnet. Mit einem Wort: Pfui, diesem Bazillus.

107 »Über die Lage der Häftlinge in den Lagern der UdSSR«.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 305 Ab und zu wurden aber trotzdem Besuche erlaubt. Dann sammelten sich alle Häftlinge der Kolonie in gespannter Erwartung im Bereich des Besuchszimmers. Vor dem Besuch wurden die Häftlinge und ihre Verwandten gründlich durchsucht. Während der Visitation mussten sich alle, auch die Frauen und Kinder, nackt ausziehen. So wurden auch gynäkologische Untersuchungen der Ehefrauen, Mütter oder Schwestern durchgeführt. (Das erwähnt Walerij Martschenko in der Untersuchung der Gruppe Orlow.) Das Zimmer war gespickt mit Abhörgeräten und die Abhörung erfolgte ohne Unterbruch. Es gab Fälle, in denen die Aufseher in den Raum stürzten, wenn ein Gespräch unerwartet abgebrochen wurde oder die Verwaltung auf den Gedanken kam, es sei eine Übermittlung unerlaubter Nachrichten erfolgt. Es war auch selbstverständlich, dass nach Abschluss des Wiedersehens nochmals durchsucht wurde. Ich konnte es kaum glauben, dass mir nicht sämtliche Besuche in Erinnerung geblieben sind. Ich fand nicht alle in meinen Briefen oder in der »Chronik«. Gelänge es aber, würde ich mich an jeden Augenblick erinnern. Bestätigen lassen sich während meines ganzen Aufenthalts im Lager nur drei persönliche Wiedersehen mit meiner Mutter und meiner Schwester Nadijka. Wie viele Tage es insgesamt waren, weiß ich auch nicht mehr. Dazu kamen zwei Kurzbesuche durch das Glas, einmal von meiner Mutter und ein anderes Mal von ihr zusammen mit Nadijka. Drei persönliche Wiedersehen, die mir gemäß Gesetz zugestanden hätten, und viele Kurzbesuche wurden mir mit verschiedenen Begründungen gestrichen: entweder wegen Verstoß gegen das Regime oder durch Verschiebung eines Besuchstermins, da ich im Karzer oder Lagergefängnis festgehalten war. Zum Glück hatte ich, nachdem ich im Sommer 1978 ins Lager kam, noch nicht genügend Strafpunkte. Deshalb wurde mir in demselben Jahr am 16. August trotzdem ein erstes persönliches Wiedersehen mit Mutter und Schwester Nadijka gewährt. Es war aber nur ein Tag von drei möglichen Tagen, da ich bereits damals eine Neigung zum Verstoß gegen das Regime zeigte. Die Aufseherin, die vor dem Wiedersehen meine Verwandten durchsuchte, sagte ihnen

306 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT wörtlich: »Er ist doch ein so guter Junge und doch ist er ein Verbrecher!« Diese einzigartige Charakterisierung ist eine meiner liebsten. Während der Visitation mussten meine Verwandten alle typischen Erniedrigungen durchstehen: sich völlig nackt ausziehen, kleinliches Umstülpen jeder Naht der Kleidung, gründliche Kontrolle der mitgebrachten Lebensmittel. Besonders erniedrigend war die Prozedur für Nadijka, da bedingt durch ihre Skoliose ihr Rückgrat verkrümmt war. Dies offen zu zeigen war sogar für eine Frau ein großes Trauma. Sie ertrugen das aber alles, um mich zu treffen. Zum Glück wurde damals nicht mehr jene Prozedur durchgeführt, die außer Walerij Martschenko auch Norik Hryhorjan in seinen Erinnerungen erwähnt hat: Der KGB ist eine wachsame Organisation. So wurde beschlossen, Verwandte, die zu Besuch kommen, auf einem gynäkologischen Stuhl zu untersuchen, um keinen Verlust einer wichtigen Information zuzulassen. Die Ehefrau eines Dissidenten fragte den Ment, der sie kontrollierte: Ist der Kommunismus dort nicht zu sehen? Diese Art der Durchsuchung dauerte nicht lange. Da man im Westen mit viel Lärm mit Maßnahmen gegenüber roten Diplomaten drohte, wurde diese schändliche Maßnahme rasch eingestellt.

Die Besuchstage verbrachten wir jeweils in einem speziellen Raum. Ich hörte aber von meinen Verwandten nie einen Vorwurf oder eine Aussage, die mich kränkte. Im Gegenteil: Es schien mir, als ob ihre Liebe, Zärtlichkeit und Güte sich hundertfach vermehrten. Die beiden sahen mir mit Vergnügen zu, wie ich all ihr unübertroffen herrliches Essen, das die gütigen Mutterhände für mich zubereitet hatten, in mich stopfte. Worüber wir miteinander sprachen, weiß ich nicht mehr. Es war jedenfalls ein strahlender Beweis wahrer Liebe zu mir. Während unseres Wiedersehens hatte ich zwei Aufgaben, die aus Sicht meiner Überwachung nicht einfach waren. Zunächst musste ich mit meinen Verwandten einen Geheimcode abmachen, wie ich oben schon erwähnte. Ich konstruierte ihn vor dem Besuch mithilfe anderer Häftlinge. Dadurch konnte ich in meinen Briefen kurze, aber wichtige Nachrichten austauschen. Das gelang mir gut. Es rettete uns nicht nur einmal während meiner Haft.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 307 Die zweite Aufgabe war, meiner Mutter eine Kapsel mit geheimen Nachrichten über das Leben im Lager und mit einigen unserer Appelle zu geben, die ich zuvor vorsorglich verschluckte. Diese Operation gelang mir ebenfalls gut. Meine arme Mutter, die gar nicht richtig begriff, warum sie dieses wenig appetitliche Ding schlucken musste, tat es ganz im Vertrauen auf ihren Sohn. Bis zum Ende des Besuchs erklärte ich ihr in Teilen alles, damit ich meine Mission für meine Brüder erfüllte. Ich wusste damals jedoch nicht, welch große Qualen ich damit meiner Mutter bereiten würde. Später erfuhr ich, dass meine Mutter, als sie im Zug nach Moskau zurückkehrte, die Kapsel gut in sich barg, sie ihren Fingern aber entglitt, als sie sich auf der Toilette des Eisenbahnwagens wusch. So müssen unsere Nachrichten bis zum Jüngsten Gericht auf den Schwellen der russischen Eisenbahngesellschaft warten. Die Verzweiflung meiner Mutter war grenzenlos: Ihr Blutdruck stieg rapide. Sie konnte es sich gar nicht verzeihen, dass sie die ihr anvertraute und mit großer Mühe durchgebrachte Botschaft verlor. In meinem späteren Briefen erwähnte ich diesen Besuch kaum. Eine psychologische Begründung fand ich kürzlich in einem meiner Briefe an Nadijka: 1. September 1979: Es möge dich nicht erstaunen, wie wortkarg ich in meiner Erinnerung an unser Treffen blieb, doch ich konnte nicht anders. Glaube mir, bisweilen vertreibe ich sie wie ein Reflex, wenn eine Hand sich vor glühendem Eisen zurückzieht.

Der nächste Besuch fand kurz vor dem 15. April 1981 statt. Damals hatte ich bereits das für mich so schwierige Jahr 1980 hinter mir, von dem im folgenden Abschnitt die Rede sein wird. An die genauen Umstände unseres Wiedersehens erinnere ich mich nicht. In einem Brief stieß ich aber auf ein sehr interessantes Detail: 17. Mai 1981: Mutters Worte: ›Ich frage dich nicht, wie du schläfst‹, stimmen mich völlig glücklich. Es scheint der beste Beweis dafür, dass wir drei alle letztlich in den Schlaf fielen. Und ich hatte zuvor doch so viele Tassen Kaffee ausgeschlürft.

Nach sieben Monaten, am 15. November 1981, erhielt ich einen Kurzbesuch meiner Mutter, dessen Geschichte mit einem für mich

308 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT sehr schmerzlichen Kompromiss verbunden war. Ich wusste, dass meine Mutter sehr darauf wartete, auch wenn das Wiedersehen nur zwei Stunden dauerte, als sie das Lager nach drei Tagen Reise erreichte. Als mir erklärt wurde, dass das Treffen nur unter der Bedingung gewährt wird, wenn wir Russisch sprechen, sagte ich mich davon los. Unter den Aufsehern im Lager 36 waren Ukrainer, die das Wesentliche unseres Gesprächs verstanden. Auch Surowzew, der Hauptmann des KGB, stammte aus Galizien. Daher fasste ich die Anordnung der Verwaltung als eine Laune auf, deren Ziel die Umerziehung eines Nationalisten war. Nach etwa einer halben Stunde wurde mir eine Notiz meiner Mutter gebracht, die mich bat, trotzdem zu kommen. Nur ihr zuliebe gab ich meinem Widerstand auf. Wir unterhielten uns in einem Raum, der nur durch eine Glasscheibe abgetrennt war. Wir konnten uns deshalb auch nicht küssen. Um einander überhaupt hören zu könnten, mussten wir Telefonapparate benutzen. Es war eine große Freude, aber vermischt mit großen Qualen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sehr eine Unterhaltung mit meiner Mutter in einer fremden Sprache wehtut. Dazu noch in einer Sprache, die das nationale Unrecht und die Tatsache ihrer Gewalt symbolisierte! Meine Mutter sprach nur bruchstückhaft Russisch. Sie war aber unwahrscheinlich glücklich. Vor Gott rechtfertigte sie diesen Kompromiss mit ihrer Freude. Ich war mir bewusst, dass die Forderung, Russisch zu sprechen, keine Ausnahme war: Auf Russisch musste z. B. auch Washa Shgenti sprechen, obwohl seine Mutter eine einfache georgische Bergbäuerin war und sich in dieser Sprache fast nicht ausdrücken konnte. Ich wusste auch, dass man zuvor aus demselben Grund Jewhen Swerstjuk ein ähnliches Wiedersehen verweigert hatte. Später schrieb die New Yorker Zeitung »Swoboda« (»Freiheit«), vom 25. Juni 1977: Am 14. April 1977 kam Jewhen Swerstjuks Frau Lilja [Walerija Andrijewska – Red.] zusammen mit ihrem Ehemann aus Kyjiw aus einer Entfernung von 3000 km zu ihrem nächsten persönlichen Wiedersehen. Das Besuchsrecht wurde ihr offenbar aus dem Grund verweigert, weil es Swerstjuk entzogen worden war. Etwas später wurde es Lilja nur unter der Bedingung gewährt, sich zusammen mit ihrem Mann auf Russisch zu unterhalten. Sie war

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 309 einverstanden, doch anschließend erklärte ihr die Lagerverwaltung, dass das Wiedersehen nicht stattfindet, weil ihr Mann sich weigerte, auf Russisch zu sprechen. Lilja reiste ab; Swerstjuk trat zum Zeichen seines Protests gegen die gesetzwidrige Streichung seines Besuchsrechts in den Hungerstreik. Er hielt fast 20 Tage durch. Am 30. April sandte der Lagerleiter Poljakow ein Telegramm an Lilja Swerstjuk: Das Wiedersehen findet Ende Mai statt, im Juni genehmigt. Das erforderte eine äußerst deutliche Protestnote, damit der Lagerleiter seine willkürliche Entscheidung korrigierte: Ein Hungerstreik von 20 Tagen war damit nicht mehr nötig.

In der Untersuchung der Gruppe Orlow beschrieb P. Plujras Plumpa dieses kurze Wiedersehen für den Armenier Markosjan so: Im Mai 1978 erlaubte man R. Markosjan während eines zweistündigen Wiedersehens mit seinem Bruder nicht, sich durch einen Händedruck zu begrüßen. Es war ebenfalls verboten, sich in seiner Muttersprache Armenisch zu unterhalten. Der anwesende Aufseher warnte die ganze Zeit, dass das Wiedersehen sofort abgebrochen wird, wenn auch nur ein einziges armenisches Wort fällt. Es war in der Regel nur während eines kurzen Wiedersehens erlaubt, Russisch zu sprechen. Wenn die Kinder oder Verwandten eines Häftlings nicht russischer Nationalität die russische Sprache nicht beherrschten, hatten sie auch keine Möglichkeit, die üblichen Treffen zu nutzen.108

Ich konnte nicht sagen, dass die Weigerung, beim Wiedersehen Russisch zu sprechen, ein Kriterium für wahren Patriotismus wäre. Der politische Häftling Jurij Badsjo und seine Frau Switlana hatten eine andere Position, die ich überhaupt nicht verurteile: Man warnte: Nur auf Russisch. Wir machen daraus kein Problem. Das ist meine und auch Jurijs Position. Umso mehr, da es auch einen Pluspunkt gab: Spricht man Russisch mit hohem Tempo, kann man nicht verständliche Worte auf Ukrainisch hinzufügen und so auch etwas Eigenes sagen, da der Aufseher es gar nicht bemerkt.109

Von einem meiner Kurzbesuche bewahrte ich eine sehr wertvolle Erinnerung. Meine Mutter brachte mir eine gelbe Wyschywanka mit Kragen (ein gesticktes Hemd), die sie für mich bestellt hatte. Genau davon träumte ich zuvor im Lager. In der Zone überwog der graue Farbton: Sogar im Sommer, wenn das Grün üppig wuchs, bekamen wir keine Farben von Blumen zu sehen. Deshalb explodierte vor meinen Augen buchstäblich die warme Farbe der Stickerei auf 108 »Über die Lage der Häftlinge in den Lagern der UdSSR«. 109 Switlana Kyrytschenko. Menschen nicht vor Angst, S.377.

310 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT gelben Untergrund und erzeugte in mir ein unwahrscheinlich freudiges Spektrum an Gefühlen. Begeistert betrachtete ich die Stickerei und lehnte es kategorisch ab, dass meine Mutter sie weglegte. So schaute ich einmal zu meiner Mutter, dann wieder zur Stickerei bis zum Ende unseres Wiedersehens. Noch am gleichen Tage schrieb ich in einem Brief: 15. November 1981: Und so bin ich, Mamusetschko, vom Wiedersehen weggegangen und verstand erst dann, welche Kraft mich diese zwei Stunden gekostet hatte. Ich werde aber in diesem Brief nicht weiter davon erzählen, da es mir sofort schwer zumute wird. Ich erzähle von diesem persönlichem Wiedersehen erst wieder, wenn es in diesen zweieinhalb Jahren erneut möglich ist. Dennoch ist es in meiner Brust wärmer geworden: Während zwei Stunden konnte ich eure gute Seele sehen; zwei Stunden und euch und unserem barmherzigen Gott. Irgendwo war auch noch ein rosafarbener Fleck an unserer Seite, denn Nadijtschenjatko saß auch unter ihnen. Sie presste die Handflächen zusammen und bestimmte mit ihrem Blick Zeit und Raum. Das war das Wichtigste. In unserer dreieinigen Welt war zuerst Gottes Blick und dann auch sein Wort … Bis heute sehe ich noch die herrliche Wyschywanka vor mir. Mein Unglück war, dass ich sie erst dann ganz schätzen konnte, als ich mich nach unserem Wiedersehen etwas beruhigte. Doch die beste Stickerei verblasst in ihrer Schönheit, wenn sie nicht in den Händen meiner gütigen Mutter liegt.

Das dritte persönliche Wiedersehen erfolgte am 4. April 1982. Ich benutze zur Erinnerung meinen Brief mit der fast identischen Metapher eines glühenden Bügeleisens. »Meine Lieben! In unserem Briefwechsel begann bereits eine neue Phase. Sie begann mit der an unser Wiedersehen, das genauso glühend war wie ein Bügeleisen.« Es sieht so aus, dass zum zweiten kurzen Besuch am 13. Oktober 1983 nicht nur meine Mutter, sondern auch Nadijka kam. Erneut haben meine Emotionen völlig mein Langzeitgedächtnis gelähmt. Zum Glück gibt es darüber eine kleine Notiz in einem meiner Briefe: 30. Oktober 1983: Gut, dass sich überhaupt ein paar Worte in mir bilden konnten. Es liegt erneut nicht wirklich an den Worten, wenn meine Augen bewusst und unbewusst solche bekannten Striche und Grübchen ertasteten und eine einzige Seele im magischen Dreieck der Blicke strömt! Hier bin ich überfordert, es zu verstehen.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 311 Es ist zudem interessant, dass unter den Briefen, die meine Mutter sorgsam bewahrt hat, ein Entwurf einer Notiz liegt, die sie offenbar in einen Brief von Nadijka hinein-gelegt hat: Gemeinsam mit ihr [Nadijka] danke ich dir für die zwei Stunden unseres Gespräches. In einem halben Jahr werden wir wieder nach Herzenslust sprechen können …‹

An dieses Wiedersehen erinnert mich auch eine Stelle aus einem Brief an meine Verwandten: 4. Februar 1984: Es stellt sich heraus, dass ich mich bereits so gut auf meine siebenjährige Haft eingestellt habe, dass ich mich gar nicht daran erinnern kann, wann ich mir zum letzten Mal erlaubt habe, von schöner Kleidung und einem Silberlöffel zum Teeservice zu träumen. Als du, Nadijetschko, vor kurzen bei unserem Wiedersehen von Dingen sprachst, die du für mich gekauft hast, nahm ich das mit meinem Verstand auf, aber nicht mit meinem Herzen, denn in mir war ein Veto gegenüber solch sehr menschlichen Träumen.

Lagermedizin Für die erste ärztliche Hilfe stand den Häftlingen der Arzt in der Sanitätsstelle zur Verfügung. In den ersten Jahren meiner Haft war das der Lagerarzt Petrow, ein kleiner dicker Mann, der sich durch ein eigenartiges Verständnis von Humor auszeichnete. So etwa, als sich nach meinem Hungerstreik eine starke Parodontose zu zeigen begann. Er riet mir in der Sprechstunde: »Vitaminchen brauchen Sie. Sie sollten Erdbeeren essen.« Und schaute mich mit einem Lächeln voller Ironie an … Petrow lüftete einmal ungewollt den Vorhang zu seinem wahren Wesen. Es war an dem Tag, als wir aus der »Iswestija« (»Nachrichten«) erfuhren, dass unser Kollege Josef Mendelewytsch, der im Februar 1980 mit auf die Etappe genommen worden war, nicht nur aus der UdSSR ausgewiesen worden, sondern er auch noch zur Audienz beim damaligen Präsidenten der USA, Ronald Reagan, geladen worden war. Die sowjetische Presse äußere sich empört, er habe damit einen kriminellen Banditen willkommen geheißen. Wadym Arenberg, ein junger Leningrader Jude, in seiner Seele ganz erfüllt von dieser Neuigkeit über seinen Freund und Lehrer, ging zur Sprechstunde beim Arzt Petrow und teilte es auch ihm

312 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT mit. Er war völlig übergeschnappt von dieser Nachricht, dachte dann einen Augenblick nach und murmelte: »Nun, ich habe ihm damit nicht Schlechtes getan …« Ein solcher Satz ist Gold wert. Derselbe Mendelewytsch erwähnt in seinen Erinnerungen einen anderen glänzenden Satz, den er von Petrow gehört hatte: »Ich bin vor allem ein Tschekist und erst dann Arzt.«110 Ich nehme an, er sagte das mit einem Gefühl voller Stolz … Später wurde Ptschjelnikow Leiter der Sanitätsstelle. Es ist mir mit bestem Willen nicht möglich, ihn als Arzt zu bezeichnen, eher als einen Feldwebel des KGB. Auf ihn passt gut die russische Redensart: »Jung und frühreif«. Er hätte einen sicheren Platz auf der Anklagebank verdient, wenn sich diese Welt einmal dennoch aufraffen würde, ein Zweites Nürnberger Tribunal durchzuführen. Ptschjelnikow begriff wohl nicht, wie sehr in ihm das Feuer der Hölle loderte. Ein bezeichnender Fall ist Wiktor Njekipjelow. Dieser lag im Herbst 1981 bereits schwer krank im Krankenhaus des Lagers. Als ich ihn einmal besuchte, nahm ich mein kleines Kreuz ab, das ich auf meinem Körper trug, und schenkte es ihm. Wiktor legte es mit einem sehr bewegten Gefühl nieder, als ob er erneut getauft worden wäre. Ich erfuhr später, Ptschjelnikow sei zur Untersuchung gekommen und habe dieses Kreuz gesehen. Er wandte sich von ihm ab und rief: »Ich weigere mich, Sie zu behandeln, möge er Sie heilen!« Es ist schwer zu sagen, was mich an dieser Episode mehr beeindruckt: die völlige Unvereinbarkeit der Position dieses Doktors mit dem Eid des Hippokrates oder das eigenartige Eingeständnis, dass Gott dennoch existiert. Bei dieser Gelegenheit erwähne ich noch eine andere interessante Szene mit dem Kreuz, die im Manuskript der Erinnerungen von Norik Hryhorjan enthalten ist. Als er gemeinsam mit Freunden die Gebeine von Ischchan Mkrtschjan vom Kutschynoer Friedhof holte, sah er das Grab des ehemaligen DPNK (Diensthabender Offizier des Leiters der Kolonie) von unserer Zone, Major Dolmatow: Das war derselbe Dolmatow, der den Ments befahl, Kreuze von den Häftlingen wegzureißen, die unser Lagerbolschewist Hryscha Isajew angefertigt 110 Josef Mendelewytsch. Operation »Hochzeit« (http://jhist.org/zion/zion008_0 8.htm).

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 313 hatte. Er riss es mir persönlich mit Gewalt weg. Monsignore Swarinskas hatte diese Kreuze geweiht und darüber das Gebet gelesen.

In den Erinnerungen von Wasyl Owsijenko kommt noch ein anderer Arzt des Lagers 36 vor, der bereits nach mir dort zu arbeiten begann: Nach dem Tode von Stus kam an seine [Ptschjelnikows] Stelle der Arzt Hruschtschenko, der sich wie mir scheint, bemühte, unsere Lage zu erleichtern. Ich meine nämlich, dass er Mychajlo Horyn vor dem Tode rettete, denn er behandelte ihn ehrlich, Vielleicht war sein Wort, als es um die vorzeitige Freilassung von Horyn ging, von Bedeutung. Vielleicht hatte man nach Stus Tod beschlossen, unsere Vernichtung einzustellen.111

Über den Zustand der medizinischen Betreuung in Zone 36 mögen wieder einige Stimmen aus der Vergangenheit erzählen: 31. August [1978]: In die Zone kamen Vertreter des KGB aus Litauen und der Ukraine (aus dem Gebiet Iwano-Frankiwsk). Letztere hatten ein Gespräch mit Slobodjan, während dessen Kowtun erklärte: ›Wir werden euch behandeln, wenn ihr uns unterstützt.‹ [M. Slobodjan verlangte eine Operation seines Geschwürs im Zwölffingerdarm und der Mandeln.] (»Chronik der laufenden Ereignisse«, Ausgabe 51) 21. Juni [1981]. In Verbindung mit dem Tag der medizinischen Mitarbeiter schrieben Altunjan, Balachonow, Bohin, Donskoj, Jeltschyn, Sasimow, Lubman, Marynowytsch, Njekipjelow, Niitsoo, Ohorodnikow, Rudenko und O. Schewtschenko an verschiedene Staatsanwaltschaften Beschwerden über die medizinische Betreuung in Zone 36: über das systematische Fehlen am Arbeitsplatz durch Ptschjelnikow, den Leiter der Sanitätsstelle, zu dafür bestimmten Behandlungszeiten [es war damit für Häftlinge, die erkrankt waren, nicht möglich, noch vor der Arbeit in die Sprechstunde zu kommen]; über die schlechte Hygiene der Wäsche; über das Fehlen der dringendsten Medikamente in der Sanitätsstelle und der Apotheke in der Produktion; über die Weigerung der Verwaltung, Dissidenten zu hospitalisieren oder zur Untersuchung zu schicken als eine allgemeine Tendenz. (»Chronik der laufenden Ereignisse«, Ausgabe 64)

Es ist eindeutig ersichtlich: Die bloß gelegentliche medizinische Betreuung und die willkürliche Bestrafung war Norm jener Zeit. Sie fraß sich in die Struktur des Denkens der staatlichen Macht auf ihren verschiedenen Ebenen ein und war eigentlich strafbar. Die Lagerverwaltung glaubte offen, dass unsere ideologische

111 Wasyl Owsijenko. Das Licht der Menschen, Bd. 1, S.205.

314 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Nichtübereinstimmung mit der sowjetischen Matrix die gesetzliche Begründung sei, immer neue Verfahren einer Bestrafung zu erfinden. Das hat die Leitung geprägt. Diese Logik einer willkürlichen Rechtssprechung galt ebenso in der Ukraine in ihrer späteren Epoche unter Janukowytsch, der dieser Matrix entsprach. Die Bezeichnungen der Staaten hatten sich zwar verändert, ebenso die Farben der Flaggen, doch die Logik der alten Macht war immer noch dieselbe: Strafmedizin, strafende Unrecht-Gerichte … Diese völlige Perversion des Rechtsbewusstseins war also für unsere Aufseher wegleitend. Eigentlich war für das Gericht unsere Strafe bereits bestimmt: Freiheitsentzug. Alles andere: Mangelnde medizinische Betreuung oder die Verweigerung rechtzeitiger Hilfe, Hunger und Kälte, Einschränkung des Verkehrs mit den Verwandten – all das waren faktisch eine rechtlose Verfolgung, die in der Rechtssprechung nicht vorgesehen war und keiner zivilisierten internationalen Gesetzgebung entsprachen. Unsere Peiniger empfanden diese zusätzlichen Misshandlungen als absolut normal: »Ihr habt euch doch selbst außerhalb des Gesetzes gestellt, wozu appelliert ihr denn nun an das Gesetz?« Wie so oft hat sich dazu Jewhen Swerstjuk sehr genau geäußert: Für den Westen ist der Entzug der Freiheit die häufigste Strafe. In der Sowjetunion, in der das ganze Land der Freiheit entzogen war, wurde das Konzentrationslager als ein Mittel der Unterdrückung der einzelnen Menschen und zu ihrer Einschüchterung benutzt. Der raffinierte Bestrafer Major Fjodorow überlegte sich, wie er den Nerv eines Verurteilten, der nicht den Weg der Besserung gewählt hatte, treffen kann. Auch andere haben sich daran gestoßen, damit zu Miesmachern und Zuträgern werden zu müssen.112

Ebenso bedenklich war die Situation von Walerij Martschenko, dessen schweres Nierenleiden ohne eine Zuweisung zu einer entsprechenden Hilfe sich in ein ständiges Martyrium verwandelte, die nur durch seinen Tod ein Ende fand. Genauso wurde Oleksij Tychy in den Tod getrieben, nachdem die Durchführung einer Operation

112 Audioaufzeichnung von Wasyl Owsijenko v. 23.12.2012, die sich in seinem persönlichen Archiv befindet.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 315 hinausgezögert worden war. Über ihren Tod erhoben zumindest die Verwandten ihre Stimmen und die Presse vermeldete es. Walerij Martschenko hat offenbar sein Schicksal erahnt. In der Untersuchung zum Lager durch die Gruppe Orlow wird zudem eine ähnliche Situation mit Stepan Mamtschur beschrieben: Die Atmosphäre der Verstöße gegen das Recht und dessen Missbrauch, der in der Kolonie zur Besserung durch Arbeit herrscht, zeigt ihre Früchte. Sehr aufschlussreich ist in diesem Fall der Tod von Mamtschur. Nach einigen Aufforderungen kam zunächst ein Wächter zum kranken Häftling, dann der diensthabende Offizier der Leitung der Kolonie und schließlich der Sampolit. Es verging viel Zeit, bis die diensthabende Krankenschwester Kusnezowa gefunden wurde. Doch diese wusste nicht, was zu tun ist und fragte den Häftling Tscherkawsky, ob sie denn eine Magnesiumspritze geben sollte; dann kam schließlich T. A. Solomina, die Ärztin, die ihre Verpflichtung als Therapeutin tatsächlich erfüllte, aber nur die Fakultät für Gesundheitshygiene absolviert hatte. Als sie den katastrophalen Zustand von Mamtschur sah, konnte sie nur die Anweisung geben: sofort hospitalisieren. Aber der Kranke, der zuerst starke Kopfschmerzen hatte und bei dem anschließend Halluzinationen und Erbrechen einsetzten, fiel in Bewusstlosigkeit … Er bekam Krämpfe und sein Gesicht verzerrte sich. Mamtschur hatte mehrere Jahre Invalidität wegen Hypertonie hinter sich. Die offensichtlichen Symptome eines Schlaganfalls konnten im Verlauf von drei Stunden weder die Krankenschwester noch die Ärzte erkennen, bis schließlich der Internist Utyro zur Konsultation kam. Doch es wurde vor Ort keine erste und unaufschiebbare Hilfe geleistet. Die Obduktion ergab eine Gehirnblutung. Es ist angebracht, eine kurze Chronologie der Kontakte des Verstorbenen mit den Vertretern der Lagermedizin anzuführen. Die monatliche Diätverpflegung erhielt Mamtschur nicht öfter als zwei- bis dreimal im Jahr. Im Januar 1977 war er bereits in der Krankenstation. Während dreier Monate bis zu seinem eigentlichen Tod am 10. Mai 1977 bat er vergeblich um Diätverpflegung. Erst am Tag danach traf die Erlaubnis für eine solche Verpflegung ein.113

Hier die Todesfälle einer ganzen Reihe älterer Häftlinge, die 25 Jahre abbüßten: Meshals, Stroganow, Andrij Turyk, Sajhuschew, Kasatschenko. Die Ursache war zumeist die fehlende medizinische Hilfe und blieb praktisch unbemerkt. Es existiert vielleicht eine kurze Erwähnung in der »Chronik« des Lagers. Noch einige weitere Illustrationen aus dem Leben im Lager zu meiner Zeit, die sich durch einen besonderen Zynismus seitens des KGB und der Lagerverwaltung auszeichnete: Mykola Rudenko 113 »Über die Lage der Häftlinge in den Lagern der UdSSR«.

316 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT hatte einen beidseitigen irreparablen Leistenbruch, der von Zeit zu Zeit zu einer Einklemmung des Darms führte und ihn zu einer völlig invaliden Person machte. Es war die Folge einer Verwundung aus seinem Einsatz an der Front im Zweiten Weltkrieg. Man hatte ihm lebenslänglich der zweiten Stufe einer Invalidität zugeordnet, die ihn berechtigte, nicht arbeiten zu müssen. Dieses Recht galt auch für die Orte seines Freiheitsentzugs, da eine Verwundung an der Front unabhängig davon war, in welchem rechtlichen Status sich ein Mensch befand. Es gab auch gewisse Aber. Das Wichtigste war: Mykola Rudenko hatte nicht den Weg der Besserung eingeschlagen. Diese Tatsache befreite seine Peiniger von jedem moralischen Skrupel. Seine Verwundung an der Front gab unerschöpfliche Möglichkeiten, ihn ganz bewusst zu misshandeln. Rudenko konnte nicht lange auf einem Stuhl sitzen und musste sich nach einigen Schritten bereits wieder hinlegen. Er tat das auch im Gefängnis, wo es statt eines Stuhls einen Untersatz aus Stein gab, auf dem keiner lange sitzen konnte. Oles Schewtschenko erinnert sich daran: Sitzen tut schrecklich weh. Das liegt daran, dass die Muskeln nicht mehr vorhanden sind, du mit den Därmen auf diesem Rundling sitzt und es keine Rückenlehne gibt, gar nichts. Du sitzt auf dem Rundling mit dem Gesäß als Stütze. Das drückt dich sehr.114

Da tagsüber die Pritschen hochgeklappt waren, musste sich Rudenko, ob er wollte oder nicht, auf den kalten Fußboden legen. Der Aufseher hat es schließlich bemerkt. Die Futterluke ging auf und auf Mykola Danylowytsch kam die nächste Strafe wegen eines Verstoßes gegen das Regime: Das Liegen während der Tageszeit stand den Gefangenen nicht zu. Wir, Rudenkos Mithäftlinge, verteidigten ihn selbstverständlich. Besonders wichtig war uns, dass der Grund für seine Misshandlung eine Verwundung von der Front war, die der Schriftsteller erlitten hatte, als er das sowjetische Vaterland verteidigt hatte. Ich erinnere mich: In meinen Eingaben äußerte ich mich ständig,

114 Oles Jewgenowytsch Schewtschenko. Interview (http://archive.khpg.org/ind ex.php?id=1362779377).

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 317 dass im Fall Rudenkos die Breschnew’sche Propagandaformel »Niemand wird vergessen, nichts wird vergessen« nicht zutraf oder genauer gesagt, einen anderen, völlig zynischen Inhalt bekam. Rudenko bereute nicht und schrieb neue Gedichte, die im Westen erschienen. Unterdessen war bereits ein Gedicht aus dem Lager veröffentlicht worden und das verärgerte den KGB sehr. Die Ehefrau des Schriftstellers, Raisa Panasiwna, wurde verhaftet. Sie tat lediglich das, was von der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte garantiert war.115 Sie verbreitete die Gedanken ihres Mannes unabhängig von den Grenzen eines Staates. Die Logik der Bestrafung galt vor dem gesunden Menschenverstand. Am 2. März 1982 wurde dem Schriftsteller die Zuordnung zur Zweiten Klasse der Invalidität aufgehoben, als wäre die dauerhafte Verwundung von der Front plötzlich wunderbar verheilt. Er wurde nun der Dritten Klasse zugeteilt, d. h., er war nun verpflichtet, täglich acht Stunden zu arbeiten. Es war schlicht nur Rache, für die es keine moralische Rechtfertigung gab, selbst nicht aus der Sicht des sowjetischen Wertesystems. Das erinnerte daran, was zwei Jahrzehnte zuvor Patriarch Jossyf durchlebte: »Wenn in den sowjetischen Zeitungen Artikel gegen mich erschienen, wurden die Repressionen unerträglich und alle machten mir Angst wie ein verzehrendes Feuer.«116 Nun begann die Periode unendlicher Strafen für Rudenko wegen Nichterfüllung der Norm. Sein Schmerz im Rückgrat ermöglichte es nicht, ununterbrochen zu arbeiten, und ebenso wurde sein Versuch, sich hinzulegen, als »unangemessen« bestraft. Die Lagermedizin war ein Instrument bekannter Qualen, die die staatliche Macht ihrem ehemaligen Beschützer auferlegte. Es war kein Einzelfall. Davon zeugt eine Information aus dem Lager von Walerij Martschenko aus den Untersuchungen der Gruppe Orlow:

115 Artikel 19: »Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit der Überzeugungen und auf ihre freie Äußerung; dieses Recht umfasst die Freiheit, ungehindert seine Überzeugungen zu vertreten und die Freiheit, Informationen und Gedanken mit beliebigen Mittel zu suchen, zu erhalten und zu verbreiten, unabhängig von staatlichen Grenzen.« 116 Jossyf Slipyj. Erinnerungen, S.187.

318 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Invalidität war allgemein anerkannt, aber viele wurden ihrer Zuordnung in die Zweite Klasse beraubt, die sie berechtigte zu arbeiten, falls sie es wünschten. Dies traf zu auf: I. Switlytschny, W. Pidhorodezky, H. Himpu und W. Filonenko. Die Gesetzwidrigkeit dieser Entscheide war offenkundig, da Switlytschny acht Finger an seinen Händen fehlten. Ebenso traf es bei Pidhorodezky zu, da sein Buckel nicht einfach wegging. Himpus Magen wurde nicht operiert und bei Filonenko schritt seine starke Erkrankung des Knochenmarkes (Thrombozytopenie) weiter voran. Als Letzterer in die Zweite Klasse aufgenommen wurde, wurden trotzdem Blutprobenwerte in die Krankenakte eingetragen, die im Verlauf vieler Jahre der Behandlung bei der Messung in der Apotheke nicht beobachtet worden waren. Die Fälschung der Ergebnisse der Proben, d. h. ihr geschönter Eintrag, ist eine verbreitete Erscheinung im Zentralen Krankenhaus der Kolonien zur Besserung durch Arbeit auch in den Sanitätsstellen der Zonen 35, 36 und 37. So wurden etwa Angaben, die nicht der Wahrheit entsprachen, in die Krankheitsgeschichte von Martschenko eingetragen. Die Ergebnisse der Analyse, die im Kyjiwer Institut für Nierenerkrankungen noch vor seiner Verhaftung durchgeführt worden waren, unterscheiden sich auffallend von jenen, die im Untersuchungsgefängnis während seines Aufenthaltes vom KGB nachprophylaktischen Gesprächen vorgenommen wurden.117

Ein weiteres Beispiel der Strafmedizin ist die Krankheitsgeschichte von Wiktor Njekipjelow. Hier eine gekürzte Darstellung ihres Verlaufs (alles Mitteilungen aus der »Chronik der laufenden Ereignisse«, Ausgabe 63): Am 17. September [1981] brachte man Njekipjelow wegen starken Schmerzen im Bereich der Nieren und Harnröhre in der Sanitätsstelle unter. Dort erwies man ihm keine medizinische Hilfe und stellte keine Diagnose. Seine nächtlichen Rufe nach dem Arzt wurden Njekipjelow zur Last gelegt. Nur schon, um ihm eine schmerzstillende Spritze zu geben, mussten die Häftlinge in der Zone einige Male der Verwaltung mit der Möglichkeit eines Streiks drohen. Njekipjelows Zustand verschlechterte sich die ganze Zeit, aber die Ärzte nahmen nicht einmal eine Expressanalyse seines Urins vor. 25. September: Streik ausgerufen mit der Forderung, einen Facharzt der Urologie zu schicken. Daran beteiligten sich: Alijew, Altunjan, Bernytschuk, Bohin, Hryhorjan, Sahirnjak, Sasimow, Marynowytsch, Ohorodnikow, Safronow, Rudenko, Niitsoo, Osipow, Terljazkas, Ju. Fjodorow, O. Schewtschenko. Am gleichen Tag wurden im Gefängnis für fünfzehn Tage eingesperrt: Altunjan, Rudenko, Fjodorow. 26. September: Im Gefängnis eingesperrt – Bernytschuk sieben Tage, Marynowytsch zehn Tage, Niitsoo sieben Tage. 27. September: Da aus dem Ort kein Arzt anwesend war, als sich Njekipjelows Erkrankung kritisch zuspitzte, wurden Hungerstreiks ausgerufen

117 »Über die Lage der Häftlinge in den Lagern der UdSSR«.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 319 (es waren dieselben Beteiligten, ausgenommen jener, die bereits im Gefängnis saßen). Eingesperrt im Gefängnis: Safronow für fünf Tage. 29. September: Eingesperrt für zehn Tage im Gefängnis – Ohorodnikow und Schewtschenko. Am gleichen Tag wurde der Hungerstreik später beendet (Ohorodnikow setzte ihn bis zum 1. Oktober fort). Nach einem Gespräch mit der Verwaltung beendete Sasimow den Hungerstreik und nahm die Arbeit wieder auf. 30. September: Es kam ein Urologe. Njekipjelow wurde die Diagnose gestellt und Hilfe erwiesen. 1. Oktober: In diesem Zusammenhang wurde der Streik beendet. 9. Oktober: Altunjan für vier Monate im Kerker (PKT) eingesperrt, Rudenko für sechs Monate [als Organisatoren des Streiks].

Wie viel Schweiß und Blut wurden aufgebracht, um das Elementare zu erreichen, einen Arzt im dringenden Fall zu den Kranken rufen zu können! (Übrigens war das der Beginn seiner Krankheit, die diesen glänzenden russischen Dichter nach einigen Jahren ins Grab brachte.) Der Kampf um eine gebührende medizinische Betreuung geschah zumeist an den Orten des Freiheitsentzuges. Die politischen Häftlinge führten ihn ständig, doch es war eine hoffnungslose Sache. Wie aus der »Chronik der laufenden Ereignisse« ersichtlich wird, gewann man den Zweikampf mit der Macht nur um den Preis außergewöhnlicher Beharrlichkeit und der solidarischen Unterstützung aller aktiven politischen Häftlinge. Während meiner Haft gab es nur einen Fall, der aber nur zum Teil offiziell als berechtige Forderung anerkannt wurde: 19. Juli 1982: Wegen Beschwerden der Häftlinge über schlechte medizinische Betreuung, gerichtet an die Staatsanwaltschaft, kam eine Kommission aus der medizinischen Abteilung der Verwaltung der Kolonie zur Besserung durch Arbeit in der Zusammensetzung mit Hryhorjew, dem Inspektor der Abteilung, und Holubowa, dem Inspektor für die Lagerversorgung. Zur Beantwortung der Eingabe rief Hryhorjew die Häftlinge Altunjan, Balachonow, Marynowytsch und Ohorodnikow zu sich. Er erfuhr die Fakten über die häufige Abwesenheit des Arztes Ptschjelnikow und über die unvollständige Bestückung der Verbandskästen in der Produktion und auch der unbefriedigenden Qualität der Hygiene der Wäsche. Er versicherte, dass es keine solcher Fälle mehr geben wird und dass die Kranken nicht früh zur Arbeit geschickt werden; und dass jene, die eine Diätverpflegung benötigen, diese auch erhalten. Holubowa bestätigte aber, dass die Versorgung der Sanitätsstelle mit Medikamenten gut organisiert wäre. (»Chronik der laufenden Ereignisse«, Ausgabe 65)

320 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Die Häftlinge erreichten auch, dass ein Zahnarzt kam. Durch die Zusammensetzung des Essens und dem Vitaminmangel litten besonders die Zähne, deshalb war es ohne Hilfe von Zahnärzten einfach nicht möglich, auszukommen. Für Wiktor Njekipjelow endete die ärztliche Hilfe mit neuen Problemen: Am 19. Juli kam aus Perm ebenfalls eine Zahnärztin. Sie behandelte kranke Häftlinge vier Tage und versorgte 30 bis 35 Personen. Es wurde erklärt, dass demnächst ebenfalls ein Zahntechniker kommt … Der eingetroffene Stomatologe öffnete Wiktor Njekipjelow den kranken Zahn, nahm die defekte Prothese zur Reparatur mit und versprach, am nächsten Tag die Plombe einzusetzen und in einem Monat die Prothese zu bringen, aber ließ sich seither nicht mehr blicken. (»Chronik der laufenden Ereignisse«, Ausgabe 65)

Über dieselbe Praxis schrieb ich in meinem Brief an die Verwandten: 21. Juni 1982: Mit den Zähnen ist es wahrlich eine schlimme Sache. Das nächste Opfer für Karies ist ein kleines Loch. Es tut hin und wieder weh. Vor einigen Tagen verweigerte ich die Behandlung. Das liegt daran, dass der Arzt bloß Arsen hineinlegt und dann wegfährt: Man muss es selbst herausnehmen, Watte in das Loch stecken und einige Monate bis zur nächsten Sprechstunde warten. Genauso hätte man den Zahn sofort ziehen können, was ich in Zukunft auch machen lassen muss. Wenn man zieht, gibt man eine Spritze, seid also nicht beunruhigt.

Es traf zu, was aus weiteren Briefen ersichtlich wird, dass unser oben erwähnter Aufruhr auch gewisse Zugeständnisse brachte, wobei es in meinem Fall im Unterschied zu Wiktor Njekipjelow (der offensichtlich für die Anstiftung eines Aufruhrs bestraft wurde), alles glücklich verlief: 21. Juli 1982: Die Umstände ändern sich, die Stimmung wird jeden Tag trauriger … Es gibt in der Tat einen hellen Fleck: In diesen Tagen arbeitet ein Zahnarzt, man behandelte zwei Zähne und setzte Kunststoffplomben ein. Zum ersten Mal sehe ich hier einen guten Spezialisten. Er heilt, ohne dass es bemerkt wird und er erzeugt eine solche vertrauensvolle Atmosphäre, dass man vergisst, auf welchem schrecklichen Stuhl man sitzt. Nun ist für meine Zähne eine Zeit lang gut gesorgt, macht euch also auch keine Sorgen.

Da ich persönlich nie im für die drei Lager zuständigen zentralen Krankenhaus WS-389 war, verweise ich die Leser auf die erwähnte Untersuchung von Walerij Martschenko von der Gruppe Orlow

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 321 »Über die Lage der Häftlinge in den Lagern der UdSSR«. So können sie die genaue Situation ebenfalls erfahren. In den zensierten Briefen an unsere Verwandten schrieben wir meistens nur sehr vorsichtig über die Probleme mit der medizinischen Versorgung: Erstens, damit die Briefe nicht konfisziert wurden; dann auch, weil jede Erwähnung an eine Prüfung auch so bei unseren Verwandten einen Sturm der Entrüstung hervorrief. Deshalb versuchte ich, wenn ich über irgendwelche Wehwehchen schrieb, es mit einem Scherz zu verbinden. Ich fand in meinen Briefen jener Zeit an meine Mutter und meine Schwester Nadijka scherzhafte Berichte über meine Begegnung mit dem Zahnarzt: 12. Dezember 1978: Dieser Tage begannen die Zähne zu heilen, ich werde der Ärztin noch viele meiner zauberhaften Lächeln schenken. Interessant war der Beginn unseres Gesprächs: ›Entschuldigen Sie bitte, ich habe gerade Knoblauch gegessen.‹ ›Ich rieche es aus fünf Meter Entfernung …‹ 7. August 1983: Da jedes ordentliche Alter zahnlos sein muss, sah ich es als meine Pflicht an, noch einen Zahn ziehen zu lassen. Schließlich kam der Zahnarzt, kitzelte meine Seele mit dem auf dieser Welt schönsten Geräusch der Bohrmaschine und ich wurde erneut um eine Plombe reicher. Ich war zu meinem Glück erstaunt, dass ich während der Säuberung des Kanals wenig Schmerzen hatte, und bat, zu kontrollieren, ob eventuell der Hauptschmerz von einem anderen Zahn ausgeht. Einen Augenblick und euer Söhnchen fliegt gemeinsam mit seinem Bruder und seiner winselnden Seele dorthin, wo es aus Gottes Sicht gar nicht göttlich aussieht. So verlor ich meinen letzten Weisheitszahn. Nun habe die bescheidene Hoffnung, von nun an wird mir meine Weisheit nur noch Freude bereiten.

Es ist verständlich, dass ich nicht nur Probleme mit meinen Zähnen hatte. Ab und zu fanden auch andere saisonal bedingte Krankheiten den Weg zu mir. Ich versuche mich ebenfalls im scherzhaften Stil in meinen Briefen daran zu erinnern: 22. Mai 1983: Der Vorfrühling ist gekommen, jene Jahreszeit, für welche die beste Musik neben dem Gesang der Vögel das Husten und Niesen des Homo sapiens ist. Auch in diesem Jahr ging es nicht ohne das entsprechende Konzert. Mein Näschen begrüßte diesen Frühling als eines der ersten mit unaufhaltsamen Strömen. Genau zu Ostern begann es zu fließen. Ihr könnt euch gut vorstellen, welcher Zorn mich ergriff. Gegenwärtig gehe ich mit angeschwollener kranker Nase herum. Wenn ich mich rasiere, drehe ich den Spiegel so, dass meine Augen meine Knolle nicht sehen.

322 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Mitunter war mir überhaupt nicht zum Scherzen. Dann wurde meine Wortwahl düster. So geschah es im Fall meiner Depression im Sommer 1981. Was genau die Ursache war, weiß ich nicht. Ich schließe nicht aus, dass es mit einer weltanschaulichen Krise verbunden war. Oder einfach, wie der Apostel Petrus es sagen musste: »Ich höre auf, daran zu glauben, über Wasser gehen zu können …« Zu diesem Schluss komme ich mit der nachstehend angeführten Folge von Zitaten als Schluss dieses Abschnittes: 14. August 1981: Die ganze Sache [betreffs der Verzögerung meiner Briefe] liegt an meinem völlig schlechten Befinden. Es zeigte sich zuerst in düsterem Humor und in meiner Anspannung. Später wurde es zu einer immer tieferen Depression, die sich in unkontrollierten emotionalen Ausbrüchen zeigte. Meine Kräfte reichen zuletzt nicht mehr. Ich wandte mich an den Arzt und bekomme jetzt Beruhigungsspritzen. Es ist schwer, meinen Zustand klar zu umreißen; offenbar ist das wie eine Neurose: Die Minus häuften sich schon über mehrere Monate an. Meine Nerven rissen immer mehr. Die Zahl dieser kleinen Fäden ist nicht unbegrenzt … Ein trüber Schleier deckt mich vor euch und auch vor mich selbst zu. Deshalb gab es nur sehr wenig Briefe in dieser Zeit. Von den schlechten Vorahnungen, die ich hatte, will ich nicht reden. Es versteht sich von selbst: Mit jedem meiner Nerven spüre ich irgendein mir drohendes Unglück, doch woher das kommt und wo es bei mir einschlägt, es zu enträtseln, fehlt mir die Kraft. 28. August 1981: Ich bin scheinbar etwas gesundet, zumindest ist die Krise, so glaube ich, nun vorbei. Aber es flackert immer noch ab und zu in mir, obwohl tief in mir ein Fünkchen Lachen geboren wurde. Ich sehe schrecklich komisch aus, wenn ich so mir nichts, dir nichts beginne, mit meinen Händen herumzufuchteln – impulsiv, unkontrolliert! – und wenn ich unvorstellbare Torheiten vor mich hin stammle. Kurzum: Es ist ein halbes Königreich für gute Nerven! 20. September 1981: Die Leute sagen, ich sei etwas dünner geworden, dafür nicht mehr so angeschwollen wie zuvor … Meine Stimmung ist etwas ausgeglichener, in den vergangenen Tagen sogar sehr gut … Sorgt euch also nicht um mich, ich kehre allmählich in meinen alten Trott zurück. Etwas Vogelhaftes erschien in mir, das hoch über die Wolken zog, etwa wie Sisyphos, als ihm der Stein wieder aus den Händen glitt und nach unten donnerte.

Umerziehung durch Zwangsarbeit Die Arbeit im Lager war gemäß ihrer Definition Pflicht und Zwang. Die Arbeitswoche dauerte sechs Tage, der Arbeitstag acht Stunden. Entsprechend der offiziellen ideologischen Logik sollte sie diese »Nichtsnutze und böswilligen Verleumder« umerziehen. In den

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 323 Händen unserer Bestrafer, alles erfahrene Meister ihres Fachs, wurde die Arbeit einfach nur zu einem weiteren Instrument unserer Bestrafung.118 Gemäß der Norm des Gesetzes wurden 50 % des Verdienstes eines Häftlings zugunsten des Staates abgezogen (konkret auf das Konto des Ministeriums für Innere Angelegenheiten). Die andere Hälfte des Verdienstes, nach allen Steuerzahlungen, rechnete man dem persönlichen Konto des Häftlings an. Theoretisch. Wenn aber gemäß Gerichtsurteil der Verurteilte die Gerichtskosten begleichen musste, wurde das automatisch von der zweiten Hälfte des verdienten Geldes abgezogen, sodass auf dem persönlichen Konto des Häftlings nichts ankam. In meinem Fall wurde der Betrag der Gerichtskosten zweimal eingezogen: bei mir im Lager und bei den Mitgliedern meiner Familie. Wie mein Briefwechsel bestätigt, wurde das Geld erst nach einer überaus langen Verschleppung rückerstattet. Vom Betrag, der auf dem Konto eines Häftlings war, konnte er für einen Betrag von maximal 5 Rubel im Monat (im besonderen Vollzug 4 Rubel und während einer Gefängnisstrafe 2 Rubel) Lebensmittel und seine Ausgaben für den Kauf von Büchern über das Netz »Buch per Post« und die Vorausbezahlung der Periodika über das Netz »Sojusdruk« (»Presseerzeugnisse der Sowjetunion«) bezahlen. Ein Epos für sich waren die Arbeitsnormen in der Lagerarbeit. Die bösartige Nichterfüllung der Arbeitsnorm war ein wichtiger Paragraf der Bestrafung jener Häftlinge, die nicht den Weg der Besserung eingeschlagen hatten. Die »Chronik« strotzt buchstäblich vor Mitteilungen über Strafen wegen des Verstoßes gegen das Regime, denn die Lagerverwaltung unternahm alle Anstrengungen, damit diese Normen nach Möglichkeit unerfüllbar waren. Diese wurden ohne jede Verbesserung des Arbeitsprozesses erhöht und die Lohnansätze ebenso willkürlich herabgesetzt. Hier nur einige Illustrationen aus Ausgabe 51 der »Chronik« über die unablässige

118 Etwas mehr über die »Philosophie« der Zwangsarbeit findet sich in: »Über die Lage der Häftlinge in den Lagern der UdSSR«.

324 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Erhöhung der Normen und entsprechend dem unnachlässigen Kampf der Häftlinge mit dieser Willkür der Verwaltung: Die Arbeitsnorm im Lager wächst stürmisch. So wurde ab dem 1. Dezember 1977 die Arbeitsnorm für Dreher um 45 % erhöht und für die Heizer um 100 % … I. Ohurzow weigerte sich, die seine Kräfte übersteigenden 200 % der Norm zu erfüllen, wofür er am 16. Dezember ins Gefängnis eingesperrt wurde. [Aus der Erklärung von Mychajlo Slobodjan] Am 10. März d. J. wurde ich, ein Kranker, für zwei Tage in den Karzer eingesperrt, weil ich wegen meines gesundheitlichen Zustands die Arbeitsnorm nicht erfüllen konnte und medizinische Hilfe wegen meines Geschwürs und meiner Mandeln verlangte … Man nimmt mir auch den Laden. In der Winterzeit sind in den Baracken 8–9 Grad statt 18 … In der Werkhalle ging im Winter die Temperatur auf 0 Grad zurück, das Wasser gefror. Bei einer solchen Temperatur musste man 8 Stunden arbeiten und bei der Montage von Tafeln sitzen. Warme Kleidung (Filzstiefel und Wattejacken) wird nicht herausgegeben. Wer sich welche besorgt, den sperrt die Verwaltung in den Karzer.

Die Erfüllung der Norm war ebenfalls ein Feld, auf dem die Solidarität unter den Häftlingen wirkte. Unter den Häftlingen fanden sich immer junge und geschickte Leute, denen es gelang, die Norm schneller zu erfüllen als vorgegeben. Dann konnten sie bei Bedarf jemand anderem helfen. Das rettete natürlich die, denen eine Strafe drohte, und war besonders wichtig, wenn die Zeit eines persönlichen Wiedersehens mit den Verwandten nahte. Gleichzeitig stellte es sie vor ein schwieriges moralisches Problem. Die harte Arbeit unter den Bedingungen einer kalorienarmen Ernährung war der direkte Weg zu einer physischen Auszehrung, da die Möglichkeit, sich etwas ausruhen zu können, unschätzbar wertvoll war. Indem sie Solidarität mit dir zeigten, brachten sich deine Freunde um die Möglichkeit, sich selbst zu erholen. Die Erfüllung der Norm bedeutete überhaupt nicht, dass sich der Häftling rechtmäßig erholen konnte. Die »Chronik« hat interessante Illustrationen dieser paradoxen Situation bewahrt: 23. Februar 1979: Protokolle über Kowaljow und Marynowytsch erstellt wegen Abwesenheit am Arbeitsplatz im Verlauf von 21 Minuten (an einem Tag, an dem beide die Norm übererfüllten). (»Chronik der laufenden Ereignisse«, Ausgabe 52) 18. Juli 1981: Oberstleutnant Fjodorow kam einige Minuten vor dem Abzug von der Arbeit und sprach Marynowytsch einen Verweis aus, da dieser

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 325 bereits seine Arbeit beendet hatte, weil er seine Tagesnorm erfüllt hatte. (»Chronik der laufenden Ereignisse«, Ausgabe 63)

Die Arbeitszone im Lager Nr. 36 befand sich in drei Baracken, in denen die Arbeitshallen untergebracht waren und dem Sägegatter, das am weitesten entfernt in der Zone lag. In den Jahren meiner Haft musste ich in all diesen Abteilungen arbeiten. Zuerst geschah es als Dreher. Ich musste aus einem langen metallischen Rohteil Werkstücke mit einer bestimmten Abmessung und Form produzieren. Alles wäre so in Ordnung gewesen, hätte nicht der Rohling aus zwei zusammengeschweißten Metallstücken verschiedener Härte bestanden; d. h., an der Schweißstelle gab es eine Naht, an der mein Drehmeißel zerbrechen konnte. Diese Naht war es auch, die ich ständig verfluchte. (Erst Ende 1983 wurden bessere Drehmeißel geliefert.) Es ist nicht erstaunlich, dass ich mich nicht erinnern kann, wer in der Dreherei mein Lehrer war: Vielleicht war es Ihor Kalynez oder Wulf Salmanson. Ich erinnere mich wohl deshalb nicht, da damals meine ganze Aufmerksamkeit dieser verfluchten Schweißnaht galt. Ich erfüllte meistens die Norm, wenn auch mit großer Anstrengung (später wurde die Norm dazu noch erhöht). Interessant ist, dass in meiner Erinnerung an die Drehbank einige ungewöhnliche Assoziationen auftauchten. Im Jahr 1978 zeigte sich bei mir erstmals ein gefährliches Syndrom: Ich wurde ab und zu bewusstlos. Das geschah völlig unvorhersehbar, doch zu meinem Glück nicht häufig, nur einmal im Monat oder alle zwei Monate. Wenn es geschah, war es wichtig, dass ich die ersten Anzeichen wahrnahm, rechtzeitig die Drehbank anhielt und mich hinsetzte. Mein Rohling rotierte mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit weiter und ringsherum lagen Metallgegenstände und scharfe Kanten. Wäre ich umgefallen, hätte ich nicht mehr aufstehen können. Doch Gott war mit mir großzügig. Ich kann mich auch erinnern, wie ich danach allmählich wieder mein Bewusstsein in Anwesenheit eines Gefangenen fand. Zweitens erinnere ich mich an einen merkwürdigen Konflikt, der zwischen Henrich Altunjan und allen anderen politischen Häftlingen entstanden war. Henrich war ein gottbegnadeter Ingenieur;

326 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT er hatte goldene Hände und litt buchstäblich, wenn eine Werkbank defekt war. Diese Tatsache empfand er als Herausforderung. Er geriet in einen Zustand großer nervlicher Anspannung und beruhigte sich erst, wenn er die Werkbank repariert hatte. Das führte offenbar zu einer Kollision mit unseren Interessen. Für uns war der Defekt einer Werkbank die Chance, völlig legitim ausruhen zu können. Wir versuchten nicht nur einmal, Henrich davon zu überzeugen, denn das war eine vergebliche Sache. Es war keine böse Absicht. Für uns war es auch keine Kriecherei. Wir waren überzeugt, dass er es einfach nicht aushielt, wenn etwas in seiner Gegenwart nicht funktionierte. Als Drittes erinnere ich mich, wie ich mir bei meiner Arbeit den Text für unser Gratulationstelegramm an die Adresse der polnischen Solidarność überlegt habe, über die damals auf der ganzen Welt gesprochen wurde. Wir waren sehr bewegt von ihrem faszinierenden Kampf und versuchten deshalb, unseren Gesinnungsgenossen unsere Unterstützung und Solidarität zu zeigen. Bis heute weiß ich nicht, ob das Telegramm in die Hände der polnischen Streikenden gelangte, doch im himmlischen Register ist es ganz bestimmt erfasst. Ich wurde mehrmals als Dreher eingesetzt. Ende April 1983 bestand ich sogar die Prüfung als Dreher der II. Qualifikationsstufe. (Allerdings bekam ich dafür kein Zeugnis.) Die Arbeit wurde als schwer eingestuft und berechtigte zum Kauf von Lebensmitteln für zusätzliche 4 Rubel und für den Bezug von Milch. Diese Vergünstigungen wurden aber ab März 1982 gestrichen. Offenbar war aus Sicht der sowjetischen Gesetzgebung unsere Arbeit als Dreher leichter geworden … Nach meinem ersten Einsatz in der Dreherei kam ich in die Sägerei. Die Aufgabe war es einfach, einen Baumstamm in Bretter zu zersägen, doch sie erforderte alle Kräfte. Ich arbeitete dort nur kurze Zeit, obwohl ich in meinem letzten Winter im Lager darum bat. Hier meine besondere Motivation: 8. Januar 1984: Bin lebendig und gesund und habe vor, noch gesünder zu werden, denn ich habe meinen Arbeitsplatz gewechselt. Ich wollte an das Sägegatter, an die frische Luft und zum Geruch des Holzes. Und siehe da … Seit dem 5. Januar habe ich mit frisch riechendem Holz zu tun … Wer weiß,

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 327 vielleicht ist mir die Kenntnis des Sägegatters eine Hilfe in meiner Verbannung.

Später musste ich bei der Montage verschiedener Teile für elektrische Bügeleisen arbeiten. Es gab zwei Arten einer solchen Montage. Eine davon war bei allen verhasst. Eine Notiz in der Ausgabe 54 der »Chronik« hilft mir, sie zu beschreiben: Im Herbst wurde eine Reihe von Häftlingen auf eine neue Arbeit in der Montageabteilung im Lager vorbereitet. Es ging um Teile für ein elektrisches Bügeleisen. Bei der Montage mussten wir mit einem halb automatischen Schraubendreher 3 oder 4 Dreimillimeterschrauben hineindrehen und dann an zwei Stellen zusätzlich noch die Leitungsschnur befestigen. Anschließend musste die Schnur noch zusammengerollt werden. Für diesen Schritt war die Norm 700 Teile. Keiner der Gefangenen konnte sie erfüllen. Das höchste Ergebnis überschritt keine 400 Teile. Der Arbeitstag der Invaliden der Zweiten Klasse war halb so lang und ihre Norm ebenfalls die Hälfte. Um ihre Norm zu erfüllen, musste man nach dem Mittagessen weiterarbeiten. Die Verwaltung versuchte, uns Häftlinge zur Erfüllung der Norm zu zwingen. Sie berief sich dabei darauf, dass sogar die Invaliden ihre Norm erfüllten. Auf Bitte der Verwaltung kamen schließlich einige Mitarbeiterinnen ins Lager, die diesen Arbeitsschritt in einem freien Betrieb ausgeführt hatten und die die Tagesnorm auch erfüllen konnten. Die Häftlinge bewerteten die Umstellung auf eine neue Produktion als Bestrafung, da sie gewisse Fertigkeiten und große Geschicklichkeit erforderten. In der vorherigen Produktion hatten sie die Fertigkeit erworben und ihre Norm erfüllt. Doch jene Häftlinge, die von ihrem alten Arbeitsplatz in die neue Produktion versetzt wurden, konnten sich die neue Fertigkeit zu wenig aneignen und die Norm nicht mehr erfüllen … Dieser Wechsel von Stroznew war absichtlich und bedingt durch seine hartnäckige Weigerung, ein Begnadigungsgesuch zu schreiben.

Eine andere Art der Montage von Teilen für die Bügeleisen bestand darin, mehrere Trägerteile auf einer speziellen Werkbank auf eine Platte zu montieren und anschließend mit dem Fuß eine Presse zu betätigen, die alles zu einem Ganzen zusammenfügte. Die Norm, die zu erfüllen war, war ebenfalls hoch, doch diese Arbeit hatte einen Vorteil: Nach dem Erlangen einer gewissen Fertigkeit konnten unsere Hände völlig automatisch arbeiten, wohingegen der Kopf als Hauptquelle antisowjetischer Ideen frei blieb. Als ich diese Teile für die Bügeleisen montierte und auf einer Trägerplatte

328 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT zusammenfügte, dachte ich gründlich über meinen ersten Lageressay nach, von dem später die Rede sein wird. Neben diesen von mir erwähnten festen Arbeiten, fielen mir gelegentlich noch andere zu. Eine davon erwähnt die »Chronik« (Ausgabe 51): Am 12. September 1978 bekamen Hryhorjan und Marynowytsch eine Verwarnung, weil sie sich geweigert hatten, eine Grube auszuheben, in der bereits ein hoher Grundwasserstand war. Doch es regnete heftig.

Als ich dies las, erinnerte ich mich sofort an die völlig absurde Situation, die keinen praktischen Sinn hatte, weil das Wasser sofort den Graben auffüllte und überfloss. In den Augen der Verwaltung machte das aber einen großen Sinn, denn infolge unserer Umerziehung durch Arbeit erhielten wir damit die Chance, normale Sowjetmenschen zu werden. Unter den Arbeiten, die den Häftlingen angeboten wurden, waren auch solche, die politische Häftlinge nicht tun durften oder sogar für interne Häftlinge verboten waren. So sollte etwa ein politischer Häftling nicht als Lagerkünstler eingesetzt werden, d. h. keine sowjetischen Symbole und ideologischen Losungen malen. Es gab auch das ungeschriebene Tabu für jede Arbeit, die mit Stacheldraht verbunden war und für Arbeit im sogenannten »Todesstreifen«, dem Teil des Lagers, der sich zwischen den Reihen aus Stacheldraht befand. (Gemäß Gesetz konnte der Wachposten ohne Vorwarnung ein Häftling im Todesstreifen erschießen.) Man konnte dort nur unter der Bedingung arbeiten, wenn er ein besonderes Vertrauen von Seiten der Verwaltung genoss, wahrscheinlich wegen seiner Zusammenarbeit. Mit diesem Tabu ist auch die Geschichte einer meiner Schwächen verbunden, die wohl meine einzige ernsthafte moralische Niederlage in der ganzen Zeit meiner Haft war. Es geschah im Herbst 1982. Bei Oles Schewtschenko meldeten sich Schmerzen in seiner Hand. Um sie zu schonen, zog er einen Buschlat an, als wir noch nicht das Recht hatten, ihn zu tragen. Oles wurde ein bis zweimal verwarnt. Dann wurde seine Jacke mit Gewalt ausgezogen, als er allein war. Er kam ganz erregt zu uns, da seine Hand erneut verletzt worden war und bat um unsere Unterstützung. Es war klar: Wir

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 329 stellten als Zeichen unserer Solidarität mit Oles unsere Arbeit ein und begannen, eine Bestrafung des Schuldigen wegen Anwendung physischer Gewalt zu fordern. Ich war aber nicht ganz überzeugt, dass Oles zu hundert Prozent in dieser Konfliktsituation recht hatte. Es erschien mir, er war übermäßig erregt und ging bewusst das Risiko eines Konflikts ein, was mir nicht besonders gefiel. Es war aber unmöglich, seinen Protest nicht zu unterstützen. Deshalb verließ auch ich die Arbeit. Schließlich sind die meisten der Streikenden im Gefängnis gelandet. Wir saßen die ersten 15 Tage ab, dann noch einmal und schließlich ein drittes und viertes Mal, indem wir stets die Arbeit verweigerten. Meine Stimmung war dabei nicht die beste und damals spürte ich zum ersten Mal, wie ein Mensch geistig schwächer wird, wenn er an der moralischen Rechtfertigung seiner Handlung zweifelt. Trotzdem wusste ich, dass ich irgendwie diese sechzig Tage Strafe durchstehe, weil sie bisher die maximale Frist für das Festhalten im Karzer war. Doch genau am 59. Tag unserer Haft wurde uns der Beschluss des Staatsanwalts bekannt gegeben, dass es keine Einschränkungen der Haftdauer im Gefängnis mehr gibt. Ich zerbrach innerlich. Das war der einzige Moment im Lager, als ich eine Protestaktion nicht mehr weiterführte. Das geschah nur deswegen, weil ich in meiner Seele keine Gewissheit über die Richtigkeit meines Beschlusses hatte. Ich überdachte alles über Nacht und in der Frühe rief ich per »Parascha« die anderen Streikenden zum Gespräch auf und bat um ihr Verständnis, dass ich meinen Streik beende und dass das nicht bedeutet, dass ich angeblich ganz zerbrochen bin. Alle Häftlinge verstanden mich mit Ausnahme einem, der etwas in der Art vor sich brummelte: »Das steht Ihnen nicht zu Gesicht.« (Mein ganzes Leben blieb mir in Erinnerung, dass es der junge Häftling Wadym Arenberg war, aber erst heute, als ich die Ausgabe 65 der »Chronik« las, sah ich, dass er eigentlich bereits ein Jahr zuvor aus dem Lager in das Tschystopoler Gefängnis hätte verlegt werden sollen. Wo hier der Fehler lag, verstehe ich nicht.) Ich nehme an, unsere Verhandlungen waren von einem Aufseher gehört worden. Bei der der nächsten Zuteilung von Strafmaßnahmen kam Major Fjodorow (der Stellvertreter der Leitung für

330 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT den Vollzug in der Kolonie) selbst. Wie es sich herausstellte mit einem listig ausgeheckten Plan. Den Vorschlag, arbeiten zu gehen, verweigerten alle. Doch ich war bereit. Deshalb kam der Vorschlag, im Todesstreifen zu arbeiten, wozu sich ein Häftling niemals freiwillig hergeben sollte! Mich erneut zu verweigern, hieße, in den Karzer zurückzukehren, aus dem ich versuchte, herauszukommen. Mir fehlte dazu die Kraft. Man brachte mich dann zur Arbeit auf den Hof des Gefängnisses vor die Fenster des Karzers und zeigte mir meine Aufgabe: »Sehen Sie dort die Rollen Stacheldraht? Bringen Sie diesen Draht von hier nach dort.« Die Arbeit machte keinen Sinn, mit Ausnahme eines Grundes: Mich damit zu zwingen, gegen alle Lagernormen des Verhaltens zu verstoßen, nicht nur sich vom Streik vorzeitig loszusagen, sondern auch im Todesstreifen zu arbeiten und mit Stacheldraht umzugehen, mit dem ein Häftling niemals freiwillig arbeiten sollte. Darin zeigte sich ohne jeden Zweifel die satanische Kreativität von Major Fjodorow: Er sah, dass der Häftling Schwäche zeigt und konnte ihn deshalb endgültig brechen. Ich begriff sehr wohl, wozu das getan wurde, und litt darunter sehr. Eine Rolle Stacheldraht in die Hand zu nehmen, war für mich wie der Dornenkranz, der Jesus auferlegt wurde. Ich konnte nur noch weinen. Aber ich schwor mir selbst: Nein, ich werde nicht zerbrechen. Ihr werdet es sehen: Ich zerbreche nicht für immer! In diesen Minuten ahnte ich noch nicht, dass Fjodorows Plan eine Fortsetzung hatte. Wie sich herausstellte, wurden die anderen Streikenden der Reihe nach in jenen Raum gerufen, durch dessen Fenster ich am besten zu sehen war, wenn ich die Rollen transportierte. Man sagte ihnen: »Seht nur, Marynowytsch arbeitet im Todesstreifen. Warum könnt Ihr das nicht auch?« Zur Ehre meiner Freunde, die sich alle über diesen Versuch aufregten, mich in den Augen der Kameraden zu erniedrigen, sei gesagt: Sie haben sofort gefordert, diese Schauszene zu beenden. Bereits nach einer Woche erneuerte sich meine psychische Kraft. Derselbe Major Fjodorow rief mich ins Kabinett und versuchte herauszufinden: Hat sich etwas geändert? Doch nichts hatte sich verändert, ich blieb weiter auf der anderen Front im Lager.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 331 Diese Wahl musste nicht allein ich treffen. Hier die Erinnerungen von Eduard Kusnezow: Ich wusste, sobald der KGB [Staatssicherheit] spürt, dass du schwach wirst, beginnen sie dich anzuwerben und versuchen, dich zu zerbrechen, dich zu einem Waschlappen und zu ihrem Knecht zu machen. Das heißt, es gibt keinen Ausweg: Wenn du aus Dummheit in die Reihen der Helden gelangt bist, bleibe in der vordersten Frontlinie bis zum Ende, du kannst nirgendwo anders hin. Es gibt keinen Rückzug, es gibt keinen Mittelweg. Auch zurück führt kein Weg … So erzeugt der Staat sich selbst seine Feinde, treibt sie in die Ecke und bietet keine Möglichkeit zurückzuweichen. Ob du willst oder nicht, sei ein Held bis zum Ende. Oder verwandle dich in einen Zuträger.119

Heute bin ich zutiefst überzeugt, dass dieser Moment der Schwäche von Grund auf für meine geistige Gesundheit richtig war und mir zu einer hohen Schule wurde. Wir brauchen Niederlagen, damit wir weiterkommen. Fortkommen. Nicht von ungefähr glaubte Kierkegaard, die höchste Stufe des Christentums sei, sich der eigenen Sünde bewusst zu werden … Der Mensch ist nie immer gleich stark. Im Gegenteil, nach einem Sieg folgt die Niederlage. Doch danach ist es wichtig, sich im Moment des Scheiterns nicht zu sagen: Nun ist alles vorbei, ich werde mich nicht mehr erheben. Eine unsichtbare, aber rettende Hand ist immer bei dir … Alle sechs Jahre von den sieben Jahren meiner Lagerarbeit kosteten mir Blut, Schweiß und Tränen, doch eine kommunistische Überzeugung bildete sich bei mir nicht. (Das erste Jahr meines Freiheitsentzuges war ich in Untersuchungshaft und arbeitete nicht.) Der sowjetische, wie auch der maoistische oder jeder andere soziale Darwinismus war eine tote Ideologie, die ihr deklariertes Ziel nicht erreichen konnte. Wenn sich unter den von ihr geschaffenen Bedingungen Dinge zeigten, wie etwa die erdachten und geschriebenen Werke, dann aber nur durch das Gegenteil: dass der menschliche Geist fähig ist, sogar eine entartete gesellschaftliche Verwüstung fruchtbar zu machen. Der letzte Punkt in meinem Epos zur Arbeit ist aber ein anderer. Als die Frist der Haft zu Ende ging, wurde jedem Häftling der Betrag übergeben, der sich in all seinen Jahren der Arbeit, einer

119 Eduard Kusnezow. »Sei ein Held bis zum Ende oder wandele dich zum Zuträger.«

332 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Zuchthausarbeit, angesammelt hatte. Da der Verdienst eines Häftlings sehr niedrig war (man ging von der Annahme aus, dass ein Häftling höchstens 75 % des Lohnes eines freien Lohnarbeiters erhalten sollte), waren die Beträge, die die Häftlinge bei der Entlassung bekamen, zumeist lächerlich. Ich persönlich konnte nach sechs Jahren Fronarbeit meiner Schwester hart verdiente … 300 sowjetische Rubel überweisen. Die eventuellen Ausgaben von 5 Rubel pro Monat für zusätzliche Lebensmittel oder den Kauf von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern rechtfertigen niemals die Nichtigkeit dieses Betrags.

3. An der Spitze des Kampfes Als ich diesen Abschnitt schrieb, hatte ich zunächst vor, ihn in zwei Blöcke zu unterteilen: in eine Beschreibung der verschiedenen Formen unserer Konfrontation mit der Lagerverwaltung und in eine Beschreibung der Strafmaßnahmen. Doch diese Themen lassen sich unmöglich voneinander trennen: Das eine resultiert aus dem anderen und beide bedingen sich gegenseitig. Mit anderen Worten: Der Kampf und die entsprechende Bestrafung waren untrennbare Elemente im Leben eines jeden politischen Häftlings; sie durchdrangen sämtliche Aspekte ihrer Lagerexistenz. Wie ich bereits erwähnte, war man in den Lagern über die Existenz der Helsinki-Gruppen und über die Verhaftung ihrer Mitglieder informiert. Mein Status als Mensch, der sich für sie einsetzte, war dementsprechend hoch, was für mich eine besondere Verantwortung bedeutete: Ich durfte mich in nichts irren oder Angst zeigen. Ich schloss mich also sofort dem Kampf im Lager an. Neben den zu erwartenden Strafmaßnahmen brachte es mir einerseits großes Ansehen und anderseits für mich unerwartete Sorgen. Später verblüffte mich Jewhen Pronjuk mit seinem durchaus ernst gemeinten Vorschlag: »Bereite dich schon jetzt auf deine künftige politische Tätigkeit vor«; sozusagen nach dem Motto »noblesse oblige«120 – dein Status verpflichtet dich. Ich erinnere mich noch gut an mein von ihm nicht erwartetes kategorisches: »Niemals!« Was 120 »Adel verpflichtet (edel zu handeln)« ist ein französisches Sprichwort.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 333 auch immer, aber um eine politische Karriere hatte ich Gott niemals für mich gebeten. Eine politische Tätigkeit ist eine Sache für sich. Der Einsatz für die Würde und die persönlichen Rechte hatte unter den sowjetischen Bedingungen ohne Zweifel eine große politische Bedeutung. In diesem Sinn gab es für uns keine Wahl. Der inoffizielle Status eines politischen Häftlings und Dissidenten musste in jedem Fall bewahrt bleiben. Heute weiß ich, dass eine ganze Reihe der ehemaligen ukrainischen politischen Häftlinge das Wort »Dissident« bewusst vermied und sich als Kämpfer in einer Widerstandsbewegung sah.121 Ich bin mit dieser Bezeichnung durchaus einverstanden und stimme ihr auch zu, da die Bezeichnung Dissident für viele wissenschaftlich inkorrekt sein konnte, wie es etwa bei den beiden bekannten Kämpfer in der nationalen Befreiungfront, Ihor Kalynez und Iwan Hel, zutraf. Nicht einverstanden bin ich aber mit einer bloß retrospektiven und anachronistischen Sicht dieses Titels als etwas, dass als unreif und weniger ehrenvoll bezeichnet werden müsste. In der Zone 36 mit strengem Vollzug galt es aber durchaus als reif und ehrenhaft. Zur näheren Beschreibung ein Zitat aus der Begründung von Ihor Kalynez vom 23. Februar 1978 betreffend seinen Protest über die Verhaftung von Lukjanenko: »Es scheint mir, dass es höchste Zeit ist, zur Vernunft zu kommen und die Angriffe auf Dissidenten – ukrainische Patrioten – einzustellen«. (»Chronik der laufenden Ereignisse«, Ausgabe 48) Ich halte es aber auch für anachronistisch, die Idee der Menschenrechte zu leugnen oder sie auf eine politisch vorteilhafte Funktion zu reduzieren. Das wäre wohl die feste Überzeugung von Lewko Lukyanenko und ebenso von Iwan Hel, der in einem Interview sagte:

121 Etwas mehr über diese Diskussion und allgemein über die Ukrainische Helsinki-Gruppe kann man in der Analyse von Borys Sacharow nachlesen, veröffentlicht 2003: »Abriss der Geschichte der Dissidentenbewegung in der Ukraine (1955–1987)« (http://library.khpg.org/files/docs/book-borya-Last.pdf).

334 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Der Einsatz der Dissidenten zum Schutz der Menschenrechte war eigentlich nur ein taktisches Mittel, eine Form der Selbsterhaltung vor Hinrichtungen, was sie aber doch nicht vor dem Konzentrationslager rettete.122

Ich meine aber, wenn du für eine Idee mit deiner Verhaftung und dem Leid deiner Angehörigen bezahlen musst, hört diese Idee für dich auf, bloß eine rein theoretische oder taktische Aufgabe zu sein. Die »Chronik der laufenden Ereignisse« bezeugt sehr deutlich, dass am Ende der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts die Idee der Menschenrechte tatsächlich an der Spitze des politischen Kampfes stand und die Köpfe der politischen Häftlinge völlig beherrschte. Das zeigt mir die Deklaration, die im Sommer 1978 von Oleksa Tychy und Wasyl Romanjuk (der zukünftige Patriarch Wolodymyr von Kyjiw, der ganzen Ukraine und der Rus) verfasst wurde, die zu dieser Zeit in Mordwinien gefangen waren. Auch der Versuch einer allgemeinen Anwendung dieser Erklärung ist in der »Chronik« (Ausgabe 51) festgehalten. Nach Meinung der Autoren gab es damals wirklich eine Situation, in der sämtliche ukrainische Patrioten nicht anders konnten, als die moralische Verantwortung für das Schicksal ihrer Nation auf sich zu nehmen. Hier die Bestätigung der Autoren: Wir sind Demokraten. Für uns ist die Deklaration der Menschenrechte der UNO das höchste Prinzip für das gesellschaftliche und das nationale Zusammenleben der Völker (Pakt I und II über die bürgerlichen und politischen Rechte sowie die anderen Dokumente der UNO über die Unabhängigkeit und Souveränität der Nationen und Völker), womit wir uns von der Politik und Praxis der KPdSU in der nationalen Frage abgrenzen und ebenso von ihrer Deutung des Begriffes der Demokratie.

Damit zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass damals schon die Erklärung der Menschenrechte untrennbar mit der nationalen Frage vereint war. Heute, wo die Idee der Menschenrechte in gewissen Kreisen beinahe als eine den Interessen der ukrainischen Nation feindliche Idee angesehen wird, klingt der zitierte Satz fast wie ein Verbrechen, obwohl gerade diese Deklaration von zwei großen ukrainischen Patrioten mit kühn nationalistischen Positionen verfasst wurde. Ich kann es nur persönlich bestätigen: Diese Weltanschaung 122 Iwan Hel. Dissidentenbewegung in der Ukraine (Befragung).

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 335 (die Vereinigung der nationalen Idee mit der Idee der Menschenrechte) entsprach damals wirklich den meisten politischen Häftlingen. In beiden Deklarationen (datiert mit dem Jahr 1978, unterschrieben außer von mir auch noch von weiteren politischen Häftlingen im Lager 36) geht es buchstäblich um dieselben Formulierungen: Ohne eine geistige Befreiung, eine nationale und eine geistliche, kann es weder eine nationale noch individuelle Freiheit geben und kann auch nicht von der Erfüllung der Menschenrechte gesprochen werden. Jeder von uns muss persönlich seine Angst überwinden und dazu bereit sein, für diese Wahrheit großes Leid auf sich zu nehmen, um in diesem dunklen Land den Weg zu einer wirklichen Freiheit des Menschen, einer geistigen, nationalen und religiösen Freiheit zu bahnen. (»Chronik der laufenden Ereignisse«, Ausgabe 52)

Alle theoretischen Streitigkeiten wurden durch die Tatsache ausgeräumt, dass das Epizentrum und der Maßstab unseres Kampfes die Menschenrechte waren und damit die Grundlage sowohl der nationalen als auch der demokratischen Plattformen. Gleichzeitig können beide Plattformen, wenn sie dogmatisch interpretiert werden, die Menschenwürde erheblich verletzen und sogar den Menschenrechten schaden. Interessant und wichtig sind meiner Meinung nach auch die Überlegungen von Jewhen Swerstjuk zum »ewigen Phänomen des Dissidententums«. Ich möchte noch hinzufügen, dass die Bezeichnung »Dissidenten« im Sinne von »Andersdenkenden« bereits eine historische Bezeichnung für die Mitglieder der Widerstandsbewegung in der UdSSR der Breschnew-Zeit war, sowohl für die Verteidiger der Menschenrechte (Gewissenshäftlinge) als auch für die Teilnehmer des nationalen Befreiungskampfes, für deren Schutz sich die internationale Öffentlichkeit erhob. Am häufigsten kursierten sie unter einer dieser Bezeichnungen in den Sendungen von Radio »Swoboda«, »Freies Europa«, »Deutsche Welle« und in unabhängigen ausländischen Medien.

336 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Im Kampf für Würde und Rechte Erfüllt von der moralischen Verpflichtung gegenüber meinem Gewissen und meinen Brüdern, schloss ich mich sofort aktiv der Lageropposition an. Als ich ins Lager kam, war es der Verwaltung praktisch gelungen, die Massenkampagne der Häftlinge für Anerkennung ihres Status als politische Häftlinge zu unterdrücken, die im Lager auf Initiative von Wjatscheslaw Tschornowil begonnen hatte. Diese Aktion brachte ihm den verdienten Ruhm im Rang eines Anführers der Häftlinge (verliehen von Mychajlo Cheifez).123 Ebenso galt es für die Kämpfer wie etwa Iwan Switlytschny, Sinowij Antonjuk und Semen Glusman, die dafür schreckliche Qualen erlitten. Auch ohne Kampf um den erwähnten Status hatte ich dann die Gelegenheit, die ganze Schule eines jungen Kämpfers zu absolvieren: Proteste, Eingaben an Staatsanwälte, Streiks, Hungerstreiks … Ich hatte nicht mehr das Glück, Tschornowil zu meiner Zeit anzutreffen. Mich erreichten nur die Lagerlegenden. Einige Häftlinge erzählten mir, dass er dann, wenn sie es noch nicht vermochten, ein politisches Problem von allen Seiten her überdachte und bereits die Lösung hatte, die sich anschließend nach Diskussion als die weiseste erwies. (Dasselbe geschah später auch in der Werchowna Rada.) Er hatte hervorragendes politisches Talent, kam aus dem Zentrum der Ukraine und wurde durch sein Leiden und seinen Kampf für seine Idee zu einem geschliffenen politischen Diamanten. Der Begriff »Eingabe an die Staatsanwaltschaft und die oberste Führung der Sowjetunion« war unter den politischen Häftlingen sehr populär. Keiner von uns hatte Illusionen hinsichtlich ihrer Wirksamkeit. Eine Beschwerde zu schreiben konnte mindestens die eigene psychische Anspannung abbauen und der Macht 123 Diese Bezeichnung für Tschornowil kam von Hauptmann Pikulin, dem Leiter des 19. Lagers in Mordwinien, aber Cheifez brachte sie unter die Leute. Pikulin erklärte ihm dann: »Cheifez, warum geben Sie sich auch den Status eines politischen Häftlings? Sie sind weder unabhängig noch haben Sie den nötigen Ehrgeiz. Sie machen einfach alles, was Ihnen Ihr Häftlingsgeneral – Tschornowil – befiehlt!« (Michael Cheifez. Ausgewählte Werke, in 3 Bd., Bd. 3: Ukrainische Silhouetten. Kriegsgefangenensekretär. Charkiw: Folio, 2000, S.78).

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 337 alles sagen, was man von ihr dachte. Wir diskutierten unsere Ideen miteinander: Wie wir das KGB und die Verwaltung möglichst empfindlich treffen können. Wir mussten dazu die Wahrheit nicht verzerren. Die Wahrheit selbst traf sie weit mehr als Worte. Genau wie die Realität noch viel zynischer war als die offenherzigste Beschreibung. Wir belogen uns nicht und begriffen sehr wohl, dass die Staatsanwälte unsere Beschwerden als die von lästigen Verleumdern empfinden würden, genauer gesagt: als feindliche Tätigkeit antisowjetischer Elemente. Manchmal lasen sie sich sogar nicht einmal in das Wesen der Beschwerde hinein und antworteten standardgemäß: zu Recht abgelehnt. Die Erinnerung an diese Standardantwort war oft Grund zu Ironie, wie etwa im Brief von Walerij Martschenko an den Vorsitzenden des Obersten Gerichts der USSR, O. Jakymenko, vom 20. März 1978: Sie wollen sich vielleicht von ihren schweigsamen Kollegen unterscheiden und mir einen Auszug zusenden. Aber ich warne Sie: Wenn Sie beabsichtigen zu schreiben, zu Recht abgelehnt, werden Sie nicht originell sein. (»Chronik der laufenden Ereignisse«, Ausgabe 49)

Eingaben an die Adresse des Staatsanwaltes konnte man meistens ohne Einschränkungen schreiben. Eine andere Sache war, wie es um die Erfolgsquote dieser Eingaben stand. Darüber schrieb Jurij Orlow in seiner Untersuchung sehr treffend: Die Schreiben der Häftlinge an die Staatsanwaltschaft, an ein Organ, das dazu berufen ist, die Einhaltung des Rechts an den Orten des Freiheitsentzugs zu überwachen, enden gewöhnlich mit Bemerkungen in dem Sinn, dass zu Recht bestraft worden ist. Alle anderen Instanzen, an die sich Verurteilte in der UdSSR wenden dürfen, leiten die Beschwerden entweder an die zuständige Staatsanwaltschaft des Gebietes weiter oder senden siee an die Leitung der Einrichtungen zur Besserung zurück. Häftlinge werden dann zu ihrer Lehre für das Verfassen verleumderischer Eingaben bestraft. […] Eine solche Reaktion eines Staatsorgans, das dazu berufen ist, den Schutz der Rechte einer Person während des Gerichts und an den Orten der Inhaftierung zu überwachen, ist einer der Hauptursachen für die Zunahme der Rückfälligkeit in die Kriminalität, überhaupt die zynische Ignoranz der Bestimmungen gegenüber den Verurteilten in der Gesellschaft. Die Tatsache, dass von der Staatsanwaltschaft Antworten kommen, die die Willkür der Mitarbeiter des MdI [Ministeriums des Inneren] billigen, ruft unter einigen politischen Häftlingen den Protest in Form einer vollständigen

338 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Ablehnung der Forderungen des Regimes hervor. Einen auf diese Weise provozierten Häftling kann die Verwaltung bereits mühelos auf gesetzlicher Grundlage bestrafen.124

Zur Bestätigung des von Orlow Gesagten führe ich lediglich zwei Notizen aus der Chronik auf. 29. Mai 1978: Glusman zeigte man die aus dem Lager versandten Dokumente und informierte, dass seine Eingaben an den Minister für Gesundheitswesen und an das Präsidium des Obersten Sowjets als eine die sowjetische Wirklichkeit verzerrende Ansicht konfisziert wurden. Aber auch andere Eingaben wurden als ideologisch schädlich konfisziert. (»Chronik der laufenden Ereignisse«, Ausgabe 51) Am 16. März 1979 wurde Marynowytsch das nächste Wiedersehen wegen zynischer und beleidigender Ausdrücke, die in seiner Eingabe an das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR betreffend Inhaftierung von Frauen und alten Menschen in Gefängnissen und Lagern enthalten waren, gestrichen. (»Chronik der laufenden Ereignisse«, Ausgabe 53)

Es war aber den von ihren Verboten Besessenen zu wenig, nicht auf die Eingaben zu reagieren oder sie aus verschiedenen Gründen zu konfiszieren. Ihr Gedanke ging weiter. Es kam deshalb kurz danach ein weiteres Verbot betreffend die Verfassung von »Eingaben über Umstände«, das sich auf andere Häftlinge bezieht. Hier konnte sich Semen Glusman voller Ironie freuen: In Verbindung mit einem Punkt der neuen internen Verhaltensordnung (Anordnung Nr. 37), in welcher den Häftlingen verboten ist, Eingaben zu Umständen zu machen, die andere Personen betreffen, spricht Glusman [im Brief an den Leiter der Hauptverwaltung der Einrichtung zur Besserung durch Arbeit des MdI der UdSSR v. 25. April 1978] die Vermutung aus, dass die Lagerinformanten nur sich selbst denunzieren können: Auf diese Weise wird die früher amoralische Tätigkeit, welche die Seele schändete, ab nun durch gemeinnützige und moralische Arbeit mit den Verurteilten ersetzt, die Güte und Gesetz zum Ziel haben. Verstehe ich den Willen des Ministers des Innern in den neuen Verordnungen richtig? (»Chronik der laufenden Ereignisse«, Ausgabe 51)

Der Verwaltung waren aber diese Maßnahmen als Warnung immer noch viel zu wenig. Die »Chronik« hielt gewissenhaft alle Konfiskationen fest, denn die Briefe der Häftlinge enthielten ganze Listen der ihnen nicht ausgehändigten Briefe. Um diesen 124 »Über die Lage der Häftlinge in den Lagern der UdSSR«.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 339 Informationsfluss zu stoppen, dachte man sich eine weitere Vorschrift aus: Von nun an hatte kein Häftling mehr das Recht, jemanden über die Konfiszierung eines Briefes zu informieren; auch dann nicht, wenn es darum ging, Verwandte zu benachrichtigen, dass einer seiner Briefe beschlagnahmt worden war. Die Logik des Gesetzgebers am 22. Januar 1979 wird in einem Gespräch mit Semen Glusman und der Staatsanwalt Jasjew aus Perm militärisch klar: Der Zensurdienst arbeitet zu lasch. Wenn ich anstelle deines Zensors wäre, würde ich mehr beschlagnahmen. Über die Beschlagnahmung von Briefen haben Sie kein Recht, jemanden in ihren Briefen zu informieren. Es würde die Preisgabe von Angaben über das Leben der Kolonie bedeuten. (»Chronik der laufenden Ereignisse«, Ausgabe 52)

Im Lagerkalender gab es feststehende Tage, an denen wir meistens eintägige Hungerstreiks durchführten: 12. Januar – Tag des ukrainischen politischen Häftlings (eingerichtet von Wjatscheslaw Tschornowil und begangen von den meisten ukrainischen politischen Häftlingen); 23. August – Jahrestag des Molotow-Ribbentrop-Pakts (an diesem Tag protestierten gewöhnlich unsere baltischen Kollegen und wir unterstützten sie); 5. September – Tag der Annahme des Dekrets über den roten Terror (an diesem Tag im Jahr 1918 hatten Lenins Helfershelfer D. Kursky, G. Petrowsky und W. Bontsch Brujewytsch dieses unterzeichnet); 30. Oktober – Tag des politischen Häftlings, den ganzen Gulag betreffend; 10. Dezember – Tag der Menschenrechte. Wie Jewhen Swerstjuk später sagte, war die Festlegung dieser Tage eine eigentümliche Form, mit der sich politische Häftling identifizieren konnten. Denn ein Hungerstreik als Protest zeigt ihre Unversöhnlichkeit.125 Natürlich vergaßen wir auch nicht die »roten Tage« des gesamtsowjetischen Kalenders, wie den 1. Mai oder den 7. November: Wir salutierten mit Streiks, Hungerstreiks oder einfach mit Massenprotesten. Oft riefen wir auch ad hoc Maßnahmen aus, wie etwa die Aktionen zum Beginn der Madrider Konferenz der OSZE. Einen ebenso beiläufigen Charakter hatte auch die erste politische Aktion, an der ich vom 23. Juli bis zum 1. August 1978 teilnahm. Es war die

125 Jewhen Swerstjuk. Auf den Wellen der »Freiheit«, S.197.

340 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT »Dekade der Solidarität der Völker im Kampf mit dem russischsowjetischen Imperialismus und Kolonialismus.« Erst in der Zone begriff ich die Bedeutung des bolschewistischen Dekretes über den roten Terror voll. Gewiss gab es bereits zu Beginn der Geschichte der Menschheit terroristische Akte und es blieb seither ein Phänomen der Politik. Im schrecklichen 20. Jahrhundert erhob aber das gute Großväterchen Lenin den Terrorismus als Dekret in den Rang der Staatspolitik und öffnete die Büchse der Pandora, die zu verschließen es der Menschheit bis heute nicht gelang. Die »Chronik« (Ausgabe 52) hielt Auszüge aus dem Appell von Jewhen Swerstjuk an die Kommission für Vorschläge zur Gesetzgebung des Obersten Sowjets der UdSSR vom 5. September 1978 fest: Es ist eines der markantesten, rotesten und weitsichtigsten Dekrete des großen Lenin … Es wurde im 20. Jahrhundert mit diesem Dekret eine neue Epoche der Willkür eröffnet, mit uneingeschränkter Macht über den Menschen … Es wird die Sache künftiger Forscher sein, zu untersuchen, wie niederträchtig und dienstbar den Menschen Angst und Schrecken vor der revolutionären Gesetzlichkeit gemacht wurde, was für ein Blutbad es brachte, seit sechzig Jahre ohne jedes Ende. Er [Swerstjuk] schlägt vor, das Dekret über den roten Terror abzuschaffen, das voll und ganz sein mörderisches Spiel erfüllt hat. Analoge Appelle über die Abschaffung dieses Dekretes an das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR sandten weitere 14 Häftlinge aus dem Lager 36 in Perm.

Kaum war Serhij Kowaljow in der Zone, als wir am 15. Dezember 1978 anlässlich des Tages der Menschenrechte zu dritt mit Jewhen Swerstjuk einen Brief an den Präsidenten der USA, Jimmy Carter, verfasst haben: Am Tag der Menschenrechte zollen wir Ihnen, Mr. Präsident, und Ihrer Administration hohe Bewunderung, dass sie sich erlaubten, in einer verlogenen Welt die Menschenrechte und moralische Faktoren der internationalen Politik zugrunde zu legen. Und dies im Wissen, dass das große Problem unseres Jahrhunderts die prinzipienlose Entlarvung elementarer Rechte ist. Es fehlt die Einschätzung, dass die Saat von Gewalt gefährlicher ist als die Umwelt zu verschmutzen, und die Frage der Menschenrechte mehr Beachtung verdient als ökonomische Fragen. Ein Mensch ist nur dann frei, wenn er seine Rechte benutzt und die Kraft hat, die Aufgabe auf sich zu nehmen und

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 341 sie auch zu tragen. In der Neugeburt des Menschen durch seinen Glauben, dem Bewusstsein seiner Würde und seiner Aufgabe, liegt die Hoffnung für diese Welt. (»Chronik der laufenden Ereignisse«, Ausgabe 52)

In der heutigen Epoche, der »Revolution der Würde«, schäme ich mich nicht für diese Worte. Im Gegenteil, ich freue mich, wie sie sich millionenfach in der Erfahrung auf dem Maidan zeigen. Dieselbe »Chronik« teilt mit, dass am 20. September 1979 die Lagerhäftlinge zusammen mit den Häftlingen des Lagers 37 den »Tag des Schutzes« der Helsinki-Gruppen begingen. N. Hryhorjan, K. Ismahilow, M. Marynowytsch und A. Juskewytsch verkündeten einen eintägigen Hungerstreik und schrieben entsprechende Erklärungen an die Verwaltung. Jede Aktion wurde als Verstoß gegen den Vollzug gewertet und zeugte davon, dass der Häftling nicht den Weg der Besserung eingeschlagen hatte. Stichproben zeigekn, dass es diese Kategorie der Häftlinge am häufigsten traf. In den Augen der Verwaltung gehörte ich ebenfalls dazu. Der Sampolit bestellte mich einmal zu sich und verlas die offizielle Beurteilung, wobei unter anderem diese Formulierung erklang: »Wirkt negativ auf den negativen Teil der Verurteilten«. Ich lachte los: »Sie kennen aber die Algebra schlecht: minus mal minus ergibt plus. Deshalb muss man meinen Einfluss als positiv betrachten.« Häftlinge waren in einem typischen sowjetischen Konzentrationslager nicht nur von sichtbaren Reihen von Stacheldraht umgeben, sondern auch von unsichtbaren und sehr stacheligen Verboten: »Es ist verboten«, »Es steht nicht zu«. Ein Häftling stieß bei jedem Schritt auf: Verstoß gegen die Bekleidungsordnung (z. B. nicht zugeknöpfter Kragen), nicht richtig gemachte Pritsche, stand nicht auf zur Begrüßung, lag auf der Pritsche zu unerlaubter Zeit, stand nach dem Nachtsignal auf, verspätete sich zum Appell, ging in die Nachbarbaracke, organisierte eine Zusammenkunft, war grob gegen einen Offizier, erfüllte nicht die Anweisung des DNPK, erfüllte die Normen nicht, verließ den Arbeitsplatz. Es ist unmöglich, alle möglichen Verstöße aufzuzählen, die der Grund für eine Bestrafung sein konnten.

342 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Die Preisliste der Strafmaßnahmen war umfangreich: mündliche Verwarnungen, Rüge, Entzug des Ladens, Entzug des nächsten Paketes oder Päckchens, Entzug des nächsten (längeren persönlichen oder kurzzeitigen) Wiedersehens, Unterbringung im Gefängnis (mit oder ohne Hinausführen zur Arbeit), längerer Aufenthalt im Kerker (PKT, bis zu sechs Monaten) und schließlich Haft im Zentralgefängnis (zu der Zeit war es das Gefängnis in Tschystopol, übliche Dauer: drei Jahre). Die Wahl der Strafmaßnahme lag bei der Lagerverwaltung, wobei es aber nicht gewährleistet war, nach ersten Verwarnungen der Reihe nach alle zu durchlaufen. Es war jedoch nicht genug, egal, wie lang diese Liste war. Die besonders gefährlichen Staatsverbrecher stellten sich als so widrig heraus, dass den armen Aufsehern nichts anderes übrigblieb, als zu zusätzlichen Strafmaßnahmen aus einem anderen Arsenal zu greifen. Deshalb wurden auch Instrumente der Einflussnahme eingesetzt wie das Erweisen oder Nichterweisen medizinischer Hilfe, Qualen durch Kälte und Hunger, Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, erhöhte Arbeitsnormen, willkürliche Beschlagnahmung von Briefen, Unterbindung des Verkehrs mit der Familie oder Verbreitung bewusster Desinformation, das Zusammenlegen psychologisch unverträglicher Häftlinge, der Zwang, dass nichtrussische Häftlinge während den Wiedersehen mit ihren Verwandten Russisch sprechen musste, und dengleichen. Diese Liste ist ebenfalls unerschöpflich. Erneut erteile ich das Wort der Gruppe von Ju. Orlow: Die Atmosphäre der Straffreiheit, in der die Verwaltung tätig ist, verwandelt jeden Wächter, von den Offizieren erst recht nicht zu sprechen, in wahre Peiniger, abhängig vom Grad ihrer Grausamkeit. ›Gib ihn in die Abteilung, er wird wie Seide‹, sagte der Oberleutnant Kusnezow über W. Pawlenkow und solche Worte waren keine leere Prahlerei. Der Abteilungsführer Kusnezow, ewig betrunken, vergnügte sich damit, indem er Anlässe für Strafen suchte. S. Soroka stellte am Heiligabend auf seinen Nachtschrank eine Kerze und einen Tannenzweig auf: [ab] in den Karzer. Eine nicht richtig gemachte Pritsche: [ab] in den Karzer. Nicht zugeknöpfter Kragen: [ab] in den Karzer. Es gab so viel, wofür man Staatsverbrecher bestrafen kann.126

126 »Über die Lage der Häftlinge in den Lagern der UdSSR«.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 343 Die oben erwähnte Preisliste der Strafmaßnahmen sollte durch das höchste Strafmaß ergänzt werden, weil, wie schon oben erwähnt wurde, das Nichterweisen medizinischer Hilfe öfters zum vorzeitigen Tod führte. Mein Ausdruck »Verbreitung bewusster Desinformation« über die Familie muss ebenfalls erklärt werden. Hier wirkte ein gut eingespielter Mechanismus wie dem widerspenstigen Häftling zusätzliche psychische Leiden zugefügt werden können. Typisch waren die Fälle, in denen gegenüber den Ehefrauen einiger politischer Häftlinge in der Freiheit bewusst Provokationen arrangiert wurden, die den Eindruck der Untreue brachten. Das KGB informierte anschließend mit großem Bedauern die Ehemänner. Diese Prüfung machten z. B. Wjatscheslaw Tschornowil, Mykola Rudenko und Jewhen Pronjuk durch bzw. ihre Ehefrauen. Auf die gleiche Weise spielte Tschorowil selbst die Rolle des Untreuen (Inszenierung eines Versuchs einer Vergewaltigung während seines Aufenthaltes in der Verbannung). Eine in ihrer Grausamkeit besonders raffinierte Tortur erduldete vor meinen Augen Oles Schewtschenko. Soweit ich mich erinnere, war es das Jahr 1981. Oles wusste, dass seine Frau krank war. Es kamen dann von ihr keine Briefe mehr. Nach einiger Zeit wurde Oles zu einem Gespräch mit dem KGB gerufen und es wurde ihm mitgeteilt: Ihre Frau ist sterbenskrank, sie kann Ihnen auch nicht mehr schreiben. Sie müssen sich auf das Schlimmste gefasst machen. Sie müssen nun an die Kinder denken [Oles hatte zwei Töchter], die wir sonst in ein Kinderheim geben müssen. Wenn Sie sie retten wollen, schreiben Sie ein Reuegesuch, stellen Sie ihre Konfrontation mit dem KGB ein, dann lassen wir Sie frei.

Oles kam ganz blass aus diesem Gespräch, wie gekreuzigt. Als er uns erzählte, was geschehen war, ging er lange im Kreis hin und her und dachte nach, welche Entscheidung er treffen sollte. Schließlich wog er ab und antwortete »Nein«. Man kann sich nur vorstellen, was in diesem Moment in seiner Seele geschah. Sich selbst zu opfern, ist verhältnismäßig leicht. Wesentlich schwerer ist es, seine Allernächsten zu opfern. Doch die Wahrheit in Oles’ Seele war stärker. Es verging eine gewisse Zeit

344 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT und in der Zone … kamen erneut Briefe von seiner Frau an. Es stellte sich heraus, dass all das nur ein satanischer Fake war: Der KGB beschloss einfach, eine unbedeutende Krankheit der Ehefrau zu benutzen, um einen widerspenstigen Häftling zu brechen. Schon allein der Gedanke ist schrecklich, in welch fürchterliche Falle Oles gelangt wäre, hätte er »Ja« geantwortet … An einen ähnlichen psychischen Druck erinnert Norik Hryhorjan: Ich sitze ein erneutes Mal im Karzer. Da kommt ein Tschekist mit freudigem Gesicht und bringt einen Brief meiner Ehefrau, in dem sie sich von mir lossagt. Mir wurde völlig elend zumute, ich kam vor lauter Verzweiflung lange nicht zur Besinnung. Ich lief mit dem Kopf gegen die Wand. Ich durfte sogar die Briefe meiner Tochter nicht mehr erhalten, sogar der Name und Vorname meiner Tochter wurde verändert. Was für eine traurige Geschichte.

Das erwähnte moralische Dilemma ertrugen die politischen Häftlinge im Allgemeinen schwer. Die eine Sache ist, sich selbst zu opfern: Hier stehst du nur in Verantwortung vor Gott und deinem Gewissen. Eine andere aber ist es, seine Verwandten zu opfern: Deine Handlungen zerstören dann ihr Leben und ihre berufliche Karriere und bringen sie mitunter an den Rand des Todes. Wer gab dir dazu das moralische Recht? Hier die Worte, wie Walerij Martschenko diese Qual in einem Brief an seine Mutter äußerte: Und nun sah ich zum ersten Mal, unerwartet offen, wie aus einer Risswunde, dich in Tränen. Glaube mir, eine solche Qual habe ich bisher nie erlebt, solange ich mich erinnern kann. Ich kam in die Zelle zurück und fragte Gott: Was soll ein Mensch auf dieser Welt, wenn er so wie ich leiden muss? Wozu existiere ich, wenn ich meinem liebsten Wesen so viel Schmerz zufügen muss?127

In einigen Familien führte dieses Dilemma zu ewigem Unrecht und Unglück: »Durch dich bin ich …«, »Wenn du nicht wärst, dann wäre ich …«, »Du hast überhaupt nicht an uns gedacht«. Es kann nicht bestritten werden, dass damit ein Menschenleben wirklich zugrunde gerichtet wurde. Doch die Familien meiner Brüder, etwa 127 Walerij Martschenko. Briefe an die Mutter aus der Unfreiheit. Kyjiw: Fundazia im O.Olshytsch, 1994, S.253f. (im Weiteren: Walerij Martschenko. Briefe an die Mutter aus der Unfreiheit).

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 345 die von Swerstjuk, Switlytschny, Martschenko, Schewtschenko, Glusman, Popadjuk und vieler anderer und auch meine eigene waren eine klare Veranschaulichung für jene gesegneten Familien, bei denen dadurch eine große geistige Verwandlung geschah: Wenn ein Mensch sich mit seinem ganzen Sein aufopfert, dann tut er es aus freien Stücken. Die Wahrnehmung von Unglück und Unrecht verwandelte sich in Dankbarkeit gegenüber Gott für die Gelegenheit, sich aufopfern zu können. Nein, ich versprach mich nicht. Wenn es geschah, dann taten das damals Menschen nicht nur manchmal und spontan, indem sie sich bewusst auf ein anderes geistiges Niveau erhoben. Erinnern wir uns an die Zeile aus einem Gebet für seine Familie, das der junge Roman Scheptyzky (später: Metropolit Andrij) formulierte, bevor er in den Mönchsstand trat: »Sei uns gütig, o Herr, unser Gott, erwähle Menschen aus unserer Familie als Priester, Apostel und heilige Märtyrer.«128 Wer denn von unseren Zeitgenossen bittet Gott, dass einer seiner Verwandten den Märtyrertod sterbe? Es ist die Stimme einer anderen Epoche, einer anderen geistigen Welt. Doch es gibt noch andere Fälle, wie etwa die Familien meiner Brüder und ebenso auch im Fall des Opfers meiner Mutter und meiner Schwester Nadijka, dank derer Aufrichtigkeit es möglich war, sich auf ein solches geistigen Niveau zu erheben: Unserem weiblichen Geschlecht zu Ehren, ganz unheldenhaft in den Alltagssorgen, wenn alles scheinbar so leicht und sorgenfrei ist, weder Pathos noch Pose – niemand wich zurück, und wenn ich es direkt sagen würde, es war [als ob] ich in der Nachbarzelle mit meinem Ehemann fühle. So empfanden andere, denke ich, dasselbe: untrennbar, unteilbar. Nur eine einzige weibliche Seele von denen, die ich kenne, erschauderte vor dem bodenlosen Abgrund … Unsere Politik war vor allem die Ethik eines moralischen, sich seines Gewissens bewussten Menschen, der nicht zu schweigen vermag, wo er sieht und versteht, dass in einer Gesellschaft Böses geschieht. Wenn man die Kerle hinter Gitter sperrte und keine Möglichkeit mehr bestand, den Mund frei zu öffnen, war es die einheitliche Politik der Ehefrauen, Freunde und ihre Mitstreiterinnen, die Treue zu ihren Genossen zu bewahren und ebenso die

128 Wasyl Lenzyk. Bedeutende Persönlichkeiten der Ukrainischen Kirche: Metropolit Andrij Scheptyzky und Patriarch Jossyf Slipyj. Lwiw: Svichado, 2001, S.24.

346 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Treue zu den Werten, die sie verfolgten: Es galt, sie zu verwirklichen, sie zu verkünden, sie zu vererben, sie den Kindern einzuimpfen.

Im März 1979 gelangte die Nachricht über den Tod von Jewhen Pronjuks Vater ins Lager. Dieser saß damals im Kerker (PKT). Ich bat die Verwaltung, mir zu gestatten, ihn für eine kurze Zeit zu sehen, um ihn auf die Neuigkeit seelisch vorzubereiten. Es wurde mir aber verweigert. Das Gefängnis in der Zone 36, in dem die Häftlinge ihre Strafe im Vollzug im Karzer oder Kerker (PKT) abbüßten, hatte eine große Geschichte – schade, dass Wände nicht reden können. Zum Glück schwiegen ihre Häftlinge nicht. Es ist uns aber in der »Chronik« (Ausgabe 52) eine ausführliche Beschreibung der Haftbedingungen in den verschiedenen Strafmaßnahmen erhalten geblieben. Der Leser sei mir nachsichtig, da das Zitat etwas länger ist: Das Gebäude des Lagergefängnisses [Gefängnis (SCHISO) und Kerker (PKT)] wurde ohne Wasserabdichtung zwischen Fundament und den Wänden errichtet. Deshalb trockneten in den Zellen, besonders Nr. 2 und Nr. 3 [Stirnseiten] der untere Bereich der Wand und ein Teil des Fußbodens niemals. Das Wasser fließt von den Wänden, oft in Strömen. Der obere Bereich der Wände, in den Ecken, ist ebenfalls ständig feucht. Im Winter sind die Wände vereist. Manchmal gefriert selbst das Wasser im Becher. Der übliche Geruch nach Kot steht ständig in den Zellen, da die Sanitäranlage über keine Wasservorlage [Geruchsverschluss] verfügt. Der Gestank ist besonders stark, wenn die Abortgrube geleert wird. Der diensthabende Aufseher lässt auf Bitte der Häftlinge das Wasser zum Spülen vom Korridor her durchlaufen. Doch oft brauchte es sehr lange, um das zu erreichen. Es gibt ein kleines Klappfenster zum Öffnen. Es lässt sich aber nicht ganz öffnen, da das Fenster außen vergittert ist; zudem kühlt die Zelle sehr rasch ab. Im Sommer sind die Zellen voller Fliegen und Mücken. Getötete Mücken dienen mitunter als Anlass für zusätzliche Bestrafungen wegen hygienewidrigen Zustandes der Zelle. K. Der einzige freie Zwischenraum zum Gehen ist drei Meter lang. Die Gesamtfläche der Zelle beträgt elf Quadratmeter (zweieinhalb pro Person und ein Quadratmeter für die Sanitärecke mit Toilette und Waschbecken). Der Fußboden ist aus Brettern, mit vielen Ritzen. Die ganze Ausstattung der Zelle des Gefängnisses besteht aus einem Betontisch auf einem dicken Fuß, der an einen großen Pilz erinnert, und vier Betonsockel zum Sitzen. Essen am Tisch ist nicht möglich, da die Sockel zu weit weg aufgestellt sind. Viele richten es sich so ein: Man kauert sich hin. Die Schüssel mit der Gefängnissuppe stellt man auf einen Sockel. Auf sie sind die Betten abgestützt, die für die Nacht entriegelt werden. (Tagsüber sind die Betten an der Wand hochgeklappt und verriegelt.)

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 347 Die Zellen PKT sind etwas besser ausgerüstet: Es gibt einen Schrank für Geschirr, Kleiderhaken und ein Nachtschränkchen. Außerdem gelang es den Häftlingen, durchzusetzen, dass Bretter auf die Schränkchen genagelt wurden und als Bänke benutzt werden konnten. Der Vollzug im Gefängnis unterschied sich stark vom Kerkerregime (PKT). Man gab den Karzerinsassen völlig abgetragene, vom Waschen dünn gewordene Baumwollkleidung, vorwiegend in falscher Größe. Knöpfe waren meistens nicht mehr vorhanden, alles wurde mit Schnüren zusammengehalten. Wenn die Temperatur in der Zelle unter die zulässige (18 °C) sank, konnte sich der Karzerinsasse eine Jacke aushandeln. Dazu musste er aber zuerst erreichen, dass die Temperatur gemessen wurde. Wenn es nachts besonders kalt war, war es unmöglich. Die Verwaltung verfügte zudem über ein Thermometer, das überhöhte Werte anzeigte. Die Aufseher vergaßen den Defekt ständig. Es steht dem Häftling im Gefängniss nicht zu, Bettwäsche und Matratze zu besitzen. Die Pritschen sind aus verschieden dicken Brettern zusammengenagelt. Darauf zu schlafen, ist schwierig. Einen Hofgang gibt es nicht. (In der PKT dauert er eine Stunde.) Das Geschirr wird nach dem Essen eingesammelt, es wird in einem Schrank auf dem Korridor aufbewahrt. Dort werden auch die Toilettenutensilien der Karzerinsassen aufgehoben. Es ist im Karzer nicht erlaubt, Bücher oder Hefte mitzunehmen. (In die Zelle PKT konnten Bücher und Hefte mitgenommen und die Bibliothek benutzt werden.) Briefwechsel ist verboten (aus der PKT kann man einen Brief in zwei Monaten senden): Im Gefängnis kann man nur die Eingangskorrespondenz empfangen und abonnierte Ausgaben. Die Aufseher kennen in Wirklichkeit diese Regel oft nicht. Die Benutzung des Ladens ist verboten (in der PKT kann man für 2 Rubel im Monat einkaufen). Wiedersehen, Pakete und Päckchen sind sowohl im Gefängnis als auch im Kerker (PKT) verboten. Die Bestrafung im Gefängnis kann mit dem Herausführen zur Arbeit verbunden sein. Die Norm der Verpflegung ist dieselbe wie in der PKT. Wegen Arbeitsverweigerung wird mit zusätzlicher Frist im Gefängnis bestraft. In der PKT ist die Arbeit obligatorisch. Für Übererfüllung der Norm gewährt man keine Vergünstigungen, für die Nichterfüllung setzt man auf reduzierte Verpflegung. (Es gibt keinen Zucker, von allem anderem gibt man erheblich weniger.) Warmes Essen gibt es im Gefängnis alle zwei Tage. Die Speisekarte ist etwa so: in der Frühe 150 g Brot und eine Schüssel dünne Suppe; mittags 200 g Brot, Suppe und fünf Löffel Kascha als Hauptgericht; abends 100 g Brot und ein Stück Fisch 3040 g, in der Regel aber verdorben. Am darauffolgenden Tag wird nur 450 g Brot, 20 g Salz und kochendes Wasser abgegeben. Warmes Essen und kochendes Wasser bringt man uns in das Gefängnis größtenteils lauwarm. Die Lagerverwaltung und die Gebietsstaatsanwaltschaft meinen, dass die Bedingungen des Gefängnisses in vollem Umfang den Normativen entsprechen. Der Lagerleiter A. H. Shurawkow erklärte sogar einmal: Die Bedingungen sind einfach ideal.

348 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Übrigens, das Thermometer im winterlichen Gefängnis erwähnt in seinem Buch der Erinnerungen auch Henrich Altunjan.129 Als man ihm einen solchen Apparat zeigte, um die Absurdität seiner Beschuldigungen in der Folter durch Kälte zu beweisen, bemerkte er mit seinem Meisterblick sofort, dass das Thermometer überhaupt kein Kügelchen mit Alkohol besaß: Die angezeigte Temperatur war auf dem Wert von 18 °C auf ewig festgemacht. Auf der Grundlage zahlreicher Beweise, die noch vor meiner Ankunft im Lager aus der Zone in die Freiheit durchdrangen, gab die Moskauer Helsinki-Gruppe 1976 ein Dokument mit der Bezeichnung »Über die Haftbedingungen von Gewissenshäftlingen«130 heraus, in dem die Situation verallgemeinert ist, und die Schlussfolgerung gezogen wurde: Das Internationale Abkommen über bürgerliche und politische Rechte, dessen Verpflichtungen gemäß Punkt VII, Teil A, Abschnitt 1 der Schlussakte des Rates für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa die Sowjetregierung zu erfüllen hat, verkündet: Niemand darf gefoltert oder grausamem, unmenschlichem und seine Würde herabsetzendem Verhalten und Bestrafung ausgesetzt werden (Artikel 7, Teil III des Internationalen Abkommens über bürgerliche und politische Rechte). Außerdem sieht die Schlussakte des Helsinki-Rates die Verwirklichung der bürgerlichen, politischen … und sonstigen Rechte und Freiheiten vor, die sich aus der Würde, die für den Menschen bezeichnend ist, ergibt … (Punkt VII, Teil A, Abschnitt 1). Die aufgeführten Nachrichten, die auf einer großen Anzahl von Dokumenten und Materialien beruhen […] bezeugen nach Meinung der Gruppe zur Förderung der Erfüllung der Helsinki-Vereinbarungen in der UdSSR, die groben Verstöße der sowjetischen Administration gegen die Bestimmungen von Punkt VII, Teil A, Abschnitt 1 der Schlussakte des Rates für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.

Nun einige meiner persönlichen Erinnerungen an den Aufenthalt im Gefängnis: Einmal im Winter war die Reifschicht auf der Betonwand besonders dick. Aber die dünne Kleidung, in die man uns steckte, bot keine Möglichkeit, sich davon abzulenken. Wir begannen zu meutern, dass die Aufseher die Heizkörper absichtlich so zudrehten, dass sie bloß nicht einfroren, aber es wurde in der Zelle ein Regime einer bereits übermäßigen erzieherischen Folter durch 129 Henrich Altunjan. Der Preis der Freiheit, S.159f. 130 Dieses Dokument ist abrufbar unter: http://www.mhg.ru/history/1447217.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 349 Kälte geschaffen. Schließlich erreichten wir, dass ein Arzt kam (ich glaube, es war Petrow) und, nachdem er die Temperatur maß, sein Urteil sprach. Ich erinnere mich, als wir ihm jenen Reif an den Wänden zeigten, sagte er mit kaltblütigem Blick: »Nun, und was? Es macht nichts, man kann leben.« Das zu dem Thema, dass die Ärzte manchmal schrecklicher waren als die Aufseher. In der Zelle stellte ich mit Erstaunen fest, dass vor Kälte zwar unwahrscheinlich … eine Zeitung rettet. Seit dieser Zeit abonnierte ich ständig die Literaturzeitung, weil sie die breitesten Lagen des Zeitungspapiers hatte. Wenn man sich damit bedeckt, die Knie angewinkelt, wird es wärmer, falls die Aufseher jener Nacht nicht auf den Gedanken kamen, dass es uns nicht zusteht, sich mit einer Zeitung zuzudecken.131 Im Übrigen löst eine Zeitung das Problem nicht für lange und deshalb musste man mehrmals in der Nacht, wenn der Frost bereits unerträglich wurde, aufstehen und sich durch Gymnastik erwärmen. Nachts störte noch, dass die Bretter an den Pritschen uneben angenagelt waren und einige davon hervorstanden und sehr in den Körper einschnitten. Ein Problem war ebenfalls, was man unter den Kopf statt des unerlaubten Kopfkissens legen sollte. Das alles war übrigens für den Gesetzgeber zu wenig und deshalb sahen die Gesetze auch andere Einschränkungen vor: In den Gefängnissen sind den Verurteilten Wiedersehen, das Versenden von Briefen, der Kauf von Nahrungsmitteln und Bedarfsartikeln, das Erhalten von Paketen, Geldüberweisungen und Päckchen, die Benutzung von Tischspielen und das Rauchen verboten … Bettzeug wird nicht ausgegeben und Freigänge werden nicht gewährt … [Kommentar zu den Grundlagen der Gesetzgebung für Arbeitserziehung, § 34].132

Die oben erwähnten zwei Regime der Ernährung im Gefängnis bezeichneten wir entsprechend als Restaurant und Fasten. Einmal war ich in der Zelle gemeinsam mit Serhij Kowaljow untergebracht und wurde Zeuge, wie die Aufseher ihn verspotteten und dabei

131 Später brachte sie das trotzdem auf den Gedanken und deshalb wurde das Lesen von Zeitungen im Karzer verboten. 132 Dokumente der Moskauer Helsinki-Gruppe (1976–1982). 1976: Dokument Nr. 3 »Über die Haftbedingungen der Gewissenshäftlinge«.

350 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT scheinbar die Tage verwechselt hatten. Serhij ist seiner Natur nach sehr gemächlich und methodisch. Um ein Problem zu erfassen, braucht er mehr Zeit als andere (wenn er es gründlich analysiert, brauchen die anderen danach nichts mehr zu tun). Jener Tag war Fasten und plötzlich reichte man Serhij durch die Futterluke einen Teller mit warmer, dünner Suppe. Er nahm den Teller, brachte ihn zum Tisch und konnte es immer noch nicht begreifen. Und der Aufseher sagte dann ironisch: »Was ist los Kowaljow, nehmen Sie die Suppe? Sie steht Ihnen doch heute nicht zu!« Ich habe Serhij selten so erzürnt gesehen. Im Karzer habe ich zum ersten Mal im Leben festgestellt, wie ein Mann dick wird, wenn die Karzerdiät zu lange dauert und zu karg wird, d. h., wenn sich die Worte des Patriarchen Jossyf bewahrheiten: »Das Essen war so, dass es zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben war.«133 Dafür spürt man im Gefängnis besonders den Wert des Brotes: hier ein Krümel auf die Goldwaage. Man scharrt sie andächtig auf einen Haufen zusammen, knetet sie dann zu einem Klumpen und isst ihn. Du experimentierst ebenfalls, wie du dein karges Gericht verzehrst alles auf einmal oder jedes Produkt einzeln, um länger das Gefühl von relativer Sättigung zu haben. Mögen sich verglichen mit diesen Spitzfindigkeiten alle gelobten braggschen Systeme verstecken! Eine nicht geringere Qual im Karzer war für die Raucher das Rauchverbot. Da ich damals zu dieser ehrenvollen Kategorie gehörte, so musste ich während der ganzen Straffrist meine angeschwollenen Ohren mit den Händen abstützen. Dreimal fasste ich den Entschluss, mit dem Rauchen nicht anzufangen bis zur Entlassung in die Zone (nach längerer Karzerhaft), aber immer endete das mit einem Fiasko: die Freude von der Begegnung mit den Freunden, Selbstbetrug der Art: »nur noch eine einzige, es geht doch nicht, zu Neujahr nicht zu rauchen?« Es ist alles menschlich … Mein erster Karzer hatte eine lange Vorgeschichte. Ende August 1978 wurde uns, den Bewohnern der Wohnbaracke der 1. Abteilung mitgeteilt, dass wir in Zusammenhang mit seiner Renovierung in die Baracke der 2. Abteilung umziehen sollen, wo wir auf 133 Jossyf Slipyj. Erinnerungen, S.185.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 351 Doppelstockpritschen schliefen. An die zehn politischen Häftlinge (mich einbezogen) weigerten sich, umzuziehen, und begründeten das damit, dass die Verwaltung versuchte, unsere Lebensbedingungen zu verschlechtern. Es begann ein langer Kampf, während dem unsere Heizung und das Licht abgeschaltet wurde und die Fenster herausgenommen (im März ist es im Ural kalt). Man trug unsere Sachen heraus, während wir in der Arbeitszone waren. Klar war, dass man uns alle den Laden, Pakete und Wiedersehen strich. Und danach bestrafte man am 25. Oktober die hauptsächlichen Meuterer Jewhen Swerstjuk, Oleksij Safronow und mich mit 15 Tagen Gefängnis, wozu wir in die Zone 35 gebracht wurden. In Erinnerung blieb mir die Etappe, selbst der Transport auf offenem Lkw, an den mich die früher beschriebenen Qualen der Häftlinge im Stolypin-Wagen erinnerten. Etwa nach einer Stunde Fahrt mit diesem Lkw musste ich dringlich Wasser lassen. Wir begannen zu dritt mit den Fäusten gegen die Kabine zu trommeln, damit das Auto anhält. Unsere Begleitsoldaten reagierten mit »es ist nicht statthaft«. Die Fahrt über die holprigen Straßen des Ural machte meine Qualen unerträglich. Schließlich begann ich vor Verzweiflung einen Ausweg zu suchen – und fand ihn in Form einer Ritze im Holzboden des Lkw. Meine beiden Kollegen wandten sich höflich ab und ich richtete mich irgendwie ein und das Problem war trotzdem gelöst. Dazu war aber eine filigrane Geschicklichkeit erforderlich, denn wir fuhren nicht auf glatten amerikanischen Highways, sondern auf den holprigen Straßen im Ural … Der Winter setzte damals im Ural früh ein. Der Schnee bedeckte bereits den Erdboden. Ich war in der für mich bestimmten Zelle im Gefängnis allein. Meine Seele strebte nach Ruhe und Schönheit – und sie wurde mir märchenhaft geschenkt durch den Blick aus dem Karzerfenster. (Das Foto, mit dem ich diese Situation verdeutlichen möchte, vermittelt längst nicht den fantastischen Eindruck.) Es war Mondnacht, unberührter Neuschnee funkelte mit Milliarden von Diamanten. Sie riefen, so erschien es mir, den leuchtenden Sternen zu, die am Himmel gestreut waren. All das spielte mit einer intensiv blauen Farbe, als ob ich durch ein spezielles blaues Glas schaute. Eine unvorstellbare Herrlichkeit! Und als

352 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Krönung des Ganzen löste sich plötzlich ein Stern vom klaren Himmel und verglühte als heller Meteoritenschein. Aus irgendeinem Grund dachte ich dabei an meine Schwester Nadijka und ich führte in meinen Gedanken und meinem Herz ein Gespräch mit ihr. Die Wahrnehmung von Licht durch das vergitterte Fenster war überhaupt etwas Besonderes: Sogar der hartherzigste Mensch konnte so ungewollt zu einem Lyriker werden. Die Seele versuchte verzweifelt, zu erreichen, was ihr im Alltagsleben fehlte. Deshalb bildete sich in mir eine andere Realität, in der es ihr bequem und angenehm sein konnte: 12. Februar 1979: Ich schaue oft zum Himmel und wunderbare mitternächtliche Dämmerungen widerlegen den traditionellen Gedanken, dass das Blaue das Kalte ist. Einmal erstarrte ich sogar von dem Anblick: gesättigt blauer abendlicher Schnee, ein Bacchanal der Schneeflocken im Laternenlicht und Unbeweglichkeit des Stacheldrahtes. Niemals hätte ich gedacht, dass letzterer so poetisch sein kann. Mit meinem ganzen Körper sang ich ›Ave-Maria‹, deren Orgelakkorde mich schon immer in meinen schönsten Momenten begleiten. 9. September 1979: Ich schreibe bereits am zweiten Tage den Brief zu Ende, um dir mitzuteilen, was ich gestern Abend geschenkt bekam … einen Stern vom Himmel. Es dunkelt schon früh. Als die Wolken sich verzogen, sah ich vor dem Schlafen durch das Fenster einen einzigen Stern, den es seit Juni nicht mehr gab. Alles war sehr wie bei Schewtschenko. Meine Abendröte deklamierte scheinbar sein melodisches Gedicht. Ich schlief mit dieser besonderen Rührung ein, die Menschen nicht begreifen können, die nie hinter Gittern waren.

Später, bereits in der »großen Zone« (ich erinnere, dass wir damals so die Freiheit in der UdSSR bezeichneten), fehlte mir sehr die Intensität jener Seelenerlebnisse. Ein erstaunliches Paradox: In einem so einsamen Augenblick im Karzer oder im Kerker (PKT) war meine Seele erfüllt von Zartheit und einem unbestimmten Hochgefühl. Ich bin überzeugt, in dieser Höhe und Zartheit der Seele gibt diese Glückseligkeit, die das Evangelium verheißt, die allen ungerecht Bestraften zuteilwird. Das ist nicht nur mein Empfinden. Einmal las Wiktor Njekipjelow sein Gedicht vor, in dem es ebenfalls um die Zartheit und die Melodie des Evangeliums in der Melodie einer Seele geht: Sagte man: Gefängnis, das ist Stöhnen der Erbitterung!

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 353 Bestätigte man: Gefängnis, das ist die Zitadelle der Hoffnungslosigkeit! Aber Gefängnis, das ist das Symbol der Liebe und des Demutes, Das ist die höchste Schule der Hoffnung und Zartheit.

Im Lager war die Amplitude der Gefühle ungestüm groß: Hohes und Schönes ist in Nachbarschaft zu Abscheulichem und Unmenschlichem, und nur Gott allein weiß, wie sich das alles in der Seele eines Menschen vereinen lässt. Beinah die schönste Illustration einer solchen Vereinigung war die Geschichte des Geburtstages desselben Wiktor Njekipjelow (29. September 1982), den wir Teilnehmer eines damaligen Protestes im Karzer begingen. Tags zuvor berieten sich jene, die getrennt von Wiktor saßen, wie wir ihm gratulieren. Eine Auswahl gab es faktisch nicht: Karzer eben, nichts zu machen! Ich schlug vor, dass das schönste Geschenk für einen Poeten Poesie ist: Jeder von uns möge bloß eine Strophe eines Gedichtes schreiben und ihm morgen vorlesen. Die Idee gefiel und so wandten wir uns voneinander ab und begannen zu arbeiten. Es war nicht leicht, denn in der Zone waren nur Rudenko und derselbe Njekipjelow professionelle Dichter. Es war zudem nicht möglich, seine eigenen unsterblichen Werke aufzuschreiben. Man musste sie sogleich auswendig lernen. Aber egal wie, am Morgen waren alle bereit. Und gratulieren konnte man nur auf eine Art: durch die »Parascha«, d. h., durch den Kanalisationsdeckel! Wir riefen Wiktor auf die schon gewohnte Weise durch Klopfen an das Rohr. Und so wie wir nacheinander an die Fassung traten, beugten wir uns vor und trugen Wiktor gerührt unsere Gedichte vor. Er hörte sie in seiner Zelle, ebenfalls über die »Parascha« gebeugt und ebenfalls zu Tränen gerührt. Diese Szene lässt sich heute unmöglich erzählen, in Freiheit während öffentlicher Auftritte: Den Leuten, denke ich, fällt es schwer, ihren Ekel zu überwinden, sich das widerliche Milieu dieser Szene vorzustellen. Wir sahen damals keinen Schmutz, rochen keinen Gestank. All das trat vor der Magie der Freundesliebe zurück!

354 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Es ist ein Wunder, mein Gedicht behielt ich im Gedächtnis und kann es jetzt wiedergeben: Jemand presste aus sich Sklavenblut, Einen kleinen Tropfen vergifteten Blutes. Die Spinne krümmte sich: zu schwach schon. Und schlafen möchte davon die Spinne. Das ist Blut eines Unschuldigen. Was soll’s, schmackhaft. Und riecht zu stark nach Styx und Charon. Aus ihm kein starker Faden wird. Und das steht nicht an einem Rang mit Sternen. Irgendwo muss Blut von Trinkgelage sein, dick, Nährendes Blut, getränkt mit Liebe. In ihr Honig, den der Lieben gab der Mund, Und Zärtlichkeit des Sohnes, die ich mitnahm. Betrinkt sich damit und beginnt mit Spinnen Auf gewebtem Spinnentuch Solche grenzenlos quälenden Kreuze Aus deinem reinen Blute.

Im Lagergefängnis (PKT) sperrte man mich dreimal ein, immer für ein halbes Jahr. Die Kerker waren dieselben wie die Zellen im Gefängnis, nur das Haftregime änderte sich. Es wurden für die Nacht Matratze und Decke ausgegeben und die Ration der Verpflegung erhöht. Aber trotzdem war sie geringer als im gewöhnlichen Vollzug in der Zone. Man führte uns täglich zu einem dreißigminütigen Freigang hinaus. Im Vollzug der PKT gab es einen Funkanschluss und man konnte die zentralen Moskauer Sendungen hören. Meine erste Inhaftierung im Kerker (PKT) begann am 18. Juni 1979, fast ein Jahr, nachdem ich in die Zone gekommen war. Der offizielle Grund für die Bestrafung war, dass bei mir während der Durchsuchung schriftliche antisowjetische Dokumente gefunden wurden. Ich war in einem Hungerstreik aus Solidarität zur Unterstützung von Serhij Kowaljow, der seinen Streik eine Woche zuvor verkündet hatte. Er wurde durch die Blockade seines Briefwechsels und Wiedersehens mit Verwandten zur Verzweiflung gebracht. Kurz zuvor wurde er auch der Möglichkeit beraubt, seine Anwälte zu treffen, die zu ihm in die Zone kamen. Die Spannung im Lager erreichte damals eine kritische Grenze. Durch diese Solidarität konnte ich zumindest meine Unruhe darüber abbauen, dass vor

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 355 meinen Augen ein Mensch psychisch misshandelt wurde und ich untätig bleiben musste. Hier bestand in meinem Gedächtnis eine Lücke, die ich nicht mithilfe der »Chronik« ausfüllen konnte. Bis vor Kurzem war ich überzeugt und erinnerte mich daran in mehreren Artikeln, dass ich einen Hungerstreik für das Recht, eine Bibel zu erhalten, sehr rasch nach meiner Ankunft im Lager verkündete. Er dauerte zwanzig Tage (manchmal verwechselte ich es und nannte die Zahl 18). Wie die »Chronik« schreibt, wäre die erste Erfahrung mit Hungerstreiks zur Unterstützung von Serhij Kowaljow gewesen. Ich brach ihn nämlich am zwanzigsten Tag ab. Heute kann ich aber mit Sicherheit sagen, dass ich beide Hungerstreiks machte, und zwar für das Recht, eine Bibel zu erhalten und zur Unterstützung für Kowaljow. Aber in welcher Reihenfolge kann ich heute nicht mehr feststellen. Der Hungerstreik eröffnete mir eine erstaunliche Sache: Egal, wie sehr ein Mensch Kuchen und Süßigkeiten mag, bereits am dritten Tag eines Hungerstreiks träumt er nur noch von Brot. Du träumst von ihm, du spürst ständig seinen Geruch. Ein Hungerstreik in der Zelle bringt zudem noch eine zusätzliche Prüfung mit sich: Das Essen wird in die Zelle und auf den Tisch gestellt. Du nimmst eine Zeit lang sehr deutlich seinen Geruch wahr, wobei sogar die schlechteste Wassersuppe göttlich gut duftet … Ungefähr fünf Tage nach Beginn des Hungerstreiks beginnt man, den Häftling zwangsweise zu ernähren (und später alle drei bis fünf Tage).134 Ich weigerte mich, selbstständig zu essen. Um den

134 Wasyl Owsijenko schreibt in seiner Rezension über das Buch meiner Erinnerungen aus diesem Anlass: »Ich selbst machte keine langen dauernden Hungerstreiks. Aber Stus brach einen Hungerstreik Anfang 1983 am 18. Tag ab. Man ernährte ihn nicht mit Gewalt.« 1984 sagte er mir: »Wie widerlich das ist, den Hungerstreik zu beenden und so auch nichts erreicht zu haben.« Er starb am 3. September 1985 am siebenten Tag eines Hungerstreiks in der Zelle. Jurij Lytwyn ernährte man im Herbst 1983 am 16. und 25.Tag künstlich. Am 26.Tag beendete er den Hungerstreik. Iwan Hel ernährte man das erste Mal am 32. Tag! Er hungerte hundert Tage. Man ernährte ihn alle drei bis vier Tage. Mychajlo Hryn hatte während seiner Untersuchungshaft 1981 am 10. Tag einen Herzanfall und führte keine lang andauernden Hungerstreiks mehr durch. Iwan Makar hungerte 35 Tage während der Untersuchungshaft im Jahre 1985! Wir im Lager dachten, dasss man im Durchschnitt am 18. bis zum 22. Tag beginnt, zwangsweise zu ernähren.

356 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Bruch meiner Zähne zu vermeiden (was zuvor bei Häftlingen geschah), leistete ich keinen Widerstand gegen die Einführung eines Schlauches in meinen Magen. Man füllte ihn dann mit flüssigem Brei. Ich muss offen sagen, dass ich nur mit meinem eigenen Willen und mit meinem Wesen protestierte, während der Organismus selbst dennoch Freude über die Wärme des mir eingefüllten Breis spürte. Die Logik der politischen Konfrontation wollte dieser aus irgendeinem Grund nicht übernehmen … Serhij hielt den Hungerstreik 27 Tage durch und beendete ihn am 11. Juli, nachdem man ihm trotz allem ein Treffen mit der Moskauer Anwältin Rjesnikowa gewährte. Dann beendete auch ich den Hungerstreik. Und als ich wieder gegessen hatte, wurde mir in der Nacht schlecht: Der Magen und das Herz schmerzten – es setzte eine Magenblutung ein, ich wurde dreimal bewusstlos. Der weitere Aufenthalt im Kerker (PKT) war, soweit ich mich erinnere, ziemlich ruhig. Ich war faktisch in einer Einzelzelle, las süchtig die »Anthologie der Weltphilosophie«. Damals entstand in mir nämlich jene Sicht auf die Welt, dass du dann, wenn du die Geschehnisse scheinbar von der Seite her betrachtest, zu einem Teilnehmer eines erstaunlichen Dreiecks wirst: du selbst, der kleine Planet Erde vor dir und Gott. Welches Leiden an Einsamkeit kann denn hier sein? Die damalige Atmosphäre meiner Einsamkeit gibt ein Auszug aus meinem Brief gut wieder: 9. Juli 1979: Bezüglich meiner Freizeit, Mamusetschko, so ist sie äußerst einfach – Bücher und Marschieren im Zimmer. Doch dieser freie Geist des zwanglosen Kopfes macht den Raum zum Denken grenzenlos, deshalb wird die zurückgelegte Fahrstrecke am Zähler vom Bewusstsein einfach nicht festgehalten. In diesen Tagen lebe ich in einer utopischen Welt, kann sein, weil ich Novellen von Schewtschenko lese. Oder vielleicht umgekehrt, fanden die Novellen, die mir früher gleichgültig waren, dank meiner Verträumtheit in meiner Seele dankbare Resonanz. Und noch wartet auf meine Aufmerksamkeit Schewtschenkos Epistolarium.

Nach einigen Monaten zerstörte man mir diese Romanze mit mir selbst beinahe. Eines Tages teilten die Aufseher mit, dass von nun an in meiner Zelle Iwan Popadytschenko, ein ukrainischer Sportler untergebracht wird, der infolge eines erstaunlichen Verlaufs der Umstände in einem politischen Lager gelandet war. Iwan schloss

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 357 sich unserem Kampf im Lager mit der Verwaltung in all ihrem Umfang an und geriet so öfters unter die Zahnräder der Strafmaschine. Es ergab sich aber so, dass ich und noch einige andere (z. B. Oles Serhijenko) psychisch unverträglich mit ihm waren. Deshalb war die Perspektive, mehrere Monate mit ihm in einer Zelle zu verbringen, für mich katastrophal. Ich verstand, dass es für mich leichter ist, einen Hungerstreik zu verkünden, als eine solche Nachbarschaft zu haben. Deshalb warnte ich die Verwaltung, wenn mir trotzdem Popadytschenko hineingesetzt würde. Dieses Mal wirkte die Warnung und ich blieb allein in dieser PKT bis zum Ende. Diese Entscheidung war durch die Umstände erzwungen und psychologisch motiviert, aber ich kann wohl stolz darauf sein. Bereits damals kamen Zweifel in mir auf, worüber ich später aus einem anderen Grund meinen Verwandten schrieb: 12. Juni 1983: Das Schicksal sendet uns solche (schwierigen) Menschen, damit wir durch sie, wie mit einem Senkblei die Tiefe unserer Geduld und unserer Liebe zu den Menschen ausmessen können. In heftigen Augenblicken habe ich sogar das deutliche Gefühl, ich sei bei einer kosmischen Prüfung anwesend und die Geschichte mit dem biblischen Jehova im menschlichen Leben wiederhole sich unendlich. Und bei jeder Prüfung ist das Wichtigste Ruhe zu bewahren, denn nur so zeigt sich wahre Weisheit.

Dieses Erlebnis mit Popadytschenko blieb der einzige Fall meiner eigenen Unverträglichkeit, obschon es im Leben im Lager viele ähnliche Beispiele gab. So fiel mir einmal (ich glaube, das war 1980) eine weitere Prüfung zu: Ich musste in eine Zelle (PKT) zusammen mit Bogdan Klymtschak und Mychajlo Slobodjan. Beide kamen psychologisch nicht miteinander aus, genauer gesagt: Bogdan konnte Mychajlo gar nicht ertragen. Ihn reizte alles, was mit ihm verbunden ist. Er hielt sich sogar die Ohren zu, wenn Mychajlo sich wusch oder aß: »Geh bitte nicht in meinen Teil hinein!« Und er wandte sich ab, um nur die Wände zu sehen. Obwohl wir alle drei Ukrainer waren (sogar aus Galizien), war es dadurch nicht leichter. Ich berichte von diesem Erlebnis nicht, um einen Schatten auf Bohdan Klymtschak zu werfen: Das waren keine Launen, sondern ein dauerndes psychisches Trauma. Das Leben im Lager ist insgesamt sehr schwer. Man muss immer auf eine unerwartete Provokation durch die Lagerverwaltung gefasst sein und dabei immer den

358 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT psychischen Stress einer Bestrafung ertragen. Selbst nach vielen Jahren, bereits nach der Freilassung, wunderten sich meine Freunde öfters. »Du schaust so drein, als ob du ständig ein Problem erwartest.« Es ist damit verständlich, dass sich die Beziehungen im Kollektiv der Häftlinge unter diesen Bedingungen einer so großen psychischen Anspannung nicht immer reibungslos gestalteten. Die Menschen waren jahrelang auf einen kleinen Raum beschränkt, sahen ständig ein und dieselben Gesichter und mussten so oder so miteinander verkehren, obwohl bei Weitem nicht alle psychologisch miteinander verträglich waren, wie ich bereits gesagt habe. Es fehlte deshalb nicht an Konflikten. Um Kosmonauten auf einen Langzeitflug zu schicken, wählen die Organisatoren speziell solche aus, die seelisch zusammenpassen. Im Lager hingegen war es umgekehrt. Die Verwaltung wählte sehr oft Unverträgliche aus, um ihnen zusätzliche Leiden aufzubürden. Genau das geschah auch im Fall von Slobodjan und Klymtschak. In meinem Gedächtnis blieben mir aber viel mehr Beispiele menschlichen Edelmuts und hohen Geistes. Und um das zu verdeutlichen, beziehe ich mich auf einzelne Fragmente des Lebensschicksals von Walerij Martschenko. Im Frühjahr 1979 wollten wir zu einem bestimmten Termin einen Hungerstreik durchführen und fingen an, uns darauf vorzubereiten. Eine Woche zuvor brachte man Walerij, der eine schwere Nierenerkrankung hatte, aus dem Lager in ein Krankenhaus in Perm und er war deshalb außerhalb der Grenzen der Erreichbarkeit für Lagernachrichten. Ich erinnere mich nicht, was sich im Verhalten der Lagerverwaltung geändert hatte, aber das Lager beschloss, den Hungerstreik durch eine andere Form des Protestes zu ersetzen. Nach einiger Zeit kam Walerij aus dem Krankenhaus zurück und fragte uns: »Nun, wie habt ihr den Hungerstreik durchgeführt?« Wir machten uns klein und begannen zu erklären, dass sich die Umstände verändert und wir deshalb unseren Plan verworfen hatten. Aber Walerij antwortete erstaunt: »Und ich habe im Krankenhaus gehungert: Wir haben das doch abgemacht.« Die Situation war schrecklich. Wir vergaßen völlig, dass er vom geplanten Hungerstreik wusste. Und dachten sogar nicht daran, dass ein Mensch von solcher Ehrlichkeit, solcher inneren

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 359 Anständigkeit wie Walerij Martschenko, es für seine Pflicht hält, selbst dann in den Hungerstreik zu treten, wenn davon niemand weiß. Und er sogar schwer krank war. Von einer solchen moralischen Höhe ist der Geist einfach ergriffen … Walerij und ich waren damals viel zusammen. Wir besprachen im Einzelnen oft gebrochene Schicksale unserer gemeinsamen Bekannten in Kyjiw. Wir vereinbarten im Scherz, dass jeder von uns einmal beim anderen zur Hochzeit kommen würde. Wir verstanden durchaus, dass das weitere Schicksal uns einen solchen Luxus wie die Ehe kaum schenken würde. Auf die Spuren dieser Scherze kann man später, nach Walerijs Abreise in die Verbannung, in meinen Briefen an die Verwandten treffen: 22. November 1981: Walerij [Martschenko] schrieb mir vor Kurzem, aber seinen Brief erhielt ich nicht. Das ist für mich schon gewohnt, sodass ich es irgendwie überstehe, aber schwerer sein wird zu überstehen, wenn er eher heiratet, als ich zur Hochzeit kommen kann. Und schließlich, ein solcher Kerl wie Walerij muss immer auserwählt und etwas unerreichbar sein – wohin mit ihm, der Besitz von einer zu sein!

Seine Haftzeit begann bei Walerij, wie auch bei vielen der damaligen politischen Häftlinge, mit Schwankungen und Kompromissen. Die weitere Linie seiner geistigen Entwicklung verlief jedoch bereits steil nach oben. Besonders willig zu einem Opfer war Walerij in seinem Verhalten zwischen zwei Verhaftungen. Viele Dissidenten wussten ja, dass sie verhaftet werden, Walerij wusste ebenso, dass er im Lager stirbt (in Anbetracht seiner schweren Krankheit). Zeugin dafür ist meine Mutter, der er vor seiner zweiten Verhaftung mit bitterer Ironie sagte, wohin ihm zu emigrieren beschieden sein wird. Der Unterschied ist meiner Meinung nach groß. Die Mehrzahl der politischen Häftlinge beteiligte sich am gemeinsamen Lagerkampf in einem gesunden Zustand – Walerij kämpfte aber schwer erkrankt. Jeder von uns weiß, wie sich unser Empfinden der Welt verändert, selbst wenn wir bloß an einer Grippe kränkeln. Was soll man aber dann von jenen Krankheiten sagen, die die Seele mit Todesqual erfüllen? Walerij hielt dennoch stand. Deshalb ist das nicht nur ein Kampf (und überhaupt kein Kamikaze-Weg!), das ist Martyrium.

360 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Ich muss vorausschickend auch sagen, dass Walerij damit voll und ganz seine Verpflichtung als Sohn erfüllt hat. Es gab die Zeit, als seine Mutter ihm zu laufen beigebracht hat und somit die Möglichkeit, seine ersten Schritte im eigenständigen Leben zu tun und sich schlicht und würdig zu benehmen. Und dann wurden die Rollen vertauscht und Walerij lehrte bereits seine Mutter, sich nicht vor dieser typisch zähen Angst beherrschen zu lassen, die einen Sowjetmenschen ihren Verstand, ihr Gewissen und ihre Ehre nahm. Sie brachte ihm bei, erste Schritte in seinem Ungehorsam als Staatsbürger zu tun und sich ebenfalls würdig und schlicht zu benehmen. Du bist für mich die Einzige, aber ich wünsche niemandem, nichts davon gehört zu haben, dass man trotz seiner biologischen Abstammung mit seiner Mutter quer liegen kann. Doch will meine Mutter wirklich einen moralischen Bastard, der auf die Frage ›Ob du die letzten dreißig Jahre von Heuchelei gelebt hast?‹ vor Scham wegsieht und … zustimmen müsste, etwas von Krankheit und Unerträglichkeit zu stammeln? Ist ein solches Leben denn einem Sohn zu wünschen?135

So umriss Walerij die Alternative. Wie viel Dramen in ihrer Seele erlitten diejenigen Sowjetmenschen, die dem Druck des KGB deshalb ausgesetzt waren, weil sie eine Stütze für ihre Verwandten sein mussten. Sie verließen ihren aufrührerischen Weg und versuchten, ruhig zu leben. Voller Reue baten sie um Freiheit und danach ertränkten sie ihr Elend in Wodka und Hoffnungslosigkeit. Sie beschenkten ihre Verwandten nur mit dem Anblick ihres eigenen langsamen Sterbens, indem sie sich zwangen, sich unter die Last ihrer Ausweglosigkeit zu beugen. Man kann es so tun, wie es Walerij tat: nicht verraten, in den Tod zu gehen und dann bis in die späten Jahre seiner Mutter sich auf die geistige Hilfe aus dem Himmel zu stützen und in guter Überzeugung seinen Rücken aufzurichten in der Hoffnung, dass das Opfer seiner Mutter und das eigene dem lieben Gott eine Zierde in seinem Reich ist. Als eine solche Zierde bleiben mir Mutter und Sohn für immer als aufrichtig und klar in meiner Erinnerung. Meinen Aufenthalt in der Zone könnte ich in zwei Zeitabschnitte unterteilen. Der erste ist das Leben nach ungeschriebenen 135 Walerij Martschenko. Briefe an die Mutter aus der Unfreiheit, S.254.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 361 Gesetzen des Lagers in Konfrontation mit ihrer Verwaltung. Als klassisch in diesem Sinne kann man die Beschreibung von Jewhen Swerstjuk betrachten: Meine Teilnahme im Lager war aktiv: Teilnahme an Hungerstreiks, Massenaktionen, ständiger Konfrontation mit der Verwaltung. Ich war daneben niemals Initiator von Konflikten mit der Verwaltung im Lager. Setzte nicht das Ziel, mit Soldaten und Majoren zu kämpfen. Ich verkehrte nicht mit ihnen. Es konnte bei mir so sein: Ich ging am Lagerleiter Kotow vorbei. Er holt mich ein: ›Swerstjuk, warum grüßen Sie nicht? Meinen Sie, dass eine eigenständige Ukraine einen Nutzen davon hat?‹ ›Ja, ich meine einfach nicht, dass das große Russland das wirklich braucht.‹136

Eine solche Ruhe und Gelassenheit, die von der durch Gott gegebenen Würde ausgeht, waren bei Weitem nicht allen zu eigen. Viel häufiger fand man eine Demonstration seiner Unverletzbarkeit unter den Häftlingen: das demonstrativ scharfe Verhalten zu den Ments, eine ausschließlich unabhängige Verhaltensweise, die stolze Haltung gegenüber dem KGB im Lager, Hauptmann Surowzew. Genau diese Manier übernahm ich zuerst auch, obwohl ich irgendwo in der Tiefe meiner Seele fühlte, dass ich damit eine Rolle spielte. Aber es schien mir nichts anderes zu bleiben: Ein alternatives Modell meines Verhaltens wäre in meiner Vorstellung lediglich Verrat gewesen. Anfang 1980 wurde plötzlich Senowij Krasiwsky ins Lager gebracht, ein erfahrener Häftling, der schon seine vierte Frist abbüßte (nach dem Baumfällen in Archangelsk, der Zentrale in Wladimir und der Klapsmühle in Smolensk), d. h. ein Mensch mit absolut bewiesener Ehrenhaftigkeit. Wir lernten uns im Lagerraum kennen, wo er mich nach der Ankunft in der Zone aufsuchte. Wir brauchten nur einige Sekunden einander in die Augen zu sehen, uns zu umarmen und wir wurden sofort Verwandte. Sehr rasch bemerkte ich, dass sein Verhalten irgendwie anders ist. Es ist nichts Unnatürliches, nur der Ordnung halber. Sogar Surowzew begrüßte er, unterhielt sich ruhig, manchmal scherzte er sogar freundlich, so schien es. Krasiwsky des Verrates zu verdächtigen konnte ich nicht, versteht sich. Einmal fasste ich Mut und fragte ihn: »Herr Senka, haben 136 Kraina, 11.12.2014, Nr. 48 (251), S.34.

362 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Sie keine Angst, dass man Sie in der Zone falsch versteht?« Krasiwsky schaute mich verwundert an und antwortete mit einer Gegenfrage: »Und Sie, haben Sie etwa kein Vertrauen?« Ich war verblüfft: Wo liegt denn die Lösung? Man selbst zu sein! Ehrlich sein und nicht versuchen, nur so auszusehen! Wem möchte ich meine kämpferische Unzerstörbarkeit beweisen? Denn das für mich natürliche Verhalten brauchte keine Demonstration dieser Seichtheit und ideologisch motivierten Geringschätzung; d. h., ein innerer Widerstand bestand schon, aber nicht in Senowijs Verhalten, sondern in meinem! Später wurde mir bewusst: In dieser Position von Senowij war etwas von der Haltung Christi. Denn Christus fürchtete sich nicht, in das Haus des Zöllners zu gehen und damit stillschweigend menschliche Tabus zu brechen. Aber er vertraute sich selbst und tat menschlichen Vorstellungen über ihn keinen Gefallen. Außerdem stellte ich erstaunt fest, dass ich damit während eines normalen Gesprächs mit meinen Gefängniswärtern ihnen Empfindlicheres für ihr Gewissen sagen kann als damals, als ich mich ereiferte. Und meine Würde nahm damit zu. Dank der einfachen Formel des unvergessenen Herrn Senka verging die zweite Hälfte meiner Frist in der Suche nach meinem eigenen Antlitz, meiner eigenen Manier der Konfrontation. Ich beteiligte mich auch weiterhin an den Hungerstreiks und anderen Streiks im Lager. Dazu kommt, dass genau das Jahr 1980 fast das schwierigste in meinem Leben im Lager wurde. Meine Rebellion erreichte den Höhepunkt und die Bestrafungen rieselten eine nach der anderen auf mich herab. Aber all das nahm ich bereits mit einem anderen psychologischen Schlüssel auf mich. Es gab jedoch auf diesem Weg Errungenschaften, die bis heute ebenfalls meinen Charakter bestimmen. Es gab auch schmerzhafte Fälle des Scheiterns, aus denen ich mich nur unter Schwierigkeiten heraushangeln und die verlorene Selbstachtung zurückerobern konnte. Das war ein herrlicher Drill des Lebens, den ich in Freiheit niemals durchgemacht hätte. Ein weiteres Mal erlangten Worte einen Sinn, die ich schon früher meinen Verwandten geschrieben hatte:

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 363 2. Juli 1979: Ich habe bereits aufgehört, mich über den Kreislauf meines Schicksals zu wundern, eher im Gegenteil, es wurde in mir ein Interesse daran geboren, welche unter der Vielzahl der Gruben, die auf den Menschen warten, meine ist. Es stellte sich heraus, vielleicht ist es das sündige Bestreben, eine Gesetzmäßigkeit der Vorsehung aufzufangen, mit ihren Augen auf die Welt zu blicken.

Zu dieser Zeit wurde bereits Njekipjelow und Henrich Altunjan aus dem Lager ins Gefängnis gebracht und es waren auch bereits andere Freunde von mir nicht mehr da. Mir war traurig zumute und ich dachte, es wäre vielleicht an der Zeit, dass auch ich in das Gefängnis von Tschystopol komme. Gerade da traf mich »wie die Sense den Stein« die Lagerverwaltung. Eines Morgens spürte ich, dass ich Fieber hatte, und ging nicht zur Arbeit. Doch in der Sanitätsstelle wurde mir gesagt, dass ich arbeiten könne. Ich rebellierte und ging trotzdem nicht zur Arbeit, worauf man mir das Wiedersehen strich. Zuvor hatte ich sie gewarnt: »Überlegt gut, bevor ihr mich bestraft. Denn in diesem Fall nehme ich Kurs auf das Gefängnis.« Es wirkte nichts und ein neuer Zyklus meiner langwierigen Konfrontation begann. Im Brief an meine Verwandten kann man meine seelische Anspannung spüren: 14. Januar 1980: Schon das dritte Mal strich man mir das Wiedersehen. Ich, Mamusetschko, nahm jenen Brief hervor, wo du mich bittest, dass ein Wiedersehen dennoch stattfindet, aber ich konnte nichts machen. Deshalb ist mein Gewissen rein … Ich bin gelassen, obwohl der Kelch übergelaufen ist, und bete zu Gott nur, dass er euch beiden beisteht, selbst stoisch diese Nachricht zu ertragen. Und sollte es so geschehen, dass es unser Wiedersehen lange nicht geben wird, so kratzt die Reste eurer Geduld zusammen und wartet … Gegenwärtig bin ich lebendig und gesund, obwohl sich vor einigen Tagen eine Grippe an mich geheftet hat. Auskurieren, ich kurierte mich aus … Zwei Tage musste ich nicht arbeiten und auf der Pritsche liegen, aber heute, am Montag, bin ich wieder arbeiten gegangen. Ich kurierte mich mit meinen eigenen Mitteln.

Und wirklich, die Strafen rieselten eine nach der anderen auf mich. 4. Januar 1980: Sieh da, bereits drehte sich die Sonne wieder zum Frühjahr hin, der Blick bleibt bereits an der zweiten Hälfte des Kalenders hängen und versucht vergeblich zu bestimmen, wie viel Unglück in der Büchse der Pandora in diesem Schaltjahr ist.

364 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Monatelang kam ich aus den Karzern nicht heraus, man gab mir wieder sechs Monate Kerker (PKT) und Surowzew sagte einmal: »Nein, wir schicken Sie nicht ins Gefängnis.« In dieser Zeit geriet ich in einen ziemlich schwierigen physischen Zustand. Ich erinnere mich, dass ich angeschwollen war, sogar einige physiologische Funktionen bereits gestört waren. Ich kam später trotzdem zum Schluss, dass in jenem von mir angestrebten Gefängnis ebenfalls etwas Ungutes ist. Kurz gesagt: Ich trennte mich von diesem Gedanken und kehrte in die Zone zurück. Und bedaure es im Rückblick nicht. Die nächste Welle der endlosen Bestrafungen begann im Herbst 1982 nach dem oben geschilderten Streik zur Unterstützung von Oles Schewtschenko. Genau zu dieser Zeit schrieb ich meinen Verwandten nach Hause: 14. Oktober 1982: Meine Liebsten! Ich lebe und halte mich, macht euch keine Sorgen. Ich schreibe das sofort, denn ich begreife, was euch das lange Ausbleiben von Briefen gekostet hat. Verständlich, dass ich nicht schreiben konnte, ich hatte kein Recht dazu [ich war 34 Tage im Karzer]. Jene längsten Botschaften an euch, die ich in Gedanken zusammenfügte, als ich nachts auf der Pritsche lag, sind vielleicht nicht angekommen. Sie kamen trotzdem bestimmt nicht an, denn als ich eure Briefe erhielt, freute ich mich, dass keinerlei schlechte Träume euch alarmiert hatten. Nach jenem Brief an Nadijetschko, in dem ich euch beide zu euren Namenstagen gratulierte, schrieb ich keinen einzigen. Das Limit für einen zweiten Brief im September war damit aufgebraucht. Es gibt aber noch ein anderes Ergebnis dieser Pause: Unser Wiedersehen schob sich um 34 Tage hinaus. Aber auch das ist noch nicht alles. Seit dem 11. Oktober bin ich wieder für fünf Monate in ein weiteres neuen Vollzugsregime verlegt [versetzt in die PKT, anders ausgedrückt: in das kleine Gefängnis beim Lager], wie das schon früher war. Weil dies ebenfalls das Wiedersehen aufschiebt, so lässt sich jetzt zusammen mit der Verschiebung von April, der Zeitpunkt des Wiedersehens meiner Orientierung nach auf den 13. Oktober 1983 ermitteln. Wir werden keine zwei nächsten Kurzwiedersehen haben, das nächste kann vielleicht am 8. Februar 1984 stattfinden. Es ist auch für euch traurig, dass man mir am 12. Oktober das Paket verwehrt hat, sodass der ganze Kuchen von Mutter auf den Rückweg nach Hause wartet. Jetzt über das Päckchen: Man soll es mir in den nächsten Tagen aushändigen, weil es keine Lebensmittel enthält. Den Antrag habe ich schon geschrieben. Sollte man euch das Päckchen zufällig zurücksenden, dann sorgt euch nicht zu sehr und schickt es wieder (aber nur Sachen, ohne Lebensmittel). Diese für mich sehr schwierige Liste muss ich noch dadurch ergänzen, worüber ihr aus den vergangenen Jahren wisst: Bei meinem jetzigen Vollzug darf ich nur einen Brief in zwei Monaten schreiben. Und deshalb

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 365 verlangsamt sich für euch wieder wahnsinnig diese Schildkröten-Zeit, denn der nächste Brief kann womöglich erst gegen Neujahr eintreffen, und das auch nur, wenn es klappt. Nun, meine Liebsten, beruhigt euch, denn bereits ich quälte mich mit dieser Aufzählung. Auch ich gehe in der Zelle umher, stelle mir euch vor, um zu erfahren, was in diesem Moment mit euch ist. Ich träume mit meiner reichen Vorstellung und schreibe dann den Brief weiter …

Die weiteren Schicksale verschmolzen mir zu einer grauen Masse. Es gelang dem KGB und der Verwaltung dennoch in erheblichem Maße nicht, den Abfluss von Nachrichten aus der Zone einzudämmen, wobei die »Chronik« dieser Zeit dennoch erhebliche Lücken aufweist. Ich könnte also Gefängnisstrafen erlitten haben, was für einen politischen Häftling normal war. Deshalb prägte es sich nicht besonders in mein Gedächtnis ein. Wenn ich nicht irre, gab es aber einen langen Aufenthalt in der PKT nicht mehr. Das nationale Leben im Lager In diesem Buch wurde schon mehrfach auf die nationalen Aspekte des Lagerlebens hingewiesen, der einer der wichtigsten war. Oleksij Smirnow sagte: »Im Gegensatz zum Leben in der freien Welt hatte im Gefängnis die Nationalität eine besonders hohe Bedeutung.«137 Die Zone war an für sich schon ein kleiner »Babylonischer Turm« nicht nur im ideologischem, sondern auch im nationalen Sinne, wobei die Ukrainer in allen Lagern immer überwogen: Die innere nationale Politik des Landes spiegelte sich in der nationalen Zusammensetzung der politischen Häftlinge wider. In den Mordwinischen Lagern im Ural sind 30–40 % Ukrainer und manchmal sogar noch mehr; etwa 30 % sind Balten; Russen und andere Nationalitäten der UdSSR waren unter 30 %. In den stalinschen Lagern lag die gesamte Last des Kampfes gegen die Willkür bei den Ukrainern. Sie tragen sie auch heute noch.138 Etwa 40 % der Dissidenten waren die Jungen, die sagten: ›Der König ist nackt.‹ Es waren Ukrainer. Unter ihnen Philologen, Historiker – Menschen mit einem unabhängigen Denken. Es gab keine Weißrussen, es gab keine Kirgisen, es gab keine Usbeken. Das zeigt, wer das Ferment im Widerstand

137 Aleksej Smirnow. Die Wahl (http://index.org.ru/nevol/2012-31/18-smirnov. html). 138 Zeitung »Swoboda« (New York), Nr. 221 v. 28.09.1979.

366 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT war und immer noch ist. Bevor Janukowytsch überhaupt Diktator werden konnte, bekam er den Maidan.139

Da ich jeden Tag meine ukrainische Sprache aus dem Mund meiner Brüder hörte, verspürte ich keine Nostalgie. Der ukrainischsprachige Hauptmann des KGB war mir auch stets zu Diensten und am Horizont konnte ich eine Imitation der Karpaten sehen, wie ich schon erwähnte. Natürlich zog es jeden, der ins Lager kam, zuerst zu den eigenen Landsleuten. Deshalb erstaunt wohl niemand der folgende Eintrag vom 9. März 1982 in Ausgabe 64 der »Chronik«: In der Kantine wurde feierlich der Geburtstag von Taras Schewtschenko begangen. Bei dieser Gelegenheit wurden auch einige seiner Gedichte vorgetragen. Die Worte dieses Dichters waren schnon immer eine wichtige Stütze. In ihnen lag auch eine tiefe Verwandtschaft mit dem Evangelium des Herrn.

Für die Ukrainer war es einfach, in das eigene nationale Element einzutauchen, nicht aber für die Esten und Georgier, die es nicht leicht hatten, ihresgleichen zu finden. In diesem »Tal der Trauer« teilten viele der politischen Häftlinge ein nationales Trauma. Wenn ein extremer Fall erwähnt werden müsste, dann wäre es das Schicksal des Armeniers Ischchan Mkrtschjan, der mich an eine einsame Biene erinnerte, die mit Gewalt von ihrem Bienenstock vertrieben worden war. Ich erlebte es besonders, als wir beide im Herbst 1982 für einige Monate in derselben Zelle (PKT) untergebracht waren. Wie geistig fremd war für ihn doch diese Welt verfehlter Illusionen! Wie deutlich zeigte sich gerade an seinem Beispiel dieses Verbrechen, das die russische Übermacht an den Trägern anderer nationaler Kulturen verübte! Wie Norik Hryhorjan sich erinnerte, lag Ischchans Verbrechen darin, dass er eine Jugendgruppe gegründet hatte, die in Armenien patriotische Flugblätter an die Wände klebte. Dafür bekam er fünf Jahre Freiheitsentzug und fünf Jahre Verbannung. Als er nach seiner Verurteilung in den Ural transportiert wurde, erlebte er, wie ein krimineller Häftling, als er im Durchgangsgefängnis zum 139 Grenzzustand. Der Psychiater und Dissident Semen Glusman über die Gesundung der Ukraine und die Furcht vor Putin (im Weiteren: Grenzzustand).

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 367 Weitertransport wartete, mit einem Nagel sieben (!) Türen öffnete und dann alle Häftlinge ausbrachen, die in der Zelle waren. Nach einigen Tagen wurden aber alle wieder gefasst und brutal geschlagen: Bei Ichchan lief das Blut aus den Ohren und er urinierte auch Blut. Von einem dieser Ausbrecher wurde berichtet, dass er starb, und ein anderer von den Folterungen wahnsinnig wurde … Um Ischchan zumindest ein wenig den Klang seiner Muttersprache zu ermöglichen, schlug ich ihm vor, dass er sie mir beibringt, worüber er sich sehr freute. Also begann ich, die charakteristischen Buchstaben des berühmten armenischen Alphabetes sorgfältig nachzuzeichnen und auch einige einfache Alltagssätze zu lernen, mit denen ich mich später auch an ihn wenden konnte. Ich sang ihm auch das bekannte armenische Lied »Zizernak« (»Schwalbe«) vor, das ich ebenfalls erlernt hatte. Was ich damals noch nicht wusste, war, dass das Unglücksdatum 24. April 1985 der Trauertag für die Opfer des Völkermordes an den Armeniern im Osmanischen Reich war. Ich war damals schon in der Verbannung. Ischchan, der alle diese Verfolgungen und die nationale Schande nicht aushielt, erhängte sich in seiner Zelle … Bereits in den ersten Monaten meines Aufenthalts im Lager hörte ich von den ukrainischen, politischen Häftlingen Anatolij Sdorowy und Jewhen Pronjuk von der Idee einer landsmännischen Ordnung in der Zone, die zur allgemeinen Billigung vorgeschlagen wurde. Jede Idee in Bezug auf die Durchführung einer kollektiven Protestaktion sollte aber zuerst in den Zusammenkünften der einzelnen nationalen Landsmannschaften besprochen und dann mit den anderen Häftlingen abgestimmt werden. Es war eine Art Parlament der Landsmannschaften. Als wir von dieser Idee erfuhren, lehnten Jewhen Swerstjuk und ich sie unabhängig voneinander kategorisch ab. Mir kam sie nicht nur zu bürgerlich, sondern auch nicht durchführbar vor. Das Wichtigste aber war, dass sie uns die persönliche Freiheit nahm. Wenn du eine Aktion durchführst, die Mehrheit deiner Landsmannschaft aber dagegen stimmt, bist du verpflichtet, dich ihr unterzuordnen. Weil der Preis jeder deiner Entscheidungen außergewöhnlich hoch war (du riskiertest nicht nur die eigene Gesundheit und das eigene Schicksal, sondern auch das Schicksal deiner Verwandten), ist es nicht angebracht, sich

368 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT einem anderen Willen zu unterwerfen als dem seines eigenen Gewissens. Das Lager schuf oft komplizierte Situationen, da in diesem abgeschlossenen Raum, wie ich schon erwähnte, ukrainische Nationalisten waren, die offen die Trennung der Ukraine von Russland forderten, und der überzeugte russische Monarchist Ihor Ohurzow, für den die Ukraine fast der wertvollste Diamant in der Zarenkrone war. Es begegneten sich täglich erbitterte Antikommunisten wie der überzeugte Bolschewist Hryhorij Isajew, der die Säuberung der heiligen kommunistischen Idee vor schädlichen Verwerfungen verlangte. Juden lebten in demselben Raum mit ehemaligen Polizeimännern. Armenier und Aserbaidschaner versuchten, die Erinnerung an Karabach zu vermeiden. So standen alle im Lager auf derselben Ebene: als Gejagte, Verfolgte, Verhaftete. Niemand konnte einen höheren sozialen Status in Anspruch nehmen, alle waren kahlgeschoren und trugen dieselben Kleider. Die gemeinsame Ebene der Bruderschaft zwang dich zu einer gewissen Toleranz und Rücksicht gegenüber den Überzeugungen Andersdenkender. Sie bezahlten denselben Preis wie du. Die Übereinstimmung unseres Status und die Verbundenheit im Blick auf unsere Feinde betrafen alle, ungeachtet ihrer Nationalität. Der jüdische, politische Häftling Arje Wudka äußerte sich so: Wir hatten einen gemeinsamen Feind, wir hatten ein ähnliches Ziel, wir mussten uns deshalb gegenseitig unterstützen. Wir sahen, wie die Macht versuchte, Zwietracht zwischen den Menschen verschiedener Nationalitäten im Lager zu säen – und wir spürten, dass alle in derselben Lage sind, und denselben Feind haben. Deshalb war die Einstellung, Zwietracht zu überwinden, die gesät wurde, und miteinander zu handeln und einander zu helfen nicht nur im persönlichen Sinne, sondern auch unter den verschiedenen Gruppen.140

Die Russen mussten im Lager manchmal sogar ukrainische nationale Sachen beschützen. Ich erwähnte bereits, wie ich damals einmal durch die Zone ging und Zeuge einer bezeichnenden Szene wurde, als Serhij Kowaljow im Beisein vieler anderer Häftlinge mit 140 Isabella Chruslinska, Petro Tyma. Dialoge des Verständnisses: ukrainisch-jüdische Beziehungen. Kyjiw: Dukh i Litera, 2011, S.154 (im Weiteren: Isabella Chruslinska, Petro Tyma. Dialoge des Verständnisses).

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 369 dem operativen Bevollmächtigten im Lager stritt. Jener war überzeugt, dass alle Kämpfer der UPA Verbrecher waren. Kowaljow bewies ihm aber, dass sie nur Freiheitskämpfer waren. Man muss sich den Schock des Mitarbeiters der Straforgane vorstellen, als er nicht aus dem Mund eines Ukrainers, sondern eines Moskauers Worte der Unterstützung des bewaffneten Kampfes des ukrainischen Volkes hörte! Genauso konnte die Verwaltung es nicht begreifen, was den Juden Semen Glusman, der in einer ganz und gar loyalen sowjetischen Familie erzogen worden war, mit ehemaligen Kämpfern der Ukrainischen Aufständischen Armee oder mit den Banderowezen verband, die nun zusammen mit ihm im selben Lager waren. Glusman erinnerte sich so: Die völlig natürliche, warmherzige Beziehung zwischen uns drei [Jewgen Pryschljak, Wasyl Pidhorodezky und Semen Glusman] wurde sofort zum Anlass für ziemlich emotionale operative Vorhaben: Die Macht konnte sich nicht in aller Ruhe die nahe Freundschaft zweier nicht mehr junger Banderowezen und eines russischsprachigen Juden mitansehen! Fast täglich versuchte der ein oder andere Zuträger ehemaliger nationalsozialistischer Polizeimännern meine ›verjudeten‹ Freunde zu belehren … Der weise Pryschljak berichtete mir sarkastisch von diesen Versuchen.141

Es lohnt sich, diese Erinnerung mit den Worten des ethnischen Ukrainers Jewhen Swerstjuk zu vergleichen: Ich war sehr erstaunt, als ich sah, dass […] Menschen, die bereits 25 Jahre absitzen, alte Banderowezen, die gekämpft hatten, nicht vom Antisemitismus angesteckt waren. Das ist ein sehr wichtiges Kennzeichen. Es gelang aber nicht, diese Toleranz in der Zone in die sowjetische Welt mitzunehmen. Wenn es einmal Anzeichen von Xenophobie gab, konnte immer mit solchen Menschen geredet werden. Unter den Bedingungen der Freiheit ließen wir uns zur Unfreiheit drängen.142

Das Lager half all jenen Gruppen, die gegeneinander eingestellt waren, sich die Argumente anderer anzuhören. So hörten Ukrainer zum ersten Mal Juden zu und Juden Ukrainern. Sie hörten einander so zu, dass sie sich bemühten, die Argumente anderer zu verstehen, 141 S.F.Glusman. Zeichnungen aus dem Gedächtnis, oder Erinnerungen eines Häftlings, S.97. 142 Isabella Chruslinska, Petro Tyma. Dialoge des Verständnisses, S.97.

370 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT den vernünftigen Kern zu erkennen und den ihnen fremden Schmerz zu fühlen. Das Gleiche galt auch für Beziehung zwischen Russen und Ukrainern und zu allen anderen Völkern, die alte, nachbarschaftliche Probleme hatten. Die Gleichheit des Status öffnete ihnen Augen und Ohren und machte sie mitfühlend gegenüber den Argumenten anderer. Besonders eindrücklich war das Verhalten von Sinowij Krasiwsky. Dieser überzeugte Nationalist müsste eigentlich jenseits sowjetischer Vorstellungen ein durch seine Herkunft »naturgemäßer« Antisemit sein. In Wirklichkeit war er aber die Verkörperung von Freundschaft und Wohlwollen. Er war fröhlich und zufrieden und pflegte hervorragende Beziehungen zu allen Juden im Lager. Bei einer solchen Disposition, einem Stereotyp entsprechen zu müssen, war das erstaunlich. Und zwar deshalb, weil sein Verständnis für die Ukraine von Liebe zu und nicht vom Hass gegen Feinde ausging. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem Juden über die Akzeptanz gegenüber einem anderen Volk durch sein eigenes Volk. Es könnte Semen Glusman oder Josef Mendelewytsch gewesen sein – wohl eher ersterer. Ich sprach darüber, dass in der Vorstellung vieler Ukrainer die Juden schuldig an der ersten Phase des Bolschewismus und für die Verbrechen des NKWD waren. Er hörte mir zu, und sagte dann: »Gerade deshalb, weil wir uns am Aufbau dieses Staates beteiligten, müssen wir ihn auch ebenso zerstören.« Es war wirklich so: Als Juden das Recht auf Ausreise aus der Sowjetunion einforderten, waren sie zuvor am Phänomen des Dissidententums in der UdSSR beteiligt. Ich halte es für wichtig, ihren Beitrag an unserer Bürgerrechtsbewegung wirklich anzuerkennen. Die Interpretation der »Schwarzhunderter« jedoch verwerfe ich. Wir lernten im Lager nicht nur einander zuzuhören, sondern auch gemeinsam zu handeln und die Persönlichkeit des anderen zu achten. Darüber sprach sehr schön Arje Wudka: Es hoben sich zwei Kräfte im Lagerwiderstand hervor: die Juden und die Ukrainer. Es war dadurch auch üblich: Wenn Juden und Ukrainer Ja sagen, ist eine Aktion in der Folge sichergestellt … Es war dagegen die Angst der

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 371 Tschekisten zu spüren, dass auch in der großen Zone die unterjochten Völker eine gemeinsame Sprache finden können.143

Fürwahr: eine Freundschaft von Dreizack und Davidstern! Bogdan Rebryk ging einmal auf einen Vergleich ein, der überhaupt über den Bereich einer Skala hinausging: »Die Juden haben im Gefängnis mehr für die Unabhängigkeit der Ukraine getan als alle Banderowezen.«144 Dieser Drill im Lager für ein internationales Verständnis schuf übrigens auch eine Begeisterung für die ersten wissenschaftlichen ukrainisch-jüdischen Konferenzen, die zu Beginn der 1990er-Jahre entstanden. Wie ich bereits erwähnte, war den nationalen Fragen die erste Massenaktion gewidmet, an der ich teilnahm: Vom 23. Juli bis zum 1. August 1978 führte die Zone 36 die Dekade der Solidarität der Völker im Kampf mit dem russisch-sowjetischen Imperialismus und Kolonialismus durch. An dieser Dekade beteiligten sich ungefähr zwanzig Personen – entweder durch Hungerstreik oder durch das Schreiben von Erklärungen und Petitionen. So analysierte z. B. Anatolij Sdorowy in seiner Erklärung eine ganze Reihe von Verstößen gegen das die Verordnung des Mdl der UdSSR und USSR betreffend der »sowjetischen Gesetzgebung über die nationale Gleichberechtigung der Bürger«: Sdorowy führte zahlreiche Fakten der Diskriminierung der Häftlinge in ihrer nationalen Zugehörigkeit auf: die Verhinderung der Vorauszahlung für die nationalen Ausgaben [dem Autor selbst beispielsweise gelang es entgegen aller Anstrengungen nicht, für 1978 die Vorauszahlung vorzunehmen]; das Fehlen von Büchern in den Sprachen anderer Völker in der UdSSR in vielen Bibliotheken an den Orten des Freiheitsentzugs [sie sind nicht verboten, sondern in den Empfehlungen der Hauptverwaltung in Einrichtungen für Besserung durch Arbeit einfach nur nicht vorgesehen]; die Unmöglichkeit, im Gefängnis Rundfunksendungen in ukrainischer Sprache zu hören [am Wochentag wird das Radio nur für eine Stunde eingeschaltet und zu einer Zeit, zu der es keine ukrainischen Sendungen gibt]; die zahlreichen Fälle des Verbotes, die Muttersprache während der Wiedersehen mit den 143 Arje Wudka. »Moskowschtschyna«, S.35. 144 »Die jüdischen Dissidenten taten mehr für die Unabhängigkeit der Ukraine als die Banderowezen« – so lautet ein Interview von Bogdan Rebryk für die Nachrichtenagentur »Firtka« v. 03.03.2011 (http://firtka.if.ua/?action=show&id=4 088).

372 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Verwandten zu benutzen; das Zurückhalten von Briefen, die nicht auf Russisch geschrieben sind [1976 erklärte der Leiter des Gefängnisses in Wladimir, W. F. Sawjalkin, dem Autor: ›Schreiben Sie wie ein Mensch, dann werden wir es durchlassen‹]; die unbegründeten Konfiskationen und das zahllose Verschwinden von Briefen; die Weigerungen, Beschwerden zu prüfen, die nicht in russischer Sprache verfasst sind; das gewaltsame Rasieren der Schnauzbärte. (»Chronik der laufenden Ereignisse«, Ausgabe 52)

Noch etwas zu meinem Schnauzbart. In derselben 52. Ausgabe der »Chronik« wird erwähnt, dass ich am 20. Dezember 1978 wegen des Tragens des Schnauzbartes verwarnt wurde. Interessant ist, dass die Sache im Unterschied zur Geschichte mit dem Schnauzbart in der Armee, sich mir im Lager nicht ins Gedächtnis einprägte. Ich erinnere mich weder daran, ob ich einen Schnauzbart trug, noch ob ich ihn damals abrasierte. Ich weiß nur, dass er ganz bestimmt abrasiert war, als ich am 9. Dezember 1980 an meine Verwandten schrieb: »Noch eine Neuigkeit: Der schnauzbärtige Onkel Myroslaw ist bereits nicht mehr schnauzbärtig. Es ergab sich gegen meinen Willen, aber sehe darin eine Prüfung, die ich bestehen muss.« Kürzlich erfuhr ich, dass auch Oleksa Tychy eine ähnliche Prüfung bestehen musste. Auch er hielt in einem Brief aus dem Lager fest: »Der Schnauzbart wurde abrasiert, nicht nur einmal, bereits viermal.«145 In den Tagen der erwähnten Dekade waren die Deklarationen des Russen Wolodymyr Balachonow besonders bedeutsam, die von der nationalen Frage bis in die Tiefe seiner Seele durchdrungen waren. Er solidarisierte sich nicht bloß mit den Forderungen der Nationalen, indem er seine Erklärungen an den Obersten Sowjet der Russischen Föderation und der UdSSR adressierte, sondern ging sehr erregt daran, Dinge zu sagen, die auch ein russisches Gewissen aussprechen mussten: 23. Juli 1978: Der Autor protestiert gegen jegliche Formen der Deportation von Personen nicht russischer Nationalität, unter anderen gegen die verbreitete Praxis, Häftlinge und Verbannte außerhalb der Grenzen ihrer nationalen Republiken festzuhalten.

145 Oleksa Tychy. Gedanken über das heimatliche Donezker Land, S.122.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 373 1. August 1978: Hinter der Nichtbeachtung dieses wichtigsten Grundsatzes des internationalen Rechts durch die Sowjetunion (Recht der Völker, über ihr Schicksal zu bestimmen; siehe ›Chronik der laufenden Ereignisse‹) steht das schicksalhafte tödliche, gefährliche, unentwegte und ständige Streben des russisch-sowjetischen Imperiums, dass durch interne Gesetzmäßigkeiten in seiner Existenz bestimmt war: um jeden Preis sich schützen, stärken und erweitern, zuletzt sogar die ganze Erdkugel umfassend, Untergang oder völlige Degradation der Zivilisationen unter den Bedingungen der ideologisch kasernierten kollektivistischen Versklavung sowjetischen Musters. (»Chronik der laufenden Ereignisse«, Ausgabe 52)

Balachonw entwickelte später, als er in das Gefängnis von Tschystopol kam, gemäß Josef Mendelewytsch die Idee einer Formel zur Rettung der Welt vor den Russen: Als Russe muss ich die Welt vor der Gefahr warnen, die das russische Volk für die gesamte Menschheit darstellt. Die einzige Rettung für uns und für die ganze Welt ist, das russische Imperium zu zerstückeln und den Russen nur jene Gebiete zu belassen, in denen sie sich als Nation im 15. Jahrhundert herausbildeten.146

Wie bedenkenswert doch diese Gedanken sind in Blick auf die heutige Gefahr für die ganze Welt seitens des Russlands von Putin! Ein nicht minder günstiges Klima schufen in der Zone auch andere Russen, vor allem Serhij Kowaljow, Wiktor Njekipjelow und Oleksij Smirnow. Dabei möchte ich nicht ein unrealistisches, primitives Bild einer völligen Identität der Ansichten zeichnen. So bekannte mir z. B. Serhij Kowaljow offen, dass er keine nationale Frage spürt. Die außergewöhnlich entwickelte bürgerrechtliche Empfindung verlieh ihm jedoch die Möglichkeit zu erkennen, dass die Aberkennung des Rechts auf Selbstbestimmung für ein Volk und die Verletzung seiner nationalen und kulturellen Rechte ein Verbrechen ist und den Normen der modernen Zivilisation widerspricht. Der Dichter Wiktor Njekipjelow verbrachte eine Zeit seines Lebens mit seiner Frau Nina in Uman, traf sich dort oft mit Nadja Witalijwna Surowzowa und kannte daher die ukrainische Problematik gut. Ich nehme an, dass ihn ebenfalls mehr die totalitäre, und

146 Josef Mendelewytsch. Operation »Hochzeit« (https://jhist.org/zion/zion008_ 08.htm).

374 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT nicht die imperiale Natur der UdSSR traumatisierte, aber trotzdem vermochte er das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, auf seine Weise zu verteidigen. Er warnte aber, der trüben törichten Stimme des Blutes zu vertrauen: Ukraine! Ich Sohn deiner Stiefmutter […] Ich liebte sie nicht, diese Gnädige, Ihres notorischen Hochmutes wegen […] Aber du der Mühe wert Fremde und Stolze, Unsere gemeinsamen Schmerzen vergessen, Auf meinen, auf den geneigten Kopf Auftürmst du uralte Kränkungen […] Ja, wir sind verschiedenen Blutes, das stimmt, aber ob dorthin, für Rache gereift, Ukraine meine, du sandtest Deinen heutigen, gerechten Zorn?

Das Gedicht wurde bereits 1966 geschrieben, acht Jahre vor Wiktors erster Verhaftung und dreizehn Jahre vor der zweiten, nachdem wir uns auch kennenlernten. Der Aufenthalt im Lager änderte manches und eröffnete vielen Russen jene Flöze des nationalen Gefühls, von der sie in der Freiheit keine Ahnung hatten. In diesem Sinne war das Schicksal von Oleksij Smirnow, eines Moskauer Bürgerrechtlers, charakteristisch, der in der Zone die nationale Frage in der Person einzelner politischer Häftlinge entdeckte – vor allem beim Ukrainer Sorjan Popadjuk und dem Armenier Wardan Arutjunjan: Zur wahrsten aber wurde die strenge Zone 36 mit der Ankunft von Sorjan Popadjuk und Wardan Arutjunjan. Beide stachen als selbstgenügsam hervor mit ihrer unerhörten Willensstärke, ihrem klaren Verstand, ihrer guten Seele, mit der seltenen Fähigkeit, das Böse vom Guten zu unterscheiden und präziseste Lösungen zu finden. Nicht in der Theorie sind die Menschen zu erkennen, sondern in ihren Debatten oder ihren Erörterungen im ganz normalen gewöhnlichen Alltag und in ihrer normalen menschlichen Reaktion.147

Selbst reinen Herzens zog es Olekski, einem schrecklichen Choleriker, unvorsichtig in seiner Wortwahl und der sich damit sehr rasch 147 Aleksej Smirnow. Die Wahl (http://index.org.ru/nevol/2012-31/18-smirnov. html).

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 375 seine Feinde schuf, zur geistlichen Quelle, die in solchen Menschen leben. Er erkannte, was in der Zone auch nicht jeder Russe begriff. Hier ein Zeugnis, was er sich von einigen russischen, politischen Häftlingen anhören musste: Die russischen Patrioten, die Vorläufer neuer Faschisten, mit Ohorodnikow an der Spitze, ärgerten sich: ›Weshalb bist du mit denen zusammen? Komm zu uns! Du bist doch Russe …‹ Zweifach Kriminelle wiegelten andere auf, entsprechend grob musste man auch mit ihnen sein. Danke, alte und neue Nationalkämpfer überlegten sich, was sie raten sollten. ›Willst du denn ein Messer abbekommen? Halte Abstand von ihnen!‹148

Die Pflicht, mit der Lagerverwaltung Russisch zu sprechen, rief nicht nur einmal bei den politischen Häftlingen eine spontane Rebellion hervor. So erfuhr ich aus den Erzählungen von Walerij Martschenko nach den ersten Monaten seines Aufenthaltes in der Zone 35, Mykola Matusewytsch hätte diesen Missbrauch der Sprache nicht mehr ausgehalten und wäre zur ukrainischen Sprache gewechselt. Der Este Wiktor Niitsoo sagte es so: 1. April 1982: Wegen Verspätung zum Abendessen, seiner Antwort in estnischer Sprache beim Appell und seines Streites mit der Wachabteilung während einer Durchsuchung am Durchgangspunkt, wurde Niitsoo der Laden gestrichen. Als Zeichen seines Protestes erklärte Niitsoo, dass er den ganzen April mit den Vertretern des Lagers im Offiziersrang nur auf Estnisch reden wird. (»Chronik der laufenden Ereignisse«, Ausgabe 64)

Wenn jemand nicht nur mit der Verwaltung zu seiner Muttersprache wechselte, sondern grundsätzlich mit allen im Lager, entstand eine auf seine Nationalität bezogene Eifersucht, da dieser Wechsel nicht gerade begeistert aufgenommen wurde. Doch konnten denn die Georgier, Armenier oder Esten etwas dafür, dass sie nicht alles auf Ukrainisch Gesagte verstanden? Ich war nicht der Erste, der feststellte, dass es im Lager keine weißrussischen Dissidenten gab (jene, die wegen des Krieges saßen, gab es schon, aber keine Dissidenten). Wir erklärten es uns mit dem Mangel einer starken Geschichte im Kampf gegen die Unterjochung, auf die wir Ukrainer im Unterschied stolz sein dürfen. Es gab auch vereinzelt politische Häftlinge aus den islamischen 148 Ebenda.

376 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Republiken der damaligen Sowjetunion: so etwa den Aserbaidschaner Alijew in der Zone 36. Er kam durch Zufall in die politische Zone, da er nichts getan hatte, außer die spontanen politischen Äußerungen während seines Aufenthaltes im Straflager zu unterstützen. Einer der Offiziere ergriff die Chance und verdiente sich mit dieser Sache einen zusätzlichen Stern auf den Schulterstücken (für die Ermittlung eines Volksfeindes). Obwohl dieser junge Kerl nicht auf den politischen Kampf vorbereitet war und sich manchmal auch seine Erfahrung aus der Zone der Kriminellen deutlich zeigte, hakte er sich trotzdem nicht fest und erlitt oft dieselben Strafen wie wir. Mit Alijew verband mich ein moralisches Problem. Er sagte mir einmal, dass er unflätiges Fluchen entschieden ablehnt. Das war für ihn eine Beleidigung seines Volkes. Es ist verständlich, dass mir diese Art sehr sympathisch war und nicht nur mir: In den politischen Zonen konnte einem manchmal auch ein heftiger Fluch entschlüpfen, meistens aber tat man es nicht. Alijew setzte uns mit seinen kriminellen Manieren so zu (wie es auch bei mir war, als ich versuchte, in einem komplizierten Konflikt zu vermitteln), dass ich explodierte und … das einzige Mal in meiner gesamten Haftzeit grob fluchte! Alijew erstarrte und schaffte es nicht einmal, beleidigt zu sein. Ich selbst war völlig verdutzt und bat ihn sofort voll Reue um Verzeihung. Es war eine Warnung für mein ganzes Leben. Wir Ukrainer besprachen unsere ewig traurigen ukrainischen Themen: Vernichtung eines Volkes, unausrottbare Kleinrussischheit, Verrat an der Elite, »Erfordernis einer ukrainisch-ukrainischen Verständigung« (wie Jaroslaw Hryzak sagen würde). Mykola Rudenko aus der Oblast Donezk verteidigte einmal hitzig die Forderung nach einer künftig neuen Ukraine mit patriotischen Sendungen und Materialien in russischer Sprache. Doch die Leute aus Donezk hörten einfach keine ukrainischen Sendungen und blieben deshalb außerhalb unseres ukrainischen nationalen Diskurses. Es lässt sich leicht erahnen, dass diese Ansicht bei den Ukrainern keine allgemeine Unterstützung fand. Mit Jewhen Swerstjuk blieb ich einmal beim Thema »Reue von Iwan Dsjuba« hängen. Es lag keine Wut oder ein ideologischer Riss in der Stimme von Herrn Jewgen. Es war eher ein Schmerz um

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 377 seinen Freund, und die einfachen Worte: »Es wäre für ihn besser, wenn er auch seine Haft abgesessen hätte.« Nur selten wurden zum Abhaken Delegationen von Schriftstellern aus der Ukraine zu uns gebracht, zur »prophylaktischen Arbeit« mit uns. Gemäß der Logik bürokratischer Zirkulare sollten diese Schriftsteller uns überzeugen, wie glücklich Ukrainer in der Familie der Brudervölker leben und wie sehr wir uns über sie freuen könnten, wenn wir bereuen würden. Ein Mitglied einer Delegation, die 1978 zu uns kam, merkte ich mir besonders: Es war Witalij Dontschyk, damaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter am »Institut für Literatur Taras Schewtschenkos«. Unser Gespräch war zäh und langweilig, wesentlich interessanter hingegen war unsere Begegnung 2008 (nach dreißig Jahren!) in demselben Institut zur Verteidigung der Dissertation von Oles Obertas. Es geschah alles sehr typisch. Die Dissertation war der Untersuchung des Samisdat in der Zeit der Dissidenten gewidmet. Die Verteidigung fand in jenem Institut statt, das sich zuvor durch einen besonderen Eifer in der Verfolgung Andersdenkender auszeichnete, d. h. von Autoren des damaligen Selbstverlages. Präzis in diesem Saal, in dem diese Verteidigung stattfand, hetzte man damals gegen Iwan Dsjuba wegen seiner Untersuchung »Internationalismus oder Russifizierung?«, die ein Hit im Selbstverlag war. Genau da wurde Mychajlyna Kozjubynska aus der Traube der Mitarbeiter ausgeschlossen, die nun erneut in diesem Saal Platz nahm als wissenschaftliche Konsultanten der Dissertation von Obertas. Der Leiter des Doktoranden war – Witalij Dontschyk, der unterdessen Mitglied der Akademie war! Als ich über das Phänomen des Selbstverlages sprach, sprangen in meinem Gehirn bereits die Funken eines Kurzschlusses im Blick auf die ukrainische Geschichte. Ich musste den Saal damals früher verlassen. Auf dem Korridor holte mich dann dasselbe Akademiemitglied Dontschyk ein: »Ich kann mich nicht erinnern, wo wir uns begegnet sind.« »Ja, da eben …«, antwortete ich, in dem ich mit dem Daumen in die Weite zeigte. Dann kapierte er es und wurde sogar blass …

378 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Das religiöse Leben in der »Zone« Religiöse Aktivitäten im Lager Ein religiöses Leben konnte es für die Häftlinge unter Breschnew in den Lagern gar nicht geben. Jede Ausübung von Religion war strengstens verboten. Und noch mehr: Die sowjetischen Häftlinge wurden vor aller sie betäubenden Abhängigkeit durch das »Opium für das Volk« zuverlässig beschützt … und dennoch war das religiöse Leben vieler Häftlinge außergewöhnlich intensiv. Denn zum größten Bedauern der Aufseher im Gulag hörte der Heilige Geist nicht auf Lagerzirkulare und wirkte, wo und wie es ihm beliebte. So erstaunen auch meine Worte nicht, die ich in einem Brief an meine Verwandten schrieb: 25. November 1980: Ein Wort von Nadijka macht mich unruhig – ›Wüste‹. Wie fatal es ist, das zu lesen, wenn man fast täglich bis zu Tränen über die Vollkommenheit seines geistigen Lebens gerührt wird, und einem in Augenblicken größerer oder kleinerer Offenbarungen das Gefühl erfasst, als ob ich vor dem Altar des Allerheiligsten stehen würde.

Viele Häftlinge, die in der Freiheit gleichgültig gegenüber der Religion gewesen waren, wandten sich im Lager dem Glauben zu. Der Mangel eines normalen geistlichen Lebens steigerte sogar häufig die Empfindlichkeit für die Wahrnehmung Gottes. Es ist wie bei einem Blinden, der sein Augenlicht verloren hat, bei dem aber die übrigen Sinne geschärft werden. Da es für einen Häftling nicht mehr möglich war, in einem Gotteshaus zu beten, wurde die eigene geschundene Seele zu einer heiligen Kathedrale. Anstelle der liturgischen Gesänge sang sein schmerzendes Herz seine eigenen Psalmen. Die Mehrzahl der Häftlinge bekannte sich zum christlichen Glauben, wobei nur Vereinzelte mit einer schon ausgereiften religiösen Anschauung ins Lager kamen. Der erste Anstoß zum Glauben war zumeist die Loslösung von der kommunistischen Ideologie: ein sehr spezieller seelischer Vorgang. Da der Atheismus einer ihrer wichtigsten Teile war, zerbrach dieser auch als einer der ersten. Wenn damit schon die wichtigsten Argumente für den Atheismus beseitigt waren, konnte das stille Wirken von Gottes Segen

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 379 beginnen. Bei anderen Häftlingen dagegen hielt Gott ganz unerwartet mit seinem mächtigen Wirken Einzug in die Seele, was ohne Übertreibung als ein Akt der Offenbarung Gottes bezeichnet werden konnte. Zudem weiß der Leser bereits, dass auch ich eine solche rasche Verwandlung in meiner Seele erlebte. Diese neugeborenen Christen mussten aber schon eine harte Prüfung bestehen. Was heißt es für einen Häftling, seine linke Wange hinzuhalten? Wie könnte er seine Feinde lieben, wenn diese seine zynischen und rücksichtslosen Aufseher waren? Doch konnte es einen besseren Ort zur Prüfung der eigenen christlichen Gesinnung geben als das Lager? Da konnte sich keiner vor Gottes Augen hinter dem Rücken der anderen Kirchgänger verstecken. Es gab auch keine einflüsternde Stimme eines Priesters, die dich berühren konnte. Du warst ganz alleine vor Gott wie die zitternde Ameise auf der Handfläche eines Menschen im Gedicht von Switlana Sholob.149 Du konntest dich dieser Prüfung einfach nicht entziehen. Doch wie gesegnet waren jene Häftlinge, die die erwähnte Prüfung erfolgreich bestanden! Auch Juden kehrten zu ihrer Religion zurück, obwohl es im Lager keinen Platz für mosaische Riten gab: Wirklich jede Ausübung einer Religion war für die Häftlinge verboten. Zudem richtete sich der arbeitsfreie Tag nach der christlichen Woche und fiel so auf den Sonntag. Also wertete die Verwaltung den Versuch eines jüdischen Häftlings, den Samstag (Sabbat) zu beachten als Verstoß gegen das Regime und bestrafte ihn schonungslos. Ausführliche Angaben darüber, wie sich Juden das Recht auf die Befolgung des Sabbats und anderer jüdischer Rituale erkämpften, machte Josef Mendelewytsch, ein Jude aus Riga und späterer Bürger Israels, der wohl unter seinen Glaubensbrüdern am stärksten mit seiner Religion verbunden war, was ihn und Jewhen 149 Kleine Ameise mit abgerissener Nase, auf meiner Hand zittere nicht – ich hab doch genauso Angst vor Regen und großer Einsamkeit … Im schrecklichen Weltengang flüstere ich: ›O Natur, o Mütterchen, verlass mich nicht, schütze‹ [zitiert aus dem Gedächtnis – M.M.]

380 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Swerstjuk im Lager zu wichtigen moralischen Stützen machte. Der Druck Israels auf die UdSSR, seine Freilassung betreffend, war schließlich so stark, dass Josef vorzeitig aus der UdSSR ausgewiesen werden musste. Da er seine Memoiren bereits verfasst hat,150 empfehle ich meinen Lesern, sich dafür die Zeit zu nehmen und mit diesem durch viel Leid geprüften Juden die Hölle seiner Haft zu verfolgen. Mendelewytsch fühlte sich im Lager verpflichtet, ungläubige Juden zum Judentum zu bekehren. Er führte deshalb langwierige Gespräche mit allen Juden, die in die Zone kamen. So etwa mit dem jungen Juden Wadym Arenberg, der wohl 1979 nach Kutschyno gelangte. Der 25-jährige Mann, der dem religiösen Leben in Leningrad noch völlig fernstand, wurde von Josefs Erklärungen tief in seiner Seele berührt und erhielt dann den neuen Namen »Dan«. Er begann Iwrit (Neuhebräisch) zu lernen und den jüdischen Ritus zu befolgen. Auch seine Weltanschauung veränderte sich. Norair Hryhorjan erinnerte sich, wie sehr Dan es liebte, einen Ausspruch Majakowskis auf diese scherzhafte Art zu verdolmetschen: »Ich lerne Russisch nicht nur deshalb, weil Lenin es sprach.« Wegen des Problems »Bekehrung« hatte ich einen ärgerlichen Vorfall mit Josef. Meine Beziehung zu Wadym Dan Arenberg war problemlos und freundschaftlich. Wir hatten voreinander keine Geheimnisse. Ich stellte mit Erstaunen fest, dass sich Dan mehr und mehr von mir abwandte. Auf meine direkte Frage antwortete er etwas verunsichert, es wäre die Folge von nicht gerade wohlwollenden Worten von meiner Seite ihm gegenüber, wie Josef ihm erzählte. Das war eine so offensichtliche Unwahrheit, dass ich sofort zusammen mit ihm mit dem Vorschlag zu Josef ging, alles zu klären. Josef wurde rot und erklärte: »Sie müssen verstehen, dass es für Juden keine wichtigere Pflicht gibt, als einen ungläubigen Juden zum Glauben zu bekehren.« Diese Ansicht, die ich nicht teilen konnte, führe zu einer Entfremdung zwischen Juden und Christen. 150 Josef Mendelewytsch. Operation »Hochzeit« (http://jhist.org/zion/zion008_0 8.htm). Dabei stelle ich fest, dasss er in seinen Erinnerungen fälschlicherweise auf Josef hinweist. Durch meine Proteste hätte ich eigentlich erreicht, dass ich ins Gefängnis geschickt wurde. Wie aus den vorangegangenen Seiten ersichtlich, geschah dies aber nicht – man ließ mich trotzdem im Lager 36.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 381 Josefs Erklärung war offensichtlich ideologisch. Er lieferte die ethische Bewertung seines Verhaltens bereits dadurch, dass er errötete. Zum Glück kennt das Gewissen im Herzen eines jeden Menschen dafür keine nationale noch religiöse Begründung. Es war übrigens der einzige Fall, in dem unsere ethischen Systeme nicht übereinstimmten; in allem anderen war Josefs Verhalten moralisch einwandfrei. Für die Befolgung religiöser Vorschriften wurden auch andere bestraft. Hier eine kurze Erwähnung aus Ausgabe 64 der »Chronik« vom 4. Februar 1982: »Wegen Tragen eines Bartes war [Wasyl] Kalinin ein weiteres Mal für fünf Tage im Gefängnis.« Hinter diesem Eintrag stand auch der langwierige und hoffnungslose Kampf des russischen Altgläubigen der Wahren Orthodoxen Kirche durch die sowjetische Strafmaschinerie. Er war duch seine religiöse Überzeugung verpflichtet, einen Bart zu tragen, doch als Häftling stand es ihm nicht zu. Seine Strafen folgten so rasch nacheinander, wie Haare im Gesicht wachsen. Dieser Mann wurde fast wahnsinnig von seinem endlosen Martyrium, obwohl auch er nicht zerbrach. Genauso unschuldig wurde ein Zeuge Jehowahs bestraft. Auch er konnte in keiner Weise der Zusammenarbeit mit der Lagerverwaltung verdächtigt werden. Er saß wegen seiner Überzeugung und seiner Verweigerung, die sowjetischen Prinzipien zu akzeptieren, nicht nur einmal im Gefängnis. Die Stärke seines Geistes rief bei mir höchsten Respekt hervor. Wir verkehrten mit ihm freundschaftlich, aber selten. Mir war es wichtig, die Ernsthaftigkeit seines Glaubens anzuerkennen. Er sagte mir oft ganz überzeugt: »Du sollst nur ein Buch lesen, die Bibel. Alle anderen Bücher führen so oder so zur Sünde.« Interessant war, als ich kürzlich die Gelegenheit hatte, meinen eigenen Eindruck mit dem des Patriarchen Jossyf zu vergleichen. Es erwies sich fast als identisch: Er [der Zeuge Jehowahs] erduldete schreckliche Qualen. Er zerbrach aber nicht, denn er sagte sich: ›Ich weiß, dass ich wegen Gott leide.‹ Er war in der Literatur der Zeugen Jehowahs sehr belesen. Mit ihm hart zu disputieren, war aber eine aussichtslose Sache.151

151 Jossyf Slipyj. Erinnerungen, S.189.

382 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Eine Bibel zu besitzen, war den Häftlingen verboten. Es gab in den sowjetischen Lagern die Legende, dass es nur einen Fall zu Stalins Zeit gab, dass Exemplare der Bibel und des Koran in den Gefängniszellen auftauchten. Eleanor Roosevelt reiste damals in die UdSSR, um die Haftbedingungen in den Gefängnissen kennenzulernen. Doch nach ihrem Besuch wurden diese heiligen Bücher sofort wieder entfernt. In den 1970er-Jahren gelang es einigen Häftlingen jüdischen Glaubens eine Möglichkeit zu finden, religiöse Literatur zu besitzen, jedoch nur in Iwrit. Allen anderen, die kein Iwrit beherrschten, blieb auf Empfehlung der Bibliothek nur die Lektüre des kämpferisch-atheistischen, aber unterhaltsamen Evangeliums von Leo Taksil. Zum Glück gab es darin hin und wieder Zitate aus dem wahren Evangelium. Ich übernahm sie auch von dort. Es war mir aber viel zu wenig. Deshalb ersann ich bereits in meinen ersten Monaten im Lager einen Ausweg. Als Ihor Kalynez im August 1978 aus dem Lager entlassen wurde, vereinbarten wir kurz zuvor, dass er in der Verbannung die Bergpredigt Christi abschreibt und mir per Brief ins Lager schickt. Ihor vergaß das nicht und ich erfuhr es auf diese Weise: Ich begegnete Surowzew. Er begann, sich über mich lustig zu machen: »Aah, Marynowytsch, Ihr Plan ist aber nicht aufgegangen! Sie machten mit Kalynez ab, dass er Ihnen die Bergpredigt abschreibt. Und Sie dachten, ich bemerke das nicht? Das klappte aber nicht: Wir haben den Brief konfisziert.« Ich fand es lustig, dass er sich freute, diesen wirklich »kriminellen Versuch« aufzudecken und rechtzeitig zu stoppen! Nicht minder eindrücklich ist eine entsprechende Notiz in Ausgabe 65 der »Chronik«: Njekipjelow wurde die Beschlagnahmung der am 13. Juli 1982 als mit verdächtigem Inhalt eingezogene Niederschrift der Gebete Vaterunser, des Glaubsbekenntnisses und Jungfrau Maria mitgeteilt; Der Leiter der operativen Abteilung, Nikomarow, bestätigte, dass das Vaterunser als Text mit verdächtigem Inhalt gilt.

Immer wieder flammten Proteste gegen das Verbot auf, die Bibel zu lesen. Die Häftlinge schrieben Eingaben oder führten Hungerstreiks durch. So machte Olexander Ohorodnikow vom 26. Oktober

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 383 bis zum 29. Dezember 1981 einen Hungerstreik, in dem er das Recht für Häftlinge einforderte, eine Bibel zu besitzen; und ebenso das Recht auf Beichte, Abendmahl und Gottesdienst mit einem Priester; das Recht, religiöse Zeitschriften zu abonnieren, die in der UdSSR erschienen; das Recht, religiöse Literatur von Angehörigen und Verwandten zu bekommen und das Recht auf ein Fernstudium an einer Hochschule für Priester (»Chronik der laufenden Ereignisse«, Ausgabe 64). Eine Gruppe von Häftlingen, unter anderen auch ich, unterstützte ihn und verkündete am »Tag der Menschenrechte« einen eintägigen Hungerstreik. Wiktor Njekipjelow unterstützte es auch und rief Pimen, Patriarch von Moskau und der gesamten Rus, dazu auf, es ebenso zu tun. Er verwies dabei auf die Begründungen, die er vom Staatsanwalt Jasjew in Perm erhielt, warum keine Bibeln an Häftlinge verteilt würden. Gemäß Logik der Staatsanwaltschaft durfte nur Literatur abgegeben werden, die in der UdSSR herausgegeben wurde. Die Bibel gab es ja nicht im freien Verkauf. Wie ich früher erwähnte, wurde in der »Chronik« die Erwähnung meines persönlichen langen Hungerstreiks für das Recht, die Bibel zu besitzen, nicht festgehalten. So kann ich mich nicht an den genauen Zeitpunkt erinnern. (Es war wohl 1980). Ich schrieb zuvor ebenfalls eine Erklärung und warnte, dass ich gezwungen sei, in den Hungerstreik zu treten, doch nichts half. Ab dem fünften oder siebten Tag wurde ich von Zeit zu Zeit gefüttert, indem man mir mit Gewalt einen Schlauch in die Speiseröhre einführte, durch den man mir ein nährendes Gemisch in meinen Magen leitete, damit ich nicht verstarb. Zu einem gewissen Zeitpunkt begriff ich, dass ich an der Grenze zwischen Leben und Tod bin. Da tauchten in meiner Seele Zweifel auf: Du, Junge, du brauchst die Bibel nicht zu lesen, um zu wissen, dass Selbstmord zu begehen, Sünde ist. Ist es denn kein Widerspruch, wenn du Gott besser erkennen willst und deswegen seine Schöpfung zerstörst? Ich weiß nicht, was bei mir überwog: ein religiöser Philosoph oder einfach der Schrei meines hungrigen Körpers. Schließlich siegte die Stimme der Vernunft und ich beendete den Streik. Damals schwirrten in meinem Kopf dieselben Gedanken, wie sie Wasyl Stus nach seinem achtzehntägigen Hungerstreik aussprach:

384 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT »Wie widerlich es doch ist, einen Hungerstreik abzubrechen und nichts erreicht zu haben!« Ich werde das nie wieder tun. Für das Ende meiner Rebellion erhielt ich sofort einen großen Schlag, aber nicht durch die Verwaltung, sondern von Gott. Die Geschichte geschah so: Als ich prüfte, meinen Hungerstreik einzustellen, beschloss der KGB, mich dafür zu bestrafen, damit es in Zukunft nicht zu meiner Gewohnheit würde und man mich so auf die Etappe schicken müsste. Die Bestrafung war sehr raffiniert. Zunächst war mein Körper durch den Streik geschwächt. Damit waren die Voraussetzungen für die Etappe doppelt schwierig. Zweitens erwartete mein Körper in meinem Gehirn die lang erwartete Erlaubnis »Du kannst jetzt essen!« Das war während der Etappe aber nicht so einfach möglich. Die tägliche Ration war ein halbes Brot aus dem Lager und ein längst nicht mehr frischer Hering.152 Diese Kost war zu wenig, um sich ganz zu sättigen und eigentlich überhaupt keine Ernährung, die nach einem langen Hungerstreik zu empfehlen ist. Mein junger Organismus verdaute sie aber erstaunlich gut und wollte also noch leben. Schließlich brachte man mich in ein Durchgangsgefängnis und führte mich in eine Zelle, in der bereits drei Kriminelle saßen. Ich grüßte sie und setzte mich in eine Ecke der Zelle. Jene drei schauten sich um, nahmen wohlwollend ihre Brotration hervor und legten sie wortlos vor mich hin. Es ist schwer zu beschreiben, wie diese einfache menschliche Tat meine Seele verwandelte. Mit Tränen in den Augen dankte ich ihnen für das Brot, das damals für mich eine wahrlich liturgische Bedeutung bekam! Ich wusste nicht, welche Verbrechen diese Wohltäter begangen hatten. Ich betete heftig zu Gott, dass er ihnen alles vergibt, wie schwer auch ihre Schuld sein möge. Ich begriff damals sehr eindrücklich, dass auch im Herz der größten Verbrecher ein Funke Gottes glimmt. Scham über jene Gesellschaft, die 152 Das war eine alte Tradition im Gulag, an die im einzelnen Oksana Meschko erinnert, als sie ihre Etappe im Jahre 1949 beschrieb: »Über einen Monat unterwegs, in Güterwaggons mit einem Stück unausgebackenen Brot – vielleicht nach einer speziellen Technik hergestellt! Und auch noch ein Stück fauler Hering oder Kamsa und nicht immer ein Becher Dill!« Aus: Ich gebe nicht nach! Zum 100-jährigen Geburtstag von Oksana Jakiwna Meschko, S.37.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 385 nicht fähig ist, ihn rechtzeitig zu erkennen und gehörig zu entfachen! Ich nahm mir bereits später in Kasachstan vor, dass es in meiner Wohnung immer etwas zu essen gibt für einen »Bytsch«, einen früher intelligenten Menschen (byvschyj intelligentnyj-tschelovjek), oder anders ausgedrückt: einen Obdachlosen, der in unserem Dorf arbeitete. Davon machten einige, die in meinem Dorf Arbeit fanden, nicht nur einmal Gebrauch. Religiöse Feiertage und Ökumene im Lager Das Lager lehrte uns die tiefe Einheit der Christen und auch eine eigentümliche Ökumene. Dafür gab es auch die entsprechenden Voraussetzungen. Einzelne Christen lassen sich leichter verfolgen, doch wenn sie geistig vereint sind, werden sie zu einer mächtigen Kraft. Der gesellschaftliche Status eines Häftlings und antisowjetischen Elements ließ konfessionelle Unterschiede in ihrer Bedeutung klein werden. Deshalb begingen alle Christen im Lager zweimal Weihnachten und Ostern nach dem Gregorianischen und nach dem Julianischen Kalender. Da sie eine klar antichristliche Kraft vor sich hatten, wurden die Christen der verschiedenen Konfessionen einander zur Stütze. Was das Feiern religiöser Festtage betrifft, so verhielt sich die Lagerverwaltung zu unterschiedlichen Zeiten verschieden: Manchmal bestrafte sie für den Verstoß gegen das Regime, manchmal sah sie darüber hinweg. Die Geschichte der Bestrafung von Häftlingen wegen ihrer Weihnachtsfeier erfuhr ich sofort nach meiner Ankunft im Januar 1978 aus dem, was mir erzählt wurde. Zehn Häftlinge verkündeten am 11. Januar einen Hungerstreik. Sie richteten ihren Protest an den Rat für Religiöse Angelegenheiten der UdSSR. Nach einer Woche gaben weitere sechzehn Häftlinge einen Streik bekannt: als Zeichen ihres Protestes gegen die Beeinträchtigung des Rechts auf Freiheit in der Religionsausübung. Der Leiter des Lagers WS-389, Oberst Mikow, drohte den Häftlingen nicht nur mit Rache im Lager, sondern auch nach ihrer Freilassung. Meine ersten Weihnachten im Lager, an Heiligabend, 6. Januar 1979, wurde durch ein komisches Ereignis reicher. Swerstjuk war bereits aus der Zone gebracht und vor seiner Etappe in die

386 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Verbannung im Karzer untergebracht worden. Das war nicht nur für den Verlauf des Transportes nötig, sondern auch eine Vergeltung. Es gab auch die Garantie, dass es Swerstjuk nicht gelingen würde, geheime Materialien mitzunehmen. Es gab zudem den Aufsehern die Möglichkeit, den Freigelassenen nochmals zu verhöhnen, indem er kahlgeschoren wurde (wie er es später in einem offenen Brief an Fjodorow erwähnte). Das Gebäude mit dem Karzer stand von den Baracken durch Stacheldraht getrennt, aber trotzdem nicht weit entfernt. Ich irrte auf dem Gelände des Lagers herum und erinnerte mich an zu Hause: Heiligabend, Kutja … Plötzlich bemerkte ich, dass die Lüftungsklappe einer der Zelle offenstand. Dort war Herr Jewgen eingesperrt, da es draußen noch nicht allzu frostig war. Es kam mir sofort der Gedanke, ihm diesen Abend etwas zu verschönern und nach Möglichkeit ganz laut die »Koljadka« (traditionelle Weihnachtslieder) zu singen, damit er es hören konnte. Ohne lange zu überlegen, ging ich möglichst nah zur Baracke, soweit es mir der Stacheldraht erlaubte, und begann: »Eine neue Freude ist …« Etwa in der Mitte der »Koljadka« ging die Türe des Gefängnisses auf, der diensthabende Wächter trat vor die Türschwelle und machte die Faust. Ich hörte mit der »Koljada« auf, um sie nicht zu einer politischen Demonstration zu machen und beruhigte mich mit dem Gedanken, dass sie also auch mein Blutsbruder hören musste, wenn es beim diensthabenden Wärter angekommen war und er reagiert hatte. Am folgenden Tag rief mich der Operative Bevollmächtigte Roshkow und las mir etwas verwirrt den Bericht über meinen Verstoß gegen das Vollzugsregime vor. Dort war ausführlich die Situation um den Karzer beschrieben und es wurde darauf hingewiesen, dass Marynowytsch monarchistische Lieder sang. Der Bevollmächtigte schaute mich misstrauisch an: Wäre es denn möglich, dass ich meine nationalistische Orientierung veränderte? Ich sah ihn zunächst auch verwirrt an, musste dann aber lachen, als ich begriff: Alles war richtig, ich hatte mich tatsächlich an einen Zaren gewandt. Der Aufseher war genau im Augenblick aus der Türe erschienen, als ich das Weihnachtliche sang: »O Du, Zar, Zar

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 387 himmlischer Gebieter …«! Der Text war derselbe, aber der geistige Schlüssel anders. So wurde ich für kurze Zeit ein ukrainisch-bourgeoiser Monarchist … Während meiner Haft verliefen mehrere Feiertage ganz friedlich und konfliktfrei. Das belegen Auszüge aus meinen Briefen an die Verwandten: 18. Januar 1981: Mein Geburtstag war mir zur Ehre, da es Sonntag war. Ich konnte auch zu meiner Gesundheit gut ausschlafen und in Ruhe sehr üppige Leckereien zubereiten: die eine mit gebratener Zwiebel, die andere mit geschlagener Sahne. Ich bemühte mich, aus der Zwiebel alle Tränen herauszubraten, wenn sie auch unbestritten nur ein Symbol ist, und mir hoffentlich das 32. Lebensjahr nicht durch diese Sahne versalzen bleibt. Ähnlich feierte ich den Heiligabend. Ich rief die ›Ukraine der Koljadka‹ zu mir. Wir haben ein neues Akkordeon. Die Tasten bleiben nicht mehr hängen, die Harmonie meiner Stimmung und der Klang sind komplett. 29. April 1981: Ich weiß nicht, wie es bei euch war, aber ich feierte sehr schön Ostern. Ich muss das schätzen, denn ich konnte so etwas nicht erwarten. Es war eine gute, wohlwollende Atmosphäre, auf dem Festtagstisch lag ein halbes Osterei für alle (um Muster zu malen, reichte mir die Zeit nicht), ein Stückchen Wurst, Schinken, Kuchen, Nuss – man wusste nicht, wohin man sehen sollte. Schon guckte die Sonne hervor und fing an zu spielen. Erst am Nachmittag rieselte wieder etwas Schnee. Ich wurde wieder zu einem Konzert überredet und ich sang an die zwei Stunden. Ich war etwas überdreht … 10. Januar 1982: Insgesamt verliefen die Weihnachtstage fröhlich, wenn auch durchsetzt. Es gelang mir nur für einen kurzen Moment, mich zu vergessen und Erinnerungen, Träume und Emotionen in mein Herz zu lassen. Doch dann rutschte mir wieder die Stütze unter den Füßen weg und ich flog verzweifelt fast in den Abgrund. Ich wurde launisch, fand alles unerträglich. Das Ergebnis war, dass ich immer niedergeschlagener wurde und keinen Frieden fand. Ich muste mich von der Last meiner Unreife und Sünde befreien und beruhigen. Es gab daneben wieder Momente, wo ich die Kraft fand, andere mit Verkleidung und der Koljada aufzuheitern. Es könnte möglich gewesen sein, dass Sonnenflecken und andere Unarten des Wetters waren. Seit gestern ist bei uns Frost bis –45 °C, und morgen –20 °С mit Schneegestöber. Da beginnt nicht nur ein 33-jähriger Gefrörling wie ein Hund zu heulen. 22. Mai 1983: Ostern verging ruhig, freundlich und zudem süß. Genau vor Ostern, am 5. Mai, kam euer Päckchen. Wir hatten ein üppiges Mahl. 22. Januar 1984: Der Geburtstag verlief unerwartet prächtig. Ich dachte gar nicht, dass mir alle so herzlich gratulieren, sogar mit selbst gemachten Torten. Heiligabend war traurig still. Meine seelischen Kräfte waren bereits erschöpft. Sie reichten bloß für eine Koljadka in einer versteckten Ecke zusammen mit einem anderen Galizier.

388 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Nicht immer war es so friedlich. Besonders im Gedächtnis blieb mir Ostern 1982 (der 18. April nach dem Julianischem Kalender).153 Die Beziehung zur Verwaltung spitzte sich zu. Es kam das Signal: Wenn wir Ostern feiern, werden wir bestraft. Wir machten uns keine Illusion über die Ernsthaftigkeit dieser Drohung. Wir ließen uns einfach nicht beeindrucken. Wir beteten gemeinsam. Dann begann eine schlichte Gastfreundschaft. Wir konnten sie aber nicht zu Ende führen: Eine Gruppe Aufseher stürzte hinein und fast alle »Friedensstörer« wurden bestraft. Die Hauptleitung der Versammlung hatten Mykola Rudenko, Wiktor Njekipjelow und ich; wir landeten für fünfzehn Tage im Karzer. Für Christen war im Namen Christi zu leiden schon immer ein Gewinn. Wir saßen unsere Strafe ab und ich schrieb voller Freude an meine Verwandten: 5. Mai 1982: Ostern verlief sogar etwas mystisch. Ich wurde sofort nach meinem Gebet um Liebe und Vergebung geprüft, sodass es sich zeigte, ob es auch aufrichtig war.

Meinen Aufenthalt in einer Zelle mit zwei anerkannten Dichtern empfand ich nicht so sehr als eine Strafe, sondern als einen Reiz für eine Belohnung. Für alle fünfzehn Tage galt der Befehl ohne Abzug zur Arbeit. Das hieß für uns: Zeit für die schönsten Diskussionen und für echte Literaturabende. Wir waren hungrig und gleichzeitig glücklich, dass uns nichts von unseren begeisterten Gesprächen ablenkte, einander eigene Gedichte zu zitieren, wobei es eigentlich nur Nejekipjelow war, da Rudenko und ich die eigenen nicht auswendig kannten. Nach der erwähnten Strafe zu Ostern begannen sich zwei besondere Linien meines Schicksals abzuzeichnen, die sich schlussendlich als echter Gewinn in meinem Leben erwiesen. In unserer Zelle tauchte bald der Gedanke auf: Alle Christen in dieser Welt sollten über unsere Bestrafung unseres gemeinsamen Gebetes informiert werden. Als ersten Empfänger wurde der Name des Heiligen Vaters, Johannes Paul II., genannt, da sein Ansehen 153 In einigen meiner Artikel zu diesem Thema gebe ich fälschlicherweise ein anderes Jahr an.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 389 außerordentlich hoch war und er als Papst aller empfunden wurde. Ich erinnere mich gut an die Begeisterung, als Karol Wojtyla am 18. Oktober 1978 zum Römischen Papst gewählt wurde. Es freuten sich alle politischen Häftlinge, unabhängig von ihrer Einstellung zu Religion und der konfessionellen Zugehörigkeit. Es war für uns klar, dass in der Position eines Papstes aus Polen die Kommunisten einen würdigen Rivalen bekamen, der aus eigener hautnaher Erfahrung die Willkür der kommunistischen Diktatur kannte. Viele von uns prophezeiten freudig: »Das ist das Ende des Kommunismus!« Ich ahnte damals noch nicht, auf welch wunderbare Art sich meine Biografie mit der des großen Polen überschneiden würde. Und ich ahnte auch nicht, dass ich 1993 zu einer Audienz auf seinem Landsitz Castel Gandolfo eingeladen würde, im September und Oktober 2001 den Papst einen ganzen Monat in der Aula seines Palastes im Vatikan während der Synode der Bischöfe der Katholischen Kirche sehen würde und sogar einmal zum Abendessen in den Räumen des Vatikans eingeladen würde. Damit war Papst Johannes Paul II. der erste und wichtigste Adressat unseres Aufrufes. Was die Mehrzahl der Kirchenoberhäupter der damaligen Sowjetunion betraf, riefen diese kein Vertrauen hervor, da alle auf ihre Art der gottlosen Macht gefällig waren. Einzig der Katholikos aller Armenier, Vazgen I., unterschied sich in einem gewissen Maß. Da unter uns auch Armenier waren, beschlossen wir, unseren Aufruf auch an ihn zu richten. Ich sollte den Text verfassen. Ich schrieb meine Gedanken erst dann auf, nachdem ich meine Seele auf ein hohes geistiges Niveau eingestellt hatte, geistlich gesprochen: mein Herz von Gott erhoben wurde. Ich musste danach nie mehr ähnliche Briefe schreiben, also war ich zu einem gewissen Wagemut verdammt. Das Wichtigste an diesem Brief war: eine kompromisslose Offenheit und Wahrhaftigkeit über das Lager. Der Text wurde sorgfältig für die Chronik des Moskauer Memorial aufbewahrt. Der Brief wurde selbstverständlich in russischer Sprache geschrieben: Eure Heiligkeit! In unserer müd gewordenen Welt gibt es allzu viele Menschen, die Eurer Hilfe und Gebete bedürfen. Dennoch halten wir es für möglich, Euch von

390 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT unseren Schwierigkeiten zu schreiben. Nun ist die Zeit gekommen, in der unsere Zweifel verschwinden: Hört uns an, Eure Heiligkeit! Es war der Tag der Feier der Auferstehung Christi für uns nach orthodoxem Ritus am 18. April. Vierzehn politische Häftlinge, orthodoxe und solche mit anderen Glaubensbekenntnissen, versammelten sich an einem bescheidenen Tisch, um uns gegenseitig zu gratulieren. Es waren unter uns Gläubige und auch solche, die es nicht wagten, die Stimme ihres Gewissens als jene Gottes zu bezeichnen. Einer von uns, Myroslaw Marynowytsch, las das Gebet. Doch die Worte über die Liebe und Vergebung durch unseren Auferstandenen waren noch nicht ausgeklungen, als es dem Schicksal beliebte, die Aufrichtigkeit unseres Gebetes zu prüfen. Eine Gruppe von Aufsehern jagte die Versammelten auseinander und die politischen Häftlinge Myroslaw Marynowytsch, Wiktor Njekipjelow und Mykola Rudenko wurden der Organisation einer Gebetszusammenkunft und des Widerstandes gegenüber der diensthabenden Abteilung beschuldigt und auf der Stelle für fünfzehn Tage im Karzer untergebracht. Dem politischen Häftling Oles Schewtschenko wurde wegen seiner Osterfeier das persönliche Wiedersehen mit seinen Verwandten gestrichen, das nur einmal im Jahr gewährt wird. Er wurde für zehn Tage im Karzer eingesperrt. Andere Anwesende wurden ebenfalls bestraft, unter anderen auch der Jude Leonid Lubman, der an uns Orthodoxe seine Glückwünsche ausrichtete. Die Zeiten, als in sowjetischen Gefängnissen Mrs. Eleanor Roosevelt vorbildliche Häftlinge vorgeführt wurden, die die Bibel und den Koran lesen konnten, sind längst vorbei. Heutzutage können die Häftlinge das Recht, die Bibel zu lesen, nicht einmal nach Verkündung mehrmonatiger Hungerstreiks (bei Ohorodnikow von 1980 bis 1981) erreichen. Von der Möglichkeit zur Beichte bei einem Priester kann nicht einmal die Rede sein. Im Karzer werden uns die Kreuze, die wir am Leib tragen, weggerissen: Die Ausübung religiöser Rituale und Gebete ist verboten. Eure Heiligkeit, für Menschen, die auf die eine oder andere Weise gegen das apokalyptische Böse in ihrem Bollwerk antreten, ist der Sinn christlicher Demut schwer zu verstehen. Wir können und wir wollen nicht das dem König bringen, was rechtmäßig Gott gehört. Die meisten von uns sehen den Sinn ihres Lebens darin, dieser Welt die wahre Natur der so geschwätzigen sowjetischen Friedenstaube mit ihrer atomaren Keule aufzuzeigen. Wissen denn die vielen Leute nicht, die sich an den Ostermärschen beteiligten, dabei aber aktiv von der sowjetischen Propaganda unterstützt werden, dass in denselben Apriltagen in einem sowjetischen Konzentrationslager Häftlinge, die den Heiligen Geist einfordern, von derselben kommunistischen Macht in den Karzer geworfen wurden? Wir bitten Euch, Eure Heiligkeit, ihnen es mitzuteilen. Wir möchten, dass von diesen Ereignissen Seine Heiligkeit Pimen, Patriarch von Moskau und der gesamten Rus; Filaret, Exarch der Ukraine und Metropolit von Kyjiw und Galizien; und auch Vazgen I., Katholikos aller Armenier, von unserem Aufruf erfahren. Beide bezeugen völlig verblendet, dass die Freiheit der Glaubensausübung in der UdSSR gewährt sei.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 391 Wir wünschen allen Christen und gemeinsam mit Ihnen auch dem ganzen Erdkreis Frieden, Wohlergehen und Gerechtigkeit, aber nicht zulasten des allhöchsten Heils der von Gott uns geschenkten Seele. Möge Eurer Heiligkeit ein langes Leben zur Ehre unseres Herrn beschieden sein! In Demut knien wir vor dem Heiligen Stuhl und bitten wir um Euren priesterlichen Segen. Gelobt sei Jesus Christus! Häftlinge aus dem Lager 36 in Kutschyno: Henrich Altunjan, Wolodymyr Balachonow, Norair Hryhorjan, Walentyn Sasimow, Leonid Lubman, Myroslaw Marynowytsch, Wiktor Njekipjelow, Wiktor Niitsoo, Aleksandr Ohorodnikow, Mykola Rudenko, Antanas Terljazkas, Oles Schewtschenko.

Nachdem sich alle mit dem fertigen Text vertraut gemacht hatten, billigten ihn die Teilnehmer der Aktion. Bald danach wurde ein sorgfältig beschriebenes Papierchen mit diesem Brief an die beide Kirchenoberhäupter auf einem geheimen Weg in die Freiheit übermittelt. Es vergingen Tage, die Spannung unseres österlichen Wagnisses nahm ab und plötzlich traf eine verschlüsselte Nachricht im Lager ein: »Der Papst erhielt den Brief und betete während einer Messe im Vatikan für euch.« Unsere Freude war grenzenlos. Wir waren Gott dankbar, dass unsere Stimme gehört wurde. Ebenso dankbar waren wir dem Heiligen Vater, der unsere Stimme über die ganze Welt verbreitete und für uns betete. Wir erfuhren in unserem Lagerleben das bekannte Gebot des Evangeliums: Als sich die »geringsten« Brüder aus dem Gefängnis an den Papst wandten, »ging er zu ihnen« (Matthäus 25,36-46). Das zweite Geschenk meiner österlichen fünfzehn Tage im Karzer war der Anstoß zum Schreiben meines ersten philosophischen Essays. Eines Tages drängten mich Rudenko und Njekipjelow: »Warum haben Sie bisher nicht Ihre schöpferische Feder ergriffen? Sie können doch nicht nur immer Eingaben an die Staatsanwaltschaft schreiben!« Diese Worte fielen in meine Seele und gingen mir nicht mehr aus dem Sinn, als ich aus dem Karzer kam. Bediente sich dieser schöpferischen Feder nicht auch Oles Schewtschenko, als er uns eines Tages vor seine Türe rief, um ein neues Gedicht vorzutragen? Er entlockte, wie in einer psychotherapeutischen Sitzung, seiner Seele die Erinnerung an das Trauma eines sehr schmerzlichen Erlebnisses. Seine Mutter erlitt einmal in Kyjiw,

392 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT noch vor seiner Verhaftung, eine Herzattacke. Oles rief in großer Aufregung den Notarzt an, doch dort antwortete man ihm nur: »Sprechen Sie in einer menschlichen Sprache.« Eine Zeit lang weigerten sie sich dort, ein Auto zu schicken und bestanden auf Mitteilungen in russischer Sprache. Es ist also verständlich, dass Oles Gedicht buchstäblich durchdrungen war vom Hass gegen Russland! Er nannte es einen »großen Schweinehund« und schrie laut vor Schmerz. Ich konnte diesen Zorn ohne Weiteres verstehen und nahm so an meinem Blutsbruder mit ganzer Seele Anteil. Ich wollte nur noch wegrennen, mir die Ohren zuhalten; in mir schrie alles: »Nein, nicht so, diesen Hass brauchen wir nicht!« Ich konnte auf keine Weise eine solche Position befürworten: Und ich spürte, dass ich Oles mit einem Gegenargument antworten musste. Dadurch entstand plötzlich der Titel meines künftigen Werkes: »Evangelium eines Narren in Christo«. Nur ein Narr konnte in dieser Situation von Vergebung sprechen, in der doch Zorn so berechtigt war. Bereits die Tonalität und der Rhythmik der Sprache und alles andere ergaben den Titel. Genau zu dieser Zeit kam mir das erwähnte »Unterhaltsame Evangelium« zu Nutzen, weil dort die ersten Zeilen des Johannes-Evangeliums zitiert waren, die zu meiner Matrize wurden, auf den ich den Beginn meines Werkes aufbaute. Wichtig für mein Lageressay wurde auch die Erzählung über das Sonnenwunder von Fátima und den Aufruf der Gottesmutter für Russland zu beten, die ich von den litauischen Katholiken gehört hatte. Es war für mich ein kleines weltanschauliches Beben, das ganz natürlich in meinem eigenen Gebet zerbrach. (Heute, im August 2015, taucht diese Welt immer mehr in die teuflische Finsternis ein. Das Gebet ist für die ganze Menschheit aktueller denn je.) Wie ich bereits erwähnte, ließ mir meine Arbeit im Lager den Kopf frei: Die Hände legten sich mechanisch auf die Bauteile für Bügeleisen. Ich dagegen suchte in meinen Gedanken die Worte und schliff sie zu Sätzen. Wenn ich in die Wohnzone zurückkam, schrieb ich sie auf Papier und versteckte sie in Spalten, wo sie mehr oder weniger sicher waren. Ich hatte nicht so sehr Angst wegen

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 393 »antisowjetischer Propaganda« bestraft zu werden, als vor der Spötterei, falls mein Geheimnis preisgegeben würde. So verfasste ich also auf eine Bitte hin dieses Werk, schrieb es vorübergehend ab und lernte es auswendig. Schließlich kam der Tag, als ich meine Arbeit am Essay beendete und ich beschloss, ihn meinen Freunden vorzutragen. Ich rief alle vertrauenswürdigen Häftlinge, die Ukrainisch verstanden, in eine Ecke außerhalb der Baracken. Mit Ausnahme von Mykola Rudenko, Oles Schewtschenko, Henrich Altunjan und Wiktor Njekipjelow. Ich trug den Text aus dem Gedächtnis vor und hatte so die Möglichkeit, die Reaktion meiner Zuhörer zu beobachten. Ich konnte meine innere Furcht fast nicht verbergen: Wird der Gedanke der Vergebung, von dem das gesamte Werk durchdrungen ist, verstanden? Wir sind im Lager, wo zu vergeben am schwersten fällt. Die Leute vor mir waren Menschen von hohem Geist und durch viele Qualen zurecht geschliffen. Der Erfolg war aber enorm. Rudenko war völlig ergriffen und sagte mir, dass diese Sache ein Volksbuch für die Ukrainer aller Generationen werden würde. Ich wäre auch verpflichtet, weiterzuschreiben. Njekipjelow erklärte sich bereit, den Narren in die russische Sprache zu übersetzen und sagte, dass er einmal im Namen Russlands antworten würde. Am wichtigsten für mich war die Reaktion von Oles Schewtschenko: »Man möchte durch dieses Werk ein besserer Mensch werden.« Das alles hieß, dass ich mein Ziel, wenn auch nur für kurze Zeit, erreichte. Diese Geschichte hatte eine bemerkenswerte Fortsetzung. Mykola Danylewytsch bestand darauf, dass ich das »Evangelium eines Narren in Christo« über die Kanäle der Häftlinge in den Westen übermittle. Ich war unsicher: Ja, schon, doch dafür müsste das ganze Lager es möglichst rasch mit winziger Schrift auf dünnes Zigarettenpapier abschreiben. Das würde nicht nur eine Stunde kosten. Es wäre zudem nicht möglich, so lange ohne Brandmal vonseiten der Aufseher oder der Zuträger im Lager zu bleiben. Mykola Danylowytsch überzeugte mich enthusiastisch, dass alles gut würde:

394 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Sie sehen doch, dieses Werk ist ein Werk solch hoher Gedanken, das muss unbedingt in den Westen gebracht werden. Erinnern Sie sich, wie der ›Sonnengesang‹ von Campanella verfasst wurde? Er saß in einem verlassenen mittelalterlichen Gefängnis, hatte kein Papier, um seine Gedanken aufzuschreiben. Als es nötig wurde, geschah plötzlich ein Wunder. Immer wieder kam ein Mädchen ans Fenster seiner Zelle. Sie brachte ihm alle erforderlichen Utensilien und trug Seite für Seite seines Werkes hinaus. So wurde der Sonnenstaat für die Menschheit bewahrt.

Ich wog alles ab und begann an einem Sonntagmorgen zu schreiben. Es war ein herrlich sonniger Tag. Alle Häftlinge gingen nach draußen. Ich blieb allein in meinem Raum in der Baracke. Eine gewisse Müdigkeit und zugleich Glückseligkeit lagen in der Luft. Die Aufseher machten keinen Rundgang; die Zuträger wärmten sich verwöhnt an der Sonne; und ich schrieb … Es verging eine Stunde, zwei Stunden und ich stellte das Wunder fest, dass niemand in die Baracke kam. Dann beendete ich meine Arbeit, ging wie vor Erregung benommen an die Sonne und legte Mykola Danylowytsch Rechenschaft ab: »Nun, was habe ich dir gesagt?«, antwortete dieser genauso aufgeregt wie ich. Der Text wurde erfolgreich nach Moskau gebracht und von dort in den Westen, wo er über verschiedene Kanäle in die Hände von Nadijka Switlytschna gelangte. Später wurde »Das Evangelium eines Narren in Christo« in der Zeitschrift »Gegenwart« Nr. 11 (1988) veröffentlicht, mit dem vorsichtigen Zusatz: »Abdruck ohne Wissen und Erlaubnis des Autors.« Religiöse Suche im Lager Das Lagerleben hatte an für sich schon einen verborgenen religiösen Sinn, selbst dann, wenn es gar nicht konkret um etwas Religiöses ging. Jede Prüfung oder Strafe konnte in seiner tieferen Bedeutung zu einem kleinen Teil deiner geistigen und geistlichen Erfahrung werden. Das aber nur unter der Bedingung, dass du dafür bereit warst. Unter dieser Voraussetzung waren sogar ganz gewöhnliche zwischenmenschliche Beziehungen wichtig. Wie ich bereits erwähnte, mangelte es nicht an Konflikten zwischen den Häftlingen. Als ich in die Zone kam, musste ich mich seelisch daran gewöhnen. Selbstverständlich waren für mich alle, die unschuldig hinter Gittern bestraft wurden, fast heilig und in der

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 395 Folge sündenfrei. In Wirklichkeit waren alle nur Menschen. Schöne, aufrichtige und eindrückliche, aber wirkliche Menschen. Deshalb konnten sie sich auch durch ihre Eigenart trotz guten Willens irren. Mir half dabei vielleicht Jewhen Swerstjuk, der im Juli 1978 aus der Zone 35 in die Zone 36 verlegt wurde und mit dem ich seitdem sehr begeistert verkehrte. In der Zone gab es eine Konfliktsituation, die wir überhaupt nicht verstehen konnten. Als ich einmal mit Swerstjuk spazierte, kam Oleksij Safrono zu uns, geboren in der Krim, und brachte unser Gespräch mit Herrn Jewgen auf diesen Konflikt und fragte uns: »Wie ist es möglich, aus dieser Situation einen Ausweg zu finden?« Swerstjuk antwortete nur: »Sehr einfach: auf der Grundlage des Evangeliums!« Wir beide, Oleksij und ich, waren verblüfft. Oleksij war ebenfalls erstaunt, denn für ihn war durch seine Unvorgenommenheit gegenüber diesem Konflikt der Verweis auf das Evangelium unrealistisch und überhaupt nicht umsetzbar. Ich dagegen war von der sehr schlichten und hohen Bedeutung der Worte von Herrn Jewgen äußerst beeindruckt. Und ebenso vom grundsätzlichen Gedanken, dass das Evangelium nicht nur für sonntägliche Predigten in der Kirche da ist, sondern dieses Rezept auf ganz konkrete irdische Zustände angewendet werden kann. Es gab in meinem »weltanschaulichen Stromkreis« offenbar einen Kurzschluss. Als er bereits am Ende seines Lebens stand, lüftete Jewhen Swerstjuk das Geheimnis seines Einflusses auf die Menschen: Mein Fatum ist es, die Menschen an gewisse Grundeinsichten zu erinnern. Sie lassen sich nur schwer fassen. Es sind Wahrheiten, die angenommen werden müssen, ohne sie beweisen zu können … Ich weise die Menschen auf einige grundsätzliche Wahrheiten hin, damit sie glücklich werden: dass sie reinen Herzens sind und einander lieben.154

Ebenso wichtig für meine geistliche Erfahrung wurde mein bereits erwähnter erster Aufenthalt im Karzer. Ich war damals in einer separaten Zelle allein. Eines Abends erlebte ich einen großen Augenblick einer geistlichen Versöhnung. Ich weiß nicht mehr, was genau ich vom diensthabenden Aufseher wollte. Ich begann an die

154 Kraina, 11.12.2014, Nr. 48 (251), S.34.

396 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Metalltüre zu klopfen, um ihn zu mir zu rufen. Doch der Aufseher kam nicht. Ich fing an, stärker zu klopfen, er kam immer noch nicht. Dann geriet ich wie ein wildes Pferd in heftige Wut: Ich hämmerte mit meinen Fäusten gegen die Türe und schrie unbedacht. In meinem Kopf begann es zu stürmen, vor meinen Augen blinkten rote Lichter. Plötzlich sah ich mich wie von außen her und war von Angst gepackt: Was denn, bin ich das? Dieser irr gewordene Mensch mit dem vor Wut entstellten Gesicht! Meine Erschütterung war so heftig, dass mein Zorn sich wie von einer Hand weggenommen, auflöste. Ich ging in der Zelle auf und ab und flehte Gott an, mich von meinem zerstörerischen Zorn zu erretten und mir mein christliches Antlitz zurückzugeben. Jene Nacht wurde mir zur hohen Schule für Demut. Am Morgen rief ich ganz ruhig den Aufseher. Als er kam, sagte ich ihm ungefähr das: »Ich rief Sie gestern, doch Sie beachteten mich nicht. Das war nicht gut. Ich war doch gezwungen, in der Zelle zu bleiben und konnte mir nicht helfen. Ich aber war ungerecht. Zorn ist ein schlechter Ratgeber. Ich bitte Sie, mich zu entschuldigen.« Der Aufseher antwortete nur etwas verlegen: »Aah, nichts …« und ging weg. Es geschah kein Wunder. MeinAufseher öffnete die Tür meiner Zelle nicht wie ein Don Quichotte, umarmte mich auch nicht. Es geschah kein äußerliches Wunder, es geschah aber etwas tief in mir: Ich verbrachte den Rest meiner Zeit im Karzer in höchster geistlicher Bewegung. Ich erkannte, wie der Himmel einen Menschen belohnt, wenn er in Harmonie mit Gott lebt. Ich ergänze aber sofort, dass ich ab diesem Augenblick kein vollkommen Heiliger wurde. Ich geriet auch weiter oft noch in Zorn, ärgerte mich und schrie herum. Doch das damalige Erlebnis nistete sich in meiner Seele ein und wurde ein wichtiges Element meiner geistlichen Erfahrung. Ich erinnere mich oft daran und es dient mir häufig dazu, meinen Zorn zu zügeln. Im Laufe der Zeit wurde meine geistliche Entwicklung auch unserem KGB-Beauftragen Surowzew bekannt. Seine Reaktion war spannend, wie mir jemand erzählte, Surowzew hätte »Hm …« gemacht, und sei verärgert gewesen und sagte dann: »Er hätte früher

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 397 daran denken müssen und nicht zu den Dissidenten, sondern in ein religiöses Seminar gehen sollen.« Religiöse Themen wurden im Lager häufig besprochen. Im Unterschied zur damaligen Freiheit konnte davon ganz legitim geredet werden. Ziemlich häufig war die Zone ein Tal der Qual und der Trauer! Zorn flammte wie ein Höllenfeuer auf, aber auch Reue über die eigene Sündhaftigkeit und Hoffnungslosigkeit. Das Böse mehrte sich, doch daraus kristallisierte sich Güte. Das wahre Fegefeuer lag hinter einigen Reihen Stacheldraht. Es war wie ein großer Verteiler, an dem sich das Schicksal der Menschen entschied: Einige Häftlinge zog es unaufhaltsam nach unten in eine noch tiefere Finsternis und noch größerer Sünde; andere dagegen zog es durch Gottes große Güte zum Guten hin. Es ist nicht einfach, in das Geheimnis einer solchen Verwandlung vorzudringen. Typisch in dieser Hinsicht war das Fazit von Serhij Kowaljow, der sich im Lager hütete, sich als überzeugten Christen zu bekennen und eher dazu geneigt war, glaubenslos zu bleiben: Wir nahmen ein Ideal in ihrer noch unausgereiften Form an, durch nichts Weiteres ergänzt und vollkommen gemacht. Wir erkannten außerdem die Einzigartigkeit dieses Ideals, seinen leitenden Sinn und seine globale Bedeutung. Es gibt der Menschheit die Chance auf ein Leben in einer hoffnungsvollen, gerechten und friedvollen Welt. Wir versuchten auch, innerhalb des eigenen Planetensystems politisch idealistisch zu wirken. Genau benennen können wir es noch nicht. Die erwähnten persönlichen Motive zwangen den Kreis der Dissidenten, in dem deutlich Glaubenslose und Agnostiker überwogen, nach dem Grundsatz der religiösen Moral zu leben: Tue, was nötig ist und es mag kommen, was will. 155

Eine Zeit lang war der Priester Alfonsas Swarinskas in der Zone, ein litauischer Geistlicher. Als er in die Haft kam, versuchte er illegal Gottesdienste durchzuführen. Einem solch grandiosen, wie auf einem Teller offen präsentierten Verstoß gegen das Reglement wurde unvermeidlich ein Ende bereitet. Ich fand dazu einige für mich unerwartete Angaben in den Erinnerungen des russisch-orthodoxen Christen Rostyslaw Jewdokimow:

155 Serhij Kowaljow. Für das Ideal wirst Du antworten?

398 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Priester Alfonsas fütterte illegal nicht nur Katholiken, sondern auch Unierte, zu denen sowohl Stepan [Chmara], als auch einige Orthodoxe gehörten, denen er vorbehaltlos vertraute. Ich erhielt das Abendmahl von ihm. Nicht alle wissen davon, aber in Ausnahmefällen ist eine solche Praxis unseren Kirchen erlaubt. In der Zone 35 und 36 konnten auf ähnliche Weise Katholiken vom Priester Hlib Jakunin illegal das Abendmahl empfangen.156

Ich nehme an, dass das dann der Fall war, als Stepan Chmara in der Zone war, und ich noch nicht da war. Wie dem auch sei, mit Priester Alfonsas führte ich oft religiöse Gespräche, in denen ich meine geistlichen Probleme mit ihm teilte. Diese Gespräche waren für mich unschätzbar wertvoll. Zu meinem größten Bedauern erzählte er wenig von sich selbst. Daher erfuhr ich erst kürzlich von seiner persönlichen Bekanntschaft mit Patriarch Jossyf in einem sibirischen Lager für Zwangsarbeit. Im Informationsmaterial zu den Erinnerungen des Patriarchen finden sich diese Angaben: Als er 1983 von der Verhaftung Swarinskas erfuhr, schrieb Jossyf Slipyj sofort einen Solidaritätsbrief an die litauischen Brüder, in dem er Swarinska als Berühmtheit der Litauischen Katholischen Kirche und des Volkes bezeichnete und seine Treue ihm gegenüber in der Haft mit der Treue des Titus beim Apostel Paulus verglich.157

Wenn ich damals innerlich so berührt war, als würde ich vor dem Altar des Allerheiligsten stehen, rebellierte Bohdan Klymtschak, ein anderer Mithäftling, allein schon, wenn man Gott erwähnte. Sein Schicksal war wirklich grausam. Er fühlte tief in sich, dass die sowjetische Realität für sein ganzes Wesen unerträglich war. Dieser Galizier erreichte 1978 auf seiner Flucht nur mit Mühe das ferne Turkmenistan. Er erstellte im Detail einen Plan, die Staatsgrenze zu übertreten. Er kam dann erfolgreich in den Iran, wo damals noch Scheich Pahlavi regierte, und unterhielt sich vertrauensvoll mit den Vertretern der Staatsmacht und auch mit der amerikanischen CIA. Er erzählte ihnen, worum es in seinen literarischen Arbeiten ging, die er mitgenommen hatte. Schließlich wurde er auf Verlangen der Sowjetmacht, als sie von seinem Grenzübertritt durch ihre iranische 156 Manuskript der Erinnerungen von Rostylaw Jewdokimow mit dem Titel: »Nicht so weit entfernter Kesselraum«, entnommen aus der Gruppe Soviet dissidents, die im Netz von Facebook organisiert ist. 157 Jossyf Slipyj. Erinnerungen, S.378f.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 399 Agentur erfuhr, von den Iranern als Verbrecher und Terrorist an die UdSSR ausgeliefert. Im letzten Augenblick, als er bereits sein böses Schicksal ahnte, flehte Klymtschak die Iraner an, den Behörden zumindest seine Werke nicht weiterzugeben. Jene hörten aber auch da nicht auf ihn und übergaben alles ausnahmslos. So kam Klymtschak vor Gericht und erhielt für seinen Versuch, sich von dem sowjetischen Paradies loszureißen, gemäß dem Paragrafen »Verrat am Vaterland«, fünfzehn Jahre Freiheitsentzug und fünf Jahre Verbannung. Eine solche Brutalität der iranischen Machthaber und der amerikanischen Geheimagenten, die offensichtlich kein besonderes Interesse am Überläufer fanden, prägte sich in seiner Seele als ein riesengroßes Trauma ein. Das war für ihn unverträglich mit dem Glauben an Gott. Als ich einmal mit Bogdan im Kerker (PKT) saß, begann ich ein Gespräch über Gott. Er entgegnete wie ein Vulkan voller Schmerz: »Fangen Sie mir nicht mit Gott an! Es wäre für ihn besser, wenn es ihn nicht gäbe. Wie gerechtfertigt er auch sein mag, warum hat er mir so viel Unrecht zugefügt?« Eine gewisse Prüfung war für mich auch die Ankunft des bereits erwähnten Oleksandr Ohorodnikow, eines Aktivisten der geistigen Wiedergeburt in Russland und Mitherausgeber der selbstverlegten orthodoxen Zeitschrift »Gemeinde«. Einerseits achtete ich ihn, da er zum Glauben hingezogen war. Ich zeigte mich solidarisch mit seinen gesetzmäßigen Forderungen bezüglich der Abschaffung der absurden antireligiösen Verbote. Andererseits stand die Art der Geistlichkeit, die wir für uns pflegten, in einem heftigen Kontrast. So lehnten sich viele unter uns dagegen auf, wie er das Fastengebot verstand: Er unterschied es nicht von einem politischen Hungerstreik. Sobald die Fastenzeit nahte, wusste die ganze Zone, dass Oleksandr einen Hungerstreik verkündete und ihn mit politischen Forderungen verband. Unsere Leitung lernte ebenfalls, das zu berücksichtigen. Ich wurde einmal Zeuge, als sich Surowzew am Vorabend der Fastenzeit über ihn lustig machte: »Nun, Ohorodnikow: Morgen verkünden Sie wieder einen Hungerstreik?« Als die Fastenzeit vorüber war, verkündete Oleksandr ganz bescheiden: »Alle Christen werden morgen das Abendmahl empfangen, ich muss deshalb den

400 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Hungerstreik beenden.« Meiner Meinung nach war das eine unangebrachte Deutung sowohl des Fastens als auch des politischen Protestes. Sascha betete jeweils demonstrativ im Stehen vor dem Essen (ich war damals geistlich noch nicht so weit). Er war aber nicht bereit, in der Sauna auch etwas zusammenzurücken, um anderen Häftlingen Platz zu machen. Als ich einmal beschloss, ihn zu ermahnen, indem ich ihn an das Gebot Christi »Liebe deinen Nächsten« erinnerte, antwortete mir Oleksandr: »Myroslaw, ich verstehe sehr wohl, was Liebe zu Gott meint, aber was Liebe zum Nächsten bedeutet, verstehe ich nur schwer.« Heute erkenne ich, dass Sascha ein Vertreter eines ideologisierten Christentums war. Meiner Meinung nach stirbt der christliche Glaube durch ein solches Verhalten und wird zum religiösen Fanatismus. Es war auch in unserem Lager für politisch Verurteilte ein Russe, der zufällig an diesem Ort landete. Er hieß Wolodymyr Osipow, war in einem Kinderheim aufgewachsen und verstand wenig von Politik. Er vegetierte völlig vor sich hin. Es war wohl deshalb, weil ein Mitarbeiter des KGB sich einen weiteren Stern verdienen wollte, wenn er ein politisches Verfahren eröffnete. Häftlinge, die »vor sich hinvegetieren«, sind eine leichte Beute für die Verwaltung. Sie benutzten sie, um uns für sie zu beobachten. Ich war bemüht, ihn nicht mit meiner Nichtbeachtung wegzustoßen und trank sogar Tee mit ihm (im Lager war das so etwas wie das Rauchen einer Friedenspfeife unter Indianern.) Es war offensichtlich, dass er eigentlich nicht wirklich dem entsprach, was von ihm erwartet wurde. Diese Eigenart versetzte ihn nicht nur einmal in eine ziemlich außergewöhnliche Lage. Wolodja bot mir an, mit ihm Tee zu trinken. Ich willigte ein, wir genossen den Lagernektar und redeten. Plötzlich lachte er und sagte: »Wissen Sie, welchen Tee Sie gerade trinken?« Ich zeigte nur meine stumme Verwunderung. Dann fuhr er fort: »Als mein Tee zu Ende ging, überlegte ich, wie ich ihn wieder auftreiben kann. Es kam mir ein Gedanke. Ich ging zu Surowzew [ich erinnere: zu unserem Leiter des KGB im Lager] und sagte ihm, dass ich sah, wie Sie in der Wand hinter der Baracke ein Dokument versteckten. Er gab mir dafür ein Päckchen Tee. Deshalb habe ich beschlossen, Sie

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 401 mit diesem Tee zu bewirten. Sie sind auf eine spezielle Art darin verwickelt. Ich wusste, dass ich Ihnen mit dieser Nachricht keinen Schaden zufüge. Sie haben das ja in Wirklichkeit gar nicht dorthin gelegt.« Vor diesem mehrschichtigen moralischen Problem wurde mein Kopf ganz in Nebel gehüllt. Einen Moment lang wusste ich schlicht nicht, was ich denn sagen sollte. Ich beschloss, ihm weder erregt eine Moralpredigt zu halten noch einfach fröhlich den Tee zu Ende zu trinken, als wäre gar nichts gewesen. Als ich langsam wieder zu mir kam, nahm ich sein Vorgehen unter die Lupe. Danach trank ich meinen ehrlich verdienten Tee aus … Nun ist es an der Zeit, zur Geschichte meiner Bekehrung zurückzukehren, die sich 1977 im Untersuchungsgefängnis des KGB in Kyjiw (s. Abschnitt II: Die Zeit des Unrecht-Gerichtes) ereignete. Sie fand eine sehr intensive Fortsetzung. Das Lagerleben zwang mich meistens zu einer weltanschaulichen Zweiteilung. Mit der einen Hälfte lebte ich das irdische Leben eines Häftlings und erkämpfte mir meinen Platz in der täglichen Konfrontation mit der Lagerverwaltung. Mit der anderen Hälfte schwebte ich weiterhin auf metaphysischen Höhen und holte mir da auch Beulen, wenn ich meine religiöse Weltanschauung erprobte. Ich war zwar nicht mehr unter Hochspannung durch Offenbarungen. Verglichen mit der Explosion in Kyjiw waren sie damals verflacht. Manchmal schlich sich ein zäher Zweifel in meine Seele: Waren das in Wirklichkeit nur Halluzinationen gewesen? Dann kam aber plötzlich ein erneuter großer Tag in meinem Leben. (An das genaue Datum erinnere ich mich nicht, aber es war 1980.) Ich begann damals gerade den zweiten Tag eines Hungerstreiks, den ich als Zeichen meines Protestes ausrief, als ich in den Karzer verlegt wurde, nachdem man mir mein Kreuz von Leib weggerissen hatte. Ich war allein in meiner Zelle. Der erste Tag meines Hungerstreiks verlief ruhig. Am nächsten Tag rief mich der Operative Bevollmächtigte zu sich und teilte mir mit, dass er mit dem Staatsanwalt telefoniert und dieser festgelegt hatte, dass mir mein Kreuz zurückgegeben wird, wenn ich wieder aus dem Karzer bin. Alle, die einmal in einem Lager waren, wissen nur zu gut, wie schwer es ist, etwas von der Verwaltung zu bekommen. Ich fühlte mich also wie ein Sieger, stellte den

402 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Hungerstreik ein und empfand eine große seelische Befriedigung bis zum Ende jenes Tages. Noch ganz bewegt, maß ich die Zelle mit meinen Schritten ab und schwebte bereits wie gewohnt in meinen Gedanken jenseits dieser Welt. Ich kehrte zu meinen Offenbarungen zurück und suchte nach dem, was ich immer noch nicht begriff. Ich war völlig von meiner Umgebung im Karzer abgelenkt und tauchte in meine Gedanken ein. Ganz unbemerkt begannen sich nun gewisse Kombinationen meiner Gedanken und Theorien abzuzeichnen, die mir höchst interessante Ergebnisse brachten. Ich fing an, das bereits gefundene Modell auf ganz verschiedene Situationen in dieser Welt anzuwenden, in der Ukraine oder in der Familie. Jedes Mal stellte sich heraus, dass ich nicht nur ohne Weiteres die Vergangenheit erklären, sondern auch den künftigen Lauf der Ereignisse voraussagen konnte. Zunächst war es spannend, dieses Modell mit noch größerem Eifer zu nutzen. Dann wurde es unheimlich: Ich spürte, dass ich mich auf etwas Verbotenes einließ. Es ist nicht gut, wenn der Mensch seine Zukunft kennt. Das lag aber bereits jenseits meiner Kraft und Möglichkeit. Mit meinem inneren Blick sah ich in immer geheimnisvollere Tiefen. Die bereits gefundene Formel ergab plötzlich ein Ergebnis für die Zukunft. Es wurde mir seltsam zumute bis hin, dass mir schwindelig wurde. Ich nahm gar nicht wahr, dass die Nachtruhe nahte, die Aufseher die Pritsche herunterklappten, die zur Tageszeit an die Wand hochgeklappt und mit einem Schloss verriegelt war. Es geschah jedenfalls genau zum richtigen Zeitpunkt. Ich konnte aber mit dem besten Willen mein Gehirn nicht stoppen. So hielt es eben selbst an. Alles drehte sich in meinem Kopf. Ich legte mich wie blind auf meine Pritsche: Und siehe, plötzlich hörte ich eine laute Stimme: Bete! Ich war bereits verwirrt und hatte keine Kraft, meine Hand zu erheben. Also bekreuzigte ich mich in Gedanken … und es entfiel vor meinen Augen mein ganzer dunkler Schleier. Meine Kräfte kamen zurück. Ich sprang von der Pritsche auf, schaute mich erstaunt um: Was war denn das? In meinem Kopf waren Worte, in denen ein besonderes Wissen über die Zukunft lag. Ich versuchte, mich zu erinnern und konnte es nicht. Einfach nicht mehr da. Blockiert. Ich quälte mich noch etwas weiter, versuchte mich zu erinnern und

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 403 dann beruhigte ich mich. Sogar noch mehr: Ich verstand, dass es mich vor dem Wahnsinn rettete. Ich war nicht auf ein solch umfassendes Wissen vorbereitet. Die genaue Formel ging mir verloren, nicht aber meine Erinnerung, die diesen Effekt erzeugte. Die Formel ließ mich die Welt in ihrer Komplexität verstehen, da sich daraus eine Vielzahl von Kombinationen ergab. Es lässt sich mit einem Kaleidoskop für Kinder vergleichen. Mehrere Gläschen drehen sich in einem Rohr in einem System von Spiegeln. Daraus entstehen die vielfältigsten Kombinationen, die sich nicht wiederholen. So setzt sich auch die Formel dieser Welt aus mehreren (drei? fünf?) Urelementen zusammen. Zwischen ihnen existiert eine klare (und einzige!) Ordnung, ein ganz bestimmtes, ursprüngliches und dynamisches Modell an Wechselwirkungen. Der Aufbau dieser Welt, dieses so vielfältige und hierarchisch geordnete Weltall, resultiert daraus, dass das dynamische Modell immer neue Wesen (neue Subelemente) hervorbringt, die die Arbeit des Hauptmodells auf ihrem jeweiligen hierarchischen Niveau und auf der dort ihnen entsprechenden Ebene reproduzieren. So entsteht eine nicht euklidsche Geometrie des Raumes, in der sich Myriaden an kleinen, großen und noch größeren Subelementen brechen und kreuzen. Diese Komplexität wird dadurch ergänzt, dass beim Vorgang der Multiplikation die erwähnten Submodelle unbemerkt als Urelemente neuer gigantischer Supermodelle heranwachsen, die unser gesamtes Universum umfassen. Dieses Supermodell aber ist, wenn es endgültig herangereift ist, mikroskopisch klein. Die Entwicklung unserer Welt ist eine embryonale Phase der Formierung dieses Supermodells. In dem Moment, da sich die embryonale Entwicklung vollendet und das neue Supermodell entsteht, naht das Ende unserer Welt. Die ganze zuvor herangewachsene Vielfalt geht in eine neue Dimension als Ganzes über. Es verging noch etwas Zeit. Zweifel schlichen sich erneut in meine Seele. Konnte es sein, dass es bloß Halluzinationen waren? War das alles die Folge meines Hungerstreiks? Konnte es sein, dass die Entdeckung dieser Formel bei mir einen Zustand kurz vor dem Wahnsinn bewirkte? Meine Zweifel plagten mich so lange, bis mir endlich der gesuchte Beweis gegeben wurde. Ich erhielt in einem

404 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Brief von Nadijka eine Nachricht über ein privates Ereignis mit einer ihrer Freundinnen. Sofort tauchte in meinem Gehirn eine Erinnerung auf: Genau dieses Ereignis sah ich an jenem Abend in meiner Vision voraus. Ich schrieb deshalb meiner Schwester am 22. Oktober 1980: Es geschah noch eine Begebenheit, die zur Hälfte intuitiv war, und zum Teil auf dem Weg einsamer Überlegungen zu einer magischen Berechnung führte, mit der es mir gelang, die Zukunft vorauszusehen – es läuft mir noch heute ein kalter Schauer über die Haut.

Wie dem auch sei: Obwohl mir mit der Botschaft dieses Briefes die eigentliche Formel nicht zurückgegeben wurde, war es trotzdem bestätigt, dass ich sie tatsächlich hatte. Ich war nie gezwungen, mich weiter an sie erinnern zu müssen. Zuerst war es deshalb, weil Allwissenheit eine grundlegende Transformation der Menschheit erfordert. Einem unvollkommenen, sündigen Menschen darf dieses feine und delikate Instrument nicht in die Hände gegeben werden. Er könnte es gegen andere Menschen verwenden und ganz wichtig: gegen sich selbst. Deshalb akzeptierte ich die Blockade meines Gedächtnisses mit Dankbarkeit und Zuversicht. Ich bin ganz und gar davon überzeugt, dass diese Blockade sich auflösen würde, falls es einmal tatsächlich nötig wäre. Ich kann aber eine gewisse Begierde nach dem Verlorenen nicht verbergen. Es war jene Sehnsucht, die John Nash in seiner Autobiografie erwähnte: »Wenn du wieder normal bist, verlierst du deine Bindung an den Kosmos, doch über diese Besserung bin ich gar nicht glücklich.«158 Kein Zweifel: Alle diese religiösen Offenbarungen und Erlebnisse im Untersuchungsgefängnis und in der Zone veränderten meine Weltanschauung grundlegend. Sie wurde religiös und christlich, stand aber teilweise im Widerspruch zu den Dogmen der Kirche in dieser Welt. Ich präzisiere das hier nicht weiter. Einige Elemente meiner weltanschaulichen Position sind ziemlich schräg und es wäre wahnwitzig, zu riskieren, sie ans Tageslicht zu bringen. Sie geben mir einen bestimmten Sichtwinkel, unter dem ich 158 John Nash: »Die Aufgabe ist in dem Augenblick gelöst, in dem sie gestellt ist.«

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 405 Gottes Welt erkenne. Ich bin zudem durch Erfahrung klug geworden: Was aus kirchlicher Sicht heute inakzeptabel erscheint, kann morgen logisch und plausibel sein. Aus der Zeit meiner Offenbarungen blieb mir das Gefühl der nahen Ankunft eines Wunders und dessen Erwartung. Das Lager lehrte mich mit ganz anderen Augen auf die uns allen gut bekannten Seligpreisungen der Bergpredigt zu sehen. »Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen […], selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übles wider euch, so sie daran lügen« (Matthäus 5,11). Jetzt verstehe ich, wie zutreffend und tiefgründig diese Worte sind! Das Bewusstsein dessen, dass du keine Schuld trägst und man dich ausschließlich wegen der Wahrheit bestraft, heiligt jeden Tag deines Lagerlebens, rechtfertigt ihn und erfüllt ihn mit wichtigem Inhalt selbst dann, wenn du heute nichts wirklich Wichtiges getan hast. Dieser Eindruck erhebt dich in geistige Höhen und wird dir zur Stütze. Diese Bedeutung beginnst du erst dann zu verstehen, wenn du das Lager verlässt. Du kannst dir bereits heute dein tägliches Brot verdienen, wenn du deine Existenz durch gute Taten rechtfertigst. Nur dann begreifst du, wie wahrlich selig und bedeutsam alle deine Jahre im Lager waren! Weil ich verstehen kann, dass diese Worte einem als eine schlaue Übertreibung erscheinen mögen, verweise ich auf die Angaben dreier weiterer meiner Brüder: Semen Glusman: Hier im Konzentrationslager lebe ich ein vollwertiges geistiges Leben, bin ich glücklich, entgegen allem, was man aushalten muss.159 Oleksa Tychy: Übermittle oder lese meine Mutter vor, dass alles gut bei mir ist. Ich habe einen ganzen Stapel an Zeitschriften, Bücher und Menschen, für die man Hunderte an Jahren braucht, sie zu lesen, und für die man ein Denkmal setzen könnte. Hinter Gittern und Drähten bin ich hundertmal glücklicher als du oder Sina [Verwandte von O. Tychy – M. M.] ohne Drähte, obwohl ich im Gefängnis bin. Es gibt und es wird weitere Misshandlungen geben, dass alles ist für den Menschen notwendig, um zu erkennen, was und wozu etwas ist.160

159 S.F. Glusman. Zeichnungen aus dem Gedächtnis, oder Erinnerungen eines Häftlings, S.25. 160 Oleksa Tychy. Gedanken über das heimatliche Donezker Land, S.119.

406 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Jewhen Swerstjuk: Was mich jetzt betrifft, ob es mir gut ergeht? Mir SOLL es gar nicht gut ergehen. Mir soll es am schwierigsten ergehen, das ist der Maßstab für meine Seele. Sie erfordert eine volle Schale. Hier liegt der Sinn.161

4. Als die Seele den Stacheldraht berührte Dieser Abschnitt hätte auch gut dem vorausgegangen eingefügt werden können, da bei mir alle Ebenen meines Lagerlebens deutlich von meiner religiösen Erfahrung bestimmt waren. Diesen Abschnitt hebe ich nur deshalb besonders hervor, um für die Leser gewisse Schlussfolgerungen verständlicher zu machen, da ich dort nicht mehr auf die entsprechenden Erlebnisse verweise. Der Leser muss sich aber auch darauf einstellen, dass sich in diesem Abschnitt am meisten Zitate aus meinen Briefen finden lassen. Für mich macht es keinen Sinn, die damals ausgesprochenen Gedanken irgendwie verändern zu wollen, weil ich es heute nicht besser sagen könnte. Zudem sind diese Ausschnitte durch ihre Authentizität besonders wertvoll. Nach über dreißig Jahren sind sie nicht einfach nur Ausschnitte aus meinen Briefen, sie wurden für mich zu wahrhaften Zeugnissen … Die Bildung einer persönlichen Weltanschauung Im Lager formte sich die persönliche Weltanschauung im Grunde genommen nicht viel anders als in der Freiheit, d. h. durch die ständige Spannung in jenem intensiven geistigen Feld, das zwischen den beiden weltanschaulich am meisten entgegengesetzten Polen besteht und ein ganz bestimmtes Koordinationsfeld erzeugt, durch das der Mensch seine Position berechnen kann. Bei mir geschah es im Lager durch einige besondere Offenbarungen Gottes und dann auch Zweifel daran, durch viel Leiden und wieder neue geistige Höhenflüge. Weshalb es bei mir so gewesen ist, liegt allein an der Tatsache, dass das Ausmaß und die Tiefe der Qualen unter den damaligen Bedingungen außergewöhnlich groß war.

161 Zitiert nach dem Buch: Ich gebe nicht nach! Zum 100-jährigen Geburtstag von Oksana Jakiwna Meschko, S.84.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 407 Schon in den ersten Tagen in der Haft wurde bei mir ein ganz bestimmtes Dilemma ausgelöst, das ich bis heute kenne. Darüber schrieb ich auch sehr offen umfassend im Brief vom 16. Mai 1982 an meine Verwandten, in dem ich mich auf folgendes Gedicht eines unbekannten Dichters bezog, das mir meine Cousine Olenka Taschuta gesandt hatte: Wir werden gejagt von einer Ecke zur andern, An den Ecken findest du Türen. Auf der letzten steht geschrieben: ›Ich weiß es‹, auf der ersten: ›Ich glaube einfach.‹ Du gehst nie allein nur durch ein- und dieselbe Tür. Wenn du glaubst, dann glaubst du, ohne zu wissen, wenn du weißt, dann weißt du, ohne zu glauben. Dein eigenes Bewusstsein formt sich Jeden Tag seit deiner Geburt. Denn wir alle wandern auf dem Wege des Wissens, aber mit dem Wissen kommen auch die Zweifel. Dieses Rätsel bleibt ewig bestehen. Da helfen dir auch keine gelehrten Köpfe, denn wenn wir es zu wissen meinen – sind wir in Wirklichkeit schwach, wenn wir aber glauben, unendlich stark.

Der Kern des Briefes war schlicht: Man kann mit seinem Kopf nicht gleichzeitig durch zwei Türen gehen … Die eine ist für mich das bekannte Prinzip ›Schaffe dir keine Feinde‹, das sich besonders in meiner Suche um das richtige Verständnis der Idee der allversöhnenden Liebe zeigt. Die andere Türe ist meine gundsätzliche Weigerung, in der wahren Welt nur ein Utopist zu sein. Es ist das Prinzip, das sich sehr gut mit dem etwas derben Sprichwort zeigt: ›Sei nicht allzu süß, sonst lecken sie dich ab.‹ Die eine Türe ist für mich das Neue Testament, die andere das Alte Testament: Aber es ist der Weg zu einer vollkommenen Synthese! Im ersten Bereich bin ich unendlich stark, aber irgendwie zieht es mich auch in die reale Welt. Im zweiten bin ich aber auch ein bisschen stark,

408 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT obwohl es mir eigentlich zuwider ist. Ich fühle mich unwohl, wenn mich das Alte Testament erfolgreich zur Klarheit ihres bekannten Prinzips ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹ ruft! Was geschieht, wenn man durch beide Türen gleichzeitig gehen will, kann man sich gut vorstellen: Ich schlage mir die Nase blutig und liege flach ausgestreckt auf dem Boden, völlig erdrückt, wie versagt ich doch habe. Trotzdem will ich mich nicht der richtigen Wahl entziehen.

Mögen mir die Theologen meine Einfachheit verzeihen, wie ich damals mit meiner bescheidenen Kenntnis aus dem Alten und Neuen Testament umgegangen bin. Heute muss ich im Stillen auch etwas über mich schmunzeln. Bis heute ist mir aber dieses Dilemma in seinem wahren Kern geblieben. Ich weiß aber, dass in meiner Seele damals diejenigen Gedanken heranreiften, die später die Grundlage für »Das Evangelium eines Narren in Christo« bildeten. Ich bin überzeugt, das wichtigste Ergebnis meiner postgraduate studies im Lager war nicht eine konkrete Antwort auf mein Dilemma. Es war die Erkenntnis des Problems und der Versuch einer gedanklichen Bearbeitung. Eine wirkliche Lösung gab es für mich nicht und sie wird mir immer fehlen, weil es eine zu große Distanz zum einen oder anderen Pol gibt. Genau in dieser Spannung zwischen den beiden Haken liegt aber die natürliche Eigenart des Lebens der Menschen. Mein persönlicher Lebensweg erscheint wie eine durch viel Leiden gebrochene Linie in einem himmlischen Koordinatensystem. Ein ebenso wichtiges Problem war für mich die Spannung zwischen einer lobenswerten Treue zur eigenen Überzeugung (wofür man dich dann hinterlistig bestrafte) und dem Recht eines jeden Menschen, seine Überzeugung auch zu wechseln, wenn sie nicht mehr dem eigenen Gewissen entspricht. Dieses Problem betraf mich nicht in dem Sinne: »War es richtig, als ich ein Menschenrechtler wurde oder etwa doch nicht?« Es war vielmehr die Wahl zwischen einem kämpferischem Verhalten und den Vorstellungen, die dem Evangelium in der Verteidigung der Wahrheit entspricht. Dieses Problem erfuhr ich besonders, als ich in den 80er-Jahren das Buch »Quarantäne« las, eine der frühen Erzählungen von Oleksandr Hrinl, die er aus seiner jugendlichen Begeisterung über die Arbeit russischer Sozialrevolutionäre schrieb. Die Erzählung

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 409 war ganz einfach: Ein junger Sozialrevolutionär trifft die Entscheidung, einen Terrorakt auszuüben. Seine Freunde verstecken ihn aber zunächst in einer mehrwöchigen Quarantäne in einem Dorf, damit er aus dem Blickfeld der Polizei verschwindet. Die Idylle des Dorflebens, die herrliche Natur, die schlichte Schönheit einer jungen Frau verändern aber seine Lebensphilosophie grundlegend. Auf dem Hintergrund sonnenüberfluteter Flure sehen seine sozialrevolutionären und gewaltbereiten Ansichten plötzlich irgendwie unwirklich und sogar exotisch aus. Also sagt sich der Sozialrevolutionär von seiner Absicht los, einen Terrorakt durchzuführen, und verlässt die Organisation. Ich bin der Überzeugung, in dieser Erzählung liegt viel, was meine eigene Biografie betrifft. Es lässt sich leicht verstehen, dass mich in jener Zeit vor allem das ewige moralische Problem interessierte: Was heißt es, seine bisherige Überzeugung aufzugeben, wenn sie nicht mehr der eigenen entspricht? Ist es dann ein Akt des Verrates, oder ist es ein ethisch durchaus berechtigter Schritt, von meinem Gewissen diktiert? Für mich gibt es sicher keinen Vertrag ganz in Übereinstimmung mit den eigenen Ansichten zu handeln, wenn es nicht mehr dem eigenen Gewissen entspricht. Ich überging damals aber auch viele politische Häftlinge, als ich ihnen empfahl, zuerst die erwähnte Erzählung zu lesen, bevor sie mir eine Antwort auf meine Frage gaben. Die Mehrheit der Befragten zog für sich die Folgerung, dass der Held der Geschichte tatsächlich einen Verrat begangen hatte. Nur wenige dachten noch weiter und erforschten auch die Möglichkeit, eine Veränderung der eigenen Überzeugungen zu rechtfertigen – doch nur unter der Voraussetzung, dass durch diese Veränderung kein unmittelbarer Schaden an seinen Freunden entsteht. Auch ich halte das grundsätzlich für eine akzeptable Lösung des Dilemmas. Heute schleicht sich aber dennoch ein gewisser Zweifel in mein Gewissen, ob es dafür überhaupt eine eindeutige und widerspruchsfreie Lösung geben könnte. Eine weitere große Aufgabe in meinem Lagerleben war das Thema der natürlichen Einheit der Welt. In meinem Archiv befinden sich mehrere Hefte mit Auszügen aus populärwissenschaftlichen Zeitschriften und Büchern. Mein Bewusstsein war nach

410 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT meinen Offenbarungen in der Zelle im Untersuchungsgefängnis in Kyjiw völlig durchdrungen von der Einsicht, dass kein unüberwindbarer Abgrund zwischen der sogenannten »physischen Welt« und »der Welt des Geistes« besteht. Das Resultat für mich war, dass nur dann die besonderen Eigenschaften dieser Phänomene erkannt werden können, wenn diese Phänomene auch in der Sphäre der eigenen Existenz erforscht worden sind, was bedeutet, dass wir genau das tun, was die positivistische Wissenschaft ablehnt. Um solche Vergleiche zu veranschaulichen, habe ich damals mein Gehirn trainiert. Hier als Beispiel ein Zitat aus einem Brief an die Verwandten: 21. Juni 1981: Vor einiger Zeit las ich eine Kritik zu Untersuchungen amerikanischer Wissenschaftler, die Menschen befragten, die einen klinischen Tod durchlebt hatten. Die Kritik verspotteten besonders die Aussagen derjenigen Menschen, die von einem dunklen Tunnel erzählten, in die Menschengestalten stürzten, die sich alle aus dem bisherigen Leben kannten. Der Sterbende näherte sich dem Ausgang des Tunnels und es kam ihm Licht entgegen. In der Zeitschrift ›Jugend und Technik‹ erzählte jemand, der über die Gabe verfügt, blitzartig arithmetische Berechnungen durchzuführen, die er nie im buchstäblichen Sinn berechnet hatte. Er sieht sich angeblich in einem langen Tunnel, auf dessen einer Seite Ziffern blinken. Er geht durch den Tunnel zum Ausgang und zum Licht hin, wo er das fertige Resultat der Zahlen sieht, und es lesen kann. Die Ähnlichkeit der beiden Prozesse beeindruckte mich sehr, sodass ich nicht anders konnte als die vielleicht nicht wissenschaftliche, aber poetische Folgerung zu schließen: Im Moment des Todes, wenn der Mensch das Ende des Tunnels erreicht, sieht er das Ergebnis seiner irdischen Taten, die guten und die bösen.

Die Mehrheit der gefundenen Analogien liegt bis heute in der Schublade meines Bewusstseins verborgen. Bestimmte Dinge erlauben es mir noch nicht, sie vorzeitig in die Welt einer beweiskräftigen Logik treten zu lassen, da sie sonst wohl von der Spitze einer misstrauisch-kritischen Vernunft zerfleischt werden. Oder anders ausgedrückt: Jeder Gedanke hat auch eine embryonale Phase, die ausgetragen werden muss. Einen solchen Zustand einer Schwangerschaft erlebte ich im Lager einmal sehr deutlich: 24. Juli 1983: In letzter Zeit habe ich meine Gefühle fast verloren und lasse mich in der Zone ziellos gehen, wohin mich unser kleines Bächlein hinträgt, was mir immer wieder geschieht. Aus früheren Fällen weiß ich, dass in

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 411 diesen Zeiten entstehen kann, was gefährlich wäre. Allmählich wird mir dann aber immer wieder eine Klarheit geschenkt.

Obwohl meine Offenbarungen ein unsichtbarer Teil meines eigenen Universums waren, entstanden daraus gewisse Analogien, die ich mir eigentlich verboten hatte, da sie eine große Kraft auf mich ausübten. Mein inneres Ich spricht nach wie vor mit der Stimme der damaligen Vision, die mich damals in der Zelle des Untersuchungsgefängnisses in Kyjiw grundlegend verwandelte. Meine inneren Beweggründe fanden zu meinem Glück auch von außen eine gewisse akzeptable irdische Begründung. Meine neue Weltbetrachtung, die aus diesen Visionen entstand, hatte einen deutlich eschatologischen Charakter: In mir war einfach alles auf die Zukunft in jenem undefinierbaren Moment X ausgerichtet, wenn sich alle himmelschreienden Dissonanzen der heutigen Zeit in der uns verheißenen Harmonie der Ewigkeit auflösen. Das Lager mit all seinem Leid und den Schmerzen verstärkte deshalb nur meine eschatologische Erwartung. Es machte diese psychologisch erwünscht und für mich sogar erlösend. Rein weltanschauliche Folgen meiner religiösen Offenbarungen überlagerten sich mit einem menschlich verständlichen Willensakt. Meine Weltwahrnehmung war in der Lagerkorrespondenz buchstäblich mit unzähligen Körnern dieser Wahrheit übersät: An Mutter, 22. Oktober 1978: Vielleicht kennst du diese schmerzliche Einsamkeit, wenn du in jedem Winkel deines Lebens über Leere stolperst, und kennst auch diese Einsamkeit eines Vogels ohne Winde. Aber es ist für dich keine Einsamkeit, die durch deine Gefühle begrenzt sind, dann wären amtliche Gesetze dieser Welt auf ein einziges Gefühl konzentriert, wie die Einsamkeit eines Leoparden auf dem Gipfel des Kilimandscharo. Genau im richtigen Moment fand ich den mir zuvor noch bekannten Ausspruch von Rilke, ›das Leben wäre eine einzige große Schwangerschaft‹. Mit solchen Worten würde ich auch unsere allgemein menschliche Hoffnung bezeichnen. Es ist die Erwartung des ersten Schreis des Neugeborenen an der Mutterbrust und damit auch der Beginn eines wunderbaren Lebens. An Nadijka, 23. April 1980: Noch vor einigen Jahren hätte ich sogar deine Worte › Ich erhebe meine Hände zum fernen Himmel‹ nicht beachtet. Aber nun bemerkte ich sie und erschrak auch etwas. Es war, als ob ich die tückische Kraft der vielen Kilometer fühlte, die uns trennen. Für mich aber ist der Himmel nicht fern. Nicht allen unter uns ist es geschenkt, zu ihm zu gelangen, aber allen in sein geheimnisvolles Wesen hineinzuschauen (wer ein Auge hat, der sehe). Wo aber ist der Himmel gegeben, wenn nicht vor unseren eigenen

412 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Füßen? Wäre da nur ein sündiger Gedanke, ich könnte mich doch nicht von der Überzeugung trennen, dass die Blindheit darauf eine noch größere Sünde wäre. 17. Mai 1981: Wie sehr wandelte sich doch die Welt seit der Zeit, als die Menschheit ihren Glauben an die Vorstellung der unsterblichen Seele verlor. Den Tod, der früher als eine Erlösung und als eine Erleichterung empfunden wurde, sieht man heute als die schrecklichste Tragödie an. Deshalb versucht man seine Seele für einen kurzen Moment mit dem zu stillen, was eigentlich seines Sinns beraubt ist. 21. Juni 1982: Gegenwärtig lese ich wenig, höre aber dafür mehr Radio, wo es immer etwas zu hören gibt. Immer öfter nehme ich die Welt wie eine Frau in den Wehen wahr.

Alle, die auch in Erwartung sind, müssen sich aber nicht wundern, wenn die Ungeduld sie täuschen will, weshalb in meiner Lagerkorrespondenz immer wieder die Figur des Sisyphus auftauchte. Die Zeit im Lager war eine Zeit der Prüfung und damit der Bestätigung einer neuen Lebensmaxime und von neuen kategorischen Imperativen. Besonders viele davon finden sich in ständigem Gespräch mit meiner Schwester Nadijka, die bedingt durch ihre schreckliche Krankheit (Skoliose) einen doppelten Preis für das bezahlen musste, was andere Frauen einfach als selbstverständlich empfinden. Deshalb war es eine wichtige Aufgabe für mich, sie zu beruhigen und ihr zu helfen, mit ihren Herausforderungen zurechtzukommen. Ich bin mir aber bewusst, dass einige meiner Auszüge aus dieser Auseinandersetzung, wenn sie aus dem Kontext gelöst sind, wie eine völlig unangemessene Moralpredigt wirken. Wie ich unterdessen weiß, war das nicht ganz zu vermeiden: 25. Februar 1982: Zum Schluss […] führe ich dir noch einen Gedanken aus der indischen Lebensweisheit an. Aus welchem Buch es genau ist, kann ich dir nicht schreiben. Jeder ordentliche Slawe wird sich an der genaueren Bezeichnung die Zunge zerschneiden: irgendein … bchita. Der Gedanke ist sehr schön und kann uns in dieser fatalen Welt wirklich beruhigen. ›Wenn ein Mensch dir unrecht tut, ärgere dich nicht darüber. Denke einfach daran, dass du ihm in deiner vorherigen Inkarnation unrecht angetan hast.‹ Dieses Rezept ist allgemein gültig, obwohl ich manchmal erschrecke, welcher Schuft ich gerade war … 22. Mai 1983. In allem muss es ein Gleichgewicht geben: Wenn dir das Schicksal das eine schenkt, muss es bei einem anderen geizig sein. Uns bleibt nur, das uns Geschenkte dankbar und ohne Widerstand anzunehmen. Nur auf diese Weise findest du an deinem eigenen Schicksal auch die notwendige Freude. Man muss wohl dem Volksmärchen glauben und sein Glück

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 413 nicht in prunkvoll gekleideten Prinzessinnen mit rosaroten Wangen sehen, sondern im armen, unansehnlichen Aschenbrödel. […] Ich möchte nur, mein Schwesterchen, dass die Basis deines Gleichgewichtes nicht deine Kränkung, sondern deine Weisheit ist. Nur sie gibt dir die nötige Ruhe. Die Kränkung ist für uns wie ein Vampir, der aus einem Menschen die letzte Kraft saugt, weshalb dir diese Gelassenheit manchmal teuer zu stehen kommt. […] Manchmal ist der Mensch wie ein winziger Wurm, der auf der Erde herumkriecht. Er muss sich aber als minderwertig empfinden, da er in sich ein ganzes Universum trägt, das einfach nur großartig in seiner Einmaligkeit ist. Wie groß dein Gefühl der Hilflosigkeit auch sein mag, Linas Einsicht bleibt für dich immer aktuell: Das Einzige, was wirklich von uns abhängt, ist, in der Gegenwart zu leben, wie es sich gebührt. Um heute unser Schicksal zu verstehen, sollten wir im Unterschied zu vorangegangenen Jahrhunderten zu einer aktiven Entschlüsselung der eigenen Bestimmung seines Sinnes und seines Urteils der eigenen Vorsehung finden, oder mit Worten von Hindus ausgedrückt: seines Karmas. […] Nun auch etwas zur Trostlosigkeit, meine Nadijetschko. Sie ist eigentlich schon eine reine Ableitung unseres Willens, weil sie nicht durch die Umstände deines Lebens bestimmt ist, sondern nur vom Reichtum deiner Seele. Sie ist aber auch großzügig zu dir. Sogar ein völlig unansehnliches grünes Blättchen kann bei dir eine ganze Menge warmer Freude hervorrufen. […] Genug: Diese Worte verwandeln sich, wenn sie nicht vom Zauber der lebendigen Sprache umhüllt sind, aber bloß in eine trockene Moral.

Die wahre Quintessenz meines weltanschaulichen Gesprächs mit Nadijka war mein elftes Gebot, dass ich mir im Lager vorgenommen hatte: »Wünsche dir nie das Schicksal eines anderen.« Mit diesen Worten wollte ich mein Schwesterchen mit ihrer unheilbaren Krankheit und der damit verbundenen erbarmungslosen Herausforderung versöhnen, die ihr Leben traumatisierte. Das Urheberrecht für dieses Gebot habe ich nicht, aber es ist eigentlich nichts anderes als der ständige Refrain der bekannten Aufforderung: »Versuche in deinem Leben nie, dein Kreuz, das Gott dir gegeben hat, mit einem anderen auszutauschen, da es das Beste für dich ist.« Von dieser Weisheit musste ich mich im Lager öfters selbst überzeugen Blanker Seelennerv In meinem Lagerleben gab es viele Widersprüche. Einer davon war besonders auffällig: Einerseits bekam ich durch die ständigen und zumeist unerwarteten Schicksalschläge ein dickes Fell, eine Art

414 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT psychologischer Schirm, womit ich auf neue Überraschungen und Leiden gefasst war. Wie ich es schon erwähnte, bestätigten mir meine Freunde, dass in meinen Augen eine gewisse Ruhe und Gelassenheit zu sehen waren. Diesen Zustand meiner Andersartigkeit bemerkten auch viele andere; typisch in diesem Sinn ist ein Gedicht von Ihor Guberman: Wer Gefängnisluft gerochen hat, der ist erfüllt von einem unerklärlichen Sehnen, ein Leben lang sind wir einfach anders, nicht besser und auch nicht schlechter, aber wirklich andere.

Andererseits zeigte meine Seele oft auch ihren blanken Nerv. Dabei wurde sie besonders empfänglich für die Musik, das Wort und die Schönheit. Das alles überschwemmte mich buchstäblich immer wieder mit einer Empfindung der inneren Erschütterung und der Ehrfurcht – und das musste sich immer wieder irgendwie in mir vereinen: 14. Oktober 1982: Gegenwärtig kann ich meine Verfassung nicht wirklich erklären. Einmal erhebe ich mich voller Begeistung auf höchsten Felsen und es kommen mir vor lauter Glück die Tränen, sodass ich mich auf den Boden werfen muss und mich nur mit Müh und Not wieder sammeln kann. Dann kommt für mich wieder eine Wegstrecke als völlig kraftloser Sisyphus, der sich irgendwie wieder zu erheben versucht. In diesen Zeiten brauche ich von irgendwo oben einmal mehr diese beiden mit mir in besonderer Weise verbundenen Mächte und noch weiter oben meinen Schöpfer. Es sind jene Mächte, die mich zu lieben und zu vergeben lehrten, diese erhört schwierige Arbeit im Leben eines jedes Menschen. 11. Dezember 1983: Meine Stimmung ist im großen Ganzen gut, aber nicht immer dieselbe: Manchmal kommt es mir vor, als wäre diese Welt einfach unbarmherzig. Aber dann muss ich doch wieder lachen und strahle sogar vor lauter Glück, das es für mich offenbar nicht mehr gegeben hatte. 25. Dezember 1978: Zur Musik aus dem italienischen Film ›Wir waren so verliebt‹. Bereits die ersten Klänge rissen mich völlig aus meiner Umgebung heraus: Niemals dachte ich, dass der Wechsel von Dur und Moll so schonungslos sein kann. Unerträglich lang erscheinen mir die traurigen Klänge, weil für mich der ganze Leib nur noch aus einem blanken Nerv besteht. Dabei zieht sich alles in mir zusammen und ich kann gar nicht mehr die helle Leinwand sehen, auf der sich mir an den beiden Ecken aus der Dunkelheit eure Hände entgegenstrecken … Diese Musik zu hören, macht mir fast etwas Angst und ich glaube, dass ich nicht einmal einige Minuten in einer Kathedrale aushalten könnte, in der gerade eine Orgel spielt.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 415 20. Mai 1979: Kürzlich traute ich fast meinen Ohren nicht – was da doch alles gerade bei mir war! Ich stand wie angekettet da und blätterte in einem Berg voller Erinnerungen. 7. Dezember 1981: Fast unbemerkt kam für mich diese Zeit, in der ich mich vom Jahr 1981 verabschieden musste. Der Hahn war deutlich hörbar heiser geworden und konnte mir nichts mehr Neues krähen, weil ich nicht mit einem Wiedersehen mit euch rechnen konnte. Nun, wir werden es sehen, was das neue Jahr 1982, das Jahr des Hundes, uns zu bellen hat. Am Ende des gegenwärtigen Jahres habe ich einfach nur den Wunsch (er ist sicher nicht der einzige, aber gerade besonders heftig spürbar), in einer Kirche zu sitzen oder in einem Saal mit einer Orgel, was fast dasselbe ist, und mir die wunderbare Orgelmusik von Bach anzuhören. Dann wünsche ich mir, dass dieser gigantische Strom der Töne mich völlig aufsaugt, ohne irgendeine Spur der menschlichen Schwäche an mir zu hinterlassen. Ich wünsche mir sehnlich, dass ich mich mindestens in den noch armseligen dritten Himmel erheben und dortbleiben könnte. Oder habe ich gar kein Recht, es mir zu wünschen, auch wenn dieser Wunsch nicht der letzte von mir sein würde? 8. März 1984: An dieser Stelle unterbrach ich mein Geschreibsel, um mich etwas ans Akkordeon zu setzen und auf Wunsch meiner Zuhörer zu singen. Offenbar war meine gute Laune auch aus meiner Stimme deutlich zu hören, sodass dieses verzaubernde Zuhören schlussendlich zwei Stunden dauerte, und alle beschlossen danach einstimmig, ich wäre heute gut in Form gewesen. Dieses Geheimnis lässt sich aber leicht entschlüsseln: Ich sang die Lieblingslieder meines Schwesterchens (zu ihrem Geburtstag), und um mein Mütterchen auch nicht zu vergessen, sang ich noch ›Wäre ich ein junger Kuckuck‹. In dieser Zeit konnte ich dabei in meinen Ohren eure Stimmen hören …

Wie sich in dieser Erinnerung an das Vermächtnis des Dichters Taras Schewtschenkos zeigt, war ich im Lager auf eine besondere Weise mit Schewtschenko verbunden. In diesen zehn Jahren in Gefängnissen und Lagern begleitete er mich als mein höchst eigener »Kobsar«. Immer dann, wenn ich die Worte in der Zone gelesen hatte, löste sich der Stacheldraht auf, Entfernungen und sogar die Zeit verschwanden. Bei mir gibt es einfach immer wieder einen Kurzschluss mit der Seele des Dichters. Und jener Unschuldige, der erniedrigt wurde, beginnt zu begreifen, welche Glückseligkeit hinter diesem scheinbaren Paradox steht: »Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden« (Matthäus 5,10). Im Lager sprach nicht nur die bürgerliche Lyrik des Dichters in mein Herz, obwohl sie es selbstverständlich weiter tat. Schon seit meiner Jugend begleitete mich am meisten Schewtschenkos

416 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT »Kaukasus«, den ich auswendig kann. Im Lager verstummte aber immer wieder mein Geist bei der Strophe: Der Tag geht um, die Nacht geht um. Du langst ins Dunkel wie ein Blinder, Du fragst der Wahrheit und des Lichters Künder warum er immer noch so stumm.

Schewtschenko begleitete mich auch in einer besonderen Weise in der Zeit meiner Schwermut. Noch heute muss ich lächeln, wenn ich von meinem Einklang mit den Gefühlen dieses Dichters lese: 26. September 1979: Ich will gar nicht versuchen, mit einem einzigen Satz meine Stimmung zu beschreiben. Es kommen mir oft die Worte in den Sinn, die ich aus einem Brief von Schewtschenko an Rjepnina (v. 14. November 1849, Orenburg) abschreiben konnte: ›Ja, Warwara Nikolajewna, ich wundere mich selbst auch über meine Verwandlung. Gegenwärtig bin ich jetzt weder traurig noch fröhlich, aber dennoch ist ein Friede und eine Ruhe in mir wie die wortlose Stille eines Fisches.‹162

Die religiösen Zustände einer Begeisterung, die meine Haft manchmal begleiteten, mussten in mir wohl auch die Gefühle hervorrufen, die einen Kurzschluss mit Iwan Franko und seinem Moses verursachte: Scheinbar verloren auf dem Planeten, flieg ich in immer geheimnisvollere Abgründe. Doch auch da verspüre ich Immer noch Gottes wunderbare Hände.

Doch mir wurde nicht nur jener Franko zum Trost, sondern auch der andere aus der Sammlung »Welke Blätter«, und so, wie ich es nie verspürte: Oh, ich vergaß den Spuckezaun, Es ist die Grenze zwischen uns

162 Man muss festhalten, daß die Zustände der völligen Gleichgültigkeit und sogar Abgelöschtheit charakteristisch für die Häftlinge waren. Josef Mendelewytsch schreibt dazu wie folgt: »Hätte mich jemand gefragt, was die gefährlichste Krankheit im Gefängnis wäre, würde ich ihm antworten: die völlige Gleichgültigkeit. Kommt es vom Mangel an Essen? Vom Mangel an Verkehr mit der Außenwelt? Wer wüsste es! Mit jedem Tag interessiert mich immer weniger, was jenseits der Mauer geschieht, in der übrigen Welt …«

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 417 Und du, meine Rosenblüte, Ich habe dich geliebt, so gut ich konnte. 10. Oktober 1979: Nun entdecke ich auch den Menschen Franko und höre von dem Aufschlag im Kopfsteinpflaster von Lwiw. Dann danke ich meinen Geburtsumständen, die nicht verschiedener sein könnten. Durch meine Mutter bin ich das Enkelkind eines Priesters und durch meinen Vater ebenso ein Bauernsohn. Diese gelten wohl kaum für O. Roschkewytsch, aber ich wende mich trotzdem damit an ihn.

Alle zitierten Auszüge sind die Frucht eines scheinbar so einsamen Aufenthaltes im Kerker (PKT), wo ich dem Lesen unterschiedlichster Literatur verfiel und dabei dieses wunderschöne Gefühl erlebte, in dieser Welt gäbe es eigentlich nur mich selbst, diese Welt vor meinen Füßen und über allem Gott. Aus dieser Zeit kommt auch die folgende Bemerkung: 9. Juli 1979: Ich las gerade den ›Steppenwolf‹ von Hermann Hesse aus ›Universum‹ (Hefte 4 und 5, 1977). Leider fertig! Ich empfinde in mir ein unaussprechliches Gefühl einer gewissen Erdrückung durch den kolossalen Geist, den Hesse in sich trägt. Erstaunlich, wie sich gerade das Spektrum meiner literarischen Sympathien zusammenfügt: Bisher war für mich die englische oder englischsprachigen Literatur die Krönung, aber nun führte mich die deutsche Literatur auf die allerhöchsten geistigen Gipfel: zunächst zu Rilke, dann zu Hesse.

Noch zu Beginn meines Aufenthaltes in der Zone eröffnete der Leningrader Mychajlo Kasatschkow mir die Schönheit der Poesie von Maryna Zwetajewa und Rainer Maria Rilke. Mychajlo war überhaupt ein glänzender Intellektueller, hervorragend bewandert in Literatur und Kunst. Er infiszierte mich wahrlich mit der Genialität dieser Autoren. Eine Zeit lang lebte ich völlig von der Ästhetik ihres Dichterwortes. Auf die Poesie von Lina Kostenko kam ich, als mir der Sammelband »Unwiederholbarkeit« begegnete. Mein damaliges Verhältnis zu ihr lässt sich nicht so einfach fassen. Es war die Periode meines radikalen Kampfes und entsprechend auch meiner größten Gefahr der Verfolgung. Meine Vorliebe zu Lina war, wie es sich in den weiter aufgeführten Zitaten zeigt, vorwiegend »ideologischen Charakters«. Meine Einschätzung der Poesie von Lina stand aber in einem heftigen Widerspruch zu derjenigen, die meine Mutter und

418 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Nadijka hatten. Es war wohl der einzige Moment, in dem sich eine gewisse seelische Dissonanz unter uns zeigte. Die folgenden Überlegungen treffen auf mich und nicht so sehr auf Lina Kostenko zu. Für mich hat sich diese Sache bereits erledigt, da ich inzwischen anders darüber denke: 15. November 1981: Über meinen endgültigen Eindruck von Lina Kostenko zu schreiben, fällt mir unendlich schwer. Eines kann ich aber doch sagen: Sie ist tatsächlich eine hervorragende Dichterin, wohl die erste Autorin, die die Ukraine hatte, nur ohne Lesjas besondere Klasse! Hier noch etwas zu unserer verschiedenen Wahrnehmung, die zwischen euch und mir besteht. Die Wahrheit wäre wohl, dass ihr beide diese Gedichte so lest, als würden sie von mir sprechen. Für euch gibt es dieses Dreieck ›ihr beide, Lina und ich‹. Für mich aber: ›Lina, die Ukraine und ich‹. Als meine Entgeisterung verstummte, las ich erneut einige Gedichte mit den Gefühlen eurer Seele und konnte euch plötzlich verstehen. Regt euch bitte nicht auf, wenn euch meine Schroffheit schmerzte: Und vergesst auch nicht den Unterschied in der männlichen und weiblichen Psychologie. Ich konnte solche für mich weiblichen Gedichte von Lina nicht so empfinden, wie ihr beiden, Mutter und Nadijka. Die ganze Schönheit und Einmaligkeit in der Poesie von Lina liegen wohl in ihrer Offenheit und Weiblichkeit. Ich verlor aber einfach den Kopf angesichts der Dichtung ›Glückspilz‹; obwohl es ein Meisterwerk ist. Wunderschöne Gedichte sind auch: ›Noch gestern war ich turmhoch‹, ›Wolchowsky‹, ›Brunnen von Tschyhyryn‹. Dieses Lied mit seinen vielen Variationen ist für mich aber inakzeptabel. Ich verstehe Lina nach dem Motto: ›Hat Galileo Galilei doch widerrufen?‹ Auch heute bin ich ganz von diesen Gedichten begeistert, als wären sie vom Himmel gefallen (außer denen, die ich schon zitierte): Das Vertrauen ist wie ein erschrockenes Tier, es flüchtet. Es liebt die stille Reife der Distanzen … Dieser Schatten ist zwar traurig, und wie Schatten erscheinen uns die Nonnen … Der Herbst geht vorbei, nur noch Lächeln, schon erdfahl. Glasig die Augen des Himmels und trübe das Wasser geworden. Ein dürres Gespräch der Flamme mit einem Blatt Wie schwierig ein Antaios auf Asphalt zu sein … Verwirrter Akteur, der plötzlich die Rolle vergisst, du wirfst uns das Stück zu, aber spieltest für dich … In deinem Leibe wuchs schon die Nähe des Todes, Vorgesangliche Sehnsucht in meiner Seele.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 419 Das alles ist auf einem höchsten dichterischen Niveau. Gebe unser Gott Lina Gesundheit und mir die Freude an der Lektüre ihrer Poesie. Was will ich denn eigentlich? Es ist wohl, dass ich sie weniger bemitleide, denn die erste Dichterin der Ukraine hat darauf kein Recht.

Das Lied des Herzens Dieser kleine Abschnitt meines Buches soll als Hymne auf meine beiden mir verwandtschaftlich am nahestehendsten Personen erklingen: meine Mutter und meine Schwester Nadijka. Als ich diese Zeile schrieb, waren sie schon längst im Himmel und sie können dieses Buch nicht lesen. Gott aber wird mit ihnen in seinem himmlischen Lebensbuch blättern. Ich möchte, dass meine Leser wissen: Diese beiden Personen waren wirklich die Säulen meines Universums, wie ich es schon in der Widmung zum Buch »Die Ukrainische Idee und das Christentum« schrieb. Dies traf nicht nur auf meine Mutter zu, die mich auf diese Welt Gottes brachte, sondern ebenso auf meine Schwester als meine erste Lehrerin, die den Grund für meine Weltanschauung legte. Sie alle sind Teile des untrennlichen »Kleeblattes« meiner Familie. Ohne sie wäre meine Existenz undenkbar. »Mich gibt es nicht in der Einzahl«, so schrieb einmal Atena Paschko. »Ich für mich existiere nur in dieser dreieinigen Vielfalt«, so sagte ich es in jener stürmischen Zeit meines Lebens … ansonsten werden die Sterne erlöschen und die Welt wird erkalten. Ein junger Mann versucht in seiner frühen Jugendzeit gewöhnlich, sich von seinem familiären Magnet loszureißen und schätzt ihn nicht. Dieser Magnet wurde mir in vollem Maß erst im Lager bewusst, als er mir brutal geraubt wurde. Um dies zu illustrieren, sind keine weiteren einleitenden Worte mehr nötig: Ich erteile nun einfach dem Häftling selbst das Wort. Und alle, die diese Sentimentalitäten unangebracht finden, können einfach zum nächsten Abschnitt weitergehen: 25. Dezember 1978: Rügt mich nicht für meine Sentimentalität. Es ist meine alte Leidenschaft, unterdrückt durch viele Erlebnisse, verspottet durch meine neueste Skepsis. Ich bemerkte nicht, dass wir zusammen mit der Sentimentalität auch die Güte abstoßen. Gütig zu sein ist ebenfalls nicht modern. Wir suchen Worte, womit wir gewöhnliche Gedanken wie ›das Herz bricht vor Kummer‹ ausdrücken können. Und wir verbergen hinter einem

420 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Zaun modischer Ausdrücke das Gefühl selbst und sehen nicht, wie abgestumpft wir sind. Ich kenne nur zwei Familien, unsere und Atenas163, wo diese Sentimentalität nicht gefürchtet wird. Es ist wie bei einem menschenscheuen Kind, das keine Liebkosung erlebte, aber sich dann doch in wahrer Herzensgüte bergen konnte. 25. April 1979: Nadijetschko, glaubst du wirklich, dass wir mit den Jahren weniger romantisch und naiv sind? Im Gegenteil: Nun glaube ich, nichts kann sie uns austreiben, weder Menschen noch Geschehnisse, es sei denn, sie bringen uns auch bei, besser unsere Brandwunden zu verbergen. Für keine Schätze dieser Welt würde ich unseren klaren Blick auf die Menschen tauschen oder die Reinheit und Schönheit des Glaubens für rostige Reife und Stärke verkaufen. Das Resultat wäre bloß Gleichgültigkeit. Nach deinen Worten, die du oben genannt hast, schließe ich, dass wir Auserwählte des Schicksals sind. Es mag letztlich kommen, wie es mag: Wer weiß schon, was Glück ist? Jetzt möchte ich dich am liebsten küssen. Ich möchte zwar nicht so streng sein, um bedingungslos anzuerkennen, dass das Glück im Leiden liegt. Für mich liegt dieser Gedanke näher als die Quintessenz des Christentums. Ich habe oft diesen Gedanken in mir: Gäbe es kein Leiden, das uns schon bei den ersten Schritten im Leben begleitet, würden wir niemals die Tiefe unserer Liebe erreichen, sie wäre für uns etwas Unbekanntes. Deshalb bin ich bereit, die Hymne unseres Leidens zu singen. 22. Oktober 1980: Hast du, mein Schwesterlein, die von mir auf dem Weg zur Schule gestreuten Astern an deinem ersten Schultag gesehen? Vielleicht oder vielleicht auch nicht – die jungen Küken beschenkten dich gewiss mit viel edleren und prächtigeren Blumen. […] Es verschwindet bei mir nicht dieser den Schmerz lindernde Gedanke, dass es dem Tod nicht gelingt, uns alles zu nehmen. Es gelingt ihm aber nicht, uns das Wichtigste zu rauben: unsere Liebe. Dieses Stücklein Gottes lebt ewig nur und vereint die Seelen ewiglich. 26. Februar 1981: Welcher Tölpel gab dieser widerlichen Krankheit denn ein so zärtliches Wort: Allergie! Bei Gott! Früher hatten die Menschen mehr sprachlichen Geschmack und wenn eine Krankheit ›Swinka‹ [Schweinchen = Ziegenpeter] genannt wurde, so war sie auch schweinisch. Aber es gibt etwas viel Schlimmeres und das musste sich dazu noch mit einem schönen fremdländischen Aushängeschild an mein Schwesterlein haften. 21. Juni 1981: Als ich aber deine Zeilen las, wie unsere Mutter auf der Bank im Hof auf dich wartete, dachte ich, solche Szenen wären nur der Feder von Stendhal oder Balzac entwachsen. Unser moderner Stil gibt nur die Kontur und schlägt vor, selbst zu Ende zu denken und das Ende zu erleben. Wie denn sollen da aber Menschen zu Ende denken, wenn es keine solche Mutter gäbe, wenn es auch keine zweite Nadijetschko gäbe? Es leben so unter uns drei Dinosaurier aus der Welt der Naivität und der Sentimentalität … 7. Dezember 1981: Die letzten zwei Wochen sind etwas speziell gewesen – fast Tag für Tag habe ich Träume gehabt, in denen ihr beide vorkommt, häufiger Nadijka als Mutter. Leider waren es keine guten Träume. Das heißt, ich 163 Atena Paschko – Poetin, Frau von Wjatscheslaw Tschornowil.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 421 wache mit dem Gedanken an euch auf und versuche den ganzen Tag die Bildrätsel der Träume aufzulösen. Bevor der Zensor mit den Briefen kommt, bin ich schon fest überzeugt, dass eine auserwählte Unannehmlichkeit auf mich wartet. Und ich lege mich zum Schlaf mit dem Gedanken der unfassbaren Dummheit meiner Fantasie. Doch den Leuten kommt es so vor, als würde Marynowytsch den ganzen Tag über etwas sehr Gescheites nachdenken. 1. Februar 1983: Mutti, meine leibliche, lange habe ich nicht mehr so herzlich gelacht wie dann, als ich deinen Satz las: ›Nimm dich in Acht und werfe keinen flüchtigen Blick auf diese meine einzige und ewige Bitte.‹ Der ganze Sinn liegt darin, dass ich wirklich nur einen flüchtigen Blick darauf geworfen habe und mich wie einen Kater beim Mausen erwischte. Bravo, Mutti! Am gleichen Tag: Ich hoffe, dass auch unsere Mutter am 8. März wenigstens eine Blume bekommt. Möge es eine schöne und feine Blume sein, möge sie bescheiden in der Küche stehen und Mutters volle Hände heimlich beobachten. Sie wird auch im Fokus meiner Fernsehkamera sein.

Meine Inhaftierung dauerte sieben Jahre, zusammen mit der Verbannung waren es zehn Jahre. Ich wurde im Alter von 28 Jahren verhaftet und kehrte als 38-Jähriger in die Ukraine zurück. Erst im Jahr zuvor heirateten Ljuba Heina und ich, im letzten Jahr der Verbannung, als sie zu mir kam, um mit mir mein Leben in Kasachstan zu teilen; d. h., der längst schon erwachsene Mann lebte sechs Jahre allein. So musste sich dieses Thema natürlich auch seinen Weg in unseren Briefwechsel bahnen und so sind zu den folgenden Zitaten keine weiteren Kommentare mehr nötig: 11. August 1979: Wie ich mir dachte, euch beide beunruhigten meine Worte anlässlich des familiären Glücks. Verstehst du, Nadijetschko, das war kein Jammern. Nun einige Worte zu jenem Gedanken, mit denen ich den Weg durch die Finsternis erforschte. Ich würde nur eines wollen: dass ihr beide recht bekommt und ich jedes Urteil der Schwiegermutter des Schicksals völlig ruhig akzeptiere. Modest [Modest Menzinsky ist mein Verwandter] sagte einmal, ich hätte in einem früheren Jahrhundert geboren werden sollen. In dieser Zeit ist wohl auch meine Bereitschaft zur Entsagung entstanden. Sie ist für mich ganz frei von jenem negativen Inhalt, die ihr die Menschen des 20. Jahrhunderts beimessen oder beimessen zu müssen glauben. Dies ist mein einziger Zug, den ihr gewiss nicht verstanden hättet. Es liegt in mir etwas von einem ukrainischen Bauern und dessen Ruhe, verklärter Hoffnung und wohltuendem, festem Glauben, dass Gott nicht alles an einem Menschen erwählt, sondern nur einen Teil. Er beschenkt andere mit dem, was wir nicht haben, damit das Maß an Gut und Böse ausgeglichen bleibt, sich die Waage der Gerechtigkeit nicht neigt und wir auch diesen Glauben an die Gerechtigkeit Gottes haben wie die Menschen in der Vergangenheit.

422 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT 10. Dezember 1982: Als ich heute bereits mit dem Schreiben fertig war, kehrte ich sofort von euch in ein fünfzehnminütiges Konzert von Alla Pugatschowa und damit in die Welt jener Leidenschaften, in die ich gerne zurückkomme. Ich war aber zu diesem mir geschenkten Moment überhaupt nicht eingestellt und war deshalb noch ganz vom hypnotischen Flüstern meiner Mauern eingenommen, und plötzlich wollte ich in – ein Restaurant; in diese Atmosphäre, in der sich Blicke kreuzen und sich die Gefühle verdichten, indem durchaus nicht immer etwas Unanständiges sein muss. Anders gesagt: Heiteres Lachen, aber auch Sünde ist in mir. 23. August 1983: Meine Seele spaltete sich auf. Eine Hälfte ist so erhaben, dass sie diese Welt nicht mehr will. Die andere wälzt sich im sündigen Sumpf, versinkt bis zu den Ohren wie ein Ferkel im Dreck und lacht sogar laut darüber. Dann ergeben ein großes Plus und ein großes Minus als Resultat ein großes Nichts.

Wenn ich in meinen Lagerbriefen blättere, wundere ich mich selbst immer wieder, wie viele mit Humor geschrieben sind. Ich wiederhole deshalb: Es war nicht so, dass es mir oft fröhlich zumute war. Meine Adressaten waren nicht nur an meiner Nachricht interessiert, sondern ebenso, wie es mir gerade ging. Für sie war es fast, als könnten sie auch in meine Gefühle eintauchen. Da ich davon wusste, bemühte ich mich, in meine Briefe an die Verwandten möglichst viel Humor und Wärme hineinzulegen: April 1979: Der Kopf leuchtet schon von der Erkenntnis, die ich mir täglich aneigne, sodass mir bald meine Nächte voller Licht strahlen würden … 17. Dezember 1979: Was mich angeht, so bin ich gesund und die Knochen knacken noch nicht. Es sei denn morgens, wenn ich mich recke. Was die gegebene Zeit anbelangt, so ist meine Lieblingspose die streng waagerechte Körperhaltung einer Katze aus Haut und Knochen. […] Nun will ich dir, meine Mutter, ein Muster meines Lebens erzählen. Ich machte mich gerade daran, meine Socken zu stopfen. Nun, es ist verständlich, dass ich mir zuvor gelobte, dass das für mich einfach wäre, da ich doch noch als kleiner Junge die Strümpfe meiner Urgroßmutter stopfte. Ich war dann sehr unangenehm überrascht, als sie nicht so aussahen wie neue Socken, sondern eher so, wie wenn ein Tintenfisch mit seinen Armen das Loch verdeckte, als hätte er einen Finger hartnäckig in die Zehe seines Schöpfers gebohrt. Also lobe ich doch mein Lippchen! 7. August 1983: Noch im Stehen habe ich unter dem starken Eindruck einer Entdeckung zu schreiben begonnen. Meine Haare sind wieder etwas gewachsen. Wenn ich mich im Spiegel betrachte, sind die Schläfen schon reichlich mit grauem Haar durchwachsen. Doch das ist nur der Anfang. Noch wurde euer unreifes Früchtchen nicht silbern, aber der Anfang verspricht viel. Als Junge träumte ich einmal, ganz grauhaarig zu sein und damit vor den Mädchen zu prahlen. Nun denn: Ergraue ich, so ergraue ich eben. Mit

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 423 der Zeit beginnen dann auch die Mädchen, mir einen Platz im Autobus anzubieten.

Als ein separates Genre in meinem Briefwechsel an die Verwandten könnten die Postkarten und allgemein die Glückwünsche angesehen werden. Ich legte in sie meine ganze Seele, sie sollten wirklich die Hymne meiner Liebe sein: Postkarte an Mutter zu Weihnachten 1979: Möge dein Heiligabend still und majestätisch beginnen. Möge ein kleiner Koljadnyk zu Neujahr auch bei dir in aller Stille einziehen. Warte mit ihm auf die Geburt des Gottessohnes, denn nur mit unserer Freude und unserer Hingabe können wir seine Ankunft begrüßen. Die Liebe, das schönste Geschenk, das wir in seinen Stall bringen können, wirkt da Wunder, dass wir uns in der Trennung näher sind als beieinander und doch nicht gemeinsam. Ich küsse deine Hände, meine Allerliebste. Christus ist geboren. Postkarte an Mutter zum 8. März 1979: Möge dir die Fähigkeit geschenkt sein, die Sprache der Vögel zu verstehen, denn vielleicht zwitschert gerade jetzt dir ein Vogel meine stille Zärtlichkeit vor. Postkarte zu Ostern 1979: Ich möchte nicht nur die Freude meiner Mutter und den Glauben meiner Schwester auferwecken. Ich sehe mich immer noch als den kleinen Jungen während einer Kreuzprozession und denke nun, dass der Frieden der Menschen von der Erkenntnis kommt, dass das Leiden durch seine Auferstehung abgegolten ist. Ich wünsche euch diesen friedlichen Glauben und küsse euch dreifach heftig. Christus ist auferstanden! Zu Beginn des Schuljahres, 1. September 1979: Im Guten möchte man immer verharren können, sich darin auflösen und die Zeit anhalten. Nur das Böse ist es, das uns zerrt und uns in Stücke zerreißen will. Möge es an euch vorbeiziehen! Postkarte an Mutter zum 55. Geburtstag, 22. November 1979: Sei nicht über dein Schicksal betrübt, meine liebe Mutter. Die Samen deiner Güte und Liebe werden nicht auf dem endlosen Feld vom Winde weggeblasen. Sie werden durch unerwartete Umarmungen zu uns zurückkehren, werden sich durch dieses glückliche Feuer entzünden und uns beide wärmen. Wen Gott durch seine Liebe segnet, dessen Leben auf dieser Welt ist manchmal auch schwer: Das ist die bittere Wahrheit. Aber ich glaube fest, Mama, dir wurde beschieden, nicht auch noch den bitteren Kelch zu trinken. Noch spüre ich bei mir gut dein Gebet! Ich küsse dich herzlich. Neujahrswünsche vom 30. Dezember 1980: Ich wünsche dir, Nadijka, und unserer Mutti, dass ihr viele gute Worte hören könnt, die euch erwärmen und euch einfach guttun. Gegenwärtig ist ein gutes Wort so selten wie ein kostbarer Ring mit einem Edelstein, der in den Schmutz getreten wurde. Wie viel Schmutz klebt doch an ihm! Manchmal sieht man nichts Besonderes vor sich, aber auch die Welt des Leides beginnt schon mit nur einem Wort, wonach die Seele plötzlich anfängt, vom Glanz des Ringes mit dem Edelstein zu glitzern. Unsere Seele leuchtet von jedem leise gesprochenen Wort

424 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT der Liebe und du glaubst dann, dass die ganze Welt durch dieses eine Wort entstanden ist. 22. November 1981: Und ihr, meine Liebsten, tragt Sorge zu euch, bleibt gesund und glücklich, ansonsten erlöschen die Sterne und diese Welt wird kalt. 14. Oktober 1982: Möge dieser schwierige Brief euch nicht der Glaube, die Hoffnung und die Liebe verdunkeln, denn wie es keine unter ihnen geben kann ohne die anderen, bleibt jeder von uns auf dieser Welt nur deshalb, weil die beiden anderen vorhanden sind, die bedingungslos lieben. Postkarte an Mutter zum Geburtstag, 22. November 1982: Sing, meine Mutter, unter der schönen Begleitung des Harmoniums und möge dir dein Singen ein Schild vor Unglück und Leid sein. Singt, denn darin vereinen sich für mich dein Gebet und dein Wiegenlied. Sing und mir möge Gott geben, dich bis zum letzten Augenblick meines Lebens hören zu können. 5. April 1983: Wer von uns weiß – ist die Schwiegermutter das Schicksal der Frauen, oder umgekehrt die weise Mutter, die ihre Kinder nicht zu sehr verwöhnt? Egal, wie es ist, ich bin so dankbar, dass durch dich aus diesem armseligen galizischen Lehm zwei so wunderbare Gestalten entstanden sind. Natürlich bin ich deswegen auch dem geistigen Bildhauer dankbar, der in einem Augenblick der Liebe in uns beide diesen kleinen Funken seiner Seele einhauchte, eine gute und reine […]. Unsere schönsten Briefe stellen wir in unseren Gedanken zusammen, in unseren Wünschen und Gebeten. Zum Namenstag am 30. September 1983: Wenn sogar das Bäumlein vor dem Fenster durch seine gelb gewordenen Blätter den Glauben an die Zukunft verliert, dann glaubt, glaubt trotzdem! Wenn sogar die Vögel wegfliegen, und keine Hoffnung auf Wärme in der heimatlichen Gegend mehr ist, dann hofft, hofft trotzdem! Wenn der Winter die teuren mütterlichen und schwesterlichen Hände kühlt, liebt auch ihn, denn nur durch ihn wird der Frühling neu erweckt. Postkarte an Mutter zum Geburtstag. 22. November 1983: Je höher von oben, umso tiefer der Schnee, und umso schwerer ist es auch, sich auf den Füßen zu halten, doch wir sind dann auch näher zum Himmel. Wir alle leben in der Hoffnung, dass uns nicht das Schicksal von Sisyphus beschieden ist – doch wenn es uns dennoch beschieden sein sollte, so möge sein Wille geschehen.

Zu Beginn dieses Abschnittes standen die folgenden Worte aus einem meiner ersten Briefe: »Vor langer Zeit glaubte man, im Ural gäbe es eine Gegend, in der die glücklichsten Menschen auf der Erde in Güte und Liebe wohnen.« Zum Schluss noch ein wunderbares Zitat aus den Erinnerungen meines Lagerkollegen Semen Glusman: Wir waren im Grunde genommen nur wenige, doch wir erwiesen einander Liebe und standen einander bei. Da waren wir gemeinsam eine große Welt, vielfältig, interessant und selbstbewusst. Eine Welt mit Offenbarungen,

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 425 Unglücksfällen, gemeinsamen Zielen. Mit einer spezifischen Sehnsucht und ganz gewöhnlichen Freuden. Wir lebten. Unsere Welt war nicht einfach. Das Einleben dauerte Monate. Als du wieder herauskamst, warst du stark und frei und wie nie zuvor von einer Freiheit überzeugt, die früher noch nie war. Ukrainer, Esten, Juden, Armenier, Russen … ältere Menschen, junge Männer … Schriftsteller, Ingenieure, Bauern … wir waren eine Welt, wir waren frei!164

Aus diesem Grund nannte ich mein Buch »Das Universum hinter dem Stacheldraht« – wobei der Titel nicht nur die kleine Zone des Lagers, sondern zu einem gewissen Maß auch die große Zone umfasste, diese mit Stacheldraht umzäunte totalitäre UdSSR.

Das Tor für den Übergang von der Strafkaserne zur Zone. Rechts: meine Wohnkaserne

164 S.F. Glusman. Zeichnungen aus dem Gedächtnis, oder Erinnerungen eines Häftlings, S.15.

426 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT

r Lagerfriedhof in Tschusowoj

Ronald Reagan und George Bush empfangen Josef Mendelewytsch und Ida Nudel im Weißen Haus

Strafrechtlicher Isolator (Strafvollzugszelle)

Jewhen Swerstjuk

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 427

Arbeitsbereich

»Zapretka« (Sperrgebiet)

428 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT

»Parascha« in der Strafzelle

Maschine zum Zusammenbau von Vorrichtungen für Bügeleisen

Bei der Audienz mit Papst Johannes Paul II. während der Bei der Audienz mit Papst Johannes Paul II. während der Bischofssynode der katholischen Kirche. Vatikan, Herbst 2001

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 429

Oles Schewtschenko mit seiner Frau Lida und seiner Tochter im Exil in Kasachstan

Walerij Martschenko mit seiner Mutter im Exil in Kasachstan, 1979

Intermezzo 2: Die Etappe in die Verbannung Am 10. November 1982 war ich gerade im Karzer oder in der Kerkerzelle (PKT), als mir plötzlich aus dem Radio des diensthabenden

430 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Aufsehers endlose Melodien aus »Schwanensee« und andere traurige klassische Musik entgegenkamen. Es erwartete uns wohl eine wichtige Neuigkeit. Als dann der Sprecher mit einer Stimme voller Tragik den Tod Leonid Breschnews verkündete, löste diese Nachricht bei den meisten Gefangenen eine unsägliche Freude aus: Nun endlich war diese verhasste Epoche zu Ende. Nur allzu gut konnte ich verstehen, dass sich die Menschen freuen, wenn ein Tyrann stirbt. Ehrlich gesagt konnte ich mich sonst nicht am Tod eines Menschen erfreuen – egal, wer es auch sei. Aber auch ich teilte die Empfindung der anderen, dass nun endlich eine Epoche zu Ende ging … und etwas Neues beginnen konnte. Was aber würde es uns bringen? Natürlich war nun das Hauptthema unserer weltanschaulichen Diskussionen gesetzt. Noch heute bin ich beeindruckt, wie präzise meine Prophetie war, als ich einmal mit Hryhorij Isajew auf den Lagerpfad spazieren ging und ihm meine Einschätzung unserer politischen Hoffnung anvertraute: Wie viele Generalsekretäre nach Breschnew noch kommen müssen, kann ich dir leider auch nicht sagen. Ich meine aber, dass zuletzt einer kommt, der das kommunistische System endgültig zerstören wird, nachdem er zuvor vergeblich versucht hat, es zu erneuern.

Es folgten aber leider noch einige Jahre, bis schließlich Gorbatschow an die Macht kam. Das KGB warnte mich und andere unfolgsame Ukrainer immer wieder: »Glaubt ihr wirklich, dass ihr einmal in die Ukraine zurückkehren könnt? Sicher nicht bei eurem Verhalten!« Diese Drohung war ganz und gar keine Fantasie: Viele ukrainische Häftlinge bekamen eine zusätzliche Haftverlängerung und irrten weiterhin in den Lagern herum. Das KGB schlug ihnen ständig die einzige Alternative vor: Reue und Umkehr auf den »richtigen« Pfad. Diese Bemühungen wurden nach dem Jahreswechsel 1983/84 intensiviert, als bekannt wurde, dass eines der zehn Gründungsmitglieder der Ukrainischen Helsinki-Gruppe, Oles Berdnyk, eine Reue-Erklärung geschrieben hatte. In allen Lagern erschienen damals die KGBler oder operative Mitarbeiter mit dem Text dieser Reue-Erklärung und trugen sie den Ukrainern vor: »Seht doch! Tut das auch:

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 431 Hier habt ihr das Vorbild.« Die Attacken verstärkten sich, als Berdnyk durch den Beschluss des Präsidiums des Obersten Sowjets der USSR vom 14. März 1984 begnadigt wurde. Das zu erfahren war schmerzlich. War ihm diese Voraussetzung für eine Begnadigung in Wirklichkeit aufgezwungen worden, sodass er den vorgegebenen Text nur abschreiben musste? Oder war wirklich eine Art Wandlung in ihm vorgegangen? Später, bereits in der Verbannung, klärte sich manches … Im April 1984 ging meine Lagerfrist zu Ende. Bereits im Januar nistete sich eine gewisse Unruhe vor der Reise in mir ein, wie meine Briefe belegen: 22. Januar 1984: Innerlich bin ich bereit, soweit das drei Monate vor der Freilassung möglich ist. Nicht nur einmal wurden mir die unbeschreiblichen Tage bewusst, als neue Gedanken in meinem Gehirn zu leben begannen und meine Seele eine neue Welt entdeckte. Unterdessen ist das aber wieder weg. Mein nichtsnutziges ›Ich‹ beschränkte sich auf ein Minimum an seelischer Energie und ruhte einfach wie eine leblose Kugel. 4. Februar 1984: Ich bin in einer fantastischen Stimmung durch ›guten Tee und nettes Geschwätz‹ und völlig unerwartet begann ich von der Zukunft zu träumen. Es floss friedlich aus mir heraus. Ich stellte mir alles detailliert vor. Aber dann erlebte ich einen eigenartigen Schock … 19. Februar 1984: Aus irgendeinem Grund beklagten sich Menschen, dass die Zeit vor der Entlassung wie eine Schildkröte dahinkriechen würde. Für mich aber verging der Januar und nun auch der Februar wie im Flug … Liegt es vielleicht daran, dass jedem Menschen der Drang inne wohnt, etwas hinauszuzögern, wenn eine ungewisse Zukunft auf ihn zukommt? 8. März 1984: Unter meiner Nase sprießt wieder ein Bart. Die Vorschriften erlauben es mittlerweile, die Haare wachsen zu lassen. Wenn es keine Überraschungen mehr gibt, komme ich bärtig und zottig heraus.

Am 23. März 1984 wurde ich aus dem Lager 36 geholt. An den Moment des Abschieds von den übrigen Häftlingen erinnere ich mich nicht mehr. Vielleicht wurde ich von den Aufsehern so unauffällig aus der »Zone« gebracht, dass es für andere unbemerkt blieb. Der Lagerleiter Major Shurawkow kam zur Durchlassstelle und wir wechselten einige Worte. Er sprach vorsichtig, wählte seine Worte. Er wünschte mir eine gute Reise und ein Leben frei vor neuen Prüfungen. Das konnte prinzipiell nur im Geiste ideologischer »Bearbeitung« interpretiert werden. Dennoch meine ich heute noch, dass er auf seine Weise aufrichtig war. Er war bestimmt treu gegenüber

432 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT dem sowjetischen System. Der Kampf gegen die Macht war in seinem Koordinatensystem eine völlig sinnlose Vergeudung des Lebens. Als ich das letzte Mal und schon mit meinen Sachen den »Todesstreifen« verließ, geschah etwas Unvorstellbares: Ich fühlte mich plötzlich traurig und hatte Tränen in den Augen. Meine Freunde, mit denen ich lebte, sind hinter dem Stacheldraht zurückgeblieben – und vor mir lag nichts als Ungewissheit. Dieses Gefühl einer Trauer hatte ich nicht erwartet: Wie kann es denn möglich sein, dass jemand mit seiner Seele selbst an dem Ort hängt, der ihm so viele Qualen gebracht hatte? Später las ich von ähnlichen Empfindungen bei Semen Glusman: Die Hauptsache blieb – die Liebe. Zu den toten und den lebenden Freunden, die die Freiheit und das Leiden, das Brot und den faulen Fisch mit dir teilten. Entgegen allem hast du genau dort, wo du sieben lange Jahre mit Lügen und Hass gequält wurdest, einen Teil deiner Seele zurückgelassen.165

Für uns schien damals das gesamte Lager mit seinem System legitimierter Gewalt und Bosheit ewig zu dauern. Es wäre völlig utopisch gewesen, sich nur schon vorzustellen, dass eine Zeit kommt, in der ehemalige Häftlinge (wie etwa Wasyl Owsijenko und Jewhen Swerstjuk) hierher nach Kutschyno fahren, wo ein Museum des Permer »Memorial« steht. Im Unterschied zu meinen Brüdern bin ich aber nie dorthin gefahren.166 Ich empfand deshalb die Worte von Jewhen Swerstjuk, der 1998 auf Einladung des Permer »Memorial« dort war, mit einer besonderen Wehmut: Ich war beeindruckt: An der Stelle, wo meine Baracke war, wuchs Unkraut. Die sieben Reihen Stacheldraht waren wie eine Fata Morgana verschwunden. Der Stacheldraht war doch unantastbar! Alles im Karzer war verschwunden, wo ich doch jedes Fenster, jeden Ziegelstein und jedes Loch im Fußboden kannte. Ich bat meinen Freund Serhij Kowaljow, sich neben die 165 S.F. Glusman. Zeichnungen aus dem Gedächtnis, oder Erinnerungen eines Häftlings, S.16. 166 Eine gewisse Zeit kämpften die Aktivisten des Museums gegen den Druck von Seiten des Regimes Putins, konnten aber den Zweikampf mit der Macht nicht gewinnen: 2015 änderte das Museum die Exposition, die jetzt dem ideologisch richtigen Thema gewidmet ist: »Beitrag zum Sieg«. So wird vom Antlitz der Erde noch einer der sehr vielen Orte der Gulag’schen Sklaverei ausgelöscht, der sich bis heute halbwegs bewahrte.

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 433 Birke zu stellen, an der wir manchmal Tee getrunken hatten. Er stellte sich hin – und versank fast im Unkraut bis über den Kopf, sodass er gar nicht fotografiert werden konnte … Alles, was mir blieb, ist das, was ich im Traum vor mir sehe. Es ist alles noch unverändert da: die Baracke voll von Doppelstockpritschen. Die Treppe, auf der Major Fjodorow unhörbar vorbeiging und dann plötzlich auftauchte, um uns mit seinen kleinen Augen des Bestrafers zu fixieren. Die Birken, an die wir im Frühling mit einer Blechbüchse herangingen, um Saft abzuzapfen, was uns dann verboten wurde. Von allen durchtrainierten Wachleuten ist nur Kukuschkin geblieben, der sich, ohne dass das KGB ihn drängen musste, wie ein von den Spielern liegengelassener Ball zum Museum gesellte …167

Nun wurde ich zuerst im Krankenhaus des Lagers WS-389/35 im Dorf Wsechswjatsky in ein separates Zimmer zur Quarantäne gebracht, als Vorbereitung auf die Etappe. Ich erinnere mich nicht, wie ich erfuhr, dass Mykola Matusewytsch in demselben Gebäude im Krankenhaus festgehalten wurde. Es gelang uns mit einigen Schwierigkeiten, einige Worte zu wechseln, obwohl ich nicht groß reden wollte. Ich wollte nur mein »Bündel schnüren«, meine Emotionen verstehen und mich psychisch auf die Etappe vorbereiten. Als ich einmal auf dem Spazierganghof der »Zone« war, erblickte ich plötzlich jemanden an einem Fenster – und hörte gedämpft: »Ich bin Tychy.« Obwohl Oleksa Tychy und ich zu den zehn Gründungsmitgliedern der Ukrainischen Helsinki-Gruppe gehörten, kannte ich ihn nicht persönlich. Nun lernten wir uns kennen. Wir wechselten einige Worte, verstummten aber bald und sprachen nur mit den Augen miteinander weiter, damit keine Aufseher das unerwartete Glück unterbanden. Dieses Mal fiel mein Spaziergang kurz aus! Hier einige Auszüge aus meinen damaligen Briefen an die Verwandten über das Warten auf die Etappe: 29. März 1984: Ich bin nun, wie ihr an der Adresse seht, bereits in einer anderen Zone und warte nur noch auf die weitere Etappierung. Ich arbeite nicht mehr, esse und schlafe bloß noch. In meinem Kopf ist ein eigenartiger Mix: der Eindruck der Trennung (ja, ja, man kann sich sogar an das Lager gewöhnen), und ebenso die unklaren Hoffnungen im Blick auf die Zukunft. Das ganze Gemisch ist mit einer Apathie durchsetzt, sodass ich mir selbst zuwider bin. Das ist schon Lyrik, die ich vermeiden wollte. […] Ich erinnere 167 Jewhen Swerstjuk. Auf den Wellen der »Freiheit«, S.206f.

434 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT mich nur an einen Brief [Nr. 53] von meinem Schwesterlein. Er wurde mir genau dann ausgehändigt, als ich abfahren musste. Ich las ihn durch und stieg ins Auto, geborgen im warmen Pelz unserer Liebe. […] Den Bestimmungsort kenne ich noch nicht. Ihr müsst viel Geduld aufbringen und ganz ruhig (ich wiederhole: ganz ruhig) das Telegramm abwarten. 4. April 1984: Hier ist bereits ganz und gar der Frühling unterwegs. Der Schnee schmilzt, die Palmkätzchen treiben aus und der Wald, den ich beim Spaziergang in einem Abstand von zwanzig Metern sehe, rauscht aufgeregt und strebt mit jedem seiner Bäumchen hin zur Sonne. Ach, dieser Wald! Ich hörte seine weise Sprache ganze sieben Jahre nicht mehr!

Schließlich kam der Tag, an dem ich meinen letzten Lagerbrief versandte: 13. April 1984: Meine Liebsten! Ich bereite diesen Mini-Brief für den Augenblick vor, wenn ich losfahre: Dann setze ich das Datum ein und gebe ihn ab. Ich möchte es tun, damit ihr nicht gleich nach dem 23. April (d. h. dem offiziellen Tag der Entlassung) ein Telegramm erwartet. Ihr könnt euch dann am Brief orientieren, dass ich losgefahren bin. Man muss lange fahren. Falls es z. B. nach Magadan geht, bin ich bis zu zwei Monaten unterwegs. Bringt also Geduld auf. Ich denke, dass ihr keinen Brief erwartet habt. […] Um uns herum ist alles ruhig, ganz ruhig. Ich habe genug Reportagen über die Rückkehr zur Erde der Kosmonauten gehört und mir dabei gedacht, dass ich mich nun auch auf die Rückkehr zu einem unwirtlichen Planeten von einem schwierigen Flug vorbereite. Ich werde dann meinen Platz im ›Landeapparat‹ einnehmen – und die Überbeanspruchung bei der Landung irgendwo in einer dünn besiedelten Region erfahren. Genug für heute. Gott mit euch! Ich küsse euch.

Es war übrigens ein Fehlstart. Man brachte mich zum Zug – doch der nahm mich nicht mit. Ich kehrte wieder ins Krankenhaus zurück und fuhr dann erst am 15. April los. Ich wurde anfangs nach Perm gebracht, wo das Durchgangsgefängnis auf mich wartete. Die Eisentür öffnete sich – und siehe, da war wieder Tychy unter den drei Häftlingen! Wir umarmten uns – und nach fünf Minuten unterhielten wir uns bereits so, als ob wir uns von Kindheit an kannten. Oleksa hatte seinen Hungerstreik bereits beendet. Sein Magen konnte aber keine Nahrung mehr aufnehmen. Spätestens nach einer halben Stunde gab er alles zurück, was er nicht verdauen konnte. Sein Organismus war völlig ausgelaugt – sein Körper nur noch eine Qual. Als mir bewusst wurde, wer vor mir steht, wurde ich unruhig, weil meine Suche nach der Anwendung evangelischer Prinzipien

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 435 in meinem eigenen Leben weiter fortgeschritten war und ich mir dachte: »Er ist ein großer und kompromissloser Kämpfer, wie nimmt er mich denn wohl wahr? Und wie verhält er sich im Blick auf meinen seelischen Zustand?« Ich wollte nicht schwindeln. Ich erzählte ihm offenherzig von meinen Erkenntnissen und von Zweifeln. Ich sprach auch über die Bergpredigt Christi und verglich meinen Weg mit ihrer Botschaft. Ich habe aber keine Einzelheiten mehr über das dreitägige Gespräch im Gedächtnis. Ich erinnere mich nur noch an den Eindruck einer völligen Harmonie zur Sicht auf die Welt und in den Beziehungen zwischen den Menschen! Es stellte sich heraus, Oleksa Tychy war auch »auf der Welle« des Evangeliums. Er war ein Kämpfer – doch einer, der in gar keiner Weise nur um des Kampfes Willen kämpft und sich von seiner inneren Aggression leiten lässt. Ich war völlig beeindruckt: Vor mir lag ein fleischgewordener Geist, obwohl der Körper eigentlich nicht mehr da war. Da waren nur riesige Augen, aber in diesen Augen lag eine so erstaunliche Liebe und eine starke evangelische Ausstrahlung! Als dann die Aufseher mitteilten: »Tychy, los mit Sachen!« und wir uns verabschiedeten, spürte ich lange Zeit eine unendliche Leere in mir. Ich wusste damals noch nicht, dass ich zu den Letzten gehörte, die ihn noch lebend sahen. Er wurde zur Operation gebracht: zur Entfernung eines erheblichen Teils des durch Hungerstreik ausgemergelten Magens. Er ging allein, ohne Wachmannschaft. Es war sein letzter Gang … Später erfuhr ich in einem Gespräch mit Wasyl Owsijenko über seine letzten Tage: Oleksa wurde am 19. April 1984 in Perm ein kurzes 40-minütiges Wiedersehen mit seiner ersten Frau gewährt, der Moskauerin Olga Oleksijiwna Tycha, und mit Wolodymyr, ihrem Sohn aus erster Ehe, der in Kyjiw lebte. Tychy war schrecklich abgemagert: bei einer Körpergröße von 1,78 m wog er 1981 nur noch vierzig Kilo. Sein Magen nahm nichts mehr an. Man führte ihn an der Hand. Es fielen ihm sogar die Fingernägel ab – doch er lächelte, war ruhig und vom Geist erleuchtet. Er sagte, er vergebe allen, auch seinen Unterdrückern. »Vergesst die Bergpredigt nicht«, sagte er zum Abschied. Am 5. Mai übergab er auf dem Operationstisch seine leidende Seele Gott …

436 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Die weitere Marschroute ging über Kazan, Sysran und Kuibyschew. Nur das Durchgangsgefängnis in Sysran ist mir in Erinnerung geblieben. Es war unglaublich – einfach unwahrscheinlich schmutzig. Es war widerlich, die Matratzen zu berühren. Sie enthielten die Spuren ganzer Generationen von Häftlingen. Über der Zelle hing ein dichter Tabakrauch und ein lautes und unflätiges Fluchen der Kriminellen kam mir entgegen. Es war ein besonderer Tag: 22. April, Ostern! Ich konnte mich nicht länger beherrschen und wagte es, sie zu erinnern: »Jungs, heute ist doch Ostern!« Sie wurden für einen Moment ganz ruhig. Es war, als ob sie nachdachten. Sie sagten dann verwirrt: »Aha«, um sich sofort wieder in ihren verbalen Dreck zu stürzen, ohne den sie offenbar nicht auskamen … Einen Tag später, am 23. April, habe ich im gleichen Gefängnis mit einem anderen Häftling unsere »Freilassung« gefeiert: Wir süßten Wasser – und Prost! Gemäß Gesetz wurden alle Tage, die die Dauer des Freiheitsentzuges überschritten, der Verbannungszeit im Verhältnis »drei zu eins« zugerechnet. Das beruhigte mich damals nicht: Erst in fünf Jahren sollte die Anrechnung erfolgen – und bis dahin musste ich noch leben. Erst am 27. April, als ich endlich im Durchgangsgefängnis von Aktjubynsk ankam, wurde offensichtlich, dass ich in die kasachische Steppe transportiert werden sollte. Dort wurde ich fünfzehn Tage unter gewöhnlichen Verbrechern gehalten – es waren wohl meine schwersten Tage während der ganzen Haftzeit: Ich saß unter kriminellen Jugendlichen. Sie waren wie kleine Tiere, die nichts über die Natur einer wirklich menschlichen Beziehung wussten. Mit Gewalt und Aggression versuchten sie sich einen Platz unter der Sonne zu erkämpfen. Es zeigte sich auch, dass uns völlig verschiedene Lagerregeln beigebracht worden waren. Es betraf das gesamte Spektrum des Verhaltens: von der Art und Weise, wie mit der Lagerverwaltung in Kontakt zu treten sei, oder wie wir uns auf die »Parascha« zu setzen hatten. Dementsprechend kam es mehr als einmal zu angespannten Situationen. Anfangs versuchte ich, die Jungen für mich zu gewinnen, indem ich ihnen bekannte Romane nacherzählte (z. B. »Der Graf von Monte Christo« von Alexandre Dumas). Aber wenn ich noch ein paar weitere Tage unter ihnen

IN DER ROLLE EINES SCHMETTERLINGS 437 geblieben wäre, hätte alles tragisch geendet. Die Belastung wäre psychisch unerträglich geworden. An diese Zeit erinnere ich mich mit besonderem Schrecken und deshalb habe ich später die Memoiren des Patriarchen Jossyf mit einem großen Gefühl der Solidarität gelesen: »Es gab viele kleine Straftäter in den Lagern. Und das war das Schrecklichste. […] Am schlimmsten belästigten mich ›Minderjährige.‹«168 Die Situation wurde für mich auch dadurch psychisch erschwert, da mir versprochen worden war, mich nach ein bis zwei Tagen weiterzuschicken. Ich lebte also jeden Tag in der gespannten Hoffnung, jede Minute auf die Etappe genommen zu werden. Es kam aber wieder ein Abend – und ich musste meine Hoffnung erneut völlig verzweifelt unterdrücken. So ging es weiter bis zum 12. Mai: Endlich wurde ich in die »grüne Minna« gesetzt und in die kasachische Abgeschiedenheit gebracht. Nach ungefähr zwei Stunden Fahrt hielt das Auto und meine Begleitwache befreite mich aus der vergitterten Kabine, damit ich die Muskeln entspannen konnte. Es war Mai und überall wucherte frisches Grün. Zum ersten Mal nach langer Zeit atmete ich frischen Wind und sah die wunderbare Welt Gottes. Meine Begleitwächter waren Kasachen vom Milizrevier des Rayon Uil – einfache Leute und relativ menschlich: Sie boten mir sogar Zigaretten an und gaben mir etwas zu trinken. Diese einfachen Gesten waren nach dem Gehetze in Aktjubynsk eine völlig unerwartete Großzügigkeit. An diesen Moment erinnerte ich mich sofort, als ich von einer ähnlichen Reaktion auf eine Großzügigkeit gegenüber einem anderen unschuldigen Verurteilten las. Das war der ukrainische Akkordeonist Ihor Sawadsky: Beide Arzthelferinnen waren sehr gut zu mir, was dazu führte, dass ich mich nicht länger beherrschen musste: Die Tränen flossen von selbst. Ich wusste nicht, weshalb mich selbst ein Hauch von Güte so tief berühren konnte …169

Wir stiegen wieder ins Auto, das mich ins Zentrum des Rayon Uil brachte, wo ich zwei weitere Tage im Revier verbrachte. Ich dankte 168 Jossyf Slipyj. Erinnerungen, S.176, 188. 169 Der blinde Joseph. Memoiren, S.176, 188.

438 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT dem Abschnittsleiter aufrichtig für die Menschlichkeit der Begleitwachmänner. Der Leiter war ein Kasache und hatte nichts dagegen, sich mit mir etwas zu unterhalten, außer über – Religion. Er war sehr stolz, dass »Mohammed« im Unterschied zu Jesus, der für ihn eine völlig mystische Person war, eine historische Persönlichkeit war. Auf dem Hof der Miliz in Uil erwartete mich eine weitere verblüffende Überraschung: Ein Apfelbaum blühte. Wie viele Jahre hatte ich keinen mehr gesehen! Am Montag, 14. Mai, wurde ich offiziell aus dem Arrest entlassen und es wurde mir das aktuelle Regime meines Aufenthaltes erklärt. Dann wurde ich in einen Milchtransporter gesetzt, der zur Ortschaft Saralshyn fuhr, im Rayon Uil und in der Oblast Aktjubynsk.170 Genau an diesem Ort sollte ich landen, wo ich dazu bestimmt war, mein nächstes Leben zu beginnen – fünf Jahre in der Verbannung.

170 Interessant ist, dasss ich sogar heute im Internet keine Karte des Rayon Uil mit dem genannten Dorf Saralshyn finden konnte. Was soll man dazu sagen?

IV.

Unter den Kasachen

1. Sich einen Platz an der

kasachischen Sonne erkämpfen Mit dem Wort »Saralshyn« bezeichneten die Kasachen kleine dornige Büsche, die auf sandigem Grund überleben. Sie sitzen fest und lassen sich nicht einfach herausziehen. So war ich nicht erstaunt, dass die ganze Ortschaft so bezeichnet wurde, da sie ebenso tief im Sand verwurzelt war und kaum etwas anderes erblickt werden konnte. Als ich schließlich mit meinem kleinen Schulterbündel vom Milchtransporter heruntersprang, hatte ich wirklich den Eindruck, ich wäre an einem Strand gelandet. Es konnte tatsächlich gebadet werden (d. h. sich mit etwas Wasser übergießen): Denn das Flüsschen Uil floss an diesem Ort vorbei, was mich im ersten Sommer auch vor der unerträglichen Hitze beschützte. Saralshyn hatte Glück: das Flüsschen fliesst hier noch, aber nirgendwohin, da es zuletzt austrocknet. Rund um das Dorf gab es nur die endlose Sandsteppe, die den Vorschriften des Regimes für die Verbannung besonders zu entsprechen schien. Laut Gesetz durfte ich das Dorf nur in einem Umkreis von bis zu dreißig Kilometer ohne eine gesonderte Erlaubnis verlassen. Wohin sollte ich also fahren, wenn, abgesehen von vereinzelten Höfen, die erste Siedlung nach Saralshyn das Bezirkszentrum von Uil fünfzig Kilometer entfernt ist und ich natürlich nur mit einer Genehmigung der Behörden dorthin fahren konnte? Von Aktjubynsk nach Saralshyn waren es zweihundert Kilometer und die Verbindungen mehr oder weniger gut: Es konnte mit zwei, manchmal auch mit drei regulären Bussen gefahren werden. Die Straße war größtenteils unbefestigt, sodass sie manchmal von starken Regenfällen weggespült wurde. Zudem waren im Sommer Sandstürme und im Winter Schneestürme häufige Gäste in der Gegend und behinderten dann oft die Verbindungen.

439

440 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Der Zeitunterschied zu Moskau betrug dieselben zwei Stunden, die ich vom Ural gewohnt war. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass ich mich viel südlicher dieser Bergkette befand. Der Ort Saralshyn war nicht besonders groß – er bestand vor allem aus einer »Sowchose« (einem staatlichen Viehbetrieb), der von der Viehzucht lebte. Neben dem Verwaltungsgebäude gab es im Dorf eine Schule, ein Postamt, ein Baulager, ein Lebensmittelund Industriewarengeschäft, eine Bäckerei, einen Kinosaal und eine kleine Bibliothek mit Literatur in der kasachischen Sprache – dort gab es nur einige Dutzend Bücher auf Russisch. Am Samstag und Sonntag war eine Sauna in Betrieb. Um die Ortschaft gab es einige Farmen, wo Schafe gezüchtet wurden. Alle Bewohner waren nach ihrer Nationalität Kasachen. Sie sprachen alle ihre Muttersprache, Russisch verstanden sie, so gut sie es eben konnten. Ich war der einzige Slawe unter ihnen und schon nach kurzer Zeit im Dorf unter dem Namen »Slapka« bekannt. Übrigens versuchte ich sofort, ein Lehrbuch der kasachischen Sprache aufzutreiben, um mindestens verstehen zu können, was um mich gesprochen wurde, aber das stellte sich als gar nicht so einfach heraus. Ich beschaffte es erst später, als ich wegen der schweren körperlichen Arbeit nicht mehr die Kraft hatte, die ungewöhnliche Grammatik der Turksprachen in meinen Kopf zu bringen. Ihrer Religion nach sind die Kasachen alle sunnitische Muslime, es gab aber im Dorf praktisch kein religiöses Leben. Die Religion war eher in einigen noch verbliebenen Riten des Alltags zu finden. Dennoch waren sie sich durchaus ihrer kulturellen Zugehörigkeit zur muslimischen Zivilisation bewusst und sogar stolz darauf. Einen Mullah gab es in Saralshyn nicht; während der einzigen Beerdigung, an der ich teilnahm, las einer der älteren Kasachen einige Suren aus dem Koran. Zunächst wurde dieser »Slapka« mit viel Misstrauen empfangen. Saralshyn war auf der Karte des KGB ein ganz besonderes Dorf: Vor mir hatten hier bereits zwei andere ihre Verbannung abgebüßt und hatten somit für mich »den Platz warmgehalten«. Es waren Walerij Martschenko (von Juli 1979 bis Mai 1981) und Sorjan Popadjuk (von Juni 1981 bis zum 2. September 1982). Walerij wurde

UNTER DEN KASACHEN 441 aber nach seiner Freilassung schon in Kyjiw wieder verhaftet; Sorjan sogar direkt in Saralshyn, noch während der Verbannung. In ihrer Angelegenheit wurden am Ort Verhöre durchgeführt. Deshalb wollte auch keiner der Kasachen im Zusammenhang mit meiner Ankunft noch einmal ins Blickfeld des KGB geraten. Zusätzlich bereitete das KGB die Leitung des örtlichen Sowchos auf die Ankunft eines »besonders gefährlichen« Menschen sorgfältig vor, sodass die ersten Monate meines Aufenthalts in Saralshyn nicht einfach waren. Andererseits wussten die Einheimischen aber auch, dass man sich vor Politischen nur aus ideologischen Gründen in Acht nehmen sollte, während im Alltag keine Bedrohung von ihnen ausging. Man erinnerte sich an meine beiden Vorgänger zumeist positiv und respektvoll, sie beleidigten niemanden und standen auch niemandem im Weg. Es gab aber auch solche, die glaubten, es wäre unpatriotisch, ein gutes Wort über die beiden Jungs zu sagen. Die erwähnte ideologische Vorsicht widersprach dem praktischen Interesse. Die Verwandten der Politischen sandten in ihren Paketen nämlich auch Waren, die vor Ort nicht zu erhalten waren. Dazu gehörte guter Tee, der hier wie eine zweite Währung fungierte. Wir drei Verbannten bestellten deshalb Tee in der Ukraine und beschenkten damit die Kasachen oder tauschten ihn gegen andere Produkte. Natürlich hatte das KGB auch hier seine zuverlässigen Informanten. Zudem rechneten sie auch damit, dass der Kontakt zur lokalen Bevölkerung für uns schwierig sein würde. Aber sie hatten sich verrechnet. Denn die Kasachen in Saralshyn waren echte Steppenkinder. Sie waren »weit weg von der Politik, aber nahe bei der Natur«, wie mir Jewhen Swerstjuk einmal schrieb. In ihrer Masse reagierten sie eher nicht auf unsere ideologische Position, sondern auf unsere Haltung ihnen gegenüber. Wenn du ihre Lebensweise, ihre Bräuche respektierst, würden sie dich auch respektieren. Da das Zimmer gerade belegt war, in dem Walerij und später Sorjan vor mir gelebt hatten, wurde ich vorübergehend in einem Gebäude beim Baulager einquartiert. Es war ein kleiner Raum aus Lehmziegeln, in dem ein Buchhalter und die schon etwas ältere Kasachin Apaj Sysenowa als Lageristin saßen. Es gab auch einen Tisch

442 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT und einen Telefonapparat. Hier wurde dann mein Bett aufgestellt, das ich nach Ende des Arbeitstages benutzen durfte, wenn Apaj nach Hause gegangen war. Das Zimmer war aber gar nicht zum Wohnen eingerichtet, für Wasser musste man gute dreihundert Meter laufen. Da es für beide Seiten unerträglich war, den Raum als Büro und Wohnung zu nutzen, wurden die Büromöbel einige Tage später in ein anderes Gebäude gebracht. Damit stand mir das ganze Zimmer zur Verfügung. Es wurden auch ein Tisch und ein Sessel für mich gezimmert. Mitten im Raum stand aber der Ofen, der mir viel Platz wegnahm. Ich sollte als Zimmermann im Lager arbeiten, das sich in demselben Haus befand. Der Vorsitzende des Sowchos fragte aber zuerst nach, ob ich Pferde reiten könnte, was ich zu meinem Glück verneinen konnte, womit mir keine andere Arbeit zugewiesen werden konnte, außer diese Arbeit des heiligen Josef und seines göttlichen Zöglings. Der Lohn wurde nach Leistung festgelegt, aber auch hier ging es nicht ganz ohne Probleme. Im ersten Monat arbeitete ich mit meinen Kollegen im Sägewerk und verdiente dadurch etwas mehr: ganze 186 Rubel. Mein Vorarbeiter Ural Turemuratow, der sich zu Beginn besonders abgeneigt mir gegenüber verhalten hatte, reagierte dann sofort: »Warum bekommen Sie denn so viel Gehalt?« Am ersten Tag hatte ich einen Vorschuss von zwanzig Rubel erhalten, der aber im Nu ausgegeben wurde. Als erstes sandte ich meiner Mutter ein eiliges Telegramm für sieben Rubel mit meiner genauen Adresse. Es stellt sich aber später heraus, dass das Telegramm aus irgendeinem Grund nie angekommen war. Ich kaufte mir auch eine Schirmmütze, da die Hitze unbarmherzig war und man unmöglich mit unbedecktem Kopf umhergehen konnte. Dann kaufte ich Brot, Marmelade und Tee, um nicht vor Hunger zu sterben – und das Geld war bereits weg. Meine ganze Hoffnung lag nun auf einer Geldüberweisung meiner Verwandten. Die guten Menschen ließen mich denn auch wirklich nicht im Stich. Bereits am nächsten Tag bewirteten mich aber die Kasachen mit Milch. Apaj brachte mir von zu Hause ein Glas saure Sahne – für mich ein unvorstellbarer Luxus. Ich aß dann nur ein wenig und ließ etwas

UNTER DEN KASACHEN 443 im Glas für morgen zurück und stellte es in meinen »Kühlschrank« neben dem Gebäude: in das kühlende Wasser des Flusses. Doch am nächsten Tag war meine saure Sahne verschwunden … das war für mich bitter, ich versuchte meinen Frust zu unterdrücken und tat äußerlich gefasst, aber innerlich war ich angespannt wie eine Saite. Ich schrieb dazu bloß scherzhaft: 16. Mai 1984: Hier bleibt mir keine Zeit für große Emotionen, keine Zeit für Lyrik. Nur einmal brach ich in Gelächter aus, als ganz nahe ein Hahn sein ›Kikeriki‹ in reinstem Kyjiw-Poltawaer Dialekt schrie. Und ich, Dummkopf, dachte doch, dass die Hähne hier auf Kasachisch krähen!

Ohne weiter auf ein Telegramm meiner Mutter zu warten, lieh ich mir schließlich etwas Geld und schickte zudem ein dringendes Telegramm an Nadijka, womit ich mehr Erfolg hatte. Schon am nächsten Tag erhielt ich eine telegrafische Überweisung von zweihundert Rubel durch meine Verwandten. Zudem machte ich mit der Verwaltung ab, dass ich vom Sowchos Milch und Fleisch beziehen könnte, was mir dann von meinem Gehalt abgezogen würde. Das war für mich eine große Erleichterung, wobei ich selbst dann, wenn ich gerade Geld hatte, im staatlichen Supermarkt fast nur Wodka kaufen konnte. Alles andere musste man sich bei der naturnahen Landwirtschaft besorgen. Mein Verbannungsregime beinhaltete auch die Verpflichtung, mich zweimal in der Woche beim örtlichen Bezirksmilizionär zu melden, dem Kommandanten Nurtanow, um nachzuweisen, dass ich immer noch vor Ort wäre. Diese Auflage erfuhr aber bedingt durch die Abgeschiedenheit Kasachstans zwangsläufig eine Korrektur, da der Milizionär oft und für eine längere Zeit nicht im Dorf anwesend war. Zumeist sahen wir den Bezirksbeamten so oft, dass offenbar die formelle Pflicht entfallen konnte, zu ihm zu gehen, um »sich zu melden«. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass jemals mit dieser Verpflichtung eine psychische Belastung verbunden war. Bald darauf kam auch mein Kurator aus der Abteilung des KGB in Aktjubynsk zu mir, um mich näher kennenzulernen. Wie er hieß, weiß ich nicht mehr. Er war aber kein Kasache, wohl eher ein Russe, verhielt sich aber höflich und korrekt, womit es für mich

444 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT keine Gründe gab, mit ihm in einen Konflikt zu geraten. Er erfüllte einfach ordnungsgemäß seine Arbeit und ich ebenso. Der mühsamste Stress in dieser Zeit war die Suche nach einer besseren Behausung. Obwohl mir die ganze Bude zur Verfügung stand, konnte man dort kaum leben. Fast jede Minute kamen Kasachen vobei, da sie es gewohnt waren, dass dort das »Büro« wäre, womit ich auch keinen ruhigen Sonntag hatte. Denn obwohl ich mich weigerte, an einem Sonntag zu arbeiten, lief die ganze Zeit das Volk an mir vorbei zum Holzlager, wo meine Kollegen arbeiteten. Ich konnte mich so kaum ablenken: Besonders schwierig wurde es für mich, als ich voller Entsetzen darüber nachdachte, wo ich eigentlich meine Mutter und meine Schwester unterbringen sollte, wenn sie mich einmal besuchen kämen. Deshalb hörte ich nicht auf, mich um eine andere, »menschlichere« Wohnung zu bemühen. In der Geschichte dieser Bemühungen zeigten sich mir wie in einem Spiegel all meine anfänglichen Leiden in der Verbannung. Die Verwaltung des Sowchos begann bald einmal, meine ständigen Forderungen als die eines klassischen »Querulanten« wahrzunehmen. So hörte ich einmal von demselben Vorarbeiter: Sie haben doch einen Platz zum Schlafen, was wollen Sie denn mehr? Als Arbeiter brauchen wir Sie ja gar nicht. Uns hat auch niemand gefragt … Warten Sie also noch die fünfzehn Tage bis zum Herbstbeginn, wenn es für Sie unbedingt sein muss.

Die Missgunst von Ural ging mir ziemlich auf die Nerven. Ich fragte ihn einmal offen: »Warum sind Sie so feindselig eingestellt? Schließlich habe ich weder Ihnen persönlich noch dem Sowchos etwas Schlechtes angetan.« Er regte sich etwas auf und auch sein ideologisch durchaus korrektes Misstrauen gegenüber diesem »Volksfeind« veränderte sich nicht sofort. Anfang Juni schrieb ich nach Hause: »Ich möchte mich nicht mit den Vorgesetzten streiten, weil ich mir ein friedliches Leben in einer stillen Gasse wünschte. Nun sehe ich, dass das alles eine Utopie sein würde …« Mein Kommandant versprach dann aber, mir zu helfen. Am meisten Einfluss auf die Veränderung meiner Situation hatte wohl, dass das Baulager meine Bude als Büro brauchte. So wurde ich schon Mitte Juli für einige Wochen in einem Wohnwagen

UNTER DEN KASACHEN 445 untergebracht, der zuerst neben der Bude aufgestellt wurde. Mit Unterstützung meines Kurators des KGB in Aktjubynsk wurde er dann noch näher an die Wohngebäude, den Brunnen und die Toilette gebracht. Ironisch gesagt ensprach diese, wie in diesen Dörfern üblich, der Kategorie »Bequemlichkeit auf dem Hof«. Der Wohnwagen war ein typisch »finnischer Wohnwagen«, ausgelegt für vier Personen. Es gab eine »kleine Küche« und ein »Zimmer«, verschiedene Hängeböden, Schränkchen für Kleidung, zwei Betten und ein Tisch. Es lohnte sich aber nicht, sich zu sehr zu freuen. Ich wurde gewarnt: Ich könne nur bis September im Wagen bleiben. Dann müssten sie ihn an die Schäfer abgeben. Ich suchte schließlich das Gespräch mit der Chefärztin in der Klinik, in deren Verantwortung das mir versprochene Zimmer lag, in dem zuvor Walerij Martschenko und Sorjan Popadjuk gewohnt hatten. Sie las gerade irgendein Buch und schaute mich nicht einmal an. Sie hörte mich aber, unterbrach mich und fragte kühl: »Wer hat Ihnen denn gesagt, dass Sie dort wohnen könnten?« »Der Kommandant.« »Sagen Sie ihm, er müsse Ihnen eine andere Unterkunft suchen. Hier jedenfalls können Sie nicht wohnen. Auf keinen Fall werde ich die Leute umziehen lassen, die bereits dort wohnen.« Nach diesem Gespräch kehrte ich ziemlich aufgebracht zurück. Meine weiteren Bemühungen reizten meine Vorgesetzten offenbar nur. Mein Vorarbeiter und Neider sagte dann den Leuten: »Nun verlangt er auch noch ein Zimmer. Von mir aus müsste er auf der Toilette wohnen!«171 Somit war ich auf das Schlimmste gefasst. Am 13. August teilte mir Ural dann mit, der Sowchos benötige meinen Wagen, ich müsste also ausziehen. Auf meine Frage »Wohin denn?«, antwortete er mir: »In die Scheune.« Dann sagte ich ihm offen und ehrlich, was ich darüber dachte, und weigerte mich, umzuziehen. Ich stellte dann aber eine Bedingung: Ich würde nur

171 Die Ironie des Schicksals liegt darin, dasss gegen Ende meiner Verbannung derselbe Ural wohl fast mein Freund wurde, und großen Respekt vor mir hatte. Im Jahre 1991 kam er für mich völlig überraschend nach Drohobytsch ins Volkshaus »Aufklärung«, wo gerade die Präsentation meines Buches: »Die Ukraine auf dem Boden der Heiligen Schrift« stattfand, und ließ mir dann auf der Bühne eine kurze Notiz überreichen. Ich erkannte ihn dann hinten im Saal und stellte ihn sehr gerührt den anwesenden Leuten vor.

446 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT in dem Fall umziehen, wenn mein Kommandant diese Variante sanktioniert hätte. Das funktionierte tatsächlich: Bereits am nächsten Tag ordnete dieser telefonisch an, dass ich eines der Zimmer in einem Lehmhaus bekäme, wo einige Saisonarbeiter wohnten, die bald nach Dagestan zurückkehren würden. So nahm ich also meine Sachen aus dem Wagen und stellte zufrieden fest, dass ich mir nach drei Monaten seit meiner Ankunft in Saralshyn eine menschliche Behausung erkämpft hatte. Meine Abenteuer mit der Wohnungssuche waren aber noch nicht zu Ende. Kurz nachdem ich in Saralshyn angekommen war, musste ich bereits ins Zentrum des Rayons, Uil, fahren, um mir mit der Erlaubnis der Miliz ein Foto für einen Ausweis machen zu lassen, der für fünf Jahre meinen Pass ersetzen sollte. Ich kam zur Mittagszeit an und erledigte rasch mein Hauptgeschäft. Weil es bereits keine Verbindung nach Saralshyn gab, blieb mir nichts anderes übrig, als in einem Hotel zu übernachten. Die Miliz rief dort zuerst an und diktierte die Nummer meines Passes. Dass ich käme, war für das Hotel offensichtlich eine Sensation: Die kasachische Verwalterin verdrehte nur schon die Augen, weil ich von einem leitenden Kriminalbeamten gebracht wurde, und hielt mir einen Vortrag, wie ich mich im Hotel zu verhalten hätte. Ich ahnte dabei nichts Schlimmes und nahm das mit viel Humor auf. Als ich am nächsten Morgen dann kam, um den Schlüssel abzugeben, erklärte mir diese Hüterin der sowjetischen Gesetzlichkeit: »Geben Sie mir bitte zu Ihrer Abreise die schriftliche Genehmigung der Miliz, sonst werde ich Sie nicht herauslassen.« Da dieses Gespräch bereits einen scharfen Ton hatte, blieb mir nichts anders übrig, als zur Wohnung des Kriminalbeamten zu gehen und ihn aus dem Bett zu holen. Er wunderte sich sehr und schrieb dann diesem »Zerberus im Rock« eine formelle Genehmigung … Ich hätte ganz Uil verflucht, wenn es nicht eine Kasachin gegeben hätte, die sich meiner erbarmte und mir Milch zu trinken gab, weil die Läden noch geschlossen waren. Als ich hörte, dass es in der Schule von Saralshyn ein Klavier gäbe, begannen meine Finger schon zu kribbeln. Ich ging dann zum Direktor, um mit ihm abzumachen, wann ich kommen und spielen könnte. Die Antwort lautete: »Das Klavier ist schon lange

UNTER DEN KASACHEN 447 verstimmt, da niemand darauf gespielt hat. Sie können aber jeweils werktags außer sonntags um 10 Uhr früh kommen.« Auf meinen sachlichen Hinweis, dass ich zu dieser Zeit arbeite, hob er nur die Hände – und ich ging leer aus. Später bat ich denselben Direktor um Lehrbücher für die kasachische Sprache, er lehnte es aber grob ab. In meinen ersten Wochen mieden mich die Leute noch. Als ich einmal zur Post ging, erlebte ich erneut mein Lagersyndrom: Ich wurde auf der Straße ohnmächtig und fiel um, aber die Leute liefen nur an mir vorbei und gingen weiter. Bis heute habe ich immer noch dieses Bild vor Augen: Ich bin bereits wieder bei Bewusstsein, liege aber noch da und es fehlt mir die Kraft, aufzustehen, und ich wundere mich: Weshalb reichen mir denn diese Leute nicht die Hand? Da ich die Distanz meiner Umgebung gut verspürte, wollte ich wenigstens etwas Musik hören und kaufte mir mit dem allerersten Lohn einen »Spidola«-Radioempfänger, hatte aber nicht lange Freude daran. Nach einigen Tagen wurde er mir bereits gestohlen. Ich erstattete dann beim Bezirksbeamten Anzeige, doch der Dieb wurde, wie wohl üblich, nicht gefunden. Nebenbei sei noch ein weiterer Fall menschlicher Missgunst erwähnt. Es geschah, als ich schon mein neues Zimmer bezogen hatte. Der Fall erschütterte mich so sehr, dass ich meine Gefühle in einem Gedicht formulierte, wo sich deutlich zeigt, was geschehen ist: Schwer ist es, so schwer … Hab doch niemandem etwas angetan Das Fenster gebrochen wurde mir Die Splitter fielen auf meinen Pilaw, den ich auf Kasachisch mir kochte. Rannte hinaus es schmiegte an mich sich der Hund meines Nachbarn. Er wartet des Nachts vor meiner Tür, dass ich ihm gäbe etwas Fleisch und Wärme, er bellte aber nicht, wie er mir eigen wäre. Schwierig ist es, ein Fremder zu sein. Das Kreuz ob meinem Kopfe –

448 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Genagelt an muslimische Wände fühlt sich auch so schwer an. Keinen Pflaumenbaum ich mir setzte vor dem Fenster meines Häusches: Zertrampelt nur wird er, wenn zerbrochen das Fenster, wie einst die barbarische Roxolanen es taten. (Oder sollte ich den Baum doch mir setzen? Hängt doch das Kreuz über mir!) Sie schlugen mir ein das Glas meines Fensters, als ich, verirrt im Spiel meiner Kindheit, mir suchte ein freundliches Herz, versteckt, doch nahe zu mir. Man sagte mir: Es ist schwierig … so schwierig …

Trotzdem möchte ich die Kasachen auch würdigen: Es war fast das letzte Mal, dass sie mich wie einen Fremden behandelten. Schon Ende Juli hielt ich zum ersten Mal in meinen Briefen einige positive Veränderungen fest, die weiter zunahmen. 31. Juli 1984: Mein Leben verbessert sich sichtlich, immer mehr gewöhnen sich die Leute an mich – es ist reine menschliche Sympathie. Ich bekomme Pilaw zum Mittagessen, Einladungen zum Essen lehne ich manchmal sogar ab, da mir sonst das selbst Gekochte anbrennt. Heute Morgen ist auch der Onkel, der Gemüse verkauft, zu meinem Wagen gekommen, worüber ich sehr glücklich bin. Zudem erhalte ich schöne Briefe. Und bei der Arbeit gelingt mir alles, weil ich eine wunderbare Laune habe. Nun müsste nur noch niemand mir mit bösem Blick schaden!

Ich arbeitete wirklich mit Vergnügen. Meine beiden jungen Kollegen, Shaken (leider weiß ich den Nachnamen nicht mehr) und Bukenbaj Arenow, waren nicht mehr verärgert, wenn ich immer noch nicht viel tun konnte. Ich kompensierte mein fehlendes Können, indem ich ihnen freiwillig half und nicht versuchte zu »faulenzen«. Wir stellten Tische, Türen, Sockelleisten, Dielen, Toiletten und allerlei Kleinigkeiten für den Haushalt her und arbeiteten gut zusammen. Die Jungs verhielten sich nun voller Respekt mir gegenüber. Selbstverständlich nicht deshalb, weil ich ein politischer Häftling war, sondern da ich sie freundlich behandelte und weil ich … älter war als sie. Das Leben der Kasachen war allgemein sehr

UNTER DEN KASACHEN 449 patriarchalisch geprägt, dessen vielleicht hervorstechendstes Merkmal der Respekt vor dem Alter war. Kürzlich las ich erneut meine Briefe an Mutter und stieß auf einen charakteristischen Satz: »Nun lässt es sich fröhlich und gut arbeiten, mit Shaken geht es mir auch nicht anders.« Genauso herzlich und freundschaftlich wurde meine Beziehung zu Bukenbaj und zur schon erwähnten Apaj und zu Luljasch, der Mitarbeiterin im Holzlager. Später arbeiteten noch die Kasachen Atapkel (etwas älter als wir) sowie die beiden jungen Männer Jermek Seitmahulow und sein Sohn Apaj, dessen Namen ich vergessen habe, eine Zeit lang mit mir. Zu meinem engsten Kreis gehörte auch Alibek Taubatyrow. Später erzählte mir mein Mitarbeiter Shaken eine bemerkenswerte Geschichte aus der Zeit, als unsere Zusammenarbeit begann. Er heiratete im August 1984 und wollte mich zusammen mit weiteren Freunden zu seiner Hochzeit einladen. Für alle Fälle ging er aber zum Bezirksbeamten der kasachischen Miliz und fragte, ob er mich einladen dürfte. Er wunderte sich nur und fragte: »Hat er dir etwas Böses angetan?« »Nein.« »Warum fragst du mich dann?« So begann das »Präzedenzfall-Gesetz« auf ihre kasachische Weise bei mir zu wirken. Ich wurde nun und nicht nur einmal zu einem Dorffest eingeladen. Nebenbei erwähnt, bei dieser Hochzeit wurde mir unerwartet das ehrenvolle Recht zuteil, als einer der ersten einen Trinkspruch anzubringen. Ich war zunächst etwas unsicher, fand mich dann aber und wurde mit Beifall belohnt. Meine Beziehung zum Saralshyner Postamt wurde zu einem besonderen Epos. Ich erinnere mich immer noch gut, wie wir drei politischen Verbannten nicht nur einmal den jungen Kasachinnen, die auf dem Postamt arbeiteten, Kopfschmerzen bereiteten – und sie uns auch. Für uns war die Post wohl der wichtigste »Lebensnerv«, denn unsere gesamte Kommunikation lief darüber ab: Telegramme, telegrafische Überweisungen, Ferngespräche, Pakete, Päckchen und eine Lawine von Briefen. Deshalb war die Post in meinen Briefen an meine Verwandte ein Dauerthema. Leute, die nicht wie wir für eine längere Zeit ihrer Freiheit beraubt wurden, fällt es schwer, sich den Informationshunger

450 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT vorzustellen, den ein Verbannter damals hatte. Am besten illustriert dies ein Brief an meine Mutter, indem ich zunächst schildere, dass ich von ihr ein Paket mit Lebensmitteln erhalten hatte und feststellte, dass es in Seiten von »Radjanske Slowo« (»Sowjetwort«) eingewickelt war, der Zeitung für die Stadt und den Rayon Drohobytsch, was bei mir einen wahren Sturm an Emotionen hervorrief. Ich schrieb da: »Ich werde die Seiten am Abend studieren. Die Redakteure dieses Blättchens können es sich wohl nicht vorstellen, dass es einen Menschen gäbe, für den diese Zeitung fast ein Wunder wäre!« Und ich hätte damals nie geglaubt, dass ich sechs Jahre später Korrespondent eben dieser Zeitung sein würde! Heute kann man sich nicht vorstellen, in welchem schlechten Zustand die Kommunikationsdienste damals waren. Die Telegramme gingen zuerst nach Uil, von dort wurden sie durch die Mädchen per Telefon weiter übermittelt, wenn es gerade eine Verbindung gab. Es gab auch keinen Unterschied zwischen eiligen und gewöhnlichen Telegrammen – man musste sich einfach beim lieben Gott bedanken, wenn sie überhaupt ankamen! Über die nähere Kenntnis der russischen Sprache erfuhr ich durch die Geschichte eines Telegrammes, das ich an Nadijka aufgegeben hatte. Ursprünglich lautete es: »Freue mich über glückliche Rückkehr.« Es kam aber so an: »Bruders glückliche Rückkehr«. Auch ein Telegramm von Mykola Matusewytsch wurde mir einmal von den Mädchen mit einem fast mystischen Schrecken übergeben. Die russische Transkription hatte es in ein Abrakadabra verwandelt: »Servus, Kasache von den Mongolen.« (Burjatien war der Ort der Verbannung von Mykola, womit er also unter den »Mongolen« lebte.) Bei einer Telefonverbindung konnte man manchmal durchdrehen. Unsere ersten sechs (!) Versuche per Telefon zu sprechen, blieben alle ohne Erfolg. Die Mädchen sagten mir dann endlich, es wäre besser, Telefonate am späten Abend anzumelden. Doch wie konnte ich es wissen? Gleichzeitig musste auch berücksichtigt werden, wie diese Misserfolge von meinen Angehörigen wahrgenommen wurden. Wenn die Verbindung zwischen Saralshyn und Uil nicht hergestellt werden konnte, wurde einfach nur an die Ukraine übermittelt: »Der Teilnehmer ist nicht erschienen.« Aber Warum erschien er denn nicht? Wurde er wieder verhaftet? War er krank?

UNTER DEN KASACHEN 451 Gott beschenkte nicht alle mit dem Reichtum der Marynowytschs, es sich vorzustellen zu können … Ganz zu schweigen von der schrecklichen Qualität der Verbindungen. Ich schrie mir manchmal die Kehle aus dem Leib – und als Antwort hörte ich nur: »Sprich bitte lauter!« Mit der Zeit fand ich heraus, dass die Qualität der Verbindung von der örtlichen Vermittlungsstelle her besser sein konnte, sodass ich häufig dorthin ging. Wichtig für junge Leser, die gewohnt sind, ein Mobiltelefon zu benutzen, wäre auch zu erklären, dass die Gespräche jeweils nach einer besonderen Prozedur vermittelt wurden: Zuerst wurden die Teilnehmer an beiden Enden per Telegramm (mindestens einen Tag im Voraus) benachrichtigt, dass er oder sie zu einem Gespräch angerufen würde. Dann mussten die entsprechenden Teilnehmer den Telefonistinnen bestätigen, an welchen Apparaten sie auf die Verbindung warten würden. Wenn es sich um Gespräche mit einer »hinterwäldlerischen Gegend« handelte, verwandelte sich dieses mehrstufige Verfahren wahrhaft in Dantes Inferno. Einfacher war die gewöhnliche Briefkorrespondenz, obwohl auch hier die Verbindung unterbrochen sein konnte, wenn die Straßen nach heftigen Regengüssen und Schneestürmen nicht mehr befahrbar waren. Manchmal brach auch ein Postwagen zusammen. Als meine Mutter im Verlauf von zwei Wochen einmal keine Briefe von mir bekam, telefonierte sie sich in Panik bis zum Vorsitzenden des Sowchos durch und verblüffte ihn mit der sakramentalen Frage: »Wo haben Sie meinen Sohn versteckt?« Die Verzögerung der Pakete führte ebenso zu gewissen Unannehmlichkeiten. So verfaulte etwa das Obst im Paket meines neuen Freundes aus Dagestan in 90 % der Fälle. Es lässt sich schwer beschreiben, was dann in mir vorging, als ich diese Fäulnis in die Mülltonne werfen musste. Und doch verbesserten sich meine Lebensumstände immer mehr. Mykola Matusewytsch dagegen schrieb mir einmal, dass er es nicht mehr gewohnt wäre, draußen zu leben, als ob die sieben Jahre in der Haft nie gewesen wären. Für mich war es umgekehrt: Es war, als würde ich allmählich wieder lernen, auf zwei Beinen zu gehen. Mit Ausnahme des ersten Tages empfand ich zwar lange Zeit noch keine Freude, endlich »frei« zu sein. Die erste

452 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Benommenheit, die mit meiner Entlassung aus dem Gefängnis verbunden war, verging langsam. Ich lernte die an sich schwierigen Verhältnisse des dortigen Lebens besser kennen, sodass mir nicht mehr alle Schwierigkeiten, die mir persönlich zugefügt wurden, als bewusstes Unrecht erschienen. Auch mein freundlicher Umgang mit den Kasachen trug zunehmend Früchte. Das allein war aber noch nicht alles, was meine Lebensumstände in Sarashyn radikal veränderte.

2. Hilfe der Verwandten und Einrichtung des Alltags Mein erster Gast in Saralshyn war der Neffe von Mykola Matusewytsch, Tamilas Sohn Wadym Slobodjanjuk. Über seinen möglichen Besuch erfuhr ich in einem Telefongespräch mit Mykola. Ich erschrak, da ich Anfang Juni immer noch, wie ein freier Vogel, in meiner Bude wohnte. Wie sollte ich da einen Gast empfangen! Ich sagte das Mykola verzweifelt, worauf er aber nur beleidigt reagierte. Als ich nach dem Telefonat das Postamt verließ, sah ich – Wadym, der bereits Saralshyn erreicht hatte. Es gab für mich also keine Wahl. Zur Ehre von Wadym muss ich anerkennen, dass er mir auch keine Schwierigkeiten machte: Er legte sich ganz einfach auf eine Matratze auf dem Boden und half mir freundlicherweise, meine Probleme zu lösen. Wadym war dann mehrere Tage bei mir und wartete auf eine Botschaft von Mykola, ob er zu ihm in die Oblast Tschita fahren könnte. Wie die entsprechende Nachricht war, ob positiv oder negativ, erinnere ich mich nicht mehr. Etwa zur gleichen Zeit traf ich zum ersten Mal eine Gruppe von Tschetschenen an, die zu einer Saisonbrigade für den Bau verschiedener Gebäude in den Farmen gehörten. Zuerst lernte ich den Brigadier Said Shanaralijew und seine rechte Hand Adam Baschyrow kennen. Beide waren sehr fröhlich und gesellig. Sie sagten mir auch bald, dass »die Tschetschenen ein Volk wären, das niemand in die Politik hineinziehen könnte«. Hätte man ihnen aber dann gesagt, dass ausgerechnet von den Tschetschenen ein Jahrzehnt

UNTER DEN KASACHEN 453 später durch ihren Kampf um ihre Unabhängigkeit auf der ganzen Welt die Rede sein würde, hätten sie es mir nie geglaubt. Obwohl sie damals um die Politik einen weiten Bogen machten, schreckten sie doch nicht vor den politischen Verbannten zurück. Im Gegenteil, nachdem sie mich besucht und sich auch meine Geschichte über das Lager angehört hatten, sympathisierten sie aufrichtig mit meinem Schicksal. Unsere Freundschaft entwickelte sich so im Nu, da sie auf gegenseitige Sympathie und Respekt voreinander basierte, und dass wir einander brauchten. Sie halfen mir zudem, meine Probleme im Alltag zu lösen. Ich ließ auch meine Wohnungstüre immer für sie offen, sodass sie bei mir essen und übernachten konnten. Einige Tage danach, nachdem ich den Brigadier kennengelernt hatte, war ich schon bei ihm auf der Farm, und fast alle Mitglieder seiner Brigade besuchten mich anschließend, auch ihre Frauen. Sie »übernahmen eine Art Patenschaft« für mich, und ich (in gewissem Sinne) auch für sie. Ich befreundete mich nun auch mit mehreren jungen kasachischen Familien. Meine nächsten Nachbarn waren Nadja und Sirpaj Kystaubajew, die mich immer wieder zu einem Besuch einluden. Manchmal half ich auch Sirpaj bei seiner Arbeit im Haus und sie teilten mit mir die Milch, Butter und andere Lebensmittel. Später ließ sich nicht weit entfernt von mir das junge Ehepaar Anja und Umirshan Kalijew nieder, die ebenfalls meine Freunde wurden. Ich kam auch immer näher zu meinem Arbeitskollegen Bukenbaj und seinen Freunden, über die ich später noch mehr erzählen werde. Durch diese Familien lernte ich die kasachischen Alltagsbräuche kennen, die ich zuvor nicht kannte. So hatte ich etwa keine Ahnung, dass die Kasachen ihre Frauen anders ansprechen als die Männer. Später schrieb ich darüber im Scherz meiner zukünftigen Frau Ljuba: 15. September 1985: Assalam aleikum Ljuba! Oder, genauer: Salam berk! Die Kasachen sprechen die Frauen genauso an und zeigen damit offensichtlich, dass das Kaiserliche dem Kaiser und das Weibliche den Männern gehört. Dieses Prinzip gefällt mir sehr, sodass ich mich am Hinterkopf kratze, wie es auch in der Ukraine eingeführt werden könnte. Doch das macht nichts, in dreieinhalb Jahren wird mir schon etwas einfallen.

454 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Alle diese Bekanntschaften verblassten aber, wenn meine Liebsten, meine Mutter und meine Schwester Nadijka, bei ihrem »unreifen Früchtchen« waren. Meine Mutter kam bereits am 25. Juni ein erstes Mal zu mir, allein und für einen ganzen Monat, obwohl es eigentlich gemeinsam mit Nadijka geplant gewesen war. Doch mein Schwesterlein wurde krank und hatte immer Fieber, weshalb es für die beiden klar war, dass es unvernünftig sein würde, ihre Gesundheit für mich zu riskieren und in unsichere Umstände zu kommen. So tauchte dann nur meine Mutter in meiner Bude auf und nahm sich mit echter mütterlicher Fürsorge der Einrichtung meines Alltags an. In diesem Sommer war die Hitze unerträglich. Im Sowchos traf sogar eine Warnung per Telegraf ein, im Verlaufe einer Woche müsste man eine Temperatur von +50 °C erwarten. Bis heute sehe ich das rot angelaufene Gesicht meiner Mutter vor mir, die munter das Wasser vom Brunnen, der dreihundert Meter entfernt war, zu mir trägt, oder wie sie die Fliegen und Mücken von ihrem Sohn verscheucht, nachdem ich nach einem schweren Arbeitstag wunderbar gegessen hatte und mich anschließend auf mein Bett fallen ließ, um ein kleines Nickerchen zu machen. Trotz allem erwarteten wir Nadijka weiter und rechneten so mit ihrer baldigen Ankunft, wozu ich sie voller Humor in meinen Briefen einlud: 9. Juli 1984: Nicht nur wir erwarten dich – das halbe Dorf Saralshyn weiß bereits, dass Slawik seine Schwester erwartet und die Gänseriche schauen immer wieder nach, ob ihr Liebling schon angekommen wäre. Die geschorenen Schafe kommen alle Abende in der Hoffnung zu mir, wenigstens nur deinen Pelzmantel zu erblicken, blöken traurig und fressen dann die Schalen auf, die unsere Mutter ihnen über den Tag zubereitete. Die Mücken singen eine ganze Arie voller Sehnsucht, wenn sie unser Blut riechen. Zum Glück dirigiert sie dann meine Mutter gekonnt mit ihren Händchen weg, damit ihre Arie kein festliches Ende findet: ›Da habt ihr es, ihr Schweinebande!‹ Kurz gesagt, die ganze Menschheit und die Schöpfung warten auf dich …

Bereits am Tag nach ihrer Ankunft erlebte meine Mutter eine kleine Szene, durch die sie von der erwähnten »Patenschaft« der Tschetschenen erfuhr. Sultan Sakijew näherte sich ihr und wollte sich mit ihr bekannt machen. Seine großen Zimmermannsaxt, die an seinem

UNTER DEN KASACHEN 455 Gürtel befestigt war, schwang hin und her, und er sagte ganz überzeugt: »Mütterchen, mach dir keine Sorgen. Niemand wird deinen Sohn beleidigen können. Wenn es sein müsste, kriegt er es mit uns zu tun!« Eines Tages empfing mich meine Mutter aber nach der Arbeit in völliger Panik: Kaum hatte sich der Sohn von den Politischen getrennt, gerät er schon wieder in die Hände von Banditen mit ihren Messern! Lange ließ sie eine gewisse Angst nicht los, bis sie sich schließlich auch in diese aufrichtigen Menschen verliebte. Schon bald lernte meine Mutter auch einige Kasachinnen vor Ort kennen, die im Unterschied zu mir, bald und einfacher mit ihr in Kontakt kamen. Sie fuhr auch einmal nach Klyniwka (ein etwas weiter entferntes Dorf, das zudem überwiegend ukrainischsprachig war), um dort die nötigsten Produkte einzukaufen. Sie half mir auch, in den Wagen umzuziehen, und diesen für den Alltag einzurichten. So verging der Monat wie im Fluge und meine Mutter musste bereits in die Ukraine zurückkehren, da Nadijka immer noch fieberte und die Liebe und Hilfe der Mutter brauchte. Da ich nun mein neues Zimmer bekommen hatte, begann ich es voller Begeisterung, einzurichten, wobei mir einige der Kasachen halfen, und ebenso einige Tschetschenen und Dagestaner. Damals war ich bereits 35 Jahre alt und hatte endlich eine erste eigene Wohnung, mein eigenes Nest. Ich beschieb es Ljuba so: 15. August 1984: Das Zimmer umfasst eine Fläche von zwanzig Quadratmeter und ist ziemlich hoch. Die Decke ist aber ›kasachisch‹, also ohne Verputz. Der Fußboden liegt auf dem Erdboden, nur mit Ruberoid bedeckt. Der Ofen geht über die ganze Wand. Damit werde es im Winter schön warm, so wurde es mir jedenfalls gesagt. Es gibt nur ein kleines Fensterchen. Man könnte es vielleicht verbreitern, aber ich werde es nicht tun. Ich sehe ja durch dieses Fenster nicht auf den tosenden Dnipro, sondern nur auf Sandwolken. Hätte ich dieses Zimmer ab in Kyjiw bekommen, wäre ich unendlich glücklich. Ich bin zufrieden, habe immerhin meinen eigenen Bereich – im Unterschied zu meinen Kollegen, die irgendwo in einem Lager hausen müssen.

3. Meine Wohnung in der Verbannung Ich schlief damals auf einer eigenhändig zusammengenagelten Bretterpritsche (natürlich mit Matratze und Bettzeug). Für

456 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT eventuelle Gäste bereitete ich zwei Metallbetten mit Matratzen vor. Meine Haushaltssachen waren auf einem ebenso selbstgefertigten Wandgestell untergebracht. Über den Schrank schrieb ich an meine Verwandten: 25. Februar 1985: Über mehrere Tage schrieb ich keine Briefe, da ich mir gerade einen Schrank baute. Nun kann ich euch stolz mitteilen: Er steht in einer Ecke, ist ziemlich hoch, schmal und schwer, weshalb ihn wohl nur sein Erbauer wirklich mag. Aber alles, was ich wollte, passt hinein.

Da immer wieder Stroh von der Decke rieselte, besorgte ich mir eine durchsichtige Folie und befestigte sie an der Decke, wobei mich meine neuen Freunde unterstützten. Das nützte wunderbar. Das Lob für meine Idee verbreitete sich rasch im Dorf und Scharen von Leuten aus dem ganzen Dorf kamen, damit sie von mir lernen konnten. Einer der Kasachen, der mich besuchte, sagte völlig begeistert: »Bei dir sieht es wirklich aus wie in einem Restaurant.« Zuerst gehörte mir in meinem Häuschen nur ein Zimmer, ich konnte aber später und unter anderen Umständen immer mehr Raum für mich gewinnen. Wenn ich wie in einem beschleunigten Film durch die Ereignisse blättern würde, sähe das so aus: Oktober 1984

November 1984 April 1985

September 1985 November 1985 Mai 1986

Es kam eine kleine Küche hinzu, in der ich den Gasherd (Gas holte ich in Gasflaschen), Tisch und ein Regal für Geschirr platzierte. Ich setzte einen zweiten Rahmen in beide Fenster und brachte ein Gitter an. Baute eine Fernsehantenne auf und kaufte mir ein Fernsehgerät. Trennte einen Teil des gemeinsamen Korridors durch eine Wand ab, damit ein separater Korridor mit getrenntem Eingang entstand. Stattete ihn aus mit Regalen für die Lagerung von Lebensmitteln und Haushaltsgegenständen. Setzte eine neue massive Eingangstür ein, ohne Ritzen. Kaufte mir ein Kühlschrank. Versetzte die Toilette an eine andere Stelle. Vorbau abgeschlossen, um Wärme im Raum zu halten (Dach aus Schiefer, Wände aus Dachpappe). Zäunte zusammen mit dem Nachbarn einen Teil des Wegs mit einem Schieferzaun ein; richtete einen gemütlichen, kleinen Hof vor dem Haus ein. Trug Erde auf vor dem Küchenfenster für ein Blumenbeet, pflanzte Blumen. (»Wozu das?«, fragte ein Kasache)

UNTER DEN KASACHEN 457 Juni 1986

September 1986

Baute mir im Hof neben dem Blumenbeet einen kleinen Tisch und zwei Bänke zum Ausruhen. »Duschkabine« aufgestellt (Behälter mit Wasser, wird erhitzt von der Sonne). Richtete mir in einer heruntergekommenen Scheune in der Nähe ein kleines Zimmer ein. Als mein tschetschenischer Freund Adam es sah, scherzte er: »Nun ist es höchste Zeit, dich in die Ukraine zu entkulakisieren« (hat buchstäblich in die Glaskugel geguckt, da ich ein halbes Jahr später in meine Heimat »entkulakisiert«, bzw. »abgeschoben« wurde).

Meine Mutter und Nadijka teilten natürlich meine Freude, in meinem eigenen Häuschen zu wohnen und halfen mir, so gut sie es konnten. Nadijka unterstützte mich jeweils mit Geld und Paketen, meine Mutter sah es als ihre Aufgabe an, zwischen der Ukraine und Saralshyn hin- und her zu pendeln und mir behilflich zu sein. Sie war es auch, die mir einen eigenhändig gestickten Kelim (Teppich), die nötigsten Haushalts- und Küchengegenstände, einen künstlichen Weihnachtsbaum, ein Akkordeon und gegen Ende meiner Verbannung, auch einen Fotoapparat und Zubehörteile für die Fotografie brachte. Das Wichtigste aber, was sie taten, war: dass sie jedes Jahr mein Häuschen durch ihre Anwesenheit heiligten. Zum ersten Mal gemeinsam kamen sie im September 1984. Nadijka hatte immer noch Fieber, wagte es aber trotzdem, zu mir zu fahren. Sie sehnte sich sehr, mich endlich wiederzusehen. Die nächsten Jahre waren sie für eine längere Zeit bei mir, jeweils während der Sommerschulferien. Sie beide waren es auch, die die anfängliche Skepsis oder sogar unfreundliches Verhalten der Behörden mir gegenüber vollständig überwinden konnten. In den ersten Wochen wurde ich als ein besonders gefährlicher Staatsverbrecher wahrgenommen, der von der Miliz zum Ärger der Leute hierhergebracht wurde. Als dann meine Mutter und Nadijka kamen, war ich im Dorf bereits eine Person, die von zwei hübschen ukrainischen Mädels unendlich geliebt wurde. Wenn sich eine Mutter und eine Schwester so sehr und selbstlos um mich kümmerten, konnte ich unmöglich ein völliger Abschaum sein ohne eine Familie und zugehörige Sippe. Meine beiden Verwandten gaben mir durch ihr aufopferndes Verhalten in den Augen der Bevölkerung von Saralshyn eine menschlichere Dimension.

458 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Schon beim ersten Besuch summte es in unserem kleinen Zimmer fast wie in einem Bienenstock von den zahlreichen Gästen und wir drei wurden von den Kasachen als auch den Tschetschenen zu ihnen nach Hause eingeladen. Hier zwei lustige Geschichten, um sich etwas den Geist dieser besonderen Gastfreundschaft vorstellen zu können. Die Hauptfigur war immer mein Schwesterlein, die damals in der Blüte ihrer weiblichen Schönheit stand. Ihre Aufrichtigkeit und Herzlichkeit im Umgang mit den Menschen und ihr professionelles Talent als Pädagogin machten sie sofort zum Zentrum aller Gespräche und Unterhaltungen. Eine angesehene kasachische Familie lud uns einmal zu sich als Gäste ein. Ihre Kinder kannten bereits die Lehrerin Nadijka und vergötterten sie. Das Hauptgericht war natürlich Bischbarmak, ein Gericht aus Teig und Hammelfleisch. Zuerst musste aber ein Ritual für die Gäste durchgeführt werden: Das hieß, einer der Ehrengäste musste den »Hit« der kasachischen Kochkunst kosten: die Nasenspitze eines Lammes. Als Ehrengast wurde Nadijka ausgewählt. Meine Leser sollten die Bandbreite der Emotionen sehen können, die sich auf ihrem Gesicht spiegelte, als sie ihre ehrenvolle Aufgabe erkannte und sie schließlich auch erfüllte! Einige Tage später waren wir von Tschetschenen eingeladen. Bereits nach dem reichlichen Essen begann bei ihnen das Ritual ihrer Gastfreundschaft: die Lesginka, die die Tschetschenen sehr temperamentvoll tanzen. Sie betrifft hauptsächlich die Männer – die Frauen haben es leichter: Sie schweben graziös um die Männer und wedeln dabei mit Tüchern. Die Männer dagegen werden voll gefordert. Der schon erwähnte Sultan nahm sein Akkordeon in die Hand (er spielte einfach fantastisch) und mein Freund Sibirbek forderte meine Schwester zum Tanz auf. Zuerst fühlte sie sich noch unsicher, aber dann beherrschte sie immer mehr dieses leichte Schweben im Tanz und wedelte mit ihrem Schal. Der Tanz ging fünf Minuten, zehn Minuten … Nadijka zog immer noch herum, Runde um Runde … mein Sibirbek lief bereits blau an. Plötzlich ging dann eine Tschetschenin zu Nadijka und flüsterte ihr ins Ohr: »Die Tschetschenen haben die Tradition, dass die Frau, nicht der Mann, den Tanz beendet.« Nadijka sagte verwirrt: »Ach so!« und beendete den

UNTER DEN KASACHEN 459 Tanz, Sibirbek schnappte mit letzter Kraft nach Luft und war glücklich, dass seine männliche Ehre gerettet war. Egal, wie schön es zusammen auch war, der Abschied musste kommen, dieser Augenblick tiefster Trauer. Mutters Gesicht wurde immer länger, das Lächeln von Nadijka angespannter. Nichts vermochte uns vor der Wehmut des Abschiedes zu retten. Manchmal aber sandte uns der Himmel gerade zur richtigen Zeit gewisse rettende Umstände: Wir hatten schon das Haus verlassen und machten uns auf den Weg zur Bushaltestelle nach Aktjubynsk, in uns bedrückt und traurig: Wir schwiegen einfach, damit unsere Stimme nicht brach und wir unsere Gefühle nicht verraten mussten. Wir wanderten dem Sand entlang und plötzlich tauchten wie aus dem Nichts drei Schafböcke vor uns auf. Sie liefen uns in dieselbe Richtung voraus und wackelten dabei furchbar komisch mit ihren runden Hinterteilen. Die Botschaft war so offensichtlich, dass wir uns buchstäblich vor Lachen kugelten. Wie traurig es in unsrem Herz damals auch war: Die ganze Trauer verschwand vor diesem besonderen Trost Gottes. Nach der Abreise meiner Verwandten kam aber immer wieder jemand mindestens für eine Minute bei mir vorbei und stellte die traditionelle Frage: »Bist du denn nicht traurig? Lass es doch sein!« Das bewegte mich sehr, da ich mich nun endlich im Kreis von Saralshyn als »einer von ihnen« aufgenommen fühlte, was es leichter für mich machte. Nun war es leichter geworden für mich, unter ihnen zu leben, ein neuer Friede trat in meine Seele ein, der in einem Brief an Ljuba gut zu spüren ist: 7. Oktober 1984: Er geht mir gut, Ljuba. Endlich habe ich eine sehr ruhige Wohnung, für die ich selbst sorge, eine gute Arbeit und gute Menschen um mich herum … Du siehst also, meine Stimmung ist gar nicht so schlecht, was ich bestimmt meiner Mutter und Nadijka mit ihren glücklichen Händen verdanke. Als sie weg waren, erlebte ich keinen einzigen Tag, an dem ich wütend wurde, wenn wir die Wehmut am Tag des Abschiedes nicht mitzählen.

Nun war es sehr angenehm, in einem so abgelegenen kasachischen Dorf mit seinem patriarchalen Stil zu leben. Das Schicksal meinte es offenbar doch gut mit mir, was mir vor dem Hintergrund der schlimmen Nachrichten über die Situation anderer politischer

460 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Häftlinge und Freunde sehr deutlich bewusstwurde. Mykola Matusewytsch z.B. hatte es in der Verbannung in der Oblast Tschita viel schwerer, er lebte unter heruntergekommenen Russen. Wasyl Stus wurde in einem Arbeiterwohnheim in Magadan unter versoffenen Kriminellen untergebracht, die ihn mutwillig belästigten. Die Beschreibung seiner Umstände in der Verbannung, die Oksana Meschko später verfasste, beeindruckte mich sehr: Man transportierte mich unendlich lange und ich wurde dann in Ajan, in der Region Chabarowsk, abgesetzt und in einer Hütte einquartiert, die einmal Jakuten gehörte: eine Hütte, fünfhundert Meter vom Ochotsker Meer entfernt. Alle Winde bliesen da gegen mich. Ein Schneesturm tobte eine Woche lang. Der Wind riss die Stromleitungen um, sodass ich wochenlang im Dunkeln blieb und das Haus nicht verlassen konnte. Sich zur Strasse durchzuschlagen war eine richtige Heldentat. Ich wusste zunächst nicht, wie ich das schaffen sollte, fand aber später einen Weg, mich retten zu können: Ich zog mich an bei Schneesturm oder Schneegestöber, ging hinaus, stampfte den Schnee fest, bis ich müde wurde, ruhte mich dann etwas in der Hütte aus und stampfte den Schnee weiter. Auf diese Weise baute ich mir einen Tunnel von 35-40 Metern, von der Türpforte bis zur Straße hin.172

In demselben Jahr 1984 bekam ich auch von Mykola einen schrecklichen Brief: Ich bin gerade noch am Leben. Diese Behauptung trifft zu, obwohl es eigentlich keinen Grund dazu gibt. Leider ist es kein unangebrachter Witz. Ein andermal mehr darüber. Es ist alles noch noch zu frisch für mich. Ich staune aber über meine Ausdauer […]. Mein Lichtblick ist auf dich gerichtet …

Was damals genau vor sich ging, kann ich mir bis heute nicht erklären. Solche und ähnliche Nachrichten aus anderen Orten der Verbannung erzeugten in mir dieses schwierige Gefühl, dass sich am bestem mit einem Satz aus einem meiner damaligen Briefe erklären lässt: »Wieder ist ein weiterer Tag des gestohlenen Glücks und des Friedens vergangen. Und was wird wohl morgen sein?« Neujahr 1985 nahte und meine Mutter reiste unermüdlich zwischen Drohobytsch und Saralshyn hin und her, um das Leben ihres Söhnleins zu erleichtern. Mitte November kam sie bereits das dritte Mal für eine ganze Woche, um mir den bereits erwähnten 172 Ich gebe nicht nach! Zum 100-jährigen Geburtstag von Oksana Jakiwna Meschko, S.275.

UNTER DEN KASACHEN 461 gestickten Kelim und weitere Haushaltsgegenstände zu bringen. Sie kam für mich völlig unerwartet und hatte mich nicht einmal im Voraus gewarnt; die mütterliche Liebe überwältigte mich völlig. Sie kam, um ihren Geburtstag am 22. November gemeinsam mit mir zu feiern. Nadijka schrieb ich dann: 13. November 1984: Wieder einmal wurde mir klar, dass du und Mama besser seid als ich: freundlicher, hingebungsvoller. Vielleicht wirkte sich das auch auf meine Stimmung aus. Ich habe Mama kein Geschenk gekauft. Es gibt hier absolut nichts …Wo immer ich im Haus hinschaue, was ich in die Hände nehme, überall sehe ich eure gütigen Augen und den vorwurfsvollen Blick meines Gewissens. Oh, sei still, du Ekelhaftes!

Bereits Ende Dezember wartete ich wieder auf meine Mutter, da sie es sich nicht vorstellen konnte, mich während meines ersten Weihnachtsfestes in der Verbannung allein zu lassen. Sie musste ihrem Sohn doch unbedingt einen Weihnachtsbaum bringen, wenn auch nur einen künstlichen und ohne Geruch, aber immerhin einen Weihnachtsbaum (noch heute haben wir ihn. Ich schmücke ihn immer zu unseren Neujahrs- und Weihnachtsfesten, nicht nur unseren Diduch). Den Moment ihrer Ankunft beschrieb ich Nadijka mit den folgenden Worten: 2. Januar1985: Unsere Mutter kam am Montag ungefähr um 15 Uhr. Ich hatte mir einen freien Tag genommen. Die Kinder benachrichtigten mich sofort, als Mutter angekommen war. Der Bus hielt nicht weit entfernt von der Wohnung, womit sie bereits nach wenigen Minuten im Pelzmantel mit ihren Taschen in meiner Küche stand … Es stellte sich dann heraus, dass ihr Tschetschenen begegnet waren. Sibirbek und Sultan fuhren an diesem Tag mit dem Bus in die Gegenrichtung und hielten unterwegs beide Busse an. Sie stürmten dann wie ein Wirbelwind in den Bus, wo meine Mutter saß, um die ›Mama‹ zu begrüßen. Kannst du dir den Schock im Bus vorstellen?

Neujahr feierten wir beide vor dem neuen Fernseher, auf dem der Weihnachtsbaum von meiner Mutter mit dem von ihr mitgebrachten Baumschmuck stand. Mein Geburtstag (4. Januar 1985) war ziemlich ungewöhnlich. Said kam und wandte sich mit einer Bitte an mich. In seiner Brigade gab es mehrere Lohnarbeiter, die keine Tschetschenen waren. Es waren hemmungslose Leute, die sich an den wichtigen Fesstagen völlig betranken und danach randalierten. In diesen Neujahrstagen

462 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT gab es wieder einmal eine Schlägerei - und ein Weißrusse wurde mit einem Messer erstochen. Natürlich bekamen die Tschetschenen damit großen Ärger, besonders mit dem Brigadier der Miliz. Es gab aber auch noch ein anderes Problem: Wer könnte die Beerdigung übernehmen? Die Mutter des Weißrussen war bereits informiert worden und reiste an. Die Tschetschenen konnten es aber nicht akzeptieren, dass er ohne irgendein Gebet begraben werden müsste. Deshalb kamen sie zu mir als dem einzigen Christen im Bezirk mit der Bitte, am Sarg die üblichen Gebete zu lesen und ihn damit »ordentlich« zu beerdigen. Ich konnte ihnen diesen Wunsch unmöglich abschlagen, obwohl ich zuvor noch nie die Aufgabe eines Diakons oder eines einfachen Helfers während einer Beerdigung erfüllt hatte. Ich sah mir die Bibel durch, die ich zum Glück damals schon hatte (ein Geschenk von Jewhen Swerstjuk), und fuhr dann mit den Tschetschenen zum weit abgelegenen Friedhof der Farm, wo wir miteinader das Grab aushoben. Und ich führte zum ersten und wohl zum letzten Mal in meinem Leben eine Begräbnisliturgie durch: Ich las mehrere Gebete, sang »Gott erbarme dich« und »Ewiges Gedenken« und bat Gott mit aufrichtigem Herzen, sich dieser sündigen Seele anzunehmen, und bemühte mich damit um sein Heil. Die Mutter des Weißrussen war mir dafür sehr dankbar, dass ihr Sohn nicht ohne ein Gebet beigesetzt werden musste. Danach kehrte ich wieder nach Hause zurück und wunderte mich über die Unergründbarkeit der Wege, auf die Gott mich damals führte. Bald danach begannen die stillen Tage Gottes. An Heiligabend konnte ich nach sieben Jahren wieder gemeinsam mit meinem Mütterchen die Koljadky mit den wunderbaren galizischen Weihnachtsliedern singen und einen weihnachtlichen Borschtsch mit Uszka (»Öhrchen«), Maultaschen und Kutja genießen. Unser Leben war für einmal wieder wolkenlos und ich zwitscherte darüber glücklich fröhlich in meinem Briefen an Nadijka. Mein damaliges Zwitschern hatte zwar keine hohe gesellschaftliche Bedeutung, aber ich möchte es trotzdem mit zwei Passagen veranschaulichen –

UNTER DEN KASACHEN 463 und schaut dann selbst, was ihr damit macht. Vielleicht berührt es irgendeine Seele, die für die Magie einer solchen Liebe empfänglich ist: 16. November 1984: ›Mutti‹ beginnt auf ihre Art zu schalten und walten. Sie legt Sachen an die falschen Stellen, wo sie nicht hingehören, und schafft es nicht, mir einen Löffel oder Tee zu reichen, wofür sie vom Söhnlein eine verdiente Ermahnung erhält. Wie soll ich mich nicht aufregen, wenn Mama es darauf anlegt, in denselben Latschen in mein Zimmer zu kommen, in denen sie durch die schmutzige Küche geht. Es gibt doch spezielle Pantoffeln für das Zimmer, die aus Filz genäht und für das Gehen auf Filz bestimmt sind. Es ist einfach grauenhaft! […] Kurzum, es begann ein für mich angenehmer und glücklicher Alltag. Es fehlte uns nur noch ein Vögelchen (d. h. Nadijka), damit das Marynowytsch-Zwitschern vollstimmig und vollkommen ertönen würde. 15. Januar 1985: Nadka, rette mich! Mama zwingt mich, eine Granate zu essen. Sie möchte, dass ich explodiere! Es hat mich auch so schon gut genug aufgerieben, dass ich nicht mehr in den Spiegel passe, wenn ich mich rasiere! Aber bei wem müsste ich mich denn wirklich beklagen? Beim leiblichen Schwesterlein, das seinem lieben Brüderlein genau diese Granate [Granatapfel] sandte? Oh, was für ein Verdruss!

Meine Freude darüber, meine Mutter in der Nähe zu haben, gute Arbeitskollegen und gute Freunde zum Reden zu haben, war so groß, dass ich irgendwann zu vergessen begann, wo ich mich eigentlich befand. Dann besann ich mich aber wieder: 1. Februar 1985: Habe ich wieder neue Hoffnungen? Wahrscheinlich nicht. Zumindest gibt es dafür keine klar definierten Aussichten. Dafür blieb mir die Ernüchterung und das Bewusstsein dessen, was ich beinahe vergessen hätte: Es wäre fatal, wenn ich ein anderes Schicksal wollte als mein eigenes. Mit meinem Schicksal bin ich ganz zufrieden: ›pas de problème‹.

Das Schicksal hielt aber wieder neue Geschenke und neue Prüfungen für mich bereit. Nicht nur Gott erinnerte sich an uns, das Böse vergaß uns auch nicht.

464 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT

4. Im Kaleidoskop von Verlust und Gewinn An den Herbst 1984 erinnere ich mich vor allem durch die vielen schmerzlichen Verluste meiner Brüder.173 Kurz nach meiner Ankunft in Saralshyn erfuhr ich aus Briefen, dass einige Tage nach unserer Begegnung Oleksa Tychy in Perm verstorben war. Es wurde zudem bekannt, dass Borys Dmytrowytsch Antonenko-Dawydowytsch in die Ewigkeit eingegangen war. Anlässlich dieser Begebenheit schrieb ich an Ljuba: 15. August 1984: Der Verlust von Borys Dmytrowytsch schmerzte mich sehr. So gerne hätte ich noch einmal, wenn auch nur für einen Tag, bei ihm sitzen wollen und mit ihm reden. Er verstarb gerade dann, als ich im Übergangsgefängnis von Aktjubynsk sehr leiden musste (das waren harte fünfzehn Tage!). Nun müssen wir die schönen Erinnerungen an ihn bewahren.

Dann kam der 25. Oktober, als ich aus einem Brief von Jewhen Swerstjuk vom Tod von Walerij Martschenko, unserem Blutsbruder aus dem Lager 36 erfuhr. Ich schrieb an meine Verwandten: 25. Oktober 1984: Als ich die Briefe las, musste ich fast weinen. Hier ein Satz aus Yevhes neuem Brief: ›Am Mariä Schutz und Fürbittenfest wurde in der Fürbitten der Kirche am Zinksarg ein Trauergottesdienst für Walerij abgehalten. Bei diesem Anlass reagierte ich allergisch auf die bunten Herbstblumen. Unterdessen ist wieder ein Jahr seit meiner Entlassung aus dem Lager vergangen. Wie viele neue Nägel wurden inzwischen wieder in mich geschlagen! ›Walerij, das konnte ja nur der Martschenko sein‹ und meine Hände fielen einfach herunter. Ich ließ die ganze Hausarbeit liegen und setzte mich hin, um Briefe zu schreiben, da meine Seele seufzte. O Gott, du hast einen so wunderbaren Menschen zu dir genommen! Was ist das für eine Plage … Ach, ich mag einfach nicht mehr …

Ich schrieb nicht nur Briefe, sondern auch ein Gedicht. Denn der Tod eines großen Märtyrers braucht wirklich große Worte. Den gefallenen Freunden aus dem Lager zog der Tod die Wyschywanka an. Sein Abbild sind die Kreuze an den Häusern der Bartholomäus Nacht. geschmückt wird sie mit tiefen Abgründen, dort, wo das wahre Wort gestanden hat. 173 Oleksa Tychy starb am 5.05.1984, Jurij Lytwyn am 5.09.1984, Walerij Martschenko am 7.10.1984. Wasyl Stus starb ebenfalls im Herbst, am 4.09.1985.

UNTER DEN KASACHEN 465 Und bei den hohen Gräbern zwischen den Farben reifen Roggens und dem Himmel Erstreckt sich diese schwarze Walze dahingerafften Lebens. Trauert das Stoppelfeld mit einem Nachruf der Lebenden, Und die Hingeschiedenen schrieben das Vorwort zu Ende. Der Tod benutzt dieselbe Sense, wie der Landmann. Und Beide sind die reinste Ziffer ›sieben‹. Ihr, Freunde, verschmolzen mit dem Puls des Universums. Ihr seid erloschen, damit dort keine Seele mehr aufflammt. Von Jahr zu Jahr vereint die Erde in den Gräbern immer wie uns vertraute Brüder … Auf dieser Erde bin ich geworden ein Fremder unter den Menschen, das Herz bedeckt von schützend Ähren: ›Töte sie nicht! Mähe sie nicht!‹ Und zieh deine Wyschywanka aus, Tod, Nun zieh sie aus!

In diesem Herbst hielt das Schicksal mir noch eine andere Überraschung bereit. Eines Abends hörte ich ein Klopfen an der Türe. Ich öffnete und vor mir stand eine Frau und fragte nach Myroslaw Marynowytsch. Es stellte sich heraus, dass es die Litauerin Monika war, ein Gemeindemitglied des Priesters Alfonsas Swarinskas aus dem Dorf Vidukle. Sie kam, um nachzufragen, wie es ihm ergehe, und erfuhr dann, dass ich zusammen mit ihm im Lager 36 gewesen war. Ich war fassungslos über den Mut dieser noch recht jungen Frau: Sie fährt zu einem völligen Fremden in eine weit entlegene kasachische Provinz, in der Gewissheit, dass der Status eines Dissidente in der Verbannung eine ausreichende Garantie für seine Moral sein müsste! Sie hatte die Überzeugung, dass der himmlische Herr sie in der Not niemals verlassen würde. Natürlich quartierte ich sie sofort ein und gab ihr auch zu essen. Dann erzählte ich ihr alles über ihren geliebten Gemeindepfarrer, was ich wusste.

466 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Als Erinnerung an diesen Besuch bewahre ich immer noch ein Holzkreuz auf, das sie mir damals geschenkt hatte und brachte es sofort über meinem Bett am Kopfende an. Seither begleitet es mich weiter überall dorthin, wo ich gerade zu Hause bin. Später schickte mir Monika auch mehrere Pakete aus Litauen. Deshalb halte ich sie bis heute in dankbarer und herzlicher Erinnerung. Bald darauf spülten die Herbstregen wieder einmal die Wege weg und rissen auch die Brücke über den Fluss Uil fort, über die man ins Zentrum des Rayons gelangen konnte, was für mich mit einer ziemlich lustigen Gelegenheit verbunden war. Da der Lastwagen aus Aktjubynsk die Brücke nach Uil nicht überqueren konnte, musste er seine ganze Ware im Laden in Saralshyn ausladen: Es war ein ganzer Berg von Pepsi-Cola-Flaschen, die seit kurzem in der UdSSR gekauft werden konnten. Zuvor hatte ich nur von diesem besonderen Getränk gehört, nun aber hatte ich das große Glück, es auszuprobieren! In meiner Freude kaufte ich dann noch mehr und gewöhnte mich so sehr an dieses tonisierende Getränk, dass ich Angst hatte, in den Laden zu schauen, um nachzusehen, ob es etwa schon ausverkauft worden wäre. Auf diese Weise bekam ich meinen Anteil an der westlichen Zivilisation … Im Oktober wurde im benachbarten Zimmer unserer Lehmhütte ein weiterer Verbannter einquartiert. Ihor Ruwinow aus Aserbaidschan. Wenn ich mich richtig erinnere, war er wegen Beteiligung an Devisengeschäften verurteilt worden, worüber ich ihn aber nie näher befragte. Er wurde in Saralshyn für Schweißarbeiten eingesetzt. Igor verdanke ich, dass man an meinen beiden Fenstern plötzlich Gitter sehen konnte. Übrigens wäre die mit großem Stolz präsentierte Liste meiner wirtschaftlichen Erfolge viel bescheidener gewesen, wenn es diese Freunde nicht gegeben hätte. Der Gerechtigkeit willen muss ich aber noch eine weitere Liste von Leuten zufügen, zu der einige Tschetschenen und Kasachen gehören: Wacha setzte mir die Türen am Ofen ein, Sibirbek stellte mir den Gasherd auf, Abdul-Kadir besorgte mir die Antenne und Sibirbek und Said halfen mir dann, sie anzubringen. Adam gab mir zu meiner Unterstützung oft einige Arbeiter aus seiner Brigade. Shaken und Husein halfen mir, den Holzfußboden zu verlegen und ihn mit Filz zu bedecken. Und

UNTER DEN KASACHEN 467 Adam half mit, die Wände weiß zu verputzen und damit ist dieses Verzeichnis meiner Wohltäter noch längst nicht erschöpft. Meine Wohnung, die die jungen Leute scherzhaft »Tschetschenen-Stützpunkt« nannten, war oft voller Lärm der Gäste. Die Tschetschenen mussten auch häufig in Saralshyn übernachten, manchmal mit ihren ganzen Familien, da es nicht einfach war, in die weit abglegende Farm rechtzeitig zurückzukehren. Es lohnt sich, von einem Fall noch etwas mehr zu erzählen. Einmal mussten vier Männer und zwei Frauen in meinem Zimmer untergebracht werden. Ich überließ den Frauen mein breites Holzbett und bereitete mir selbst zusammen mit den Jungs einen Platz auf dem Boden vor, der damals schon mit Filz (Koshma) bedeckt war. Plötzlich bemerkte ich, dass die beiden Frauen ganz ruhig wurden und etwas zueinander sagten. Sie wagten es aber nicht, es mir zu sagen. Ich dachte dann einen Moment nach – und es dämmerte mir: Es war etwas über meinem Bett, ds sie zurückhielt! Im Allgemeinen reagierten die Tschetschenen auf die verschiedenen religiösen Symbole in meinem Zimmer gelassen und verständnisvoll; hier aber ging es darum, dass sie in einem Bett zu liegen gekommen waren, über dem für sie ausgerechnet ein Kruzifix hing, und sie dessen unterworfen waren. Die Frauen wussten aber nicht, was sie tun sollten. Ohne eine einzige Sekunde zu zögern, nahm ich dann das Kruzifix ab und beruhigte die Frauen: »Ich habe es verstanden. Seid nicht besorgt, ich zwinge euch meine religiöse Überzeugung nicht auf.« Es erstaunte mich dann, als Ajsa, die Frau von Adam, mir zur Antwort gab: »Nun sehe ich, dass du ein wahrhafter Christ bist.« Damals tat ich diesen Schritt unbewusst, ohne viel zu überlegen. Erst später dachte ich noch weiter darüber nach und es wollte ein Zweifel in meine Seele auftauschen: Würde ich damit Christus verleugnen? In der Bibel steht doch: »Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, der wird verleugnet werden vor den Engeln Gottes« (Lukas 12,9). Aber auch heute meine ich: Ich verleugnete Christus nicht –, ich verzichtete, ihn aufzudrängen, damit bestätigte ich den wirklichen Sinn seiner Worte, auf jede Gewalt zu verzichten. Das spürte diese Muslima ganz richtig.

468 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Heute, nach dreißig Jahren, will ich auch keine weiteren gekünstelte Erklärungen dazufügen. Ich dachte das damals wirklich so, wie es auch eine Passage aus einem damaligen Brief an Ljuba belegt: 8. Juni 1986: Missionarischer Druck ist gar nicht meine Sache. Jemanden vor einem falschen Schritt zu bewahren, das bestimmt es ständig zu fordern, und noch mehr: Es erzwingen zu sollen, entspricht nicht meine Art zu denken, für mich ist das einfach Unsinn.

Mit meiner Erinnerung an Ajsa ist auch ein weiteres Gespräch verbunden, das für mich wichtig war, um etwas mehr über die muslimische Kultur zu lernen. Die Tschetschenen hielten sich stärker als die Kasachen an die religiösen Bräuche. So sah ich öfters, dass sie mit einem Krug in den Händen zur Toilette gingen, um ihre Verpflichung zur rituellen Waschung zu erfüllen. Als ich bei ihnen auf der Farm war, beobachtete ich auch, dass sich die Frauen nie an den Tisch setzten, wenn ihre Männer am Essen waren. Als die Tschetschenen dann aber zum ersten Mal mit ihren Frauen in meinem Haus auftauchten, sagte ich sofort: »Ich pflege in meinem Haus christlichen Bräuche und werde eure nicht getrennt verpflegen. Deshalb lade ich alle gleichzeitig an den Tisch ein.« Die Tschetschenen akzeptierten dies und es gab damit keine Probleme. Als ich einmal allein mit Ajsa zu Hause war, drehte sich unser Gespräch irgendwie um Frauenthemen. Ich wusste schon, dass sie sich bewusst war, dass ihr Mann noch andere Frauen hatte. Sie kannte sogar ihre Namen. Sie nahm das alles mit stoischer Ruhe auf ihre muslimische Art – sie machte seinen anderen Frauen sogar gelegentlich Geschenke. Ohne ins Detail zu gehen, sympathisierte ich von nun an aufrichtig mit den muslimischen Frauen über ihr schweres Schicksal. Eine gutmütige Ironie funkelte dann in Ajsas Augen und sie sagte mir: Mach dir keine Sorgen. Die Frauen bei uns haben andere Möglichkeiten, die Männer zu beeinflussen. Es ist nicht alles so schlimm, wie es erscheinen mag. Mir tun eure Frauen leid, wenn sie die übervollen Einkaufsnetze mit Lebensmitteln vom Markt nach Hause schleppen müssen. Bei uns ist der Mann für die Beschaffung von Lebensmitteln verantwortlich.

UNTER DEN KASACHEN 469 Natürlich könnte heute unendlich darüber gestritten werden. Damals kam bei mir einfach der Gedanke: Die christliche und die muslimische Zivilisation haben unterschiedliche semantische Kerne und verschiedene kulturelle Codes. Deshalb ist es für mich unmöglich, eine Kultur auf der Grundlage der Logik einer anderen zu verstehen. Damals war ich auch sehr vom Akkordeonspiel des Tschetschenen Sultan ergriffen, dass meine Hände wieder »zu kribbeln« begannen. Dabei kamen mir meine Verwandten erneut zu Hilfe: Wie ich bereits erwähnte, brachte meine Mutter das von ihr gekaufte neue Akkordeon im September mit. Von nun an hatte ich mit Sultan einen hervorragenden Lehrer und erlernte von ihm begeistert einige tschetschenische Lieder. Ich war so sehr von dieser Musik ergriffen (und lernte sogar auch den tschetschenischen Text), dass meine Mutter schon befürchtete, ich würde zu wenig ukrainische Lieder spielen. In Wirklichkeit ging es mir aber nicht um einen Verzicht auf das ukrainische Liedgut, sondern um die begeisterte Entdeckung des tschetschenischen Liedes. Ebenso tat ich es auch mit dem kasachischen Liedgut, das ich auch zusammen mit den kasachischen Texten einübte. An dieser Stelle wäre es auch angebracht, von einer anderen Sorge zu erzählen, die meine Mutter hatte: Ob ich denn nicht zu viel Alkohol trinken würde. Das Thema Trinken war für meine Mutter wegen des Alkoholmissbrauchs meines Vaters mit viel Schmerz verbunden. Sie hatte beobachtet, dass meine Begegnung mit den Tschetschenen häufig von Wodkatrinken begleitet war. Das war für sie ein Anlass zu einer großen Besorgnis. Ich hatte mit meinen Freunden zunächst vereinbart, dass ich für mich eine eigene kleine Dosis nehme und diese nicht überschreiten werde. Wenn mich jemand zwingen wollte, wehrte ich mich dagegen. Weitaus schwieriger waren die Situationen, wenn keiner mich drängen wollte und einfach meine Geselligkeit mich anregte, diese Dosis etwas zu erhöhen. Wie gut konnte ich damals den Dichter Taras Schewtschenko verstehen, der ebenfalls freigelassen worden war und immer wieder in fröhlicher Gesellschaft seine Seele auftauen wollte! Wie viel näher kam er mir dann, als ich in derselben kasachischen Steppe war!

470 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Für mich machte ich mir keine Sorgen: Es gefiel mir vor allem aus ästhetischen Gründen nicht, sich betrinken zu müssen. Ich erinnerte mich schmerzlich, wozu die Zügellosigkeit meines Vaters für meine Familie führte. Aber ich war nicht weniger gesellig als mein Vater und gab mich deshalb gerne diesem freundschaftlichen Vergnügen mit Leib und Seele hin. Die Tschetschenen dagegen tranken maßvoll und verloren dabei nie ihr menschliches Gesicht. Ihre Gastlichkeit war ein echtes Vergnügen und keine Sauferei. Da ich bereits über dieses Thema gesprochen habe, möchte ich noch zwei andere Geschichten hinzufügen, diesmal im Zusammenhang mit den Kasachen. Mein Vorgesetzter Klschpaj sagte mir einmal, er werde in einigen Tagen mit seinen Freunden zum Tee kommen und sich ansehen, wie ich mein neues Zimmer eingerichtet habe. Ich schickte also meinen Verwandten ein Telegramm: »Bitte sofort guten Tee schicken!« Als meine Gäste kamen, warteten auf sie verschiedene Sorten Tee auf dem Tisch: aus Indien, Ceylon und China. Ich fragte sie dann voller Stolz, welchen Tee ich für sie aufbrühen dürfe. Sie fragten aber verwundert: »Wo ist denn dein Wodka?« Es stellte sich heraus, dass der Satz »zum Tee kommen«, ein allgemeiner Euphemismus war, der richtiges Feiern bedeutet. Was denn nun? Allen außer mir war das klar … Ich war dann verzweifelt, da ich keinen Wodka auf Vorrat hatte und die Geschäfte bereits geschlossen waren und erlebte eine große Schande. Seither hatte ich immer einen kleinen Vorrat an erstklassigem Wodka in meiner Wohnung … Um die zweite Geschichte zu erzählen, muss ich zum März 1986 springen, als Gorbatschows Antialkoholkampagne bereits in vollem Gang war. Aller Wodka war aus den Geschäften in Saralshyn verschwunden. Bei allen Hochzeiten der Kasachen war es auch kategorisch verboten, Flaschen mit Wodka aufzustellen. Bald einmal traf auch der Befehl ein: Alle Einwohner des Dorfes müssten offizielle Briefe schreiben, in denen sie versprachen, ganz auf Alkohol zu verzichten. Alle Erwachsenen schrieben dann gemeinsam solche Briefe, nur ich … ich weigerte mich, es ebenfalls zu tun, ich allein. Diese blöden Spiele mit dem Staat waren mir einfach zuwider. Zum Glück waren für meinen Status als »Politischer« nicht die lokalen

UNTER DEN KASACHEN 471 Behörden zuständig, und sie kümmerten sich auch nicht um meine Weigerung. Ich bemerkte jedoch bald, dass bei kasachischen Hochzeiten oder anderen Unterhaltungen dieser Zeit Kefir in verschiedenen Zubereitungen sehr beliebt wurden und wie dann jeder für sich schwieg, dass noch eine gute Portion Wodka hineingegossen worden war … Mein damaliges Leben war immer wieder von solchen unerwarteten Abenteuern geprägt. Die Tschetschenen kamen oft überraschend und ohne jede Vorwarnung zu mir. Sie konnten auch noch spätabends zu mir kommen, um bei mir zu übernachten. Damit ich auf diese »Invasion« vorbereitet wäre, versuchte ich immer rechtzeitig Lebensmittel auf Vorrat zu besorgen und etwas mehr zu kochen. Einmal kamen auch einige Tschetschenen mit dem Lkw zu mir und reichten mir über die Seitentüre – ein lebendiges Schaf. Es war für sie eine andere Möglichkeit, mich für die Bewirtungskosten zu entschädigen. Ich hielt das Tier mit Entsetzen in meinen Armen und dachte erschrocken darüber nach, was ich jetzt damit machen sollte: Für mich stand es außer Frage, das Schaf eigenhändig zu schlachten. Die Tschetschenen nahmen dann aber das Schaf wieder mit sich und brachten mir später das fertige Fleisch. Einmal wäre fast ein Unglück geschehen. Ich saß gerade draußen vor dem Haus, als Adam mit anderen Tschetschenen mit dem Auto vorfuhr. Als er näherkam, beschleunigte er das Auto, um mich etwas zu erschrecken. Ich saß aber immer noch da und reagierte gar nicht. Plötzlich sah ich durch die Windschutzscheibe, dass sein Gesicht blass und seine Augen voll Entsetzen waren. Erst als sein Auto plötzlich und wenige Zentimeter vor mir anhielt, dämmerte es mir, dass ich dem Tod nur um Haaresbreite entronnen war. Adam stieg dann aus dem Auto, bleich wie eine Wand, und sagte etwas benommen, dass die Bremse für einen Moment versagte …

5. Alltag und Feiertage im Jahr 1985 Meine Mutter fuhr Ende Januar aus Saralshyn wieder weg und für mich begann wieder der graue Alltag: Arbeit, Haushalt und großer Schriftwechsel. Ich versandte jedes Jahr jeweils 50–60

472 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Weihnachtskarten. Der Februar im neuen Jahr verging vor allem unter dem Zeichen von Ljuba Heina. Zuerst gratulierte ich ihr zum Geburtstag. Ich legte damals ein ganz besonderes Gefühl in den Text der Postkarte: 10. Februar 1985: Meine Freunde, ihr Störchlein, nehmt das Geburtstagskind auf eure Flügel – möge es rasch zu seinem erträumten Glück kommen! Mein Freund, du Apfelbaum, biege deine Zweige zu mir und bewirte mich mit deinen feinen Früchten! Mein Bruder, du Brunnen, lass kühles Wasser fließen, damit mein Durst gestillt und auf ein gutes Schicksal für das Geburtstagskind getrunken werde! Und du, Hexe, altes Teufelsweib, mach dich fort auf dem Weg, fort aus dem Schicksal, damit dein Geist nicht auch in Ljuba sei! Und du, Myroslaw, trockne dich ab, ziehe dich schön an, gibt dir Mühe und küsse das Geburtstagskind mitten auf die Wange! Lang soll es leben!

Als ich diese Postkarte versandte, wusste ich noch nicht, dass am Tag zuvor ihr Vater verstorben war – er war ein langjähriger und von allen verehrter Dorfschuldirektor. Als ich es erfuhr, schrieb ich wieder einen Brief, nun ein Brief der Anteilnahme: 8. März 1985: Quäle dich nicht mit verspäteter Reue: Jeder Mensch. ohne eine Ausnahme, quält sich immer wieder verspätet in seinem Gewissen. Wenn wir selbst einmal Eltern sind, geschieht uns dasselbe im Blick auf unsere Kinder. Gib es in dein Fäustchen und drücke es ganz fest …

Im März entwickelte sich auch die Geschichte mit Oles Berdnyk weiter. Ich hatte bereits von seiner Reue erfahren, nachdem am 17. März 1984 in der Zeitung »Literarische Ukraine« ein Artikel über seine Reue unter der Überschrift »Nach Hause zurückkehren« erschienen war, wo die »Helsinki-Bewegung nur als Produkt des CIA« an Rudenko und Lukyanenko bezeichnet wurde. Wenn in ihnen »wirklicher Mut« stecken würde, hätten sie schon längst diesen Weg des Antipatriotismus und der freiwilligen Selbstisolierung verlassen. Mich schmerzte es, da es der erste (und zum Glück der einzige) Fall eines Verrates unter Mitgliedern der Ukrainischen Helsinki-Gruppe war. So sah eben damals diese teuflische Zeit aus, die manchmal selbst die Mutigsten zerbrechen konnte. In diesem März 1985 sah ich auch zufällig eine Fernsehsendung, an der Oles Berdnyk und der Banduraspieler Lytwyn (offenbar sein Gevatter) teilnahmen. Sie saßen an den Kyjiwer

UNTER DEN KASACHEN 473 Steilhängen des Dnjepr und eine Bandura spielte leise. Oles wiederholte dort seine Worte, die »Helsinki-Bewegung wäre nur ein Produkt des CIA« und »der Westen belog und provozierte uns«. Das aber war zu viel für mich. Noch gut erinnere ich mich, dass ich dann ganz aufgewühlt das Gedicht »Die Grenze« schrieb, da Berdnyk tatsächlich die Grenze des für mich Zulässigen überschritten hatte. Das Gedicht sandte ich an meine Schwester Nadijka: Es gibt viele Straßen auf dieser Welt, aber es gibt nur ein Ende. Das Leben ist wie ein großer Ausflug. Du schaust mit einem schlechten Gewissen zurück, du hast die Sünde bis zum Rande getrunken. Um dein Los vom Schicksal zu erfahren, kannst du erwählen, was du willst: Wenn du nach rechts gehst, gehst du ins Gefängnis, wenn du nach links gehst, gehst du auch dorthin, und strikt nach vorne kommst du auch nicht in den Himmel. Niemand kann dir die Vorgehensweise sagen. Frag nicht die Leute, welche Wahl du treffen sollst. Sie werden dir sagen: »Prinz«, oder werden dir sagen: »Feind«, oder mit dem Finger auf dich zeigen: »Verräter«. Auch im Augenblicke deiner Hinrichtung wird dich die Lüge nicht retten -Reibe nicht die Sünde auf die Seele des Bruders. Such dir Atlantis, Bruder, Dort liegt dein Gewissen. Und dein Ende.

Diese Sendung rief bei den anderen politischen Häftlingen ein ähnliche Raktion hervor, so etwa bei Mykola Horbal: Dann wurde den Häftlingen in einer Zelle für den besonders strengen Vollzug ein Film gezeigt, der das KGB aus der Ukraine mitbrachte: Berdnyk mit einer Bandura in den Händen und in einer Wyschywanka geht oben auf dem Damm am Dnjepr: Der Wind lässt seinen ›Bart des Propheten‹ flattern. Freiheit! ›Und ihr Narren sitzt immer noch dort‹ – das sollte offensichtlich die Mahnung dieses Idioten an uns alle sein. Das konnte auch Berdnyk nicht verleugnen Er verriet absichtlich sowohl seine Freunde als auch unsere Idee. Ja, es war ein Verrat.174

174 Mykola Horbal. Präsentation des Lebens, S.128.

474 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Obwohl ich seine Tat noch heute verurteile, weil sie uns sehr schmerzte, möchte ich nicht nur ihm die Schuld geben, sondern auch dem ganzen System, das ihn zerbrochen hatte. Soweit ich weiß, erlebte Oles Berdnyk danach weitere große religiöse Offenbarungen und glaubte wohl auch, dass er dazu bestimmt gewesen wäre, ein Prophet zu sein. Doch im Vergleich zu ihm war jeder politische Häftling in seiner Zelle im Gefängnis für besonders strengen Vollzug eher ein General als ein gefügiger Soldat einer Armee. Jeder war sich selbst sein Tribun und neigte nicht dazu, den Predigten anderer voller Begeistung zuzuhören, weshalb Berdnyk im Lager das schwere Schicksal eines Propheten ohne Zuhörer fand, oder eines Hirten ohne Herde. Die Strafpresse der Staatsmacht war damals nicht nur repressiv, sondern auf eine satanische Art heimtückisch. Berdnyk, der zu Hause Porträts begeisterter Propheten malte, die Visionen erlebten, wurde in der Zone unter anderem mit der Möglichkeit bestochen, als Künstler zu arbeiten. Das wieder schuf einen weiteren Graben des Misstrauens zwischen seinen Zellengenossen und ihm, da er auch ideologisch gefärbte Dinge malen musste. Oles hatte zudem eine Familie und diese wollte Oles vor seinem Schicksal bewahren, das Beispiel der Standhaftigkeit anderer Familien überzeugte sie offenbar nicht. Hier ist es wohl angebracht, einige Worte von Semen Glusman zu zitieren: In meinem neuen Leben stelle ich mir immer mehr die Frage: Hat ein vernünftiger Mensch das Recht, gegen die Wand anzulaufen und seine Nächsten als Geiseln zurückzulassen? So wie das Stus, Switlytschny, Swerstjuk und viele, viele andere taten. Auf diese Frage gibt es keine klare Antwort, sie ist ein Problem der Moralphilosophie. Nun müssen wir ein Land aufbauen, in dem die Menschen nicht mehr in ihrer Schwachheit auf die Probe gestellt werden. Natürlich begingen damals die Menschen eine Sünde, die am KGB zerbrachen und uns verrieten. Sie wurden aber nicht als solche geboren, doch alle unter uns haben ihr eigenes Maß an Widerstandskraft.

Gott allein vermag das Maß von Gut und Böse zu bestimmen, das von diesem Menschen begangen werden kann. Nicht nur jene waren Opfer des Systems, die hinter Gittern starben, weil sie die Wahrheit nicht aufgeben wollten. Opfer waren auch jene, die zerbrochen und gezwungen wurden, sich dem System unterzuordnen. Deshalb

UNTER DEN KASACHEN 475 ist es mir wichtig, das Gute zu bezeugen, das getan wurde; für die anderen ist dieses Zeugnis vielleicht sogar noch wichtiger. Das Böse ist so laut – es lässt nicht zu, es zu vergessen … Auch die Strafe, die Gott Berdnyk zu Lebzeiten auferlegte, sprach allein schon für sich. Gott, der ihm in vielen religiösen Offenbarungen erschien, hatte ihm wirklich das Talent eines Propheten gegeben. Als Oles aber den Fehler machte und sein Mund begann, Unzucht zu äußern, nahm Gott ihm am Abend seines Lebens – seine Stimme. Berdnyk konnte mehrere Jahre bis zum Tode nicht mehr sprechen und seine Gedanken nur noch schriftlich mitteilen. Wie beredt ist doch das Schicksal! Ab einer bestimmten Zeit begannen bei mir viele Briefe aus der ganzen Welt von Mitgliedern von Amnesty International einzutreffen. Sie nahmen mich wie auch die anderen Häftlinge aus Gewissensgründen unter ihren Schutz und halfen aktiv meine Freilassung zu fordern. Einige Gruppen von Amnesty International erklärten mich sogar zu ihrem »Patensohn«, beispielsweise in der französischen Stadt Avignon. Im Lager wusste ich aber noch nichts davon. Die ersten Briefe erreichten mich erst in der Verbannung, als meine Adresse allen Mitgliedern von AI bekannt gegeben wurde. Heute lässt sich schwer beschreiben, mit welchen Gefühlen die vielen Postkarten aus Europa, Amerika, oder auch Japan für mich verbunden waren. Amnesty International vollbrachte für uns ein großes Werk, indem sie Menschen in der freien Welt dazu aufrief, einen Brief an die Gewissenshäftlinge zu schreiben. Einige schlichte gute Worte vermochten in der Seele der Adressaten einen ganzen Sturm an Emotionen und sogar enthusiastischer Visionen hervorzurufen. Besonders häufig und treu schrieb mir Agnès Erkens aus Avignon. Nach meiner Freilassung lud sie mich einmal ein, sie in Frankreich zu besuchen. Es war meine erste Auslandsreise mit Ljuba. Durch einen dieser Briefe von ausländischem Amnesty-Mitglieder ereignete sich einmal eine lustige Geschichte. Die in lateinischer Schrift adressierten Briefe kamen in Saralshyn immer bei mir an. Später legten die Mädchen auf dem Postamt, ohne darauf achtzugeben, was »nicht in unserer Schrift« geschrieben war, sogar alles automatisch für mich zurück und ich meinerseits öffnete alle

476 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT automatisch. Dabei stieß ich plötzliche auf ein Schreiben von Amnesty-Mitgliedern adressiert … an den örtlichen Sekretär der Partei der KPdSU, damit er sich doch um Myroslaw Marynowytsch kümmern solle und seine schnellstmögliche Freilassung unterstützen möge … Wie in ähnlichen Fällen zuvor gab ich diesen Brief wieder in die Post zurück und war der Überzeugung, die Mädchen würden ihn einfach wegwerfen, da es damals gefährlich gewesen wäre, sich eine ideologisch gefärbte dienstliche Nachlässigkeit eingestehen zu müssen. Das neue Jahr brachte uns wieder neue Prüfungen in Sachen Gesundheit. Meine Mutter hatte sich in Drohobytsch den Arm gebrochen, sodass sie einige Zeit nicht mehr zu mir fahren konnte. Ich selbst fing ebenfalls an, die Ärzte häufiger aufzusuchen: So verging das ganze Jahr 1985 für uns unter dem Zeichen des Äskulaps. Zunächst sah alles harmlos aus: Ein Juckreiz begann mich zu plagen. Die Chefärztin von Saralshyn (es war die, die sich so missbilligend über meinen Zimmerwunsch ausgesprochen hatte), stellte eine schwerwiegende Diagnose: Krätze (Skabies). Also fing ich an, mich mit verschiedenen Salben einzureiben und lag länger in Krankenhäusern herum, in Saralshyn und in Uil, und es wurde eine Bluttransfusion vorgenommen – das alles half mir aber nicht nicht. Nadijka schickte mir schließlich eine Wundersalbe des Kräutertherapeuten Nosal aus Riwne, aber damit geriet ich in ein neues Unglück: Es setzte voraus, täglich alles zu waschen, die Unterwäsche, die Oberbekleidung und das Bettzeug. Vielleicht eine Woche lang hielt ich diese Verordnung aus. Dann ließ ich es wieder sein: Von der ewigen Wascherei fielen mir nämlich fast die Hände ab, denn Waschmaschinen gab es damals noch nicht! All das ergab nur den Effekt: Die Bläschen verschwanden an einer Stelle – und tauchten an einer anderen Stelle wieder auf. Die Episode meiner »Krätze«, die im März begann, endete erst – im November und in demselben Gebietskrankenhaus von Aktjubynsk: in der Sprechstunde bei einem professionellen Dermatologen, der feststellte, dass vor allem die Diagnose falsch gewesen war, und damit natürlich auch die Behandlung. In Wirklichkeit hatte ich keine Krätze, sondern eine gewöhnliche Allergie – und

UNTER DEN KASACHEN 477 Kasachstan war »das Allergen«. Einfache Präparate gegen diese Allergie behoben dann das ganze Problem rasch! Im Saralshyner Krankenhaus war die Diagnosestellung wirklich der Schwachpunkt. Die Chefärztin liebte wohlklingende Diagnosen, die die menschliche Vorstellung beeindrucken konnten. Im Mai hielt sich bei mir auch ein hohes Fieber ohne ersichtlichen Grund: Ich wurde im Sarazhyner Krankenhaus mehrmals sogar ohnmächtig. Die Chefärztin stellte wieder eine schwere Diagnose: Malaria. Deshalb wurde ich unter allen epidemiologischen Vorsichtsmaßnahmen als »dringlich« in das Krankenhaus von Uil gebracht. Zum Glück griff man sich dort mit Blick auf die gestellte Diagnose wieder mit dem Zeigefinger an die Stirn – und nach einigen Tagen ging das Fieber zurück. In diesem Frühling begannen noch weitere Schwierigkeiten: die Entscheidung der »komplizierten« Frage, ob mir die Erlaubnis zu einem Urlaub in die Ukraine gegeben werden könnte oder eben nicht. Im ersten Jahr war mir während eines offiziellen Gespräches mit der Dienstbehörde der Miliz von Uil in Anwesenheit meiner Verwandten gesagt worden, dass ich im Verlauf die ganzen fünf Jahre der Verbannung mit keiner Fahrt in die Ukraine rechnen könnte. Ich verstand, dass es die Entscheidung des KGB war, und machte mir deshalb nie eine Hoffnung. Anfang Mai 1985 wurde mir aber plötzlich angedeutet, eine Fahrt in die Ukraine wäre möglich, und sie sahen sogar eine 50/50Wahrscheinlichkeit. Damit war der Haken ausgeworfen und ich muss mir eingestehen, dass ich ihn anfangs teilweise verschluckte. Sie zauderten aber mit der Entscheidung lange demonstrativ hin und her, bis ich begriff: Es war nur ein Spiel, also beruhigte ich mich wieder. Als mir die Miliz von Uil Mitte Mai mitteilte, dass mir wegen meiner alten Sünden keine Erlaubnis zu einem Urlaub in der Ukraine erteilt werden könnte, nahm ich es sogar freudig an: 14. Mai 1985: Trotz allem kam ich gut gelaunt heraus. Endlich endete meine Ungewissheit. Ich hegte auch keine besondere Hoffnung … Mich wundert, dass fremde Menschen von dieser Verweigerung mehr beeindruckt sind als ich.

478 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Am selben Tag war mir auch mein neuer Kommandant vorgestellt geworden. Nun hatte ich zwei Chefs: Dem neuen Milizionär oblag die unmittelbare Kontrolle und die Registrierung der Vermerke über meine Anwesenheit; beim bisherigen Nurtanow, der von da an ihn Uil wohnen würde, blieb die allgemeine Vormundschaft und die Lösung meiner Probleme. Diese »Doppelherrschaft« passte mir zwar nicht, aber was soll’s – mich fragte ja keiner. Schlussendlich muss ich anerkennen, dass dieser Wechsel gar nicht so schlecht für mich war. Der neue Kommandant war mit den Tschetschenen vertraut und pflegte mit mir sogar eine gewisse Freundschaft. Es war ein freundlicher, gutherziger Kasache, der meine Wohnung mehr als einmal zusammen mit Tschetschenen als Gast besuchte, und mir gegenüber nicht misstrauisch war, da er verstanden hatte, dass ich ihn nicht »reinlegen« würde. In jenem April geschah noch eine weitere für mich wichtige Geschichte. Ich war krankgeschrieben und erfuhr dann, dass Atapkel, mein zweiter Mann am Arbeitsplatz schwer erkrankt war und bereits keine Menschen mehr erkannte. Als ich eines Tages zur Post ging, sah ich vor dem Haus von Atapkel zahlreiche Leute. Ich verstand, dass dies wohl das Ende bedeutete. Ich ging dann hinein und nahm auch Abschied. Am Sonntag war ich dann das erste und einzige Mal in meinem Leben bei einer muslimischen Beerdigung und löste durch meine Anwesenheit zunächst einen kleinen Schock aus. Später sagten mir die Kasachen aber, dass sie mir alle sehr dankbar gewesen wären. Es war für mich seltsam, dass ich durch den Tod von Atapkel unfreiwillig »mein Ansehen erhöhen« konnte. Damals hatte ich oft auch die Gelegenheit, mich symbolisch bei denjenigen Kriminellen zu bedanken, die mich nach meinem Hungerstreik im überbesetzten Gefängnislager mit ihrem Brot ernährten. Wie ich schon erwähnte, arbeiteten in der tschetschenischen Brigade auch einige »BytschiBriefe undDas«, die in Saralshyn übernachten mussten. Die Kasachen mochten sie sehr, also konnten sie bei mir bleiben, und ich – im Gedenken an die gute Tat der Kriminellen – akzeptierte ausnahmslos alle, da für mich keine Gefahr bestand: Sie hatten, auch wenn sie heruntergekommen waren, dennoch ihre Würde behalten und so durfte ich ihnen getrost meine

UNTER DEN KASACHEN 479 Wohnung überlassen und konnte sogar im Regal Geld oder Wodka liegen lassen: Sie rührten mir überhaupt nichts an. Sie warnten mich sogar, was ich vor ihnen verstecken müsse – das Eau de Cologne, das ihre Schwäche war. Davor konnten sie sich nicht beherrschen und tranken es sofort aus, deshalb passte ich darauf besonders gut auf. Als dann im Sommer wieder meine Mutter und Nadijka zu mir kamen, gaben sie diesen Leuten auf mein Beharren hin ebenfalls etwas zu essen. Doch die Sorge ließ meine Verwandten nicht einfach los, besonders meine Mutter: Mit diesem Sohn würde ihr nie langweilig werden … Nach ihrer Abreise erzählte ich Nadijka, was einer der »Bytschi« mir über sie sagte: 3. April 1985: Einer von ihnen brachte mich zum Lachen, als er mir die Begegnung mit dir beschrieb. Es geschah einmal, dass einer von ihnen meine Mutter fragte, ob der Slawik da wäre, und dann sehe ich plötzlich, wie deine Schwester auf mich zukommt, eine so hübsche Frau! Ich bin, du weißt es ja, ziemlich zerlumpt und schmutzig. Ich schloss dann die Augen und lief – rückwärts …

Nachdem Nadijka die Hoffnung verloren hatte, dass ich in die Ukraine reisen könnte, erlaubte sie es sich, fast den gesamten Urlaub bei mir zu verbringen. Und auch unsere Mutter, unsere zuverlässigste »schnelle Hilfe«, wie wir sie nannten, tat uns den großen Gefallen, als sie wieder die ganze Haus- und Küchenarbeit übernahm. Nach zwei Monaten ununterbrochenen Schuftens bei größter Hitze sagte dann unsere geliebte Mutter von sich: »In diesem Jahr habe ich mich so richtig erholt.« Der Herbst brachte erneute Prüfungen. Es fiel ein großer Schatten auf Nadijkas Eheleben. Ich schrieb ihr dann: 26. September 1985: Du hast wirklich ein schweres Kreuz zu tragen, Nadijetschko. Du solltest es auch ohne Auflehnung tun, wie unsere Mutti das ihre trägt. Es gäbe gewiss viele Gründe zur Auflehnung. Hab Geduld mit dir, meine Nadijetschka. Rufe in deinen schwierigsten Momenten deine glücklichsten Erinnerungen in dir hervor und erinnere dich an das Licht, das nur dir und niemandem anderen geschickt werden wird. Es wird dir dein größtes Leid erhellen und dich segnen, sodass du wieder lächeln magst.

Drei Tage später musste ich wieder einen neuen Schlag hinnehmen. Ich beschrieb es Ljuba so:

480 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT 29. September 1985: Ich kam gut ausgeschlafen und frisch zur Arbeit. Nach etwa einer Stunde rutschte mir aber ein Brett aus, dass ich gerade auf der Maschine hobelte, und meine linke Hand glitt ins Messer … und so geriet ich mit einer Hand in die Maschine. Schon eine halbe Stunde später bringt man mich ins Gebietskrankenhaus nach Uil. Ich fahre hin und schaue mir dabei die Überweisung an und sehe das schreckliche Wörtchen: ›Amputation‹ … Dann greife ich zu Validol. Die Chirurgen in Uil erwiesen sich aber als geschickter und amputierten weder meine Hand noch die Finger. Sie nähten einfach nur alles zusammen, was heraushing, und schafften wieder Ordnung. Einige Tage stöhnte ich dann gleichzeitig auf Kasachisch und auf unsere Weise. Als ich dann meine Hand wieder sah, konnte ich mich sehr freuen. Der dritte und vierte Finger meiner linken Hand werden wohl etwas kürzer bleiben, doch höchstens um einen halben Fingernagel. Wird zwar etwas unästhetisch aussehen. Die Mädchenherzen schmelzen dennoch, wenn ich ihnen erzähle, wie ich Auge um Auge mit einem Leoparden in dem Dschungel von Afrika gekämpft habe. Außerdem versicherte mir der Chirurg, dass ich auf dem Akkordeon so virtuos spielen kann wie zuvor … Nun bin ich ein Held. Ljuba, bitte beeile dich aber nicht, meiner Mutter und Nadijka dein Mitgefühl oder deine Freude auszudrücken. Sie wissen noch nichts: Für sie wäre mein Heldentum ohne jede Bedeutung.

Meine tschetschenischen Freunde Alchasur und Adam hatten mich an diesem 14. Oktober gemeinsam mit dem Bezirksbevollmächtigten nach Aktjubynsk gebracht, wo mich mein KGB-Kurator in der chirurgischen Abteilung unterbrachte, wo ich lange lag. Die Wunden an den Fingern wurden immer wieder gesäubert, die Fäden schließlich gezogen und alles verheilte … Parallel dazu erfolgte in diesem Krankenhaus noch eine dermatologische Untersuchung, mir der die früher erwähnte Episode meiner »Krätze« ihr Ende fand. Wenn ich heute auf diese drei Monaten zurückblicke, kann ich sagen, dass ich von einem ganz bestimmten Zufall völlig verblüfft war. Als sich für mich herausstellte, dass auch mein Lagerkollege Oles Schewtschenko sich verletzt hatte, der ebenfalls seine Verbannung in Kasachstan abbüßte und ebenfalls als Zimmermann arbeitete, erfuhr ich, dass er am 30. Januar genau an derselben Maschine ebenfalls zwei Finger der linken Hand verloren hatte! Aber die Folgen waren ür ihn schlimmer: es musste ein Glied des vierten Fingers amputiert werden. Im Rückblick war es für mich in diesem Jahr so: Zuerst gab es eine »Parade« des Todes« und dann eine der Unfälle.

UNTER DEN KASACHEN 481 Mein Abenteuer rief aber unter meinen Arbeitskollegen eine unerwartet große Anteilnahme hervor: 31. Oktober 1985: Heute früh hat mich Apaj überrascht … Sie hat mich gescholten: ‹Warum kommst du nicht um Milch zu holen? Ich sage, es ist Winter, sie haben doch selbst keine. Sie sagt: ›Komm und nimm es! Komm und nimm es!‹ Sie gab mir ein Glas frischer Milch. Es wurde mir sofort wärmer, obwohl ein Schneesturm tobte.

Aus etwa derselben Zeit stammt auch ein Foto, das in meinem Album aus der Verbannung aufbewahrt ist: Ich forme gerade Knödel (Warenyky), die aber mehr Tintenfischen als den eleganten Quarkknödeln meiner Mutter ähneln. Zum Glück ist es auf dem Foto nicht zu erkennen. Außerdem gefielen sie mir und meinen Gästen, die das Foto gemacht hatten, sehr gut. Der Vorfreude auf den nächsten Besuch meiner Mutter tat dies aber keinen Abbruch: 29. November 1985: Mutter ist noch in Drohobytsch. Doch meine Augen schielen schon zur ›Bushaltestelle‹. Meine Suppen werden immer schlechter, der Besen schwerer und das Geschirr einfach nur schmutzig …

Meine Mutter erlebte dann eine abenteuerliche Fahrt. Nadijka beschrieb es mir so: 8. Dezember 1985: Die Hinfahrt war schwierig, es fiel sehr viel Schnee. An einer Stelle hinter Kalyniwka riss der Fahrer plötzlich das Lenkrad herum und wir fielen mit dem Vorderteil des Autos in den Straßengraben. Ich saß auf dem Hecksitz, wo ich es nicht so sehr spüren konne, da ich zum Glück oben lag. Der Fahrer und das Auto waren vorne und ebenfalls oben, sodass wir bald wieder aus dem Straßengraben kamen. Wie gut, dass dieser Graben nicht sehr tief war. Myrosytschko hat an diesem Tag bereits die Hoffnung auf ihre Ankunft verloren und freute sich gewaltig, als er mich mit ihr sah. Wir kamen aber nicht mit dem Auto. Wir ließen die Sachen einfach im Laden liegen und gingen zu Fuß nach Hause. Ihor [Ruwinow] und Myroslaw nahmen dann einen Schlitten hervor und brachten all ihre Sachen. Nun bin ich wieder in der wohlig warmen Wohnung, lehne mich an Mutters Brust und vergesse den schwierigen Weg.

Mutters Ankunft wurde wieder sofort überall bekannt. Apaj drückte es mir so aus, »Als seine Mama kam, wurde Slapka sofort wieder rund« … Mama blieb erneut, um mit mir das neue Jahr zu feiern, diesmal bereits das Jahre 1986. Am Abend waren wir

482 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT gemeinsam in die Sporthalle der Schule gegangen, wo gerade der Neujahrsmaskenball des Sowchos stattfand. Ich konnte zwar nicht viel sehen, da ich den Fotoapparat dabei hatte und auch nur eine halbe Stunde blieb. Mit großer Mühe und schweißgebadet schaffte ich es einigermaßen, den Bitten Folge zu leisten: »Slapka, fotografiere uns bitte auch!«

6. Alltag und Feiertage im Jahr 1986 Nicht umsonst wird gesagt: Wie man das Neujahr feiert, so wird das ganze neue Jahr sein. Mein Hobby, die Fotografie, begann plötzlich ein Monster zu werden, das meine ganze Zeit zu vertilgen drohte, da es kein Fotoatelier in Saralshyn gab; dazu mussten die Leute schon ins Zentrum des Rayons, nach Uil, fahren. So kamen die Saralshyner nach Neujahr immer häufiger zu mir, damit ich sie »ablichte«. Ich konnte es ihnen nicht einfach verweigern und bat nur, meine Ausgaben für die Fotomaterialien zu erstatten. Der Kurator der Miliz aus Uil erfuhr bald davon, sah aber keine »gesetzeswidrige Bereicherung«. Ich sollte aber noch hinzufügen, dass ich versuchte, eine Genehmigung für das »Fotografieren der Bevölkerung« zu bekommen, um mich nicht irgendwie zu gefährden. Es wurde aber nichts daraus. Wir einigten uns bloß auf einen »Vergleich«, der mir genügte: Ich fotografiere weiterhin diejenigen, die es von mir wünschen. Auf eine große Anfrage aber, die mir viel Zeit nehmen würde, antwortete ich entsprechend der »gesetzesgemäßen« Absage. Im neuen Jahr setzte allmählich eine gewisse Abkühlung der Beziehungen zu den Tschetschenen ein. Wie es genau angefangen hatte, erinnere mich nicht mehr. Die Ursache lag wohl im Klatsch von irgendjemandem, dem sie aber glaubten. Auch bei mir selbst erhob sich dieses Gefühl, das ich dann in einem Brief folgendermaßen beschrieb: »[Die Tschetschenen] scheinen mir immermehr das Gespür für das Augenmaß« verloren zu haben. Offensichtlich zeigten sich unter uns immer mehr gewisse Unterschiede im kulturellen Umgang und den Alltagsgewohnheiten. Am 20. April 1986 kam Ljuba Heina nach Saralshyn, meine damalige Freundin und meine zukünftige Ehefrau, was damals für

UNTER DEN KASACHEN 483 uns noch nicht bekannt war. Ihre Anreise war mit einer lustigen Geschichte verbunden, über die ich heute noch lächle, wenn ich mich daran erinnere. Ich wusste bereits zuvor von Ljubas Plan, zu mir zu kommen, und bereitete mich entsprechend gründlich vor. Ich deckte den Tisch mit einem besonders vorzüglichen Abendessen. Als der letzte Bus aus Aktjubynsk gekommen war, war aber Ljuba nicht dabei. Was sollte ich nun tun? Und was hieß das alles? Irgendetwas musste geschehen sein. Ganz deprimiert ging ich nach Hause und überlegte mir, was ich mit all den Lebensmitteln machen sollte, die auf dem Tisch standen. Selbst schaffte ich es nicht. In diesem Moment traf ich gerade zwei junge bekannte Kasachinnen. Ich nahm sie dann mit mir, um gemeinsam das Essen zu bewältigen. Ich überredete sie mit großer Mühe. Wir saßen dann zu dritt am Tisch und unterhielten uns – und da klopfte es plötzlich an der Tür. Ich öffnete: Und im Halbdunkel stand Ljuba. Wie sich herausstellte, dachte sie nicht an den Zeitunterschied und verspätete sich in Aktjubynsk zum Bus. Sie gelangte schließlich per Anhalter ins Dorf. Die Jungs brachten sie dann zu mir. Die Situation war einfach grotesk: Ein armer, einsamer Verbannter schmaust mit zwei Kasachinnen, statt Trübsal zu blasen, dass sich seine Freundin verspätet hätte! Letztere liefen dann vor lauter Schreck weg, ohne sich richtig von uns zu verabschieden. Ich bat dann Ljuba zum Essen – von dem, was noch übriggeblieb war … Ljuba verbrachte dann sechs Tage bei mir, die wir zum Gespräch voll nutzten. Die Küchenarbeit wälzte ich wieder ohne eine Zeremonie auf den Besuch ab, begriff aber schnell, dass sie meine Vorlieben als Feinschmecker zur Erschöpfung trieben. Ich nahm dann auch einen Teil der Dinge auf mich und überließ ihr den Rest. Sie geriet dabei sogar in Verzweiflung: »Hör mir zu, wozu brauchst du denn eine Ehefrau?« Das Aprilwetter war gerade wunderschön, in der Steppe blühten schon die Tulpen. Ljuba holte mich dann dreimal zu einem Spaziergang heraus. Dabei sah ich aber nicht allzu viel von der Natur. Ich erzählte ihr während meiner ganzen arbeitsfreien Zeit, was ich alles ich im Lager erlebt hatte; auch von meiner geistigen Suche und

484 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT von den mystischen Offenbarungen. Wir blieben bis spät auf, umso später, wenn ich dann noch zum Akkordeon griff und Ljuba mein Liebstes vorsang. Für das Dorf war Ljubas Ankunft ein ganz besonderes Ereignis, womit sich gut verstehen lässt, dass ich von ihnen sofort »verheiratet« wurde. Die jungen Tschetschenen Adam und Alchasur kamen einmal nach der Arbeit auch zu uns. Obwohl es gerade wesentlich weniger Gäste als sonst bei uns waren, fasste sich Ljuba an den Kopf und meinte: »Bei mir in Kyjiw sind es nie soviele Leute! Wir alle glaubten doch, unser Myroslaw sei viel allein!« So war es kein Wunder, dass die gemeinsamenTage rasch vergingen und ich Ljuba schon bald wieder auf den Rücksitz des Busses setzen und sie ganz mit Tränen erfüllt zurück nach Kyjiw schicken musste. Hier der erste Brief nach ihrer Abreise: 27./28. April 1986: Mein allerliebstes Herzchen Ljuba! Ob es wohl nur für mich so war, dass die Heckscheibe des Busses von deiner Feuchtigkeit beschlugen? Nehmen wir an, dass es wohl nur mir so erschienen war … Ich bin wieder zurück im Haus und gehe in mein Zimmer und dann überwältigt mich ein ganzes Knäuel von Emotionen völlig: auf dem Tisch sehe ich jetzt deine Ohrringe. Einerseits ein gutes Andenken und ein schöner Gruß. Anderseits: Wenn ich diesen Bus noch einholen könnte … Ich schaffte es nicht, dir auch zu sagen, wie viel du mir gibst und wie wenig ich dir geben kann, eigentlich fast nichts. Wenn ich dir etwas geben würde, dann vor allem Unannehmlichkeiten im Blick auf unsere Zukunft, wenn du wieder einmal zu mir kommen würdest. Ljuba, ich wünsche dir, dass dir das alles erspart bleiben möge. Ich für mich bedaure nichts. Mach dir also keine Vorwürfe, dass du zu mir gekommen bist. Wie gern würde ich aber meine allertiefste Überzeugung zu dir strömen lassen, dass einmal die Zeit käme, wo auch du dein Leben als glücklich bezeichnen kannst und nicht mehr vor dem Gedanken erschrecken musst, es hätte auch anders sein können. Ich weiß gut, dass ich damit nicht übertreibe – in einem Augenblick seelischer Erschöpfung mögen dir vielleicht auch meine Worte helfen … Christus ist auferstanden! Und glaube, dieses Wunder wird auch dein Haus erleuchten. PS: Nebenbei noch etwas zu meiner Stimmung. Allein dir verdanke ich es, dass ich geistig immer noch lebendig bin.

Ljuba war an einem für die Ukraine schwarzen Tag abgereist: am 26. April 1986, dem Tag der Katastrophe von Tschernobyl, von der wir damals noch nichts wussten.

UNTER DEN KASACHEN 485 Die Besuche gingen aber weiter. Anfang Mai kam auch zu Adam übers Wochenende seine Freundin (immerhin war sie auch meine Freundin; ich lernte sie kennen, als ich in der Klinik von Ajkjubynsk war). Er bat mich, sie auch aufzunehmen. Wir fuhren dann für zwei Tage zum Fluss hinaus, da das Wetter gerade schön war und hatten miteinander eine sehr gute Zeit. Adam bereitete prächtige Schaschliks zu und ich ruhte die ganze Zeit aus. Am dritten Tag am Morgen fuhr sein Mädchen dann weg und ich begann, mich auf Ostern vorzubereiten. Zu Ostern hatte ich viel mehr Gäste, als ich gerechnet hatte, aber ich schaffte diese Situation mit Bravour. Und damit nicht genug: Ich bin vielleicht etwas hochmütig, wenn ich behaupte, dass nicht einmal meine Mutter es geschafft hätte. Ich brauchte insgesamt fünf Stunden für die Zubereitung der Speisen. In kurzer Zeit schaffte ich es, den Salat »Olivier« vorzubereiten, eine Torte zu machen (mit Waffeln und Kondensmilch), eine Menge Kartoffeln zu backen und sechs große Fische zu braten, das Zimmer aufzuräumen, beide Betten herauszutragen, den Fußboden zu wischen, einen Eimer Kompott zu kochen, allerlei Vorspeisen zu schneiden und sie auf Tellern anzurichten usw. Die bemalten Ostereier hatte ich zuvor schon gemacht, ich kochte auch Kondensmilch ein und schälte die Kartoffeln. Zuletzt glaubte ich mir selbst nicht, dass ich wirklich alles geschafft hatte. Die Gäste waren natürlich beeindruckt. Shaken sagte am nächsten Tag, als er den Salat und die Torte probieren wollte, dass er »mir gerne seine Frau für einen Monat in die Lehre geben würde« … Ich lebte aber nicht nur von den Gästen. Wieder gab es auch Phasen der Einsamkeit, in der sich diejenige Stimmung zeigte, die normalerweise in den Tiefen meiner Seele verborgen lag. In diesem Frühjahr schrieb ich auch eine literarische Miniatur, die auch heute noch gefällt: Das Wölkchen Ein Wölkchen lebte so traurig auf der Welt: Es hatte noch nie einen Menschen glücklich gesehen. Wenn Menschen sich freuten und lachten, war kein Wölkchen auf ihrem Gesicht – es flog nur dann, wenn das menschliche Herz vor Schmerz oder Kränkung bedrückt war.

486 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Das Wölkchen schaute neidisch auf die Blume, die inmitten der Liebkosungen und im zärtlichen Flüstern der Verliebten heranwuchs. Als die Blume starb, sah sie das Lächeln derer, der sie geschenkt wurde. Das Wölkchen aber wurde von niemandem beschenkt. Nur Beleidigung flog ihm entgegen: ›Ich wünsche mir doch einen wolkenlosen Himmel!‹ Das Wölkchen schaute neidisch auf die Blume, die wusste, was die Zärtlichkeit menschlicher Hände für sie hieß. Noch niemals hattes jemals sie geherzt. Im Gegenteil, von klein an kannte es nur die Stöße des starken Windes. Die Menschen bemerkten es zuerst gar nicht und schrien dann nur zum Wölkchen, dass es die Sonne verdecke oder sich erlaubte, die Erde mit Dunst zu bedecken. Trotzdem liebte das Wölkchen die Menschen und wollte sie glücklich sehen. Es kam dann der Tag, als es übervoll war von seiner Liebe und gegen das Verbot des Himmels verstoßen wollte. Es begann in seiner mütterlichen Regung immer tiefer und tiefer zu sinken, um die Menschen zu umarmen und zu sehen, wie schön die Freude aus ihren lachenden Augen erstrahlt. Die Menschen glaubten ihm aber nicht. Sie rannten nur weg, wiesen es mit ihren Regenschirmen ab und grenzten sich auch mit den Dächern ihrer Häuser ganz von ihm ab. Als sich dann auf der leer gewordenen Straße ein Junge unter einer dichten Baumkrone vor ihm versteckte, hielt es das Herz des Wölkchens nicht mehr aus. Ein starker Stoß der Kränkung zertrennte es in zwei Teile und das Wölkchen fiel als dichter Regen und berührte die Erde, die die Wärme menschlicher Spuren bewahrte, und die Blume, die erst noch eine Hand liebkoste. Als die Sonne hervorkam, wandte der Junge sein Gesicht, das dann vor Glück erstrahlte, aus der Baumkrone ihr zu. Nur das Wölkchen sah es nicht mehr.

Ich überlasse es dem Leser, selbst zu Ende zu denken, von welchen Gefühlen die Seele eines Verbannten berührt waren, der es sich auf dem Kanapee bequem gemacht hatte, die Beine angewinkelt, und auf dem Schoß sein feingekritzeltes Notizbuch hielt … Diese besondere Weltempfindung verzierte in jenem Jahr auch meine österliche Karte: Zu Ostern 1986: Es lebte einmal ein Ei und glaubte, dass das Leben wunderbar sei. Sein Schicksal warf es in Siedewasser und es wurde gekocht. Dann wurden ihm mit geschmolzenem Wachs schmerzhafte Narben auf den Körper aufgetragen. Dem Ei schien es endgültig, dass sein Schicksal es stiefmütterlich behandelte. Es stöhnte in den Zwiebelschalen, bis plötzlich jemandes gesegnete Hand die Wachsnarben abkratzte und das Ei zu einem magischen Osterei wurde und die Spuren seiner Leiden zu herrlichen Mustern. Das Ei wollte kein anderes Schicksal, es war seine weise Mutter. Und dann sagte das Ei: ›Christus ist auferstanden!‹

UNTER DEN KASACHEN 487 Der Sommer kam immer näher. Das hieß, eine neue Begegnung mit meinen Verwandten rückte heran. Ich wollte bis zur Ankunft der Mutter und von Nadijka wieder etwas neben dem Haus wirtschaften. Ich beschrieb es Ljuba: 22. Mai 1986: Vorgestern machte ich ein Tor für unseren Zaun. Gestern brachte ich Erde auf und ebnete das Blumenbeet unter dem Küchenfenster (und pflanzte auch Sonnenblumen); es ist sehr schön geworden. Die von Mama gepflanzten Büsche von Sarashyn haben gut dazu gepasst. So hübsch, dass mir heute eine Kuh die Arbeit zertrampelte und als Zeichen ihrer Begeisterung hat sie einen großen Fladen in der Mitte des Hofes hinterlassen. Der Schlag soll sie treffen! Ich machte also das Blumenbeet wieder eben und pflanzte gegen Abend erneut Blumen. Kurzum, ich habe eine neue Qual. 25. Mai 1986: Vom Nachmittag bis zum Abendbrot, genau gesagt, bis zur völligen Erschöpfung, gestaltete ich meinen Hof. Es gibt schon ein Stückchen eines ›Gartens‹. Ich säte Blumen, Dill, pflanzte Zwiebeln, goss alles, setzte mich hin und sagte mir dann, dass es schön ist.

Als dann meine Verwandten ankamen, tauchten in einem anderen Brief wieder glückliche Notizen auf: 30. Juli 1986: Ich sitze gerade am Tisch auf dem Hof. Mein Heer in Form von Mutter und Schwester erfüllt hektisch meine allerhöchsten Befehle. 13./14. August 1986: Bei mir blühten schon die Sonnenblumen auf … Der Portulak welkt noch nicht, das Nachtveilchen duftet gegenwärtig so sehr, dass es durch eine geschlossene Tür zu riechen wäre.

So verging unsere Zeit in Glück und Frieden. Die Fotos dieses Sommers bestätigen es voll und ganz. Nach der Abreise meiner Verwandten kamen immer wieder neue Nachrichten. In den ersten Septembertagen wurde bekannt, dass mein Cousin, Stepan Marynowytsch, der als Gynäkologe in Dobromyl in der Oblast Lwiw gearbeitet hatte und schließlich endlich einmal auf der See Urlaub machte, während der Katastrophe des Schiffes »Admiral Nachimov« im Schwarzen Meer nahe Noworossijsk verstarb. Die Retter erzählten, er hätte in seiner Kajüte geschlafen und wäre dann wegen eines Stromausfalls nicht mehr herausgekommen. Seitdem stellte ich mir oft noch ganz benommen vor, wie schrecklich seine letzten Augenblicke waren. Es gab auch frohe Nachrichten. Mein Nachbar, der Aserbaidschaner Ihor Ruwinow, wurde aus der weiteren Verbannung

488 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT entlassen und konnte mit seiner Familie nach Baku zurückkehren. Am 13. September feierte Bukenbaj seine Hochzeit, wofür wir ein Hochzeitszelt bauten. Der junge Mann war so bescheiden und gutmütig, dass ich mich wie um einen leiblichen Bruder um ihn kümmerte. Schade nur, dass seine Ehe mit Hjulnar nicht sehr lange dauerte. Ungefähr zur gleichen Zeit kam ein Mitarbeiter des KGB aus Alma-Ata. Es gab damals bereits lebhafte Diskussionen über die »Perestroika«, die von Michael Gorbatschow eingeleitet worden war. Die KGBler beschlossen, meine Stimmung zu sondieren. Ich erinnere mich, dass ich meine Position wie folgt formuliert: »Die Absicht der Perestroika freut mich sehr, ich bin mir aber nicht sicher, ob nun kommt, was Sie als Separatismus bezeichnen, für mich aber die Umsetzung der Rechte unfreier Völker auf Selbstbestimmung« wäre. Mein Gast lachte mich aus und antwortete überzeugt: »Nein, Ihre Perestroika würde sicher dazu führen, unsere Perestroika wird das aber nie zulassen!« Heute frage ich mich, ob sich mein kasachischer Gesprächspartner ein paar Jahre später an unser Gespräch erinnerte. Übrigens brachte derselbe KGBler aus Alma-Ata während des Gespräches auch das Thema meines möglichen Urlaubs in der Ukraine zur Sprache und sagte, dass er angesichts meiner Unnachgiebigkeit nicht wirklich daran glaube. Ich hatte aber durch die ständigen Absagen in den vergangenen Jahren gelernt und antwortete deshalb ziemlich entschieden: »Ich reizte Sie nicht, darüber zu sprechen, reizen Sie also auch meine Nerven nicht – und insbesondere nicht die Nerven meiner Verwandten.« Später wurde mir völlig unerwartet doch die Erlaubnis gegeben, einen Urlaub in der Ukraine zu verbringen. Ich erinnere mich noch gut, als ich nach der Ankunft im Flughafen von Lwiw auf den Bus nach Truskawjez wartete. Ausgerechnet in diesem Augenblick hörte ich das erste Mal nach langer Zeit wieder die galizische Mundart. Als Mensch, der sich schon immer um die Reinheit der literarischen Sprache bemühte, spürte ich plötzlich eine außergewöhnliche Wärme: Endlich bin ich zu Hause … Dieser Urlaub blieb mir durch ununterbrochene Begegnungen im Gedächtnis: mit der Familie und mit Freunden, die sich beeilten,

UNTER DEN KASACHEN 489 mich in der Wohnung meiner Mutter in Drohobytsch besuchen zu können. In meinem Gedächtnis tauchen auch einige Bruchteile aus einem Gespräch zwischen meinen Verwandten in Lwiw auf, mit Nusja Menzinska und Jewhen Swerstjuk. Unvergesslich blieben die Begegnungen mir, an denen Atena Paschko aus Lemberg, Halyna Didkiwska aus Kyjiw und meine Schwester Nadijka teilnahmen – es waren einfach nur Zauberstücke an Humor und gegenseitiger Sympathie! Ljuba Heina und Olga Heijko kamen dann auch aus Kyjiw. Sie alle gehören zu denen, an die ich mich noch erinnere. Und dann war der Flughafen in Shuljany, von dem aus ich nach Charkiw und weiter nach Aktjubynsk fliegen sollte. (Zuerst trafen wir uns noch mit mehr als ein Dutzend meiner Freunde aus Kyjiw, um zwei Uhr nachts auf dem Kyjiwer Bahnhof. Sie begleiteten mich anschließend zum Flughafen.) Dort bereitete ich meinen Freunden einen besonderen Empfang: Ich »führte« jeden einzelnen allein mit mir aus und besprach mit ihnen das Erlittene und Schmerzliche. Als ich mit Ljuba am Shuljanyer Platz spazieren ging, machte ich ihr einen Heiratsantrag. Ich schlug ihr dann vor, ihr Schicksal mit dem eines sehr ungewissen Schicksal eines politischen Verbannten zu verbinden. Dies war die Frucht meiner langwierigen Überlegungen nach ihrem Besuch bei mir in der Verbannung in Saralshyn. Ljuba war, ohne zu zögern, sofort einverstanden. Und ich empfand Dankbarkeit für sie und hohen Respekt für ihren Mut, der die Tradition der Frauen der Dekabristen wiederbelebt, durch die sich viele Ehefrauen unserer ukrainischen politischen Häftlinge besonders auszeichneten. Wir waren uns auch sofort über die nächsten Pläne einig: ihr Einzug bei mir – und dann flog ich weg. Für einen Mann ist die Zeit zwischen dem Heiratsantrag und der Hochzeit nicht einfach, und besonders, wenn er das Gefühl haben muss, dass noch eine weitere Person zur Geisel seines stürmischen Schicksals werden würde. Von meiner Unruhe waren die damaligen Briefe an Ljuba besonders gezeichnet: 2. November 1986: Saralshyn empfing mich wieder mit dem Allerschönsten und in mir kam wieder die Hoffnung auf, dass der Dezember dich zu mir bringen würde. Ich denke jeden Tag an unser Gespräch, ich plane und – verjage meine Ängste. Wenn du wüsstest, wie sehr ich dich nicht unglücklich

490 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT machen möchte! Ich bedaure, dass ich es dir sagen musste, dass du so viel wie nur möglich Geduld einkaufen sollstest: en gros oder en détail, in bar oder auf Kredit. 10. November 1986: Mir fällt es jetzt leicht, an das persönliche Glück zu glauben. Es fällt mir aber gar nicht leicht, erkennen zu müssen, dass ich dadurch ein anderes Schicksal unglücklich machen könnte – und das nicht zum ersten Mal in meinem Leben. Es ist besonders dann, wenn man sich selbst nur zu gut kennt und die Wolfsgruben in sich deutlich sieht, in die ich hineinfallen und eine andere mitreißen könnte.

Ich wusste schon, dass Ljuba auf Zigarettenqualm allergisch reagiert und ihn nicht verträgt. So beschloss ich, mit dem Rauchen ganz aufzuhören. Der Stimulus war so stark, dass ich es wirklich schaffte, mit dieser schädlichen Angewohnheit aufzuhören, im Unterschied zu drei misslungenen Versuchen im Lager, und bis heute rauche ich nicht mehr. Es gelang Ljuba im Dezember dann doch noch, für mich freizumachen. Sie kam genau am 24. Dezember an, am Vortag des katholischen Weihnachtens im Dorf. Am Tag danach lud ich die Ältesten und die in Saralshyn besonders geachteten Frauen zu Besuch ein (alle, mit denen ich näher bekannt war). Ich stellte Ljuba offiziell vor und erklärte, dass ich in Anbetracht meines Status nicht sofort heiraten könne, die Kasachen aber bäte, sie als meine Ehefrau zu betrachten. Alle Saralshyner freuten sich sehr mit uns und akzeptieren Ljuba wirklich als die ihre – und das dann noch mehr, als Ljuba sich unter den geschulten Blicken der älteren Kasachinnen bemühte, so geschickt, wie sie nur konnte, Tee in die Schälchen einzuschenken und damit die Gäste zu bewirten. Später erzählten die Kasachinnen meiner Mutter: »Sie schenkte uns sogar den Tee auf Kasachisch ein!« Zu dieser Zeit bekamen wir auch unsere kasachischen Namen: Ljuba wurde zu »Machabbat« (»Liebe«) und ich zu »Shasasynbek« (»ruhmreicher Recke«). Es erstaunt deshalb nicht, dass wir diese nette Gastlichkeit als unsere »kasachische Hochzeit« bezeichneten. So begannen wir in Frieden und Liebe vereint das neue Jahr 1987. Der traditionelle Neujahrsmaskenball in Saralzhin war dieses Mal mit meiner unerwarteten Auszeichnung besonders geprägt. Generell konnte man sagen, dass den Kasachen diese Bälle sehr gut gelangen. Fast das ganze Dorf versammelte sich jeweils dazu in der Sporthalle der Schule – der Tradition gemäß unterteilt in

UNTER DEN KASACHEN 491 verschiedene Gruppen nach den Generationen. Das Fest wurde sorgfältig vorbereitet. Sämtliche Stücke des Laienkonzertes waren wirklich interessant. Ich vereinbarte mit meinem Nachbarn Umirshan, den Leuten auch eine Überraschung zu bereiten, da ich bereits ganz flott kasachische Lieder singen konnte. So beschloss ich, ihre Nationaltracht anzuziehen und auf dem Wettbewerbskonzert zu Neujahr ein Lied über die Muttersprache (»Ananin tele«) zu singen. Wir passten die Nationaltracht von Umirshan an meine Größe an – und ich spielte einen Türken, aber mehr wie ein Kosake. Ich lieh Umirshan meine Wyschywanka aus und ich brachte ihm das Lied bei: »Was für eine sternklare Mondnacht«, indem ich ihm den Text im russischen Alphabet aufschrieb. Ich trat als Erster auf und begleitete mich selbst auf dem Akkordeon. Wie gerührt war ich, als ich während der Aufführung plötzlich hörte: »Komm raus, Geliebte, der Arbeit müde, nur für ein Minütchen zum Tee!« Den von mir aufgeschriebene Buchstabe »г« (гай = Hain) verwechselte er einfach mit »ч« (чай = Tee) und das umso mehr, weil damit für ihn das Wort näher und verständlicher wurde … Wir hatten großen Erfolg und ich bekam den zweiten oder den dritten Preis. Bitte dabei beachten: Der Preis ging an einen politischen Verbannten! Das war nur unter den Kasachen möglich, »die weit weg von der Politik, aber nahe der Natur sind.« Ljuba musste bald nach Kyjiw zurückkehren, wo sie ihre Arbeitsstelle kündigte und irgendwie ihre Wohnung zu behalten versuchte. An ihrer Stelle schlug sich während eines Schneesturms meine Mutter zu mir durch. Nun wurde es in meiner Wohnung wieder ruhig. Ich erinnere mich nicht mehr, unter welchen Umständen es war, aber damals begann noch ein weiteres Wesen bei uns zu leben, von dem ich scherzhaft Ljuba schrieb: 11. Februar 1987: In meiner Wohnung ist noch eine weitere Person aufgetaucht – Lutezia. Sie wurde sofort zur Hauptperson, da sie genug Würde hatte, um diesen stolzen Patriziernamen zu tragen. Und ganz bestimmt können weder ich noch meine Mama das Schwänchen so aufrecht halten, wie sie es tat, unsere Katze Lutezia.

Das neue Jahr 1987 begann mit dem Gefühl eines nun endlich wohlgeordneten Lebens. Ich hatte mich an die einfachen Tischlerarbeiten gewöhnt und die Beziehungen zu den Vorgesetzten und den

492 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Kollegen normalisierten sich vollständig. Dank der Opferbereitschaft meiner Verwandten und dem Wohlwollen meiner neuen Freunde verbesserte sich mein ganzes Leben. Ich hatte eine Partnerin gefunden und begann, mein Familienleben einzurichten. Und Ljuba formte Maultaschen, kochte Borschtsch oder machte Nalysnyki (Pfannkuchen). Die Ereignisse begannen sich so zu entwickeln, als hätte Adams Wunsch wirklich Gehör gefunden und dafür gesorgt, mich in die Ukraine zu »entkulakisieren« …

Zwischen den Sanddünen in der Nähe des Straßenschildes »Saralshyn«

493 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT

Ein von mir gemachtes Bett, ein Teppich, bestickt von meiner Mutter, und ein Kruzifix, von Monika geschenkt

Unser erstes gemeinsames Foto im Exil, 1984

Meine Frau und ich an einem Treffen von Amnesty International in Avignon in Frankreich, März 1990

494 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT

Herstellung von Wareniki in der Küche

In der Schreinerei

Begegnung mit dem neuen Jahr 1987 mit meiner Frau Ljuba in Saralshyn

UNTER DEN KASACHEN 495

Mein Lieblingsfoto mit meiner Schwester Nadijka in Saralshyn

Intermezzo 3: Wieder an der Schwelle eines neuen Lebens Als meine Mutter wieder einmal bei mir war, kam im Februar 1987 eine ganze Delegation zu mir. Der kasachische Staatsanwalt aus Aktjubynsk, der Staatsanwalt aus Lwiw in der Ukraine und zwei KGBler ebenfalls aus Lwiw (oder aus der Oblast Lwiw) führten mit mir ein langes Gespräch. »Die Situation in der Ukraine hat sich verändert, die Demokratisierung ist im Gange. Wir wollen nun endlich die Sache mit den Dissidenten lösen«, so sagte es der Staatsanwalt. Bei uns sind [d h. über mich] gute Beurteilungen von Ihrem Arbeitsort und von der Miliz eingetroffen, und es gibt auch positive Fürsprachen der KGBVerwaltungen in Aktjubynsk, Kyjiw und Lwiw. Als die für Sie Verantwortlichen können wir Ihnen versprechen: Wenn Sie nun endlich einen Brief schreiben, indem Sie bereuen, was sie getan haben, werden Sie innerhalb eines Monats freigelassen.

Lange versuchten sie mich zu überreden. Auf jedes meiner »Neins« fanden sie aber wieder neue Argumente. Doch meine Position blieb meinem Standard gemäß immer:

496 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Hören Sie mir bitte zu: Was ich hier sage, entspricht wirklich meinem Willen. Ich büßte meine ›Taten‹ mit sieben Jahren Lager und drei Jahren Verbannung ab – und am Ende dieser Frist wollen Sie nun, dass ich doch noch eine Reueerklärung schreibe, die ich schon von Beginn an verweigerte? Wenn ich sie bereits damals nicht geschrieben habe und dafür bereits fast die ganze Haftfrist abbüßte, werde ich es heute auch nicht mehr tun!

Nach langem Zögern fragten sie mich dann noch: »Können Sie wenigstens aufschreiben, dass Sie sich geweigert haben, um eine Begnadigung zu bitten?« Als es damals nur so in mir brodelte, kannte ich noch nicht die Worte von Swerstjuk, die ich hätte zitieren können: »Kein anständiger politischer Häftling bittet um eine Begnadigung, denn genau das bedeutet Widerstand.«175 Ich zuckte nur mit den Schultern und schrieb schließlich auf ein separates Blatt so etwas wie, dass ich mich nach wie vor nicht für schuldig halte und deshalb nie ein Gnadengesuch schreiben werde, weil ich nur das tue, was ich wirklich für notwendig halte. Später erfuhr ich, dass diese Art, wie das KGB mit mir vorging, nicht neu oder ein Einzelfall war. Schon der Patriarch Jossyf erwähnte es in seinen Erinnerungen: Mein Vorgesetzter sagte mir damals, ich sollte einen Brief in der Angelegenheit meiner Freilassung schreiben. Sie dachten, dass ich in meiner aussichtslosen und hoffnungslosen Lage gar wüsste, was ich ihnen schreiben sollte. Schließlich schrieb ich ihnen über alle Ungerechtigkeiten und Misshandlungen, die sie mir zugefügt hatten … Sie wollten einfach meine Freilassung aufgrund meiner Bitte möglichst geschickt inszenieren.176

Die Staatsanwälte reagierten gelassen auf meine Erklärung, die KGBler ärgerten sich aber trotzdem. Einer von ihnen sagte mir deshalb zum Abschied, als er bereits an der Tür stand: »Es scheint so, dass alle gewisse Grenzen haben.« Dann fuhren sie los und ich blieb mit meiner Mutter allein im Zimmer zurück, ganz erregt und auch traurig. Meine Mutter hatte sich während des ganzen Gespräches nicht eingemischt und drängte mich auch nun nicht. Ich konnte aber von ihrem Gesicht leicht ablesen, wie schwer es gerade für sie sein musste, sich von meiner offenbar so nahen Entlassung verabschieden zu müssen. 175 Jewhen Swerstjuk. Auf den Wellen der »Freiheit«, S.197. 176 Jossyf Slipyj. Erinnerungen, S.227.

UNTER DEN KASACHEN 497 Auch in mir kämpften unterschiedliche Gefühle: Mein Bedauern, dass ich meiner Mutter wieder Schmerzen bereiten musste – und gleichzeitig ein gewisser Stolz, dass sie mir trotz ihres Schmerzes keinen Vorwurf für meine Entscheidung machte. Bald danach kehrte sie wieder nach Hause zurück und Ljuba nahm ihren Platz bei mir ein, nachdem sie alle praktischen Angelegenheiten in Kyjiw regeln konnte. Wir mussten uns jetzt darauf einstellen, dass wir noch zwei weitere Jahre hier leben würden. Es lag aber auch bereits die neue Entwicklung durch die Gorbatschow’sche Perestroika in der Luft. Was früher unmöglich erschienen wäre, wurde nun plötzlich möglich. Die Erfahrung im Lager machte mich aber sehr vorsichtig und ich erlaubte mir immer noch nicht, mich auf diesen schönen Traum einzulassen. Bereits am 23. März 1987 bestellte mich aber der kasachische Milizionär und Abschnittsbevollmächtigte zu sich und sagte mir etwas verlegen: »Hören Sie mir bitte gut zu. Mich hat es völlig überrascht, aber es ist wirklich so: Es kam die Anweisung, Sie nun freizulassen.« Offenbar gab es ein neues Dokument, in dem hieß, es stände »im Zusammenhang mit einem Beschluss des Obersten Sowjets der UdSSR über Amnestie«. Später erfuhr ich noch, dass gleichzeitig ungefähr zweihundert politische Häftlinge freigelassen worden waren. Erst jetzt begriff ich richtig, weshalb das KGB mir empfahl, für meine bisherige Weigerung auch noch Buße zu tun. Für Sie könnte es vielleicht wichtig gewesen sein, wenn doch noch von mir ein »Antrag« eingegangen wäre. Was darin genau gestanden wäre, wäre eigentlich gar nicht so wichtig gewesen! Was nun weiter auf uns zu kam, beschrieb Ljuba in einem Brief an meine Mutter: 24. März 1987: Mütterchen, spüren Sie gerade nichts Besonderes? Ich für mich konnte nur weinen und lehnte mich dabei an Myroslaws Brust. Endlich ist dieser für uns historische Augenblick gekommen: Er wird freigelassen! Am Morgen ging er noch völlig ahnungslos zur Arbeit – und plötzlich kommt er wieder nach Hause. Zuerst sagte er gar nichts, bis er sich umgezogen hatte. Dann stellte er sich auf die Türschwelle und sagte völlig gefasst: ›Du kannst mir nun zu meiner Freilassung gratulieren!‹ Dieser große Augenblick war für uns beide einfach jenseits von Raum und Zeit. Wir setzten uns hin, um mit einem guten Tee den besonderen Moment zu feiern. Dann kam sofort unser kasachischer Bruder Alibek zu uns. Es

498 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT verwirrte ihn völlig, als er die Neuigkeit hörte und war den Tränen nahe. Wir versuchten ihn zu beruhigen. Er sagte uns, dass er dann, wenn wir nicht mehr da seien, abends immer wieder zu unserer Hütte gehen würde.

Nun mussten wir uns fieberhaft darüber Gedanken machen, wie wir alle Sachen packen konnten, um bald in die Ukraine zu ziehen. Was die Stadt betraf, in die wir zurückkehren wollten, zögerte ich keine Minute: natürlich nach Drohobytsch! Obwohl Ljuba in der Hauptstadt noch eine Einzimmerwohnung hatte, wollte ich nicht wieder nach Kyjiw zurückkehren. Mich zog es einfach ins Haus meiner Mutter – zu der Person, die mir schon immer am nächsten stand, die so treu auf mich gewartet und sich während meiner ganzen Haftzeit so selbstlos um mich gekümmert hatte. Die einheimischen Kasachen freuten sich wie der bereits erwähnte Alibek auch mit uns, bedauerten aber gleichzeitig, nun von uns Abschied nehmen zu müssen. In den verbleibenden wenigen Tagen wurden Ljuba und ich immer wieder zu Abschiedsessen eingeladen. Da sämtliche Daten für Mittags- und Abendessen bereits besetzt waren, verabschiedeten sich einige sogar mit einem Frühstück von uns! Dann organisierte der Sowchos ein Gefährt für uns, damit sie uns nach Aktjubynsk bringen konnten. Vor diesem Lkw wurde von uns zusammen mit unseren lieben Freunden noch ein Foto gemacht. So nahm ich also Abschied von Saralshyn – und wieder (wie bereits beim Abschied vom Lager) mit diesem Gefühl einer eigenartigen Wehmut, da ich nun meine Freunde und mein Häuschen verließ, das mir zu einem echten Zuhause geworden war. Als wir in Aktjubynsk angekommen waren, hatte ich noch etwas Zeit. Ich beschloss, jetzt ganz freiwillig noch einmal meinen Kurator des KGB zu besuchen, da ich Groll gegen ihn hegte. Ich verstand ja, dass er ordungsgemäß seine Arbeit machen musste und sah deswegen keinen schlechten Menschen in ihm. Also ging ich in das Büro des örtlichen KGB und bat um ein Gespräch, was einen regelrechten Alarm auslöste. Schließlich wurde ich ins Büro des Kurators gebracht und konnte an seinem Gesicht ablesen, dass er völlig verwirrt war. Es war schwer zu sagen, ob er von mir noch irgendeinen Streich erwartete, es schien mir aber, dass er bis zum

UNTER DEN KASACHEN 499 Ende unseres Gespräches nicht verstand, weshalb ich nochmals zu ihm kam. Allmählich beruhigte er sich immer mehr und verfiel dann fast ins andere Extrem: Er begann ganz vertraulich mit mir zu reden und wünschte mir ein glückliches weiteres Leben. Es war auf alle Fälle sehr spannend, nochmals mit ihm zu reden und dabei seine Reaktion zu beobachten. Im Zug von Aktjubynsk nach Moskau unterhielt ich mich mit einem jungen Usbeken. Ich verbarg ihm nicht, wer ich war und welches Schicksal ich erlitten hatte. Es bewegte ihn sehr und er sagte dann plötzlich mit bedeutungsvoller Stimme zu Ljuba, dass sie mich von nun an besonders gut beschützen müsste. Noch heute erinnere ich mich an Ljubas Gesicht und wie innerlich bewegt sie gerade diese Worte aufnahm. Schon am 2. April betraten Ljuba und ich die Wohnung meiner Mutter in Drohobytsch. Genau hier wollte ich wieder meinen Anker auswerfen und gerade da sollte mein neues Leben beginnen und alles, was damit verbunden war: die Wohnungssuche, die Suche nach einem Arbeitsplatz und auch nach meinem Platz unter der gerade ziemlich heißen politischen Sonne. Wie wir später noch lesen können, wurde nun mit Gottes Hilfe für uns alles immer besser. Ich war immer noch tief bewegt von der prophetischen Kraft von Nadijkas Worten, die sie mir bei meinem Abschied im Lager als Antwort auf meine schlimmen Vorahnungen geschrieben hatte: »Ich fühle, dass zuletzt alles gut wird. Du weißt ja, dass mich meine eigene Intuition selten im Stich lässt. Es muss einfach alles wieder gut werden!« Da es für uns drei bald einmal zu eng wurde, zusammen mit meiner Mama in einer Einzimmerwohnung zu wohnen, nahm Ljuba es dann auf sich, ihre eigene Wohnung in Kyjiw gegen eine andere in Drohobytsch zu tauschen. Deshalb fuhren Ljuba und ich bald in die Hauptstadt, wo dann auch Ljubas Mutter, Nina Josypiwna, mit ihrem kleinen Enkel Myschko (der Sohn von Ljubas Bruder Walerij) zu uns kam. Unser erstes Treffen war sehr herzlich und sie vertraute mir sofort ganz. Als Dorflehrerin hatte sie nicht nur keine Angst, ihre Tochter einem ehemaligen politischen Häftling zu geben, sondern sie war wegen der schweren Prüfungen in meinem Leben sogar etwas stolz auf mich.

500 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Bald im Mai besuchten wir sie im Dorf Pidlisne (Rayon Nowoodesky, Oblast Mykolajw), wo ich Ljubas Familie und Freunde kennenlernte, ebenso auch Walerij, den Bruder von Ljuba, seine damalige Frau Alla und ihren älteren Sohn Andrij. Leider kann ich mich heute nur noch an einen ganz bestimmten Moment während dieses Besuches erinnern. Ich riss mich richtig darum, meiner Schwiegermutter zu helfen, obwohl ich mich als Stadtkind für die Landarbeit nicht sehr eignete. Mama Nina übertrug mir die Aufgabe, die Butter zu schlagen. Ich begann dann tapfer, die Buttermaschine zu drehen, aber nach fünf Minuten waren die Muskeln meiner rechten Hand schon völlig erledigt. Dann wechselte ich mit der Kurbel in die linke Hand: doch da erlahmten meine Muskeln noch schneller. Als Mama Nina gerade aus dem Haus ging, sah sie, wie ich völlig verzweifelt dastand und in die Buttermaschine starrte. Sie begriff sofort und entledigte ihren Schwiegersohn seiner Blamage … Ich konnte mich danach etwas auf dem Feld revanchieren, als wir gemeinsam mit Ljubas ganzer Familie die Rüben ernteten. Anschließend besuchte ich in Kyjiw noch meine alten treuen Freunde und lernte wieder neue kennen, wie etwa die Freunde von Ljuba, Maritschka und Wiktor Melnyk. Damals büßte Mykola Matusewytsch immer noch seine Frist in Burjatien ab. Später erzählte er mir: 1988 kam meine ›Begnadigung‹, ich weigerte mich aber, meinen Verbannungsort zu verlassen. ›Ich hätte meine Schuld vor meiner Heimat noch nicht ganz abgebüßt‹, sagte ich damals den Vertretern des KGB. Oh mein Gott! Wie sie sich darüber ärgerten! Am 7. Dezember erklärte Gorbatschow dann bei der Vollversammlung der UNO, dass es in der Sowjetunion keine politischen Häftlinge mehr gäbe. Ich hatte als Zeichen meines Protestes sehr bewusst, das wir noch nicht rehabilitiert wurden, sondern nur ›begnadigt‹ worden waren, meine Frist sogar noch überzogen … Anfang Februar 1989 kehrte ich schließlich auch nach Hause zurück.177

Meine alten Kyjiwer Freunde zu treffen, stimmte mich etwas wehmütig. Trotz allem zog es mich nicht mehr in die Stadt: Ich spürte, 177 Mykola Matusewytsch: »Ich gewann den Zweikampf mit den KGBlern, weil ich die Angst besiegte.« (Interview von Wasyl Schkljar mit M. Matusewytsch). Molod Ukrainy, Nr. 126 (17462) v. 6.11.1996, S.3.

UNTER DEN KASACHEN 501 dass mir die Kraft fehlte, dort wieder ganz von vorne zu beginnen, wo ich damals aufgehört hatte. Dann erfüllte ich auch noch mein Versprechen, dass ich einmal meinem Untersuchungsführer Oleksandr Beresa gegeben hatte. Es waren genau zehn Jahre seit meiner Verhaftung vergangen, weshalb es für mich nun gut wäre, zu tun, was ich ihm versprochen hatte: zu ihm zu kommen und ihn zu einem Kaffee einzuladen. Also ging ich in die Verwaltung des KGB, die an der Petscherska lag – und dort geschah mir beinahe dasselbe wie in der Verwaltung des KGB in Aktjubynsk, nur ohne ein freundliches Ende. Beresa sah mich völlig verwirrt und tief erschrocken an. Ich bekam bei ihm den Eindruck, dass er sich alle möglichen Knöpfe zugeknöpft hatte; natürlich nur im übertragenen Sinne. Ich erinnerte ihn dann an mein scherzhaftes Versprechen, dass ich ihm im Untersuchungsgefängnis gegeben hätte. Er presste mit viel Mühe einige Worte aus sich heraus. »Warum kommen Sie zu mir?« Ich verstand es nicht: Heute war das Jahr 1987 und niemand von uns wusste, wie sich alles einmal wenden würde. Im KGB waren alle völlig verängstigt. Nach einigen Minuten wurde es mir zu dumm. Innerlich dachte ich: »Guter Mann, in deinem Kabinett warst du so hemmungslos, als ich als Angeklagter bei dir saß. Ich konnte sogar mit dir scherzen und mit dir einen Kaffee in zehn Jahren verabreden! Weshalb tust du so dumm? Heißt das, du weißt also doch noch, was du mir damals angetan hast?« … Schließlich beendete ich das Gespräch und sagte einfach: »Gut, ich möchte Sie nicht weiter quälen. Leben Sie wohl!« Ljuba und ich mussten bald auch an die juristische Seite unserer Ehe denken, damit wir den Wohnungstausch administrativ regeln konnten, ohne zuvor die Eheschließung in der Kirche abzuwarten. Wir ließen uns deshalb bereits am 2. Juli im Standesamt von Drohobytsch registrieren. Als unsere Trauzeugen nahmen wir die beiden ehemaligen politischen Häftlinge Olga Heijko und Sorjan Popadjuk mit uns. Letzterer wohnte damals gerade in Sambir und hatte kurz zuvor seine Freundin Oksana geheiratet. Schließlich fanden wir eine geeignete Variante des Wohnungstausches: Es gelang uns, Ljubas Einzimmerwohnung in Kyjiw gegen eine Dreizimmerwohnung in Drohobytsch an der

502 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Knjahynja Olga-Straße 12 zu tauschen. Ljubas Möbel wurden dann mit einem Lkw aus Kyjiw hertransportiert. Bald danach kaufte uns Nadijka noch andere Möbel hinzu, die uns bisher noch gefehlt hatten, so etwa für unser Schlafzimmer, und dann begannen wir allmählich, uns an unsere neue Wohnung zu gewöhnen. Kurz danach ereignete sich noch etwas, das uns die Geschichte der Einrichtung unseres Familiennests in einem wahrhaft evangelischen Licht erstrahlen ließ. In Drohobytsch sprach ich einmal meinen Schulfreund an und lud ihn und seine Frau zu uns ein. Als sie sich in unserer Wohnung umsahen, hielt die Frau meines Freundes ihm ganz leise eine Moralpredigt. Ich wusste nicht, worum es ihr ging, doch später erfuhr ich alles. Als wir uns nämlich das letzte Mal vor meiner Verhaftung noch einmal sahen, erzählte er mir von einer halblegalen Vereinbarung, dank der er später eine Wohnung bekommen sollte. Nun stellte es sich aber heraus, dass er nach zehn Jahren die von ihm gewünschte Wohnung noch immer nicht erhalten hatte, ich es dagegen aber in dieser Zeit geschafft hatte, nach Jahren Gefängnis und Verbannung mit Gottes Gnade bereits eine Dreizimmerwohnung zu erhalten! Wie sollte ich da nicht aus dem Evangelium zitieren: Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen und trinken sollt; auch nicht für euren Leib, was ihr anziehen sollt. Ist nicht das Leben mehr denn die Speise? Und der Leib mehr als die Kleidung? Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht und sie ernten nicht. Sie sammeln auch nicht in Scheunen; und euer himmlischer Vater nährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? […] Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach solch allem trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß sehr wohl, dass ihr das alles bedürft. Trachtet also zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit; so wird euch alles andere zufallen. (Matthäus 6,25– 26,31–33; Hervorhebung durch: M. M.)

In den ersten Monaten in Drohobytsch wurden wir sehr von Senowij Krasiwskys unterstützt. Er kam oft mit dem Auto aus Morschyn zu uns und half uns, wo er nur konnte. Später erfuhr ich, dass er es als seine Berufung betrachtete, seinen Lagerbrüdern praktisch zu dienen, damit sie den neuen Herausforderungen gewachsen waren. Ich erinnere mich natürlich auch gut an die Zeit unserer kirchlichen Eheschließung am 16. Oktober 1987. Senowij übernahm aus

UNTER DEN KASACHEN 503 Eigeninitiative die gesamte Fotoreportage dieses besonderen Ereignisses. Er fuhr uns zur Kirche in Stebnyk, wo mein Großvater gerade Dienst tat und wo wir heiraten wollten. Als wir wieder zu Hause waren, wollten wir ohne vorgängiges Gebet mit einer kleinen Gruppe unser Fest beginnen. Senowj begann dann selbst zu beten und erteilte uns so allen eine wichtige Lektion. Es waren schon etwas mehr als anderthalb Jahre vergangen, als seine geliebte Frau Olenka auf eine tragische Weise vor seinen Augen gestorben war, aber er sehnte sich nach wie vor sehr nach ihr und wurde für uns zum Vorbild, wie es dennoch möglich ist, Gottes Willen zu akzeptieren. Bemerkenswert ist auch die Geschichte, wie er uns eine Arbeit vermitteln wollte. Ich wusste damals noch nicht, dass Krasiwsky Regionalführer der OUN (b) (Organisation Ukrainischer Nationalisten (von Bandera)) war. Ich gehörte nicht der Struktur dieser Organisation an und wollte auch nichts von ihren konspirativen Überlegungen wissen, wusste aber, dass er ein selbstloser Vertreter der nationalistischen Bewegung war und enge Kontakte zur ukrainischen Diaspora hatte. Es verwunderte mich also nicht, als Herr Senko mir sagte, dass er die nötigen Mittel habe, um mit seiner Frau Olena Antoniv den Verein Zenko Krasiwsky und eine gesellschaftspolitische Zeitschrift »Ukrainische Probleme« zu gründen. Er bot mir, der ich immer noch arbeitslos war, die Stelle als literarischer Redakteur an. Ich war mir aber nicht sicher, ob es für mich eine gute Idee wäre, sah jedoch im Moment keine guten Gründe, abzusagen. Als er von meiner Zustimmung hörte, brachte mir Senowij sofort eine Schreibmaschine aus seinem Zuhause und die ersten Materialien zur Auswahl, die in die erste Ausgabe der Zeitschrift einfließen sollten. Als ich zu lesen begann, entstanden aber für mich immer mehr Probleme – mit mir selbst. Ich erinnere mich noch gut, wie ich mich daran machte, einen bekannten Artikel von Dmytro Donzow zu lesen, den Krasiwsky abdrucken wollte. Ich begriff bald, dass dieser Text radikal meiner Weltanschauung widersprach, und mein Herz begann laut zu pochen. Ich sah mir noch weitere Manuskripte durch und mein Gefühl einer völligen Dissonanz verstärkte sich

504 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT zunehmend. Immer klarer fühlte ich, dass ich unmöglich für diese Zeitschrift arbeiten konnte. Ich rief also Krasiwsky an und bat ihn, noch einmal zu mir zu kommen. Wir setzten uns dann zum Gespräch in sein Auto. Ich erzählte ihm ganz offen und aufrichtig, was bei mir geschehen war und entschuldigte mich, dass ich ihn ungewollt enttäuschen musste. Er hörte mir aufmerksam und ruhig zu und sagte mir schließlich mit einem großen Schmerz in der Stimme: »Ach Gott! Weshalb ist es denn so, dass mir immer alle, die ich anfrage, absagen? Und diejenigen, die sich selbst daran machen wollen, sollten es eigentlich besser nicht tun!« Senowij war durch den ganzen Stress im Lager sehr geschädigt und überhaupt vom Leben geschlagen. Auf meine ablehnende Haltung reagierte er jedoch mit Verständnis, blieb weiter mein treuer Blutsbruder und unterstützte mich auf jede erdenklich mögliche Art in vielen praktischen Dingen. Er akzeptierte später auch meine Weigerung, eine politische Karriere zu machen und mir auf diese Weise ein Ansehen und ein gutes Einkommen zu sichern. Er maß dem viel mehr Bedeutung zu als ich. Meine Abneigung, mich in der Politik zu engagieren, war bei mir schon immer sehr ausgeprägt und für mich eine natürliche Sache. Die moralische Unterstützung durch meine Freundin Iryna Senyk, eine Frau mit langjähriger Häftlingserfahrung, war für mich auch sehr wertvoll. Wir begannen dann, uns in ihrer Wohnung in Boryslaw oder bei uns zu Hause zu treffen. Sie gehörte ebenfalls zur Generation der überzeugten Nationalisten, betrachtete die Welt aber weniger dogmatisch und konnte deshalb meine Überzeugung, die Aufrichtigkeit meiner Gründe und die Harmlosigkeit meines Ziels erkennen und verstehen. Somit hatte ich leider wieder das Problem, eine Arbeit zu finden, was nicht leicht zu lösen war, diesmal aber nicht wegen einer direkten Anweisung des KGB. Damals war gerade Wiktor Gusjew der Leiter der örtlichen Verwaltung des KGB, der mich recht freundlich empfing. Schon während unseres ersten Gesprächs versicherte er mir auf seine Art, »dass meine Vergangenheit keinen Einfluss auf mein weiteres Schicksal hätte«. Durch das KGB würde es für mich also keine weiteren Versuche mehr geben, mein Leben

UNTER DEN KASACHEN 505 irgendwie zu verschlechtern … und er hielt auch Wort. Die Schwierigkeit, einen Arbeitsplatz zu finden, lagen also nicht beim KGB, sondern vielmehr in der typisch menschlichen Lethargie und Angst, einen Fehler zu machen, d. h. in der Befürchtung der Leitung der Betriebe und Einrichtungen in Drohobytsch, dass sie Probleme mit dem KGB bekommen könnten. Erst nach einigen Monaten gelang es mir doch noch, eine Arbeit zu finden. Im Sommer lernte ich Oleg Pelechowytsch aus Drohobytsch kennen, der von meinem Schicksal sehr beeindruckt war und vom Wunsch brannte, mir irgendwie helfen zu können. Er sprach deshalb mit Ihor Saranewytschk, dem Leiter der zweiten Produktionsabteilung der Drohobytscher Erdölraffinerie, der ein mutiger und optimistischer Mensch war. Bald schon begann ich als Anlagenfahrer für katalytisches Reforming (Anlage zur Verarbeitung von Erdöl zur Gewinnung qualitativ hochwertiger Benzine) zu arbeiten. Natürlich musste ich da ganz von vorne beginnen, aber meine Brigade verhielt sich sehr freundlich zu mir und teilte ihr berufliches Wissen, das ich unbedingt brauchte. Allmählich pendelte sich dank Gottes Güte mein neues Leben ein: Ich war wieder zurück in der Ukraine und fand zunächst ein Zuhause bei meiner Mutter. Natürlich besuchte ich meine Schwester Nadijka, die nicht weit entfernt in der Stadt Riwne wohnte, wo sie immer noch unterrichtete. Ich richtete zusammen mit meiner Frau Ljuba unsere gemeinsame Wohnung ein, hatte eine Arbeitsstelle gefunden, wenn auch nicht die von mir gewünschte, die aber trotzdem die nötigen Mittel für meine Existenz brachte. Nun begannen die zwanzig Jahre, die Nadijka später als die wohl besten in unserem Leben bezeichnete. Diese Zeit blieb selbstverständlich nicht ganz ohne bittere Prüfungen, doch es fehlten auch nicht die Geschenke wie die Arbeit als Korrespondent der Drohobytscher Stadt- und Rayonzeitung »Halyzka Sorja« (»Galizische Morgenröte«) und unsere Freundschaften im erweiterten »Familienkreis«, zu dem Bogdan Tscheredartschuk, Ershi Tschecharowska und Petro Bobyk gehörten. Bald schon erschien mit dem Segen von Wasy Iwanyschyn der erste Band der Sammlung meiner Essays »Die Ukraine auf dem Boden der Heiligen Schrift«. Damals gehörte zu unserem persönlichen Umfeld

506 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT auch die Wohltäterin Hania Hryntschyschyn und ihr Mann Bogdan sowie die ganze Schar der Mitglieder der Ortsgruppe »Ukraina-1« von Amnesty International: Ljuba Pahuta, Switlana Charytonowa, Oksana Mundjak, Wira Kuschnir, Nelli und Weronika Antonez, Oles Pohranytschny, Ihor Sawtschak und Leonid Goldberg. Die Ostertage in Drohobytsch hätten wir uns jeweils nicht ohne die herzliche Gastfreundschaft in der Familie von Wira und Jewgen Kuschnir vorstellen können. Später tauchte auch der gesegnete Hafen der »Ukrainischen Katholischen Universität« in meinem Leben auf, wo ich ab 1997 zu arbeiten begann. Nun konnte ich mit Ljuba auch unsere gemeinsame und ruhige Wohnung in Lwiw beziehen. Dort ließ ich wieder Großvaters Harmonium und das in meiner Erinnerung heilige »Marynowytsch-Trio« erklingen. Zuvor war auch Ljubas Neffe Myschko zu uns nach Drohobytsch gezogen. Er absolvierte dort sein Studium am Pädagogischen Institut und heiratete später seine Mitstudentin Iryna Dydyk. Inzwischen hat das Paar drei wunderbare Töchter. Jahr für Jahr bis zu ihrem Tod Ende Mai 2008 waren wir auch immer wieder bei unserer Mama Nina in Pidlisne zu Gast: Sie ist einer der Menschen, die mich auf dieser Erde am meisten geliebt haben. Dies sind also die anderen Seiten meines Lebens. Und ich bin nicht sicher, ob in der himmlischen Kanzlei auch schon der Plan registriert war, über alles, was ich erlebt hatte, einmal meine Erinnerungen zu schreiben … Was dann aber immer noch nicht geklärt war, betraf mein Dilemma im Hinblick auf die Wahl meines bürgerlichen Weges. Im Sommer 1988 fand auf einer Autofahrt von Striy nach Lwiw zusammen mit Senowij Krasiwsky und Jewhen Swerstjuk ein für mich wichtiges Gespräch statt. Man kann es sich leicht vorstellen, was geschieht, wenn drei ehemalige politische Häftlinge aus der Ukraine zusammenkommen: Natürlich war das zukünftige Schicksal der Welt und der Ukraine im Besonderen unser Hauptthema. Wir hörten aufmerksam zu und verglichen unsere verschiedenen Einschätzungen. Das Gespräch war für uns alle wirklich wichtig, denn es geschah gerade eine große Umgestaltung. Unsere Gesellschaft war

UNTER DEN KASACHEN 507 schwanger an Veränderungen und keiner von uns wollte sich einfach nur in seinem Schneckenhaus verkriechen. Wir fühlten uns, wie die große Mehrheit der ehemaligen Häftlinge als Missionare berufen, unsere eigene Welt wirklich verändern zu können. Was aber sollen diejenigen tun, die sich dabei nicht in der Politik sahen? Jewgens Weg erwies sich wohl als der geradlinigste von uns drei. Sein ehrwürdiger Name und die verdiente Achtung in der Gesellschaft machten ihn automatisch zu einer wichtigen Figur in der nun möglichen kulturellen Wiedergeburt der Ukraine. Viele Leute sammelten sich um sein Wort. Sein silberfarbiges Haar konnte man in den Kyjiwer Versammlungen kaum übersehen. Er wurde denn auch zu einer Schlüsselfigur in der neugeborenen Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche (UAOK). Bereits nach einem Jahr verkündete diese Kirche in Kyjiw die Einrichtung eines Patriarchats. Auch Mystyslaw, der neue Patriarch der UAOK, hörte damals besonders auf Jewhen Swerstjuk. Senko plauderte nicht viel über sich aus. Für ihn öffnete sich gerade ein für uns alle mehr oder weniger verständlicher Weg. Er wurde einer der Hauptorganisatoren des Übergangs der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche aus dem Untergrund auf eine legale Basis, er gründete auch die Vereinigung »Staatliche Eigenständigkeit der Ukraine« und war sehr an der Erneuerung des historischen Gedächtnisses der Ukrainer beteiligt. Im Andenken an seine Frau Olena leistete er auch eine großartige Wohltätigkeitsarbeit, indem er politische Häftlinge unterstützte, die nach ihrer Freilassung keine eigenen Existenzmittel hatten – er wurde einfach nie müde, bedürftigen Menschen zu helfen. Er schämte sich nicht, einen Sack Kartoffeln bei einen seiner Freunde abzuholen, um ihn dann sofort zu einem anderen Blutsbruder in die Karpaten zu bringen. Durch seine bescheidene und stille Art wurde diese Arbeit aber von den anderen kaum bemerkt. Auch unsichtbare »schwarze« Arbeit war ihm nicht fremd: So konnte er etwa eine Kreuzprozession auf dem Berg in Goschiwk organisieren und die Leitung dann einem anderen weitergeben und selbst bescheiden zur Seite treten. Für uns drei standen die meisten Fragen noch bevor. Von diesem Gespräch blieben mir eigentlich nur die Schlussfolgerungen im

508 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Gedächtnis. Zunächst wurde mir bewusst, dass ich durch meinen Freiheitsentzug während zehn langen Jahren nicht bei meinem Volk gewesen war. Deshalb musste ich unbedingt unsere Leute neu kennenlernen und auch verstehen lernen, wie gegenwärtig die Stimmung war und was sie sich zutiefst selbst wünschten. Ich war damals wirklich noch nicht darauf vorbereitet, »ein Volk führen« zu können, weil ich es noch gar nicht richtig spürte. Zweitens war ich skeptisch gegenüber der Hoffnung, einen qualitativ anderen Staat in der Ukraine aufbauen zu können, solange sich die Vorstellungen der alten staatlichen Struktur noch nicht in unseren Köpfen verändert hatten. So war für mich nicht die Politik das primäre Interesse, sondern die Mentalität der Menschen, ihre eigene geistige Welt. Gorbatschow hatte mit dem Umbau des politischen und ökonomischen Systems begonnen, aber die Mentalität und die Gewohnheiten der Menschen waren immer noch sowjetisch. Deshalb müsste das ukrainische Volk zuerst noch zusammen mit den anderen postsowjetischen Völkern eine geistige Perestroika durchmachen, eine sehr wichtige qualitative Transformation seines Geistes, sozusagen eine umgekehrte Mutation. Erst dann wären echte Reformen möglich, könnte die Wirtschaft neu starten, würde sich die Korruption verringern und die Achtung vor der Menschenwürde wachsen. Diese weltanschauliche und geistige Perestroika wollte ich unbedingt unterstützen. Heute schäme ich mich nicht für meine Entscheidung. Im Gegenteil, es scheint mir, dass später die beiden Maidane ihre Richtigkeit nur bestätigten. Meine damalige Entscheidung lieferte mich aber einem gewissen Zwiespalt mit diesem neuen revolutionären Mainstream aus. Deshalb war ich selbst kein aktiver Teilnehmer an dieser riesigen politischen Bewegung und an ihren Manifestationen. Die vielen Losungen auf diesen Meetings, die schwarz-weiß Verdikte und die Rufe wie »Schande!«, waren nicht meine Sache. Die politischen Aktivisten in Drohobytsch konnten dies überhaupt nicht verstehen. Mit meiner Lagervergangenheit müsste ich doch perfekt die Funktion eines »Drohobytscher Tschornowil« erfüllen. Dass ich mich davor drückte, in den Präsidien zahlreicher Versammlungen Einsitz zu nehmen, ärgerte sie sehr und ebenso, dass

UNTER DEN KASACHEN 509 ich nicht auf die Tribüne eilen wollte. Als mir 1990, vor den ersten demokratischen Wahlen, angeboten wurde, für die Werchowna Rada zu kandidieren, und ich mich ebenfalls weigerte, wurde von mir oft gesagt: »Er hat einfach Angst.« Ich fühlte mich nicht so sehr als ein Drohobytscher Tschornowil, sondern vielmehr als eine »Kassandra«. Ich freute mich überhaupt nicht über den Enthusiasmus der Demonstrationen, da ich dem Lärm der Meetings und den Losungen einfach nicht so recht glaubte, da ich die ganze Unerfahrenheit der Menschen im Blick auf eine ernsthafte staatliche Arbeit sah. Die kommunistischen Stereotype beeinflussten nach wie vor das Verhalten der Menschen, was ihnen aber kaum auffiel. Würde es sich da wirklich lohnen, die Flaggen zu wechseln oder auf die nationalistische Rhetorik überzugehen, wenn die kommunistische Denkweise nur scheinbar ihre Gefährlichkeit eingebüßt hatte und immer noch allgemein akzeptiert wurde? Die Politik regierte ebenfalls immer noch ganz über die Köpfe der Menschen hinweg. Und die Problematik einer geistigen Einstellung, eigentlich der biblische Eckstein, wurde ständig »auf später« verschoben. Die Menschen freuten sich einfach, dass sie nun die Macht übernommen hatten und waren froh, dass ihre majestätischen trojanischen Pferde mitten auf unseren revolutionären Maidanen zu sehen waren. Sie sahen aber nicht die Gefahr, die davon für uns ausging. Für mich ergab sich damit eine gewisse Tragik: Wenn gerade alle feierten und allgemeine Freude herrschte, sah ich in ihnen schon die Anzeichen künftiger Wehen. Nach dem Sieg des revolutionären Galiziens erwiesen sich leider all meine Befürchtungen als wahr, als sämtliche Aktivisten der Kundgebungen, einer nach dem anderen, zu Opfern der folgenden Versuchungen wurde: fragwürdige Ambitionen, finanzielle Interessen und der Sucht nach Macht. Diese »Kassandra der Trauer mitten im Jubel« wirkte Ende der 1980er-Jahre einfach befremdend, wenn nicht sogar irgendwie verdächtig, was mir durchaus bewusst war. Im Nachwort zu meinem Buch »Die Ukraine auf dem Boden der Heiligen Schrift« wandte ich mich deshalb an die Leser: Ich rede mit dir nicht wie auf einem politischen Meeting, sondern aus einem philosophischen ›Haus am Rande‹. Ich weiß, dass die Mehrheit schief

510 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT darauf schaut – in der Meinung, dass einer in der Robe eines Häftlings und eines Mitgliedes der Helsinki-Gruppe nur eine einzige Rolle erfüllen könnte: die des politischen Leaders und Kämpfers. Zu meiner eigenen Rechtfertigung will ich nur sagen, dass ich mich nicht auf die Seite des Feindes stellte und niemandem meine Flagge abgegeben habe. Im Grunde genommen hörte ich nicht auf, ein Kämpfer zu bleiben, nur die Front meines Kampfes veränderte sich, was nicht alle erkannt haben.178

Schließlich meldete sich bei mir und Ljuba mein unvergessliches Saralshyn, weil wir unsere kasachischen Freunde zu unserer Hochzeit eingeladen hatten. Die Einladung mit Foto war nach demselben Muster gestaltet, wie wir es damals gemacht hatten, und in derselben kasachischen Sprache, wo wir natürlich »Machabbat« beziehungsweise »Shasasynbek« hießen. Die Antwort auf unsere Einladung kam uns sehr herzlich entgegen. Die Saralshyner kamen tatsächlich: mit Bukenbaj und Alibek. Es war eine freudige Begegnung – und ein wehmütiger Abschied. Ein Jahr nach der Freilassung verwirklichte ich in meinem ersten Urlaub eine Nostalgie-Tournee (wie ich damals scherzte, eine Tournee »zu den Orten Lenins«). Ich fuhr nach Vilnius, um Antanas Terljazkas zu besuchen, nach Riga zu Juri Bumeister, nach Charkiw zu Henrich Altunjan und nach Kuibyschew zu Hryhorij Isajew. Dann auch nach Kasachstan, in unser herzensgutes Saralshyn, was bei den Kasachen sehr gut ankam. Sie sagten uns dann: Das erste Mal bist du zu uns gekommen, weil du hierhergebracht und von uns allein gelassen wurdest. Wenn du nun ein zweites Mal und freiwillig zu uns kommst, um uns zu treffen, zeigst du, dass du wirklich unser Freund geworden bist.

Schade war nur, dass ich meine tschetschenischen Freunde im Dorf nicht mehr antreffen konnte. Später suchte mich einmal Adam in Drohobytsch auf. Ich war aber gerade zu meinem Bedauern nicht in der Stadt, womit leider diese Verbindung abbrach. Nach dem Beginn des tschetschenischen Krieges hatte ich meine Hoffnung ganz verloren, mich doch noch mit ihm treffen zu können. Aber nein, es ist nicht wahr, er existiert immer noch, nämlich dann, wenn

178 Die Ukraine auf den Feldern der Heiligen Schrift. Drohobytsch: Wiedergeburt, 1991, S.106f.

UNTER DEN KASACHEN 511 ich das Akkordeon in die Hände nehme und beginne, tschetschenische Melodien zu spielen – dann kommt diese »wilde« Hoffnung in mir auf: Vielleicht wird plötzlich einer von ihnen an meinem Fenster vorbeilaufen und sich wundern, dass er gerade ein tschetschenisches Lied hören kann – und es klingelt an meiner Türe. Heute erfüllt mich die massenhafte Beteiligung tschetschenischer Söldner an den terroristischen Gruppen im Osten der Ukraine mit einem unbeschreiblichen Bedauern. Dieses Volk erlebte doch in den letzten Jahrzehnten zweimal große Tragödien: Zuerst wurde es wegen seiner Suche nach Unabhängigkeit zum Objekt eines furchtbaren Terrors durch die Machthaber im Kreml und dann begann ein Teil von ihnen, diesen Aggressor zu lieben und ihm sogar in kriminellen terroristischen Gruppen unter der Führung des Verbrechers Kadyrow zu dienen. Gleichzeitig bin ich immer noch von Dankbarkeit erfüllt gegenüber all diesen Tschetschenen, die auf unserer Seite im internationalen friedensstiftenden Bataillon Dshochar Dudajews gegen die Anhänger von Kadyrow und die russischen Okkupanten kämpften. Leider ist der legendärer Kommandeur Isa Munajew bereits für unsere Freiheit gefallen. Ich hoffe, dass meine tschetschenischen Freunde, wenn sie wieder einmal auf unserem Boden kämpfen, es gemeinsam mit uns tun werden … Wie ich schon erwähnte, besuchte uns auch einmal mein ehemaliger Vorarbeiter, der Kasache Ural. Er war auf einer Dienstreise in der Ukraine unterwegs. Dabei machte er einen Abstecher zu mir nach Drohobytsch. Er kam gerade während der Präsentation meines ersten Buches »Die Ukraine auf dem Boden der Heiligen Schrift« an. Trotz meiner Briefe brach später leider meine Verbindung zu Saralshyn ganz ab. Vielleicht lag der Grund dafür in einem bestimmten Moment während meines freiwilligen Besuches in Saralshyn. Ich war bei Apaj zu Gast am Dastarchan und unterhielt mich mit ihrem Ehemann. Es war das Jahr 1988 und die Gorbatschow’sche Perestroika brachte uns damals nicht nur einige wenige Elemente der Freiheit, sondern auch die ersten Anzeichen des Ruins. Mein Gastgeber verkündete mir: »Es ist einfach nicht richtig, wenn alle Menschen mitreden. Für uns müsste es so sein, dass einer spricht und die anderen ihm zuhören.«

512 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Da kam mir die Stimme einer einer ganz anderen Zivilisation entgegen, für die die Demokratisierung eine falsche Lockerung der Vertikale der Macht bedeutete. Unter Nasarbajew wurde diese Vorstellung wieder erneuert und unter dieser »Ordnung« wurde es wieder gefährlich, mit einem ehemaligen Häftling weiterhin einen freundschaftlichen Kontakt zu pflegen.

Foto aus dem Heiratsregister in Drohobytsch

Weiteres Foto aus dem Heiratsregister in Drohobytsch

UNTER DEN KASACHEN 513

Meine Mutter und ich in Drohobytsch

Pater Rektor Borys Gudziak und ich bei der Einweihung des UCU

V. Schlussfolgerungen 1. Der Preis des Wachstums in Freiheit An ihrem 70. Geburtstag erzählte mir meine Mutter voller Humor, wie ich als junger Student ihr immer meine Sachen zum Waschen aus dem Wohnheim in Lwiw nach Drohobytsch brachte. Als ich ihr wieder einmal mein großzügiges »Geschenk« überreichte, sang ich ihr, um mich aus der peinlichen Situation herauszureden, die bekannte Strophe aus dem Lied »Zwei Farben« vor: Mich brachte unbekannt wohin das Leben, Und bringe nichts nach Haus, Nur ein Bündel alten Leinens Und mein Leben gestickt darauf.

Zum Abschluss dieses Buches möchte ich nochmals die Zeilen vom Beginn aufnehmen: Mein Leben auf dem Weg eines Dissidenten führte mich in die mir zuvor unbekannte Welt der Lager – und was brachte ich dann nach Hause? Welches Leben ist jetzt auf meinen alten Stoff gestickt? Wenn ich zurückblicke, sehe ich ein endloses Crescendo meiner Unverträglichkeit mit der Sowjetmacht. Der typische Moskauer »Zwang zur Liebe gegenüber dem Sowjetstaat« brachte mir eine ganze Reihe von Bestrafungen für meine Ablehnung, als Informant zu arbeiten, dazu viele Schwierigkeiten bei der Arbeit und zuletzt die Kündigung der Arbeit. Ebenso unzählige Qualen im Alltag, verdeckte oder offene Beschattungen, Provokationen durch das KGB, Verfolgungen und schließlich am 23. April 1977 die Verhaftung, zahllose Verhöre, das Unrecht-Gericht und die langen Etappen in Spezialwaggons durch verschiedene Übergangsgefängnisse, der lange Freiheitsentzug im Lager des besonders strengen Vollzuges im Ural, viele Hungerstreiks und andere Streiks, Hunger und Kälte im Karzer, »Visitationen«, Konfiszierungen und ab April 1984 eine dreijährige Verbannung in Kasachstan. Wenn ich die Zeit ohne die Verfolgungen vor dem Gericht mitrechne, waren es insgesamt zehn Jahre. Als ich verhaftet wurde, war ich 28 Jahre alt, als ich in die Ukraine zurückkehrte 38 Jahre alt … 515

516 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Viele glaubten damals, dass es sich nicht lohnen würde, für den Kampf um die Menschenrechte einen so hohen Preis zu bezahlen. Einige meiner Freunde bezahlten sogar mit ihrem Leben. Dennoch bin ich vom Gegenteil überzeugt und änderte meine Meinung bis heute nicht. Ich erinnere hier an das Bekenntnis des Mephistopheles in der Übersetzung Bunins von Goethes »Faust«: »Ich bin ein Teil der Kraft, die stets das Böse will und doch stets das Gute schafft.« Das Wunder meines Weges als Dissident und Arrestant besteht genau darin, dass Gott alles Böse, dass ich durch das KGB und insgesamt des Sowjetstaates erleiden musste, barmherzig zum Guten wendete. Mir wurde als junger aufstrebender Mensch ein ganzes Jahrzehnt an Freiheit genommen. Ebenso wahr ist, dass mir zuletzt weit mehr gegeben wurde. Als Erstes verliehen mir alle Leiden, die ich in diesem Jahrzehnt durchstehen musste, einen geistigen Tiefgang und höheren Sinn, den ich wohl kaum anders gefunden hätte. So konnte ich als neuer Mensch aus der Haft gehen, so, als wäre ich »ein zweites Mal geboren«, da mich das Lager verwandelte. Nun hatte ich eine eigene persönliche Weltanschauung und wirklich ein Rückgrat. Ein solches Rückgrat ist für einen Menschen nicht immer einfach, wie es sich auch an meinem Leben zeigte. Manchmal kann es uns als viel zu schwach oder bereits gebeugt vorkommen, und es fehlen uns die Worte, unsere eigene persönliche Weltanschauung in Worte zu fassen. Ich bin Gott sehr dankbar, dass mir das gelang. Es wäre auch unmöglich, dass einer dieser reichen Oligarchen sich mit seinen unzähligen Millionen diese Gabe erkaufen könnte. Sie ist nur in der »Preisliste« des Lebens jener gegeben, die dafür unzählige Bestrafungen erlitten und dabei unschuldig waren. Als ich mich den Dissidenten mit ihrem gewaltfreien Protest gegen die totalitäre Gewalt anschloss, fiel mir als Zweites die Ehre zu, zu den letzten Zeugen der Verbrechen des Kommunismus zu gehören – zu den Zeugen, an denen die Brutalität des KGB nichts ausrichten konnte. Präziser gesagt: Die Stimme der Dissidenten der Breschnew-Epoche wäre in den sibirischen Wäldern genauso verhallt wie die Stimmen der Millionen Opfer der Stalin-Epoche, wäre da nicht die solidarische Unterstützung der internationalen

SCHLUSSFOLGERUNGEN 517 Gemeinschaft gewesen. Ich überschätze damit keineswegs die Wirkung der rein dissidentischen Herausforderung des Kommunismus. Umso größer erscheinen mir deshalb auch die selbstlosen Heldentaten meiner Kollegen, die ebenfalls auf diese Karte setzten. Drittens war mir gegeben, die eigene Unzulänglichkeit zu erfahren, um sie in den Momenten der späteren gesellschaftlichen Anerkennung nicht zu vergessen. Der Kampf gegen ein so allumfassendes und völlig verruchtes System, wie das kommunistische es war, konnte nicht einfach elegant und begeistert aussehen wie das Marschieren bei einer Parade. Dieser Kampf war immer auch mit Angst verbunden. Der Instinkt des Selbstschutzes schreit in dir, wenn eine Maschinenpistole auf dich gerichtet wird und du von abgerichteten Hunden umzingelt wirst, du mit dem Gestank in überfüllten Spezialfahrzeugen (den »grünen Minnas«) kämpfst, du ausgezehrt bist vom miserablen Essen und von Hunger, dir angedroht wird, dass deine Haftzeit verlängert wird und du nie mehr in die Ukraine zurückkehren wirst. Genauso wie es kein ewiges Heldentum gibt, gibt es auch keine ewige Angst. Du bist ihrer oft überdrüssig, aber du erhältst immer wieder von irgendwoher neue Kräfte. Dann verstehst du auch, dass für dich kein Versagen oder kein falscher Schritt das Ende bedeutet, denn dein Geist als Mensch vermag es, dich aus sämtlichen Gruben herauszuführen. Es gab in meinem Leben manche Zeiten, in denen alles erschüttert wurde, sich meine Schwäche zeigte, die mich für die Provokationen des KGB verwundbar machte. Ich erinnerte mich oft an die Worte von Rudyard Kipling (wohl in der Übersetzung von Jewhen Swerstjuk): »Jede meiner Niederlagen empfinde ich als eine Herausforderung, die schwere Arbeit von Neuem zu beginnen.« Das alles führte uns zur Hauptquelle, aus der der Mensch Kraft schöpft: seinem Geist. Nur er kann einen unschuldigen Menschen bewegen, dass es besser ist, hinter Gittern zu sitzen, als sich einfach mit dem Unrecht abzufinden. Er veranlasst den Häftling, im Hungerstreik das Brot zu verweigern, obwohl er gerade vom Brot träumt. Die Fähigkeiten des Geistes sind faktisch unbegrenzt, wenn das Gewissen eines Menschen rein ist. Nicht alle Häftlinge sehen in diesem Geist auch die Gnade Gottes. Für mich war es aber

518 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT offensichtlich. Sein Geist öffnete mir den unglaublichen Reichtum der religiösen Dimension des Menschen. Glaube und Opfer sind nicht zu trennen, sie sind eine natürliche gegenseitige Stütze. Ohne Glaube wird ein Opfer zur Folter, in dem derjenige, der dich foltert, die Hauptperson ist. Das »Stockholm-Syndrom« bestätigt, dass Opfer sogar ihre Folterer zu lieben beginnen und diese dann zur Hauptfigur werden. Wenn aber ein Glaube vorhanden ist, wird das Opfer zum Zeugen, indem derjenige die Hauptperson ist, der um der Wahrheit willen freiwillig Qualen erduldet. Gerade dann bewährt sich der Glaube, wenn ein Mensch sich auf die eine oder andere Weise opfert. Bewegten wir uns später vor der Revolution der Würde nicht in einem noch viel größeren moralischen Sumpf, wo sich zu opfern als Dummheit galt, und der Glaube bloß als eine Demonstration vorgetäuschter Frömmigkeit angesehen wurde? Wer einen starken Geist sucht, muss zuerst wirklich davon überzeugt sein, dass er das Richtige tut. Ich war tatsächlich überzeugt, dass das Reich der kommunistischen Lüge früher oder später vergehen wird. Ich glaubte, dass der Wunsch nach Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit kein Verbrechen ist. Ich war überzeugt: Sobald sich ein Zweifel in meine Seele zu schleichen begann, ob mein Handeln wirklich richtig wäre, wäre ich sofort schwach geworden. Noch etwas, was dir im Leben Kraft gibt und oft vergessen wird: die Liebe deiner Verwandten und Freunde. Nur sie sind es, deine Nächsten, deine grenzenlos treue Mutter und deine Schwester, die zu dir ins Lager im Sumpf am Ende des Urals fahren, wo sie dann erniedrigenden Leibesvisitationen und der realen Gefahr, verfolgt zu werden, ausgesetzt sind. Nur eine Ehefrau, die dir bedingungslos vertraut, verlässt das hauptstädtische Kyjiw und fährt zu dir, um in den Sand- und Schneestürmen Kasachstans mit dir zu leben. Zusammen mit der unerschütterlichen Treue der Freunde sind das dann deine archimedischen Stützen, mit denen du in der Lage bist, die ganze Welt auf den Kopf zu stellen. Ich danke Gott für den Tag, an dem ich Mykola Matusewytsch begegnen durfte. Der Schmerz, der unsere Freundschaft manchmal begleitete, wird meine Dankbarkeit niemals übertreffen. Ohne sein

SCHLUSSFOLGERUNGEN 519 starkes »Gravitationsfeld« wäre ich nie auf diesen gesellschaftlichen Orbit gelangt, der mein Leben prägte, und auf dem zu verweilen für mich heute noch eine Ehre ist. Die Mönche im Kloster erfahren dies auf eine vollkommene Weise dank der täglichen Lektüre der Bücher, sogar dann, wenn sie nie Theologie studiert haben. Dieser Vergleich bewegt mich, wenn ich an meine bürgerliche Existenz denke. Sämtliche Mitglieder meiner Familie, alle Freunde meiner Jugendzeit, alle Brüder in meiner Dissidenten-, Lager- oder Verbannungszeit waren für mich ein aufgeschlagenes »Buch Gottes«, in dem ich die Weisheit meiner Lebensmaxime fand. Gott möge ihnen alles hundertfach vergelten! In gewisser Weise hatte ich auch Glück. In der damaligen stürmischen Zeit gab es nur ein klares moralisches Richtig oder Falsch und es existierte tatsächlich ein Epizentrum des Guten, an dem man sich orientieren konnte. Es existierte ein klares Bild von Gut und Böse: Das Gute ist auf unserer Seite und das Böse auf der Seite unserer Rivalen. Dieses einfache bipolare Bild gab uns Stabilität, intellektuelle Ruhe und die Gewissheit, dass wir Recht hatten. Diese Bipolarität wurde später »vom Winde verweht« und das Epizentrum des Guten verschwand: Überall zeigten sich nur Grautöne, vermischte sich alles, wurde relativ und zulässig. Das Gute ging ein Bündnis mit dem Bösen ein und das Böse sah teilweise aus wie das Erhabene und Gute. Der moralische Kompass erlitt in diesen Zeiten einen Schüttelfrost wie ein Kompass mit Geodaten auf dem Südoder Nordpol. Genau das versucht heute der KGB-Mann Putin in den Seelen der Menschen zu erreichen. Wie viele sind es, die sich beirren lassen und zu Zombies werden, zu Stützen seiner teuflischen Provokationen! Wie viele werden zu einer Illustration der Schlussfolgerung von Jewhen Swerstjuk: »Eine Gesellschaft ohne Glauben und Liebe büßt die Fähigkeit ein, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.«179 Zum Glück gelingt es ihm nicht. In diesen Tagen, wo die Kriegsstürme über der Ukraine wehen, ist die oben erwähnte Klarheit erneut da. Es gibt wieder ein moralisches Hoch und Tief, es gibt 179 Kraina, 11.12.2014, Nr.48 (251), S.34.

520 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT wieder ein Epizentrum des Guten, dass wir erreichen können. Und diese Gewissheit ergibt dasselbe einfache Bild: Der gute Bruder ist auf unserer Seite und das Böse auf der Seite der Feinde. Wir stehen auf der Seite des Lichts, dass in der Gefahr steht, von der Dunkelheit absorbiert zu werden. Aber noch einmal: Die Hauptquelle, aus der ein Mensch seine Kraft schöpft, ist der menschliche Geist. Nur er kann einen jungen oder schon älteren Menschen, einen ukrainischen Mann oder eine ukrainische Frau davon überzeugen, dass es besser ist, an der Front zu sterben und die Heimat mit der Waffe in der Hand zu verteidigen, als sich die Sklaverei wieder gefallen zu lassen. Die einzige Rettung ist, seiner eigenen Intuition zu vertrauen, diesem uralten Instinkt (wie ein Reiter, der im Schneesturm dem Instinkt seines Pferdes vertraut), dass nur dann Ordnung und Harmonie in diese Welt entstehen kann, wenn ein Mensch in seiner Seele Gott den nötigen Raum gibt. Die einzige Rettung ist, auf die Maxime von Scheptyzky zu achten: »Merkt euch, dass das Gute niemals durch ein Verhalten erzielt werden kann, das Gottes Gesetz widerspricht.«180 Geistiges Wachstum ist kein bequemer Spaziergang auf der Champs-Élysées: Man holt sich schmerzhafte Beulen, wagt große Opfer. Und vergesst nicht: Viele machen dieselbe Erfahrung. Aber dann entsteht dieser Humus, auf dem eine gerechte Gesellschaftsordnung erwachsen kann. Oder anders ausgedrückt, es ist nur möglich, in der Freiheit zu wachsen, wenn sich da und dort auch ein Fortschritt zeigt. Nur Ungeduldige kommen vom »Feudalismus direkt in den Sozialismus«, der sich dann erneut als ein tiefer Sumpf der Barbarei erweist.

180 Metropolit Andrej Scheptyzky. Dokumente und Materialien 1899–1944; Bd.3: Hirtenbotschaften 1939–1944. Lwiw: AROS, 2010; S.304 (der zitierte Ausspruch ist im Original des Textes hervorgehoben).

SCHLUSSFOLGERUNGEN 521

2. Zur Frage der Genese des ukrainischen Dissidententums Der regulative Mechanismus des sowjetischen Systems war nicht das Geld, sondern die Ideologie. Das ideologische Format der Staatsordnung sah die Existenz einer kanonisierten Version der Wahrheit vor, die Myriaden ihrer Spiegelungen umfasste, normativ für alle konkreten Bereiche des Lebens. Wie damals scherzhaft gesagt wurde, konnte nur gemeinsam mit der Partei von der Linie der Partei abgewichen werden. Jene, die das vorzeitig taten und nicht von oben legitimiert waren, stellten sich buchstäblich außerhalb des Gesetzes und wurden leicht zu Objekten von Verfolgungen. Der »Chrustschow’sche Frühling« Anfang der 1960er-Jahre zerschlug das Image der absoluten Wahrheit der offiziellen Doktrin. Die Entthronung des Stalinkultes bewies, dass die Linie der Partei prinzipiell falsch sein konnte. Die Bewegung der Sechziger war ein Kind dieser Umdeutung. Und ebenso ein Kind der Hoffnung, dass das System korrigiert und humanisiert werden könnte. Genau dies wurde ihm auch zur Last gelegt. Darauf reagierte am besten einer der hervorragendsten Sechziger, Jewhen Swerstjuk: Jemand sagt: ›Sie wollten den Sozialismus besser machen …‹ Andere sagen: ›Sie wollten das Regime ändern.‹ Und die ›kompetenten Organe‹ schrieben selbst: ›Seit 1965 verfertigte er auf Grund seiner antisowjetischen nationalistischen Überzeugungen und mit dem Ziel, die Sowjetmacht zu schädigen und zu schwächen, systematisch antisowjetische verleumderische Dokumente, die er aufbewahrte und vervielfältigte‹; d. h., dass KGB glaubte: Er will das Regime schädigen und stürzen.181

Die Bewegung der Sechziger wurde zum Vorläufer der späteren Bewegung für den Schutz der Menschenrechte, die das Thema der Freiheit von der geistig-kulturellen auf die internationale Ebene hob. Die Dominante veränderte sich: Statt der Aufrufe an die Führung, den Führungsstil zu korrigieren, wurde die Betonung auf gesellschaftlichen Druck gelegt, wenn auch zunächst nur schwach. Der Versuch der Dissidenten, eine offene und legale Tätigkeit zu organisieren, die gegenüber der kommunistischen Macht 181 Jewhen Swerstjuk. Auf den Wellen der »Freiheit«, S.200.

522 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT kritisch war, zeigte das Ende der Totalität der Angst an, geschaffen durch Stalin und den NKWD. Die Lethargie der Angst wirkte weiter. Würdige Männer aus der Gesellschaft »verurteilten jene, die nicht lesen konnten«. Die Angst war aber schon nicht mehr allumfassend. Es fanden sich Leute, die sich erdreisteten, laut und öffentlich zu sagen, dass der König nackt sei. Eine solche Kühnheit sah wie Wahnsinn aus, wie wenn einer seinen Kopf an der Wand einschlägt. Das empörte sogar jene redlichen Patrioten, die glaubten, es sei unmöglich, die kommunistische Macht noch zu ihrer Lebenszeit zu überwinden. Dieser psychologische Bruch hatte für die zukünftige Widerstandsbewegung eine wichtige Bedeutung. Die Genese des ukrainischen Dissidententums war von doppelter Art, was durch die doppelte Natur der UdSSR bedingt war – als totalitärer Staat und als russisches Imperium, getarnt unter der kommunistischen Union. Einerseits war die Dissidentenbewegung der Versuch eines ernsthaften Widerstandes gegen das verbrecherische totalitäre System und hatte zum Ziel, die Gesellschaft zu demokratisieren. In diesem Sinne standen die ukrainischen Dissidenten auf der gemeinsamen Plattform aller sowjetischen Dissidenten. Sogar überzeugte Kommunisten, die einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« suchten, waren Teil der Dissidentenbewegung. Andererseits schöpfte die ukrainische Dissidentenbewegung Kraft aus dem nationalen Befreiungskampf der Ukrainer. Sie war eigentlich deren Fortsetzung, aber bereits mit anderen politischen Mitteln. Wie schon damals gesagt wurde, unterschieden sich die ukrainischen Dissidenten von den russischen. Die ukrainische Bewegung war in ihren Augen keine rein »demokratische«, sondern durch nationale und nationalistische Forderungen »verunreinigt«. Das ukrainische Dissidententum durchlebte mehrere Phasen seiner Entwicklung: die Periode romantischer Hoffnungen (bis zu den ersten Verhaftungen 1965), die Periode der Ernüchterung und der öffentlichen Proteste (bis zur zweiten Welle der Verhaftungen 1972) und die Periode des Radikalismus, der Bewegung und der Tätigkeit als Menschenrechtler (nach 1972 und bis zum Ende der 1980er-Jahre). In der dritten Periode meinte die einheitliche Bezeichnung »ukrainisches Dissidententum« jene bunte Gruppe, die

SCHLUSSFOLGERUNGEN 523 sich nicht einig waren (H. Kasjanow), zu der gemäßigte Intelligenzler gehörten, die vor allem nach schöpferischer Freiheit strebten, als auch jene, die der weltweiten Bewegung für Menschenrechte folgten; und politische Kämpfer, die die Frage des Kampfes gegen das Imperium und für die Unabhängigkeit der Ukraine in den Mittelpunkt stellten. Es stellte sich heraus, dass die legalen Gruppen der Widerstandsbewegung für die Sowjetmacht gefährlicher waren als die illegalen. Nach drei Monaten des Zögerns verhaftete die Macht nacheinander acht von zehn der ersten Mitglieder der Ukrainischen Helsinki-Gruppe (UHG). Zwei weitere wurden des Landes verwiesen. Das mobilisierte aber nur den Protest innerhalb des kritischen Teils der ukrainischen Gesellschaft. Im Verlauf der 1980er-Jahre erlebte die Gruppe zwei weitere Wellen. Es traten »Kamikaze«-Mitglieder in die Gruppe ein – so auch diese, die bereits in Haft oder Verbannung waren. Sie bekamen nun unvermeidlich neue Verfolgungen zu spüren. Heute wird davon ausgegangen, dass in einem knappen Jahrzehnt 41 Mitglieder eintraten. Während der ganzen Zeit ihrer Existenz gab es nur einen Austritt aus der Mitgliedschaft in der UHG (Oles Berdnyk) und einen Suizid (Mychajlo Melnyk). Die Ukrainische Helsinki-Gruppe löste sich nie auf. Sie setzte ihre Tätigkeit auch in der Haft oder im Ausland fort. Diese Behauptung war sogar bis zum 7. Juli 1988 gerechtfertigt, als in einer Deklaration der Ukrainischen Helsinki-Vereinigung (UHV) erklärt wurde: Die Deklaration der Prinzipien der Ukrainischen Helsinki-Vereinigung wie auch das beigefügte Statut der UHV wurden von der seit 1976 existierenden Ukrainischen Helsinki-Gruppe erarbeitet, die hiermit ihre Vollmachten niederlegt und in voller Zusammensetzung in die Ukrainische Helsinki-Vereinigung eintritt.

Die Definition »in voller Zusammensetzung« ist selbstverständlich eine Übertreibung: Mindestens ich weigerte mich, der UHV beizutreten, da ich mich als jemand betrachtete, der an der Menschenrechtstätigkeit beteiligt war und der sich nicht an einer politischen Tätigkeit beteiligen wollte. Ich sagte das auch Wjatscheslaw Tschornowil, mit dem ich die Sache besprach. Ich wollte

524 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT gleichzeitig nicht der Pedanterie verfallen und das Bestreben der Mehrzahl der Mitglieder der UHG blockieren, da ich spürte, dass sie damals an der Spitze einer Epoche standen. Ungeachtet dessen kann ich mich nicht des Eindruckes erwehren, dass die Frage der Sukzession der UHV von der UHG eine eigene Interpretation, abhängig von den politischen Umständen, erfuhr. Es verging nur ein Jahr und Wjatscheslaw Tschornowil trat auf dem Gründungskongress der Ukrainischen Republikanischen Partei 1989 auf und erklärte: Wir waren nicht von Beginn an die Nachfolger der Helsinki-Gruppe. Wir waren die Nachfolger der gesamten nationalen Bewegung, die bis dahin bestand, und in erster Linie die Nachfolger der Sechziger.182

Es muss nochmals betont werden: Die Dissidenten waren keineswegs die ersten unerschrockenen Menschen, die gegen die Realität der kommunistischen Macht auftraten. Die im Untergrund tätige ukrainische Befreiungsbewegung existierte längst zuvor. Es waren zweifelsohne mutige Menschen. Für den durchschnittlichen Bürger der UdSSR, der das System der politischen Propaganda gewohnt war, konnte eine Tätigkeit im Untergrund nicht überzeugen: »Sie verstecken sich, das heißt doch, sie sind Feinde.« Der Faktor Öffentlichkeit, die mit der Tätigkeit der Ukrainischen Helsinki-Gruppe Wirklichkeit wurde, hatte eine durchaus prinzipielle Bedeutung. In der Zeit, als die Ukraine die Unabhängigkeit erlangte, entstanden bei den Mitgliedern der ukrainischen Widerstandsbewegung der 1960er- und 1980er-Jahre unterschiedliche Ansichten in Bezug auf die gesellschaftspolitische Orientierung. Ein Teil, der sich auf den Wechsel des staatlichen Systems konzentrierte, führte die politische Opposition an und machte, wie allgemein bekannt, politische Karriere. Der kleinere Teil der Dissidenten weigerte sich dagegen, sich einer politischen Tätigkeit anzuschließen und verteidigte weiterhin die Menschenrechte oder wirkte auf dem kulturell-religiösen Feld. Ein Teil der ehemaligen Dissidenten und politischen Häftlinge zog

182 Volksbewegung der Ukraine: Platz in der Geschichte und Politik (http:// web.archive.org/web/20200210170308/http://referatu.net.ua:80/referats/ 207/41753/?page=9).

SCHLUSSFOLGERUNGEN 525 sich aus Altersgründen oder ihres gesundheitlichen Zustandes wegen aus der aktiven Tätigkeit zurück. Sie ließen sich nur in ganz bestimmten Fällen zu weiteren bürgerrechtlichen Schritten bewegen. Die Vielfalt der politischen Orientierungen, die von den ehemaligen Dissidenten gewählt wurden, illustriert deutlich die Tatsache, dass sie vor allem die Ablehnung des imperialen und totalitären kommunistischen Systems vereinte. Die Wege der künftigen Entwicklung der Ukraine dagegen sahen alle auf ihre eigene Weise. Wie sich später herausstellte, führte es zu einer Schwächung des Dissidententums, das seine politischen Kräfte zersplitterte und zu inneren Konflikten führte. Das Dissidententum zeichnete sich noch durch einen weiteren wichtigen Bruch aus. Ähnlich wie bei der polnischen Solidarność, die den Mythos der bedingungslosen Unterstützung der »Arbeiterund Bauernmacht« durch ihren Hegemonen, die Arbeiterklasse, zerschlug, zerstörte auch das Dissidententum (besonders das ukrainische) den Mythos der »demokratischsten Ordnung der Welt«. Dies stellte die Macht vor eine äußerst komplizierte Situation; es war genau das, was in den Augen ausländischer nationalistischer Befreiungsbewegungen nach einem gefährlichen Versöhnlertum aussah. Die UHG stellte nicht mehr die Frage nach dem Wechsel der Staatsordnung, sondern trat für die Unterstützung jener Prinzipien auf, die per Unterschrift von der Staatsführung gebilligt worden war. Die Mitglieder der UHG nicht zu verhaften, hieße einerseits, dem »Virus des Ungehorsams« zu erlauben, weiterhin Menschen zu infizieren. Andererseits hieße, sie zu verhaften, nicht demokratische Zustände zu befürworten, und damit Verfolgung von Kritik und freiem Wort. Die Macht wählte das zweite und begann immer stärker, die Schrauben anzuziehen, obwohl die traditionelle Beschuldigung, dass die Mitglieder der UHG »verleumderische Gedanken, welche die sowjetisch-staatliche und gesellschaftliche Ordnung verunglimpfen«, längst nicht mehr überzeugte. Die Tätigkeit der Dissidenten machte dieses ideologisch-propagandistische Konstrukt deutlich sichtbar, auf das sich, wie sich später herausstellte, das gesamte kommunistische Gefüge stützte und es beschleunigte deren Zersetzung. Das kommunistische

526 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Imperium war tatsächlich ein Imperium politisch-inkarnierter Heuchelei. Deshalb hatte das Wort der Wahrheit sogar dann, wenn es nicht mit rein politischen Termini formuliert wurde, einen riesigen Einfluss auf das politische Leben des Landes. Für mich persönlich erscheint diese Definition des Dissidententums zutreffend, die der russische Dissident Andrij Amalrik gab: [Die Dissidenten] machten eine genial einfache Sache: Sie begannen sich in einem unfreien Land wie freie Menschen zu verhalten und die moralische Atmosphäre und die im Land herrschende Tradition auf diese Art zu verändern.183

Das Dissidententum war auch eine bemerkenswerte Erscheinung in ihrer geistigen Perspektive. Selbst wenn sie keine rein religiöse Bewegung war – die Überzeugungen der Mitglieder der UHG unterschieden sich in diesem Sinn nicht wesentlich – unterstützte sie grundsätzlich die religiöse Dimension des Lebens und trat für den Schutz konkreter kirchlicher Gemeinschaften ein, die ihre Rechte einforderten. Und das Wichtigste: Den Dissidenten gelang es endgültig, das menschliche Gewissen zu wecken, das sich während der Kämpfe in Tbilissi und Vilnius, Baku und Lwiw zu Gorbatschows Zeiten lautstark meldete. Das kommunistische Imperium war immer noch ein Imperium des Bösen, der Arglist, der Aggression und der Gewalt: Die Dissidenten bildeten aber die vorderste Front der geistigen Opposition gegen diese Macht. Diese Tatsache äußerte sich später, als die Dissidenten begannen, in den politischen Strudel einzutauchen und ihr geistiges Kapital einzubüßen. Erst dann, als die Podeste ihrer Autoritäten zu bröseln begannen, wurde klar, wer bisher darauf gestanden hatte. Deshalb ist es verständlich, weshalb ich für mich nie das ausschließliche Recht für die Verdienste der UHG (oder noch umfassender aller Dissidenten) in Anspruch nehme. Erstens wäre es ungerecht gegenüber den anderen Kämpfern gegen das kommunistische Regime. Zweitens definiert immer die Geschichte und nicht

183 Bewegung für Menschenrechte (http://web.archive.org/web/20160303203821 /http://memo.ru/history/diss/books/ALEXEEWA/Chapter16a.htm).

SCHLUSSFOLGERUNGEN 527 die Menschen die wahre Ehre und die endgültige Bewertung. Aber mindestens ein Verdienst der Dissidenten ist heute bereits offensichtlich: Sie wurden zu Katalysatoren der Bewusstwerdung dessen, dass die sozialen Nöte der Menschen und die bürgerliche Passivität ihnen gegenüber Dinge sind, die eng miteinander verbunden sind. Eine Gesellschaft muss gesunden wollen. Dieser Prozess muss aber von unten beginnen, bei den Seelen der Menschen, die aus ihrer bürgerlichen Lethargie erwacht sind. Der passive Mensch, der von einer sklavischen Unterwürfigkeit geprägt ist, wartet einfach, bis das glückliche Leben von oben zu ihm herabkommt. Der Mensch aber, der seiner Bestimmung würdig ist, ändert sich zunächst selbst und danach gestaltet er die ganze Gesellschaft um. Ich bin glücklich, dass der Beitrag des Dissidententums zu einem geistigen Code führte, der ihn heute »genetisch« mit allen ukrainischen Maidans verbindet. Die Bezeichnungen ändern sich, das Wesen aber bleibt: Die Menschen finden in diesen kurzen historischen Momenten – spontan oder bewusst – ihre »eigene« Tonalität und ihre Sprache erzeugt eine mächtige Resonanz mit den Urquellen des Seins.

3. Die Werte des Dissidententums und die Gegenwart Das ukrainische Dissidententum kann mit einem gewissen Stolz auf das blicken, was durch sie in unserer Nation bisher auf dem Gebiet der Demokratie erreicht worden ist – aber es könnte verzweifeln, was die Moral betrifft. Der für uns wohl wichtigste Wert war die Freiheit, die all diese Leute verteidigten, die sich am Kampf der Widerstandsbewegung für die bürgerliche und die nationale, aber auch die kreative und religiöse Freiheit eingesetzt haben. Die gestellten Ziele wurden im großen Ganzen erreicht, aber nur im Vergleich zu früher. Das heutige Niveau der bürgerlichen Freiheiten ist, verglichen mit der Sowjetzeit, um ein Vielfaches gestiegen, doch die Verletzungen der Menschenrechte sind nicht einfach verschwunden, sie haben nur ihren Charakter verändert. Ich vermute, dass das Thema der Verteidigung der Menschenrechte in seinem vollen Ausmaß

528 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT auch nach Beendigung des »hybriden« (genauer gesagt: des völlig widerlichen) Krieges Russlands gegen die Ukraine erhalten bleiben wird. Es erfüllte sich auch ein weiterer Traum der Dissidenten: Es wurde die staatliche Unabhängigkeit der Ukraine erreicht. Die offensichtliche »Nabelschnur« aber, die die Ukraine an Russland bindet, wurde nicht durchtrennt. Unsere faktische Unabhängigkeit wurde seither wesentlich geschwächt und teilweise sogar zu einer bloßen Dekoration. Was die Dissidenten nicht erreichen konnten, erreicht Putin heute. Indem das Regime Putins in der Ukraine unermessliches Leid und Blut bringt, führt es innerhalb der ukrainischen Gesellschaft gleichzeitig zu einem Konsens über die Notwendigkeit der Unabhängigkeit. Das verleiht ihr die Stärke eines Damaszenerschwerts, die ihr bis vor Kurzem noch fehlte. All das wurde möglich. Und es funktioniert auch eine weitere Errungenschaft der Dissidenten: die unermüdliche Bemühung um die Herstellung des Friedens unter den Ethnien und um die Freiheit für die ethnischen Minderheiten. Die russische Propaganda ließ sich auf groteske Lügen und Einschüchterungen ein, um die Karte der Separatisten auf der Krim und im Osten der Ukraine auszuspielen. Ohne die Erfahrung des friedlichen Zusammenlebens in der unabhängigen Ukraine und ohne die Einsicht, dass die Würde der Bürger unabhängig ihrer ethnischen Herkunft geschützt werden muss, wären weder die Revolution der Würde noch der Euromaidan möglich gewesen und ebenso nicht die gegenwärtige Einheit der ukrainischen politischen Nation in ihrer Verteidigung der Freiheit. Der wohl deutlichste Fortschritt betrifft die Religionsfreiheit. Sie wurde bereits von den Häftlingen der Breschnew’schen Lager in großer Übereinstimmung eingefordert. Dank der annähernden Parität der verschiedenen religiösen und konfessionellen Gruppen stießen die Versuche der Macht, eine bestimmte Kirche zu favorisieren, damals auf einen erheblichen Widerstand. Entgegen der titanenhaften Anstrengung des Regimes von Janukowytsch, in der Ukraine wieder das russische Modell der Instrumentalisierung der Kirche zu errichten, behauptete sich die Religionsfreiheit und zeigte ihre Fähigkeit zur Stabilisierung. Zum Glück gelang es nicht,

SCHLUSSFOLGERUNGEN 529 den ukrainischen religiösen »Dschinn« in die Flasche des »Dritten Rom« und der »russischen Welt« zurückzugießen. Im großen Ganzen ist die Mission der Dissidenten in vielen sie bestimmenden Parametern einer nationalen Existenz erfolgreich gewesen, muss aber in bestimmten Fällen noch nicht als völlig unumkehrbar angesehen werden, da die neuen Errungenschaften bisher keine ihnen entsprechende gesetzliche und systemische Garantie erhielten. Es gibt nämlich zwei Bereiche, in denen diese Mission dauerhaft eine spürbare Niederlage erlitten hat. Es betrifft die Überzeugung der Dissidenten, dass dem Recht der Vorrang gehört, und ihrem Glauben an die Wiedergeburt der gesellschaftlichen und individuellen Moral. Die Art und Weise der Gesetz- und Sittenlosigkeit veränderte sich in der kommunistischen Periode ständig und es entstand der Eindruck, sie verstärkten sich eigentlich nur, da die bisherigen bremsenden Mechanismen versagten. So nahm die Korruption zu. Der Orangenen Revolution gelang es zwar, die Hoffnung auf eine gesellschaftliche Gesundung wiederzubeleben, aber nicht für lange. Die Schwäche der bürgerlichen Gesellschaft ermöglichte keine Kontrolle der Missbräuche in Verwaltung und Wirtschaft. Die Krise des Rechtsstaates förderte zudem das Gefühl der Schutzlosigkeit und im Volk entwickelte sich der Eindruck eines rechtlichen Nihilismus. Der nationale Diskurs adaptiere die Clanloyalität und die Einstellung, von der Konjunktur nur für sich profitieren zu wollen. Man gewöhnte sich daran, Unwahrheit und Arglist zu tolerieren. Das alles führte dazu, dass die ukrainische Demokratie das Schicksal aller schwachen Demokratien teilte: Diejenigen, die an die Macht kamen, stellten sich das Ziel, sie abzuschaffen. Die Ukraine unter Janukowytsch verkam bald zum Autoritarismus nach Putins Modell. Nur wenige glaubten am Vorabend des Euromaidans an die Möglichkeit, in der Ukraine eine gerechte Ordnung errichten zu können. Die Revolution der Würde war praktisch Gottes Rettung im letzten Moment. Die Ukraine konnte endlich unter großen Opfern den »Zaum« der toxischen »russischen Welt« abwerfen, der nicht

530 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT um ihren »Hals« passte. Es gelang dem Maidan, zu beweisen, was die Ukraine nicht sein will. Viel komplizierter ist heute die Verwirklichung des positiven Ideals. Der Angriff Putins stoppte die Ukraine im Moment ihres größten und leidenschaftlichsten Aufstiegs. Das Potenzial der Revolution der Würde ist jedoch, wie das Jahr 2022 zeigt, noch längst nicht ausgeschöpft. Das Wichtigste ist: Die ukrainische Gesellschaft versteht nun, dass sie für ihre eigene Unabhängigkeit und für ihr eigenes Glück kämpfen muss. Und sie versteht auch, was geschieht, wenn die Stimme der Dissidenten wie bei Breschnew ein vergeblicher Ruf in die Wüste bleibt. Alle Oppositionellen in der damaligen Sowjetunion waren aufrichtig der Überzeugung, dass die nächste und später die postkommunistische Regierung vernünftiger, intelligenter und effektiver wäre. Wie sollte sie denn noch mehr degradieren können? Nun ja, heute gibt es ebenfalls ein Problem mit diesem Glauben. Im Verlauf der drei Jahrzehnte ukrainischer Unabhängigkeit versuchten die Intellektuellen, neue Perspektiven und Strategien der Entwicklung zu formulieren. Sie konnten sie aber wegen der immer größeren Geschlossenheit der Macht nicht entwickeln. Die politische Elite brauchte die Intelligenz und die Opposition – doch faktisch nur, um sich zur Befriedigung der eigenen Machtgier ihrer zu bedienen. Die untere Grenze der Degradierung der Regierungen war noch tiefer, als man sich vorstellen konnte. Die Maidane, insbesondere der letzte, die Revolution der Würde, waren in der Lage, die Situation zum Besseren zu verändern. Sie hätten prinzipiell ein starker Faktor des sozialen Fortschritts sein können, der neue und perspektivenreiche Kader ans Ruder bringt, die wirklich Entscheidungen treffen. Nun ja, neue Kader kamen dann doch an die Macht, aber deren Geschlossenheit hat sich dadurch nicht wirklich verändert. Natürlich, es wäre eine Sünde, gewisse positive Veränderungen nicht sehen zu wollen, insbesondere die Geschlossenheit des Volkes um die Regierung nach Beginn der umfassenden Aggression Russlands. Aber reicht das nach unserem Sieg in diesem Krieg aus, um den »Augiasstall« der ukrainischen Eliten auszumisten? Es ist ebenfalls schwierig, verfolgen zu müssen, wie wirkungslos die Stimmen einzelner moralischer Autoritäten (auch unter den

SCHLUSSFOLGERUNGEN 531 ehemaligen Dissidenten, so etwa die Stimme von Jewhen Swerstjuk) blieben. Lange Zeit schien es, dass die Stimmen hoffnungslos »in der Wüste versanden«. Ihre Schwäche liegt nicht darin, dass das Volk ihre Schlussfolgerungen über die moralische Dekadenz der Machtelite angeblich nicht teilte. Im Jahr 2002 bezeichneten in einer Umfrage mehr als 55 % den Niedergang der Moral als Hauptursache der gegenwärtigen gesellschaftlichen Krise der Ukraine. Das Problem besteht in Wirklichkeit darin, dass die Leute es nicht wagten, dem Aufruf der moralischen Autoritäten zu folgen. Der rechtlichen und moralischen Zügellosigkeit entgegenzutreten hieße, wenn man nicht mit der zwischenmenschlichen Solidarität rechnen kann, einen selbstmörderischen Weg einzuschlagen. Die uralte Losung von Solschenizyn, »nicht nach der Lüge zu leben«, blieb ebenfalls ein Traum. Bis vor kurzem lebte die Ukraine, ungeachtet aller Fortschritte auf dem Gebiet der Freiheit des Wortes, immer noch nicht in Übereinstimmung mit der Wahrheit. Die Freiheit des Wortes und der Presse wurde durch die Interessen verschiedener Clans eingeschränkt. Jeder hob einen Teil der Wahrheit hervor und würzte sie mit Irreführung. Eine ganze Reihe von Halbwahrheiten wurde verbreitet, die beim »einfachen Volk« Verwirrung stifteten und als große Unwahrheit aufgenommen wurden. Als aber beide Maidane ihre Stimme erhoben, stellte sich heraus, dass ihre moralischen Losungen faktisch ein aus Millionen Stimmen bestehender Refrain jener moralischen Prinzipien waren, die bereits die Kämpfer der Widerstandsbewegung anstimmten, wenn auch mit weniger Resonanz. Das ist schließlich verständlich, da weder die einen noch die anderen die moralischen Prinzipien erfanden, sondern sich auf das beriefen, was für die menschliche Zivilisation grundlegend ist. Der zweite Maidan erlaubte nicht, die Ukraine in den Abgrund der autoritären Willkür zu stoßen. Er ermutigte die zahlreichen Kohorten von Enthusiasten zu einer geistigen Wende. Die endgültige Metanoia, die Katharsis und Umgestaltung des ganzen Volkes, steht aber noch bevor, nach dem Krieg und als Ergebnis des Krieges. Die Ukraine braucht, um das alles zu erreichen, eine neue solidarische Bürgerbewegung, eine Bewegung für die Durchsetzung des Vorrangs des Rechts und der moralischen Gesundung der

532 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Gesellschaft. Es besteht die Hoffnung, dass eine Bewegung der Transformation auf der Grundlage des Euromaidan entstehen könnte. Den Enthusiasten gelingt es aber bisher nicht, dieses ungestüme Bollwerk durch ihre angeblichen Verbündeten zu überwinden: den alten Parteien der Opposition. Eine wirklich neue gesellschaftspolitische Bewegung würde den veralteten Parteiprojekten eine vernichtende Niederlage zufügen. Die Gesellschaft brodelte nach dem Maidan buchstäblich vom Wunsch nach Veränderung. Sie vermochte es aber nicht, aus dem 23-jährigen Paradigma herauszukommen. Ein ewiger Teufelskreis hält uns gefangen: Momentan ist es unmöglich, die nötigen Reformen ohne die bestehenden politischen Eliten durchzuführen. Diese aber wehren sich offen oder versteckt, da ihnen Reformen, wenn nicht ihre Inhaftierung, so doch zumindest ihren politischen und karrieremäßigen Tod bringen. Wir haben eine paradoxe Situation: Die Ukraine wollte zwar Veränderungen, aber sie vermochte es nicht, sich selbst zu verändern. Fassen wir zusammen: Einerseits führen die ukrainischen Dissidenten ihre Gesellschaften nicht, im Unterschied zu Polen oder der Tschechischen Republik, zum endgültigen Sieg der Demokratie. Die von ihnen erzielten Siege waren zum Teil nur vorübergehend und instabil. Ihre große leidenschaftliche Energie nutzten andere politische Kräfte. Auf der anderen Seite können wir sicher sagen, dass die Dissidenten zu denjenigen gehörten, die die wichtigste Voraussetzung für eine weitere Transformation schufen: ein Leben in Freiheit. Das ukrainische Volk erlebte während drei Jahrzehnten eine hohe Schule der Freiheit. Auch wenn diese Erfahrung teilweise negativ war, ist sie trotzdem unschätzbar wertvoll, damit die Menschen aus dem Zustand des totalitären »Schräubchens« zum Niveau eines verantwortungsbewussten Bürgers heranwachsen können. Freiheit ist undenkbar ohne Verantwortung, wovon auch diese Ukrainer überzeugt werden müssen, die die Freiheit erlangten, ohne sie geistig auch zu wollen. Sie verhielten sich ihr gegenüber wie Kinder, die die Freiheit als das Recht verstehen, straflos ein Kätzchen zu quälen.

SCHLUSSFOLGERUNGEN 533 Es sollten aber trotz offensichtlichem Versagen keineswegs die ukrainischen Dissidenten zur Verantwortung gezogen werden. Man muss sich bewusst sein, dass alle anderen »samtenen« Revolutionen in den Grenzen der westlichen lateinisch-protestantischen kulturellen Welt stattfanden. In der Ukraine stößt aber die dritte Welle der Demokratisierung (nach Huntington) auf eine unsichtbare und sehr deutlich spürbare Wand, die die euroatlantische und die euroasiatische Kulturzone voneinander trennen. Die damaligen ukrainischen Dissidenten konnten diese Wand in den Grenzen der ihnen zugänglichen Konzepte nicht grundlegend überwinden. Die euroasiatische Welt an die Ostgrenze der Ukraine zurückdrängen zu können, ist erst heute möglich geworden, in der Feuerprobe dieses entscheidenden Krieges. Es scheint mir, wir müssen uns damit zufriedengeben, dass »Gottes Mühlen langsam mahlen« …

4. Das »Bermudadreieck« des Dissidententums: Verbrechen, Strafe und Vergebung Die erwähnte Unfähigkeit der ukrainischen demokratischen Eliten, in der Ukraine den Modus des Vorrangs des Rechtes einzuführen, wirft noch eine weitere wichtige Frage auf: Machten es die Dissidenten richtig, als sie nach dem Fall der UdSSR nicht forderten, dass ihre Unterdrücker zur Verantwortung gezogen werden? Damals überwog der Wunsch, alles mit einem neuen unbeschriebenen Blatt zu beginnen: »Wir verfolgen euch nicht, also brecht jetzt einfach mit eurer Vergangenheit und bestätigt die Demokratie.« War diese Haltung richtig? Ich persönlich wollte nach der Freilassung nicht Richter sein, weil ich mich aus eigener Erfahrung daran erinnere, wie wenig mich von der Demut des »ich verstehe nicht« vom kommunistischen Bösen trennte. In meinem Fall wäre die Rolle des Richters nicht nur moralisch ungerechtfertigt, sondern auch unangemessen: Ich müsste dann über die Hälfte des eigenen Volkes richten. Geistig bereit zur Vergebung, gehörte ich zu Beginn der 1990er-Jahre zu den Dissidenten, denen es nicht darum ging, unsere Widersacher zur Verantwortung zu ziehen.

534 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT In meinem Essay »Sühne des Kommunismus« formulierte ich sogar als Schlussfolgerung: Das Verbrechen des Kommunismus ist das Verbrechen von Kain, der seine Hand gegen seinen Bruder erhob. Das Verbrechen ist viel zu groß, um es in seinem ganzen Ausmaß durch ein menschliches Gericht verurteilen zu können.

Die UdSSR war tatsächlich in ihrem Unglück ein riesiges Land, das sich aber stolz wie das alte Babylon als unfähig erwies, den Turm des kommunistischen Paradieses an seiner Spitze zu errichten, dabei aber in Wirklichkeit mit seinem Blut die Stufen der Hölle beschmutzte. In Zeiten des Friedens wurden damals einige Dutzend Millionen des eigenen Volkes vernichtet. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs stellte sich die UdSSR auf die Seite Hitlers. Mit ihm zusammen wurde Polen von der Landkarte ausgelöscht, Finnland wurde angegriffen, die baltischen Länder überfallen, fast ganz Galizien nach Sibirien deportiert und die Krimtataren in die mittelasiatische Steppe. Das alles war nicht nur ein schrecklicher Verrat am eigenen sogenannten »sowjetischen Volk«, sondern ebenso ein Verrat an der Menschlichkeit und ein Verbrechen im Ausmaß Kains, das keine Rechtfertigung kennt. Ähnliche Verbrechen geschehen nun weiter unter Putin. Ich erinnere an die Bibelworte: »Und der Herr machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände« (1. Mose 4, 15). Gott spricht damit Kain nicht von einem Gericht und einer Strafe frei. Er behält sich das Gericht und die Strafe aber selbst vor. In diesem Tabu über eine menschliche Bestrafung kommt uns deutlich die Einstellung des Apostels Paulus entgegen: »Rächt euch selbst nicht, meine Lieben, sondern gebt dem Zorn Gottes Raum; denn es steht geschrieben: ›Mein ist die Rache und ich will vergelten, spricht der Herr‹« (Römer 12, 19). Habe ich damit die Bibel richtig gedeutet? Zu Beginn der 1990er-Jahre wechselte die kommunistische Elite aus Angst und nicht aus Reue ihre ideologische Flagge, was aber wenig an ihrem Wesen veränderte. Dass es zu keiner Verurteilung und Bestrafung für die Verbrechen des Kommunismus kam,

SCHLUSSFOLGERUNGEN 535 führte schließlich zu den Verbrechen der Epoche der Präsidenten Leonid Krawtschuk und Leonid Kutschma. Die Orangene Revolution forderte dann erneut den Vorrang des Rechts. Die Inkonsequenz des Präsidenten Juschtschenko führte dann dazu, dass diejenigen, die für die Verletzung des Wahlrechts des Volkes verantwortlich waren, völlig legitime politische Opponenten wurden. Dies alles beeinflusste fatal das Vertrauen der Menschen und die faktischen Möglichkeiten einer Erneuerung der Gerechtigkeit. Die kriminelle Elite war von ihrer unübertroffenen Fähigkeit überzeugt, »die Leute wie blinde Katzen herumzuführen«, was in der Epoche von Janukowytsch zu noch schrecklicheren Verbrechen führte. Und es scheint offenbar so zu sein, dass das nie aufhört, wenn wir uns nicht erneut der Harke bedienen. Ein Verbrechen kann nur dann vergangen sein, wenn es verurteilt und bestraft wird, denn jedes unbestrafte Verbrechen kehrt in neuen Tragödien zurück. Offenbar haben wir Dissidenten das zu wenig berücksichtigt Es gab noch einen anderen typischen Fehler. Im Jahr 2005 sagte Wiktor Juschtschenko, als er auf die Vorwürfe der Bevölkerung in Lwiw in Bezug auf die fehlende Verurteilung der Verbrechen reagierte: »Ich dachte, in Lwiw leben doch Christen …« Hinter diesem Satz steckt die Überzeugung, dass wir offenbar weder die Logik des Vorrangs des Rechtes noch das Christentum wirklich kennen würden. Doch Vergebung ist kein Synonym für Straflosigkeit. Straflosigkeit macht ein Verbrechen attraktiv und einen Verbrecher unverschämt. Er verachtet damit nicht nur diejenigen, die erleben mussten, dass nicht bestraft wurde, sondern versteht Vergebung als eine Schwäche. Eine allgemeine Vergebung ohne Rückgrat hat nichts zu tun mit einer wirklich christlichen Vergebung. Als Papst Johannes Paul II. zu Ağca ins Gefängnis ging und ihm für den Anschlag auf sein Leben vergab, versuchte er nicht, ihm die Türe des Gefängnisses zu öffnen. Christliche Vergebung ist ein moralischer Akt, der keineswegs im Widerspruch zur Vorherrschaft des Rechts steht und damit deren Stärke abschafft: Sie ist eine Säuberung der Seele und nicht der Gefängnisse. Die gerechte Bestrafung eines Verbrechens ist keine Rache, sondern die nötige Reinigung des Organismus

536 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT einer Gesellschaft, der durch den »Müll« der Gewalt infiziert ist. Ohne diese Reinigung verwandelt sich eine Gesellschaft in ein großes Krebsgeschwür. Vergebung ist nicht für die eine Wohltat, denen vergeben wird, sondern für die, die vergeben. Wer vergibt, befreit sich vom Gesetz, sich rächen zu müssen. Die gerechte Bestrafung eines Verbrechers braucht keine Befriedigung durch Gefühle nach Rache. Es braucht aber die Strafe, um die Kette des Bösen zu zerreißen. Denn von jedem unbestraften Verbrecher können wieder andere Menschen leiden. Im Südafrika des 20. Jahrhundert wurden fast vorbildlich beide Prinzipien praktiziert: das Prinzip des Vorrangs des Rechts und das Prinzip christlicher Vergebung. Der gewaltlose Charakter der Demontage des Apartheid-Systems wurde nicht nur durch Vereinbarungen hinter den Kulissen gesichert, sondern durch das offene Gespräch mit dem Volk. Das Ergebnis war, dass verstanden werden konnte, wie nötig eine wirkliche Bereinigung und Läuterung ist. Es wurde eine nationale Kommission der Gerechtigkeit geschaffen, in die Menschen mit einer außerordentlich integren moralischen Autorität berufen wurden. Diese Kommission nahm dann freiwillige Zeugnisse der Reue von denen entgegen, deren Gewissen durch ihr Verbrechen belastet war. Die Tatsache des Sammelns solcher aufrichtigen Zeugnisse befreite sie dann vor weiteren Strafen. Wer dagegen nicht freiwillig seine Schuld bekennen wollte, bewies damit, dass er als Verbrecher für die Gesellschaft weiterhin gefährlich bleibt und deshalb verurteilt werden muss. Der Erfolg der südafrikanischen Kommission beruht darauf, dass damit ein ausreichend effektiver rechtlicher Mechanismus der Läuterung des menschlichen Gewissens geschaffen wurde. Wer freiwillig ein Geständnis ablegte und durch die Bevollmächtigten des Volkes Vergebung erhielt, hörte nicht nur auf, sich um die eigene Sicherheit zu sorgen, sondern stellte sich damit auch entschlossen auf die Seite des Guten und musste das verbrecherische Apartheid-System nicht weiter panisch unterstützen. Die Vergangenheit lastete nicht mehr auf ihm und er erhielt das moralische Recht, sein Leben mit einer unbeschriebenen sauberen Seite zu

SCHLUSSFOLGERUNGEN 537 beginnen. Wer die Freiheit eines geläuterten Gewissens kennt, versteht auch, welche geistige Kräfte damit freigesetzt werden. Vor diesem Hintergrund bestürzt es umso mehr, wie ungeschickt die ukrainische Gesellschaft damit umging. Als bereits der dritte Maidan kam, verhöhnte immer noch die Mehrheit der offensichtlichen Verbrecher zynisch das Volk, das sie bestahlen. Auch heute noch spüren sie keine Reue: Ihre Reihen schließen sich sogar noch mehr, damit sie den Reinigungseffekt des Maidan verhindern können. Auf diese Weise halten sie das verdorbene System ihrer Missbräuche weiter aufrecht, da sie durch die neue Ordnung befürchten müssen, dass sie in ihrer Gier entlarvt werden und ihre ungerechten Erwerbungen verlieren. So verteidigen sie die alte Ordnung um jeden Preis und rechtfertigen es damit, dass sie sich und ihre Familien retten wollen. Doch die Harke liegt bereits vor unseren Füßen und wartet auf einen neuen Einsatz. Putin führt nun seinen Schlag und rechnet mit der Unterstützung der alten machtgierigen und korrupten Schicht in der ukrainischen Gesellschaft. Als Gesamtgesellschaft sollten wir übrigens nicht nur die Verantwortung der großen »Haie« bedenken, sondern auch der sogenannten »kleinen Leute«, die ebenfalls Unrecht begingen, sich dessen zumeist aber nicht bewusst waren und das Unrecht als einen logischen Aspekt des Lebens akzeptierten. Heute beruhigen sie ihr Gewissen durch das berühmte Sklavensprichwort: »Wir hielten uns doch bloß an das, was das Gesetz von uns forderte.« Dabei beziehe ich mich auf ein Beispiel aus dem Leben von Walerij Martschenko, damit besser verständlich wird, was ich meine. Als Walerij nach der ersten Verhaftung nach Kyjiw zurückkehrte, musste er sich intensiv mit der Behandlung seiner chronischen Nierenentzündung befassen. Die italienische Aktivistin Sandra Fappiano vom Amnesty International versuchte ihn damals zu retten und wurde dank ihres Briefwechsels zu seiner guten Freundin. Sie unternahm unglaubliche Anstrengungen, um die Einladung durchzusetzen, dass Walerij zur Behandlung in Italien aufgenommen werden könnte. Walerij reichte die erforderlichen Dokumente ein, ahnte aber, dass er Italien nie sehen würde. Er sagte voller Verbitterung, als er während einer kurzen Pause

538 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT zwischen zwei Verhaftungen in Kyjiw mit meinen Verwandten sprach, dass sein Weg nicht nach Westen führe, sondern in dieses schreckliche »dorthin«, wohin er mit seinem Daumen zeigte. Das Visum wurde ihm tatsächlich verweigert. Eine »liebenswürdige« Angestellte im Kyjwer OWiR (Visums- und Meldeamt), die für andere ganz bestimmt eine mitfühlende Mutter und liebe Freundin war, sagte boshaft zu ihm: »Sie sollten ins Gefängnis gesteckt und ganz sicher nicht in den Westen gelassen werden!« Vielleicht hat sie auch heute noch ein reines Gewissen, denn sie verstieß ja nicht gegen das Gesetz. Sie reagierte auf diesen bösen »Antisowjetschik« nur so, wie es damals nach der allgemeinen Linie der Partei üblich war. Doch die Freiwilligkeit ihrer Beteiligung an diesem Verbrechen lässt sich nicht leugnen. Kein Gesetz zwang sie, diesem schwer kranken Mann keine medizinische Pflege zu gewähren und ihm so keine Chance zu geben, sein Leben zu retten. Kein Gesetz zwang die damaligen KGBler, die für sein Schicksal verantwortlich waren, ihm die aus Italien geschickte Einladung zur Behandlung zu stehlen und die ehrlichen und offensichtlich harmlosen Briefe von Sandra in den Mülleimer zu werfen, die einfach nur ein Schatz aus der Tiefe der menschlichen Seele waren. Sie taten das alles bewusst boshaft aus ihrer verdorbenen Laune heraus. Als gläubiger Mensch bin ich überzeugt, dass sie alle ihre Strafe erhalten werden: Möge das himmlische Gericht garantiert diejenigen treffen, die zuvor keine Reue zeigten und dem irdischen Gericht entgehen konnten! Wie kann aber eine ganze Gesellschaft gesunden, wenn die vielen Millionen »kleiner Leute« zu ihrem eigenen Nutzen und ihrer Sicherheit damals einverstanden gewesen waren, die Augen für das offensichtlich Böse zu verschließen: dass Wahllisten gefälscht, Richter bestochen, Noten frisiert oder schädliche Arzneimittel verkauft wurden usw. Sind sie nicht alle Zellen eines großen »Krebsgeschwürs« gewesen, das verhinderte, dass der gesellschaftliche Organismus gesunden konnte? Ihr kleines »Ich selbst war ja kein Verbrecher« wurde zu einer zuverlässigen Stütze für die großen und mächtigen Verbrecher, die mit ihrem Talent prahlten und die reinigende Wirkung jedes Maidans neutralisierten.

SCHLUSSFOLGERUNGEN 539 Wenn ich auf die zuvor gestellte Frage zurückkomme, muss ich gewisse Fehler in meiner eigenen Haltung als Dissident, der allen vergeben wollte, anerkennen. Doch nein! Ich glaube immer noch, dass mein Wunsch, meine Widersacher nicht hinter Gittern zu sehen, gerechtfertigt ist. Ich bestreite damit aber nicht den prinzipiellen Vorrang des Rechtes. Für diesen Wunsch gibt es eine legitime rechtliche Entsprechung: Zuerst müssen die Taten der Verbrecher als solche erkannt werden, damit sie von einem gerechten Gericht verurteilt werden können, und dann, wenn es dem Willen der Gesellschaft entspricht, kann eine Amnestie erfolgen, d. h. eine Befreiung von der Strafe, wenn die Täter zur Reue bereit sind. In diesem Fall würde, nach meinem heutigen Verständnis, weder das Prinzip des Vorrangs des Rechts noch der christliche Impuls zur Vergebung leiden.

5. Der Kommunismus auf der Anklagebank Mein bisheriges Leben zwingt mich, zum Schluss noch ein weiteres Kapitel hinzuzufügen, das wieder mit dem Widerstand der Dissidenten gegenüber dem kommunistischen Regime zu tun hat. Im Osten der Ukraine sterben gerade Tag für Tag junge Männer, unter anderem dafür, dass ich in aller Ruhe diese Zeilen schreiben und über die Lösung dieses grausamen Salto mortale, unsere Geschichte rückgängig machen zu wollen, schreiben kann und über die unglaublich zynische Aggression von Putins Russland gegenüber der Ukraine. Die gegenwärtigen Jahre, die der heutigen ukrainischen Jugend aufzwingen, eine Kriegsgeneration zu werden, lehren uns Ukrainer, unsere Geschichte neu zu lesen und dabei voller Bestürzung wahrzunehmen, dass Kyjiw und Moskau durch eine fatale Abhängigkeit miteinander verbunden sind: Der Aufstieg des einen bedeutet unvermeidlich den Abstieg des anderen – und umgekehrt. Bereits Andrij Boholjubsky, Fürst von Wladimir und Susdal, handelte so, als er im 12. Jahrhundert das großfürstliche Kyjiw brutal massakrierte. Die Mission Moskaus während vielen Jahrhunderten bestand darin, die eigenständige Entwicklung der Ukraine zu verhindern und nicht zuzulassen, dass die Ukraine als Stern mit

540 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT einem eigenen Glanz erstrahlen konnte. Diese Periode geht nun aber offensichtlich zu Ende. Unter den heutigen geopolitischen Bedingungen sind die Chancen der Ukraine, in ihrem eigenen Licht zu erstrahlen, so groß wie nie zuvor. Auch wenn dies die einzige Erklärung der Ursache des militärischen Konflikts wäre, würde es die Bereitschaft der ukrainischen Kämpfer rechtfertigen, dafür zu sterben. Sie verdienen den Dank unseres ganzen Volkes. In den heutigen Ereignissen aber nur die ewige Konfrontation zwischen Kyjiw und Moskau zu sehen, wäre eine zu enge Sicht auf die Problematik, obwohl sie grundsätzlich zutrifft. Denn Putin sieht sich als globaler Player, für den die Ukraine nicht das letzte Ziel ist, sondern nur ein vorübergehendes Hindernis, das er beseitigen muss, bis er zum Duell mit seinem wichtigsten Rivalen antreten kann. Russland konkurriert nach allen Regeln der Kriegsführung mit den Vereinigten Staaten von Amerika – mit diesem Amerika, das nach wie vor das Vorbild für Russland ist, und das er schamlos nachzuäffen versucht. Deshalb sind die gegenwärtigen Bemühungen der europäischen Führer wohl zur Niederlage verdammt: Es wird ihnen nie gelingen, Putin mit einer unabhängigen Ukraine zu versöhnen. Er wird jeden Waffenstillstand verletzen, da eine Ukraine unter seinem Joch die unersetzliche Bedingung ist, um im großen Spiel zu gewinnen. Doch die Bemühungen Putins sind zur Niederlage verdammt. Sein strategisches Ziel ist die Wiederherstellung der früheren bipolaren Welt, in der Russland der wichtigste Antipode zum Westen war. In der gegenwärtigen Konfrontation ist aber die Stellung Russlands zu schwach, da China in seinem Aufstieg nicht mehr zu bremsen ist. Im Unterschied zu den Herren des Kremls weiß die chinesische Elite sehr wohl, dass »Gottes Mühlen langsam mahlen«. Und die Zeit arbeitet klar zu ihren Gunsten. Der gegenwärtige Aufstieg Putins, der den internationalen Status quo sprengt und die militärischen Strategen der ganzen Welt irritiert, ist nur das Phänomen, das aus der Schulstunde mit dem Versuch zum elektromagnetischen Feld bekannt ist: Die Glühlampe leuchtet zuerst hell auf, wenn aber der elektrische Stromkreis getrennt wird, erlischt das Licht.

SCHLUSSFOLGERUNGEN 541 Es gibt noch eine andere Ebene der Analyse, in der der ukrainisch-russische Konflikt als »Glasteilchen« eines großen Mosaiks erscheint und in der der zukünftige Fall von Putins Russland nicht nur nicht zu vermeiden, sondern moralisch gerechtfertigt ist. Es ist die Ebene der Werte. Putin ist mit seiner ganzen Clique die Quintessenz dieser geistlosen »Metastase«, die sich offenbar siegreich auf der ganzen Welt verbreitet hat. Putin hat die Ambition, Anführer dieser »neuen und erfolgreichen Weltordnung« zu sein, die versucht, die dekadente Welt des alten Europas zu stürzen. Die Prinzipien von Putin und der von ihm gezüchteten Elite sind aber Betrug, Täuschung, Fälschung, Verrat, schändlicher Wortbruch, Arglist, Aggression, Gewalt, Annexion, Erpressung durch Gas- und Ölhandel, Diebstahl und Auftragsmorde. Diese Auflistung kann bis ins Unendliche verlängert werden. Die üblichen Werte der Zivilisation werden so zerstört, da sie für ihn ausnahmslos nur Attribute des Schlechten sind. Der Westen fürchtet wie das Feuer das Wasser die »Dämonisierung« seiner Regierung. In der Welt »üblicher« Konflikte ist eine übermäßige Dämonisierung des Rivalen das Haupthindernis zu einer Einigung. Die westlichen Politiker wenden gegenwärtig ihre politisch korrekte Linie dogmatisch auch auf das Regime Putins an und weigern sich hartnäckig, zu akzeptieren, dass sie es mit dem Vertreter eines inkarnierten, siegesbewussten Bösen zu tun haben. Präsident Reagan besaß aber damals den Mut, auf das »Imperium des Bösen« hinzuweisen. Die heutige Welt hat eine kriminelle Kraft vor sich, die sich an ihrer Macht ergötzt und diejenigen belügt, die nach den Regeln der Ehrlichkeit leben wollen. Diese Teufelei ist das grundlegende und wichtigste Element seines Erfolges. Je größer diese Teufelei ist, umso überraschender und erfolgreicher ist sie. Die Genese des apokalyptisch Bösen ist in der Biografie der Arbeit von Wladimir Putin klar formuliert: FSB, GRU, KGB, TschK (Tscheka). Ihr wahrer Ursprung liegt in der Oktoberrevolution … Es gab in der Mitte des 20. Jahrhunderts zwei schreckliche Monster, unglaubliche riesige Inkarnationen des Bösen, die sich daran machten, Gottes Welt »nach dem Abbild und Aussehen eines

542 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Mannequins« (Bruno Schulz) zu verändern. Es war wie im Kinderrätsel: »A fiel runter, B verschwand – was blieb denn noch auf dem Schornstein?« Das nationalsozialistische Regime fiel und sein Helfershelfer, Stalins Regime, begann mit Hitler den Zweiten Weltkrieg. Sie wurden mit Pauken und Trompeten aus dem Völkerbund ausgeschlossen184 und »verschwanden« angeblich. Auf dem Schornstein blieb der »Sieger« über den Nationalsozialismus, der Retter der gesamten Menschheit, die Hoffnung der Verfolgten und der Hungrigen – die friedliebende und lebensspendende Sowjetunion. Putin hat nicht umsonst den Sieg im Krieg zum zentralen Thema der Geschichte Russlands gemacht, damit niemand es wagt, es ebenso zu verfolgen. Sonst könnte der gemeinsame Triumphzug der nationalsozialistischen und der sowjetischen Armee in den besetzten Gebieten nur als Parade von Verbündeten und Verbrechern erkannt werden. Nach Leszek Kołakowski muss die Frage gestellt werden: »Sollte sich ein Häftling, der in Workuta starb, nicht zufrieden und glücklich wähnen, dass ihm das Schicksal, in Dachau zu landen, erspart blieb?«185 Hinter den Kulissen des großen Sieges steckt das Geheimnis und die größte Geschichtsfälschung des 20. Jahrhunderts, die einen gewaltigen moralischen Verlust nach sich zog. Die Vereinbarung von Jalta im Jahr 1945 erzeugte eine himmelschreiende Ungerechtigkeit: Es war die unterschiedliche Bewertung der Verbrechen totalitärer Systeme – die Welt verurteilte die nationalsozialistischen Verbrechen öffentlich, die kommunistischen Verbrechen wurden aber durch den Wunsch nach Sicherheit verborgen. Sie erfuhren keine rechtliche und ethische Bewertung, die sie jedoch verdienten. Die offizielle europäische Geschichte war damit einseitig: Das nationalsozialistische Regime wurde für das 184 Die UdSSR verließ den Völkerbund, um nicht offiziell als Aggressor ausgeschlossen zu werden. Sie wurde aber im Dezember 1939 nach dem Beginn des Sowjetisch-Finnischen Krieges trotzdem ausgeschlossen, was für den Völkerbund ein Schritt der Verzweiflung und keine reelle Hilfe für das Opfer der Aggression war. 185 Alain Besançon, Leszek Kołakowski. Nazismus und Kommunismus – in gleichem Maße verbrecherisch? (http://web.archive.org/web/20141018020937/h attp://novpol.ru/index.php?id).

SCHLUSSFOLGERUNGEN 543 absolute Böse gehalten – das kommunistische Regime nur als slawischer Versuch einer wunderschönen Idee aufgefasst. Es galt das Motto: Was macht es denn, wenn es auf dem glitzernden Gewand der Sowjetunion zufällig auch einige dunkle Flecken geben sollte? Sie ist der Sieger über den Nationalsozialismus. Und der Feind meines Feindes ist mein Freund. Das Ergebnis war: Die Welt hörte den Schmerz der Opfer der Gestapo – den Schmerz der Opfer des NKWD-KGB aber nicht. Die Tragödien von Auschwitz und Treblinka, Guernica und Buchenwald wurden zu klassischen Verbrechen der Menschheit – die Tragödien der Solowki und des Holodomor, des Gulag und von Katyn nur zu bedauerlichen Zufällen, die besser nicht erwähnt werden. Das führte zur Ironie der Geschichte: Das apokalyptische Böse wurde als das rettende Gute betrachtet. Früher oder später entpuppte sich das versteckte Böse als Saat eines neuen Weltkonflikts. Diese Teufelei, die in der Natur des kommunistischen Systems steckt, musste seine Metastasen entwickeln und die Welt musste früher oder später das ernten, was sie säte. Würde in Deutschland heute ein Zögling der Gestapo Kanzler werden, wäre das im Westen eine tiefe Erschütterung der Grundlagen der Zivilisation. Als ein Pflegling des KGB-Präsident der Russischen Föderation wurde, zuckte der Westen politisch korrekt nicht einmal mit den Augenbrauen. Es stellt sich deshalb die Frage: Warum wagte es niemand auf dieser Welt, den KGB als verbrecherische und terroristische Organisation einzustufen? Der Westen gab diesem Umstand keine Bedeutung. Die verletzte Ehre Russlands glich immer mehr der verletzten Ehre des nationalsozialistischen Deutschlands nach der Niederlage durch den Versailler Vertrag von 1920. Und es beunruhigte den Westen offensichtlich nicht, als die alte nationalsozialistische Doktrin »des Schutzes der Landsleute im Ausland« im Kreml immer stärker wurde. Der Westen unterschätzte die Bedeutung des russischen Krieges in Georgien und entschied sich, ihm keine Bedeutung beizumessen, als Russland gegen die weitere Bewegung der Ukraine hin zur EU und NATO auf dem Gipfeltreffen in Budapest 2008 sein Veto erhob. Der Anspruch

544 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Russlands, den postsowjetischen Raum zu kontrollieren, stellte sich als legitim für Europa dar. So verwundert es nicht, dass Putin zum Schluss kam, die Idee, die Sowjetunion wiederherzustellen, sei legitim. Die Annexion der Krim war jenen europäischen Politikern egal, die grundsätzlich und bewusst keine Analogie zur Annexion der Sudeten erkennen wollten. Auf ihrem Gewissen und dem mit ihnen verbundenen Parlamentariern liegt etwa, dass man sich ihm zur Ehre von den Plätzen erhob, als der »hohe Gast«, Wladimir Putin, im österreichischen Parlament empfangen wurde – und das bereits nach dem Abschuss des malaysischen Flugzeugs! Damit waren weitere Konflikte zwischen den neuen »Superhelden« in KGB-Uniformen und den politisch korrekten europäischen Politikern, die sich an einer Kultur der Kompromisse und der Vereinbarungen orientierten, nicht zu vermeiden. Sie passen ja in die Rolle des raffinierten »Narren«, der schon früher von den ungehemmten Tschekisten auf die Stufe des Siegers erhoben wurde. In der neueren europäischen Geschichte werden vergessene Verbrechen neu belebt und mit den aktuellen Tragödien verbunden. Solange das nicht erkannt, verurteilt und bereut wird und die zügellosen Auswüchse der blutigen Geschichte des NKWD und des KGB nicht auf die Anklagebank kommen, bleibt jede Hoffnung auf Frieden und Verständnis vergeblich. Soft-Power ist möglicherweise stärker als Hard-Power, weicht aber offensichtlich vor Deceitful-Power zurück. Nach heutigem Erkenntnisstand ist die Aussicht auf eine Verurteilung des Kommunismus, mit den Worten eines polnischen Sprichwortes ausgedrückt »marzeniem ściętej głowy«, ein Hirngespinst. Der Westen wird zu meinem Bedauern weiterhin einen Dritten Weltkrieg um jeden Preis zu vermeiden versuchen – und verrät so seine Werte und Prinzipien, was ihn beständig näher zum Krieg führt. Europa hat eine sehr beliebte Harke, mit der wir zu Zeugen eines weiteren fatalen Fehlers werden. Das 21. Jahrhundert hat nur eine Chance, sich von all dem zu trennen, wenn es endgültig mit dem 20. Jahrhundert bricht und nicht weiter zulässt, unsere Gegenwart zu vergiften. Dazu ist eine radikale und vollständige Katharsis nötig – d. h. nicht nur eine

SCHLUSSFOLGERUNGEN 545 Verurteilung des Kommunismus, sondern ebenso des eigenen Versagens. Diese Reue ist kein politischer Akt, sondern in erster Linie ein geistiger. Es gilt eine spezielle Gesetzmäßigkeit. Der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin hat sie im Blick auf sein Land so formuliert: Reue kann nur nach einer Erschütterung geschehen. Sie ist keine Mixtur, die verabreicht werden kann. Ich erinnere, dass es [in Russland – M. M.] keine Reue geben wird. Um zu bereuen, muss zuvor etwas ganz gestürzt werden und eine Wunde entstehen. Wer sich daran reibt, wird sich fragen: Wo liegt mein Fehler? Für wirkliche Reue muss man sich von allen Seiten her ohne jede Beschönigung betrachten … Und es geht nicht nur um einzelne Menschen, sondern um ein großes Land. Wer sich bloß von der Seite her betrachtet, wird seine eigenen Sünden nur nach einer großen Katastrophe verstehen. Wenn alles gut läuft – wird er dann jemals bereuen?186

Ich hätte von Martin Luther King gerne auch die Gabe, vorauszusehen, wie eine Gesellschaft entsteht, die heute einen Schwarzen nicht nur in ein Café für Weiße lässt, sondern ihm morgen auch die Türe des Weißen Hauses öffnet. Deshalb will ich weiterhin meine eigene Version von I have a dream pflegen. Ich glaube, dass einmal der Tag kommt, an dem, was bisher nicht erreicht wurde, verwirklicht sein wird: 1.

2.

Die Verbrechen des Kommunismus werden in einem würdigen Gerichtsverfahren als Verbrechen an der Menschheit eingestuft. Das wahre Wesen der kommunistischen Bosheit wird entlarvt und sämtliche Illusionen und Verlockungen, die zur Sünde des Kommunismus führten, genauso bewusst erkannt, wie das in Bezug auf die Sünde des Nationalsozialismus geschah. Putin und seine Clique werden zusammen mit all ihren Satelliten vom Typ Janokuwytsch für ihre Versuche, das vergangene Übel des Kommunismus zu erneuern und damit die Grundlage der Zivilisation zu zerstören, von einem internationalen Tribunal verurteilt.

186 »Der postsowjetische Mensch enttäuschte mehr als der sowjetische«. Interview von Andrej Archangelskij mit Wladimir Sorokin (http://web.archive.org/web /20160304214504/http://kommersant.ru/doc/2786007).

546 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT 3.

4.

5.

Alle bis vor kurzem kommunistischen Völker, und vor allem Russland, müssen eine Katharsis durchstehen, die sie vom Erbe der eigenen kommunistischen »Dämonen« (Dostojewski) reinigt und mit der sie gemeinsam ihre Schuld für die Verherrlichung der kommunistischen Bestie anerkennen. Westeuropa wird ebenfalls eine reinigende Katharsis durchlaufen müssen, wo die Verharmlosung oder sogar Begeisterung für den Kommunismus, das apokalyptische Tier in den osteuropäischen Völkern, gepflegt und sogar legitimiert wurde. Die bis vor Kurzem vom Kommunismus bestimmten Völker müssen ihre eigene Verantwortung für ihre blutige Vergangenheit übernehmen und bereuen. Gottes Stunde wird geschehen, wenn alle diese geistig geläuterten Völker ihr durch die unzähligen Opfer des Kommunismus beschmutztes Kleid ausziehen und danach geschieht, wozu nur das Opfer moralisch berechtigt ist: zu vergeben.

Nur wenn die Verbrechen des Kommunismus solidarisch wirklich verurteilt, die gemeinsame Schuld für seine Verherrlichung anerkannt und das ganze Verbrechen, das sie einander im Zustand der kommunistischen Verirrung zugefügt haben, gegenseitig vergeben, werden diese Völker den endgültigen Sieg über den Kommunismus erreichen und sich die ehemals »blutdurchtränkten Böden« zu einem Ort der wahren Versöhnung und des Wohlergehens verwandeln.

SCHLUSSFOLGERUNGEN 547

Nationalsozialischtes Plakat und kommunistisches Klonplakat

Das Evangelium eines Narren in Christo Ich widme dies meiner Mutter und meiner Schwester Nadijka, bei denen ich zuerst die Wissenschaft der Liebe gelernt habe. Am Anfang war das Wort, und das Wort war heuchlerisch, und das Wort selbst wurde zur Lüge, ein schwarzer Fleck, der sich auf dem sauberen Pergament der menschlichen Seele ausbreitete. In jener lichten Kammer, wo Jahwe regierte, nahmen Verrat und Verachtung, Zorn und Heimtücke ihren Platz ein. Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns voll Schadenfreude und Überheblichkeit, und wir sahen seine Herrlichkeit und schwelgten in den reichen Früchten dieser Herrlichkeit. Das Wort wurde zur Klinge, die das Herz eher als Kains Messer aufschneidet, es keimte zu einem Drogentrank im heiligen Leben, hing in der Luft mit Myriaden von bösartigen und feindseligen Viren. Das Böse keimte durch das erste üble Wort, wurde zum Gesetz des Lebens. Und die Menschen fingen an, mit dem Wort zu verfluchen, ohne zu begreifen, dass es Gott war. *** Ich bin ein Narr in Christo. Mein Stamm geht auf Mose zurück und die Steine, mit denen die wütenden Hebräer ihn bewarfen, sind mein unbestreitbares bitteres Majorat. Wenn mein Herr ruht, bin ich sein treuester Wächter und gehe gegen das verräterische Gesinde Gottes vor, für das der siebte Tag eine Zeit der Lästerung und des Spotts ist. Ich bin derjenige, der meine Fernen als Nächste sehen will, obwohl ich selbst meinen Nächsten unendlich fern bin. Da ich nicht weiß, mit wie viel Fingern ich mich bekreuzigen soll, zeichne ich in Gedanken ein Kruzifix und probiere es an mir selbst aus. Ich bin ein Ritter des Absurden, denn in jedem Monster erkenne ich Goliath. Eingemauert in ein Gefängnis, wie ein Gehirn im Schädel, schwebe ich mit einem entfesselten Geist über der kranken Welt. Ich sehe das Siegel des Todes auf dem Antlitz meines Planeten und ich bete zu Gott, dass er, selbst wenn das Schlimmste passiert, das Schicksal des auferstandenen Lazarus auf die Erde schicken wird. Ich bin ein Clown auf dem Jahrmarkt. Ich beleidige Menschen mit meiner lauten Frechheit, obwohl ich in meinem Herzen das Evangelium der Vergebung erschaffe. In den muffigen Gefängnismauern spüre ich einen Strom des universellen Schmerzes und ich lache wie ein Clown, damit der Wärter nicht sieht, dass ich auch Schmerzen habe.

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550 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Eingesperrt hinter Gittern, damit ich keine staatsfeindliche Miene aufsetze, bereite ich eine solche Ladung der Liebe vor, gegen die selbst Satan machtlos ist. *** Mein Leben ist ein ununterbrochenes Jüngstes Gericht über mich. In jedem Menschen, mit dem mich das Schicksal zusammenführt, personifizieren sich meine Tugend und meine Sünde. Ich lobe einen guten Menschen – und ich werde mit Gutem belohnt. Ich stoße nicht weg mit Verachtung einen geistigen Krüppel, ich vergebe seine großen Sünden mit einem wohlwollenden Wort – und es wird mir meine Sünde vergeben. Es gibt kein schrecklicheres Gericht als das, was unbemerkbar geschieht: Danach wird es nur noch Zeit für Buße geben. Du hast mich, Gott, in die Hochburg des universellen Bösen geschickt, an den Ort, wo es am schwierigsten ist zu vergeben, wo Zorn und der Wunsch nach Rache das moralische Gesetz der menschlichen Gerechtigkeit sind. So mache mich zum Narren unter den Narren, damit meine Brust nicht vor Scham brenne, wenn ich dem Schwachen das Unrecht vergebe. *** Mit der Wahrheit kann man nicht schlagen wie mit einem Schwert. Solang es ein Schwert gibt, wird es auf neue verkrustete Schilde der Heuchler stoßen. Mit Wahrheit, wenn sie ein Schwert ist, wirst du die zwölfköpfige Schlange nicht besiegen: Ihre Köpfe werden nachwachsen und die Schlange wird noch stärker werden wie ein Baum im Frühling, wenn sein verdorrter Ast abgeschnitten wird. Die Geißel Christi, mit der er die Händler aus dem Tempel verjagte, zeugt besser als alle anderen Reliquien von seiner realen irdischen Existenz. Die Welt hat Tausende Damaszener Wahrheiten geschliffen, aber sie stirbt an der demografischen Explosion von Lüge. Die Erde wimmelt von Schlangenköpfen, sowohl der abgetrennten als auch von frischen, sie sind weiser und unersättlicher geworden. Und du wirst niemals die Macht der Schlange überwinden, wenn du nicht ein dummer Ivanushka, ein Narr, wirst. Streife die satanische Maske des Hasses und der Verachtung von deinem Gesicht und noch besser aus deinem Herzen, denn deine Wahrheit wird nur dann Gottes Wahrheit, wenn sie von Liebe genährt wird. *** Kyjiw und Jerusalem Zwei Steine, auf denen der Altar meines Glaubens steht. Zwei Akupunkturpunkte auf dem kranken Körper der Erde. Zwei Augen, mit denen mein Planet Gott betrachtet. Je eifriger das unbezwingbare Jerusalem zu seinem Gott betet, desto deutlicher erscheint an ihm sein verhängnisvolles Stigma – die Kreuzigung Jesu.

DAS EVANGELIUM EINES NARREN IN CHRISTO 551 Je tiefer sich das sündige Siegel des Antichristen in das Fleisch meines Kyjiws hineinbeißt, desto klarer formt sich darunter das reine Bild des kommenden Christi. Ich stehe am Ufer des slawischen Meeres und begleite auf eine lange Reise die Söhne Israels, die auf Rachels Ruf eilen, um ihre ewige Bestimmung zu erfüllen. Viel Glück euch – und vergebt mir, dass das stürmische Schaukeln meiner Wiege in eurem Herzen mit einem so törichten Pogromschmerz widerhallte. Ich werde euch traurige ukrainische Lieder singen –vielleicht erinnert sich einer von euch unterwegs an meine blutleere Ukraine. Lebt nach eurem Gesetz, möge euch niemals die Versuchung überwältigen, für einen im Kampf ausgeschlagenen alttestamentlichen Zahn sich an dem Feind mit einem ausgestochenen Auge zu rächen. Lebt wohl, ich werde nicht mit euch gehen, weil ich der Sohn jenes Landes bin, das nicht vermochte, seine rechte Wange hinzuhalten, als durch den teuflischen Schlag seine linke rot wurde. *** Russland! War dir bei der Erschaffung deines Märchens über »die Froschprinzessin« bewusst, dass du deine eigene Geschichte darstellst? Wie hast du es geschafft, das Urteil der Vorsehung zu enträtseln, wonach du dazu bestimmt bist, wie dieses Wesen zu werden, das die Menschen so anekelt, das vergeblich nach Liebe sucht, sie manchmal mit Hass verlangt, um am Ende einen verrückten Prinzen zu finden, der dich lieben und dich befreien wird? Ich bin kein Prinz, Russland, ich bin nur ein Narr. Ich habe immer noch kein passendes Paar für mich gefunden und jetzt wähle ich dich, verzaubert von bösen Hexen deiner Wälder und Sümpfe, dazu verdammt, für immer die pockennarbige Haut der Verachtung und des Stolzes zu tragen. Möge sie nicht dein Leichentuch sein, du Froschprinzessin! Gib mir deine Hand, schlüpfrig vom klebrigen Schmutz der Sünden, und wir werden zum Tempel unter dem wunderbaren Himmel von Fatima gehen, wo der Herr selbst uns trauen wird. - Vater unser! Im Namen der Liebe, die Du uns geboten hast, weiche vom bewährten Kanon ab und frage die Anwesenden nicht, ob sie etwas wissen, das dieser Ehe im Wege stehen könnte. Ich weiß alles, was sie sagen werden. Ich weiß sogar, was Millionen meiner unschuldig misshandelten Landsleute in diesem Moment sagen würden. Ich bitte Dich jedoch, stärke mich in dem Glauben, dass unter diesem eiternden Schorf ein reines und gutes Herz schlägt; sende den Segen der Weisheit, wenn der Zorn kocht; möge die Hand niemals vor Ekel zucken. Ein Stück von Dir, Herr, das Du diesem Volk eingegeben hast, ist jetzt im Gefängnis – ich möchte zu ihm kommen. – Mein Knecht, du Narr in Christo, möchtest du etwa freiwillig meinen Knecht Russland heiraten? - Ja. Mein Knecht Russland, heiratest du freiwillig meinen Knecht den Narren in Christo?

552 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT *** Gerade in dem Moment, als mich die knarrende »grüne Minna« aus der Kyjiwer Haftanstalt zum Gericht fuhr, sah ich durch den Spalt in der Metallhülle das goldene Kreuz der heiligen Sofia. Es schwebte nur wenige Sekunden vor dem Hintergrund gleichgültiger, verspielter Wolken und mir wurde klar, dass ich es zum ersten Mal sehe: Eingesperrt, um für ewig zu kriechen, lernte ich endlich, nach oben zu schauen. Ich danke dir, meine ukrainische Weisheit! Du hast besser als das ganze hektische, verwirrte Kyjiw verstanden, wie dringend ich, in der Stunde des Triumphs des Unrechtsgerichts den Segen deines Christus brauche. Sende mir noch einmal einen Moment des süßen Schmerzes des Herzens, segne mich, ein Wort zu meinen gefangenen Freunden zu sagen. *** Und ein großer Kreis versammelt sich, und die Beleidigten und Verkrüppelten, Zornigen und Rachsüchtigen treten zu ihm, um den zu richten, der in der Mitte steht, um den Antichristen selbst zu richten. Jeder hat einen Stein in der Hand: Das steht im Gesetz der menschlichen Gerechtigkeit. Aber es gibt keinen, der sagt: »Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf ihn!« Ich weiß, keiner von euch wird sich an seinem Feind rächen, wenn er besiegt vor euch liegt. Wie wird jedoch der Zorn eurer Seelen zu Asche werden, wenn auf dem Gesicht der Bestie ein räuberisches, spöttisches Lächeln spielt! Ich bin davon überzeugt, dass nur Vergebung die ewige Kette der Wiedergeburten des Bösen durchbrechen kann. Lasst den Stein aus eurer Hand fallen: Er ist vom Übel, auf ihm ist Satans Wappen eingraviert. Tötet nicht den Teufel, denn ihr werdet eurer eigenen Errettung nicht würdig sein. Als solche, wie die Bestie, die unter uns in der Mitte steht, sehen uns unsere jüngeren Brüder. Habt ihr es etwa in den Augen der gefügigen Tiere nicht gelesen, die ihr gleichgültig zum Schlachthof bringt? Habt ihr etwa in den von uns zu unserem eigenen Vergnügen geschaffenen Gefängniszellen der Zoos nicht die Qualen eines freiliebenden Tieres gesehen, das sich nach dem gleichen sehnt wie ihr, - nach Freiheit? Haben wir etwa in der ewigen Wahrheitssuche verlernt, die Natur anders zu erkennen als mit dem Skalpell eines Forschers? Jeder von uns trägt auf der Stirn das schändliche Zeichen der satanischen drei Sechsen … Tötet nicht Luzifer, Träger des Lichts, in dessen Mondschein wir weinten und liebten; löscht nicht das Nachtlicht, mit dem ihr die Welt erforscht und betrachtet habt. Erhebt nicht die Hand gegen einen Minderjährigen, der gegen seinen Vater rebellierte: Der erste männliche Samen wird aus ihm die Rebellion und Überheblichkeit verdrängen. Verflucht nicht den Teufel für die von euch durchlebten Leiden. Ihm schuldet ihr den Segen der Katharsis; er jätete das Feld, damit das Gute üppig gedeihe.

DAS EVANGELIUM EINES NARREN IN CHRISTO 553 Tötet nicht den Antichristen, schneidet nicht den sündigen Schoß ab: Nur in ihm kann sich die verheißene Wiederkunft Christi erfüllen! *** In der Zelle ist es ruhig. Ein Guckauge blinzelte verschlafen: Der Aufseher hat mich nicht gehört. Die Sonne fiel auf den Grund und zerbrach in tragische Quadrate. Die Spinne an der Wand ist der einzige Trost der Häftlinge, ein ewiges Versprechen freudiger Veränderungen. Traurig ist es in der Welt. Jeder baut seinen eigenen Turm zu Babel: Selbst meine Muttersprache wird in meinem Mund als komisches Geplapper eines Fremden wahrgenommen und erreicht nicht das Herz. Das Wort ist tot – lang lebe das Wort! Ich werde zu einem wundersamen Samen des Chlorophylls, um die Sprache des Lichts zu sprechen, die Sprache des sonnigen Esperantos. Die Welt ist geozentrisch »Du hast dich geirrt, Kopernikus! In einem kleinen diamantenen Sandkorn, umgeben von himmlischen Riesen, reift die Macht Davids« – die Erde muss zum König werden! Zu einem bestimmten Zeitpunkt werden alle Welten, alle spirituellen Felder für die Seele eines Menschen verschlossen sein – wer von uns kann fest sagen: »Ich werde es nicht sein?« Wir wollten keinesfalls Knechte Gottes genannt werden. Warum ist für uns die Sklaverei bei Satan so süß? Der in der Seele gewonnene Kampf ist ein herausragender Moment für das Universum, das Zentrum der Kristallisation des Guten. Ohne Vergebung hat die Menschheit keine Zukunft. Ein zerstreuter Geist wird keine fernen Welten hervorbringen. Der Synthetisierte im Herzen, wird sich von den schwachen körperlichen Raumanzügen befreien. Und er wird selbst zu Gott. Von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen. August 1982, im Dorf Kuchino, Ural

Dank Ich möchte dem Rektorat der Ukrainischen Katholischen Universität meine große Anerkennung dafür aussprechen, dass es mir die praktische Möglichkeit gegeben hat, an meinen Memoiren zu arbeiten und alle anderen notwendigen Aufgaben im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des Buches in ukrainischer Sprache beim Verlag der Ukrainischen Katholischen Universität (UCU) zu erfüllen. Ich bedanke mich für die Hilfe, die mir die Abteilung für die Entwicklung der UCU und die Ukrainian Catholic Education Foundation in den USA bei der Suche nach den erforderlichen Mitteln gewährt haben. Mein Dank geht auch an die Porticus Foundation, Niederlande-Deutschland, dem Wolodymyr and Stefania Lech Endowment Fund (WSLEF) der Ukrainian Catholic Education Foundation in Kanada, Roman Kozak, einem Sponsoren aus Moskau, und Onno Hansen in Amsterdam für die finanzielle und praktische Unterstützung beim Schreiben, der Veröffentlichung auf Ukrainisch und der Übersetzung ins Englische. Besonders dankbar bin ich Dr. Timothy David Snyder, dem Professor der Richard C. Levin Professur für Geschichte an der Yale University, für sein Vorwort in der englischen Ausgabe meiner Memoiren und für seine Erlaubnis, es in der deutschen Version des Buches abdrucken zu dürfen. Ich bedanke mich auch bei Pfarrer Max Hartmann aus der Schweiz und der Dolmetscherin Nadia Simon aus Deutschland für die Unterstützung bei der Überarbeitung der deutschen Übersetzung und für sehr wertvolle Ratschläge. Ebenso gilt mein Dank Dr. Andreas Umland für die Verhandlungen mit dem ibidem-Verlag und dem ibidem-Verlag selbst für die Freigabe zur Veröffentlichung meines Buches. Nicht zuletzt möchte ich auch meiner Frau Ljuba für ihre Ermutigung während des Schreibens und ihre unschätzbare Unterstützung bei der Bearbeitung der ukrainischen Fassung des Buches danken.

555

Nachwort Ich hätte nie gedacht, dass ich in meinem Leben eine Persönlichkeit kennenlerne, der für seinen Einsatz für die Einhaltung der Menschenrechte mit sieben Jahren Straflager für besonders Gefährliche und anschließender Verbannung in der Einöde Kasachstans bestraft worden ist. Und der, wie Timothy Snyder in der Einleitung schreibt, sich als Agnostiker betrachtete, während seines Verhörs aber eine Epiphanie erlebte und gläubiger Christ war, als er verurteilt wurde. Als ich die amerikanische Übersetzung noch vor dem Ausbruch des großen Krieges las, beeindruckten mich die Memoiren von Myroslaw Marynowytsch so sehr, dass ich mir wünschte, dass dieses Buch auf Deutsch erscheint. Noch nie zuvor hatte ich einen so tiefen und persönlichen Einblick in das Leben hinter dem Eisernen Vorhang gelesen. Dabei staunte ich immer wieder über den Mut von Myroslaw Marynowytsch, sich im vollen Bewusstsein der Konsequenzen gegen das Unrecht zu entscheiden. Zudem erkannte er prophetisch, dass es zum heutigen Krieg kommen könnte. Nachdem dies geschehen ist, wurde für mich die Herausgabe einer deutschen Übersetzung zu einer wichtigen Chance, die schrecklichen Hintergründe und die Dringlichkeit des Kampfes der Ukraine um ihre Unabhängigkeit in vollem Ausmaß verstehen zu können. Mit einer Mail wandte ich mich an Myroslaw Marynowytsch und schrieb ihm, wie sehr mich sein Buch beeindruckt hat und wie wichtig eine deutsche Übersetzung gerade jetzt sei. Bereits in seiner Antwort bot er mir das Du an und schrieb mir, dass es schon jemand versucht hätte, die Übersetzung aber noch eine sprachliche Überarbeitung bräuchte, um von einem Verlag veröffentlicht zu werden. Ich wollte mir die Übersetzung ansehen, da ich eventuell dazu beitragen könnte, eine solche Veröffentlichung zu ermöglichen. Einige Stunden später konnte ich mir bereits einen Eindruck verschaffen und meinte, dass das zu schaffen wäre.

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558 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT So geht mein erster Dank an die Person, die diese Übersetzung mit großem Einsatz und Herzblut bewältigt hat und mir dann zur Bearbeitung überließ. Sie möchte anonym bleiben. Es sei aber verraten, dass sie Myroslaw Marynowytsch kennt und sogar einen kleinen Teil seines Lebens mit ihm teilte. Was mir allerdings nicht möglich war, ist die Überprüfung der Richtigkeit dieser Übersetzung. Auch da half mir Miroslaw weiter und vermittelte mir mit Nadja Simon, einer gebürtigen Ukrainerin, eine professionelle Dolmetscherin, die mir half, und die Miroslaw Marynowytsch zudem ebenfalls persönlich kennt. Die Suche nach dem Verlag war eine Überraschung. Da ich verschiedene Publikationen aus der Reihe »Ukrainian Voices« beim ibidem-Verlag gelesen hatte, wandte ich mich an den Herausgeber der Reihe, den Osteuropa-Experten Andreas Umland. Siehe da: Auch er kannte Myroslaw und stimmte sofort zu. Mein Dank geht auch an den Betreuer vom Verlag, Christian Schön, und an die Lektorin Karen Moser. Bereits zu Beginn war es das Anliegen von Myroslaw Marynowytsch, dass das Buch im Unterschied zur amerikanischen Ausgabe in vollem Umfang erscheint. Später regte er an, dass das Cover wie das ukrainische Original gestaltet sein könnte. Sie ist das Werk von Mykhailo Heina, des Neffen von Ljuba Heina, der Ehefrau von Myroslaw, der in seiner Jugend seine Mutter verlor und dem das Ehepaar Marynowytsch eine gute Ausbildung ermöglichte. Beim Lesen und Überarbeiten der Übersetzung wurde mir immer wieder bewusst, welch unverdientes Privileg es ist, im Westen und dazu noch in der Schweiz geboren zu sein und leben zu können. Unser Land hat seit mehr als hundertfünfzig Jahren keinen Krieg mehr auf dem eigenen Gebiet erlebt und musste nie unter einem despotischen Regime leben. Freiheit und Unabhängigkeit sind uns selbstverständlich. Unser nationaler Gründungsmythos spricht davon, dass Wilhelm Tell den Gruß an Geßler verweigerte und es ihm schließlich gelang, diesen zu töten. Für mich hat bereits in meiner Jugendzeit die damalige Welt hinter dem »Eisernen Vorhang« eine Faszination ausgeübt, sodass ich wissen wollte, was tatsächlich davon wahr ist. Damals erschienen gerade die Werke von Alexander Solschenizyn über den

NACHWORT 559 Archipel Gulag. Ich verschlang sie und versuchte mir auch über Kurzwelle einen Eindruck der sowjetischen Propaganda zu verschaffen. Am Ende meines Studiums in den 1980er-Jahren wagte ich den ersten Schritt hinter den Eisernen Vorhang und besuchte einen Freund, der als Austauschstudent ein Jahr in Leipzig an der damaligen Karl-Marx-Universität Theologie studierte. Der Grenzübertritt in der Nacht war gespenstig – Flutlichter draußen und die Durchsuchung des Zuges mit Hunden. Beim Ausstieg kam mir der typische Geruch von Braunkohle entgegen. Ich lernte einige junge Theologiestudenten kennen, die als Wohngemeinschaft in einer abbruchreifen Liegenschaft lebten und mit ihrer Teilnahme an den Friedensgebeten in der Leipziger Nikolai-Kirche zur Opposition gehörten. Einer schenkte mir am Schluss seine Jungendweihe-Urkunde und ein Büchlein, in dem seine Teilnahme an der obligatorischen Schießausbildung bestätigt war. Dies brachte mich beinahe in große Not. Beim Grenzübertritt an der Friedrichsstraße in Berlin wurde ich herausgenommen und in einen kleinen Raum geführt, wo man mein Gepäck kontrollierte. Der Verantwortliche fand die theologische Abschlussarbeit meines Freundes, durchsetzt mit vielen hebräischen Zitaten, was ihm offenbar verdächtigt vorkam. Er nahm sie mit und ließ mich allein. Es wurde zur längsten halben Stunde meines Lebens, da ich nur hoffen und beten konnte, dass es nicht zu einer weiteren Durchsuchung kommt. Eindrücklich habe ich unsere Hochzeit und die anschließende Reise nach Prag in Erinnerung. An unserem Hochzeitstag, dem 7. Oktober 1987, feierte die DDR ihr vierzigjähriges Jubiläum mit einer Parade in Berlin, in Anwesenheit von Michail Gorbatschow. Am Tag zuvor musste ich noch persönlich bei der tschechoslowakischen Botschaft in Bern vorsprechen, weil ich immer noch kein Visum hatte. Bei Personen mit einem kirchlichen Hintergrund bedurfte es damals einer längeren Überprüfung. In Prag begegneten uns schließlich lange Reihen von Autos, die DDR-Bürger hinterlassen hatten, die über die Mauern von westlichen Botschaften geklettert waren und dann mit einem Sonderzug nach Westen geschafft wurden.

560 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Niemals hätte ich gedacht, dass einen Monat später die Berliner Mauer fallen würde. Unglaublich die Vorstellung, dass ich nun einfach durch das Brandenburger Tor spazieren könnte! Im Jahr 2017, in einem wunderschönen Frühling, besuchte ich schließlich mit meiner Frau auch die Ukraine, nachdem ich viel über die wunderschöne Altstadt von Lemberg und seine Geschichte gelesen hatte – und war mehr als überrascht, wie lebendig die Stadt uns vorkam mit ihren vielen jungen Leuten und einer deutlich spürbaren Aufbruchstimmung. Nachdenklich stimmten mich die Gedenkstellen im Stadtpark mit Bildern von Gefallenen im Konflikt in der Ostukraine und eine Fotoausstellung mit Kriegsopfern, darunter ein junger Vater, der nach der Taufe seiner Tochter auf dem Rollstuhl über die Kirchentreppe getragen wird. Da wurde mir anschaulich, was Krieg bedeutet. Heute ist mir bewusst, wie wichtig die Unterstützung der Ukraine in ihrem gegenwärtigen Kampf ist. Auch als eine kleine Wiederherstellung von Gerechtigkeit gegenüber der Ungerechtigkeit, die sie erleiden musste, als nach dem Zweiten Weltkrieg Europa geteilt wurde – und sich die einen erholten und der Wiederaufbau gefördert wurde, während die anderen nach dem Nazi-Regime erneut unter ein Gewaltregime gerieten: das der stalinistischen Diktatur mit ihrem Anspruch auf Weltherrschaft. Im Jahr 1989 glaubten wir, der Kommunismus wäre überwunden – heute erfahren wir, dass eine neue Weltordnung mit einem totalitären System entsteht, dem es Widerstand zu leisten gilt. Max Hartmann

Abkürzungen und Worterklärungen Arkan Balanda Banderowez

Bibliothekskollektor

Borotbist

Buschlat Chochol

Dastarchan Diduch

Drushinnik

FSB

GRU Halytschyna Holodomor

traditioneller huzulischer Männertanz dünne, nicht schmackhafte Gefängnissuppe Bezeichnung für Mitglieder der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN(b); unter Stepan Bandera von 1940–1959) und ukrainische Nationalisten als deren Nachfolger Buchhandlungsorganisation zur Versorgung von Bibliotheken mit Büchern und Bibliothekstechnik Mitglied der Ukrainischen Kommunistischen Partei, der Borotbisten (1918–1920), abgeleitet vom Namen der Kyjiwer Zeitung »Borotba« (»Kampf«) gefütterte Jacke Ethnophaulismus: erniedrigende oder beleidigende, mitunter scherzhafte, Bezeichnung für Ukrainer »Bodentuch«, im übertragenen Sinne: »festlich gedeckte Tafel« Symbol der Ernte, des Wohlstandes, des Reichtums, des unsterblichen Vorfahrens, des Begründers des Volkes, des geistigen Lebens der Ukrainer, des Beschützers des Volkes Mitglied der »Freiwilligen Volksabteilung«, einer sowjetischen Organisation, die den staatlichen Rechtsschutzorganen Unterstützung leistet Föderaler Dienst für Sicherheit der Russischen Föderation (Federalnaja Slushba Besopasnosti Rossijskoj Federazij) Hauptverwaltung für Aufklärung (Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije) Galizien Genozid des ukrainischen Volkes (1932/33), organisiert von der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und der Regierung der UdSSR (»Tötung durch Hunger«)

561

562 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Janitscharen

Kamsa Keptar KGB Kobsar Koljadnyk Koljaduwannja Komsomolez

KPdSU Kresowjaken

Kutja Lesginka Ment Minna Nalysnyki Oktoberkinder OUN Parascha Pionier PKT

Angehörige von Truppen des türkischen Sultans im Osmanischen Reich (1365–1826), gebildet aus christlichen Kriegsgefangenen und deren Nachkommen europäische Sardelle (»Engraulis encrasicolus«) ärmellose Filzweste bei den Huzulen Komitee für Staatssicherheit in der UdSSR (1954–1991) Gedichtsammlung von Taras Schewtschenko Weihnachtssänger Weihnachtssingen (weihnachtliches Umherziehen unter Gesang und Gratulation) Mitglied des Gesamtsowjetischen Leninschen Kommunistischen Jugendverbandes (Komsomol) (1918–1991) Kommunistische Partei der Sowjetunion Polnisch: »kresy«, vormals zu Polen gehörende Gebiete der heutigen Ukraine und Litauens; ehemalige Bewohner dieser Gebiete oder deren Nachfahren, die diese Gebiete zurückfordern traditionelles Gericht aus Weizen- oder Gerstenkörnern mit Honig zu Heiligabend Volkstanz Jargon: abwertend für »Milizionär« Fahrzeug für Häftlingstransport Eierkuchen sieben- bis neunjährige Schüler, als Vorstufe zur Pionierorganisation (1923–1991) Organisation Ukrainischer Nationalisten großer Fäkalienkübel in einer Gefängniszelle Mitglied der »Gesamtsowjetischen Leninschen Pionierorganisation« (1922–1990) ein spezieller Raum in einer Abteilung der Justizvollzugsanstalt (ein Gefängnis in einer Kolonie), eine Zelle mit einem strengeren Haftregime, in der zu Freiheitsentzug Verurteilte eingesperrt und verlegt werden als Strafe für böswillige Verstöße gegen das festgelegte Verfahren zur Verbüßung von Strafen in Justizvollzugskolonien mit den

ABKÜRZUNGEN UND WORTERKLÄRUNGEN 563

Politruk Polizeimänner RSFSR SBU SCHISO

SISO

Schwarzhunderter

Serdak Subbotnik

Bedingungen allgemeiner, strenger und besonderer Regime. Die Strafe in Form von Haft in der PKT beträgt in der Regel nicht mehr als sechs Monate für Männer und drei Monate für verurteilte Frauen. Sträflinge, die Strafen in der PKT verbüßen, sind getrennt von anderen Sträflingen an der Arbeit beteiligt. Eine vorzeitige Verlegung von Sträflingen aus PKTJustizvollzugskolonien mit allgemeinem, verstärktem und strengem Regime ist nicht zulässig, es sei denn, dies ist laut medizinischem Bericht für den Gesundheitszustand des Sträflings erforderlich. An die PKT überstellte Sträflinge können mit allen Strafen belegt werden, mit Ausnahme der Überstellung an die PKT Politoffizier, Politkommissar Angehörige der Hilfspolizei Russische Föderative Sozialistische Sowjetrepublik Sicherheitsrat der Ukraine Strafgefängnis (»Schtrawnoj isoljator«) = Karzer, eine Strafzelle (vom lat. Carcer – »Dungeon, Gefängnis«) ist eine spezielle isolierte Strafzelle in Gefängnissen, in Wachhäusern der Armee, in psychiatrischen Krankenhäusern zur vorübergehenden Einzelhaft von Übertretern des Regimes, der moderne offizielle Name ist eine Strafzelle Untersuchungsgefängnis (»Sledstwennyj isoljator«); Haftanstalt, in der ein Verdächtiger einer Straftat während des Ermittlungszeitraums festgehalten wird Bezeichnung für Mitglieder monarchistischnationalistischer Organisationen im zaristischen Russland traditionelle ukrainische Weste unbezahlte Arbeitseinsätze an Sonnabenden, eingeführt im Jahre 1919 in der Sowjetunion

564 DAS UNIVERSUM HINTER DEM STACHELDRAHT Swytky

Tscheka

Tschernomor Tschyfir UdSSR UGA UPA USSR Werchowna Rada Wyschywanka

Bezeichnung für veraltete lange und lockere Oberbekleidung, aus handgewebtem Tuch (Halbkaftan) Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage (gegründet 1917) Böser Zauberer in A. S. Puschkins »Ruslan und Ljudmila« Getränk, erhalten durch Auskochen von hochkonzentriertem Teesud Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Ukrainische Galizische Armee Ukrainische Aufständischen Armee Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik (1919–1991) »Oberster Rat« (Parlament der Ukraine) traditionell ukrainische Stickmuster für Blusen und Hemden (zu Deutsch: Stickerei)

UKRAINIAN VOICES Collected by Andreas Umland 1

Mychailo Wynnyckyj Ukraine’s Maidan, Russia’s War A Chronicle and Analysis of the Revolution of Dignity With a foreword by Serhii Plokhy ISBN 978-3-8382-1327-9

2

Olexander Hryb Understanding Contemporary Ukrainian and Russian Nationalism The Post-Soviet Cossack Revival and Ukraine’s National Security With a foreword by Vitali Vitaliev ISBN 978-3-8382-1377-4

3

Marko Bojcun Towards a Political Economy of Ukraine Selected Essays 1990–2015 With a foreword by John-Paul Himka ISBN 978-3-8382-1368-2

4

Volodymyr Yermolenko (ed.) Ukraine in Histories and Stories Essays by Ukrainian Intellectuals With a preface by Peter Pomerantsev ISBN 978-3-8382-1456-6

5

Mykola Riabchuk At the Fence of Metternich’s Garden Essays on Europe, Ukraine, and Europeanization ISBN 978-3-8382-1484-9

6

Marta Dyczok Ukraine Calling A Kaleidoscope from Hromadske Radio 2016–2019 With a foreword by Andriy Kulykov ISBN 978-3-8382-1472-6

7

Olexander Scherba Ukraine vs. Darkness Undiplomatic Thoughts With a foreword by Adrian Karatnycky ISBN 978-3-8382-1501-3

8

Olesya Yaremchuk Our Others Stories of Ukrainian Diversity With a foreword by Ostap Slyvynsky Translated from the Ukrainian by Zenia Tompkins and Hanna Leliv ISBN 978-3-8382-1475-7

9

Nataliya Gumenyuk Die verlorene Insel Geschichten von der besetzten Krim Mit einem Vorwort von Alice Bota Aus dem Ukrainischen übersetzt von Johann Zajaczkowski ISBN 978-3-8382-1499-3

10

Olena Stiazhkina Zero Point Ukraine Four Essays on World War II Translated from the Ukrainian by Svitlana Kulinska ISBN 978-3-8382-1550-1

11

Oleksii Sinchenko, Dmytro Stus, Leonid Finberg (compilers) Ukrainian Dissidents An Anthology of Texts ISBN 978-3-8382-1551-8

12

John-Paul Himka Ukrainian Nationalists and the Holocaust OUN and UPA’s Participation in the Destruction of Ukrainian Jewry, 1941–1944 ISBN 978-3-8382-1548-8

13

Andrey Demartino False Mirrors The Weaponization of Social Media in Russia’s Operation to Annex Crimea With a foreword by Oleksiy Danilov ISBN 978-3-8382-1533-4

14

Svitlana Biedarieva (ed.) Contemporary Ukrainian and Baltic Art Political and Social Perspectives, 1991–2021 ISBN 978-3-8382-1526-6

15

Olesya Khromeychuk A Loss The Story of a Dead Soldier Told by His Sister With a foreword by Andrey Kurkov ISBN 978-3-8382-1570-9

16

Marieluise Beck (Hg.) Ukraine verstehen Auf den Spuren von Terror und Gewalt Mit einem Vorwort von Dmytro Kuleba ISBN 978-3-8382-1653-9

17

Stanislav Aseyev Heller Weg Geschichte eines Konzentrationslagers im Donbass 2017–2019 Aus dem Russischen übersetzt von Martina Steis und Charis Haska ISBN 978-3-8382-1620-1

18

Mykola Davydiuk Wie funktioniert Putins Propaganda? Anmerkungen zum Informationskrieg des Kremls Aus dem Ukrainischen übersetzt von Christian Weise ISBN 978-3-8382-1628-7

19

Olesya Yaremchuk Unsere Anderen Geschichten ukrainischer Vielfalt Aus dem Ukrainischen übersetzt von Christian Weise ISBN 978-3-8382-1635-5

20

Oleksandr Mykhed „Dein Blut wird die Kohle tränken“ Über die Ostukraine Aus dem Ukrainischen übersetzt von Simon Muschick und Dario Planert ISBN 978-3-8382-1648-5

21

Vakhtang Kipiani (Hg.) Der Zweite Weltkrieg in der Ukraine Geschichte und Lebensgeschichten Aus dem Ukrainischen übersetzt von Margarita Grinko ISBN 978-3-8382-1622-5

22

Vakhtang Kipiani (ed.) World War II, Uncontrived and Unredacted Testimonies from Ukraine Translated from the Ukrainian by Zenia Tompkins and Daisy Gibbons ISBN 978-3-8382-1621-8

23

Dmytro Stus Vasyl Stus Life in Creativity Translated from the Ukrainian by Ludmila Bachurina ISBN 978-3-8382-1631-7

24

Vitalii Ogiienko (ed.) The Holodomor and the Origins of the Soviet Man Reading the Testimony of Anastasia Lysyvets With forewords by Natalka Bilotserkivets and Serhy Yekelchyk Translated from the Ukrainian by Alla Parkhomenko and Alexander J. Motyl ISBN 978-3-8382-1616-4

25

Vladislav Davidzon Jewish-Ukrainian Relations and the Birth of a Political Nation

Selected Writings 2013-2021 With a foreword by Bernard-Henri Lévy ISBN 978-3-8382-1509-9

26

Serhy Yekelchyk Writing the Nation The Ukrainian Historical Profession in Independent Ukraine and the Diaspora ISBN 978-3-8382-1695-9

27

Ildi Eperjesi, Oleksandr Kachura Shreds of War Fates from the Donbas Frontline 2014-2019 With a foreword by Olexiy Haran ISBN 978-3-8382-1680-5

28

Oleksandr Melnyk World War II as an Identity Project Historicism, Legitimacy Contests, and the (Re-)Construction of Political Communities in Ukraine, 1939–1946 With a foreword by David R. Marples ISBN 978-3-8382-1704-8

29

Olesya Khromeychuk Ein Verlust Die Geschichte eines gefallenen ukrainischen Soldaten, erzählt von seiner Schwester Mit einem Vorwort von Andrej Kurkow Aus dem Englischen übersetzt von Lily Sophie ISBN 978-3-8382-1770-3

30

Tamara Martsenyuk, Tetiana Kostiuchenko (eds.) Russia’s War in Ukraine 2022 Personal Experiences of Ukrainian Scholars ISBN 978-3-8382-1757-4

31

Ildikó Eperjesi, Oleksandr Kachura Shreds of War. Vol. 2

Fates from Crimea 2015–2022 With a foreword by Anton Shekhovtsov and an interview of Oleh Sentsov ISBN 978-3-8382-1780-2

32

Yuriy Lukanov, Tetiana Pechonchik (eds.) The Press: How Russia destroyed Media Freedom in Crimea With a foreword by Taras Kuzio ISBN 978-3-8382-1784-0

33

Megan Buskey Ukraine Is Not Dead Yet

A Family Story of Exile and Return ISBN 978-3-8382-1691-1

34

Vira Ageyeva Behind the Scenes of the Empire

Essays on Cultural Relationships between Ukraine and Russia With a foreword by Oksana Zabuzhko ISBN 978-3-8382-1748-2

35

Marieluise Beck (ed.) Understanding Ukraine

Tracing the Roots of Terror and Violence With a foreword by Dmytro Kuleba ISBN 978-3-8382-1773-4

36

Olesya Khromeychuk A Loss

The Story of a Dead Soldier Told by His Sister, 2nd edn. With a foreword by Philippe Sands With a preface by Andrii Kurkov ISBN 978-3-8382-1870-0

37

Taras Kuzio, Stefan Jajecznyk-Kelman Fascism and Genocide Russia’s War Against Ukrainians ISBN 978-3-8382-1791-8

38

Alina Nychyk Ukraine Vis-à-Vis Russia and the EU

Misperceptions of Foreign Challenges in Times of War, 2014–2015 With a foreword by Paul D’Anieri

ISBN 978-3-8382-1767-3 39

Sasha Dovzhyk (ed.) Ukraine Lab Global Security, Environment, Disinformation Through the Prism of Ukraine With a foreword by Rory Finnin

ISBN 978-3-8382-1805-2 40

Serhiy Kvit Media, History, and Education

Three Ways to Ukrainian Independence With a preface by Diane Francis

ISBN 978-3-8382-1807-6 41

Anna Romandash Women of Ukraine

Reportages from the War and Beyond

ISBN 978-3-8382-1819-9 42

Dominika Rank Matzewe in meinem Garten

Abenteuer eines jüdischen Heritage-Touristen in der Ukraine

ISBN 978-3-8382-1810-6

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Myroslaw Marynowytsch Das Universum hinter dem Stacheldraht

Memoiren eines sowjet-ukrainischen Dissidenten Mit einem Vorwort von Timothy Snyder und einem Nachwort von Max Hartmann

ISBN 978-3-8382-1806-9 44

Konstantin Sigow Für Deine und meine Freiheit

Europäische Revolutions- und Kriegserfahrungen im heutigen Kyjiw Mit einem Vorwort von Karl Schlögel Herausgegeben von Regula M. Zwahlen

ISBN 978-3-8382-1755-0 45

Kateryna Pylypchuk The War that Changed Us

Ukrainian Novellas, Poems, and Essays from 2022 With a foreword by Victor Yushchenko Paperback ISBN 978-3-8382-1859-5 Hardcover ISBN 978-3-8382-1860-1

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Kyrylo Tkachenko Rechte Tür Links

Radikale Linke in Deutschland, die Revolution und der Krieg in der Ukraine, 2013-2018 ISBN 978-3-8382-1711-6

47

Alexander Strashny The Ukrainian Mentality

An Ethno-Psychological, Historical and Comparative Exploration With a foreword by Antonina Lovochkina ISBN 978-3-8382-1886-1

48

Alona Shestopalova Pandora’s TV Box

How Russian TV Turned Ukraine into an Enemy Which has to be Fought ISBN 978-3-8382-1884-7

49

Iaroslav Petik Politics and Society in the Ukrainian People’s Republic (1917–1921) and Contemporary Ukraine (2013–2022) A Comparative Analysis With a foreword by Oleksiy Tolochko ISBN 978-3-8382-1817-5

Book series “Ukrainian Voices” Collector Andreas Umland, National University of Kyiv-Mohyla Academy

Editorial Board Lesia Bidochko, National University of Kyiv-Mohyla Academy Svitlana Biedarieva, George Washington University, DC, USA Ivan Gomza, Kyiv School of Economics, Ukraine Natalie Jaresko, Aspen Institute, Kyiv/Washington Olena Lennon, University of New Haven, West Haven, USA Kateryna Yushchenko, First Lady of Ukraine 2005-2010, Kyiv Oleksandr Zabirko, University of Regensburg, Germany

Advisory Board Iuliia Bentia, National Academy of Arts of Ukraine, Kyiv Natalya Belitser, Pylyp Orlyk Institute for Democracy, Kyiv Oleksandra Bienert, Humboldt University of Berlin, Germany Sergiy Bilenky, Canadian Institute of Ukrainian Studies, Toronto Tymofii Brik, Kyiv School of Economics, Ukraine Olga Brusylovska, Mechnikov National University, Odesa Mariana Budjeryn, Harvard University, Cambridge, USA Volodymyr Bugrov, Shevchenko National University, Kyiv Olga Burlyuk, University of Amsterdam, The Netherlands Yevhen Bystrytsky, NAS Institute of Philosophy, Kyiv Andrii Danylenko, Pace University, New York, USA Vladislav Davidzon, Atlantic Council, Washington/Paris Mykola Davydiuk, Think Tank “Polityka,” Kyiv Andrii Demartino, National Security and Defense Council, Kyiv Vadym Denisenko, Ukrainian Institute for the Future, Kyiv Oleksandr Donii, Center for Political Values Studies, Kyiv Volodymyr Dubovyk, Mechnikov National University, Odesa Volodymyr Dubrovskiy, CASE Ukraine, Kyiv Diana Dutsyk, National University of KyivMohyla Academy Marta Dyczok, Western University, Ontario, Canada Yevhen Fedchenko, National University of KyivMohyla Academy Sofiya Filonenko, State Pedagogical University of Berdyansk Oleksandr Fisun, Karazin National University, Kharkiv

Oksana Forostyna, Webjournal “Ukraina Moderna,” Kyiv Roman Goncharenko, Broadcaster “Deutsche Welle,” Bonn George Grabowicz, Harvard University, Cambridge, USA Gelinada Grinchenko, Karazin National University, Kharkiv Kateryna Härtel, Federal Union of European Nationalities, Brussels Nataliia Hendel, University of Geneva, Switzerland Anton Herashchenko, Kyiv School of Public Administration John-Paul Himka, University of Alberta, Edmonton Ola Hnatiuk, National University of Kyiv-Mohyla Academy Oleksandr Holubov, Broadcaster “Deutsche Welle,” Bonn Yaroslav Hrytsak, Ukrainian Catholic University, Lviv Oleksandra Humenna, National University of Kyiv-Mohyla Academy Tamara Hundorova, NAS Institute of Literature, Kyiv Oksana Huss, University of Bologna, Italy Oleksandra Iwaniuk, University of Warsaw, Poland Mykola Kapitonenko, Shevchenko National University, Kyiv Georgiy Kasianov, Marie Curie-Skłodowska University, Lublin Vakhtang Kebuladze, Shevchenko National University, Kyiv Natalia Khanenko-Friesen, University of Alberta, Edmonton Victoria Khiterer, Millersville University of Pennsylvania, USA Oksana Kis, NAS Institute of Ethnology, Lviv Pavlo Klimkin, Center for National Resilience and Development, Kyiv Oleksandra Kolomiiets, Center for Economic Strategy, Kyiv

Sergiy Korsunsky, Kobe Gakuin University, Japan Nadiia Koval, Kyiv School of Economics, Ukraine Volodymyr Kravchenko, University of Alberta, Edmonton Oleksiy Kresin, NAS Koretskiy Institute of State and Law, Kyiv Anatoliy Kruglashov, Fedkovych National University, Chernivtsi Andrey Kurkov, PEN Ukraine, Kyiv Ostap Kushnir, Lazarski University, Warsaw Taras Kuzio, National University of Kyiv-Mohyla Academy Serhii Kvit, National University of Kyiv-Mohyla Academy Yuliya Ladygina, The Pennsylvania State University, USA Yevhen Mahda, Institute of World Policy, Kyiv Victoria Malko, California State University, Fresno, USA Yulia Marushevska, Security and Defense Center (SAND), Kyiv Myroslav Marynovych, Ukrainian Catholic University, Lviv Oleksandra Matviichuk, Center for Civil Liberties, Kyiv Mykhailo Minakov, Kennan Institute, Washington, USA Anton Moiseienko, The Australian National University, Canberra Alexander Motyl, Rutgers University-Newark, USA Vlad Mykhnenko, University of Oxford, United Kingdom Vitalii Ogiienko, Ukrainian Institute of National Remembrance, Kyiv Olga Onuch, University of Manchester, United Kingdom Olesya Ostrovska, Museum “Mystetskyi Arsenal,” Kyiv Anna Osypchuk, National University of KyivMohyla Academy Oleksandr Pankieiev, University of Alberta, Edmonton Oleksiy Panych, Publishing House “Dukh i Litera,” Kyiv Valerii Pekar, Kyiv-Mohyla Business School, Ukraine Yohanan Petrovsky-Shtern, Northwestern University, Chicago Serhii Plokhy, Harvard University, Cambridge, USA Andrii Portnov, Viadrina University, FrankfurtOder, Germany Maryna Rabinovych, Kyiv School of Economics, Ukraine Valentyna Romanova, Institute of Developing Economies, Tokyo Natalya Ryabinska, Collegium Civitas, Warsaw, Poland

Darya Tsymbalyk, University of Oxford, United Kingdom Vsevolod Samokhvalov, University of Liege, Belgium Orest Semotiuk, Franko National University, Lviv Viktoriya Sereda, NAS Institute of Ethnology, Lviv Anton Shekhovtsov, University of Vienna, Austria Andriy Shevchenko, Media Center Ukraine, Kyiv Oxana Shevel, Tufts University, Medford, USA Pavlo Shopin, National Pedagogical Dragomanov University, Kyiv Karina Shyrokykh, Stockholm University, Sweden Nadja Simon, freelance interpreter, Cologne, Germany Olena Snigova, NAS Institute for Economics and Forecasting, Kyiv Ilona Solohub, Analytical Platform “VoxUkraine,” Kyiv Iryna Solonenko, LibMod - Center for Liberal Modernity, Berlin Galyna Solovei, National University of KyivMohyla Academy Sergiy Stelmakh, NAS Institute of World History, Kyiv Olena Stiazhkina, NAS Institute of the History of Ukraine, Kyiv Dmitri Stratievski, Osteuropa Zentrum (OEZB), Berlin Dmytro Stus, National Taras Shevchenko Museum, Kyiv Frank Sysyn, University of Toronto, Canada Olha Tokariuk, Center for European Policy Analysis, Washington Olena Tregub, Independent Anti-Corruption Commission, Kyiv Hlib Vyshlinsky, Centre for Economic Strategy, Kyiv Mychailo Wynnyckyj, National University of Kyiv-Mohyla Academy Yelyzaveta Yasko, NGO “Yellow Blue Strategy,” Kyiv Serhy Yekelchyk, University of Victoria, Canada Victor Yushchenko, President of Ukraine 20052010, Kyiv Oleksandr Zaitsev, Ukrainian Catholic University, Lviv Kateryna Zarembo, National University of KyivMohyla Academy Yaroslav Zhalilo, National Institute for Strategic Studies, Kyiv Sergei Zhuk, Ball State University at Muncie, USA Alina Zubkovych, Nordic Ukraine Forum, Stockholm Liudmyla Zubrytska, National University of Kyiv-Mohyla Academy

Friends of the Series Ana Maria Abulescu, University of Bucharest, Romania Łukasz Adamski, Centrum Mieroszewskiego, Warsaw Marieluise Beck, LibMod—Center for Liberal Modernity, Berlin Marc Berensen, King’s College London, United Kingdom Johannes Bohnen, BOHNEN Public Affairs, Berlin Karsten Brüggemann, University of Tallinn, Estonia Ulf Brunnbauer, Leibniz Institute (IOS), Regensburg Martin Dietze, German-Ukrainian Culture Society, Hamburg Gergana Dimova, Florida State University, Tallahassee/London Caroline von Gall, Goethe University, FrankfurtMain Zaur Gasimov, Rhenish Friedrich Wilhelm University, Bonn Armand Gosu, University of Bucharest, Romania Thomas Grant, University of Cambridge, United Kingdom Gustav Gressel, European Council on Foreign Relations, Berlin Rebecca Harms, European Centre for Press & Media Freedom, Leipzig André Härtel, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin/Brussels Marcel Van Herpen, The Cicero Foundation, Maastricht Richard Herzinger, freelance analyst, Berlin Mieste Hotopp-Riecke, ICATAT, Magdeburg Nico Lange, Munich Security Conference, Berlin Martin Malek, freelance analyst, Vienna Ingo Mannteufel, Broadcaster “Deutsche Welle,” Bonn Carlo Masala, Bundeswehr University, Munich Wolfgang Mueller, University of Vienna, Austria Dietmar Neutatz, Albert Ludwigs University, Freiburg Torsten Oppelland, Friedrich Schiller University, Jena Niccolò Pianciola, University of Padua, Italy Gerald Praschl, German-Ukrainian Forum (DUF), Berlin Felix Riefer, Think Tank Ideenagentur-Ost, Düsseldorf Stefan Rohdewald, University of Leipzig, Germany Sebastian Schäffer, Institute for the Danube Region (IDM), Vienna Felix Schimansky-Geier, Friedrich Schiller University, Jena Ulrich Schneckener, University of Osnabrück, Germany

Winfried Schneider-Deters, freelance analyst, Heidelberg/Kyiv Gerhard Simon, University of Cologne, Germany Kai Struve, Martin Luther University, Halle/Wittenberg David Stulik, European Values Center for Security Policy, Prague Andrzej Szeptycki, University of Warsaw, Poland Philipp Ther, University of Vienna, Austria Stefan Troebst, University of Leipzig, Germany

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