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German Pages [406] Year 2014
VICTOR GRUEN SHOPPING TOWN
Memoiren eines Stadtplaners (1903–1980) HERAUSGEGEBEN VON ANETTE BALDAUF
2014
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Gedruckt mit Unterstützung durch das Land Vorarlberg den Zukunftsfonds der Republik Österreich das Kulturamt der Stadt Wien MA 7 den Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus die Akademie der bildenden Künste Wien
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Victor Gruen vor dem Modell Southdale Center, Courtesy Gruen Associates Abbildungen auf der Titelseite: 1: Atrium, Midtown Plaza, Rochester 2006. Foto: Anette Baldauf 2: Midtown Plaza, Verzeichnis Rochester 2008. Foto: Anette Baldauf 3. Promenade, Southdale Center, Edina ca. 1957. Courtesy Gruen Associates, Foto: Warren Reynolds, Infinity Inc. 4. Altman & Kuhne, New York 1940. Courtesy Gruen Associates
© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & CoKG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com
Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Philipp Rissel Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien Layout: Bettina Waringer, Wien
Druck und Bindung: Theiss, St. Stefan im Lavanttal Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-79542-1
Inhalt Mall. Stadt. Welt
Anette Baldauf . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Buchprojekt
Victor Gruen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
EINFÜHRUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 I. WENDE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
Das große Feuer . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
Abschied von Europa . . . . . . . . . . . . . . .
70
Wiener Jause . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
Neunzig Tage im Dritten Reich . . . . . . . . . 53
Ozeanreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
II. RÜCKBLENDE . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Zusammenbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
Degradierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Bautechniker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
Die dritte Dimension . . . . . . . . . . . . . . .
98
Verschmelzung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
113
Das Politische Kabarett . . . . . . . . . . . . . . 103
Architekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
III. DIE ENTDECKUNG AMERIKAS . . . . . . 117
Ankunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Futurama . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Die Schauspieler kommen . . . . . . . . . . . . 135
Der erste Auftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
Selbstständig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
Die Premiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Der Ruf des Westens . . . . . . . . . . . . . . . . 151
Wie wir Südkalifornier wurden . . . . . . . . 159
Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
IV. DER GROSSE DURCHBRUCH . . . . . . . 169
Zu neuen Ufern . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
177
Vorschläge und Rückschläge . . . . . . . . . . 193
Notlandung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
Auf heißer Spur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Von der Vision zur Realität . . . . . . . . . . . 200 Eine Erfindung wird gemacht . . . . . . . . . . 211
V. IM STURM DER ENTWICKLUNG . . . . 215
Die Geister, die ich rief . . . . . . . . . . . . . . 223
Unvollendete Sinfonien . . . . . . . . . . . . . 263
Was ist Architektur? . . . . . . . . . . . . . . . 275
Wachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
VI. DE ARCHITECTURA . . . . . . . . . . . . . . 271
Architekturgesinnung . . . . . . . . . . . . . . 296
Arten und Abarten der Architektur . . . . . . 300
VII. UMWELTPLANUNG . . . . . . . . . . . . . . 315
Abbruch und Aufbruch . . . . . . . . . . . . . . 319
Als Missionar in Europa . . . . . . . . . . . . . 326
EPILOG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
5: Victor Gruen in Seattle, ca. 1941. Courtesy Peggy Gruen
Afterword
Michael Gruen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371
Peggy Gruen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393
More About My Mother
6: Midtown Plaza, Atrium, Rochester 2005 Foto: Anette Baldauf
7: Atrium, Midtown Plaza, Rochester 2008 Foto: Anette Baldauf
8: Ballsaal, Midtown Plaza, Rochester 2008 Foto: Anette Baldauf
Mall. Stadt. Welt Anette Baldauf
Im Frühling 1979, im Alter von 76 Jahren, bat Victor Gruen seine Sekre-
tärin, ihm bei der schriftlichen Rekonstruktion seines Lebens behilflich zu sein.
Über einen Zeitraum von sieben Monaten trafen sich Evelyn Neubauer und Gruen
regelmäßig, zuerst in Gruens Wiener Wohnung am Schwarzenbergplatz und spä-
ter im Krankenhaus, um die Meilensteine seines Schaffens auf Papier festzuhalten.
Ergebnis dieser Arbeit ist ein 423 Seiten umfassendes Manuskript, das den provisorischen Titel „Buchplan. Ein Realistischer Träumer. Rückblicke, Einblicke, Aus-
blicke“ trägt und mit „Wien, 8. März 1979“ datiert ist. Zwei Monate später starb
Victor Gruen. Die bislang unveröffentlichte Autobiografie ist die Geschichte eines alternden Mannes, der nach einem ereignisreichen Leben seine Erfahrungen Revue
passieren lässt und die großen wie kleinen Ereignisse seines Lebens auf Bedeutung
und Einfluss prüft. Als sogenannter Vater der Shopping Mall muss er im Alter erkennen, dass seine Erfindung als zentrifugale Kraft Stadtentwicklungstendenzen
nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich vorantrieb. Sie unterstützte die Flucht in die Vorstadt und die allgemeine Abhängigkeit vom Individualverkehr, inklusive den
daran gehefteten ökologischen und planerischen Folgewirkungen. Als ehemaliger
Proponent des Konzepts verdichteter neuer Stadtzentren außerhalb der bestehenden Stadtstruktur muss er erkennen, dass seine radikalen Interventionen eingebet-
tet waren in die weitläufige strukturelle Vernachlässigung der Innenstadt, indem
sie bestehende, organisch gewachsene Stadtstrukturen diskriminierten. Als Vater
der Fußgängerzone wird ihm auch deutlich, wie sehr die Redimensionierung der
Innenstadt Motive der Spekulation und Kommerzialisierung belieferte.
Wenn ihm auch teilweise das politische Vokabular fehlte, die Prozesse beim Na-
men zu nennen, so zeigen seine Überlegungen, wie kritisch er der fundamentalen
Neuorganisation des städtischen und in Summe auch sozialen Raumes gegenüberstand. Dass Gruen die letzte Dekade seines Lebens Fragen der Energiepolitik im
Allgemeinen und der Kritik der Nuklearenergie im Besonderen widmete, ist auf
12
mall. stadt. welt
den ersten Blick eine überraschende, aber letztendlich folgerichtige Entwicklung:
Gruens Bezug zur Welt war von Anfang an von übergreifenden humanistischen
Idealen geleitet. Im Zentrum stand, wie er immer wieder betonte, die Vision eines friedfertigen Verhältnisses zwischen Mensch und Umwelt.
Aber Gruens Geschichte ist nicht nur die Geschichte eines Mannes, der als In-
nenarchitekt begann und als international anerkannter Stadtplaner endete. Es ist
auch die Geschichte eines jüdischen Emigranten, der – im Gegensatz zu vielen sei-
ner Bekannten und Verwandten – mit viel Glück dem Holocaust entkam. Aufgrund
dieses Umstands ist es überraschend, wie sehr Gruen in seinen Memoiren immer
wieder seiner Verbundenheit zur Stadt Wien Ausdruck verleiht. Das Stadt-Imago
Wien, das Gruen, wie so viele andere Emigrant_innen, im Kontext der kollektiven
Traumatisierung in der Dialektik von Erinnern und Vergessen entwickelte, prägte
Gruens Vision von Stadt ebenso wie seine konkrete stadtplanerische Praxis.1 Und
im Gegensatz zu vielen anderen Emigrant_innen suchte Gruen immer wieder die
Stadt Wien auf: Bereits 1948 kehrte er nach Wien zurück und nahm mit Entsetzen die Zerstörung der Stadt wahr. In den folgenden Jahren besuchte er Wien in
regelmäßigen Abständen, er referierte auf Konferenzen und fungierte als Berater
in d iversen Gremien. 1960 erwarb er gemeinsam mit seiner dritten Frau eine Wohnung am Schwarzenbergplatz. Nach seiner offiziellen Pensionierung von „Victor
Gruen Associates“ in Los Angeles im Jahr 1968 rückte Gruen Wien ins Zentrum sei-
nes privaten und beruflichen Interesses. Aber 30 Jahre nach seiner Flucht wurde
Gruen in seiner Geburtsstadt alles andere als herzlich willkommen geheißen: Der
Empfang war grausam und gleichzeitig symptomatisch für die Antipathie, die auch anderen Rückkehrer_innen nach dem Krieg entgegengebracht wurde: 1967 lud die
Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten Gruen unter Veranlassung von Herbert Müller-Hartburg2 vor Gericht. Die Anklage: Als verfolgter Jude,
Sozialist und Kabarettist hatte es Gruen im nationalsozialistischen Wien verabsäumt, seine für die Bezeichnung „Architekt“ notwendige Urkunde einzuholen. Im
Prozess ließ sich der Kläger durch einen Anwalt vertreten, Gruen vertrat sich selbst.
Das Ergebnis war ein für Österreich typischer, stinkend fauler Kompromiss: Öster-
1
2
Ehrhard Bahr, Weimar on the Pacific: German Exile Culture in Los Angeles and the Crisis of Modernism. University of California Press: Los Angeles 2007. Herbert Müller-Hartburg war von 1968 bis 1970 Präsident der Architektenkammer für Wien, Niederösterreich und Burgenland und von 1970 bis 1978 Präsident der Bundesingenieurkammer. 1999 wurde er zum Honorarprofessor der Technischen Universität Graz ernannt. MüllerHartburgs architektonische Leistungen umfassen die Großraum-Radar-Station in Kolomansberg, eine Katholische Kirche in Gablitz und der Florido Tower in Wien.
anette baldauf
reichs erfolgreichster Architekt der Nachkriegeszeit durfte den Titel mit „c“ – wie
in „architect“ – weiterführen, der Richter forderte ihn aber im Ausgleich auf, der
Kammer 10.000 ÖS zu „spenden“.3 Gruens Waffen im Umgang mit dieser Menschen-
verachtung waren, im Gerichtssaal wie in seinem Alltagsleben, Witz und Humor. Dem Richter gegenüber zeigte er sich respektvoll, aber in der Causa nahm er das
letzte Wort in Anspruch: Er könne nicht versprechen, dass man ihn im Café Landtmann fortan mit „Guten Morgen, Herr ‚architectʻ“ begrüßen werde.
Die vorliegenden Memoiren sind das Ergebnis einer minimal-invasiven Überar-
beitung und Erweiterung des Gruen’schen Orginaltextes. Ich habe das Manuskript, das gerade im letzten Teil zunehmend fragmentiert ist, in Hinblick auf Lesbarkeit
überarbeitet, mit Hintergrundmaterial bereichert und mit einem ausgedehnten
Fußnotenapparat versehen, der die zentralen Protagonist_innen, vor allem die im
Austrofaschismus und Nationalsozialismus Verfolgten und Emigrierten, mit Kontext versehen soll. Besonderen Dank schulde ich hier Ursula Seeber vom Literaturhaus Wien. Sie hat mich dazu ermutigt, die Memoiren nicht grundlegend zu überarbeiten oder zu fiktionalisieren – um z. B. in einer Autobiografiktion die Stimmen
der abwesenden Frauen lebendig werden zu lassen –, sondern den teilweise spröden Duktus und punktuell anachronistisch anmutenden Ton als ein Erbe der Zeit
zu bewahren. Ich danke ihr für diese Anregung und hoffe, der Überarbeitung ist
der sensible Spagat zwischen Orginalität, Rekonstruktion und Lesbarkeit gelungen. An dem Projekt der Überarbeitung und Übersetzung waren mehrere Personen
maßgeblich beteiligt: allen voran Katharina Weingartner, mit der bereits der Dokumentarfilm „Der Gruen Effekt. Victor Gruen und die Shopping Mall“4 entstand und die
damit maßgeblich die Richtung der Erzählung über Gruen und die Welt mitbestimm-
te. Pat Blashill hat das Manuskript ins Englische übersetzt, Oliver Riedel das Register
erstellt. Victor Gruens Kinder, Peggy und Michael Gruen, stellten mir freundlicherwei-
se das Manuskript zur Bearbeitung und Veröffentlichung zur Verfügung. Danke für ihr
Vertrauen. Darüber hinaus wurde die Arbeit an der Veröffentlichung der Memoiren
von der Dietrich W. Botstiber Foundation in Pennsylvania, der Hochschuljubiläumsstiftung der Stadt Wien und der MA 7 der Stadt Wien unterstützt. Die Akademie der
bildenden Künste Wien, das Land Vorarlberg und der Nationalfonds der Republik Ös-
terreich für Opfer des Nationalsozialismus unterstützten den Druck. Danke.
3
4
Austriaca. Cahier Univeritaires d’Unformation sur l’Austriche. Universite de Haute-Normandie. Mai 1981, Nr. 12, 79. Anette Baldauf, Katharina Weingartner, Der Gruen Effekt. Victor Gruen und die Shopping Mall (54 min), ORF/Pooldoks, Wien 2010.
13
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Tote Shopping Malls Lange Zeit galt der Gebäudetypus der Shopping Mall als eine geradezu ideal-
typische Stadtformation, heute verschwindet er langsam von der US-amerikanischen
Landschaft: Mehr und mehr Shopping Malls sind dort dem Verfall überlassen. Schät-
zungsweise einhundert „tote Malls“ verrotten nun in den „Suburbscapes“. Schimmelndes Interior und streunende Hunde besetzen die ehemaligen Konsumträume.5
In den USA zeigte sich die Krise erstmals im Jahr 2000 als Mall-Betreiber den
Bautyp der regionalen Shopping Mall zunehmend in sogenannte „Lifestyle Centers“ umbauen ließen. 2005 wurde in den USA der Bau regionaler und überregionaler
Shopping Malls eingestellt, und schon 2008 waren 400 der 2000 größten Malls geschlossen.6 Der Zusammenbruch des Finanzmarktes im Herbst 2008 konfrontierte
die Betreiber der Shopping Malls mit einer Verschärfung der Krise: Die reduzierte
Kaufkraft der Konsument_innen traf auf eine allgemeine Aufwertung von Diskontgeschäften, Supermärkten und des Internets. In großen Malls nahm der Leerbestand massiv zu, und im Jahr 2009 meldete der zweitgrößte Mall Developer der
USA Konkurs an. Pessimistische Ökonom_innen prognostizierten, dass bis Ende des
Jahres 2008 der US-weite Leerbestand an Geschäften ein Ausmaß von 12,4 Prozent
erreichen werde, das entspricht in etwa einer Fläche von 100 km² oder der Grö-
ße der Stadt Miami.7 Diese Einschätzung bestätigten die im Frühling 2011 im Wall
Street Journal veröffentlichten Daten: Auch in gehobenen Shopping Malls standen
inzwischen im Durchschnitt über neun Prozent der Geschäftsfläche leer. „What is
regrettable from the city’s standpoint isn’t just the loss of sales tax revenue, but
more importantly than that, it is the loss of a significant activity center and gathering place for the city“, zitierte die Zeitschrift Vertreter_innen der Stadtverwaltung
in Westminster, der vom Vorhaben der Stadt berichtete, die Westminster Mall zu
kaufen und zu renovieren.8 Über einhundert Shopping Malls wurden 2009 dem Verfall überlassen, circa 1500 Malls in den letzten Jahren zerstört oder „ent-mallisiert“,
indem die Dächer geöffnet und die Malls in Komplexe umgebaut wurden, die ein organisch gewachsenes Stadtzentrum simulieren.9
5 6 7 8 9
Siehe www.deadmalls.com The rise and fall of the shopping mall. In: The Economist, 22. Dez. 2007, 102–104; Dunham-Jones Ellen and June Williams, Retrofitting Suburbia: Urban Design Solutions for Redesigning Suburbs. Wiley 2008. Stacy Mitchell, Sharp Rise in Shopping Center Vacancies. In: New Rules Project, 19. Juni 2008. Kris Hudson und Bustillo Miguel, Mall face Surge in Vacany. In WSJ, 7. April 2011 (webversion). Kris Hudson and O’Connell Vanessa, Recession Turns Malls Into Ghost Towns. In: WSJ, 22. Mai 2009.
anette baldauf
Exkurs: Walter Benjamin Was passiert mit dem ehemals so populären Symbol des Amerikanischen
Traums? Was bedeutet dessen Verfall? Bedingt das Verschwinden jener Institution, die die Stadtentwicklung weltweit so maßgeblich beeinflusste, auch ein Ende
jener Sehnsüchte, Imaginationen und sozialen Praktiken, die die Einführung und
den Boom der Shopping Mall begleiteten? Walter Benjamin sah sich in den Zwan-
ziger- und Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts mit verwandten Fragestellungen konfrontiert. „Diese Passagen, eine neuere Erfindung des industriellen
Luxus, sind glasgedeckte, marmorgetäfelte Gänge durch ganze Häusermassen, deren Besitzer sich zu solchen Spekulationen vereinigt haben. Zu beiden Seiten dieser Gänge, die ihr Licht von oben erhalten, laufen die elegantesten Warenläden hin, so
dass eine solche Passage eine Stadt, eine Welt im Kleinen ist“, zitierte Walter Benja-
min aus einem Reiseführer seiner Zeit in seiner obsessiven Rekonstruktion dieses einst so populären Ortes.10
Benjamin hatte in den späten Zwanzigerjahren begonnen, sich den Pariser Pas-
sagen zuzuwenden. Er sammelte Kommentare, Zitate und Beobachtungen, um eine
Arbeit mit dem provisorischen Titel „Das Passagen-Werk“ über das Aufkommen
des Warenkapitalismus und dem, was er als „die moderne Erfahrung“ bezeichnete,
in der Stadt Paris zu schreiben. Benjamin sollte es nicht gelingen, sein Projekt zu
vollenden. Die fragmentarische Textzusammenstellung wurde erstmals 1982 veröffentlicht, lange nachdem sich Benjamin auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus
in einer spanischen Grenzstadt das Leben genommen hatte. Die Zielsetzung seines
Projekts beschrieb Benjamin in den Zwanzigerjahren folgendermaßen: „Nicht die
wirtschaftliche Entstehung der Kultur, sondern der Ausdruck der Wirtschaft in ihrer Kultur ist darzustellen. Es handelt sich, mit andern Worten, um den Versuch, einen wirtschaftlichen Prozess als anschauliches Urphänomen zu erfassen, aus
welchem alle Lebenserscheinungen der Passagen (und insoweit des 19. Jahrhunderts) hervorgehen.“11
Die Passage war in Form eines Kreuzes angelegt, nach Benjamins Theorie ähn-
lich wie eine Kirche. In ihr fand die neue Magie von Glas und Stahl ihren materialisierten Ausdruck. In den Schaufenstern thronten Waren wie Ikonen in einem
heiligen Schrein. Die Passagen, schrieb Benjamin im Rückblick, „strahlten ins Paris
der Empirezeit als Feengrotten“.12 Sie hatten die Bühnen des Pariser Stadtlebens
10 11 12
Walter Benjamin, Das Passagen-Werk. Zwei Bde., Frankfurt/M: Suhrkamp 1988, 83. Benjamin 1988, 573. Benjamin 1988, 700.
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16
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schon Anfang des 19. Jahrhunderts betreten, aber zum Zeitpunkt von Benjamins
Analyse, also in den späten Zwanziger- und frühen Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts, längst ihre Anziehung verloren. Die Magie war zu einer neuen Attraktion
abgewandert: dem Kaufhaus. Benjamin schrieb: „So liegen die Passagen heute in
den großen Städten wie Höhlen mit den Fossilien eines verschollenen Untiers: der
Konsumenten aus der vorimperialen Epoche des Kapitalismus, des letzten Dinosauriers Europas.“13 Aber es war gerade dieser veraltete und überholte Zustand der
Passage und in der Folge anderer sogenannter Wunschsymbole, der Benjamins Interesse weckte. „In den Fenstern der Friseure sieht man die letzten Frauen mit langem Haar, sie haben reich ondulierte Massen auf, versteinerte Haartouren“, schrieb
er, und sinniert über die Transformation des Konzepts von Weiblichkeit, die den
Zerfall der Passage begleitet hatte.14
In seiner vielschichtigen Montage von Notizen, Zitaten und Verweisen hielt
Benjamin fest: „Die Entwicklung der Produktivkräfte legte die Wunschsymbole
des vorigen Jahrhunderts in Trümmer noch ehe die sie darstellenden Monumen-
te zerfallen waren … Dieser Epoche entstammen die Passagen und Interieurs, die
Ausstellungshallen und Panoramen. Sie sind Rückstände einer Traumwelt.“15 So
fand Benjamin in der Passage die Idealform seiner Theorie des dialektischen Bil-
des, in dem er eine unterdrückte Vergangenheit gefangen gehalten sah: Die Passa-
ge hatte Luxus und eine bessere Zukunft für alle versprochen und bereits wenige
Jahrzehnte später bezeugte sie den Betrug dieses Versprechens.
Benjamin teilte mit Max Weber die Definition der Moderne als einen von Büro-
kratisierung und Rationalisierung geschweißten „eisernen Käfig“. Aber eingebettet
in seine dialektische Philosophie nahm er gleichzeitig den Prozess einer neuer
lichen Verklärung wahr, welchen er unter der Oberfläche, auf einer unbewussten
Traumebene, verortet sah. Er schrieb: „Der Kapitalismus war eine Naturerscheinung, mit der ein neuer Traumschlaf über Europa kam und in ihm eine Reaktivie-
rung der mythischen Kräfte.“16 Die Passagen mit ihren lichtdurchfluteten Glasdec-
ken, marmorgetäfelten Gängen und imposanten Stahlkonstruktionen stellten nach
Ansicht von Benjamin eine idealtypische Verkörperung dieser mythischen Repräsentationskräfte dar. Er beschrieb das phantasmagorische Setting der Warenwelt
als magische Inszenierung optischer Illusionen, die ineinandergriffen und ihre
13 14 15 16
Benjamin 1988, 670. Benjamin 1988, 1048. Benjamin 1988, 59. Benjamin 1988, 494.
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Größe kontinuierlich veränderten. Karl Marx entwickelte das Konzept der Phan-
tasmagorie ursprünglich, um die Erscheinung der Ware als Fetisch am Markt zu
analysieren. Benjamin, der weniger an einer ökonomischen Analyse des Kapitals, als an einer Philosophie der historischen Erfahrung interessiert war, griff auf das
Konzept zurück, um sich dem rein repräsentativen Wert der Objekte – das Ausstellungsobjekt – anzunähern. Mit dem Konzept der Phantasmagorie wollte er die
unmittelbare Erfahrung im Kontext des aufkommenden Warenkapitalismus erfassen. Daher rührt Benjamins Gleichsetzung der Geschichte der Passagen mit der
„Ur-Geschichte des 19. Jahrhunderts“.
Archäologie der Shopping Mall Als potenzielle Ruine bietet heute die Shopping Mall, ob verlassen, um-
gebaut oder nachgerüstet, ein der Passage verwandtes, ideales Forschungsobjekt:
Seit der Einführung in den Fünfzigerjahren wurde die Mall immer wieder als Technologie eines kollektiven Traums beschrieben, aber dieses Träumen wurde nur bedingt in Hinblick auf weitere urbane, soziale und ökonomische Transformationen
untersucht. In den USA machten Konsumausgaben seit Jahren ca. zwei Drittel der gesamten Ökonomie von 14 Billionen Dollar aus. Das kontinuierliche Wachstum
dieser Ausgaben – seit 1980 jährlich um mehr als drei Prozent – wird von einer aus-
geprägten Schuldenpolitik möglich gemacht: In den 1980er-Jahren hatten US-ame-
rikanische Haushalte im Durchschnitt 40.000 Dollar Schulden, 2010 sind es 130.000
Dollar; der Schuldenberg inkludiert meist einen Wohnkredit und durchschnittlich
8000 Dollar Kreditkartenschulden.17
Kapitalistische Imaginäre und politische Praktiken veränderten sich in den letz-
ten fünfzig Jahren grundlegend, und Theorien, welche die aktuellen Bedingungen
als Manifestationen des Neuen Kapitalismus, Kognitiven Kapitalismus oder Mille-
nium-Kapitalismus verstehen, bieten Einsichten in die großen Umformungen der industriellen Welt in der Ära der Deindustrialisierung. Aber obwohl diese Ansätze
die kulturelle Dimension kapitalistischer Entwicklungen ins Zentrum rücken, blieb
bislang das Verhältnis zwischen Alltagskonsum, Ökonomie und Stadtentwicklung
markant unterbelichtet.
In der Bearbeitung dieses Referenzfeldes gibt es eine Biografie, die Einsichten in
die Verschiebung der adaptierten Bezugsfelder und hegemonialen Parameter ver-
17
David Harvey, The Enigma of Capital. Oxford University Press: London 2010, 17.
17
18
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spricht: Victor Gruen, als Viktor David Grünbaum 1903 in Wien geboren, gilt als Va-
ter der Shopping Mall. Der selbsternannte „people’s architect“ führte weltweit mehr als 15 Millionen Quadratmeter Shoppingfläche ein.18 Nach dem Zweiten Weltkrieg orchestrierte er urbane Interventionen in den USA und später auch in Europa, die
die westliche Stadtentwicklung grundlegend prägten. Er bemühte sich zu Beginn
um die Strukturierung der amorphen, monofunktionalen Agglomerationen in der
US-amerikanischen Vorstadt, dann beschäftigte er sich mit den vernachlässigten
Stadtzentren, zuerst in den USA, später in Europa. Gruen baute gigantische Kommerzmaschinen in den expandierenden Vorstädten und, wenige Jahre später, groß
angelegte Fußgängerzonen in den vernachlässigten Downtowns. „Shopping Towns“ sollten das zivilgesellschaftliche Leben in der isolierenden Vorstadt stärken, Fuß-
gängerzonen die bald völlig ausgehungerten Stadtzentren revitalisieren. In beiden
Fällen wurde Gruen vom unerschütterlichen Glauben an die integrative Macht des Kommerzes und einem intuitiven Verständnis der Stadt als Schauraum und Bühne geleitet. Insbesondere die Interpretation von Raum als Bühne war eine wichtige
Ingredienz jener magischen Kraft, die Gruens Arbeit stetig vorantrieb – von der Renovierung kleiner Läden in Wien hin zur Stadtentwicklung in den USA und Westeu-
ropa. Nicht zuletzt deshalb beschreibt heute in der Architektur der „Gruen-Effekt“
jenen Sog, der Einkaufende mithilfe verführerischer Designs von Verkaufsräumen dazu bringt, instrumentelles Einkaufen aufzugeben und sich in ziellosem Shopping
und Flanieren zu verlieren. Auf die Dimension der Stadt übertragen, beschreibt
der „Gruen-Effekt“ die Stadt als Ort der performativen Inszenierung von Lifestyle,
Distinktion und Event; er begreift die Konfiguration der postindustriellen Stadt, d. h., in anderen Worten, der Stadt als Shopping Mall.
Die Stadt als Bühne 1936 eröffnete in der Rotenturmstraße im Ersten Wiener Gemeindebezirk
ein kleiner Laden. Im Zuge der Renovierung der Geschäftsräume des Stoffausstat-
ters Singer hatte ein bis dahin wenig bekannter Baumeister namens Viktor David
Grünbaum die Struktur des Geschäftes einige Meter hinter den Gehsteig zurück-
versetzt und so an der Schnittfläche zwischen Straße und Geschäft einen öffentlich
zugänglichen Arkadenraum geschaffen. Gerahmt von großflächigen Schaufenstern
18
Chuihua Judy Chung, Jeffrey Inaba, Rem Koolhaas, Sze Tsung Leong (Hg.), The Harvard Design School Guide to Shopping. Harvard Design School Project on the City 2. Taschen: Köln 2002
anette baldauf
und um eine dramatisch beleuchtete Glasvitrine arrangiert, lud der im Überlappungsbereich hervorgebrachte Raum die passierenden Fußgänger_innen ein, sich
dem forttreibenden Bewegungsfluss der Straße zu entreißen und, zumindest kurz-
fristig, den neu eingetroffenen Stoffen ebenso wie dem urbanen Leben selbst nach-
zusinnen.19
Fest verankert in den Prinzipien der Wiener Moderne im Allgemeinen, wie im
Interesse von Adolf Loos an der Theatralität des Raumes im Speziellen, machte
sich Grünbaums Intervention eine spezifische, raumproduzierende Methode zu ei-
gen: Ausgedehnte Schaufenster und dramatische Glasfronten verwandelten kleine
Boutiquen in phantasmagorische Ausstellungsflächen, sie dehnten das Konzept des Schaufensters auf das ganze Geschäft aus und definierten dieses als großflächige
Bühne des urbanen Lebens. Theatralität war eine etablierte Konstante in Grünbaums facettenreichem Leben: Zwischen 1926 und 1938 renovierte Grünbaum in
Wien untertags Wohnungen und kleine Geschäftslokale im Bekanntenkreis, seine
Abende verbrachte er auf der Bühne des 1927 gegründeten „Politischen Kabarett“,
einer erfolgreichen antifaschistischen Theatergruppe, die der prekären Verbin-
dung von politischem Aktivismus und Unterhaltung gewidmet war.
Theatralität war nicht nur ein wichtiges Element in Grünbaums Leben, es war
auch ein konstitutives Merkmal im Wien der Zwischenkriegsjahre: Die Stadt ex-
ponierte ihre Bewohner_innen, intellektuell und körperlich, einer schmerzreichen
Diskrepanz zwischen Bild und Alltag, prachtvollen Fassaden und heruntergekommenen Hinterhöfen, rigiden Etiketten und inneren Stürmen. Die pompöse Wiener
Ringstraße, die im Zuge des europaweiten Trends zur Hausmann’schen Umstrukturierung der Stadt eingeführt worden war, etablierte eine Struktur, die Michel de
Certeau als „ein ‚thereotischesʻ (das heißt, visuelles) Simulakrum“ beschrieb. Sie
betonte unter anderem die konzeptuelle Einheit einer imaginierten Gemeinschaft
des Kleinbürgertums zu einer Zeit, in der die Stadt selbst mehr und mehr zerfiel.20
Diese fundamentale Diskrepanz zwischen der Betonung einer Einheit auf einer abstrakten Ebene und der sozialen und räumlichen Fragmentierung des Stadtkörpers,
wie sie im Alltag kontinuierlich erlebt wurde, nährte auf mehreren Ebenen die
spezifische Wahrnehmung der Stadt als Bühne.21 So schrieb beispielsweise Robert
19 20 21
Alexander Wall, From Urban Shop to New City. Actar: Barcelona 2005. Michel de Certeau, The Practice of Everyday Life. University of California Press: Berkeley 1984, 92–93. Alexandra Seibel, Vienna, Girls, and Jewish Authorship: Topographies of a Cinematic City, 1920–40. Unveröffentlichte Dissertation an der New York University, New York 2008.
19
20
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Musil im Jahr 1914: „Straßenbilder: Krümmung der Favoriten[straße]: Das Theresianum abends wie mit fahlem Lack überzogen. Wenn man in der Rasumofskygasse
(…) die Landstraße erblickt: die Kirche mit der beleuchteten Uhr wie eine Kulisse”.22
Während Grünbaum darüber nachdachte, wie er die Stadt in eine von Schein-
werfern beleuchtete und von Glas gespiegelte Schaubühne verwandeln konnte, zerfiel das soziale Gewebe der Stadt in Ruinen, Denunziation und Mord. Arthur
Schnitzlers Tragödien, die um diese Zeit geschrieben wurden, inspirieren unsere
Imagination jener Dramen, die das Diktum der visuellen Erscheinung nach sich zog: Rigide soziale Konventionen diktierten das Leben der weiblichen Charaktere, und
Versuche, sich zu befreien, enden so gut wie immer in einer einsamen, verbitterten Existenz, verdammt zu Depression und Suizid. Vor diesem Hintergrund definierte
Gruen das Geschäft als Bühne, und lud die Einkaufenden ein, das Drama des städtischen Lebens kollektiv zur Aufführung zu bringen. Dabei perforierten seine Inter-
ventionen die Grenze zwischen Theater und Alltag, Straße und Geschäft, privatem und öffentlichem Raum. Der durch seine Interventionen kreierte Zwischenbereich
machte es den Einkaufenden möglich, anwesend und gleichzeitig abwesend zu sein,
hier zu sein und zugleich auf Distanz zu den Zwängen des Alltags zu gehen. Während die räumliche Konfiguration Zeit und Raum in Bewegung versetzte, konnten
die performativen Shopping-Akte dem Regime der Konventionen folgen und gleich-
zeitig die Ordnung der Dinge auf subtile Weise parodieren, durchlöchern oder auch
übertreiben.
Zwei Jahre nach der Eröffnung des Singer-Geschäfts stellten Zeitschriften wie
Glas. Österreichs Glaserzeitung, Architectural Review und L’Architecture d’Aujourd’hui
Grünbaums Arbeiten in Wien vor. Die Zusammenstellung der Projekte – Parfüme-
rie Bristol (1935), Herrenmode Deutsch (1936), Parfümerie Guerlain (1936), der er-
wähnte Stoffausstatter Singer (1936) und Frauenmode Richard Löwenfeld (1937)
– illustrierte eine deutliche Kontinuität der Gruen-Interventionen: Ausgedehnte
Schaufenster und dramatische Glasfrontenmachten aus kleinen Boutiquen phan-
tasmagorische Ausstellungsflächen.
Zwei Monate nach dem sogenannten Anschluss 1938 gelang Victor Grünbaum
gemeinsam mit seiner ersten Frau Alice Kardos mithilfe seines als SA-Mann ver-
kleideten Freundes, Adolf Györgyfalvay, im letzten Moment die Flucht, zuerst in
die Schweiz, dann in die USA. Ein Jahr nach seiner Ankunft wurde er in New York
vom ebenfalls aus Wien emigrierten Geschäftsmann Ludwig Lederer eingeladen, 22
Robert Musil, Gesammelte Schriften II. Rowohlt: Hamburg 1978, 152.
anette baldauf
gemeinsam mit seiner zweiten Frau, Elsie Krummeck, eine Boutique auf der Fifth
Avenue zu gestalten. Gruenbaum präsentierte Lederer folgende Vision: „Entlang der Fifth Avenue ein zum Gehsteig hin offenes Atrium zu schaffen, in dem sich die
gehetzten Fußgänger wie in einem Auffangbecken sammeln können ... An den zwei
Seitenwänden und an der Rückwand dieses Atriums würden sechs kleine individuelle Glasvitrinen herausragen, an der Rückwand würde eine Vollglastüre sowohl
Einblick wie Eintritt in das Geschäftsinnere ermöglichen … Die Decke des Atriums
würde aus durchlässigem Glas bestehen und unsichtbare Lichtquellen darüber
würden den offenen Vorplatz gleichmäßig … erhellen. In der Mitte des neu geschaffenen Außenraumes sah ich einen gläsernen Ausstellungstisch vor mir … Diese und
auch die Verkaufsobjekte in den Vitrinen würden durch kleine verborgene sehr
starke Scheinwerfer wie sie im Theater verwendet werden, auch am Tag hell an-
gestrahlt werden.“23
Mit Unterstützung der schillernden Entwürfe der Innenausstatterin Elsie Krum-
meck und der Lizenz des Architekten Morris Ketchum kam der Plan 1939 auf der
Fifth Avenue in New York zur Realisierung. Gruen griff das bereits in Wien verfolgte
Konzept des Schaufensters als Bühnenraum auf und sprach, seiner bewährten Rezeptur folgend, mit der Inszenierung einer theatralisch beleuchteten Kulisse die Pas-
sant_innen erneut als potenzielle Performer_innen an. Architekturzeitschriften, Handelsblätter und Tageszeitungen berichteten euphorisch von der neuen Inspiration im
Bereich der Geschäftsarchitektur. Das New Yorker Museum of Modern Art integrierte
Abbildungen des Lederer-Geschäfts in seinem Führer der Modernen Architektur.24
Das Einkaufszentrum der Zukunft 15 Jahre nach der erfolgreichen Eröffnung der Lederer-Boutique in New
York gelang es dem Architekten, der sich nach der Einbürgerung in die USA 1943
Victor D. Gruen nannte, die Vision eines schützenden Arkadenraumes in die zerfransten Siedlungsgebiete der boomenden US-amerikanischen Vorstadtlandschaft
zu übersetzen. Er vergrößerte den in Wien und New York erprobten Maßstab um das Eintausendfache und führte damit das erste regionale Einkaufszentrum und ein Stadtexperiment in bis dahin unbekannter Dimension ein. Im Gegensatz zu den
Arkadenräumen der Geschäfte in Wien und in New York, die um einen beleuchteten 23 24
Victor Gruen, unveröffentliches Manuskript. John McAndrew, Guide to Modern Architecture, Northeast States. Museum of Modern Art: New York 1940.
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Vitrinentisch angeordnet waren, markierte außerhalb von Detroit die Blockformation des Kaufhauses J. L. Hudson das Zentrum des 44.000 Quadratmeter großen
Areals. Die Idee der Arkade erweiterte Gruen im Einkaufszentrum durch einen mit
Brunnen, Bänken, verspielten Skulpturen und bunten Mosaiken versetzten, weitläufigen Hof, den nach außen hin die großflächigen Schaufenster jener Geschäfte
rahmten, die nun in fünf u-förmig um den Hof arrangierten Gebäudekomplexen un-
tergebracht waren. An der Schnittstelle zwischen Hof und Schaufenster stellte die
mit Säulengängen ausgestattete Arkade ein, wie Gruen erklärte, „essentiell städtisches Ambiente“ her. Die städtische Identität des 30-Millionen-Dollar-Komplexes
bestätigte zudem ein Mix aus ca. 100 Geschäften und zahlreichen zivilgesellschaft-
lichen Einrichtungen, wie z. B. Konferenzräumen, einem Kindergarten und einem
Zoo. Northland Center, schwärmte der Architekt bei der Eröffnung am 22. März 1954,
war das „erste Einkaufszentrum der Zukunft“25.
Gruen, der inzwischen mit seiner vierten Frau Lazette van Houten, der Heraus-
geberin eines renommierten Handelsblattes, verheiratet war, war die Realisierung
seines Traumprojekts nicht zufällig außerhalb der Stadt Detroit gelungen: In der
Zwei-Millionen-Stadt waren die drei größten US-Autokonzerne – Chrysler, Ford und
General Motors – angesiedelt. Im Laufe der Fünfzigerjahre hatten diese eine wohl-
habende Mittelschicht hervorgebracht, die über eine signifikante Kaufkraft verfüg-
te. Detroit war als ökonomisches Paradies bekannt, gleichzeitig galt die Stadt aber aufgrund der industriellen Konzentration als prädestinierte Zielscheibe im Kalten
Krieg. Der Ford-Konzern verfügte über einen firmeneigenen Bunker, und die lokale
Zivilverteidigung bot regelmäßig Kurse und Trainingseinheiten zur Vorbereitung für den atomaren Notfall an. Darüber hinaus verfolgte die Stadt einen aggressiven
Dezentralisierungsplan.26
Als kumulatives Ergebnis dieser Kräfte galt die Industriestadt Detroit als Pionie-
rin der Suburbanisierung. Wohlhabende, weiße Innenstadtbewohner_innen zogen
in die Vorstadt, wo sie sich in „sicheren“, d. h. segregierten Gegenden niederließen.
Die Straßen, die zur Erschließung der vorstädtischen Projekte erforderlich waren, führten nicht selten quer durch afro-amerikanische Arbeiter_innenbezirke, denn die neue Stadtplanung zielte neben der Herstellung eines neuen Lebensraums auch
auf die Vernichtung alter Problemzonen ab. 1953 ernannte Präsident Eisenhower
Charles Erwin Wilson, den Präsidenten von General Motors, zu seinem Verteidi-
25
Northland Center, Victor Gruens Rede bei der Pressekonfernez, Northland (March 15, 1954), Vol. Rede Nr. 9, Library of Congress, Victor Gruen Katalog, Box 81, Vol. A, 1943–1956. 26 The Detroit News, 17. April 1951.
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gungsminister. 1955 war GM der erste US-amerikanische Konzern, dessen Einnah-
men die Ein-Milliarden-Dollar-Grenze überschritten. Im selben Jahr gab GM in
vielen Städten stolz die Zerstörung des öffentlichen Straßenbahnnetzes bekannt.
In seinen anfänglichen Entwürfen hatte Gruen stets die Produktivität eines Kon-
kurrenzverhältnisses zwischen suburbanen und innerstädtischen Einkaufszonen
postuliert. Aber das regionale Einkaufszentrum markierte bald die Grenzen des
Konzepts eines suburbanen Kristallisationspunkts, das Gruen so lange propagiert hatte.27 Angesiedelt inmitten der sich ängstlich abschirmenden Siedlungen bot es
weißen, wohlhabenden Vorstadtbewohner_innen einen sicheren und sauberen Mikrokosmos, der ihnen die völlige Abkehr von der innerstädtischen Einkaufsstraße möglich machte.
Eine verwandte Verschiebung kennzeichnete auch das Verhältnis der Geschlech-
ter: Bauen für die Frauen war eine Devise Gruens, die er bei vielfältigen Anlässen
ins Spiel brachte. „Neben dem Kochen verbringt die Hausfrau schrecklich viel Zeit
beim Einkaufen“, erklärte er beispielsweise 1953 in einer Radiosendung. Ausgestattet mit mobilen Bauklötzen und Modellbäumen illustrierte Gruen für die Moderatorin im Studio, wie „unsere Frau Shopper“ Ruhe und Komfort in einem Ein-
kaufszentrum finden kann.28 Das Einkaufszentrum sollte der Isolation der Vorstadt entgegenwirken. Es sollte jenen Frauen das Leben erleichtern, die keinen Zugang
zu öffentlichen Verkehrsmitteln und Kinderbetreuungseinrichtungen hatten: Frauen, die das Gefühl hatten, so Gruen, „daß ihr Leben leer und langweilig“ sei, weil „es
nichts zu tun gab in der Vorstadt“.29
Tatsächlich sollten viele der in der Vorstadt isolierten Frauen im Einkaufszen-
trum einen „dritten Ort“ finden – einen Ort, der nicht nur kommerziellen, sondern
auch sozialen und kulturellen Aktivitäten gewidmet war. Der Konsumtempel er-
möglichte es ihnen, die rigide Rahmung ihres Alltags zumindest temporär ein wenig aufzuweichen. Während sie durch die Konsumwelt wanderten, unternahmen sie imaginäre Exkursionen in eine andere Zeit und andere Welt. So fungierte das
Zentrum als wertvolles Vehikel auf der Suche nach einem projizierten Fluchtpunkt,
einem sicheren Übergang zu einem imaginären Anderswo.30 Gleichzeitig aber ver-
Margaret Crawford, The World in a Shopping Mall. In: Sorkin Michael (Ed), Variations on a Theme Park. The New American City and the End of Public Space. Hill and Wang: New York 1992, 15. 28 Radio Reports, Inc., Victor Gruen Shows Model Shopping Center of the Future, 25. Jänner 1953. Victor Gruen, LoCPVG, box 71, Folder 2. 29 NBC, Show October 9th, 1955, Channel 4; LoCPVG, box 81. 30 Anne Friedberg, Window Shopping. Cinema and The Postmodern. University of California Press: Berkeley 1993. 27
23
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stärkte das Einkaufszentrum mit dieser Konstellation die Assoziation von Frauen
mit Hausfrauentum und Mutterschaft und bestätigte damit die verbreitete Verschränkung der Konzepte Weiblichkeit und Konsumismus.
Das Passagen-Werk: Paris 1850 Einige Dekaden zuvor hatte Walter Benjamin in seinen Arbeiten zur
ursprünglichen Form des Warenkapitalismus ein gänzlich anders Bild gezeichnet.
Formal beschrieb er die Passage als einen Zwischenraum: Sie verband die laute
Straße mit dem spektakulären Innenraum. Ästhetisch und politisch definierte Ben-
jamin die Passage als einen Ort der Verführung. In seiner dialektischen Erzählung
argumentierte er, dass sich hier das visuelle Spektakel von Licht und Glas mit der
Warenwelt verband und so ein Phänomen herstellte, das er Phantasmagorie nannte. Diese „Traumhäuser der Kollektive“ waren laut Benjamin privilegierte Orte der
phantasmagorischen Interventionen und auch das Zuhause zweier sehr unter-
schiedlicher Stadtbewohner_innen: des Flaneurs und der Prostituierten. Das Kenn-
zeichen des Flaneurs, als literarisches Motiv ebenso wie als Verkörperung einer
spezifischen städtischen Erfahrung gedacht, war der Müßiggang. Zeitverschwendung war die Leidenschaft dieses einsamen Fremden, der gegen Arbeitsteilung und
die Kultur des Fleißes zu rebellieren versuchte. Während er „auf dem Asphalt bota-
nisieren geht“, erkannte er die Stadt als Landschaft – und Frauen als Teil des Spek-
trums an verführerischen Konsumobjekten, die diese Landschaft hervorbrachte.31
Das ziellose Wandern durch die Zwischenräume definierte Männer als hero-
ische, semi-tragische Wesen, die mit der Veränderung der Wahrnehmung assoziiert
werden, die laut Benjamin die Moderne definiert. Aber eben dieses Herumstreunen machte aus Frauen Straßenfrauen, mit anderen Worten: Prostituierte. Wie viele
seiner Zeitgenossen war auch Benjamin fasziniert von Frauen, die die Position der
Verkaufenden und des Verkauften in sich vereinten. „Die Liebe zur Prostituierten ist
die Apotheose der Einfühlung in die Ware“, schrieb er und betrachtete die Prosti-
tuierte als eine Allegorie für die Transformation der Objekte, der Welt der Dinge.32
„The prostitute was a ‚public womanʻ“, schrieb Elisabeth Wilson, „but the pro-
blem in the nineteenth-century urban life was whether every woman in the new,
31
32
Walter Benjamin, Charles Baudelaire: A Lyric Poet in the Era of High Capitalism. London: Verso 1989, 36; Benjamin 1999, 417. Benjamin 1999, 475.
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disordered world of the city … was not a public woman and thus a prostitute.“33
Benjamins Bewunderung für die sogenannten Straßenmädchen wurde von vielen Stadtverwaltungen – zumindest offiziell – nicht geteilt. In vielen europäischen
Städten galt die Anwesenheit von Frauen auf der Straße in der Nacht als Bedrohung der dominanten patriarchalen Ordnung. Einige versuchten deshalb den moralischen Verfall mit Ausgangssperren einzufangen, welche Frauen von nächtlichen Ausschweifungen abhalten sollten. Aber auch wenn es ihr Ansehen bedrohte,
entschieden sich viele Frauen für das was Susanne Frank, das „Abend-teuer Stadt“
nannte.34 Welche Motivation trieb den unverhüllten Versuch an, die Frauen aus den
Straßen zu verdrängen? Nach Ansicht von Wilson war es die Angst vor der „neuen
Frau“, die in der Fabrik arbeitete und einem unabhängigen, städtischen Lebens-
wandel nachging.35
Das Geschlecht des Konsums Die Situation veränderte sich mit der Einführung des Kaufhauses Mitte
des 19. Jahrhunderts grundlegend. Im Gegensatz zur Passage richtete sich nun das
Kaufhaus explizit an ein weibliches Klientel; es inkorporierte Angebote wie Kinderbetreuung, Maßschneiderei oder Musikzentren. Als Verkaufsraum von Waren und
Produktionsraum von Begehren bettet es die ausgestellten Objekte in kollektive
Vorstellungswelten und populäre Erzählungen von Sehnsucht und Verzweiflung ein und rückte die verlockenden Zeichen des Luxus in scheinbar greifbare Nähe. Das
Kaufhaus war ein sicherer und sauberer Ort: Flanerie wurde in eine Ware umge-
wandelt, der Flaneur und die Prostituierte des Raumes verwiesen. Aus der Asche des Flaneurs, so behauptet zumindest Anne Friedberg, entsprang die Flaneuse: Sie
wanderte durch die Gänge des Kaufhauses und ließ sich von der visuellen Resonanz der Warenwelt berauschen.36
Aber die neuen Freiheiten forderten ihren Preis: Als Konsumentinnen galten
Frauen bald als delikate Objekte, die der Magie der Warenwelt wehrlos ausgeliefert waren. Über die Geschichte des Kaufhaus Macy rekonsturierte beispiels-
Elizabeth Wilson, Begegnung mit der Sphinx, Stadtleben, Chaos und Frauen. Birkhäuser: Basel 1995, 61. 34 Susanne Frank, Stadtplanung im Geschlechterkampf. Stadt und Geschlecht in der Großstadtentwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts. Leske und Budrich: Opladen 2003, 89–116. 35 Wilson 1995, 146–160. 36 Friedberg 1993, 37. 33
25
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weise Elaine Abelson den Entstehungskontext des Symptoms „Kleptomanie“, das
als „a natural, if eccentric inclination firmly rooted in female life“ galt.37 Und nach
Ansicht von Andreas Huyssen diente die nach der Einführung des Kaufhauses
durchgesetzteAssoziation von Frauen mit Massenkultur und, demzufolge, mit Ma-
nipulation, Konformismus und Beschmutzung auch einem politischen Zweck: Zu
Beginn des 20. Jahrhunderts rüttelten sozialistische und feministische Bewegungen
an den Toren der Hochkultur und forderten kulturelle Teilhabe ebenso wie poli-
tische. Aber die Definition von Frauen als Zielscheibe der Konsummanipulation
widersprach dem Anforderungsprofil einer verantwortungsbewussten Bürgerin.38 Jahre später, nachdem Frauen das Wahlrecht, das Recht auf Bildung und das
Recht, in der Nacht herumzuziehen, für sich durchgesetzt hatten, tauchte dieser
Kampf, etwas verändert, erneut im US-Amerika der Nachkriegszeit auf. Die Rückkehr der Veteranen nach dem Zweiten Weltkrieg ging mit dem beharrlichen Versuch einher, das Konzept von Weiblichkeit an Mütterlichkeit, Reproduktions- und
Hausarbeit zu knüpfen. Dies war in der Tat jener fruchtbare Boden, auf dem Gruens
Idee der „Shopping Town“ so folgenreich spross: Er machte sich die Angst des Kalten Krieges zunutze und präsentierte das hermetisch abgegrenzte Einkaufszentrum als Bunker- und Evakuationszone im Falle eines kriegerischen Angriffs. Im
Kontext der aggressiv propagierten „philosophy of containment“, d. h., einer Philosophie der Eindämmung, bot das Zentrum ein konkretes Symbol der Eindämmung, das zwei unterschiedliche Funktionen in sich vereinte: Nach innen hin, also für die
Einkaufenden, signalisierte das Einkaufszentrum Sicherheit, Schutz und Zuflucht.
Es versorgte die entwurzelten Bewohner_innen der aus dem Boden gestampften, suburbanen Teppichlandschaften mit einem sinnstiftenden, affektiven Anker. Nach
außen hin, in Richtung der rivalisierenden Sowjetunion und den Sympathisant_in-
nen des Kommunismus, signalisierte das Einkaufszentrum die Überlegenheit des
Kapitalismus; das Einkaufszentrum galt als materialisierter Beweis für die Einlösung der Prinzipien des sozialen Egalitarismus und der Freiheit der Wahl, die dem
Konsumismus anscheinend eingeschrieben war.
Mit seiner Ikonografie des Bunkers bot das Einkaufszentrum eine räumliche
Übersetzung der außenpolitischen Strategie der Eindämmung und etablierte dabei die materialisierte Voraussetzung für weitere, subtilere Formen der sozialen und
37
38
Elaine S. Abelson, When Ladies Go A-Thieving. Middle-Class Shoplifters in the Victorian Department Store. Oxford University Press: Oxford 1989, 8. Andreas Huyssen, After the Great Divide: Modernism, Mass Culture, Postmodernism (Theories of Representation and Difference). Indiana University Press: Indiana 1986.
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kulturellen „Eindämmung“. Das Zentrum unterstützte die „Eindämmung“ von Frauen, die sich nach der Rückkehr der Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem
Erwerbsmarkt zurückziehen und ihre Arbeitskraft in Kindererziehung, Hausarbeit
– die sogenannte „labor of love“ – und Konsum investieren sollten. Und es bot den
weißen Bewohner_innen der Vorstadt eine kontrollierte Sicherheitszone, die zwar Urbanität simulierte, ihnen aber gleichzeitig soziale Homogenität versicherte. Im
Zuge der Feierlichkeiten zum 50-jährigen Bestehen des Northland Centers im Jahr
2004 erinnerte sich die Zeitung The Detroit Free Press an Bürgermeister und Immobilienbüros, die Afro-Amerikaner_innen und andere ethnische Minderheiten
daran hinderten, sich außerhalb von Detroit im vorstädtischen Siedlungsgebiet
niederzulassen. Wenn sich schwarze Bewohner_innen davon nicht abschrecken
ließen, so erinnerten sich Zeitzeug_innen, dann wurden sie oder ihre Häuser nicht selten von den Nachbar_innen attackiert.39 Aufgrund dieser Konstellation ist die
Geschichte des Einkaufszentrums unvermeidlich auch an die Geschichte der Politik
der „Eindämmung“ der Afro-Amerikaner_innen in der ökonomisch vernachlässig-
ten Innenstadt geknüpft.
Das Konzept des regionalen Einkaufszentrums und in der Folge der Shopping
Mall entstand an der Schnittstelle der Politik des Kalten Krieges und der kapitalistischen Industriekultur. Sie waren Kinder der Nachkriegsängste und der Konsumträume und als solche markieren sie die Spannung zwischen der Angst vor
der totalen Auslöschung und der Euphorie der Konsumutopie. Die Shopping Mall,
so argumentierte William Kowinski, „war die Kulmination aller Amerikanischen
Träume, anständig ebenso wie verrückt; es war die Erfüllung, das Modell, eines Nachkriegsparadieses“.40
Gemeinsam mit seiner zweiten Frau, Elsie Krummeck, hatte Gruen das Konzept
„Shopping Town“ erstmals 1943 präsentiert. Die Zeitschrift Architectural Forum hatte anerkannte Modernisten wie Mies van der Rohe und Charles Eames aufgefordert,
Teile einer Modellstadt für das Jahr „194x“ zu entwerfen, also für jenes unbekannte Jahr, in dem der Zweite Weltkrieg zu Ende gehen sollte.41 Als Gruen Mitte der
Fünfzigerjahre in der Lage war, seine Träume zu realisieren, versinnbildlichte seine
39
Sheryl James, Frenzy of Change. How Northland, Now 50, Jumpstarted Suburbs’ Growth. In: Detroit Free Press, 18. März 2004. 40 William Severini Kowinski, The Malling of America. An Inside Look at the Great Consumer Paradise. Xlibris: New York 1985. 41 M. Jeffrey Hardwick, Mall Maker. Victor Gruen, Architect of the American Dream. University of Pennsylvania Press: Philadephia 2004, 125.
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Einkaufsstadt etwas weit Größeres als selbst der als Gigantomane bekannte Architekt in seinem Konzept vorausgesehen hatte. Zwischen Gruens erstem Entwurf
und dem pilzartigen Aus-dem-Boden-Schießen der Einkaufszentren eineinhalb
Jahrzehnte später hatte sich die Rolle des Konsums in den USA grundlegend verändert: Konsumismus war nicht mehr eine, sondern die treibende Kraft im Nach-
kriegsamerika.
In den USA war die Gruppe der „Konsument_innen“ erstmals während der Zeit
der Großen Depression identifiziert und als separate und einflussreiche Gruppe
eingeführt worden. Aber bereits während des Zweiten Weltkriegs mobilisierte Prä-
sident Roosevelt wiederholt die konsumierende Heimatfront für militärische Zwec-
ke. Nach dem Krieg bildete die Ideologie des Konsumismus die zentrale Ingredienz
des amerikanischen Lifestyles. Hier wurde das Ideal des Bürgers geboren, oder
vielmehr das der Bürgerin, welches eng an die Aufgabe der Konsumption geknüpft war: Konsum galt als privates Vergnügen ebenso wie als zivile Verpflichtung.42
Exkurs: Küche Am 23. Juli 1959 besuchte Vizepräsident Richard M. Nixon Premierminister
Nikita Chruschtschow in Moskau. Nixons Aufgabe war es, sowjetische Politiker_innen durch die Ausstellung „Amerika“ zu führen. Neueste Modelle von Einfamilien-
häusern, Werkzeugen, Autos, Modeartikeln und das kostenlose Ausschenken von
Pepsi illustrierten dort, so Nixon, „was uns Freiheit bedeutet“. Vor dem Modell einer
neuen Einbauküche philosophierte der US-Präsident über die Semiotik von Haus-
haltsartikeln: „Für uns ist Vielfalt, das Recht auf die freie Wahl ... das Allerwich-
tigste“, betonte er. Und weiter: „Bei uns wird eine Entscheidung nicht oben von
einem Vertreter der Regierung getroffen. ... Wir haben verschiedene Produzenten
und viele verschiedene Waschmaschinen, damit die Hausfrau frei wählen kann.“43
Zwei Jahre vor Nixons Besuch in Moskau hatte die Sowjetunion den ersten
künstlichen Satelliten, Sputnik, ins Weltall gesandt. Danach war die Beziehung
zwischen der SU und den USA mit Krisencharakter behaftet. „Wäre es nicht besser, wenn wir uns über die relativen Vorteile von Waschmaschinen, als über die
Stärke von Raketen messen würden?“, fragte Präsident Nixon. Und Chruschtschow
entgegnete: „Sie sind der Anwalt des Kapitalismus; ich bin der Anwalt des Kommu-
42 43
Lizabeth Cohen, A Consumers’ Republic. The Politics of Mass Consumption in Postwar America. New York 2003, 119. Cohen 2003, 126.
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nismus. So lasst uns vergleichen.“ Nixon prahlte, dass drei Viertel aller 44 Millionen
amerikanischen Familien im Besitz eines Eigenheimes waren; sie besaßen 56 Millionen Autos, 50 Millionen Fernseher und 143 Millionen Radios. „Die USA kommt dem
Ideal einer klassenlosen Gesellschaft – Wachstum für alle – am nächsten“, schloss
Nixon. Das „Modellhaus“, erklärte er, sei keine Villa, sondern ein einfaches Haus im Ranchstil, das für Durchschnittsarbeiter durchaus erschwinglich sei. Das Haus
sei mit modernen Geräten ausgestattet, die „das Leben der suburbanen Ehefrauen erleichtern“.
Während die beiden Staatsmänner sich in der Definition von Freiheit nicht eini-
gen konnten, fanden sie Übereinstimmung in der Diskussion um die Position der
Frau. Als Nixon die jungen Russinnen, die Badeanzüge und Sportbekleidung vorführten, bewundernd begutachtete, kommentierte Chruschtschow: „Sie sind also
auch für die Mädchen.“ Und eine Kehrmaschine, die den Boden automatisch wisch-
te, kommentierte Nixon mit: „Da braucht man keine Frau mehr.“ Nixons Postulat der
Konsumption versprach die Aufhebung von Klassendifferenzen: Das utopische Element des Konsumismus stellte Männern einen egalitären Zugang zum suburbanen
Traumhaus in Aussicht. Frauen hingegen versicherte dieser Traum eine bessere
Ausstattung mit Haushaltsgeräten. Nixons Bemerkungen zufolge zielte der Nachkriegskonsumismus auf die Tilgung von Klassendifferenzen bei gleichzeitiger Stärkung von Geschlechterdifferenzen ab. Nixons Klassenpolitik strebte – zumindest diesem Kommentar zufolge – Gleichstellung an, seine Geschlechterpolitik jedoch
suchte die räumliche Eingrenzung, d. h. Eindämmung der Frauen, im Reproduktionsbereich.
Deindustrialisierung und Neoliberalismus 1952, während Gruen noch an seinem Megaprojekt in Detroit arbeitete,
beauftragten die Besitzer des Dayton Kaufhauses in Minnesota Gruens Architek-
turfirma mit der Entwicklung eines dem suburbanen Lebensstil angepassten Kaufhaustypus. Gruen präsentierte in der Folge ein Konzept, das noch verwegener war als jenes, das er für Detroit entwickelt hatte. Er schlug vor, eine „umfassende neue
Community“, also eine ganze Stadt, zu bauen. Southdale Center sollte als die erste
gänzlich geschlossene und künstlich klimatisierte Shopping Mall bekannt werden.
Das Zentrum war um ein bedecktes, hell beleuchtetes, zweistöckiges Atrium organisiert, in dem zwei Kaufhäuser, 72 Geschäfte und eine Vielzahl an zivilgesellschaft-
lichen Institutionen und künstlerischen Installationen untergebracht waren.
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1955 präsentierte Gruen seinen Masterplan für die Stadt Fort Worth, Texas. In
Anlehnung an die erprobte Mall-Matrix schlug Gruen vor, Verkehrs- und Konsumraum räumlich zu trennen und kommerziellen und zivilgesellschaftlichen Raum
in der Stadt zusammenzuführen. Aus vielerlei Gründen, aber vor allem aufgrund der vehementen Gegnerschaft der Automobillobby realisierte die Stadt Fort Worth
diesen Plan nur in sehr reduzierter Form, aber Gruens Vision einer vom Individu-
alverkehr bereinigten Innenstadt ging in die Geschichte der Stadterneuerung ein.
1960 initiierten Gruen und sein internationales Team ein Stadterneuerungspro-
jekt in Rochester, das den Bau eines neuen Straßennetzes mit dem eines neuen Stadtzentrums, dem Midtown Plaza, kombinierte. Midtown Plaza setzte sich aus einem Hotel, zwei lokalen Kaufhäusern und einem öffentlich finanzierten Parkhaus
zusammen. Es übertrug auf idealtypische Weise den suburbanen Bautyp der Shop-
ping Mall auf den innerstädtischen Bereich und führte die urbane Mall als neuen architektonischen Prototypen ein. Die Umstrukturierung in Rochester wurde Gruens
Visitenkarte der Stadterneuerung und in den folgenden Jahren diskutierte er mit angesehenen Urbanist_innen wie Jane Jacobs und Lewis Mumford die Strategien
der Innenstadtentwicklung. Es folgten zahllose privat wie öffentlich finanzierte Re-
vitalisierungsprojekte für verschiedene US-amerikanische Städte. Gruen beriet das
Weiße Haus, allen voran Lady Bird Johnson, und kooperierte mit öffentlichen Redevelopment Agencies – mit begrenztem Erfolg. Als Gruen in seinen Stadtumbauten
auf die Grenzen einer marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaftsform stieß, experimentierte er im sozialistischen Venezuela und im totalitären Iran.
Zu welchem Zeitpunkt Gruen seine eigenen Fehleinschätzungen erkannte, lässt
sich kaum rekonstruieren. 1964 kritisierte Gruen die USA für die Zerstörung der
Tugenden einer städtischen Lebensweise – der „Intimität, Verschiedenheit und Vielfalt“.44 Während in den Sechzigerjahren mehr und mehr US-amerikanische
Stadtteile in Flammen aufgingen, begann Gruen seine Rückkehr nach Wien vorzubereiten. Er wollte als Missionar in Europa tätig sein, nach der Devise „Amerika
darf man nicht kopieren, man muss es kapieren“.45 Zwischen 1966 und 1972 pendel-
te er gemeinsam mit seiner vierten Frau, Kemija Salihefendic, zwischen den Welten.
Von New York und Los Angeles aus realisierte er Projekte in Belgien, Deutschland, Italien, der Schweiz, Österreich, Spanien, den Niederlanden, Dänemark, Schweden
und Norwegen, mit Abstechern nach Russland, in die Tschechoslowakei, Ungarn
44 Victor Gruen, The Heart of Our Cities. The Urban Crisis: Diagnosis and Cure. Simon and Schuster: New York 1964, 147. 45 Gruen, unveröffentliches Manuskript.
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und Jugoslawien. In Privatflugzeugen oder ihrem Jaguar jetteten sie von Galas zu
Meetings und Konferenzen.
Vor diesem Hintergrund begann sich Gruen verstärkt für nicht-architekturspezifi-
sche Diskurse, insbesondere für Ökologie, zu interessieren. Bereits 1968 gründete er
in Los Angeles das „Center for Environmental Planning“, 1973 eine Schwesterorganisa-
tion, das „Zentrum für Umweltplanung“ in Wien. Beide Institute suchten, auf ihre geografisch bedingte, spezifische Weise, Expert_innendiskurse für eine kritische Öffent-
lichkeit aufzubereiten. Gruens Vision zufolge sollten sie eine Schnittstelle zwischen
künstlich separierten Disziplinen herstellen. Im Kontext dieser Diskussion konzen-
trierte Gruen seine Aufmerksamkeit auf das Konzept der zellularen Stadt. Er schrieb
die „Charta von Wien“, die er als Gegenentwurf zu Le Corbusiers „Charta von Athen“46
verstand und welche die Prinzipien einer menschengerechten Stadt mit höchster Kompaktheit und größtmöglicher Verflechtung verfolgte, wie er sie bereits in seinem
Entwurf für das Stadtkonzept „194x“ und letztendlich auch für das Konzept des regionalen Einkaufszentrums entwickelt hatte. Während Gruen sich für erneuerbare
Energie interessierte und in Wien in der Anti-Atomkraftwerkbewegung aktiv war, etablierte sich in den USA zwischenzeitlich das Shopping Center als fixer Bestandteil
des American Way Of Life. Mitte der Siebzigerjahre fand beinahe die Hälfte des Um-
satzes im Einzelhandel in den 15.000 Einkaufszentren statt, 800 regionale Shopping
Malls machten dabei beinahe ein Drittel des Umsatzes aus.47 Für Gruen waren diese
Komplexe „Verkaufsmaschinen“, nicht „Shopping Towns“. Er „stritt die Vaterschaft ein
für alle Mal ab“ und weigerte sich, „Alimente für diese Bastardprojekte zu bezahlen“.48 Der Filmemacher George Romero teilte offensichtlich diese Meinung: In seinem
1978 veröffentlichten Film Dawn of the Dead kämpfen Zombies, eine Gang gewalttätiger Biker und die Helden des Filmes in einer verlassenen Shopping Mall. „They
remember that they want to be here“, erklärt eine Protagonistin den Einzug der
Zombies in die Mall. „They are us“, erkennt die weibliche Hauptfigur, und das Zitat
bringt die zentrale Aussage des Filmes auf den Punkt – dass die Ideologie der Kon-
46 Die Charta von Athen wurde 1933 auf dem Congrès International d’Architecture Moderne in Athen verabschiedet. Unter dem Thema „Die funktionale Stadt“ diskutierten Stadtplaner_innen und Architekten_innen dort das Konzept einer Stadt, in der die Funktionsbereiche radikal getrennt werden. 1943 veröffentlichte Le Corbusier die Charta von Athen, 1962 wurde diese auf Deutsch übersetzt. 47 Bernard Frieden and Lynne Sagalyn, Downtown, Inc. MIT Press: New York 1989, 6. 48 Gruen 1964, 222; Victor Gruen, Shopping Centers: Why, Where, How?, Rede bei „Third Annual European Conference of the International Council of Shopping Centers“, London, 28. Februar 1978; LoCPVG, box 78.
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sumption ebenso wie die der Mall all-umfassend geworden ist. In den Fünfzigerjah-
ren hatte Gruen versprochen, das Leben der Frauen in der Vorstadt zu erleichtern
und Shopping in das Leben zu integrieren. Aber während Shopping den Weg in das
Zeitalter des Postindustrialismus bereitete, wurde die Shopping Mall zum Motor einer neuen Konsumökonomie: Die Mall integrierte nun das Leben ins Shopping.
Der neue Status des Shoppings war die Konsequenz einer Krise, die sich Ende
der Sechzigerjahre abzeichnete, als der Nachkriegskapitalismus mit dem sozialen
Kompromiss von Arbeit und Kapital an seine Grenzen stieß. Kritische Ökonom_innen, Geograf_innen und Politikwissenschaftler_innen argumentieren, dass der Krise mit einem aggressiven Gegenschlag begegnet wurde: Das politische Programm
mit dem Namen „Neoliberalismus“ sollte Bedingungen der Kapitalakkumulation
und einer über Klasse organisierten Gesellschaft sichern.49
Bereits Mitte der Sechzigerjahre hatten US-amerikanische Firmen begonnen,
industrielle Produktion in Billiglohnländer auszulagern, aber erst in den Siebzigerjahren, im Kontext der Institutionalisierung der Doktrin des „freien Marktes“, setzte sich sogenanntes Outsourcing als dominanter Produktionsmodus durch.
Deindustrialisierung und der Niedergang der Arbeiter_innenklasse hatten massive Auswirkungen auf die US-amerikanische Ökonomie. Sie reorganisierten das
Feld der Kultur und Politik sowie die nationale Sozialstruktur. Für diesen Kontext
genügt es, darauf hinzuweisen, dass in dieser Verschiebung von der Ära der Industrialisierung hin zur Deindustrialisierung Konsum sich als ein alle Sphären des Le-
bens ordnendes Prinzip durchsetzte: Konsumorientierte Praktiken strukturierten ökonomische und soziale Prozesse, die Definition von Erfahrung, die Konstruktion
von Identität, die Formation von Beziehung, die Rahmung von Events, die Position
des politischen Felds im Allgemeinen und das der Politiker_innen im Besonderen
sowie die Reorganisation von Städten.
Wie der von Benjamin beschriebene Traum des Warenkapitalismus versprach
auch der Traum des Neoliberalismus eine Umverteilung, aber im Gegensatz zum
19. Jahrhundert stand nun der Mythos des Individuums im Zentrum der Ideologie: Konsumismus verschob sich von der Ideologie der „conspicuous consumption“ hin zu einer Ideologie des Selbst-Unternehmertums. In The Theory of the Leisure Class
rekonstruierte Thornstein Veblen mit spitzer Zunge, wie sich die über den neuen
Reichtum etablierende Mittelschicht Ende des 19. Jahrhunderts durch zur Schau gestellte Konsumption, ja Verschwendung, Ansehen und Identität zu verschaffen
49 David Harvey, The New Imperialism. Oxford University Press: Oxford 2003.
anette baldauf
versucht.50 Eine ähnliche, wenn auch verfeinerte Einsicht präsentierte ein halbes
Jahrhundert später Pierre Bourdieu in seiner etwas orthodoxen und gleichzeitig
beeindruckend einsichtigen Studie Die Feinen Unterschiede, in dem auch er konsumierende Praktiken aus der Perspektive der Abgrenzung und Klassifizierung
betrachtete und dabei Geschmack als eine Referenz abstrahierte, die den sozialen
Raum grundlegend strukturiert.51 Während neoliberale Ideen, Praktiken und Institutionen die öffentlichen Debatten der Achtzigerjahre reorganisierten, verspricht nun die Ideologie des Konsums zunehmend die Freiheit, sich nicht nur mittels
Konsum im sozialen Raum verorten zu können, sondern mehr als das – sich über
Konsum selbst hervorzubringen. Eingebettet in die Mythologie des Individualismus stellt das Diktum „Benimm dich“ bald nicht mehr eine Möglichkeit in Aussicht, sondern fungiert als Imperativ, der kontinuierliche Neuerfindung und -positionierung erforderlich macht. Der neue Imperativ postuliert dabei eine schier
unbegrenzte Veränderbarkeit des Selbst und feiert das Potenzial des Individuums,
Beschränkungen wie beispielsweise jene der ethnischen Zugehörigkeit, Klasse oder des Geschlechts mittels eigenem Antrieb zu überwinden. So setzt sich Shopping
als dominante Technik des Selbst durch und verzerrt dabei die Grenzen zwischen
Konsumation und Produktion bis zur Unkenntlichkeit.
Im Gegensatz zur Nachkriegsära absorbiert nun das neoliberale Programm der
Konsumption Männer und Frauen gleichermaßen. Bereits in den Fünfzigerjahren
hatten sich Männer an der Konsumökonomie beteiligt, aber in öffentlichen Debat-
ten wurden sie selten als konsumierende Subjekte adressiert. Erst nachdem die
Zeichen der Maskulinität ausreichend von den Zeichen des Schweißes und der Fabrik entkoppelt worden waren, war das Konzept der heterosexuellen Männlichkeit
mit den Zeichen des Konsums vereinbar.52 Das postfordistische Nischenmarketing
präsentierte nun ein Panorama an konsumierbaren Konfigurationen, inklusive dem
Coolen, dem Rebellen, oder auch, später, dem sozial Bewussten. Diese Verschiebung erfasste auch die Wahrnehmung der Shopping Mall: Mitte der Achtzigerjahre
gab es 23.000 Shopping Malls in den USA, und eine Welle an Mainstream-Filmen
portraitierte die Mall als „home“ sowie als „hell“ für Mädchen und Jungs.
50 Thornstein Veblen, The Theory of the Leisure Class: An Economic Study of Institutions. Macmillan: New York 1902. 51 Pierre Bourdieu, Distinction: A Social Critique of the Judgment of Taste. Harvard University Press 1984. 52 Susan Alexander, Stylish Hard Bodies: Branded Masculinity in Men’s Health Magazine. In: Sociological Perspectives 46 (2003), 535–554.
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mall. stadt. welt
Der Bau von Shopping Malls florierte bis in die späten Achtzigerjahre, als die
Wirtschaftskrise kombiniert mit der Saturierung des suburbanen Marktes dem Bauboom vorübergehend Einhalt gebot. Auf Expansion ausgerichtet, begann die
Shopping Mall auf globaler Ebene zu zirkulieren – und sie wuchs, beinahe zur Unkenntlichkeit. Mega-Malls betonten den Unterschied zwischen der Welt draußen
und der Welt drinnen, und sie begannen, so beobachtete Margret Crawford, „to produce the single element missing in suburbia – the city“.53
Der Boom der Shopping Mall der Neunzigerjahre ging einher mit zentralen Ver-
schiebungen am Finanzmarkt. Die Deregulierung der Finanzmärkte in den Achtzi-
gerjahren löste eine Welle an spekulativen Investitionen aus, die, aufgrund vielfäl-
tiger Ursachen, auch Shopping Malls inkludierten. Diese Entwicklung verstärkte
eine Konstellation, die bereits Mitte der Fünfzigerjahre etabliert worden war, als
die suburbane Expansion in vollem Gange war und die Eisenhower-Regierung das
Programm der „accelereted appreciation“, d. h. der beschleunigten Wertminderung, einführte, die es Besitzer_innen kommerzieller Gebäude ermöglichte, Baukosten
von der Steuer abzuschreiben und dabei sogar völlig unabhängige Ausgaben abzurechnen. Da diese staatliche Unterstützung nur für Neubauten in Anspruch ge-
nommen werden konnte, provozierte das Programm eine beispiellose Verbreitung
von Einkaufszentren.54 In Anlehnung an diese Tradition bettete die sogenannte Finanzialisierung der Ökonomie in den Achtzigerjahren mit ihrer Betonung der Rolle
der Finanzmotive, Finanzmärkte, Finanzakteure und Finanzinstitutionen und dem
Dogma des Ertrags die Shopping Mall in spekulative Finanzflüsse ein: Die Shopping Mall wurde zum Spekulationsobjekt.
Die Stadt als Mall In seiner Analyse des Postfordismus schlägt Antonio Negri vor, diesen als
ein Medium der Dezentrierung und Zerstreuung von Arbeit zu interpretieren. Er
argumentiert, dass im Zuge der Ausbreitung postfordistischer Kräfte die Fabrik in
die Gesellschaft als Ganzes zerstreut und dabei eine “Fabrik ohne Wände” hervor-
53 Margaret Crawford, The World in a Shopping Mall. In: Sorkin Michael (Ed), Variations on a Theme Park. The New American City and the End of Public Space. Hill and Wang: New York 1992, 22. 54 Thomas W. Hanchett, U.S. Tax Policy and the Shopping-Center Boom of the 1950s and 1960s. In: American Historical Review, No. 101 (Okt. 1996), 1082–1110.
anette baldauf
gebracht wurde.55 In Anlehnung an diesen Gedankengang schlage ich vor, die Shop-
ping Mall der Nachkriegsära als eine Verlängerung der industriellen Fabrik zu sehen, in der soziale Beziehungen in Konsumbeziehungen umgewandelt werden. Als
Teil der postfordistischen Umstrukturierung wurde letztendlich auch die Shopping
Mall in die Gesellschaft zerstreut. Im ideologischen Fahrwasser neoliberaler My-
thologien von Freiheit und Selbstverantwortung brachte die „Fabrik-ohne-Wände“
Phänomene wie Permatemp, Flexploitation und auch das Prekariat hervor, und die
„Mall-ohne-Wände“ transformierte Shopping in eine Form von Arbeit.
In den USA kollabierten die Wände der Shopping Mall in den späten Achtzi-
gerjahren. Im Kontext der aggressiv verfolgten Umstrukturierung der Innenstädte – des sogenannten downtown redevelopment – bot die Shopping Mall eine einflussreiche Strategie für die Modalitäten radikaler urbaner Reformation. Viele
Innenstadtbezirke wurden zu Laboratorien des neoliberalen Experimentierens.
Bereits 1989 warnte der Geograf David Harvey davor, dass Stadtregierungen zunehmend von einer verteilenden zu einer unternehmerischen Form des Regierens
überwechselten. In den USA kürzten sie öffentliche Dienste und übergaben zentrale administrative Verantwortlichkeiten an öffentlich-private Partnerschaften.
Ein eindrückliches Beispiel dieser Reorganisation lieferte Neil Smith in seinem
Buch The New Urban Frontier. Gentrification and the Revanchist City.56 Seine Analyse
rekonstruierte die Redimensionierung des East Village in New York, das sich im
Zuge der allgemeinen Umstrukturierungen zunehmend als Zentrum einer alternativen Kunstpraxis und dessen, was heute im Wirtschaftsjargon als Kreativindustrie
bezeichnet wird, etablierte. Diese Umstrukturierung manifestierte sich im historischen Migrant_innenviertel New Yorks als aggressiver Kampf zwischen Immobilienhändler_innen, alten Mietparteien und neu Zugezogenen. Der Kampf eskalierte
im August 1988, als New Yorks Polizeitruppen den Tompkin Square Park räumten
und den Kern des East Village in ein blutiges Schlachtfeld verwandelten. Smith
nahm dieses Ereignis zum Anlass, um über die Mechanismen der Gentrifizierung im Kontext der sogenannten „revanchist city“, d. h., einer auf Rache ausgerichteten
Stadtpolitik, nachzudenken. So wie die Vertreter_innen der Bewegung des Revanchismus im späten 19. Jahrhundert in Paris, forderten auch die Bewohner_innen
New Yorks Rache an jenen, die ihrer Ansicht nach ihre Stadt zerstört hatten – wie
Antonio Negri, The Politics of Subversion: A Manifesto for the Twenty-first Century. Polity Press: London 1989, 204. 56 Neil Smith, The New Urban Frontier. Gentrification and the Revanchist City. Routledge: New York 1999. 55
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Obdachlose, Arme und Immigrant_innen. Während es noch in den post-1960er-
Jahren einen sozialen Vertrag im Hinblick auf Verteilungspolitik, Affirmative-Action-Programme und Anti-Armuts-Gesetze gegeben hatte, machte der neoliberale
Revanchismus Arme und Obdachlose für ihr Schicksal und das der anderen Stadtbewohner_innen verantwortlich.
In ihrer Analyse des „real existierenden Neoliberalismus“ verwiesen Neil Bren-
ner und Nik Theodore auf massive Kapitalflüsse und spekulative Finanzbewegungen in den Städten; sie rekonstruierten Neudimensionierungsprozesse, die
Minderheiten ausschließen, marginalisieren und kontrollieren. Die aggressive Verdrängung der Armen und die Ausdehnung elitärer Konsumräume sind ihrer Mei-
nung nach eine Konsequenz dieser Entwicklungen.57 Deutlich wird damit, dass der
Verfall der Shopping Mall und die sogenannte „Revitalisierung“ der Stadtzentren
zwei Seiten derselben Medaille sind. Heute präsentieren sich umfassende Stadt-
viertel als transnationale Markenzonen. Programme wie „Quality of Life“ und „Zero
Tolerance“, wachsende Polizeipräsenz, Überwachungskameras, das unterstützende
Auge der privat-öffentlichen Partnerschaften und, nach 9/11, eine Politik der Angst
verwandelten Städte in aggressiv kontrollierte Territorien, die, zumindest an der Oberfläche, viele jener Merkmale reproduzierten, welche im Kontext der Shopping
Mall erprobt wurden.
Die großflächige, geschlossene Shopping Mall, die noch in den Fünfzigerjahren
als Inbegriff für Sicherheit und Sauberkeit galt, ist damit Opfer ihrer eigenen Kräfte
geworden. Sie wurde „konsumiert“, im ursprünglichen Sinn des Wortes, d. h. aufgebraucht und verzehrt, von etwas, das in Anlehnung an Karl Marx vielleicht als
„kreative Zerstörung“ beschrieben werden kann – zerstört von jenen Kräften, die
das Mall-Paradigma aus den eindämmenden Wänden hinaus in die Stadt trieben.
Unklar ist, ob und wie die Langzeitauswirkungen der Finanzkrise die Kultur und
Organisation der Stadt herausfordern und in der Folge eine grundlegende Neuorganisation des urbanen Gefüges provozieren werden. Bislang zeigte jene Stadt, die
diese Transformation in vielfacher Hinsicht modellhaft vorexerzierte, New York,
wenig Anzeichen für einen Kollaps ihrer elitären Brandscapes und die Herausbildung eines humanökologischen Stadtgefüges im Sinne der Visionen des späten
Victor Gruen. Andererseits betonen Wirtschaftsexpert_innen wie Edward Lea57
Neil Brenner, Nik Theodore, Cities and the geographies of actually existing neoliberalism. In: Antipode, vol. 34, No. 3 (2002), 356–386; Neil Brenner and Nik Theodore (Eds.) Spaces of Neoliberalism: Urban Restructuring in North America and Western Europe. Blackwell Press: Oxford 2002.
anette baldauf
mer, Leiter einer ökonomischen Forschungsgruppe an der University of California, mit Verweis auf die anhaltende Finanzkrise: „We are going to need fewer malls
and more factories.“ Und er fügte hinzu: „It’s going to be a long adjustment.“58 Das
Statement ist ein Echo Victor Gruens Vision einer funktional gemischten, zellulären
Stadt – es ist das Erbe eines visionären Mannes, der sichtlich mehr war als nur der
Vater der Shopping Mall.
58 Robert Gavin, Are our shopping days over? In: Boston Globe, 22. März 2009.
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Buchprojekt Victor Gruen
9: Viktor David Grünbaum, Curriculum Vita 1937 Courtesy Peggy Gruen Collection
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11: Viktor David Grünbaum, österreichischer Pass Library of Congress, Foto: Anette Baldauf
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12: Lizzie Kardos, Wohnung Wien, ca. 1933 Library of Congress
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13: Viktor David Grünbaum, Wohnung Wien, ca. 1933 Library of Congress
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14: Portrait Viktor David Grünbaum, Wien, ca. 1933 Courtesy Peggy Gruen Collection
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15: Ruth Yorke, New York Courtesy Peggy Gruen Collection
16: Wien 1938 Österreichische Nationalbibliothek
17: Viktor David Grünbaum am Land Courtesy Peggy Gruen Collection
Das große Feuer Es brennt und lodert am 11. März 1938 von 11.00 Uhr nachts bis in die frü-
hen Morgenstunden des folgenden Tages. Ich hocke vor unserem Dauerbrandofen, füttere die Flammen und starre in die Gluten. Im Halbkreis um mich herum liegen
Haufen von Dokumenten, die als Opfer dargebracht werden. Lizzie, meine Frau,
wühlt in Kisten, Truhen, Fächern und schleppt immer neues Opfermaterial heran.1
Was da in den Flammen aufgeht, das sind die Zeugen einer fast 20-jährigen poli-
tischen Vergangenheit. All das, was in naher Zukunft „feuergefährlich“ sein könnte.
Eigentlich war das schon in den letzten vier Jahren belastendes Material gewesen, aber in der Periode des Austrofaschismus, der als „Diktatur, gemildert durch
Schlamperei“ bezeichnet wurde, glaubten wir, Risken auf uns nehmen zu können.
Es verglühen und verkohlen die Notizen, Manuskripte, Programmhefte, Foto-
grafien, Zeitungsartikel, Bühnenbild- und Kostümentwürfe, die im Zusammenhang
mit dem „Politischen Kabarett“ stehen, das ich von 1926 bis 1934 geleitet habe und
in dem ich mich als Autor, Conferencier, Schauspieler und Chansonnier mit Begeisterung betätigt hatte. Ebenso werden ein Raub der Flammen alle Hefte unserer
Zeitschrift „Die Politische Bühne“, die Aufrufe und Manifeste der „Nie-WiederKriegsbewegung“ aus den frühen Zwanzigerjahren, und jene, die seit 1934 gegen
,,Austrofaschismus“ und „Nazismus“ verfasst worden waren. Weiters verbrannt
wurden Texte politischer Vorträge und Artikel für Vereinigungen und Zeitschriften, politische Bücher und Broschüren, Namens-, Adressen- und Telefonnummerlisten aller Freunde und Bekannten.
Trotz aller Hast wählte ich sorgfältig aus, was vielleicht noch in Zukunft von Nut-
zen sein könnte, und bewahre es vor dem Flammentod. Zur Seite gelegt werden
meine Schulzeugnisse, der Freibrief als Maurergeselle, das Zertifikat der Baumei1
Lizzie, geboren Elisabeth Kardos, war von 1930 bis 1941 mit Gruen, zu diesem Zeitpunkt noch Viktor Grünbaum, verheiratet.
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sterprüfung, das Inskriptionsbuch der Kunstakademie, die Fotos der ausgeführten
Architekturarbeiten, Artikel in in- und ausländischen Zeitschriften über meine professionelle Tätigkeit und etwa fünfzig Anerkennungsschreiben von Klienten.
Auch die zahlreichen blauen Schulhefte, in die ich im Alter von 20 bis 25 Ge-
dichte, Aphorismen, satirische Skizzen, meistens in einsamen Nachtstunden niedergeschrieben hatte, werden sortiert und in eine Schuhschachtel gelegt. Dass ein
Großteil von ihnen zu meinem 70. Geburtstag unter dem Titel Meine alte Schuhschachtel2 in Buchform erscheinen würde, konnte ich damals nicht ahnen. Auch
die Manuskripte einiger Stücke der Kleinkunstbühnen, die mir übergeben worden
waren, hebe ich auf, allerdings nur, um sie so rasch wie möglich Seite für Seite, in Ausgaben der Nazizeitung „Der völkische Beobachter“ verborgen, per Post an einen Freund in Zürich abzusenden.
Endlich ist das Verbrennungsopfer abgeschlossen. Die Asche verglüht, der Fuß-
boden wird gefegt, das Zimmer ist rauchig, meine Augen brennen. Ich brauche Luft.
Weit öffne ich das Fenster und blicke hinaus. Es dämmert. Die seit dreißig Jahren
gewohnte Aussicht ist völlig unverändert. Da ist „unsere“ Tabaktrafik, „unser“ Geiß-
ler, „unser“ Briefkasten, „unser“ Kaffeehaus; da ist auch „unser“ Wachmann. Aus
seiner Manteltasche zieht er gerade eine rote Armbinde mit dem Hakenkreuz auf
kreisrundem weißem Grund und legt sie bedächtig an.
Der erste Tag des „tausendjährigen Reiches“ hat begonnen!
Wiener Jause Die Stunden, die der Einäscherung meiner politischen Vergangenheit vo-
rausgingen, verliefen dramatisch: Im größten Raum der elterlichen Wohnung, der seit unserer Heirat 1931 Lizzie und mir als Heimstätte diente, versammeln sich
am Freitag, dem 11. März 1938, etwa zwanzig Freunde zur Jause. Alle sind jung, die
meisten sogar jünger als ich, der ich mich meinem 35. Geburtstag nähere. Uns verbindet ein leidenschaftliches Interesse an humanen, gesellschaftlichen und künst-
lerischen Problemen. Viele waren, bevor es 1934 verboten wurde, am „Politischen
Kabarett“ beteiligt und betätigen sich jetzt als Literaten, Schauspieler und Musiker
an verschiedenen Wiener Kleinkunstbühnen. Diese winzigen Theaterunterneh-
mungen, die laut behördlicher Vorschrift auf einen Fassungsraum von 49 Personen
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Victor Gruen, Meine alte Schuhschachtel, Schriften aus den zwanziger Jahren. Europa Verlag: Wien 1973.
wiener jause
beschränkt und meist in den Kellern von Kaffeehäusern untergebracht waren, er-
wiesen sich zur Zeit des Austrofaschismus (1934 bis 1938) als wirksame Ventile für freie Meinungsäußerung. Außer mir, der ein kleines Architekturbüro betreibt, ist
in diesen Zeiten der drückenden Arbeitslosigkeit kaum jemand in einem „bürger-
lichen“ Beruf tätig.
Unsere Stimmung ist fröhlich und optimistisch. Wir erwarten eine Veränderung
der politischen Landschaft. Durch die geheimen Gespräche, von denen wir wis-
sen, dass sie seit Wochen liefen, fühlen wir uns berechtigt zu glauben, dass eine
Lockerung der Diktatur, eine Wiederzulassung der seit 1934 verbotenen Sozialdemokratischen Partei und eine Wiederherstellung der demokratischen Freiheiten
unmittelbar bevorstünden.
Schließlich war schon am 15. Feber eine allgemeine Amnestie für politische Häft-
linge erklärt worden, sodass es bei dieser Gesellschaft ein Wiedersehen mit einer
Reihe von Freunden, die wegen Untergrundarbeiten eingesperrt worden waren,
gibt. Sie berichten von ihren Verhören, wodurch wir erfahren, dass wir alle bespit-
zelt worden sind. Auf den Straßen und Plätzen, besonders auf den Wanderwegen
des Wienerwaldes, waren in den vergangenen Tagen wieder Jugendliche mit sozia-
listischen Abzeichen, Fahnen schwenkend und Freiheitslieder singend, anzutreffen
gewesen. Zusätzlich war vor zwei Tagen verkündet worden, dass am kommenden
Sonntag, dem 13. März, eine Volksabstimmung darüber entscheiden solle, ob „die
weitere Unabhängigkeit Österreichs“ erwünscht sei. Wir sind überzeugt, dass diese
Frage mit einem überwältigenden „Ja“ beantwortet werden wird. Ein neuer Frühling der politischen Freiheit, so scheint es uns, sollte vier Jahre von Unterdrückung durch ein reaktionäres Regime ablösen.
Von Zeit zu Zeit schalten wir das Radio ein, um die letzten Nachrichten zu hö-
ren, die vom Rundfunk der damaligen „Ravag“3 ausgestrahlt werden. Dazwischen
gibt es Aufschnitt, Käse, Gebäck, Kaffee, Fruchtsäfte und auch Wein. Lizzie kommt
mit dem Nachschub kaum nach. Wiederholt wird angekündigt, dass Bundeskanz-
ler Kurt Schuschnigg4 eine wichtige Verlautbarung machen werde. Voll Ungeduld
warten wir auf den patriotischen Appell an alle Österreicher, zusammenzustehen, alle Differenzen zu vergessen, für ein freies Österreich zu stimmen und wenn nötig, dafür auch zu kämpfen.
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Die Radio Verkehrs AG (RAVAG) wurde 1924 als erste österreichische Rundfunkgesellschaft gegründet und bestand bis zur Gründung des ORF im Jahr 1958. Kurt Schuschnigg war von 29. Juli 1934 bis 11. März 1938 österreichischer Bundeskanzler.
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Um 19.25 Uhr kommt schließlich die Stimme Dr. Schuschniggs über Lautsprecher.
Die Ansprache ist ebenso kurz wie niederschmetternd. Schuschnigg sagt:
„Der Bundespräsident Miklas beauftragt mich, dem österreichischen Volk mitzuteilen, dass wir der Gewalt weichen. Wir haben, weil wir um keinen Preis, auch in dieser ernsten Stunde nicht, deutsches Blut zu vergießen gesonnen
sind, unserer Wehrmacht den Auftrag gegeben, für den Fall, dass der Ein-
marsch durchgeführt wird, ohne wesentlichen Widerstand – ohne Widerstand
– sich zurückzuziehen und die Entscheidungen der nächsten Stunden abzuwarten. So verabschiede ich mich in dieser Stunde von dem österreichischen Volke
mit dem deutschen Wort und einem Herzenswunsch: Gott schütze Österreich!“
Wir fühlen uns wie vom Blitz getroffen. Für einige Minuten betroffenes Schweigen.
Dann eine Flut von Fragen: „Was sollen wir machen?“, „Ausharren und abwarten?“,
„Untergrund gehen?“, „Ins Ausland flüchten, und wenn ja, wohin?“
Ich bespreche mich kurz mit Lizzie. Die naive Illusion, dass Österreich dem gro-
ßen Nachbarn widerstehen könnte, ist endgültig zerstört. Es wird nicht nur zum
Einmarsch deutscher Truppen in Österreich kommen, sondern zum Krieg für ganz
Europa. Kein Land dieses Kontinents wird sicher sein. Davon sind wir schlagartig überzeugt. Welche Ferne ist fern genug? Australien? China? Kanada? Vereinigte
Staaten? In Amerika setzen wir unsere größte Hoffnung. Wir wollen nach Amerika, so schnell wie möglich.
Sofort schreibe ich zwei Briefe. Einen an den Bruder meiner Mutter Herbert Levi,
der schon seit 1914 in Amerika lebt und sich dort Harry Lowry nennt, den zweiten
an die einzige andere Person, die wir in Amerika kennen, an die New Yorker Schauspielerin Ruth Yorke5. In beiden Briefen bitte ich um schleunigste Übersendung eines Affidavits.6 Minuten später schon stürze ich auf die Straße und werfe sie in
den Postkasten gegenüber unserem Haus. Die Angst, dass es schon in den nächsten
Tagen eine Briefzensur geben würde, lässt mich nicht los.
Erst dann kann ich mich wieder um meine Freunde kümmern. Ich erkläre ihnen,
was wir planen. Sie würden alle gerne dasselbe machen, aber in ihrem Fall, meinen 5 6
Ruth Yorke, geboren 1908 in New York, studierte am Max-Reinhardt-Seminar in Wien und trat in New York am Broadway, in TV-Serien und Radioseifenopern auf. Sie war mit einem Mitglieder der Viennese Refugee Artists Group verheiratet. Während der NS-Zeit setzte eine Einreise in ein Überseeland eine beglaubigte Bürgschaftserklärung von Verwandten oder Bekannten voraus.
neunzig tage im dritten reich
sie, wäre doch die deutsche Sprache die Existenzgrundlage. „Du hast es leicht“, sa-
gen sie, „als Architekt kannst Du auch mit mangelnden Sprachkenntnissen einen
Posten bekommen, aber für uns als Schriftsteller, als Schauspieler, gibt keine Chance in einem fremdsprachigen Land.“
In dieser emotionsgeladenen Atmosphäre lasse ich mich dazu hinreißen, ein
Versprechen zu geben, von dem ich keine Ahnung habe, wie ich es je erfüllen könnte. Ohne zu wissen, ob und wie wir selber nach Amerika gelangen, und wie wir uns
dort durchbringen werden, verkünde ich: „Wenn möglichst viele von uns sich nach
New York durchschlagen, würde ich dort eine Wiener Theatergruppe organisieren,
und wir könnten wieder Kleinkunsttheater spielen. Versuchen wir, was wir an Manuskripten haben, ins Ausland zu schmuggeln.“ Alle erhalten Ruth Yorkes Adresse.
Niemand glaubt so recht meinen Worten. Aus der fröhlichen Wiener Jause ist eine
Tragödie geworden. Als wir uns traurig verabschieden, weiß keiner, für wie lange und ob wir uns je wiedersehen werden.
Neunzig Tage im Dritten Reich Die „Nazifizierung“, die das Deutsche Reich in einem Zeitraum von über
zehn Jahren schrittweise durchgesetzt hatte, vollzog sich in Wien in einem Klima der Massenhysterie praktisch über Nacht.
Was sich da explosionsartig entlud und einerseits zu Begeisterungsausbrüchen,
andererseits zu Gräueltaten vor allem gegen Juden, aber auch gegen den Klerus, ge-
gen Anhänger der vaterländischen Front, Kommunisten, sozialistische Funktionäre
führte, war in dieser Intensität im „Altreich“ noch nie dagewesen und überraschte
selbst die „Befreier“, die deutschen Truppen und die scharenweise antransportier-
ten Beamten, die in der neu angeschlossenen „Ostmark“ (wie Österreich von nun an hieß) für eine ordnungsgemäße Übernahme sorgen sollten. Mit Enthusiasmus
aber reagierte nur ein Teil der Bevölkerung. Die große Masse fühlte sich entweder
von den Ereignissen überrollt und nahm sie resignierend mit dem Gefühl „schlechter als es ist, kann es wohl nicht werden“ oder zähneknirschend bis furchtsam zur
Kenntnis.
Sowohl euphorische Begeisterung als auch Gleichgültigkeit und ohnmächtige
Angst sind geschichtlich erklärbar. Österreich fiel den Eindringlingen wie eine angefaulte Frucht in den Schoß. Hierfür gibt es stichhaltige Gründe: Österreich war seit
1918 „ein Staat, den niemand wollte“. Als Überbleibsel der großen österreichischungarischen Monarchie galt es wirtschaftlich für lebensunfähig. Der Anschlussge-
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danke war so alt wie die Republik selbst. Im November 1918 war unter Zustimmung
aller Parteien „Deutsch-Österreich“ zu einem Teil der Deutschen Reiches erklärt
worden. Nur durch das Diktat der Siegermächte des Ersten Weltkrieges (England, Frankreich, USA) wurde im Vertrag von Saint Germain bestimmt, dass die Republik
Österreich ein selbstständiges Staatswesen sein müsse. Der durch diesen Druck
geschaffene Kleinstaat wurde durch Wirtschaftskrisen, Massenarbeitslosigkeit, besonders bei den Jugendlichen, durch Parteienhader, der zu bürgerkriegsähnlichen
Erscheinungen führte, durch Korruption und Bankenskandale ständig erschüttert. In der krisenhaften Atmosphäre bildeten sich paramilitärische Verbände. So gab
es den sozialistischen Schutzbund, die verschiedensten von Abenteurern begrün-
deten und von italienischen Faschisten finanzierten Heimatwehren und die illega-
len, von Deutschland ausgerüsteten Sturmtruppen.
Das Funktionieren der Demokratie war ständig durch die Existenz dieser be-
waffneten Kräfte gefährdet. Die Regierungsgewalt wurde durch den sogenannten
„Bürgerblock“ (eine Koalition der Christlich-Sozialen Partei, des Landbundes, der Großdeutschen Partei) ausgeübt, gegen den ständigen Widerstand der fast ebenso großen Sozialdemokratischen Partei.
Eine parlamentarische Zufälligkeit ausnützend, übernahm schließlich im Febru-
ar 1934 der Bürgerblock in diktatorischer Weise die Gesamtmacht. Die Sozialdemo-
kratische Partei wurde verboten, das parlamentarische System sistiert und jede
Opposition durch die vereinten Kräfte des Bundesheeres und der verschiedenen
Heimatwehren mit Brachialgewalt niedergeschlagen.
Erst als zwischen 1929 und 1934 die Demokratie in Deutschland durch die Natio-
nalsozialistische Partei erschüttert und schließlich zerstört wurde, erlosch jedes
Interesse der großen österreichischen Parteien an einem Anschluss.
Aber sosehr auch das Diktaturregime des Kanzlers Dollfuß und nach dessen Er-
mordung des Kanzlers Schuschnigg durch die Bildung der „Vaterländischen Front“ einen österreichischen Patriotismus zu entfachen trachtete, so sehr waren diese
Anstrengungen zum Scheitern verurteilt. Alle diese Anstrengungen waren angesichts der Verbitterung der niedergeknüppelten Arbeitermassen untauglich und
kamen zu spät. Dieser Ständestaat konnte weder dem Einfluss des Faschismus von außen noch der Unzufriedenheit der eigenen Bevölkerung standhalten.
Diese chaotischen Zustände erzeugten jenes Vakuum, das die gewaltsame Beset-
zung durch Hitlers Truppen ermutigte.
neunzig tage im dritten reich
Das Rote Wien
In diesem mit sich selbst zerstrittenen Österreich der Ersten Republik gab
es Inseln eines ausgeprägten Lokalpatriotismus, nämlich jene Industriestädte, die
von Mandataren der Sozialdemokratischen Partei verwaltet wurden, zum Beispiel
„das Rote Wien“. Als ehemalige Hauptstadt einer multinationalen Großmacht war es zu einer Stadt mit fast zwei Millionen Einwohnern angewachsen. Im Verhältnis
zum verbliebenen Rumpfstaat 1918 überdimensioniert, wurde es vom Unterneh-
mertum und von der Agrarbevölkerung als „Wasserkopf“ gehasst. In Wien stellten die Sozialdemokraten bis 1934 dank ihrer großen Mehrheit alle Bürgermeister und
Stadträte. Durch eine qualitativ und quantitativ aufsehenerregende kommunale
Wohnbautätigkeit und eine beispielhafte Sozial- und Gesundheitspolitik setzte Wien einen international anerkannten Maßstab.
Zur Finanzierung aller sozialen Maßnahmen wurde Reichtum und Wohlstand
zum ersten Mal empfindlich besteuert. Es war daher kein Wunder, wenn das Rote
Wien von vielen als „rotes Tuch” angesehen wurde.
Die Wiener Bevölkerung war und ist noch immer bunt wie ein Regenbogen, wo-
bei allerdings im Laufe der Jahrzehnte sich die Schattierungen der Regenbogen-
farben langsam verändern. Als Haupt- und Residenzstadt der Habsburger zog die
Metropole immer neue Ströme der verschiedenartigsten Nationalitäten an. In der
Zeit der Höhe der Macht der Habsburger, im 16. Jahrhundert, erfolgte ein Zustrom aus allen Teilen Europas, aus Frankreich, Italien, Spanien und den Niederlanden.
Zur Zeit des Ersten Weltkrieges bestand die österreichisch-ungarische Monar-
chie aus den „im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern der ungarischen
Krone“ mit zusammen etwa 52 Millionen Einwohnern. Während des explosiven
Wachstums in der Zeit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert setzte eine
Zuwanderung der Arbeit suchenden Bevölkerung aus allen Teilen des großen Reiches ein, sodass Wien 1913 die höchste Einwohnerzahl von 2,3 Millionen erreichte.
Diese Einwohnerschaft war ein Spiegel der ethnischen Gruppierungen, wie sie
in der Monarchie existierten. Da gab es Tschechen, Slowenen, Polen, Ruthenen7,
Kroaten, Serben, Italiener, Rumänen, Ungarn neben einer Deutsch sprechenden
schwäbisch-alemannischen und bayrisch-österreichischen Bevölkerung. Ungefähr
10 Prozent (5,5 Millionen) lebten in jenen Teilen, die dem heutigen Staatsgebiet 7
Ruthenen war in der Habsburgermonarchie die gebräuchliche Bezeichnung für die ostslawischen Ethnien, die Ukrainer_innen und deren Untergruppen oder eng verwandten Gruppen.
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Österreichs entsprechen, was nicht hieß, dass sie alle deutschsprachig waren. So
war es erklärlich, dass es vor allem in Wien (4 Prozent der Gesamtmonarchiebe-
völkerung) dieses so viel zitierte und gerühmte Völkergemisch gab, das sich in der typischen Wiener Küche, Wiener Sprache und Wiener Kultur niederschlug.
Die Wiener Juden
Ähnlich stand es mit der Herkunft der in Wien ansässigen Juden. Auch sie
waren zu den verschiedensten Zeiten aus allen Teilen der Monarchie in die Hauptstadt gekommen. Als Tschechen oder Ungarn, als Deutsche oder Südslawen, als
Polen oder Ruthenen, hatten sie gewisse Merkmale ihrer Herkunft behalten oder diese im Wechsel von Generationen verloren, um die Assimilierung zum typischen
Durchschnittswiener zu vollziehen.
In den Jahren zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, also zu einer Zeit,
in der Wien nicht mehr die k.u.k.-Residenzstadt, sondern nur noch die Hauptstadt
einer kleinen Republik war, verminderte sich die Einwohnerzahl auf etwa 1,87 Mil-
lionen. Andererseits stieg während dieser Zeit die Zahl der jüdischen Einwanderer aus dem Osten. Viele Juden waren im Mittelalter aus deutschen Ländern nach Polen
und Russland gewandert, suchten aber nunmehr, weil sie in diesen Ländern verfolgt wurden, in der liberaleren Atmosphäre von Wien Zuflucht. Diese nach dem
Westen zurückkehrenden, russischen und polnischen Juden unterschieden sich von jenen, die schon vor dem Weltkrieg nach Wien gekommen waren, dadurch, dass sie
besonders religiös und konservativ geblieben waren. Als Bewahrer der deutschen
Tradition sprachen sie ein abgewandeltes Mittelhochdeutsch, das mit russischen
und hebräischen Brocken angereichert war, nämlich Jiddisch. Auch an ihrer Kleidung („Kaftans“) und ihren Ohrlöckchen („Payes“) waren sie leicht zu erkennen.
Durch diese Zuwanderung stieg der Anteil der jüdischen Minderheit in Wien um ungefähr ein Prozent, damit von acht auf neun Prozent der Bevölkerung.
Antisemitismus verschiedenster Grade gab es teils latent, teils offen in allen Tei-
len Europas. In Wien bildete er einen Teil jener Feindseligkeit, die jede der vielen
Minderheiten gegen jede andere zeigte und der auch von Zeit zu Zeit die Tschechen („Böhm“), die Polen („Polaken“), die Kroaten („Krowoten“), die Italiener und die
Protestanten ausgesetzt waren und die nicht unähnlich ist dem Fremdenhass, der heute den Gastarbeitern aus Jugoslawien („Tschuschen“) entgegengebracht wird.
Von den politischen Parteien waren die „Großdeutschen“ oder „Deutschnationa-
len“ offen rassenantisemitisch, während die konservative Christlich-Soziale Partei
neunzig tage im dritten reich
und auch die Kirche einen subtileren antijüdischen Standpunkt einnahmen. Die
einzige politische Partei, in der Personen jüdischer Abstammung Spitzenpositio-
nen einnehmen konnten, war die Sozialdemokratische Partei.
Politisch waren die Wiener Juden, die erst 1867 volle Bürgerrechte erhalten
hatten, ebenso zersplittert wie der Rest der Bevölkerung. Die Bürgerlichen und
Wohlhabenden wählten die konservative Christlich-Soziale Partei, die Minderbemittelten und Intellektuellen die Sozialdemokratische Partei.
Beruflich standen den Juden von alters her nur begrenzte Möglichkeiten offen.
So gab es äußerst selten Personen jüdischer Abstammung in der Land- und Forst-
wirtschaft, in vielen Handwerksarten und im Beamtentum. Hingegen war die Anzahl jener, die sich freien Berufen widmeten – Ärzte, Rechtsanwälte, Journalisten,
Literaten, Musiker und Handelsleute – verhältnismäßig groß.
Auch bei den Mittelschulstudenten repräsentierten Personen jüdischer Her-
kunft mit 40 Prozent und bei den Hochschulstudenten mit über 30 Prozent einen
auffallend hohen Anteil. Kunst und Literatur der Zwischenkriegszeit war von be-
rühmten Persönlichkeiten jüdischer Herkunft geprägt.
Der Schlachtruf der Nationalsozialisten, „Juden hinaus“, erfreute sich aus rein
praktischen Gründen großer Popularität. Durch die „Arisierung“ von Geschäften
konnten sich viele, die den Ariernachweis erbringen konnten, bereichern. Andere,
die ihren Kaufleuten, Ärzten, Anwälten Geld schuldeten und sich plötzlich von die-
ser Schuldenlast befreit sahen, atmeten erleichtert auf. Auch im Wettlauf um die ra-
ren Arbeitsplätze war eine Minderheitsgruppe plötzlich automatisch ausgeschaltet. Antisemitismus war also ein populäres Vorurteil, dessen Beliebtheit sich die
neuen Machthaber im vollen Ausmaß zunutze machten.
Die praktischen Auswirkungen
Wenn und wo immer ein neues Regime gewisse Gruppen für vogelfrei und
rechtlos erklärt, kann es sicher sein, damit Aggressionen und böse Instinkte aller
Art zu wecken. Im Falle des Nationalsozialismus wurde eine wilde Hetzjagd zuerst gegen die klar erkennbaren „Ostjuden“ und später gegen alle Mitbürger, denen man
jüdische Abstammung nachweisen konnte, entfacht. Die Hetzjagd wurde geführt
und geschürt durch die schon vorher organisierten jugendlichen und oft kriminellen Banden, die von Deutschland aus finanziert, schon während der Zeit des
Austrofaschismus ihr Unwesen getrieben hatten.
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Mehr oder weniger beteiligten sich an dieser Hetzjagd alle jene, die glaubten,
zu irgendeiner Zeit von Mitbürgern jüdischer Abstammung benachteiligt worden zu sein. Anzeigen wegen des Verdachts des Judentums oder des Kommunismus
gegen missliebige Nachbarn, Kaufleute, Intellektuelle waren an der Tagesordnung.
Rauben und Morden, Johlen und Plündern wurden, wenn nicht überhaupt von Behörden angestiftet, so von diesen zumindest tatenlos und mit Gleichgültigkeit hingenommen. Polizei und deutsche Wehrmacht, deren Pflicht es gewesen wäre, für öffentliche Ordnung zu sorgen, sahen den Misshandlungen an Zivilpersonen wie einer sportlichen Veranstaltung zu.
Andererseits war der Propagandaaufwand des neuen Regimes durch die gleich-
geschalteten Massenmedien, durch Plakate, Fahnen, Festdekorationen, Aufmärsche
von überwältigender Wirkung. Die Angst, als Gegner des Regimes angesehen zu
werden, war so groß, dass auch jene, die keinerlei Sympathie für den Nationalsozialismus oder den Anschluss hegten, sich genötigt sahen, Hakenkreuzabzeichen zu
tragen, den Hitlergruß zu leisten und mitzuheulen beim „Heil“.
Für die bunt zusammengewürfelten Minoritäten der Stadt Wien war es sicher
ein erhebendes Gefühl, plötzlich zur „germanischen Rasse des Herrenvolkes“ ge-
zählt zu werden. Dieser erste Rausch der Hysterie verschwand zusehends. Als die
ersten patriotischen Kräfte des Widerstandes sich zu formieren vermochten, war es zu spät, man steckte schon mitten im Krieg.
Nur neunzig Tage
Dass es nur neunzig, wenn auch angsterfüllte und schreckensvolle Tage
waren, die verstrichen, bevor ich die Flucht ergreifen konnte, macht mich zu einem vom Schicksal Begünstigten. Der „Endlösung der Judenfrage“, wie sie nach der
„Kristallnacht“ und nach Kriegsausbruch begann, bin ich gerade noch entkommen.
Danach hätte es kaum noch ein Entrinnen vor Vergasung und sonstigen ausgeklügelten Methoden des Massenmordes gegeben. Dass dieses Entkommen gelang,
habe ich einerseits dem eisernen Entschluss zur bedingungslosen Flucht, andererseits einer Reihe ungewöhnlicher Glücksfälle und dem damals noch bestehenden
bizarren Zustand der „illegalen“ Legalität zu verdanken. Vor allem aber ist es einem
Umstand zuzuschreiben, der nicht oft genug zum Ausdruck gebracht wird, nämlich
dem, dass der von der deutschen Propaganda verbreitete Eindruck, alle Wiener
seien über Nacht überzeugte Nazis geworden, sich als unfromme Legende erwies.
neunzig tage im dritten reich
Juden hinaus!
„Juden hinaus!“, johlt der Pöbel und schreit es von Wänden und Lautspre-
chern. Nichts wird einem jedoch schwieriger gemacht, als dieser „unfreundlichen
Ausladung“ Folge zu leisten. Dutzende, mit langen Wartezeiten verbundene Vorsprachen bei Polizeiämtern und Behörden. Kriminelle Unbescholtenheit sowie das
Freisein von jeder staatlichen, städtischen oder privaten Schuld sind zu beweisen.
Vor dem Schweizer, Französischen und Englischen Konsulat stehen Menschen-
schlangen um ein Visum. Nach stundenlangem Warten erfährt man, dass ausschließlich Durchreisevisa ausgegeben werden und diese sogar nur dann, wenn
schon ein Einreisevisum für ein Überseeland vorgewiesen werden kann. Am längsten aber warte ich vor dem Konsulat der USA. Dort wird schließlich meine Ein-
wanderungsabsicht vorgemerkt. Ein Einreisevisum könne ich jedoch erst dann erhalten, wenn ich ein Affidavit vorweisen könne.
Dies alles erfordert Hunderte Wege, kreuz und quer durch die Stadt. Auf den
Straßen fühle ich mich wie gejagtes Wild. Jedem Uniformierten weiche ich in wei-
tem Bogen aus, überquere zu diesem Zweck die Fahrbahn, auch wenn es nicht
notwendig wäre, wage nicht, auch nur für einen Moment auf einer Parkbank oder gar in einem Kaffeehaus zu rasten. Selbst zu Hause weicht die Angst nicht. Jedes
Klingeln an der Wohnungstür, jedes Läuten des Telefons lassen mich erzittern. Nur
langsam gelingt es mir, trotz aller Gefahren, äußerst vorsichtig, aber besonnen, meine Fluchtpläne zu verfolgen.
Dringende Fluchthilfe
In diesen Tagen erscheint einer meiner besten Freunde, der Dichter Jura
Soyfer8 und bittet um Hilfe. Als Linker, als antifaschistischer Autor und als Jude ist er dreifach bedroht. Ausgezeichneter Sportler, der er ist, will er über das Gebirge
in die Schweiz entkommen. Ich übergebe ihm meine Skiausrüstung und bringe ihn mit dem Auto zum Bahnhof.
Erst viel später, als wir schon in New York waren, erhielten wir die Nachricht,
dass seine Flucht im letzten Augenblick misslungen war. Nach einer mühseligen
8
Jura Soyfer, einer der bedeutendsten politischen Autor_innen im Österreich der Zwischenkriegszeit, wurde 1929 Mitglied des Politischen Kabaretts. Er veröffentlichte regelmäßig Texte in der sozialdemokratischen Presse, nach 1934 verfasste er mehrere Theaterstücke und das Romanfragment „So starb eine Partei“.
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Bergtour glaubte er, schon auf Schweizer Boden zu sein und kehrte vertrauensvoll in eine beleuchtete Schutzhütte ein. Unglückseligerweise hat er die Entfernungen
falsch eingeschätzt. Die Hütte erwies sich als letzter deutscher Grenzposten. Er
wurde festgenommen, in verschiedenen Gefängnissen verhört, im Juni 1938 ins Konzentrationslager Dachau eingeliefert und schließlich im September 1938 ins Konzentrationslager Buchenwald überführt.
Wir bemühten uns in New York, ihm ein amerikanisches Immigrationsvisum
zu besorgen und konnten ihm dies Ende 1938 übermitteln. Er wurde tatsächlich
formell aus dem Lager entlassen, aber unter der Bedingung, dass er vorher noch einige an Typhus erkrankte Häftlinge pflege. Er wurde angesteckt und starb im
Alter von 27 Jahren am 16.2.1939.
Mein Auto
Dass ich ein Auto besitze, ist ein Resultat meiner damals schon recht er-
folgreichen Architektentätigkeit: Ein Steyr 50, direkter Vorläufer des Volkswagens.
Auch während dieser Tage benütze ich es, um dringende Wege zu erledigen. Am
dritten Tage aber werde ich von einer bedrohlich aussehenden Bande uniformier-
ter Jugendlicher auf offener Straße angehalten. Ich werde aufgefordert auszusteigen, mein Wagen sei für die Partei requiriert. Zaghaft ersuche ich um eine Emp-
fangsbestätigung, worauf die Burschen in Gelächter ausbrechen. Ja, sagen sie, wenn
ich sie zur Kaserne begleiten wolle, wäre das vielleicht möglich. Ich lehne dieses gefährlich klingende Angebot ab, lieber begebe ich mich zu Fuß nach Hause.
Was folgt, ist tragikomisch. In den darauffolgenden Wochen erscheint bei mir
von Zeit zu Zeit ein höflicher Polizist, um Strafen für Verkehrssünden einzuheben. Meine Mitteilung, dass mein Auto requiriert wurde, wird von ihm mit Unglauben quittiert. Er meint: „So etwas ist ungesetzlich und daher unmöglich.“
Ich sehe meinen Wagen des Öfteren, denn es gibt ja noch nicht viele Autos in
Wien. Zuerst wird er von hohen deutschen Offizieren mit Chauffeur benützt, und eines Tages sitzt, zu meiner größten Verwunderung, mein alter Sozialisten-Freund
Fritz Jahnel9 am Steuer.
Erst in Amerika erfuhr ich den Sachverhalt. Meinem Freund Jahnel war als Arier
im militärpflichtigen Alter jede Ausreisemöglichkeit genommen. Seine Dienste als
9
Fritz Jahnel arbeitete bis 1934 im Wirtschafts- und Gesellschaftsmuseum, nebenberuflich war er als Journalist tätig. 1938 floh er über Paris nach New York.
neunzig tage im dritten reich
tüchtiger Grafiker und Ausstellungsfachmann waren von der Nationalsozialistischen Partei sehr gefragt. Schließlich wurde er in Verbindung mit seiner Arbeit in
die Schweiz gesandt. Von dort aus fuhr er nach Paris, wo seine jüdische Freundin,
Judith Spindel, schon wartete. Sie heirateten und wanderten nach New York aus.
Wir sahen uns dort sehr oft, bis er an Multipler Sklerose starb. Mit seiner Witwe
und deren zweitem Mann Richard Kafka (auch ein Wiener, dem die Flucht geglückt
war) verbindet uns eine der schönsten Freundschaften.
Im Autobus
In einem Autobus werde ich von einem uniformierten Mann angerem-
pelt. „Pardon“, sage ich höflich. Er brüllt mich an: „Wir Deutsche sagen ‚Verzeihen
Sieʻ.“ Einer Eingebung folgend stammle ich: „Je suis française.“ Er wird übertrieben
höflich und meint: „Pardon, ich hab’ ja net g’wußt, dass Sie dem Fremdenverkehr zug’hören.“
Verhaftung
Trotz aller Vorsicht werde ich eines Tages von zwei Sturmtrupplern10 ge-
stellt und festgenommen. Und so marschieren wir eine kurze Strecke bis zum Lie-
benberg-Denkmal in der Nähe der Universität, wohin schon etwa hundert andere
kommandiert worden sind. Die Zweierreihe der Verhafteten wächst in den nächs-
ten zwei Stunden auf das Doppelte. Jeder weiß, das ist das Ende. Von hier wird es in eine Kaserne und von dort wahrscheinlich in ein Konzentrationslager gehen. Eine
Rettung aus dieser hoffnungslosen Situation scheint unmöglich. Plötzlich springt
ein uniformierter Bursche auf eine Kiste und hält die folgende Ansprache im bes-
ten Wiener Dialekt: „Ihr habt’s a ‚Masselʻ. Wir haben heut schon zu viel Juden. Ihr könnt’s nach Haus’ gehen!“
Der Mann hat natürlich keine Ahnung, dass das Wort „Massel“ jiddisch ist. Wir
Gefangenen aber lernen die volle Bedeutung des Wortes „Massel“ kennen: ein unerhörter Glücksfall! Ohne dieses „Massel“ hätte ich, abgesehen von allem anderen,
diese Zeilen nie schreiben können.
10
„Sturmtruppler“ beschreibt Mitglieder der Sturmabteilung, der paramilitärischen Kampforganisation der NSDAP.
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Mein Herr Karl
Helmut Qualtinger, der große Satiriker und Kabarettist der Nachkriegs-
zeit, hat die klassisch gewordene Figur des charakterlosen „Herrn Karl“ geschaffen.
Mein ureigenster „Herr Karl“ heißt zwar Franz, entspricht aber sonst in jeder Beziehung dem Typus, den Qualtinger umrissen hat.
Herr Franz G. ist einer der zwei Angestellten in meinem Atelier. Seine Stärke
liegt in der Herstellung überzeugender Aquarelle von Innen- und Außenräumen.
Ansonsten ist er charmant und äußerst faul.
Am ersten Arbeitstag nach dem Anschluss begrüßt mich mein „Herr Karl“
glücksstrahlend mit der Mitteilung: „Herr Architekt, ich kann Ihnen die freudige
Mitteilung machen, dass wir dank meiner Beziehungen sehr viele Aufträge erhalten
werden. Ich bin nämlich schon seit drei Jahren illegaler Nazi und deshalb jetzt zum Kommissär Ihrer Firma ernannt. Von heute an sind Sie mein Angestellter. Ich werde
dafür sorgen, dass Ihnen nichts passiert, allerdings nur wenn Sie nichts unterneh-
men, um Wien zu verlassen. Darauf muss ich bestehen, denn ohne Sie kann die
Arbeit nicht geleistet werden.“ Der Verlust meines Büros samt Einrichtung berührt mich zwar schmerzlich, aber meine Hauptsorge ist, wie ich meine Auswanderung betreiben soll, wenn Herr G. über jeden meiner Schritte wacht?
Ein glücklicher Umstand löst dieses Dilemma. Herr G., seiner liebenswürdigen
Eigenschaft der Faulheit gemäß, feiert Tag und Nacht den Sieg seines Führers und
erscheint nur selten. Seine Hauptarbeit besteht darin, Schulden säumiger jüdischer
Klienten einzutreiben und das besorgt er mit großer Effizienz für seine eigene Tasche. Gelegentlich bringt er einen Auftrag, meistens für „Kraft durch Freude“-Hallen11, auf deren Entwurf ich meine Kraft ohne Freude in der Nacht konzentriere. Und so kommt es, dass ich das Hakenkreuz, dem ich tagsüber mit aller nur erdenklichen Raffinesse
auszuweichen versuche, in der Nacht in den verschiedensten Maßstäben zeichne.
Kommt es endlich zum Schlaf, so ist es eine weitere unangenehme Eigenschaft
dieses „Herrn Karl“, mich um 2.00 oder 3.00 Uhr morgens mit einem Telefonanruf
aus dem Schlaf zu reißen. Er meldet sich mit „Hier ist das Gestapo-Hauptquartier“.
Nach dem fürchterlichen ersten Schock erkenne ich langsam seine Stimme und
sage: „Herr G., sind Sie schon wieder besoffen?“ Noch heute lösen nächtliche Tele-
fonanrufe ein gleiches Schockerlebnis aus.
11
Die 1933 gegründete nationalsozialistische Organisation „Kraft durch Freude“ (KdF) widmete sich der Gestaltung, Überwachung und Gleichschaltung der Freizeit der deutschen Bevölkerung. Ihr Ziel war es, über kulturelle und touristische Freizeitaktivitäten die Arbeiter_innenschaft in die „Volksgemeinschaft“ zu integrieren.
neunzig tage im dritten reich
Die Geschichte meines „Herrn Karl“ wäre ohne das Wiedersehen anlässlich
meines ersten Nachkriegsbesuches in Wien 1948 nicht vollständig: Nach einem
herzerschütternden Marsch durch meine zerstörte Vaterstadt ging ich abends zur
Vorstellung der Kleinkunstbühne in der Liliengasse.12 Vor der Kasse sah ich plötzlich Herrn G., glänzend aussehend und noch dicker als vor dem Krieg. Mit offenen
Armen begrüßte er mich und rief: „Lieber Herr Architekt, willkommen in Wien,
was für eine Freude, Sie wiederzusehen!“ Ich verspürte keine Lust, mich mit ihm
zu unterhalten. Er aber meinte, er hätte mir doch nichts getan und wolle mir im Gegenteil über sein Leid im Dritten Reich erzählen. „Was Sie mir wahrscheinlich
erzählen wollen, ist, dass Sie nie ein Nazi waren“, sagte ich. „Wie haben Sie das nur
erraten? Eben darüber wollte ich Ihnen berichten“, rief er aus. Auf das war ich neu-
gierig! Wir verabredeten ein Treffen nach dem Theater in einem Café.
Dort berichtete mir Herr G., dass er ein „Märzveigerl“ (Märzveilchen) gewesen
sei, wie so viele andere, die ihre Sympathie für die Nazipartei schlagartig erst im
März 1938 entdeckten. „Leider“, sagte er, „sind sie mir draufgekommen, und ich
wurde schwer bestraft.“ Mit dem Ärgsten, das man ihm antun konnte. „Ich habe arbeiten müssen!“, stöhnte er.
Er wurde in einer Flugzeugfabrik im „Altreich“ als Entwerfer angestellt. Dort ging
es ihm recht gut, weil dieser strategisch wichtige Industriezweig gegen Fliegerangrif-
fe besonders geschützt war. Am Ende des Krieges wurde der Bedauernswerte von den
Amerikanern „liberiert“. Als sie herausfanden, dass er Architekt war, wurde er wieder
engagiert: diesmal als Entwerfer von Offizierskasinos. Jetzt zeigte sich seine vielseiti-
ge Verwendbarkeit wieder. Zur Zeit der äußersten Lebensmittelknappheit war seine
Leibesfülle darauf zurückzuführen, dass er immer wieder auf die Butterseite fiel.
Weiters werde er, wie er mir verriet, den Fehler, zu spät in eine Partei einzu-
treten, nicht wiederholen. In der Annahme, dass die Dinge in Österreich ebenso
verlaufen würden wie in der Tschechoslowakei und in Ungarn, sei er schon jetzt der Kommunistischen Partei beigetreten.
Trotz seiner Anpassungsfähigkeit saß er einige Jahre später im Landesgericht,
aber nicht aus politischen Gründen, sondern wegen Veruntreuung von Klienten-
geldern. Auch diese Episode konnte ihm nichts anhaben. Einige Jahre danach traf
ich ihn wieder, blendend aussehend – er war ein vielbeschäftigter Architekt des
Wiederaufbaus. 12
Das sogenannte Kleine Haus im Ersten Wiener Gemeindebezirk in der Liliengasse (heute Theater im Zentrum) wurde zwischen 1946 und 1950 vom Josefstädter Ensemble bespielt.
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Zurück zum 14. März 1938: Der Einzug Hitlers
Ich nutze diesen Tag, um die Baustelle eines Damen- und Herrenmodenge-
schäftes in der Mariahilferstraße zu besuchen, da sie direkt auf der Einzugsroute des
Führers liegt. Insgeheim bin ich begierig, die Parade zu sehen. Die Baustelle ist mit
Holzplanken umgeben. Auf den innerhalb liegenden Gerüsten arbeiten zwölf Stuckateure (oder „Gipsler“, wie sie in Wien genannt werden) am ornamentalen Decken-
verputz. Da die „Heil“-Rufe immer näherkommen, wende ich mich an die Arbeiter und sage: „Meine Herren, wenn Sie den Einzug Ihres Führers sehen wollen, gebe ich
Ihnen gerne einige Zeit frei.“ Niemand folgt dieser Aufforderung. Sie arbeiten eifriger denn je auf den Gerüsten. Angesichts dieser spontanen Verweigerung muss auch ich
hinter der Bauplanke verbleiben und ich versäume das historische Schauspiel.
Bürobetrieb
So bizarr es klingt, ein „normaler“ Bürobetrieb hält an. Gewerbetreibende,
Handwerker und Lieferanten suchen mich auf. Sie alle benehmen sich nicht nur
korrekt, sondern können kaum fassen, dass auch ich in den „gewissen Schwierigkeiten“ stecke. Viele bieten mir Hilfeleistungen an. Einer will sich sogar energisch für die Zurückbeschaffung meines Autos einsetzen, worauf ich ihm in seinem und
meinem Interesse abrate.
Der Chef einer großen Bautischlerfirma erzählt mir tränenerstickt seine Fa-
milientragödie. Seine einzige Tochter war seit einigen Jahren illegal Mitglied des
„Bundes Deutscher Mädchen“ gewesen, nun aber habe ein übereifriger Deutscher herausgefunden, dass es mütterlicherseits eine jüdische Großmutter gibt. Seine
Tochter ist ausgestoßen worden. Sie ist untröstlich und denkt an Selbstmord.
Eines Tages öffne ich die Bürotüre, ein Sturmtruppler steht mir gegenüber. Er
schlägt die Hacken zusammen, sein rechter Arm schnellt hinauf: „Heil Hitler.“ Dann:
„Einen gehorsamen Diener von meinem Chef. Ich soll unseren Kostenvoranschlag
übermitteln und Sie herzlichst bitten, ihn freundlichst zu berücksichtigen.“ Auch für das übliche Trinkgeld dankt er mit strammem Hitlergruß.
Einkauf
Ein anderes Mal stehen zwei Offiziere der Deutschen Wehrmacht vor mei-
ner Tür. Betont höflich fragen sie, ob ich die Absicht habe, zu verreisen. Sie seien
neunzig tage im dritten reich
natürlich keine Plünderer, aber wenn ich etwas zu verkaufen habe, wären sie sehr interessiert. Zwei große Lederfauteuils haben es ihnen besonders angetan. Ihre
Frage nach dem Preis halte ich für einen schlechten Witz. Da ich ohnehin nicht annehme, dass die beiden zahlen würden, nenne ich die lächerliche Summe von
zwanzig Reichsmark. Sofort sind sie einverstanden, zahlen und bitten mich, im Stiegenhaus „Schmiere“ zu stehen, damit sie niemand bei ihrem „Einkauf“ überrasche.
Was damals noch niemand wissen konnte –, dass diese zwanzig Reichsmark genau jenem Betrag entsprachen, die jeder Auswanderer mit sich führen durfte.
Ein Stückchen Käse
Ungefähr zwei Monate, nachdem ich die Briefe nach Amerika gesandt
hatte, kommen die Antworten. Onkel Harry bedauert, er habe alles versucht, aber
er sei finanziell nicht genügend leistungsfähig. Ruth Yorkes Brief bringt das ge-
wünschte Ergebnis. Sie sendet die Bürgschaftspapiere eines Mr. Paul Gosman, der als Direktor einer großen Ölgesellschaft berechtigt ist, ein Affidavit für Lizzie und
mich auszustellen.
Ich verdanke also Ruth Yorke und ihrem guten Freund Gosman die Möglich-
keit, nach Amerika auszuwandern und damit höchstwahrscheinlich mein Leben.
Dass ich sie überhaupt kenne, ist einem reinen Zufall zuzuschreiben. In den frühen
Dreißigerjahren hatte ich in Paris die große Ausstellung – „Des artes decoratives“ besucht. Auf der Rückfahrt wanderte ich von Coupé zu Coupé bis ich endlich ei-
nes fand, das nur von einem jungen Ehepaar besetzt war. Ein sehr reifes Stück
Käse, das ich zusammen mit Brot und Früchten als Proviant mitführte, war der Grund, ins Gespräch zu kommen. Die junge Frau fragte höflich, ob sie das Fenster
öffnen dürfe, da sich ein merkwürdiger Geruch bemerkbar mache. Ich willigte lachend ein und erklärte den Ursprung des Duftes. Von da an unterhielten wir uns
blendend in einer Mischung von Englisch und Deutsch. Meine wenigen Englisch-
kenntnisse stammten von Annette Glass, einer gebürtigen Engländerin, die mir, als
Freundin meiner Mutter, Sprachunterricht gab. Die Schauspielerin Ruth Yorke bereitete sich mit Deutschunterricht darauf vor, in Wien das Max-Reinhardt-Seminar zu besuchen.
In Wien sahen wir uns dann fast täglich. Durch meine Freunde war ich imstan-
de, ihr und ihrem Mann behilflich zu sein. Sie hingegen war fasziniert von meiner
Architektur-Arbeit und war der Meinung, dass meine Talente im kleinen Österreich
verschwendet seien. Sie drängte darauf, dass ich mich doch in Amerika niederlas-
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sen solle. Nach Abschluss ihres Studiums kehrte sie heim und wir korrespondier-
ten seither regelmäßig.
Das Stückchen Käse, klein und weich, erwies sich als fester Grundstein für eine
dauerhafte Freundschaft. Er bewirkte meine Einreise in die Vereinigten Staaten
und war somit Fundament meiner dortigen Karriere.
Auswanderungslegalität
Im Gegensatz zu Willkür und Terror gegen alle Unerwünschten steht die
Unmenge bürokratischer Auswanderungsvorschriften. So zum Beispiel müssen
sich Juden, die sich bereits eine Einreisebewilligung ins Ausland beschafft haben,
auch eine Ausreisebewilligung aus Deutschland besorgen. Dies klingt nach reiner
Formalität. Es heißt, man müsse nur zu einem bestimmten Schalter vordringen, bei
dem ein freundlicher Beamter die Ausreisebewilligung einstempeln würde. Aber
so weit kam es nie, denn noch bevor man den Schalter nach langem Warten endlich
erreicht hat, wird einem der Pass von einem groben SS-Mann auf Nimmerwieder-
sehen aus der Hand gerissen.
Um diesem Schicksal zu entgehen, wende ich mich an einen Anwalt, der mir als
„Beschaffer“ von Einreisevisa empfohlen worden war. Auf welche illegale Weise er dies besorgt, weiß niemand. Sicher riskiert er viel, aber er macht ein blühendes
Geschäft. Auch mich fragt er, wie viel Geld ich noch zur Verfügung hätte. Ich nenne
ihm ehrlich die Summe, worauf er mir aufträgt, ihm den Pass zu übergeben und
den genannten Betrag auf sein Nummernkonto in der Schweiz zu überweisen (Der
Deutschen Mark traute er nicht.) Sobald ihm die Schweizer Bank das Eintreffen des
Geldes bestätige, könne ich mir den Pass mit Einreisevisum abholen. Zu meinem größten Staunen hält er – mit Hinblick auf weitere gute Geschäfte – sein Wort. Das
Ausreisevisum, das mir am 28. Mai 1938 in meinen Pass gestempelt wird, lautet:
„Einmalige Ausreise nach Amerika über Schweiz, Frankreich, Großbritannien und Rückreise ins Deutsche Reich bewilligt.“
Weiters war es Flüchtlingen erlaubt, nur so viel Geld zu behalten, um sich schon
in Wien die Fahrkarten bis zu ihrem Zielort zu kaufen. Außer Reisegepäck (wir
hatten vier Koffer) und einer großen Holzkiste (ein sogenannter Liftvan) mit vorgeschriebenen Dimensionen, die als Fracht abgeht, sowie einem Barbetrag von RM
20 darf nichts ausgeführt werden. Wertgegenstände mitzunehmen, ist nicht erlaubt.
In meinen Liftvan verpacke ich: Zeichentisch, Zeichengeräte, die selbst entwor-
fene Sitzgarnitur meines Büros, das Jugendstil-Silberbesteck aus der Aussteuer
neunzig tage im dritten reich
meiner Mutter, handgeschliffene Gläser, die ein Geschenk meines Vaters an sie waren, eine große Menge Bücher, unter anderem die Klassikerbibliothek, die mir mein
Vater vererbt hatte. Diese Gegenstände von großem persönlichen Wert begleiteten
mich auf meinen vielen Irrwegen durch die USA und kehrten 1972 an ihren Ursprungsort nach Wien zurück.
Die Gestapo erscheint
Endlich kann ich die Fahrkarte für Lizzie und mich bei der Geschäftsstelle
des „American Express“ besorgen: Flug Wien–Zürich, Bahn Zürich–Paris–London
und zuletzt Schifffahrt (Touristenklasse auf dem Dampfer „Statendam“) nach New
York. Während ich auf meine Fahrkarten warte, werde ich am Telefon verlangt. Einigermaßen verwundert, dass jemand weiß, wo ich mich befinde, nehme ich den
Hörer, aus dem die aufgeregte Stimme der jungen Schauspielern Illa Raudnitz13
klingt. Atemlos sagt sie: „Bleibe wo Du bist. Ich komme sofort. Eure Wohnung wurde von der Gestapo besetzt.“
Nach zehn Minuten trifft sie erschöpft im „American Express“ ein. Da erzählt
sie ihr Erlebnis: Sie wollte uns besuchen, aber unsere Wohnungstür wurde ihr von
Gestapo-Leuten geöffnet. Als Arierin konnte sie sich mit diesen Leuten ungeniert
unterhalten. Sie erfuhr, dass ich eingesperrt werden würde, weil einer meiner Professionisten mit dem urdeutschen Namen Bogotay Anzeige gegen mich erstattet
hat. Ich soll eine kleine Rechnung nicht beglichen haben. Im letzten Moment hat mich also mein Glück verlassen. Ratlos und verzweifelt stehe ich da, mit meinen
Fahrkarten in der Hand.
Vom ersten Schock erholt, rufe ich Bogotays Werkstätte an, um dieses offensichtli-
che Missverständnis aufzuklären, bekomme aber nur seinen Vorarbeiter ans Telefon.
Er ist völlig entsetzt, denn er weiß genau, dass ich seinem Meister nichts schulde. Er bietet sich an, die Sache im Gestapo-Hauptquartier ins Reine zu bringen. Ich danke
ihm für seinen guten Willen, bin aber gleichzeitig davon überzeugt, dass seine Vorsprache nichts helfen wird. Denn eines wusste jeder: Wenn die Gestapo sich einmal
zum Eingreifen entschlossen hatte, konnte sie keine Macht der Welt wieder bremsen.
Das Einzige, was ich tun kann, ist, meine Frau, die bei ihrer Mutter zu Besuch ist,
zu warnen, unter keinen Umständen nach Hause zu gehen. Ich bitte meine Schwie-
13
Illa Raudnitz, später Raudnitz-Roden, war Mitglied des Politischen Kabaretts in Wien, sie floh gemeinsam mit Victor Gruen 1938 in die USA, wo sie erst mit Gruen am Broadway auftrat und später in Los Angeles eine Schule gründete.
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germutter, die eine Arierin ist, uns zu verstecken. Als überzeugte Antifaschistin ist
sie hierzu sofort bereit, obwohl sie möglicherweise damit ihr Leben riskiert. (Spä-
ter ist es uns gelungen, auch ihre Auswanderung nach Amerika zu ermöglichen.)
Versteckt
Wir warten also in der Wohnung von Lizzies Mutter, in der Hoffnung, dass
uns die Gestapo dort nicht so bald entdeckt. Das Problem ist: Wie kommen wir zu
unseren reisefertigen Koffern? In dieser Not rufe ich Herrn Adolf Györgyfalvay an, der schon seit vielen Jahren als Tapezierer und Hersteller von Polstermöbeln mit
mir zusammenarbeitet. Kurz nach dem Anschluss hatte er mich besucht und mir mitgeteilt, dass er sich leider gezwungen fühlte, der Nationalsozialistischen Partei
beizutreten, weil es ihm sonst unmöglich gemacht würde, seine Familie zu erhalten.
Er versicherte mir aber, dass dies an seiner sozialdemokratischen Gesinnung nichts
ändern würde, und dass er mir, sollte es zu einer Notlage kommen, gerne behilflich sein würde.
Eine solche Notlage besteht nun. Er erklärt sich bereit, die Sache zu erledigen.
Kann ich ihm wirklich trauen? Ich habe keine Wahl und teile ihm die Adresse unseres Versteckes mit. Unser Leben liegt somit in seiner Hand.
Etwa drei Stunden später klingelt es an unserer Tür. Wir öffnen und sehen vor
uns einen voll uniformierten Sturmtruppenmann. Es ist Herr Györgyfalvay, der unsere Koffer mit sich schleppt. Er sagt, dass höchste Eile geboten sei, er habe ein
Taxi unten warten, und werde mit uns zum Flughafen fahren. Der Abschied, den wir für die nächsten Tage geplant hatten, kommt nun so plötzlich. Überstürzt nehmen
wir Abschied und besteigen das Taxi. Neben dem Chauffeur sitzt der Sturmtruppler, Adolf Györgyfalvay. Als Fahrziel wird der Flughafen Aspern genannt. Noch immer fürchten wir, dass diese Fahrt im Hauptquartier der Geheimpolizei, im Hotel
„Metropol“ am Franz-Josefs-Kai endet. Schließlich geht es eine Zeit lang von der Dorotheergasse durch die Rotenturmstraße in diese Richtung. Erst als wir auch den Franz-Josefs-Kai überqueren und jenseits des Donaukanals durch den Zweiten
Bezirk in Richtung Aspern brausen, wissen wir, dass die Gefahr hinter uns liegt.
Aber auch am Flughafen gibt es noch einige bange Stunden. Strenge Kofferkon-
trollen und Leibesvisitationen sind durchzustehen. Zu diesem Zweck werde ich in die Herrentoilette geführt. Dort erkundigte sich ein österreichischer Gendarm nach
meinem Namen und Reiseziel. Als ich ihm mitteile, dass wir nach Amerika auswan-
dern, seufzt er und meint: „Ich beglückwünsche Sie. Ich wäre gerne an Ihrer Stelle.“
neunzig tage im dritten reich
Vorschriftsmäßig müsse er eine höchst genaue Überprüfung von mindestens zwanzig Minuten vornehmen. Er aber erklärt, dass er nicht die Absicht habe, dies zu tun.
Er wolle lieber plaudern. Für den Fall, dass jemand eintrete, wird eine Komödie
vereinbart. Dann solle ich meine Jacke ausziehen und so tun, als ob ich gerade beim Entkleiden wäre. In unserem Gespräch, in dem er sich als Antifaschist zu erkennen
gibt, werden wir aber nicht gestört. Ohne auch nur einen einzigen Koffer geöffnet
zu haben, drückt er mir nach zwanzig Minuten die Hand und sagt: „Ich danke viel-
mals und wünsche Ihnen viel Glück!“
Glück haben wir jede Menge. Ein Flugzeug steht nicht nur startbereit da, es sind
auch noch Plätze frei. Bei unserem letzten Blick zurück sehen wir, dass der Sturm-
truppler Györgyfalvay noch immer an der Flugrampe wartet und uns herzlichst zuwinkt.
Auch diese Episode hat eine Nachgeschichte: Bei einem meiner Besuche nach
dem Krieg in Wien rufe ich Herrn Györgyfalvay an. Er kommt sofort zu meinem
Hotel, sichtlich bewegt und erfreut mich wiederzusehen. Da stelle ich die Frage, die
mich seit dem Abschied von Wien geplagt hat: „Herr Györgyfalvay, Sie haben mir erklärt, warum Sie Parteimitglied wurden, aber warum sind Sie der Sturmtruppe
beigetreten?“ Er: „Ich war nie ein Sturmtruppler.“ „Aber Herr Györgyfalvay, ich habe
Sie doch selbst in der Uniform gesehen, wie Sie mit unseren Koffer angekommen
sind.“ Er lachte: „Wie haben Sie sich eigentlich vorgestellt, dass ich die Koffer be-
kommen würde? Ich habe die Uniform gestohlen, bin dann in Ihre Wohnung gegangen, habe stramm ‚Heil Hitlerʻ gerufen und gesagt, die Koffer des Juden Viktor
Grünbaum wären hiermit konfisziert. Noch bevor sich die Herren von der Gestapo erholen konnten, raste ich die Stiege hinunter.“
„Leider“, so berichtete er weiter, „ist man mir auf den Schwindel draufgekom-
men, ich wurde in meinem Ausweis für ‚politisch unzuverlässigʻ erklärt, und als
solcher musste ich sofort einrücken und kam niemals über den Rang eines gemei-
nen Soldaten. Ich wurde immer an die gefährlichsten Fronten geschickt, zuerst zur
Maginot-Linie in Frankreich, dann nach Stalingrad. Wie durch ein Wunder bin ich mit dem Leben davongekommen.“
Das Glück verließ aber auch ihn nicht! Die schriftliche Bescheinigung seiner „po-
litischen Unzuverlässigkeit“ half ihm, als die Russen Wien besetzten. Einige seiner
Konkurrenten zeigten ihn wegen angeblicher Zugehörigkeit zur Nazipartei an. Als
er den Russen versicherte, dass er immer Antinazi gewesen sei, wollten sie Bewei-
se. Das Dokument über seine „politische Unzuverlässigkeit“ konnte er aber nicht
vorweisen. Es steckte hinter einem Bild in seiner Wohnung, die in der Zwischenzeit
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wende
von einem russischen Offizier requiriert worden war. So marschierten die Russen
mit ihm zu dieser Wohnung, sie fanden das Bild mit der Bescheinigung und von da an war er von jeglicher Belästigung verschont. Die Polstermöbel, Tapeten und
Vorhänge unserer 1960 erworbenen Wiener Wohnung stammen aus der Werkstätte unseres zum Freund gewordenen Adolf Györgyfalvay.
Abschied von Europa Erst auf Schweizer Boden atmen wir erleichtert auf. Der Flug, der als unser
erster ein Erlebnis hätte sein sollen, ist von der Angst über eine mögliche Notlan-
dung auf deutschem Gebiet getrübt. Unsere Zukunft liegt zwar unsicher vor uns,
aber trotzdem erfüllt uns ein Freiheitsgefühl. Der Wandel von der bedrückenden
Diktaturatmosphäre in Wien zu der in der freien Schweiz ist fühlbar, sichtbar und
hörbar. Die Fahrt vom Flughafen in die Stadt führt an jubelnden Menschen vorbei, die über den Sieg der Schweizer Fußballmannschaft gegen Deutschland in Freude
taumeln. Auch für uns ist das weiße Kreuz im roten Feld anstelle des Hakenkreuzes ein beglückender Anblick.
Bis zu unserer Schiffsreise von England nach Amerika verbleiben noch etwa
sieben Wochen. Wir nützen sie, um uns von Europa und den vielen Freunden, die
schon vor uns aus Österreich geflüchtet waren, zu verabschieden. Dieses Abschied-
nehmen scheint mir ungemein wichtig. Eine Vorahnung, dass mit der so leicht gemachten Annexion Österreichs der Appetit des größenwahnsinnigen Kleinbürgers
aus Braunau bis zu einem verheerenden Krieg wachsen würde, werde ich nicht
los. So viel wie möglich an europäischer Kultur und Lebensart will ich noch einmal
genießen, um es aufzuspeichern, weil ich annehme, dass ich wenig davon in der
Neuen Welt finden werde. Wir besuchen Museen und haben Anteil an dem, was ich
in allen meinen Schriften als „Urbanität“ bezeichne. Geliebte Personen, die ich viel-
leicht niemals wiedersehen werde, will ich noch einmal treffen, um diese Menschen auf ewig in Erinnerung zu behalten.
Wir machen auf dieser Abschiedsreise, die uns nach Zürich, Paris und London
führt, eine neue Erfahrung, nämlich die, von der Freigebigkeit unserer Freunde zu
leben. Von den zwanzig Reichsmark geben wir keinen Pfennig aus. In Zürich werden wir, wie so viele Flüchtlinge aus dem Hitler-Reich, von der Burgschauspielerin
Mathilde Danegger14 in großzügiger Gastfreundschaft aufgenommen. 14
Mathilde Danegger, österreichische Schauspielerin und engagierte Kommunistin, floh 1933 in
ozeanreise
Wir treffen meinen Kindheitsfreund Leopold Lemberger, der sich jetzt Lindtberg
nennt, schon seit Jahren in Zürich weilt und gerade eine Theaterkarriere beginnt,
die ihn später zu einem der bedeutendsten Regisseure der deutschsprachigen Büh-
nen machen wird. Poldi, wie wir ihn nennen, übergibt mir jene Manuskripte, die ich
ihm, eingewickelt in viele Exemplare der Zeitschrift Völkischer Beobachter, schon am ersten Tag nach dem Anschluss übersandte.
In Paris werden wir von den Schwestern Leopold Lembergers, Hedi und Vally,
herzlichst empfangen. Vally und ihr Mann Willy Steiner flohen, als Hitler in Frankreich einmarschierte, nach Spanien und, als die Franco-Diktatur unerträglich wurde, nach Mexiko.
In London werden wir von Dr. Friedrich und Herta Scheu15 als Hausgäste aufge-
nommen und bewirtet. Friedl, der schon in Wien für englische Zeitungen gearbeitet
hatte und schon am Tage der Schuschnigg-Rede die Flucht ins Ausland ergriff, also
rund hundert Tage vor mir in London ankam, hat sich hier rasch einleben können.
Dort treffen wir auch meine Mutter wieder, die gleichfalls kurz vor mir durch die
enge Freundschaft mit der Engländerin Annette Glass aus Wien entkommen war.
Nur meine Schwester, die sich von dem Mann, den sie liebte, nicht trennen wollte,
obwohl er Nazi war, mussten wir in Wien zurücklassen. Doch auch sie kam ent-
täuscht und durch eine Reihe von Glücksfällen Monate später nach Amerika.
Ozeanreise Die Reise auf dem großen Dampfer „Statendam“ wird zum traumartigen
Erlebnis. Für die Zeitspanne von sieben Tagen sind wir der rauen Realität entrückt.
Mit jeder Drehung der Schiffsschraube entfernen wir uns von unserem Abschiedsschmerz in Europa und nähern uns der Ungewissheit eines neuen Landes.
Die unendlich schäumenden Gewässer des Atlantischen Ozeans, der regelmäßi-
ge Rhythmus des Schiffes, der Genuss der lange nicht mehr gewohnten, ausgezeich-
neten Mahlzeiten verführen uns dazu, die Gegenwart voll zu genießen und Ängste
über Vergangenes und Künftiges beiseitezuschieben.
15
die Schweiz. 1947 zog sie nach Ost-Berlin, wo sie erst am Theater und später in Fernseh- und Filmproduktionen tätig war. Friedrich Scheu verfasste in den Siebzigerjahren eine historische Aufarbeitung des politischen Kabaretts in Österreich in der Zwischenkriegszeit: Humor als Waffe. Politisches Kabarett in der Ersten Republik. Europaverlag: Wien 1977.
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wende
Als Gruppe junger Schicksalsgenossen, darunter Freunde wie Illa Raudnitz (das
Mädchen, das mich vor der Gestapo warnte), sehen wir uns in der Rolle der Vergnügungsreisenden. Bei Deckspielen, beim Teetrinken, in Liegestühlen und bei abend-
lichen Tänzen vergessen wir die Tragödie unserer Erinnerung.
So verbleibt diese erste Reise über den Atlantik als einzigartig und unvergleich-
lich in unserem Gedächtnis. Ihr folgten nach dem Krieg Dutzende andere in der
ersten Klasse oder im Jet-Flugzeug, doch keine erlebte ich im gleichen Glücksgefühl.
Gegen Ende der Reise fallen Schatten der Realität in die vorgegaukelte Unbe-
kümmertheit. Ein Passagier der Luxusklasse, ein waschechter Amerikaner, zieht mich ins Gespräch: Was ich denn in Amerika anfangen werde, will er wissen. „Ich glaube nicht, dass es Sinn hat, sich darüber Sorgen zu machen. Irgendeine Art von
Arbeit wird sich schon finden lassen. Vielleicht Geschirr waschen, Schuhe putzen,
oder Kellner werden“, ist meine leichtfertige Antwort, „denn ich bin nicht so op-
timistisch, zu glauben, dass ich meinen Architekturberuf in Amerika fortsetzen kann.“ „Das ist Unsinn!“, versichert mein Reisebekannter. „Millionen Arbeitslose in
Amerika wollen Teller waschen, Schuhe putzen, als Kellner oder Zeitungsverkäufer arbeiten, aber wir haben nicht sehr viele gute Architekten. Wenn Sie glauben, ein
halbwegs guter zu sein, dann bleiben Sie dabei.“
Kurz vor der Landung wächst die Nervosität. Wilde Gerüchte über die Einwan-
derungskontrollen schwirren herum. Wer nicht mindestens hundert Dollar besäße,
ist zu hören, werde überhaupt nicht hineingelassen. Ziemlich beunruhigt bitte ich
meinen Wiener Bekannten, den Arzt Dr. Rudolf Singer, mir für einige Stunden hundert Dollar zu leihen. Ich würde sie ihm gleich nach der Zollkontrolle zurückgeben.
Tatsächlich fragt mich dann niemand nach meinem Geld, sodass Herr Singer sofort wieder die hundert Dollar zurückerhält.
25 Jahre später erweist sich dieser HNO-Arzt nochmals als Helfer in der Not. Als
einziger und obwohl es nicht sein Fachgebiet betrifft, diagnostiziert er eine rät-
selhafte Vergiftung meines Blutes (Endokarditis) als Folge einer unsachgemäßen
Zahnbehandlung. Die von ihm angeordnete lange Spitalskur rettete damals mein Leben.
In der letzten Nacht der Reise sind wir so aufgeregt, dass wir nicht schlafen
können. Wir drängen uns am Schiffsbug und starren hinaus, um die ersten Lichter
von Amerika zu sehen.
II. RÜCKBLENDE
18: Elly, Viktor, Luise Gruenbaum, Wien 1906 Courtesy Peggy Gruen Collection
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19: Portrait Viktor David Grünbaum Courtesy Peggy Gruen Collection 20: Viktor Grünbaum auf der Baustelle, Wien 1924 Courtesy Peggy Gruen Collection
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21: Parfümerie Bristol, Wien 1935 Library of Congress
22: Stoff Singer, Wien 1936 Library of Congress
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23: Viktor Grünbaum, Politisches Kabarett, Wien 1926–1934 Library of Congress
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24: Politisches Kabarett, Gruppenfoto
25: Buchcover, Humor als Waffe (1977)
Kindheit Erinnerungen sind unvermeidlicherweise eine Mischung von dem, was man
wirklich selbst erlebt hat, und von Ereignissen, über die man so viel von anderen gehört hat, dass man allmählich daran glaubt, sie selbst wahrgenommen zu haben.
So weiß ich zum Beispiel aus einem kleinen roten Buch „Unser Kind“, das mich
durch viele Jahre überall hin begleitete, dass ich am 18. Juli 1903 um 3.20 Uhr mor-
gens (ein für alle Beteiligten höchst ungelegener Zeitpunkt) das Licht der Welt er-
blickte und dass ich als Erstgeborener liebende Aufmerksamkeit fand. Diesem ro-
ten Büchlein entnehme ich Notizen über meine ersten Geistesblitze, Gehversuche
und frühen Reisen. Dort steht auch zu lesen, dass mein Vater, Dr. Adolf Grünbaum, als Sohn eines aus Lundenburg stammenden Müllermeisters 1858 in Wien geboren
worden ist, und dass meine Mutter Elly (Elisabeth Lea Levi) etwa fünfzehn Jahre
jünger war als mein Vater. Auch die Geburt meiner Schwester Marie-Luise, achtzehn Monate nach der meinen, ist vermerkt. Sie wird mir mit den Worten „das ist
Deine Schwester“ vorgestellt. Meine Sprachkenntnisse scheinen zu jener Zeit nicht
gerade überwältigend gewesen zu sein. Alles, was ich herausbringe, ist: „Ischl.“ Diese Koseform bleibt meiner Schwester bis in ihre Backfischjahre erhalten.
Die Wohnung, in der wir geboren wurden, liegt in der Marc-Aurel-Straße 3, im
Ersten Wiener Gemeindebezirk. Ich sehe sie noch deutlich vor mir. Dem Kinderzimmer, das meine Schwester und ich bewohnten, war die Anwaltskanzlei meines
Vaters benachbart. Vor dem Lärm, den wir verursachten, versuchte er sich durch eine Matratze im Hohlraum zwischen den zwei Doppeltüren zu schützen.
Als ich etwa fünf Jahre alt war, übersiedelten wir in den zweiten Stock eines ge-
rade fertiggestellten Mietshauses in der Riemergasse 9 im Ersten Gemeindebezirk,
in der ich dreißig Jahre meines Lebens verbringen sollte. Dem neuen Bezirksgericht für die innere Stadt nächstgelegen war das Haus speziell für Rechtsanwälte ausgelegt. Unsere Wohneinheit hatte zwei Haupteingangstüren. Die eine führte
durch ein kleines Vorzimmer zu der „k.u.k. Hof- und Gerichts-Advokaturskanzlei“
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meines Vaters, die andere zur Wohnung. Diese bestand aus einem Kinderzimmer, das auch als Familienwohnzimmer diente, einem Elternschlafzimmer und einem
großen Eckzimmer, das als „Salon“ Gästen und Festen vorbehalten war.
Die Wohnung war nach damaligen Begriffen modernst ausgestattet. Sie besaß ein
Vorzimmer, eine Speis, einen Klopfbalkon, ein Badezimmer mit kaltem Fließwasser
und einem Gasbadeofen, der einmal in der Woche geheizt wurde, und ein WC. Elektrische Beleuchtung war für jedes Zimmer vorgesehen. Da man aber dieser Erfindung noch nicht ganz traute, waren zusätzlich auch Gasbeleuchtungskörper, sogenannte
„Auer-Strümpfe“ vorgesehen. (Ein Abkömmling dieses österreichischen Erfinders
Auer war in Amerika mein Partner.) Bezeichnend war, dass die winzige Kammer, in
der die Köchin und das Dienstmädchen schliefen, mit keiner der beiden fortschrittlichen Beleuchtungsarten ausgestattet war. Man war der Ansicht, dass das Dienstper-
sonal mit einer Kerze oder Petroleumlampe das Auskommen zu finden habe.
Einer der drei Büroräume, der mit der großen Bibliothek ausgestattet war, hatte
eine Doppelfunktion. Tagsüber war er das Arbeitszimmer meines Vaters, abends
wurde er, wenn wir Gesellschaft hatten, zu jenem Raum, in den sich die Männer
zum Rauchen, Trinken und Politisieren zurückzogen, während die Damen ihre Kon-
versation über hausfrauliche Pflichten und Moden im Salon fortsetzten.
Als Kindheit betrachte ich, auch wenn das nicht ganz logisch klingen mag, die
Zeit bis zum Tode meines Vaters im Jahre 1918. Ich fühle diese Ära als eine Einheit,
während der ich von liebenden Eltern geleitet, gehegt und gepflegt, sorglos und, mit Ausnahme der Kriegsjahre, in ungetrübter Glücklichkeit lebte.
Welch idealen Lebensstil doch meine Eltern in den Jahren bis zum Ausbruch
des Ersten Weltkrieges in der für sie heilen Welt des aufstrebenden Bürgertums
führten! Mein Vater, ein hochbegabter, musischer Mann, verstand seine berufliche
Tätigkeit als Anwalt mit seiner Liebe für die Künste, besonders für das Theater, zu
verbinden. Seine Klienten bestanden zum großen Teil aus Freunden und Leuten,
die er hoch schätzte. Er war nicht nur Rechtsvertreter eines der berühmten Wie-
ner Operettentheater, des Carl-Theaters, sondern auch Anwalt vieler Künstler wie
Komponisten, Schauspieler, Kabarettisten. Zu diesen Klienten zählten die Komponisten Franz Lehár1 und Emmerich Kálmán2, der Violinvirtuose Fritz Kreisler3,
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3
Franz Lehár wurde 1870 in Ungarn geboren und war in Wien und in Bad Ischl vor allem als Operettenkomponist tätig. Der Komponist Emmerich Kálmán verließ Österreich 1938 nach dem Anschluss, er emigrierte über Zürich zunächst nach Paris, von dort 1940 in die Vereinigten Staaten. Der Violinist und Komponist Fritz Kreisler emigrierte 1935 nach Monte Carlo und 1939 in die USA.
kindheit
Schauspieler wie Carl Treumann4 und Mizzi Zwerenz5. Auch der berühmte Kabarettist Fritz Grünbaum6, mit dem wir nicht verwandt waren, war ein Freund und
Klient meines Vaters.
Wir waren eine typisch wienerische Familie des höheren Mittelstandes, schon
wegen der Tatsache, dass die Familie meines Vaters aus Mähren, die jüdische Patriarchen-Familie meiner Mutter aus Hamburg stammte. Mama hatte anfangs einige
Probleme mit der Wiener Sprache. Als Norddeutsche „stolperte sie über einen spitzen Stein“ und konnte sich an die Aussprache des Wiener „schp“ und „st“ schwer gewöhnen. Beim Einkaufen am Naschmarkt oder in der Großmarkthalle musste
sie sich auf die Sprachkenntnisse unserer treuen Köchin Toni verlassen, da ihre
Bestellungen von Apfelsinen, Blumenkohl und Tomaten bei den Marktfrauen auf
Unverständnis stießen. Von einer Köchin, einem Stubenmädchen, einer Putzfrau für gröbere Arbeiten im Haushalt, von einem Kinderfräulein und einer „Madame“ in
der Erziehung der Kinder unterstützt, führte sie das Leben einer „eleganten“ Dame.
Der große Freundes- und Bekanntenkreis meines Vaters machte aus Mama bald eine „echte Wienerin“.
Trotz autoritärer Erziehungsmethoden waren wir Kinder den Eltern tief verbun-
den. Die wichtigste Mahlzeit, das Mittagessen, wurde gemeinsam im Kinderzimmer
eingenommen. Papa bevorzugte typische Wiener Küche und aß fast täglich „Ta-
felspitz“ und jene gekochten Mehlspeisen böhmischer Provenienz, die als Wiener
Spezialitäten galten. Gute Tischmanieren wurden uns eingeschärft. „Kinder“, so sagte mein Vater, „soll man sehen, aber nicht hören. Sie dürfen nur sprechen, wenn
sie gefragt werden.“ So lauschten wir denn aufmerksam auf die Konversation der
Eltern, die sich um Kunst, Literatur und Weltneuigkeiten drehte. Alles, was nicht für unsere Ohren bestimmt war, wurde in französischer Sprache ausgedrückt.
Viel wurde auch über die Tätigkeit meines Vaters in der Vereinigung „Schlaraffia“,
der er mit Begeisterung angehörte, diskutiert. Diese deutschsprachige Vereinigung,
die 1865 in Prag gegründet wurde, widmete sich der Pflege der Freundschaft, Brüderlichkeit, der Kunst und des Humors. Als Männer-Vereinigung war sie in einer
monarchisch-christlichen Zeit strengster Standesdünkel freisinnig und liberal, ver-
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6
Der Schriftsteller und Schauspieler Carl Treumann lebte in Hamburg und in Wien. Er war Direktor des Carltheaters und des Kaitheaters in Wien. Die Theater- und Filmschauspielerin Mizzi Zwerenz wurde 1876 in der Slowakei geboren und spielte u. a. am Carltheater in Wien. Der 1880 in Brünn geborene Fritz Grünbaum war als politisch engagierter Kabarettist, Operetten- und Schlagerautor, Regisseur, Schauspieler und Conférencier in Wien tätig. Er starb 1941 im KZ Dachau.
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mutlich aus der Freimaurer-Bewegung hervorgegangen und hatte sich am Beginn
des 20. Jahrhunderts über die ganze Welt ausgebreitet: Sie hatte einen eigenartigen
Ritus, der der Sprache der Ritterzeit nachgebildet war, und jedes Mitglied hatte
einen „Schlaraffen“-Namen. Mein Vater hieß „Ritter Pitaval von der heiteren Seite“
(Pitaval war ein berühmter französischer Anwalt gewesen). Der Beiname „von der heiteren Seite“ sollte den besonderen Sinn meines Vaters für Humor zum Ausdruck bringen.
Nur bei außerordentlichen Anlässen waren auch Frauen und Kinder zugelas-
sen. Als ich zum ersten Mal einer festlichen Versammlung beiwohnte, wurde meine
Mutter als „Burgfrau“ und ich als „Knappe Pitaval“ vorgestellt. Die schlaraffische
Begrüßung „lulu“ war mir vorher eingeprägt worden. In meiner Aufregung ver-
wechselte ich das mit einem anderen körperlichen Vorgang und begrüßte alle mit
„aa“.
Die humorvollen Vorträge, die mein Vater hielt, trug er uns zur Probe zu Hause
vor, wobei er kritische Bemerkungen meiner Mutter gerne zur Kenntnis nahm.
Oft lauschten wir auch dem ausgezeichneten Klavierspiel meines Vater und den
vielen selbst erfundenen Geschichten, die er uns anlässlich sonntägiger Spaziergänge, meistens zum Besuch von Großmama Grünbaum in der Radetzkystraße,
erzählte. Die Bemühungen, mich durch eine Reihe von unglückseligen Klavierfräu-
leins die Kunst des Klavierspielens und durch eine eigens angestellte Madame die französische Sprache zu lehren, verliefen nicht sehr erfolgreich, was ich noch heute bedaure.
Religiös wurden wir insofern erzogen, als uns Nächstenliebe und Gottesgläubig-
keit eingeprägt wurden. Aber es handelte sich um keinen konfessionell bestimmten
Gott. Allabendlich beteten wir zwei Gebete: „Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll
niemand drin wohnen als Gott allein“ und „Müde bin ich, geh’ zur Ruh, schließe meine Augen zu, Vater lass die Augen Dein, über meinem Bette sein.“
Ansonsten feierten wir die allgemeinen katholischen Feste, freuten uns auf den
herrlich beleuchteten Christbaum und die vielen Geschenke. Zu Ostern gab es eine
Ostereierjagd. Wir aßen leidenschaftlich gern jüdischen Matzes7, aber legten uns
Schinken drauf.
Nur ein- oder zweimal bestand mein Vater darauf, das jüdische Pessachfest zu
feiern, da er meinte, dass die Geschichte der Befreiung der Juden aus der ägypti-
7
Matzes, auch ungesäuertes Brot genannt, ist ein dünner Brotfladen, der während des Pessachfestes gegessen wird.
kindheit
schen Sklaverei zu unserer Bildung gehöre. Den schönen jüdischen Tempel in der
Seitenstettengasse, entworfen von dem Biedermeier-Architekten Kornhäusel, habe ich nur wenige Male aus Anlass von Hochzeiten gesehen.
Die Zugehörigkeit zum Judentum wurde mir in meiner Kindheit im Rahmen der
liberalen Lebensweise meiner Eltern, die Menschen aus allen Glaubensgemeinschaften einschloss, nie bewusst. Eine Ausnahme war unsere Köchin Toni. Sie war eine äußerst fromme Katholikin, die täglich in der Morgendämmerung zur Kirche
ging. Offensichtlich fühlte sie sich, wegen einer niemand näher bekannten „Jugendsünde“, zur Bekehrung eines Judenkindes verpflichtet und wollte nun durch mich
ihr Seelenheil wiederfinden. Sie erschreckte mich mit fürchterlichen Geschichten
über die Folterung von Jesus Christus durch die bösen Juden und verwirrte mich
einigermaßen. Als Folge sprach ich ein zusätzliches Abendgebet: „Lieber Gott, wer
immer Du auch bist, der Gott der Katholiken, Protestanten, Juden oder Mohamme-
daner, bitte schütze mich und gib Acht, dass nichts, aber schon gar nichts passiert.“ Politisch war mein Vater zweifellos ein Liberaler, aber auch ein glühender Ös-
terreich-Ungarischer Patriot. 1914 erregten sich die Familiengemüter über die Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajevo. Als Elfjähriger stand ich
mit meinem Vater vor dem neu errichteten Kriegsministerium (heute nennt man
es neutralerweise Ministerium für Landesverteidigung) und erprobte meine La-
teinkenntnisse an dem Motto, das den Giebel dieses Gebäudes ziert: „Si vis pacem
para bellum“, wenn Du den Frieden willst, bereite den Krieg vor. Was mir ungefähr so vorkam wie: „Wenn Du Schläge kriegen willst, dann sei schlimm.“ Dann kam der historische Augenblick, in dem die Ablehnung des österreichischen Ultimatums
durch Serbien und der Ausbruch des Krieges verkündet wurden. Das Volk schrie:
„Hoch Österreich, Serbien muss sterbien.“ Und wir riefen begeistert mit.
Mit Kriegsausbruch änderte sich die behagliche Lebensweise meiner Eltern
schlagartig. Bis dahin begann der Tag, indem Papa und Mama ihr Frühstück im Bett serviert erhielten, dann an dem großen Marmortisch im Schlafzimmer langsam
Toilette machten, wozu sie sich des in großen Krügen herbeigetragenen heißen und
kalten Wassers bedienten, dann sich ebenso gemächlich ankleideten (beim Einschnüren des Mieders musste das Stubenmädchen helfen), worauf sich Papa nach
sorgfältigem Ablegen der Schnurrbartbinde endlich gegen 10.00 Uhr vom Schlaf-
zimmer in sein Büro begab, um dort in Seelenruhe einige Briefe seiner Sekretärin
Betty Singer (jetzt Betty Berg) zu diktieren.
Regelmäßig beobachteten wir, an die Gitterstäbe unserer Kinderzimmerfens-
ter gepresst, unseren Papa bei seinen Plädoyers im genau gegenüberliegenden
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Gerichtssaal des Wiener Handelsgerichtes. (In jenem Saal, in dem ich mich 1967
wegen der Beschuldigung der ungebührlichen Titulierung als Architekt zu verantworten hatte.) Nach dem gemeinsamen Mittagessen zu Hause begab sich Papa regelmäßig ins nahe Cafe „de l’Europe“ am Stephansplatz, um seine gesellschaftlichen
Kontakte zu pflegen. Bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen er mich mitnahm,
fand ich heraus, dass er dort Tarock und Billard spielte. Vom Kaffeehaus zurückge-
kehrt, erledigte er Korrespondenz oder besuchte Klienten. Voller Stolz ging ich mit diesem eleganten Herrn – steifer schwarzer Hut, Stehkragen und Spazierstock – zu
Besprechungen ins Carltheater. Während Papa mit Direktor Siegmund Eibenschütz
verhandelte, saß ich im verdunkelten Zuschauerraum und folgte aufgeregt den Proben für die damals beliebtesten Operetten „Rastelbinder“ und „Walzertraum“.
Damals erwachte ohne Zweifel mein Interesse am Theater. Ich wurde berühm-
ten Künstlern vorgestellt. Einmal sorgte ich für großes Gelächter, als ich anlässlich
eines Kusses von der blutjungen Soubrette Mizzi Zwerenz ausrief: „Von einer alten
Dame lasse ich mich nicht küssen!“
Die Liebe zum Theater wurde noch gesteigert durch Besuche von Oper, Burg-
und Volkstheater.
Tagsüber waren wir Kinder gewöhnlich der Aufsicht des Stuben- oder Kinder-
mädchens überlassen. Täglich legten wir den kurzen und damals völlig gefahrlosen
Weg über die breite Ringstraße zum Kinderspielplatz im Stadtpark zurück. Wie viel
mehr Freude und Freunde hatten wir in diesem Park als später meine Kinder in der
wohlgepflegten, meist auch mit Swimming-Pools ausgestalteten Isolierung eines Gartens in Los Angeles.
Noch vor dem Einschlafen spielten meine Schwester und ich Stegreiftheater mit
verteilten Rollen. Ich war Entwerfer und Verkäufer von Beleuchtungskörpern und
„Ischl“ die Kundin mit extravaganten Wünschen. Ich beschrieb ihr die fantastischsten Modelle, sie kritisierte und wollte alles anders.
Nach dem Gutenachtkuss unserer Eltern gingen diese „drah’n“, wie man damals
sagte (ein Wort, das von der Walzerdrehung stammt). Dies bedeutete, dass sie mit
Freunden aufbrachen, das künstlerische und vergnügliche Nachtleben der Haupt-
und Residenzstadt Wien in vollen Zügen zu genießen: Theater, Konzerte und hin-
terher Restaurant, Kaffeehaus oder Weinstube.
An Sonn- und Feiertagen der warmen Jahreszeiten unternahmen wir mit Papa,
der begeisterter Bergsteiger war, Wandertouren in der Umgebung Wiens. In der
kalten Jahreszeit kamen wir ins Haus der Familie Lemberger, mit der meine Eltern
engst befreundet waren, zu Besuch. Die Erwachsenen gingen aus, wir fünf Kinder
kindheit
– Poldi, Hedi, Vally Lemberger, meine Schwester und ich – verbrachten höchst vergnügliche Nachmittage.
Mit verteilten Rollen spielten wir Staat. Aus Papierzetteln machten wir Geld. Je-
der spielte eine festgesetzte Rolle. Poldi war Theaterdirektor, Hedi Trafikantin, ich
gab eine Zeitung heraus, die Hedi verkaufte, Luise und Vally wechselten ihr Aufga-
bengebiet. Sogenannter „Tee“ wurde serviert: Heißes Wasser, über das Schokoladepulver gestreut ist. Mit einem alten Löffel nehmen wir ihn ein, der vom vielen
Putzen ein Loch hat, sodass der „Schokolade-Tee“ immer durchrinnen konnte. (Zu
meinem 70. Geburtstag habe ich von Hedi eine Nachahmung dieses durchlöcherten
Löffels in Silber erhalten.)
An dieses „Staat“-Spiel unserer Kindheit dachten wir noch später häufig, als wir
alle schon in den verschiedensten Staaten der Welt verstreut waren. Vally heira-
tete zum Entsetzen ihres sehr jüdisch eingestellten Vaters den „Goi“ (Nichtjude)
Willy Steiner und kam über Frankreich, Spanien nach Mexiko, Hedi verheiratete
sich in New York mit dem hervorragenden Musikwissenschafter und Verwandten
des Philosophen Wittgenstein, Felix Salzer, Luise starb im Alter von fünfundfünfzig
Jahren an Krebs in Los Angeles, ohne jemals aufzuhören, literarisch tätig zu sein,
was vielleicht in dem Zeitungsherausgebertum der Kindheit schon angelegt war.
Fest steht jedenfalls, dass aus Poldi, dem Theaterdirektor unseres kindlichen Spiels, der große Leopold Lindtberg8 wurde.
Zum alljährlichen Rhythmus gehörte die Sommerreise zu den Verwandten mei-
ner Mutter nach Deutschland. Kostenbewusst fuhren wir mit der Bahn 3. Klasse, aber standesbewusst mit weißen Handschuhen ausgestattet. Zuerst ging es nach
Berlin, dann nach Hamburg, von dort nach Eutin in Schleswig-Holstein und zuletzt an die Nordsee.
In Berlin besuchten wir die Vetter der Mutter, die Familie Fehr. Selmar Fehr war
Generaldirektor der Deutschen Bank. Die Eleganz des Lebensstils mit Chauffeur
und großer Dienerschaft beeindruckte mich tief. Von den drei Kindern traf ich spä-
ter nur Rudi in Los Angeles wieder, der als „schwarzes Schaf“ der Familie schon
frühzeitig nach Amerika durchbrannte, weil er sich mehr für Jazz-Klänge als für
Banknoten interessierte. Als er es zum Produktionsleiter der Filmgesellschaft Warner Brothers brachte, erwies sich der verlorene Sohn als Familienretter. Er konnte
8
Der 1902 in Wien geborene Leopold Lindtberg emigrierte in die Schweiz, wo er als Regisseur am Schauspielhaus Zürich arbeitete. In den Sechzigerjahren kam er nach Wien zurück. Er war Professor am Reinhardt-Seminar, dann Leiter der Filmschule an der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien und 1968 Direktor des Schauspielhauses Zürich.
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seine Mutter Lucie und seinen Bruder Gerd aus dem Berlin des Nationalsozialis-
mus herausholen. Sein Vater Selmar starb in Berlin kurz vor Kriegsausbruch.
In Hamburg besuchten wir die Brüder meiner Mutter, den ernsten Mediziner
Richard, den lustigen Rechtsanwalt John sowie den jüngsten von allen, Herbert, der kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges nach Amerika ging, sich dort Harry
Lowry nannte und mir in Amerika sehr behilflich war.
Von Hamburg ging es in die schleswig-holsteinische Stadt Eutin, jener Bilder-
buch-Kleinstadt inmitten einer an die Seenlandschaft der Schweiz gemahnenden
Landschaft. Dort stand der Ahnensitz meiner Mutter mit einem Garten, der von der Hauptstraße bis zum Bahnhof reichte. Dort wohnte und regierte „Tante Jenny“, eine
liebenswerte, humorvolle, aber knausrige alte Jungfer. Ihre altmodische Kleidung
und die Gewohnheit, in dem letzten ihrer vielen Unterröcke nach dem Portemonnaie zu angeln, machten sie für uns zu einer komischen Figur.
Jedenfalls hat sie das Energiesparen, das in den späten Siebzigerjahren des 20.
Jahrhunderts zum Motto wurde, vorweggenommen. Elektrisches Licht durfte nicht
angedreht werden, solange die Lichtreklame des ungefähr zweihundert Meter ent-
fernten Kinos noch brannte. Das neuzeitliche Badezimmer mit Wasserklosett, das
Vetter Selmar Fehr spendiert hatte, durfte nur während seiner kurzen Besuche benutzt werden, ansonsten mussten wir auf die sechssitzige Latrine, damit der wert-
volle Gartendünger nicht verloren ging.
Eutin kam für uns Kinder den Vorstellungen vom Schlaraffenland sehr nahe. Im
Garten gab es Hühner, Beeren, Gemüse, Obst aller Art. Straßenhändler brachten
Gebäck und frische Fische. Wir hatten Wiesen zum Tollen, Gebüsch zum Verstecken,
Bäume zum Klettern. An lauen Sommerabenden promenierten die Erwachsenen
in schöner Kleidung am Korso der Hauptstraße, wir Kinder trugen bunte, erleuch-
tete Lampions vor uns her. Noch immer klingt mir die Melodie „Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne“ im Ohr, und die Kerzen der Lampions flimmern wie eine Glühwürmchen-Parade vor meinem Auge.
In diesem Haus, das von Urgroßvater Nathan, damals Bürgermeister von Eutin,
erbaut worden war, versammelten sich während des Sommers die Nathans aus
Paris, die Levis aus Hamburg, die Fehrs aus Berlin und die Grünbaums aus Wien.
Für Papa war das ein bisschen zu viel Familie. Er kam erst für die letzten Wo-
chen, um mit uns nach Westerland auf der Insel Sylt zu übersiedeln.
In Westerland tummelten wir uns auf dem weiten Sandstrand, bauten Burgen
und sahen, wie die hungrigen Wellen der Flut sie wieder auffraßen, suchten Muscheln, schön geformte Steinchen und ergötzten uns zu Mittag mit frisch gefange-
kindheit
nen Hummern. Um eine kleine Jausenstation, in der es friesische Sandkuchen gab, zu erreichen, fuhren wir in den schneeweißen Waggons der kleinen Eisenbahn, die bedächtig die Insel durchkreuzte.
Wo immer ich diese Kinderjahre verbrachte, in Wien, Eutin oder am Meer, waren
sie erlebnisreich. Vielleicht, weil es zum Unterschied von heute weder Radio noch
Fernsehen, weder Autos noch Flugzeuge gab. Mein Vater erlaubte nicht einmal ein Grammophon, weil er dieses für vulgär hielt. Statt unterhalten zu werden, war man gezwungen, sich selbst etwas einfallen zu lassen.
Während meiner Gymnasialzeit fiel mir offenbar zu viel anderes ein, sodass ich
in verschiedenen Fächern Nachhilfeunterricht brauchte. Mein Vater war enttäuscht
von mir, wenn ich schlechte Noten nach Hause brachte. Zwar hielt mir meine Mutter
vor, dass mein Papa immer Vorzugsschüler gewesen sei, was mich aber eher entmutigte, als anzuspornen. Aber als Großmama Grünbaum mir anvertraute, dass ihr
lieber Sohn einmal eine Klasse wiederholen musste, waren meine Minderwertigkeitsgefühle behoben.
In meiner Berufswahl beriet mich mein Vater so: „Was Du studieren willst, über-
lasse ich vollkommen Dir, nur eines will ich nicht, dass Du Rechtsanwalt wirst. Ich
halte nämlich nichts davon, wenn Söhne in die Fußstapfen ihrer Väter treten.“ Bemerkenswert ist, dass ich etwa 35 Jahre später meinem Sohn Michael mit denselben Worten davon abriet, Architekt zu werden. Daraufhin wurde er Rechtsanwalt.
Warum ich Architekt wurde, soll in einem späteren Kapitel erklärt werden. Die
Behauptung meiner Mutter aber, dass ich eine Vorliebe für die Architektur schon
als kleines Kind gezeigt hätte, weil ich so gern mit Bausteinen spielte, geht völlig
daneben. Wenn ich als Kind irgendeinen Traumberuf hatte, dann den des Zucker-
bäckers, einfach weil ich leidenschaftlich gerne Torten mit Schlagobers aß, zu dem
ich als Kind immer „Obersschlag“ sagte.
Der wirklich erste Anstoß zur Architektur kam im Realgymnasium während des
Freihandzeichnens. Bis dahin tadelten alle meine Lehrer, dass ich keinen geraden
Strich ziehen könne (was sich besonders in der Kurrent-Schönschrift nachteilig aus-
wirkte). Ich wurde davor gewarnt, einen Beruf zu ergreifen, in dem man zeichnen müsste. Erst mein Zeichenlehrer im Realgymnasium, Professor Ludwig Rainer, ein
liebenswürdiger, genialer Mann (sein Sohn ist der österreichische Architekt Prof. Roland Rainer) dachte anders. Schon in der ersten Stunde sollten wir zeichnen oder
malen, was wir geträumt hätten. Ich aquarellierte eine ziemlich wilde, abstrakte Kom-
position. Sein Urteil: „Junger Mann, Sie haben Phantasie, Sie haben Talent, Sie sollten
Architekt werden!“ Von da an wurde der Zeichenunterricht mein Lieblingsgegenstand.
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Professor Rainer ließ übrigens seine Schüler schon damals Klänge und Rhyth-
men ins Bildhafte übertragen. Während ein Kammermusikorchester auf dem Podium des Klassenzimmers musizierte, sollten wir malen, was wir hörten. Dann
forderte er die Musiker auf, zu spielen, was wir malten. Ein Pionier moderner Musik- und Malerziehung.
Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges verdüsterte sich das Leben. Restriktionen
zwangen zu Einschränkungen in der Lebenshaltung. Für uns Kinder am fühlbars-
ten war der Verlust der Ferienreisen nach Norddeutschland. Trotzdem gab es Ferien, wenn auch an immer näher gelegenen Orten: Seeboden, Attersee, Edlach an der
Rax, Weidling-Wurzbachtal an der Stadtbahn. Den Eltern bereiteten die Kriegsberichte größere Sorgen.
Mein Vater legte sein ganzes Vermögen in Kriegsanleihen an. Meine Mutter ging
häufig zum Hotel „Imperial“, wo die Damen der Gesellschaft für die Soldaten an der Front Socken und Hauben strickten, „Scharpie“9 für Wundverband zupften
und Zigaretten stopften. Ich schrieb patriotische Gedichte, wie „Hurra, hurra, fürs
Vaterland“ und „Wir müssen und wollen siegen“, die sogar im Eutiner Lokalblatt abgedruckt wurden. Papa verfasste das Theaterstück „Im Schützengraben“, das
wir während eines Familienaufenthaltes in Seeboden am Attersee im Gasthaussaal
„Häuptel“ aufführten. Ich hatte die Rolle eines österreichischen Soldaten inne.
Einmal reiste Papa nach Ungarn und brachte aus diesem Teil der Monarchie,
der scheinbar nie unter Nahrungsmangel litt, eine wahrhaftige Semmel mit. Wir
zerschnitten sie feierlich wie eine Torte und genossen die altbackene Semmel wie eine Delikatesse.
1916 beobachteten wir von den Fenstern des Geschäftssitzes des Herrn Lem-
berger in der Rotenturmstraße den Leichenzug Kaiser Franz Josephs I. Besonders
rührte mich ein kleiner blonder Knabe, der brav hinter dem Sarg hermarschierte.
Es war Kronprinz Otto Habsburg zwischen Kaiser Karl und Kaiserin Zita.
Gegen Kriegsende, im Sommer 1918, grassierte die spanische Grippe in Wien,
der unter anderem auch die Maler Gustav Klimt und Egon Schiele zum Opfer fie-
len. Die schlechte Ernährung der letzten Jahre hatte auch den Gesundheitszustand
meines Vaters so empfindlich geschwächt, dass er gegen diese Krankheit keinen
Widerstand mehr aufbringen konnte. Dazu kam, dass er sich wahrscheinlich an
den übelriechenden und giftigen Glimmstengeln, die er schon lange anstatt seiner
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Scharpie war ein bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts gebräuchliches Wundverbandmaterial, das aus Fasern bestand, die durch das Zerzupfen von Baumwoll- und Leinenstoffen gewonnen wurden.
zusammenbruch
geliebten Virginia-Zigarren rauchte, vergiftete. Er starb im Alter von erst neunund-
fünfzig Jahren.
Man wollte mich zwingen, ihn nochmals im Sarg zu sehen, wogegen ich mich
sträubte. Ich wollte ihn so im Gedächtnis behalten, wie ich ihn zuletzt sah, ein Buch
von Turgenjew lesend. Nach dem Begräbnis, dessen routiniertes Zeremoniell mei-
nem wahren Schmerz nicht entsprach, zeichnete ich nach einer Fotografie und meiner Erinnerung ein Bleistiftporträt meines Vaters.
Zusammenbruch Mit dem Tod meines Vaters 1918 war nicht nur meine Kindheit endgültig
vorbei, das gesamte politische und gesellschaftliche Gefüge in Mittel- und Osteuropa brach zusammen. Das Vakuum, das durch den Zusammenbruch der „Mittelmächte“ (das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn und ihre kleineren Verbündeten)
entstand, entfesselte einen Sturm, der all die Strukturen der Vergangenheit er-
schütterte oder zerbrach. Der mühsam zusammengekittete Multi-Nationenstaat – die österreichisch-ungarische Monarchie – zerbarst in selbstständige Kleinstaaten.
Der Orkan fegte Formen, die man Jahrzehnte als Symbol der Gesellschaftsordnung betrachtet hatte, hinweg wie welkes Laub. Weggeblasen wurden Kaiser, Könige und
Zaren, der Hochadel, fesche Offiziere, Zylinderhüte. Selbst der stolze Doppeladler
verlor einen Kopf.
Mühsam versuchte man in dem zurückgelassenen Trümmerhaufen die Stücke
zusammenzuklauben. Regime wie Demokratien, Räterepubliken, Militärdiktaturen
entstanden und verschwanden durch Bürgerkriege, Staatsstreiche, Revolutionen.
Die „heile“ Welt des 19. Jahrhunderts, die, wie man nun erkannte, nur eine „scheinheilige“ gewesen war, war dahin.
Wien, einst stolze Metropole der k.u.k.-Monarchie, wurde zur verelendeten
Hauptstadt eines Rumpfstaates. Ihre Straßen und Plätze wurden überflutet von den zerlumpten Gestalten der aufgelösten, geschlagenen Armeen. Verwundete und
aus der Gefangenschaft Zurückkehrende mischten sich unter die von Hunger und
Entbehrungen gezeichneten Zivilisten. Darunter auch jene Aasgeier, die von jedem Elend profitieren: Spekulanten, Schieber, politische Abenteurer.
In Österreich gab es keine blutige Revolution, der „Umbruch“ vollzog sich un-
ter dem Diktat der Siegermächte. Als am 12. November 1918 die „Republik“ ausgerufen wurde, stand ich, eingekeilt in Menschenmassen, vor dem Parlament. Zwei
rot-weiß-rote Fahnen der Republik sollten gehisst werden. Demonstranten aber
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hatten das weiße Mittelstück herausgerissen, um anzuzeigen, dass nicht nur die
Staatsform sondern auch die Gesellschaftsordnung infrage gestellt war. Im Zeichen
dieser Infragestellung kam die neu geborene Republik in der Zeit zwischen den
beiden Weltkriegen nie zur Ruhe.
In dieser Ära des Aufruhrs und der Unsicherheit fiel mir, dem damals Fünfzehn-
jährigen, die Rolle als Familienoberhaupt zu. Unsere finanziellen Verhältnisse waren trostlos. Meines Vaters beträchtliches Barvermögen, etwa zweihunderttausend
Kronen, war in Kriegsanleihen angelegt und über Nacht wertlos geworden. Für einige Jahre konnten wir mit Einnahmen aus der Rechtsanwaltkanzlei rechnen, die der frühere Konzipient meines Vaters, Dr. Theodor Müller, übernahm.
Wir klammerten uns an einen zweiten Hoffnungsschimmer. In voraussehender
Weise hatte mein Vater seinen vermeintlich wohlhabenden Freund, Baumeister Edmund Melcher, mit unserer Vormundschaft betraut. Finanziell konnte uns dieser
nicht helfen. Er war aber bereit, mich nach dem Besuch einer vierjährigen Fachschule in seinem Betrieb anzustellen.
Folgende Entschlüsse wurden gefasst: Ich sollte die vierte Klasse des Realgym-
nasiums beenden und ab Herbst 1919 die Höhere Staatsgewerbeschule, Abteilung
Hochbau, besuchen. Meine Schwester kam in eine Schule für Nähen und weibliche
Handarbeiten. Das Hauspersonal wurde ab sofort entlassen, die Büroräumlichkeiten wurden an Herrn Dr. Müller, der Salon und das Mädchenzimmer untervermietet. Am schmerzhaftesten bekam meine Mutter die Veränderung zu spüren. Aus
einer verwöhnten Dame wurde sie zur sorgengeplagten Haushälterin. Die Ernäh-
rungslage verschlechterte sich ständig. Mit einem Handkarren zogen wir zu Frachtbahnhöfen und Wohltätigkeitsverteilungsstellen, nur um halbverdorbene Kartof-
feln, Kohlrüben und getrocknete Heringe zu ergattern. Oft aßen wir in öffentlichen
Küchen.
Der erste Nachkriegswinter war der schlimmste. Wir sammelten Papier, Holz-
späne und Abfälle auf den Straßen, um zwei Öfen damit zu beheizen. Einen für die
Untermieter und einen kleinen eisernen Vorsatzofen („Hausfreund“ genannt) für ein Zimmer, in dem wir alle zusammen hausten. Geld für die Straßenbahn gab es
keines. Auch lange Wege, wie zur Schule meiner Schwester im achten Bezirk, wurden zu Fuß zurückgelegt.
Später wurden wir Kinder von einer amerikanischen Hilfsaktion mit Kakao,
Konserven und Kondensmilch versorgt.
Langsam gewöhnte man sich an alles. Ständiges Schuften und angeborener Op-
timismus halfen meiner Mutter ihren Schmerz zu vergessen und alle Schwierigkei-
degradierung
ten in bewundernswerter Weise zu meistern. Meine Schwester etablierte sich nach ein paar Jahren als Hausschneiderin und war gut beschäftigt.
Nur meiner eigenen Zukunft sah ich mit Missbehagen entgegen. Die Entschei-
dung, eine Fachschule zu besuchen, um später in einem Baumeisterbetrieb ange-
stellt zu werden, ersparte mir zwar jene so lästige „Qual der Wahl“, mit der sich
junge Menschen meines Alters im Allgemeinen konfrontiert sehen, andererseits eröffnete sie keine einladenden Perspektiven. Die Chance, Bauzeichner, Bautechniker,
ja sogar eines Tages Baumeister zu werden, erschien mir wenig verlockend. Meinem Ziel, Architekt zu werden, glaubte ich damit keinen Schritt näherzukommen.
Degradierung Wie sehr ich doch diese Staatsgewerbeschule gehasst habe. Wie oft ich
gewünscht habe, sie würde niederbrennen oder ein schrecklicher Schneesturm
würde den Schulweg unmöglich machen. Nichts dergleichen geschah. Ich fühlte mich degradiert und gedemütigt.
Herausgerissen aus der intellektuellen und liberalen Atmosphäre des Realgym-
nasiums, aus dem Verband vieler intelligenter Freunde, aus der Obhut vieler strenger, aber im Allgemeinen gerechter Professoren empfand ich mich in ein minder-
wertiges Milieu versetzt. Meine Mitschüler waren Söhne des Kleinbürgertums mit engem geistigem Horizont. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich als
verachteter Außenseiter. Sowohl Lehrer als auch Mitschüler waren etwas, das mir
bis dahin nicht untergekommen war, nämlich rabiate Antisemiten. Sie sympathisierten alle mit der Nationalistischen Großdeutschen Partei, einer noch unbedeu-
tenden Vorläuferin der späteren Nazis.
Protzerei über Trinkgelage und Heldentaten bei der Verführung von Mädchen,
wüste Beschimpfung der „Sozis“, Tiraden gegen die Republik und die Demokratie waren an der Tagesordnung. Ihr Ehrgeiz beschränkte sich darauf, als technische Hilfskräfte in den Betrieben ihrer Väter oder anderswo unterzukommen.
Außer mir gab es nur noch einen Schüler jüdischer Abstammung, der zu mei-
nem lebenslangen engen Freund, später zu meinem Mitarbeiter und Partner werden sollte, Rudolf Baumfeld. Wir beide wurden fast täglich geprügelt oder auf
andere Weise misshandelt. „Hobeln“, das Schleifen eines Mitschülers über zwei
ungleich hohe Zeichentischkanten, war ihre Spezialität. In dieser Horde der sich
als stolze Germanen Gebärdenden gab es eine besondere Ausnahme. Der Arier
Karl Langer, der nicht nur der weitaus klügste und gebildetste Klassenkamerad
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war, sondern zu unserem Glück auch der größte und stärkste, trat oft als unser Beschützer auf.
Von den etwa dreißig Mitschülern habe ich später nie mehr etwas gehört. Nur
Rudi, Karl und ich bewarben uns nach Abschluss der Schule um die Aufnahme in
die Akademie der bildenden Künste Wien und bestanden die Aufnahmeprüfung.
Ein anderer Mann, der nach einer ähnlichen Schule auch Architekt werden wollte,
war etwa fünfzehn Jahre vor uns bei dieser Prüfung angetreten, aber leider durchgefallen: Adolf Hitler, der sich für diesen Durchfall an der Welt bitter rächte.
Wir drei Freunde sind auch die einzigen aus der Klasse gewesen, die Österreich
1938 verließen, und die angesehene Architekten wurden. Rudi und ich in den USA,
Karl Langer in Brisbane, Australien, wohin er mit seiner jüdischen Frau auswanderte.
Auch Professoren behandelten Rudi und mich als Eindringlinge, im Allgemeinen
schlecht und ungerecht. Es gab nur zwei wirklich lobenswerte Ausnahmen: Prof.
Stutterheim, er entstammte einem alten Adelsgeschlecht, der Architekturentwurf
lehrte und von dem ich, zum Entsetzen seiner Kollegen, immer die Note „vorzüglich“ erhielt. Vorzüglich befand auch Prof. Olexinsky meine Leistungen in der deutschen
Sprache. Es bereitete ihm ein geradezu teuflisches Vergnügen, den „Herrn Germanen“, wie er sie nannte, vor Augen zu führen, dass sie alle nicht deutsch s chreiben
und sprechen können. Er ließ meine Aufsätze vorlesen und Gedichte durch mich deklamieren. Das erhöhte nicht meine Popularität bei den Mitschülern.
Auffallend schlecht ging es mir in dem Nebenfach Praktische Übungen im Mau-
rer-, Zimmerer- und Bautischler-Handwerk. Eine meiner Schwierigkeiten bestand
darin, dass ich wegen meiner kleinen Hände einen Ziegelstein nicht fachgerecht
„schneiden“ konnte, ohne ihn mit dem Knie zu stützen. Mein Lehrer, ein ausgesprochener Antisemit, wollte mich deshalb durchfallen lassen.
Unglücklich über meine schulischen Erlebnisse, wendete ich mich in der Freizeit
anderen Aufgaben zu, der Politik, dem Theater und dem Verfassen von Gedichten.
Als eines davon sogar in einer großen Tageszeitung erschien, hatte dies unangenehme Konsequenzen. Kurz nach Beginn des Studienjahres 1922 verkündete der
Rektor, dass ein ernster Fall von Disziplinlosigkeit Anlass für die Einberufung einer
Schulversammlung sei. Der Schüler Viktor Grünbaum hätte ein Gedicht veröffent lichen lassen, das als Beispiel für die Verrottung jugendlicher Gesinnung anzusehen
wäre.
Das Gedicht, das die Aufregung verursachte, lautete:
degradierung
DIE BUNTEN SCHEIBEN
„Warum ist Krieg auf der Erde, Vater?
Und warum lieben nicht die Menschen einander?“
„Komm mit und ich will es dir zeigen.“
Im Turme der Kirche standen die beiden
vor einem buntbemalten Fenster.
„Sieh durch diese Scheibe, mein Sohn, welche Farbe haben die Bäume?“
„Rot, Vater!“ –
„Und nun durch diese?“ –
„Blau sind die Bäume, mein Vater!“
„Vor bunten Scheiben, mein Sohn, stehen die Menschen Und sie streiten darüber,
ob die Bäume rot oder blau sind!“
Den meisten wird dieses Gedicht, wie mir damals, als Ausdruck einer humanen
Geisteshaltung erscheinen. Der deutsch-nationalistische, revanchistische und antisemitische Klüngel bewertete es, in Vorwegnahme der Nazizensur, als „zersetzende
Schmutz- und Schundliteratur“, da es, im Grundton pazifistisch, wagte, die Sicht durch die blaue Scheibe nicht für die einzig richtige Weltsicht zu bezeichnen, denn
blau war die Farbe der damaligen Großdeutschen Partei.
Man hatte meinen sofortigen Schulausschluss erwogen, der im Wiederholungs-
falle auch ausgesprochen werden würde.
Nach diesem Ereignis war ich merkwürdigerweise von meinen Kollegen höher
geschätzt. Als im Zuge der Schulreform die Schüler das Recht erhielten, Interessen-
vertreter zu ernennen, wurde ich von diesen merkwürdigen Antisemiten als Klassenvertreter gewählt, weil ich die Klasse, wie sie meinten, als Redegewandtester
am besten vertreten könnte. Ich bekämpfte nun meinerseits das Gefühl der Degradierung und konzentrierte mich voll auf die gefürchtete Matura, die ich im Sommer
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1923 bestand. Die „Reife“ war mir nun schriftlich bestätigt. In welcher Beziehung, so fragte ich mich, war ich nun „reif“?
Über griechische und römische Stilelemente wusste ich gründlich Bescheid. An
einem Kreuzgewölbe aus Ziegeln und der Errichtung des notwendigen Lehrge-
rüstes hatte ich eigenhändig gearbeitet. Ich wusste nun, wie man mit Reißschiene,
Dreiecken und Zirkeln, Grundrisse, Aufrisse, Schnitte und Perspektiven säuberlich mit Bleistift oder Tusche und Reißfeder zu Papier bringt.
Durch Stucken und Büffeln hatte ich mein Gedächtnis gestärkt und dadurch ge-
lernt, wie man lernt, wenn auch das, was man lernte, sich zum größten Teil als
unverwendbar erweisen würde. Erziehung im Sinne der Vermittlung weiten und
tiefen Wissens hatte mir die Schule nicht geboten. Möglicherweise ist dies institutionalisiertem Unterricht überhaupt nicht möglich und dem weiteren Leben vorbehalten.
Über Architektur im Sinne einer schöpferischen und der Gemeinschaft verant-
wortlichen Tätigkeit habe ich in der Schule absolut nichts gelernt. Mir wurden lediglich einige praktische Werkzeuge, die im Bauwesen von Nutzen sein könnten,
zur Verfügung gestellt.
Vereinzelte Versuche, der Vision, Architekt zu werden, näherzukommen, unter-
nahm ich auf eigene Faust außerhalb des Schulbereiches, zum Beispiel durch die
Teilnahme an einem Wettbewerb für eine große städtische Wohnanlage in der Lassallestraße10 zusammen mit Rudi Baumfeld und Karl Langer. Wir ernteten einen
Preis und gute Besprechungen in Zeitungen. Dass einer unserer Professoren, der
ebenfalls teilgenommen hatte, leer ausging, hat unsere Freude nur noch erhöht.
Ich las Fachbücher und Schriften, besuchte Vorträge und Ausstellungen über neue
Strömungen in der Baukunst, die in der Schule total totgeschwiegen wurden: das
Deutsche Bauhaus, die Wiener Werkstätte, der Sezessionsstil und die Werke der großen Architekten Le Corbusier, Otto Wagner und Adolf Loos.
Dass ich noch immer von der Architektur träumte, manifestierte sich auch im
Entwurf eines großartigen Briefkopfes für den Kurs in Geschäftskorrespondenz. Rudi und ich nannten uns „Grünbaumfeld, Architekten“, noch nicht ahnend, dass
wir etwa dreißig Jahre später als Partner einem Architekturbüro angehören würden.
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Wahrscheinlich handelt es sich hier um den Lassallehof in der Lassallestrasse 40–44, der zwischen 1924 und 1926 von den Architekten Hubert Gessner, Hans Paar, Fritz Schlossberg und Fritz Waage entworfen wurde.
bautechniker
Bautechniker Architekt und Stadtbaumeister Edmund Melcher hielt sein Versprechen
und stellte mich in seinem Betrieb im neunten Bezirk, Porzellangasse 2 an. Ich bezog
ein Gehalt, das anfangs niedrig war, aber in den neun Jahren, die ich bei ihm beschäf-
tigt war (1923 bis 1932), ebenso wie die Verantwortung schrittweise wuchs. Das löste
die finanziellen Probleme, denn die bescheidenen Zuschüsse, die wir aus der Nach-
folgeschaft der Anwaltskanzlei erhielten, gingen zu Ende. Die Hoffnung dagegen,
nun wirklich mit Architektur in Berührung zu kommen, erfüllte sich in keiner Weise.
Der stolze Titel meines Vormundes war, da damals in Österreich ungeschützt,
völlig bedeutungslos. In Wirklichkeit führte er einen gewerblichen Zwergbetrieb, der wahrscheinlich in der guten alten Zeit vor 1914 bessere Tage gesehen hatte.
Jetzt bestand er als Anhang zur Privatwohnung nur mehr aus drei Räumlichkeiten,
von denen einer für die Buchhaltung, einer als allgemeiner Arbeitsraum und e iner als Büro des Ingenieurs Leo Steiner, der später die Tochter des Chefs heiratete
und auf diese Weise Geschäftsteilhaber wurde, in Verwendung stand. Das Personal bestand aus Herrn Baumeister Melcher, Herrn Ing. Steiner, einer Buchhalterin
Erna, die ich als freundliche Seele im Gedächtnis behielt, Herrn Baumeister Antalik, einem cholerischen, sehr beleibten Herrn der alten Schule, und mir. Später wird
Antalik durch einen jungen Mann, Ing. Kurt Singer ersetzt, mit dem ich mich eng
befreundete, und von dem Zeitpunkt an erledigten wir, zusammen mit Ing. Steiner, eigentlich alle Arbeiten.
Der nicht architektonische Charakter des Geschäftes veranlasste mich sehr bald
zu einem heroischen Anlauf, meine Weiterbildung als Architekt zu sichern. Ich be-
warb mich um die Aufnahme in die Meisterschule des Professors Peter Behrens11
an der Akademie der bildenden Künste Wien. Nachdem ich viele Zeichnungen vor-
gelegt und die mündliche Aufnahmeprüfung bestanden hatte, bat ich meinen Chef, die Hälfte meines Tages zum Besuch der Akademie verwenden zu dürfen.
Während des Studienjahres 1924/25 war ich Student der Kunstakademie. Dort
fand ich ein ganz anderes Milieu als in der Staatsgewerbeschule. Statt Antisemitis-
mus herrschte hier die Atmosphäre eines sorglosen Bohemien-Künstlerstudios, in
dem die Söhne aus reichen Häusern sich mehr oder weniger eifrig mit Architektur
spielten, wobei der Hauptakzent auf dem Ästhetischen und Künstlerischen lag. Zu
meiner Enttäuschung gab es aber keine Lehrkurse. 11
In der Nachfolge von Otto Wagner leitete Peter Behrens die Meisterschule für Architektur an der Akademie der bildenden Künste Wien von 1922 bis 1927.
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Professor Behrens, der in Deutschland einen großen Atelierbetrieb führte, be-
suchte seine Meisterklasse nur einige Male im Jahr, ansonsten ließ er sich von sei-
nem farblosen Assistenten, einem Herrn Alexander, vertreten.
Ein wichtiger Bestandteil der studentischen Tätigkeit waren Studienreisen. Auf-
fallend war, dass sie immer in gute Weingegenden führten. Ich hatte für diese zweifellos lustigen Ausflüge weder Zeit noch Geld. Dagegen beschäftigte ich mich lieber
mit einem Entwurf, dessen soziale Aufgabenstellung mich reizte. Das Studienprojekt sollte ein Sport-Versammlungs-Zentrum einer Gewerkschaft werden, etwas, das man
heute als Haus der Begegnung bezeichnen würde. Mich reizte das Zusammenfügen
verschiedener menschlicher Freizeittätigkeiten als Ausdruck der Multifunktionalität.
Darüber hinaus stellte ich es mir romantisch auf der Kuppel eines Hügels liegend vor. Anlässlich eines seiner seltenen Besuche beugte sich der „Meister“ auch über
meine Zeichnungen und Modelle und gab einige kritischen Bemerkungen und Änderungsvorschläge von sich. Als ich bei seinem zweiten Rundgang, noch bevor ich
Gelegenheit hatte, etwas zu korrigieren, zu hören bekam: „Sehen Sie, junger Mann,
jetzt ist es schon bedeutend besser“, war ich schockiert.
Alles, was ich in dieser Meisterschule übte, war etwas Architektur-Jargon, Per-
spektivzeichnen und Modellbau. Als mir am Ende des zweiten Semesters mein Ar-
beitgeber ultimativ erklärte, ich müsste mich zwischen meinem Posten und der
Akademie entscheiden, war es deshalb kein schwerer Entschluss, das weitere Studium an der Akademie (es wären noch sechs Semester gewesen) aufzugeben. Tat-
sache ist also, dass ich mein akademisches Architekturstudium nie beendet habe.
Dass das Team bei Baumeister Melcher so klein war, hatte den Vorteil, dass es
keine Arbeitsteilung gab, wie es in größeren Büros üblich ist. Ich lernte jede Facet-
te des Baugewerbes kennen, einschließlich jener, für die man in größeren Betrieben Hilfskräfte heranzieht. Fassadenerneuerungen, Renovierungen und statisch
einigermaßen komplizierte Pfeilerauswechslungen für Geschäftsfronten waren
die hauptsächlichsten Aufträge, die wir im Auftrag von Architekten durchführten.
Edmund Melcher war auch gerichtlich beeideter Sachverständiger, bei welcher
Tätigkeit ich ihn durch Besichtigung und Begutachtung des Bauzustandes vieler Gebäude sowie bei der Erstellung von Wirtschaftsberechnungen unterstützte. Bei dem Einblick in das Wohnungselend vieler Zinskasernen der Gründerzeit wurde
mein Verständnis für soziale Probleme geweckt. Ein einziges Mal hatte ich die Ge-
legenheit, eine Villa in Grinzing zu entwerfen, aber wegen der erzkonservativen
Einstellung des Bauherrn habe ich nichts, was man als ein architektonisches Meisterwerk bezeichnen könnte, zustande gebracht.
bautechniker
Eines Tages erhielt die Firma dank der guten Beziehungen Baumeister Melchers
im Rathaus den Auftrag, einen größeren Gemeindebau, mit ungefähr vierhundert
Wohnungen in der Fendigasse, Nähe Margaretengürtel, zu errichten12. Herr Antalik
wurde zum Bauleiter und ich zu seinem Assistenten und Bauschreiber ernannt. Wir
übersiedelten in eine Baracke auf der Baustelle. Herr Antalik, der über beträchtliche praktische Erfahrung verfügte, trieb mit mächtiger Stimme italienische Erdar-
beiter an, die mit ihren von Pferden gezogenen Karren den Aushub des Kellers und der Fundamente besorgten.
Mir war die Lohnverrechnung anvertraut, sodass ich jeden Samstag das in Pa-
piersäckchen eingefüllte Lohngeld austeilte. Einigermaßen peinlich dabei war mir, dass die „Mörtelweiber“, die Frauen, die in Holzbehältern Sand, Wasser und Kalk
zu Mörtel mischten und in Schaffeln auf dem Kopf über die Leitern zu den Maurern
trugen, aber auch viele der älteren Arbeiter darauf bestanden, mir die Hand zu küssen.
Mein Tätigkeitsgebiet vergrößerte sich jedoch beträchtlich, als Keller und Erd-
geschoß fertiggestellt waren, und es zur Ausführung des Obergeschoßes kam. Da
es keine Bauaufzüge gab, war es notwendig, über Leitern die einzelnen Etagen
zu erreichen. Da Herr Antalik wegen seiner Leibesfülle dazu nicht imstande war,
übernahm nun ich die Leitung, was meine praktischen Kenntnisse beträchtlich er-
weiterte. Auch mit dem Architekten, der die Baustelle gelegentlich besuchte, zu
verhandeln, war nun mir überlassen. Er interessierte sich hauptsächlich für die
Fassade und besonders für die ordnungsgemäße Anbringung kleiner keramischer
Zierelemente über den Fenstern.
Nach dem vorgesehenen Zeitraum von drei Jahren wurde ich als Geselle frei-
gesprochen, nach weiteren zwei Jahren gelang es mir schließlich, die schwierige
Baumeisterprüfung abzulegen. Ab nun konnte ich mich „Architekt und Stadtbaumeister“ betiteln.
Der Geschäftsgang der Firma wurde immer unbefriedigender. 1932 teilte Bau-
meister Melcher meinem Freund Singer und mir mit, dass er einen von uns leider kündigen müsse. Die Wahl läge bei uns. Ich ergriff diese Gelegenheit, um mich
selbstständig zu machen, worauf ich mich schon seit Jahren vorbereitet hatte, indem ich nebenbei kleine Projekte, meistens Inneneinrichtungen, selbstständig aus-
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Von den vielen Gemeindebauten am Margaretengürtel, der sogenannten Ringstraße des Proletariats, ist hier wahrscheinlich der in der ersten Bauphase 1920 nach dem Entwurf von Robert Kalesa und in einer zweiten Bauphase 1924/25 nach Hubert Gessner errichtete Metzleinstaler Hof am Margaretengürtel 90–98 gemeint.
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geführt hatte. Gerade zu jener Zeit arbeitete ich daran, eine große Einfamilienvilla
in der Nähe des Praters zu fünf mittelgroßen Wohnungen umzugestalten. Es erfüll-
te mich mit stolzer Genugtuung, einige Wochen nach meiner Entlassung in meiner
Eigenschaft als Architekt die Baumeisterarbeiten an die Firma Melcher und Steiner
vergeben zu können.
Die dritte Dimension Als ich während der schlaflosen Nacht, die der Landung in New York
voranging, hoffnungsvoll am Bug des Schiffes nach den ersten Lichtern des neuen
Kontinents Ausschau hielt, erfüllte mich Dankbarkeit für mein bisheriges Leben.
Mir wurde bewusst, wie sehr meine Kindheit im Zeichen eines lebensfrohen, liberalen und musischen Geistes gestanden war.
Aber es wurde mir auch klar, dass nach dem Tode meines Vaters diese Grund
lage teilweise wie ein Teppich unter meinen Füßen weggezogen worden war. Weder das entbehrungsreiche Leben zu Hause noch die Abrichtungszeit in der Staats-
gewerbeschule noch die Routine meines Angestelltendaseins hatte in den Jahren
zwischen 1918 und 1932 inspirierend gewirkt oder zu meiner geistigen Entwicklung
wesentlich beigetragen.
Deshalb dachte ich in dieser Nacht mit Freude und Dankbarkeit an jene „dritte
Dimension“ meines Lebens, die Sonn- und Feiertage, alle Abende und viele Nächte,
Ferien und müßige Schul- und Arbeitsstunden ausfüllte.
Schon im Alter von dreizehn Jahren wurde ich Pfadfinder. Das brachte Kamerad-
schaft mit sich, Disziplin, Naturverbundenheit, Abhärtung, aber auch die Romantik
von Zeltnächten und Lagerfeuern.
1917 wechselte ich zu einer Pfadfindergruppe, die von einem Klassenkameraden
im Realgymnasium, Edi Jahoda, geführt wurde, und die als progressiv und aufrührerisch galt. Zu den üblichen Tätigkeiten des Knotenknüpfens und Tugend-Pfadefindens kam hier ein revolutionärer jugendlicher Geist hinzu: Diskussionen über das Zeitgeschehen und Kritik an der Monarchie und Antikriegsgesinnung. Zum
Beispiel blieben wir als einzige Pfadfinder-Gruppe einer Parade vor Kaiser Karl I. demonstrativ fern.
Zu den Kantaten, Volksgesängen und Landsknechtliedern mischten sich neue
Freiheitshymnen sozialistischer Herkunft. Die russische Revolution verfolgten wir
mit Begeisterung, die erst später unter dem Eindruck der inhumanen Schauprozesse und grausamen Verfolgungen abflaute.
die dritte dimension
Schließlich legten wir alle äußeren Zeichen des Pfadfindertums ab und wurden
Teil des Wanderbundes13, der ein Bestandteil der sozialistischen Jugendbewegung
war. Der sogenannte Jahoda-Kreis war darin eine kleine Kerngruppe. Zum Unterschied zu den Pfadfindern gab es hier Burschen und Mädchen in völliger Gleichbe-
rechtigung.
In der Wohnung der aufgeschlossenen Jahoda-Familie kam es oft zu schönen
Abenden. Die vier Jahoda-Sprösslinge Edi, Rosi, Mitzi14 und Fritz waren ausgezeichnete Musiker und spielten im Quartett. Leidenschaftlich wurde diskutiert. Über
Schöngeistiges ebenso wie über Politisches.
Häufig waren die Ideen des Josef Popper Lynceus15 unser Thema. Dieser Tech-
niker-Philosoph zog uns in seinen Bann. Visionär propagierte er die sogenannte
allgemeine Nähr- anstelle der allgemeinen Wehrpflicht. Sein Vorschlag lautete, dass alle jungen Staatsbürger verpflichtend für einige Jahre für das Gemeinwohl
zu arbeiten hatten, wodurch alles Lebensnotwendige, wie Nahrung, Behausung, Gesundheitseinrichtungen, der Gesellschaft zur Verfügung gestellt werden sollte.
Für diese „Nährdienstleistung“ bekam jeder Bürger das lebenslange Recht auf sein
Existenzminimum. Befreit vom Zwang zum Broterwerb könnte sich dann jeder der
Muße, dem Sport oder der Kunst widmen. Wer sich nicht mit dem Existenzminimum begnügen wollte, konnte in einem verbleibenden freien Wirtschaftssektor zusätzlichen materiellen Wohlstand erwerben. Als Techniker und Volkswirtschafter
hat Popper Lynceus seine Vision von einer sozial gerechten, von jeder Not befreiten
und daher friedfertigen Gesellschaft mit Berechnungen untermauert. Dieser „realistische Träumer“, wie er sich selbst nannte, hat mich zeitlebens tief beeinflusst.16
Seine Idee wurde zwar bisher nicht verwirklicht, aber der moderne Wohlfahrtsstaat kann als eine Annäherung angesehen werden.
Auch ich melde mich bei diesen Zusammenkünften häufig zu Wort. Mit Vorträgen
über Themen wie „Kunst und Schönheit“ (wobei ich zu beweisen versuchte, dass
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Der sozialistische Wanderbund wurde 1923 in die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs von Ludwig Wagner und Paul Lazarsfeld gegründete „Freie Vereinigung Sozialistischer Mittelschüler“ integriert. Marie Jahoda war in Österreich als engagierte Sozialistin und Sozialpsychologin tätig, gemeinsam mit ihrem ersten Mann Paul Lazarsfeld führe sie u. a. die Studie Die Arbeitslosen von Marienthal (1933) durch. Jahoda verließ Österreich 1936. Sie emigrierte erst nach London, 1945 nach New York und zog in den Fünfzigerjahren wieder nach London. Josef Popper-Lynkeus wurde 1838 in Koln, Böhmen, geboren. Er arbeitete als Sozialphilosoph, Erfinder und Schriftsteller in Wien. Die Bewunderung von Popper Lynkeus bringt Gruen 1979 auch in der Betitelung des Manuskripts für seine Memoiren zum Ausdruck: Er nennt sie „Ein realistischer Träumer“.
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diese Begriffe keineswegs identisch sind), „Das Haus, die Wohnung, die Stadt“, „Das
Bauwerk als Former des Menschen“ und „Die Stadt der Zukunft“. Diese Abende inspirierten mich zu philosophierenden Gedichten, Kurzgeschichten und Satiren, die
ich in den Nächten darauf zu Papier brachte. In den Gedichten versuchte ich meine
Gefühle über die Allmacht der Natur auszudrücken. Die satirischen Skizzen richte-
ten spitze Pfeile gegen den schon damals viel gepriesenen technischen Fortschritt.
„Amerika in Wien“ heißt eine Kurzgeschichte aus dem Jahre 1922, in der alp-
traumhaft die Überflutung Wiens mit Automobilen vorausgesagt wird, und sogar die Großbaustelle zwischen Sezession und Karlsplatz, wie sie dann in den Jahren
1970 bis 1977 bestand. „Rationalisiere dein Heim – Wissenschaft und Eierspeis“ heißt eine andere, über den vollautomatisierten Haushalt, deren prophetische Vorhersehungen eingetroffen sind. Sie nimmt übrigens ein schreckliches Ende.
Im Winter fuhren wir Ski auf einfachen Holzbrettern, die Sommer verbrachten
wir in Lagern, oder wie wir später dazu sagten, in „Kolonien“17, von fünfzig bis siebzig jungen Leuten, in primitivsten Verhältnissen, gewöhnlich am Heuboden eines
Bauernhofes schlafend und, obwohl meist ich der Koch war, bei bester Gesundheit. Man würde diese Lager heute Kommunen nennen. Wir kleideten uns unorthodox
und leger, ließen die Haare lang wachsen, verachteten die bürgerlichen „Untugenden“ wie Trinken und Rauchen und hatten so manches mit der viel späteren Hip-
pie-Bewegung gemein.
Während wir einerseits unsere Naturverbundenheit betonten, waren wir ande-
rerseits begeisterte Bewunderer des großen Satirikers Karl Kraus18, dessen Vorlesungen im mittleren Saal des Konzerthauses wir nie versäumten.
Als leidenschaftlicher Leser verschlang ich wissenschaftliche Werke wie Schlos-
sers zwanzigbändige Weltgeschichte19, ich interessierte mich besonders für utopische Literatur wie zum Beispiel Friedrich Wilhelm Maders Wunderwelten, Ignatius
Donnellys Cäsars Denksäule20 und die Romane von Jules Verne.
17
Mitte der Zwanzigerjahre organisierten die Vereinigung Sozialistischer Mittelschüler (VSM) und die Sozialistische Arbeiterjugend Landaufenthalte für in Städten lebende Jugendliche. Inspiriert von den Ideen der Reformpädagogin Eugenie Schwarzwald und ihrer Zusammenführung von Naturverbundenheit und politischem Engagement organisierten sie auf den sogenannten Ferienkolonien ambitionierte Laientheater. Besondere Bedeutung kam dabei der im Sommer 1925 in Ferlach entwickelten Überarbeitung der Bauernkriege zu. 18 Karl Kraus war einer der bedeutendsten Kulturkritiker des beginnenden 20. Jahrhunderts: Er war Herausgeber der Zeitschrift Fackel, Autor und scharfer Kritiker der lokalen Presselandschaft. 19 Friedrich Christoph Schlosser, Weltgeschichte für das deutsche Volk. Stuttgart 1901–04, 20 Bände. 20 Ignatius Donnelly, Cäsars Denksäule. Eine Geschichte aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Reclam: Leipzig 1893.
die dritte dimension
In den Jahren 1923 bis 1926 kam es zu einer Verbindung zwischen meinen Tätig-
keiten in der Jugendbewegung und meiner alten Theaterleidenschaft. Den Sprechchören, wie sie bei verschiedenen Feiern als dramatische Mittel eingesetzt wurden,
folgten eine Reihe von Freilichtaufführungen, für die ein aufgelassener Steinbruch, der sogenannte G’spöttgraben in Sievering, als Amphitheater diente. Einige von
uns hatten sich zu einer Laienspielgruppe zusammengeschlossen, und wir spielten
für Hunderte Jugendliche Szenen aus den Bauernkriegen und selbstverfasste „Nie-
wieder-Kriegs“-Stücke.21 Aufgrund der Erfolge dieser Freilichtaufführungen wurde
ich vom Verband Sozialistischer Studenten eingeladen, für den ersten Abend des sogenannten Politischen Kabaretts als Berater mitzuwirken. Die Initiatoren dieses
Kabaretts waren die damals prominenten Jugendführer Ludwig Wagner und Paul
Lazarsfeld. (Ludwig Wagner starb verhältnismäßig jung, Paul Lazarsfeld ist ein bedeutender Sozialwissenschafter in Amerika geworden.)
Diese Kabarett-Veranstaltung sollte am 18. Dezember 1926 im Czartoryskischlös-
sel22 im 19. Gemeindebezirk stattfinden, das über einen Saal mit einer Miniatur-
bühne verfügte. Ludwig und Paul träumten zuerst von heroischen, revolutionären
Massenszenen, in denen Lastwagen mit fahnenschwenkenden Proletariern über
die Bühne rollen sollten. Als praktisch denkender Techniker überzeugte ich sie, dass man nicht einmal ein Wagenrad auf die Bühne bringen könnte, sondern dass
sie das Programm auf intime satirische Szenen beschränken müssten, deren Wirksamkeit auf Witz, Geist und Ironie beruhen.
Es kam ein Programm zustande, das teils Figuren und Geschehnisse innerhalb
der sozialistischen Studentenbewegung persiflierte, teils die sozialdemokratische
Parteispitze wegen „reformistischer“ Tendenzen und ungenügender „Revolutionsbereitschaft“ unter Beschuss nahm. So wie heute die Jusos23 standen wir links von der offiziellen Parteipolitik und das brachten wir kabarettistisch zum Ausdruck.
Ich selbst kann mich nicht an viele der Texte erinnern, aber Bundeskanzler Dr.
Bruno Kreisky, der damals Zuschauer war, rief in den Siebzigerjahren zum Gaudi21
Die in den sogenannten Ferienkolonien entwickelten Laienspiele nahmen in kurzer Zeit die Form eines sozialistischen Wandertheaters an, das vor allem historisch-politische Revuen wie z. B. zur Revolution von 1848 oder der Bauernbefreiung inszenierte. Zu den bekanntesten Mitorganisator_innen und Autor_innen dieses politisch motivierten Stehgreiftheaters, das als Vorläufer der Gruppe der Roten Spieler gilt, zählten Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld, Robert Ehrenzweig (später: Robert Lucas), Ludwig Wagner und Hans Zeisel. 22 Das Czartoryskischlössel war das Verbandsheim der VSM-Gruppe des 18. Wiener Gemeindebezirks. 23 Abkürzung für Junge Sozialistinnen und Sozialisten.
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um einer kleinen Tischrunde von Parteifunktionären einen Szenenausschnitt ins Gedächtnis:
Es singt der Chor der Parteiführer:
„Und zum Zeichen,
dass wir die Mehrheit erreichten,
woll’n wir das Rathaus festlich beleichten!“ Es antwortet ein Chor der Jugendlichen:
„Und was tun ma dann und was tun ma dann?“ Chor der Parteiführer:
„Und dann, dann fang’ ma von vorn wieder an!“
Das Außergewöhnliche an dieser Veranstaltung war, dass die auf der Bühne kritisierten Politiker im Zuschauerraum saßen und amüsiert Beifall klatschten: Partei-
führer Otto Bauer, Wiens Bürgermeister Karl Seitz, die Stadträte Julius Tandler und
Hugo Breitner, Nationalrat Julius Deutsch sowie andere profilierte Parteifiguren, an denen es damals keinen Mangel gab.
Ich hatte Regie geführt, soweit dies mit individualistischen Jugendlichen über-
haupt möglich war. Während der Vorstellung sollte ich hinter der Bühne für den
ordnungsgemäßen Ablauf der Auftritte sorgen. Ein Zufall veränderte meine Rolle:
Als Conférencier war ein junger Mann namens Becker engagiert. Zu Beginn sollte er
vor dem Vorhang die Aufführung in witziger Weise einleiten. Hinter dem Vorhang lauschten wir gespannt auf die Reaktion des Publikums, das den Saal zum Bersten
füllte. Als wir Gekicher hörten, waren wir hoch erfreut. Als es sich aber zu unbändigen Lachsalven steigerte, wurden wir beunruhigt. Schließlich fanden wir die Ursache der allgemeinen Heiterkeit. Unser Freund Becker hatte vergessen seinen Hosen-
schlitz zu schließen. Um ihn darauf aufmerksam zu machen, überreichte ihm Helene
Bauer, Otto Bauers Frau, die in der ersten Reihe saß, einen beschriebenen Zettel. Da
natürlich alle wussten, was auf dem Zettel stand und sich Becker nun zu drehen und
wenden begann um den Toilettefehler zu beheben, stieg die Heiterkeit ins Übermaß.
In dieser Not wurde ich vor den Vorhang geschickt, um Becker aus seiner Ver-
legenheit zu erlösen und die Conférence zu übernehmen. Ich teilte ihm mit, dass
er wegen „reaktionärer Umtriebe“ dringend hinter der Bühne gebraucht würde,
improvisierte eine humoristische Einleitung und übernahm die Conférence für den
ganzen Abend und somit für die nächsten acht Jahre, in denen das „Politische Kaba-
rett“ in einer gewandelten Form zur Dauerinstitution wurde.
das politische kabarett
Nach dieser denkwürdigen Vorstellung ermahnten uns einige Parteiführer, die
Waffe der Satire nicht so sehr gegen die eigene Partei zu richten, sondern vielmehr gegen Reaktion und drohenden Faschismus einzusetzen.
Freudig nahmen wir diesen Vorschlag auf und gründeten die Sozialistische Ver-
anstaltungsgruppe: Ein Teil spielte von 1926 bis 1934 im „Politischen Kabarett“, die
anderen organisierten „Die Roten Spieler“, welche als kleine Laiengruppen von Ort
zu Ort zogen und durch die Zeitschrift Die politische Bühne mit Texten und Regieanweisungen versorgt wurden.24
Das Politische Kabarett Das „Politische Kabarett“ stand in der Zeit zwischen 1926 bis 1934 im Mit-
telpunkt meines schöpferischen Lebens. In den acht Jahren produzierte es 14 verschiedene Programme, die in über 400 ausverkauften Vorstellungen etwa 200.000
Zuschauer durch „Witz, Satire und tiefere Bedeutung“ amüsierten, belehrten, begeisterten und ihr politisches und soziales Denken nachhaltig beeinflussten.
Aber die Auswirkungen gingen weit über die Zuhörerschaft hinaus. Szenen-
ausschnitte und Liedertexte wurden in Zeitschriften wiedergegeben. Manche der
Lieder wurden zu „Gassenhauern“, wie zum Beispiel das „Schoberlied“25 gegen den
damaligen Polizeipräsidenten Johannes Schober, die bei Veranstaltungen und De-
monstrationen im Chor gesungen wurden.
25 bis 30 freiheitsliebende, fortschrittliche, pazifistische und antifaschistische
Theaterbegeisterte waren die Truppe: Begeisterung war das einzige Motiv für ihren Einsatz. Es gab keine Bezahlung, kein Streben nach individuellem Ruhm, keine
Karrierewünsche – die Gruppe war ein echtes Kollektiv.
Jeder von uns hatte seinen speziellen Talenten gemäß eine besondere Aufgabe
als Schauspieler, Hauskomponist, Klavierspieler, Autor, Bühnenbildner, Tänzerin,
24
25
Jürgen Doll beschreibt die historischen Ereignisse in seinem Buch Theater im Roten Wien. Vom sozialdemokratischen Agitprop zum dialektischen Theater Jura Soyfers: „Der Dachverband der Sozialistischen Veranstaltungsgruppe betreute die Spieltruppe ‚Die Roten Spielerʻ sowie ein Orchester, einen Kammerchor und einen Sprechchor, zudem organisierte er Kurse zur Rhythmik- und Sprachausbildung sowie zu Fragen des Theaters.“ (Böhlau: Wien 1997) Karl Kraus schrieb das Schoberlied 1927 über den damaligen Polizeipräsidenten Johann Schober, den Kraus für das blutige Niederschlagen der Julirevolte verantwortlich machte. In dem Stück „Die Unüberwindlichen“ ließ Kraus die Figur Wacker, angelehnt an Schober, das sogenannte Schoberlied singen: „Ja das ist meine Pflicht, bitte sehn S’ denn das nicht. Das wär’ so a G’schicht, tät’ ich nicht meine Pflicht.“ Kraus wollte das Lied als „Gassenhauer aus Proletarierwohnungen“ hören und ließ 19.000 Exemplare zum Preis von 10 Groschen vertreiben.
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Kostümentwerfer oder -hersteller, jedoch alle mussten mithelfen als Bühnenarbeiter, Billeteure, Platzanweiser, Requisitenmeister, Kulissenmaler und wenn nötig, in Geplänkel mit Störenfrieden wie den Banden der Heimatwehr oder den zwar noch
illegalen, aber schlagkräftig organisierten Nazis.
Mein Aufgabenbereich war vielseitig, herausfordernd und erfüllte mich mit
Vergnügen und Stolz. Ich war Leiter, Organisator, Mitautor, Regisseur, Conférencier, Chansonnier und Schauspieler.
Mein Arbeitseinsatz war beträchtlich und beanspruchte Sonn- und Feiertage
und so manche Nächte. Aber wie erfrischend war es, die spontane Reaktion des
mitgerissenen Publikums zu erleben, das schallende Gelächter zu hören, rauschenden Beifall oder besinnliche Stille nach ernsten und zum Denken herausfordernden
Szenen wahrzunehmen.
Die Programme bestanden in den ersten Jahren aus lose aneinandergereihten
Nummern, aus kurzen Szenen, Solos, Liedern, Sprechchören und Tänzen, die durch
die Conférence verbunden wurden. Später erhielten sie durchgehende Themen:
Wir nannten sie Revuen. Indem in ihnen gesprochenes Wort, Musik, Gesang, Tanz, Gestik und Dramatik, Beleuchtung und Bühnenbild zusammenwirkten, könnten sie als Vorläufer der später sehr populären „Musicals“ gesehen werden.
Das dreizehnte Programm trug zum Beispiel den Namen „MM 1“ (Maschinen-
Mensch 1): Professor Elektron erfindet den Roboter, der für den Unternehmer einen idealen Arbeiter darstellt. Er erhebt keine Lohnforderung, organisiert sich
nicht, streikt und denkt nicht. „MM 1“ wird einem faschistischen Diktator angeboten, der die Maske Hitlers trägt und sich entzückt zeigt. Alle Menschen, meint
der Diktator, sollten zu Robotern ohne Gehirne werden, die automatisch den rech-
ten Arm ausstrecken, „Heil“ krächzen und im Stechschritt zur Schlachtbank marschieren. Dieses Programm fiel mit der Machtübernahme Hitlers in Deutschland
zusammen. Es war nicht nur eine Satire auf den „Kadaver-Gehorsam“ der Nazis, sondern enthielt auch eine ernste Warnung vor Übertechnologisierung und vor der
Entmenschlichung der Menschheit durch den Maschinenkult.
Drei Orte sind für mich mit dem Kabarett besonders verbunden: Das Café Stadt-
park war die Geburtsstätte des dramatischen Inhaltes der meisten Stücke. Dort saß das Dichterteam, bestehend aus Robert Ehrenzweig26, Jura Soyfer, Karl Zobel und
26
Der Schriftsteller und Kabarettist Robert Ehrenzweig, später Robert Lucas, emigrierte 1943 nach London, wo er beim German Service des BBC arbeitete. Bekannt waren seine „Hirnschal-Briefe“, die seine Kunstfigur, der zum Kriegsdienst eingezogene Hirnschal, an seine Frau schrieb und die von der BBC produziert und gesendet wurden.
das „politische kabarett“
mir, viele Abende oft bis zur Sperrstunde. Wir konsumierten eine einzige Schale
Kaffee, nur wenn wir gut bei Kasse waren ein Paar Frankfurter oder eine Schinkensemmel. Höflichst wurden uns unzählige Gläser Wiener Hochquellwassers
kredenzt. Welch wunderbare Institution doch das Wiener Kaffeehaus war, Alfred
Polgar27 sang sein Lob: „Man ist nicht zu Hause und doch nicht an der frischen Luft!“ Mit einer Schale Kaffee konnte man dort stundenlang sitzen, in- und ausländische
Zeitungen und illustrierte Blätter lesen, die der „Piccolo“ anschleppte, man konnte Geschäftsgespräche führen, spielte Karten, Schach oder Billard. Studenten büffelten, politisierten oder schmiedeten Pläne für eine Revolution oder schrieben
Theaterstücke wie wir.
An einem anderen Ort wurden die Lieder geschrieben – in unserer Wohnung,
weil wir dort ein Klavier besaßen. Außer den Autoren fanden sich dazu auch die
Musiker Fritz Jahoda und Hermann Zimbelius ein. Die Melodien borgten wir ent-
weder von alten Wienerliedern, die wir in einem ausgezeichneten Sammelalbum fanden, von Volksliedern oder modernen Schlagern. Wenn erforderlich, wurden sie
ein wenig umkomponiert. Zu manchen Texten schufen wir eine neue Begleitmusik. Dann war da im Nebenhaus unserer Wohnung der etwa dreihundert Personen
fassende Theatersaal der Pan-Künstlerspiele in der Riemergasse28. Dort wurde
nicht nur geprobt, sondern nach der Premiere die ersten drei oder vier Aufführungen jedes Programmes auch gespielt.
Lizzie und ich erinnern uns an eine Sondervorstellung, die eigens für unsere
Hochzeit am 22. März 1930 gegeben wurde.
Vor dort ging es in die großen, oft über tausend Personen fassenden Theatersäle
in den äußeren Bezirken, in Gasthäuser, Hotels, Gewerkschaftshäuser und Arbei-
terheime. Dort schlug uns dieselbe Welle der Begeisterung entgegen wie vor dem
intellektuellen Premierenpublikum. Vor Arbeitern und Angestellten fanden auch
Vorstellungen in Industriestädten Niederösterreichs wie St. Pölten, Wiener Neustadt und Neunkirchen statt.
Im Maleratelier von Arnold Meiselmann und Walter Harnisch wurden unter
Mithilfe zahlreicher Freiwilliger Dekorationen geschaffen. Im Nähzimmer meiner Schwester Luise wurden Kostüme entworfen, genäht und anprobiert.
Die Premieren wurden als Ereignisse der sozialistischen Intelligenz, vor allem
in linken Zeitungen gepriesen: Arbeiter Zeitung, Kleines Blatt, Der Abend und die
27
Der Schriftsteller, Kritiker und Übersetzer Alfred Polgar floh 1938 über Zürich nach Paris und 1940 über Lissabon in die USA. 28 Das heutige Porgy & Bess in der Riemergasse 11 im Ersten Wiener Gemeindebezirk.
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Wochenzeitschrift Der Kuckuck. Weniger schmeichelhaft wurden wir im Parlament
bedacht, wo uns besonders der christlich-soziale Abgeordnete Leopold Kunschak29 als staatsgefährliche Elemente verdammte.
Natürlich litten sowohl das „Politische Kabarett“ als auch die „Roten Spieler“, die
die Stücke der Hauptbühne in das ganze Bundesgebiet hinaustrugen, durch Kon-
flikte mit Polizei, Zensur und auch durch die Störungen von Heimwehr und Nazis.
Als ich einmal in nächtlicher Stille illegal plakatierte Kleber mit der Aufschrift
„Juden hinaus“ abriss, wurde ich von zwei Nazis überfallen und verprügelt. Die Polizei griff ein. Wir wurden alle drei zur nächsten Wachstube gebracht, wo die zwei
Rowdys entlassen wurden, ich aber im „grünen Heinrich“30 in die Polizeidirektion überstellt wurde.
Ich verbrachte eine höchst unangenehme Nacht zusammen mit Betrunkenen,
Taschendieben, Prostituierten. Am nächsten Morgen wurde ich durch Intervention
des Abgeordneten Julius Deutsch (er war einer der Kommandanten der interna-
tionalen Brigade im spanischen Bürgerkrieg gewesen) entlassen. Seine Tochter
wirkte im Kabarett mit.
Am selben Abend erzählte ich in der Conférence die amüsante Geschichte mei-
nes unfreiwilligen Gefängnis-Aufenthaltes, wobei ich mich besonders über die zahlreichen Wanzen beschwerte, von denen ich in der Polizeidirektion geplagt worden
war.
Eine Vorladung zu einem hohen Polizeibeamten war die Folge. Ich sollte we-
gen Amtsbeleidigung angeklagt werden, da ich offensichtlich mit dem Ausdruck
„Wanzen“ die Polizei gemeint habe. Gegen diese Beschuldigung wehrte ich mich
energisch, ich hätte nur von sechsbeinigen Insekten gesprochen. Zum Beweis bean-
tragte ich Lokalaugenschein. Als wir tatsächlich zahlreiche Wanzen fanden, wurde
ich mit der Warnung, in Zukunft jedes Wort meiner Conférence auf die Waagschale zu legen, entlassen.
Von da an erschien ich zur Conférence mit einer Marktwaage in der Hand und
erklärte meinen Zuhörern deren polizeilich verordnete Bedeutung. Bei jeder ris-
kanten politischen Äußerung ließ ich knapp vor der Pointe eine Waagschale hochschnellen, bedauernd andeutend, dass ich den Satz nicht zu Ende führen könne,
worauf das Gelächter ansetzte, da ohnehin jeder wusste, was ich sagen wollte. 29
Als Hitler Reichskanzler wurde, verbot die verängstigte österreichische Re-
Leopold Kunschak gründete 1892 den christlich-sozialen Arbeiterverein, dessen Vorsitz er bis 1934 inne hatte. Von 1920 bis 1934 war er Abgeordneter des Nationalrats. 30 Der „Grüne Heinrich“ ist ein Polizeiwagen.
das „politische kabarett“
gierung die bildliche Darstellung aller führenden ausländischen Politiker. Bis da-
hin war es einfach gewesen, Hitler auf der Bühne darzustellen, ein angeklebter
Schnurrbart der unverkennbaren Form hatte genügt. Aber gerade das war jetzt
verboten. Glücklicherweise besaßen wir im Ensemble einen Mann mit einem echten Hitler-Schnauzbart. An geeigneten Stellen ließen wir ihn auftreten.
Am Ende der Vorstellung wurde er prompt verhaftet. Unter Protest, dass wir
gar nicht die Absicht gehabt hatten, den deutschen Kanzler darzustellen, zogen wir
zum Polizeirevier. Alle Versuche der Polizisten, den vermeintlichen angeklebten
Bart abzureißen, waren vergeblich, und so musste man ihn freilassen, da es ja nicht ungesetzlich war, eine Manneszierde unter der Nase zu tragen.
Der Druck der austrofaschistischen Diktatur bereitete dennoch Anfang 1934 dem
„Politischen Kabarett“ und den „Roten Spielern“ ein Ende. Aber keineswegs meinen theatralischen Aktivitäten.
Ich schrieb ein unpolitisches Volksstück, das in großen Sälen der Außenbezirke
erfolgreich aufgeführt wurde. Es war ein Lustspiel mit Gesang, in dem es um die
alte Geschichte ging, dass ein tyrannischer Vormund die Heirat seines hübschen
Mündels31 zu hintertreiben versuchte. Der Vormund war mit allen schlechten Eigenschaften eines reaktionären Spießers ausgestattet, der junge Mann, der das
schöne Mündelkind umwarb, besaß alle Tugenden eines aufrechten jungen Arbei-
ters. Am Höhepunkt der Handlung gab es ein Duett der beiden Liebenden nach
der Melodie des bekannten Liedes „Das Glück ist ein Vogerl“, dessen Refrain lautet
„Zum Schluss tut man trotzdem was einer verbiet’.“ Die Zensur hatte gegen den Text nichts zuwenden, aber ein politisch sehr hellhöriges Publikum erkannte die tiefere
Bedeutung, nämlich den Aufruf zum Widerstand gegen jede Diktatur, und brach in stürmischen Applaus aus.
In den folgenden vier Jahren nahm ich auch regen Anteil an den verschiede-
nen Kleinkunstbühnen, die damals wie Pilze nach einem Regen aus dem Boden sprossen. Trotz der lächerlichen Gagen, die diese Zwergtheater zu zahlen imstande
waren, wurden sie die Zufluchtsstätte talentierter junger Künstler liberaler Denkungsart. Einer der erfolgreichsten Autoren war mein Freund Jura Soyfer, dem ich mit Rat und Tat beistand.
Es bedurfte ungeheuren Geschicks, die Vorschriften der strengen Zensur zu um-
gehen, das Publikum kam in der Erwartung, zu hören, was zu sagen verboten war.
Zu jener Zeit war die gesamte sozialistische Führung nach Prag geflohen, von wo 31
Ein „Mündel“ beschreibt eine unmündige Person.
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aus sie die Untergrundbewegung durch geheime Kanäle unterstützte. Dort wurde
zum Beispiel auch eine illegale Ausgabe der Arbeiter Zeitung gedruckt, die man
in allen Kaffeehäusern, versteckt inmitten der erlaubten Zeitungen, finden konn-
te. Über ein nur leicht abgeändertes echtes Wiener Volkslied amüsierte sich unser
Publikum besonders. Der neue Text: „Mei Muatterl war a Weanerin, drum hab’ ich Prag so gern.“
Anfangs 1938 war ich damit beschäftigt, die Übersiedlung einer der Kleinkunst-
gruppen in einen Theatersaal mit einigen hundert Sitzen zu organisieren. Diese
Truppe spielte mit großem Erfolg das aus dem Dänischen übersetzte Stück „Die
verlorene Melodie“. Dies könnte der Grund gewesen sein für das Vertrauen jener Leute, denen ich während der Wiener Jause im März 1938 zusagte, auch in New
York wieder eine Wiener Theatergruppe ins Leben zu rufen.
In den Jahren nach dem Krieg fand ich die wahre Tragweite des „Politischen
Kabaretts“ und der Kleinkunstbühnen heraus. In Genf zum Beispiel führte ich ein
Gespräch mit meinem alten Freund, dem Kernphysiker Professor Victor Weiss-
kopf32, der damals das europäische Nuklearforschungszentrum „CERN“ leitete. Ich
gratulierte ihm, diesen Höhepunkt seines Lebens erreicht zu haben. Er meinte:
„Als Höhepunkt meines Lebens betrachte ich wirklich die Zeit, in der ich als Klavierspieler im ‚Politischen Kabarett’ tätig war.“ „Aber Vicky“, erinnerte ich ihn, „die
Klavierspieler waren doch Fritz Jahoda und Hermann Zimbelius.“ „Das ist schon
richtig“, strahlte er, „aber wenn immer einer der beiden verhindert oder krank war, besorgte ich die Klavierbegleitung.“ Er hatte absolut recht.
Über die Kleinkunstbühnen erschien ein Buch Cabaret und Kabarett in Wien von
Rudolf Weys33. Über das „Politische Kabarett“ wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung ein dreihundert Seiten langes Buch von
Dr. Friedrich Scheu geschrieben und 1977 vom Europa-Verlag herausgebracht. Es
enthält eine Sammlung von Szenen und Liedertexten. Dr. Scheu hat das Material,
das durch Flüchtlinge in alle Welt verstreut gewesen war, gerettet und systematisch
gesammelt.
Was war mit den Mitwirkenden des „Politischen Kabaretts“ geschehen?
Jura Soyfer, wie schon berichtet, kam im Konzentrationslager um. Seine Werke
32 33
Victor Weißkopf war erst in Wien, dann in Zürich und nach seiner Flucht 1938 in den USA als Physiker tätig. Während des Zweiten Weltkriegs war er u. a. an dem Atombombenprogramm Manhattan-Projekt beteiligt. 1961 bis 1965 war Weißkopf Direktor des Europäischen Forschungszentrums CERN in Genf. Robert Weys, Cabaret und Kabarett in Wien. Jugend- und Volksverlagsges.: Wien 1970.
das „politische kabarett“
erleben jetzt eine Renaissance. Viele seiner Stücke werden im Theater, aber auch
im Rundfunk und Fernsehen gespielt. Ein Buch über sein Leben und Wirken wurde eben von Dr. Horst Jarka geschrieben.34
Robert Ehrenzweig wanderte nach England aus und arbeitet dort unter dem Na-
men Robert Lucas als Schriftsteller. Während des Krieges wirkte er für die BBC an
einem Programm, das nach Deutschland und in die von den Deutschen besetzten
Gebiete ausgestrahlt wurde und von den Erlebnissen des Gefreiten Adolf Hirnschal
handelte. Dieser dem Schwejk nachempfundene Schlaumeier war eine Standardfigur des „Politischen Kabaretts“. Die Briefe erschienen in Buchform gleich nach dem
Krieg 1945 im Europa Verlag.
Karl Zobel heiratete die Schauspielerin des „Politischen Kabaretts“, Mary May-
erhofer. Er wanderte mit ihr nach Australien aus, wo er unter dem Namen Karl
Bitturan lebt und eine Theatergruppe nach dem Muster des „Politischen Kabaretts“ in Sydney organisierte und noch immer betreibt. Fritz Jahoda wurde Dirigent in New York.
Fritz und Liese Halpern gelangten nach einer Irrfahrt, die in Shanghai begann,
schließlich nach London, wo sie jetzt leben.
Arnold Meiselmann wurde ein angesehener Maler und Grafiker in Israel und
starb dort vor einigen Jahren. Sein Kollege Walter Harnisch überlebte den Krieg in
Österreich und ist noch immer als Grafiker tätig.
Monette Schober war eine der Tänzerinnen, lebt jetzt in Vorarlberg und ist mit
mir in ständiger Verbindung.
Harry Horner, der als Schauspieler im „Politischen Kabarett“ begann, aber des-
sen aufgebrachter Vater ihm strengstens verbat, als Schauspieler aufzutreten, wurde zu einem der Bühnenbildner. Er wanderte in die USA aus, wurde als Bühnenbild-
ner am Broadway sowie als Filmregisseur berühmt und wohnt jetzt in Los Angeles.
Auch mit ihm bin ich in ständigem Briefkontakt.
Illa Raudnitz, später Raudnitz-Roden, von der Kleinkunstbühne war nicht nur
meine Retterin vor der Gestapo in Wien, sondern auch 1939 der Star der New Yor-
ker Theaterproduktion „From Vienna“. Sie betreibt jetzt eine tanzrhythmische
Schule für körperbehinderte Kinder in Los Angeles. Ihre Bemühungen als Opfer des
Faschismus vom österreichischen Staat eine Entschädigung zu erhalten, wie sie sie
seit Erreichung ihres Pensionsalters anstrebt, scheiterten bisher an der Tatsache, dass sie als Arierin nicht hätte auswandern müssen.
34
Horst Jarka, Jura Soyfer. Leben, Werk, Zeit. Löcker: Wien 1987.
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Manfred Inger und Liesl Neumann-Viertel, die beide in den New York Shows be-
schäftigt waren, kehrten bald nach Kriegsende nach Wien beziehungsweise München zurück und üben ihren Schauspielberuf weiterhin erfolgreich aus.
Von vielen anderen höre ich gelegentlich aus fernen Ländern, von anderen kann
niemand mehr etwas hören, weil sie in Konzentrationslagern umgekommen sind.
Architekt Mit Architektur im Allgemeinen hatte es in der Zwischenkriegszeit in
Österreich eine merkwürdige Bewandtnis. Außerhalb der öffentlichen Bautätig-
keit der Stadtverwaltung wurden kaum neue Gebäude errichtet. Hunderte von
talentierten Architekten beschäftigten sich deshalb mit der Adaptierung und
Einrichtung von herabgewirtschafteten Wohnungen, die von neuen Besitzern
übernommen wurden. Viele entwarfen als Mitarbeiter der Wiener Werkstätte Einrichtungs- und Gebrauchsgegenstände.
Das Betätigungsfeld war erstaunlich weit. Viele junge Menschen, die auf Wohn-
kultur besonderen Wert legten, und deren Geschmack durch die im Handel erwerblichen Gegenstände nicht befriedigt werden konnten, ließen einzelne Zimmer oder ganze Wohnungen von Architekten einrichten. Hierfür wurde verhältnismäßig
mehr ausgegeben als heute, was verständlicher wird, wenn man berücksichtigt, dass es die gegenwärtigen Verlockungen wie Auto, elektronische Bild-, Ton- und
Haushaltsgeräte, Charterflüge und Weltreisen damals kaum gab.
Zwischen 1920 und 1938 entstand in Wien die Wiener Wohnkultur. Nach dem
Anschluss verschwanden sowohl Architekten als auch Klienten. Einige Architekten
arbeiteten nach ihrer Auswanderung in verschiedenen Staaten weiter. Die Archi-
tekten Josef Frank und Oskar Wlach35 waren besonders in den skandinavischen
Ländern erfolgreich. Sie legten dort den Grundstein zu dem, was heute als dänische, schwedische und finnische Wohnkultur Ruhm erlangt hat.
Meine eigene Architektentätigkeit begann langsam und mit kleinen Projekten.
Oft war es nur ein Wohn-Schlafzimmer oder eine kleine Gemeindewohnung, die ich
einzurichten hatte. Einer meiner ersten Aufträge war der Umbau eines Pferdestal-
les im zehnten Bezirk zu einer mit geringen Mitteln, aber attraktiv ausgestatteten
„Schule für rhythmischen Tanz“ für Karla Suschitzky, jetzt Karla Zerner in Paris36. 35
36
Josef Frank, Oskar Strnad und Oskar Wlach zählen zu Gründungsmitgliedern des Neuen Wiener Wohnens und der sogenannten Wiener Schule. Karla Suschitzky führte gemeinsam mit ihrer Mutter Olga in der Favoritenstraße 76 eine Tanz-
architekt
Ein anderer Auftrag bestand darin, zwei Zimmer für das Ehepaar Friedrich und
Herta Scheu einzurichten, in einem der wenigen Häuser, die vom berühmten Architekten Adolf Loos37 in Wien erbaut worden waren. Diese Arbeit war für mich
aus zwei Gründen besonders wichtig. Sie gab mir Gelegenheit, in das Wesen der
Architektur von Adolf Loos einzudringen und bezog mich andererseits in den intellektuell und politisch interessanten Kreis um die Familie Scheu mit ein.
Die Honorare solcher Aufträge waren klein, aber insgesamt reichten sie dazu
aus, meine Gehaltsbezüge derart aufzubessern, dass ich nach meiner Hochzeit mit
Lizzie Kardos imstande war, unseren Untermieter im Erkerzimmer zu kündigen. Dieses verwandelte und verwendete ich nur für uns. Durch geschickte Ausnützung
wurde es zu einer Kombination von Wohn-, Schlaf-, Speise- und Arbeitszimmer, wo
ich auch meinen Zeichentisch unterbringen konnte. Die Einbaumöbel wurden in
grünem und weißem Schleiflack gestrichen und erhielten Akzente durch natur-
farbenes Eichenholz. Die Betten, Tische, Sesseln und Beleuchtungskörper habe ich
speziell nach unserem Geschmack entworfen und von damals reichlich vorhande-
nen, geschickten Handwerkern herstellen lassen.
Dieser Vierzweck-Raum stellte in der damaligen Zeit der Wohnungsnot eine Ide-
allösung dar. Er wurde sogar in der illustrierten Wochenzeitschrift Der Kuckuck38 abgebildet. In den bewundernden Gästen fand ich Klienten für neue Projekte, zum
Beispiel für den Umbau jener großen Villa zu fünf Wohnungen, die ich schon als Grund für die Aufgabe meiner Anstellung erwähnt habe.
Als ich mich ganztägig dem Entwerfen widmen konnte, wurden die Aufträge
größer. Ich war bald derart beschäftigt, dass ich jenes bisher untervermietete Zim-
mer der Anwaltskanzlei, das vor 1918 als Chefbüro meines Vaters gedient hatte, in
mein Atelier verwandeln konnte. Ich stattete es mit drei Zeichentischen, einem Se-
kretärinnentisch und einer Sitzgarnitur für Besprechungen aus. (Diese Sitzgarnitur, die aus zwei von mir entworfenen, mit Rosshaarstoff bezogenen Lehnsesseln und
schule. Ihr Vater Philipp Suschitzky betrieb gemeinsam mit seinem Bruder Wilhelm eine auf Literatur der Arbeiterbewegung spezialisierte Buchhandlung, ebenfalls in 10. Gemeindebezirk. 1938 wurde das Unternehmen liquidiert. Olga und Philipp Suschitzky wurden im Holocaust ermordert, Karla Suschitzky überlebte im Pariser Exil. 37 Adolf Loos hatte 1912/13 für den Rechtsanwalt und sozialdemokratischen Gemeinderat Gustav Scheu und dessen Frau, die Schriftstellerin Helene Scheu-Riesz, ein Terrassenhaus in der Larochegasse 3 im 13. Bezirk errichtet. Ihr Sohn Friedrich Scheu arbeitete als Journalist bei der Arbeiter-Zeitung. 38 Der Kuckuck war eine von April 1929 bis zum Februar 1934 erscheinende Wochenzeitung der österreichischen Sozialdemokratie.
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einem dazugehörigen Tischchen besteht, ist in der Zwischenzeit viel gereist. Sie
wanderte mit nach New York und endete schließlich 1972 wieder in Wien, wo sie noch immer im Schlafzimmer meiner Wohnung steht.)
Für das junge Brautpaar Felix und Lilly Reichmann39 entwarf ich nicht nur jedes
Detail der großen Wohnung mit neuem Badezimmer, einer neuen Küche mit Heizanlage, sondern wurde ich auch aufgefordert, als Berater für Hochzeitsgeschenke
zu fungieren. So wurde jeder Ziergegenstand, jede Vase und das Tafelgeschirr von
mir ausgesucht. Alles bildete eine Einheit. Da die Reichmanns große Feste gaben,
wurden sie zu meinen besten Propagandisten. Etwa fünfzig Wohnungen dieser Art folgten.
Einrichtungsgegenstände, die ich damals entwarf, wurden später durch jene, die
glücklich genug waren, dem Holocaust zu entfliehen, auf der ganzen Welt verstreut.
So zeigte mir das Ehepaar Reichmann anlässlich eines Besuches in Wien Fotos ihrer
jetzigen Wohnung in Ithaca im Staate New York, in der noch immer einige der von mir entworfenen Möbel Ehrenplätze einnehmen.
Nach 1934, also mit dem Ende des „Politischen Kabaretts“, weitete ich mein Ar-
beitsgebiet auf Geschäftsportale und Geschäftsinnenräume aus. Den ersten Auftrag auf diesem Gebiet verdanke ich der Bekanntschaft mit der Familie Ulanowsky. Die
Mutter war Opernsängerin, ein Sohn, Paul, Konzertpianist, wurde in Amerika zum
ständigen Begleiter von Lotte Lehmann. Die schöne Tochter Lilian, die mit Robert
Ehrenzweig eng befreundet war, wurde mit der Führung eines kleinen Parfümerieladens, der Bristol-Parfümerie, die ihrem Großvater gehört hatte, betraut. Das
Geschäft, ein winziger Laden mit einer Front von zweieinhalb Metern, sollte völlig
neu gestaltet werden. Durch Verspiegelung von Decke und Rückwand, ein typischer
Bühnentrick, verdoppelte sich optisch der kleine Innenraum. Ich verzichtete auf die damals übliche Trennung zwischen Auslage und Kundenraum, sodass durch die
überhohe Auslagenscheibe der Blick ungehindert in den weißen und spiegelnden
Verkaufsraum ging.
Das Geschäft erregte großes Aufsehen und wurde in in- und ausländischen Ar-
chitekturzeitschriften diskutiert. Aufträge für mehrere Modengeschäfte, eine gro-
ße Parfümerie, mehrere Bonbonläden, eine Buchhandlung, ein Reisebüro, einen
Handschuhladen folgten. Sämtliche Zeugen meiner Wiener Architektentätigkeit existieren nicht mehr. Sie wurden alle im Zweiten Weltkrieg zerstört.
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Der Kunsthistoriker und Buchhändler Felix Reichmann führte ab 1926 eine Buchhandlung in der Wiedner Hauptstraße. 1939 emigrierte er in die USA, wo er als Bibliothekar und später als Literaturprofessor tätig war.
verschmelzung
1937 war ich ein wohl etablierter Architekt. Nun aber wurde ein Gesetz zum
Schutze des Architektentitels erlassen. Da ich meine Studien an der Akademie der bildenden Künste nie abgeschlossen hatte, musste ich um Sondergenehmigung
ansuchen. Auf Basis meiner Unterlagen über Schulung und Praxis, der Arbeitsfo-
tos und Veröffentlichungen über meine Arbeiten und meine Person erhielt ich im
März 1938 den Bescheid, dass mein Ansuchen um Architekturlizenz angenommen
worden war. Ich müsste mir im Ministerium nur noch die Lizenz abholen, um als
Diplomarchitekt vereidigt werden zu können. Zu jenem Zeitpunkt nach dem Anschluss verspürte ich keinerlei Lust, mich in irgendein Ministerium zu begeben, oder gar einen Eid zu erstatten, den ich wahrscheinlich als Bürger des Deutschen
Reiches hätte ablegen müssen. So musste ich also schweren Herzens auf die Ehre, österreichischer Diplomarchitekt zu sein, verzichten.
Das war gerade zu jener Zeit, als ich es zu einem bescheidenen Wohlstand mit
Auto und mittlerem Sparkonto gebracht hatte. Alle Räume der elterlichen Wohnung
waren modernisiert. Die Untermieter brauchten wir nicht mehr, meine Mutter war
daher merklich entlastet. Ehrgeizig trug ich mich mit Plänen, auch die zwei zu-
sätzlichen Räume der früheren Anwaltskanzlei meines Vaters für die Vergrößerung
meines Ateliers zurückzubekommen, aber dann kam die Annexion Österreichs.
Die Kenntnisse für diese der intimen Umwelt des Menschen zugewandte Seite des
Architekturberufes habe ich durch Selbstbildung, Besuch von Ausstellungen, Fachlektüre, Reisen erworben. Das Gefühl für Ästhetik, die sensitive Berücksichtigung
individueller Lebenswünsche, die Fähigkeit, jeden einzelnen Gegenstand dementsprechend zu entwerfen und seine Herstellung in den Werkstätten der Handwerker
zu überwachen, sollten sich später als Grundlage einer neuen Existenz bewähren.
Für mich stellte sich jede dieser Arbeiten als schöpferische Herausforderung dar.
Verschmelzung Rückblickend scheint es, als ob ich von 1918 bis 1938 fast ständig nicht nur
ein Doppelleben, sondern mehrere Leben gleichzeitig geführt hätte:
Das eher bedrückende Zuhause normalisierte sich nur allmählich mit dem Be-
ginn meiner bezahlten Bautechnikerlaufbahn von 1923 an und wurde durch einen
bescheidenen Wohlstand und meine Heirat ab 1930 sogar erfreulich.
Das unbefriedigende Dasein als widerspenstiger Schüler der Staatsgewerbe-
schule 1919 bis 1923 und das fast ebenso unbefriedigende technische Angestellten-
verhältnis von 1923 bis 1932.
113
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rückblende
Gleichzeitig beglückende Teilnahme am Pfadfinderleben und an der sozialisti-
schen Jugendbewegung bis 1926 und dann die aufregende Tätigkeit im „Politischen
Kabarett“ bis 1934.
Parallel zur Tätigkeit als Bautechniker und als Leiter des „Politischen Kabaretts“
eine immer wichtiger werdende Beschäftigung mit Architektur.
Schließlich beginnend mit 1934 eine starke Aktivierung der Architektentätigkeit
und zur selben Zeit Einsatz bei den Kleinkunstbühnen und in der politischen Un-
tergrundarbeit.
Das alles deutet auf eine gewisse Verwirrung und Zersplitterung hin und doch
scheinen sich alle diese Tätigkeiten, zu denen noch das Schreiben von Gedichten
und satirischen Aufsätzen, die zeitweise Tätigkeit als Filmkritiker für die Wiener
Tageszeitung Das kleine Blatt, als Schriftsteller und Vortragender hinzukamen, gegenseitig zu beeinflussen, zu ergänzen und miteinander zu verschmelzen, sodass
jede der Aktivitäten ihren Einfluss auf eine andere und alle ihren Beitrag zu einer
„Ganzheit“ leisteten.
Eine Anekdote mag dies illustrieren: Als Architekt arbeitete ich 1933 an einer
Penthouse-Wohnung für den bekannten britischen Schriftsteller John Lehmann.40
Als politisch Engagierte diskutierten wir über seine extrem linke Gesinnung und
er verriet mir seinen Wunsch, die russische Sprache zu lernen. Als Angehöriger
des „Politischen Kabaretts“ war ich mit dem Mitautor und gebürtigen Russen Jura
Soyfer befreundet, den ich als Lehrer der russischen Sprache empfahl. Als ehemaliger technischer Angestellter war ich mit meinem damaligen Kollegen Ing. Kurt
Singer noch immer befreundet. Aus dieser Vielseitigkeit ergab sich eine Geschichte, die wohl Komik nicht entbehrt, aber tragische Konsequenzen für viele hätte haben
können.
Ing. Kurt Singer wusste als Verwalter des Hauses, in dem sich Lehmanns Woh-
nung befand, über meinen Klienten Bescheid. Er rief mich an, die Hausbesorgerin
(die gerne „tratscht“) habe ihm erzählt, dass sich dort regelmäßig Dutzende „Kommunisten“ träfen. Eine Freundin ihrer Schwester, deren Freund Polizist war, habe
während eines Schäferstündchens streng vertraulich erfahren, dass am nächsten Donnerstag (also in drei Tagen) eine große Polizeirazzia bei Lehmann stattfinden
werde. Unter dem Vorwand, ein Nest von Homosexuellen auszuheben, sollten alle
Anwesenden verhaftet werden. Lehmann sollte gewarnt werden. Da ich nicht wag-
40 Der britische Dichter und Verleger John Lehmann veröffentlichte seine Erlebnisse in Wien in dem Buch The Whispering Gallery (Longmanns, Green: London 1955).
verschmelzung
te, dies telefonisch zu tun (das Abhören von Telefongesprächen, besonders im Falle
von Lehmann und Soyfer, war wahrscheinlich), bat ich beide, mich zu besuchen. Jura warnte ich davor, in Zukunft mit seinen politischen Freunden in Lehmanns
Wohnung zusammenzukommen. Lehmann forderte ich auf, vorsichtig zu sein.
Die Razzia fand programmgemäß statt. Die Polizei war zutiefst enttäuscht. John
Lehmann hatte einen einzigen Gast, und der war seine Exzellenz, der Botschafter
von Großbritannien. Mit langen Gesichtern zogen die Polizisten ab.
Weiters: Durch den Einsatz in der Jugendbewegung und besonders durch das
„Politische Kabarett“ hatte ich ein ungewöhnlich großes Ausmaß an Bekanntheit,
man könnte sagen Beliebtheit, erworben und einen weiten Kreis von Freunden ge-
wonnen.
Zu der klassischen Frage, wie man freischaffender Architekt wird, gibt es zwei
Antworten: Entweder man beschreitet den schnellen Weg und heiratet die Tochter des Chefs, oder man genügt sich mit dem langsamen Weg, arbeitet fünf bis zehn
Jahre für den Chef und heiratet dann seine Tochter. Eine dritte Möglichkeit existiert
nicht. Die Erwerbung eines ersten Klienten ist ja deshalb unmöglich, weil dieser darauf besteht, Arbeiten, die man für andere gemacht hat, zu besichtigen.
In meinem Fall bestand die Lösung darin, dass meine Freunde und Bewunderer
naiverweise meinten, dass ein so berühmter Kabarettist wie ich auch ein ausgezeichneter Architekt sein müsse. Die ersten Aufträge waren zwar klein, aber nachdem das Eis einmal gebrochen war, resultierten aus jeder fertiggestellten Arbeit
mehrere neue, deren Größe auch schließlich zunahm.
Ohne mein reges Interesse an Architektur, das in die verschiedensten Städte
führte, wäre ich nie zur Ausstellung „Des artes decoratives“ nach Paris gekommen.
Ich hätte Ruth Yorke nie getroffen, wir wären nie Freunde geworden, und ich hätte
im kritischen Moment 1938 die notwendigen Dokumente für die Einreise in die
USA nicht erhalten. Was ich in der Gewerbeschule und als technischer Angestellter mir an Kenntnissen erwarb, hätte kaum gereicht, mehr als ein Routinetechniker zu
werden. Schöpfungskraft, Fantasie, Organisationsfähigkeit, Überredungskunst, soziales Verständnis, menschliches Einfühlungsvermögen sind durch meine anderen
Tätigkeiten geweckt und entwickelt worden.
Ob diese Fähigkeiten an den „neuen Ufern“, denen wir zustrebten, Wert haben
würden, war damals am Schiff „Statendam“ so schleierhaft wie der Nebeldunst der einsetzenden Morgendämmerung.
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III. DIE ENTDECKUNG AMERIKAS
26: Ankündigung: The Refugee Artists Group, New York 1939 Library of Congress
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27, 28 und 29: Gruen bei der Arbeit, New York 1939 Courtesy Peggy Gruen Collection
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30: Lederer de Paris, New York 1939 Courtesy Gruen Associates, Foto: Ezra Stollen
31: Plan Lederer de Paris, New York 1939 American Heritage Museum Courtesy Gruen Associates
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32: Altman & Kuhne, New York ca. 1940 Courtesy Gruen Associates
33: Konzept für Barton’s Bonbonniere, New York 1941 Courtesy Peggy Gruen Collection
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34, 35, 36 und 37: Gruen und Elsie Krummeck auf ihrer ersten Flugreise nach Los Angeles (1940) Courtesy Peggy Gruen Collection
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38 und 39: Gruen und Elsie Krummeck in Seattle, ca. 1940 Courtesy Peggy Gruen Collection
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40 und 41: Gruen und Elsie Krummeck vor Grayson‘s, Los Angeles ca. 1940 Courtesy Peggy Gruen Collection
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42: Santa Monica Boulevard Büro, Los Angeles ca. 1948 Courtesy Peggy Gruen Collection
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43 und 44: Cafe de la Pay (and pay and pay) neben dem Santa Monica Büro, Los Angeles Courtesy Peggy Gruen Collection
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45 194x, Zeichnung Elsie Krummeck „Drug Store and Dining Terrace“ Architectural Forum, Mai 1943
Ankunft Das Dämmern eines neuen Tages, des 13. Juli 1938, macht meinen Träume-
reien über mein vergangenes Leben ein Ende. Im fahlen Licht des Morgens scheint
es, als ob wir uns steilen kliffartigen Bergen nähern. Erst die Sonnenstrahlen ent-
hüllen diese Berge als die Wolkenkratzer von Manhattan. Plötzlich taucht links die
Freiheitsstatue auf. In unserer Erregung scheint sie uns viel mehr als ein Denkmal
– es ist, als ob sie ihren Arm ausstreckte, um uns willkommen zu heißen.
Jetzt ist es also geschafft! Vor uns liegt Amerika! Das Land der unbegrenzten
Möglichkeiten – die neue Welt, und ihre mit bizarren Wolkenkratzertürmen gespickte Millionen-Metropole New York.
Ein Kaleidoskop von ständig wechselnden Farben und Formen. Das schäumen-
de Hafengewässer, durchfurcht von Ozeanriesen, Frachtschiffen, puffenden Schlep-
pern. Ein Jazzkonzert von Sirenen, dunklem und hellem Schifftstuten, Möwengekreisch.
Wir werden langsam zum Dock bugsiert. Von dort strömt uns ein Wolkenbruch
wehender Taschentücher entgegen. Tausende Willkommensrufe vereinen sich zu einer einzigen Jubelfanfare.
Über die Rampe hinunter gehen wir zum Festland der neuen Heimat. Es fol-
gen heiße Umarmungen mit Onkel Harry und Ruth Yorke, dann eine donnernde, ohrenbetäubende Fahrt im Subway-Express, der nur jede zehnte Station anhält.
Ungewöhnlich war für uns Europäer die Skala der Hautfarben der Passagiere.
Und dann die plötzliche Stille bei Ruth. Eine gemütliche nette Wohnung in einem
vierstöckigen Mietshaus, in einem ruhigen Wohnviertel an der 68. Straße von Manhattan, in keiner Weise anders als ein Heim in einer europäischen Stadt. Gleich um die Ecke das saftige Grün des romantischen Central Parks.
Schon am ersten Tag erforschen wir die Umgebung. Wir wandern allein und
erfragen in unserem holprigen Englisch den Weg. Passanten versuchen ihr Bes-
tes, um uns zu verstehen. In der geschäftigen Fifth Avenue bewundern wir den
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die entdeckung amerikas
Warenluxus in den Auslagen der großen Kaufhäuser. Menschengewimmel, Lärm, brausender Verkehr, Vitalität. Atemberaubende Aussichten von den zwei höchsten
Wolkenkratzern. Alles ein bisschen betäubend – aber alles ohne NS-Dekoration!
Beim Abendessen mit Ruth lächeln wir uns zu. Hier sind wir Fremde in der
Fremde, aber das Befremdendste ist, hier fühlen wir uns daheim.
Cafeteria
Zwei Wochen lang bemühen wir uns krampfhaft, die neue Sprache zu ler-
nen. Wir disziplinieren uns, miteinander nur englisch zu sprechen. Ich enträtsle
amerikanische Zeitungen, lese englische Bücher. Allmählich können wir uns verständlich machen. Jetzt will ich arbeiten. Ruth sagt zwar, das wäre Unsinn, sie verdiene ohnehin als Star einer sogenannten „Rundfunk-Soap-Opera“ (Seifen-Oper,
weil sie von einer Waschpulverfirma gesponsert ist) haufenweise Geld. Doch mich drängt es, tätig zu sein.
Mein erster Job ist in einem kleinen Architekturbüro am Columbus Circle in
kurzer Gehdistanz von der Wohnung. „Können Sie eine Cafeteria entwerfen?“, erkundigt sich mein Boss Selig Winston. „Und ob“, rufe ich aus, in Erinnerung an die
unzähligen Stunden, die ich in Wiener Kaffeehäusern verbracht habe. Er übergibt mir die Pläne eines großen leer stehenden Straßenlokals.
Endlich wieder an einem Zeichentisch. Die Arbeit macht Spaß, nur mit dem ver-
flixten Maßsystem von „Foot“ und „Inches“ habe ich Schwierigkeiten. Ich kann nur
in Metern denken und muss alles umwandeln. In einigen Tagen entwerfe ich ein zwar modernes, aber wirklich gemütliches, echtes Wiener Kaffeehaus. Mein Boss
kommt aus dem Staunen nicht heraus: „So etwas hat es in New York noch nie gegeben!“, ruft er entzückt und kann kaum darauf warten, das Projekt seinem Klienten
zu präsentieren.
Der große Tag naht. Der Klient besichtigt Pläne, Schnitte, Perspektiven, sein Ge-
sicht wird flammenrot, er springt auf: „Ihr seid wohl total verrückt geworden! Ihr
wollt mich ruinieren! In einem solchen Lokal würden Leute stundenlang herumhocken statt schnellstens zu konsumieren und dann zu verduften!“ Völlig verdattert
hört mein Chef, dass ihm der Auftrag entzogen ist. Ebenso bestürzt vernehme ich, dass ich gefeuert bin.
Mein Englisch war offensichtlich noch nicht gut genug. Ich hatte den abgrundtie-
fen Unterschied zwischen einer „Cafeteria“ und einem „Kaffeehaus“ nicht kapiert.
ankunft
Ausstellungs-Anstellung
Zwei Tage später werde ich als Designer bei der großen Organisation „Ivel“
angestellt. Die wollten mich gar nicht haben, aber sie mussten. Mein Bürge, Paul
Gosman, war als Direktor der Werbeabteilung der mächtigen Socony Oil Compa-
ny einer der wichtigsten Kunden. Das Unternehmen beschäftigt sich mit Entwurf,
Konstruktion und Montage von Ausstellungskojen, die bei Messen, Kongressen,
Tagungen für Werbezwecke errichtet werden. Der Name des Begründers ist „Levi“ (wie der Mädchenname meiner Mutter), umgekehrt gelesen ergibt das „Ivel“. Sein
Kompagnon heißt Berthel.
Die Organisation gliedert sich in drei Teile, die sich im ständigen Kriegszustand
untereinander befinden: Die Verkaufsabteilung: fantasielose Kontaktleute. Die
Konstruktionsabteilung: praktische Männer. Die Entwurfsabteilung: fröhliche Ideenausbrüter, die sich einen Teufel um die Wünsche der zwei anderen Abteilungen
scheren. Aufgabe der schwer verdienenden aber unter schwerem Stress leidenden
Bosse ist es, eine „Entspannungspolitik“ zwischen den drei feindlichen Lagern herzustellen. Zur Zeit meines Eintrittes ist das übliche Routinegeschäft merklich durch die Vorbereitungen für die erste New Yorker World’s Fair belebt.
Die Mitarbeiter der Design-Abteilung sind etwa fünfzehn junge, talentierte, sym-
pathische Leute, die in Kunst- und Kunstgewerbeschulen studiert haben. Von Anfang an werde ich als Kamerad in diese unbeschwerte, Boheme-Gemeinschaft mit
eingeschlossen. Da sich alle nur beim Vornamen nennen, einschließlich der Bosse,
bin ich einfach „Vik“. Lange ist mir nicht bekannt, wer die eigentlichen Chefs sind, die ich anfänglich mit zwei intelligent aussehenden Laufburschen verwechsle. Wir
„Künstler“ bilden eine geeinte Front gegen die „Bourgeoisie“ der anderen.
Mit Architektur hat meine Arbeit wenig zu tun, aber in zwei Richtungen bin ich
ganz nützlich. Von meiner Agitationstätigkeit im „Politischen Kabarett“ weiß ich ei-
niges über Werbung. Publikumswirksame Ideen zu entwickeln, fällt mir leicht und
macht Spaß. Als geschulter Bautechniker weiß ich auch, wie sie zu vernünftigen
Kosten realisiert werden können. Bei sprachlichen Missverständnissen helfen mir meine neuen Freunde oft unter viel Gelächter.
Es gibt eigentlich nur eine Schwierigkeit. Für die Präsentation der Ideen werden
realistische Schaubilder benötigt, die in Air-Brush-Technik, die größte Fingerfertig-
keit und Präzision erfordert, hergestellt werden. Das ist nicht gerade meine Stärke.
Ich neige eher etwas zur Schlamperei. Aber mit Engelsgeduld werde ich in die Finessen dieses Luft-Pinsels eingeweiht. Bald beherrsche ich die langweilige Tätigkeit,
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die entdeckung amerikas
bei der Pressluftflaschen benützt werden, leidlich gut. Aber das ist auch das einzig
Langweilige meiner Anstellung. Sonst unterhalten wir uns blendend während der
Arbeit und während der täglichen Picknicks an einem aufgelassenen Dock am Hudson River, von wo wir den Schiffsverkehr und Tausende Möwen beobachten können.
Die größte Hilfe kommt von meiner Arbeitskameradin Elsie Krummeck. Als ta-
lentiertestes Mitglied der Abteilung bezieht sie per Woche hundert Dollar Gehalt,
während ich zum Beispiel nur dreißig Dollar erhalte. Zusätzlich ist sie jung und
bildschön. Bald gehen wir abends miteinander aus. Der Sprachhilfeunterricht setzt
sich in ihrer Künstlerbude im Greenwich Village fort. Jene Art von Linguistik-Studi-
um hat sich in der menschlichen Geschichte immer noch als wirksamste erwiesen. Zur gleichen Zeit verliebt sich Lizzie in den jungen Italiener Ben LaRosa. Wir
einigen uns, dass wir uns eines Tages, wenn wir das nötige Kleingeld dazu besäßen,
scheiden lassen würden. Viel später heiratete sie LaRosa und lebt jetzt mit ihm und
ihrem Sohn John in San Francisco.
Die neue Wohnung an der vierundsechzigsten Straße, die wir, da ich jetzt über
ein fixes Einkommen verfüge, gemietet haben, wird nicht übermäßig strapaziert.
Nur unsere Besitztümer, die in der Zwischenzeit aus Wien angekommen sind, waren darin untergebracht. Ein Zimmer wird von einem sympathischen Mann mit gutem Einkommen im Börsengeschäft, der nebenbei ein Verehrer von Ruth Yorke
war, als Untermieter bewohnt. Für die Untermiete zahlt er so generös, dass uns die
Wohnung finanziell wenig belastet. Später bewohnt sie meine Mutter.
Eine kleine Landpartie
Eines Sonntags im August lud dieser Untermieter Heinz Lizzie, Ruth und
mich ein, in seinem funkelnagelneuen, eleganten, offenen Wagen ins Grüne zu fahren. Eine glänzende Idee, denn es ist einer jener typischen New Yorker Tage, an denen man nicht weiß, ob man mehr unter sengender Hitze oder schweißtreibender
Feuchtigkeit leidet.
Schwitzend und matt besteigen wir den Wagen, der sich mühsam bis zur Hud-
son River Autobahn durchkämpft. Dort stellen wir fest, dass anscheinend alle Ein-
wohner New Yorks dieselbe Idee gehabt haben. Drei Stunden lang kriechen wir in
der soliden Kolonne dahin, wobei Heinz von Zeit zu Zeit aufmunternd auf die schö-
ne Fluss-Aussicht verweist. Dann aber will er die nächste Ausfahrt benützen, um
umzukehren. Ich protestiere: „Lasst uns doch irgendwo hinfahren, wo man im kühlen Schatten spazieren gehen und dann auf der Terrasse eines kleinen Gasthauses
ankunft
etwas essen und vor allem trinken kann!“ „Dich hat wohl eine Wienerwald-Wespe
gestochen!“, rief Heinz. „So etwas gibt es um New York nicht. Man macht einfach einen kleinen ‚Spinʻ (Rundtour), lässt sich vom Fahrtwind befächeln und gibt sich
dem Vergnügen des Autofahrens hin.“
Relativität
Alles ist relativ. Mit etwas mehr Zeit gelangt man mit dem Zug sehr wohl in
eine schöne Umgebung. So wandle ich eines Tages durch schattige menschenleere
Alleen in den parkähnlichen Gefilden der Princeton Universität, mit einem kleinen,
weißmähnigen Herrn an meiner Seite plaudernd. Der Tag verbleibt mir unvergesslich. Mein Gesprächspartner war ein gütiger, humorvoller, weiser Mann: Professor
Albert Einstein.
Mein Zusammentreffen habe ich rätselhaften Umständen zu verdanken. Bevor
ich Wien verließ, übergab mir ein junger, nicht sehr bedeutender Schauspieler der Kleinkunstbühnen ein verschlossenes Kuvert und bat mich dringend, es dem
Adressaten dieses Schreiben persönlich zu überreichen. Er hoffte, dieser würde ihm das notwendige Affidavit verschaffen und außerdem die Bemühungen für die Gründung einer Wiener Theatergruppe unterstützen.
Beim Auspacken des Überseelifts bin ich auf dieses Kuvert gestoßen. Staunend
las ich erst jetzt die Adresse. Wahrscheinlich ein schlechter Witz! Aber ich telefoniere mit Princeton, wurde überraschend schnell mit dem Professor verbunden.
Nachdem ich den Namen des Absenders genannt hatte, reagierte dieser schnell:
„Besuchen Sie mich sobald wie möglich! Ich stehe Ihnen Sonntag voll zur Verfügung.“
Am nächsten Sonntag schon schlendern wir, ins Gespräch vertieft, dahin. Es
wird mir kaum bewusst, dass ich mit dem vielleicht berühmtesten Wissenschafter unserer Zeit rede. Den Brief hat er sofort gelesen und versprochen, umgehend die
notwendigen Schritte zu unternehmen, um Herrn M. die Auswanderung zu ermög-
lichen. Jetzt will er wissen, was ich in Wien erlebt habe und was meine Pläne sind.
Wie kann er helfen, die Theatergruppe zu gründen?
Plötzlich wird unsere Zweisamkeit gestört. Ein Auto ist schon längere Zeit ge-
mächlich hinter uns hergefahren. Es hält. Ein Mann spring heraus und zieht mich
zur Seite: „Ich zahle Ihnen jeden Preis, wenn Sie mich ein paar Minuten mit dem
Professor sprechen lassen!“ „Danke“, erwidere ich, „aber über die Zeit von Professor Einstein kann ich nicht verfügen.“ Der Professor wendet sich zum Eindringling: „Ich
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die entdeckung amerikas
habe jetzt keine Zeit. Melden Sie sich telefonisch oder schriftlich bei meiner Sekre-
tärin.“ Er entschuldigt sich wegen der Störung. „Wahrscheinlich einer der lästigen
Vertreter eines Verlages, der ein Buch von mir veröffentlichen will.“
Wir setzen uns auf eine Stufe. Einstein meint, wir wären beide Neuankömmlin-
ge mit miserablem Englisch, aber zusammen könnten wir einen halbwegs brauch-
baren Brief aufsetzen. Auf einem Schreibblock macht er Notizen, die ich dann als
maschinengeschriebenen Brief erhalte. Auf dem mit 28.9.1938 datierten Universi-
tätspapier heißt es:
Ich bin überzeugt, dass eine solche Gelegenheit ein reiches neues Feld für das
amerikanische Theater zu eröffnen und andererseits diese Entwicklung von Künst-
lern, die sonst der Welt verlorengehen würden, zu fördern, nicht versäumt werden sollte. Ich habe vollkommenes Vertrauen in die Fähigkeiten und Verlässlichkeit des
Herrn Grünbaum, den ich persönlich kenne, und auch über sein praktisches Urteilsvermögen. Ich würde jedenfalls mehr als erfreut sein, wenn der ausgezeichnete Plan dieser Gruppe Hilfe von allen Personen, denen er präsentiert wird, finden
würde.
Albert Einstein.
Die Formlosigkeit und Freundlichkeit unseres Gespräches ermutigt mich, scher-
zend zu fragen: „Herr Professor, ich habe viel von Ihrer Relativitätstheorie gehört, aber offen gesagt, sie nicht ganz verstanden. Können Sie mir anhand eines Beispiels erklären, was Relativität ist?“
Der große Mann lächelt: „Ich will Ihnen ein einfaches Beispiel geben. Bis vor
einigen Jahren wurde ich als bedeutender deutscher Physiker gerühmt. In einigen
Jahren werde ich als bedeutender amerikanischer Physiker bekannt sein, und in noch fernerer Zeit werden mich die Deutschen wieder als berühmten deutschen
Physiker reklamieren. Sehen Sie, das ist Relativität.“
Das Rätsel der überraschenden Wirkung des Briefes des kleinen Schauspielers
M. auf Professor Einstein bleibt ungeklärt. Die Gerüchte, dass es sich um einen unehelichen Sohn gehandelt habe, wurden nie bewiesen.
Eine kleine Anekdote, die mir von guten Freunden berichtet wurde, und die die
menschliche Größe von Professor Einstein beleuchtet, soll hier erwähnt werden:
Meine Freunde hatten einen kleinen Sohn, der sich täglich von seiner Mutter ein
Päckchen Wiener Bäckerei erbat, um dann für einige Stunden zu verschwinden. Eines Tages folgte die Mutter ihrem Sprössling und fand ihn auf einer Gartenbank
futurama
neben Professor Einstein. Sie entschuldigte sich tausendmal, dass ihr ungezogener Sohn den Professor belästige. Er sagte: „Gnädigste Frau, wir haben ein faires
Freundschaftsverhältnis. Ich helfe ihm bei seinen Mathematikaufgaben und er füttert mich mit Ihrer ausgezeichneten Bäckerei.“
Futurama Nach etwa drei Monaten meiner Tätigkeit bei Ivel fand ich, dass der stei-
gende Wert meiner Leistung sich in einer Gehaltserhöhung ausdrücken solle. Ich
sprach mit dem Boss. Auf seine Frage, wie viel Wochengehalt ich denn erwarte,
antwortete ich: „Fünfzig Dollar.“ Was würde ich tun, fragte er, wenn er diese Forde-
rung ablehne. In diesem Fall, sagte ich, müsse ich zu meinem Bedauern die Stelle
verlassen. Er klopfte mir auf die Schulter und sagte freundlich: „Thank you, it has been a great pleasure to have had you with us.“ (Ich danke Ihnen, es war ein großes
Vergnügen, Sie mit uns gehabt zu haben.)
Der Satz war mir zu kompliziert. Ich fragte meine Freunde, was Herr Levi wohl
gemeint habe. Sie sagten mir einigermaßen betroffen, ich wäre gerade gefeuert worden. Mich störte dies nicht so sehr, denn als erfahrener „Yankee“ hatte ich mich schon
vorher eines Jobs, der mir fünfzig Dollar bringen würde, versichert. Das war eben amerikanische Sitte. Man konnte von einem Moment zum anderen hinausgeworfen
werden, aber mit einigem Glück auch sofort wieder eine neue Stellung finden.
Ich arbeitete jetzt also in einem riesigen, fabriksähnlichen Gebäude in einer her-
untergekommenen Gegend an der Ostseite der 125. Straße. Das Unternehmen hatte
den Auftrag, nach den Ideen des Designers Norman Bel Geddes ein gigantisches
Modell für den New Yorker Weltausstellungspavillon von General Motors im Detail zu entwerfen und zu bauen. Der Name dieses Modells: „Futurama.“ Untertitel: „Die
Straßen der Zukunft.“
Geddes hatte eine Glanzidee: Er wusste, alle Autofirmen würden ihre Zukunfts-
modelle ausstellen. Er aber erkannte richtig, dass die Straßen Autos gebären und
nicht, wie die meisten meinen, umgekehrt, der Verkehr neue Straßen benötigt. Er
überredete General Motors, ein kleines Vermögen in die Werbung zur Errichtung eines nationalen Autobahnnetzes zu stecken. Das öffentliche Interesse an diesem
traumhaften Projekt würde dann, seiner Ansicht nach, Widerhall in staatlichen Aktionen finden. Wenn einmal ganz Amerika von einem Autobahnnetz durchzogen sei, brauchte sich General Motors keine Sorgen um den Verkauf von Automobilen
mehr zu machen.
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die entdeckung amerikas
Seine Auftraggeber erkannten die Richtigkeit seiner Idee und stellten imponieren-
de Geldmittel für den Bau des Modells zur Verfügung, das den Mittel- und Höhepunkt der Ausstellung bilden sollte. Mit elektrischen Wägelchen sollten die Besucher das
Modell umfahren, um das neue Straßensystem, das die Ostküste über den Mittel-
westen bis zur Westküste verbinden sollte, von allen Seiten bewundern zu können.
Da Geld keine Rolle spielte, wurden 200 Designer angestellt. Sie waren fast alle
Flüchtlinge, wie sie Hitler aus halb Europa vertrieben hatte. Die einzige gemeinsame Sprache war Englisch. Ohne unserer Fantasie Grenzen zu setzen, entwickelten
wir die tollsten Ideen für Unter- und Überführungen, für mehrstöckige Straßenabschnitte, für „Kleeblätter“ und automatische Signalisierungen. Wir konnten nicht
ahnen, dass dies alles Wirklichkeit werden würde. Gleichzeitig aber entwarfen wir auch die traumhaften, blütenweißen Städte und Metropolen der „Zukunft“, die auf
dem Modell wie gleißende Juwelen inmitten von Wäldern und Feldern, in Berg-
tälern und an den Ufern von Strömen, Seen und Ozeanen erschienen. Diese sind leider nicht Wirklichkeit geworden.
Der Arbeitsstab war kosmopolitisch. In meiner Gruppe arbeiteten zum Beispiel
ein blonder Hüne, der mit den Nazis sympathisierte, und ein schwarzhaariger
Zionist. Sie hatten trigonometrisch zu errechnen, welche Teile des Modells von den
Beschauern auf keinen Fall eingesehen werden konnten, und an deren Gestaltung
man daher sparen könne. In der Arbeit waren sie ein Herz und eine Seele, aber beim Mittagessen beschimpften sie einander aufs Wüsteste.
Für mich war diese Arbeitsstelle ideal. Die Disziplin war sehr lose und wenn
man ein bisschen pausieren wollte, konnte man sich immer damit entschuldigen, in der großen Halle Details des Modells studieren zu müssen. In diesen Pausen
führte ich viele Telefonate im Zusammenhang mit der neu begründeten „Viennese
Theatre Group“. Diese interessante Arbeit am Futurama-Modell hätte für immer
fortdauern können. Aber leider nahte der Eröffnungstermin der World’s Fair. An-
lässlich eines Besuches der Direktoren von General Motors kam es zu einem Krach.
Das Arbeitstempo musste beschleunigt werden, damit das Modell Anfang Jänner
1939 fertig sei. Das gelang auch, und an diesem Tage standen wir darauf hin alle arbeitslos auf der kalten Straße.
Die Idee von Norman Bel Geddes erwies sich als Hit. Eine Bundeskommission
für die Errichtung eines nationalen Autobahnnetzes wurde begründet, die Finan-
zierung erfolgte durch zweckgebundene Auto- und Brennstoffsteuern. Je mehr
Straßen gebaut wurden, umso rapider schwoll der Autoverkehr, umso höher wurden die Steuereinnahmen und umso mehr Straßen konnten gebaut werden.
die schauspieler kommen
Schließlich war dieses Autobahnnetz einige Jahre nach Kriegsende so komplett,
dass die Eisenbahngesellschaften in den Bankrott getrieben wurden. Der Perso-
nenzugsverkehr, und es gab wunderbare Luxus-Express-Züge, die auch ich regelmäßig benutzt hatte, wurde eingestellt und der Lastenverkehr auf der Schiene ging stark zurück. Dadurch stiegen Luftverseuchung, Lärm und die Zahl der Unfalltoten
und -verletzten. Zersiedelung der Landschaften, Zerfall der Städte und Vergeudung des Rohstoffes Öl waren die weiteren Folgen. Erst unter dem Einfluss der Ölkrise
1973/74, also etwa fünfunddreißig Jahre nach dem „Futurama“, mussten die Bauarbeiten am nationalen Autobahnnetz eingestellt oder doch verlangsamt werden. Die
Finanzierungsmittel wurden zum Bau neuer und zur Verbesserung bestehender öffentlicher Verkehrsmittel umgewidmet.
Von alledem hatte ich natürlich nicht die leiseste Vorahnung, als ich für fünfzig
Dollar die Woche meinen bescheidenen Beitrag zur Entwicklung des Automobil-
verkehrs leistete.
Die Schauspieler kommen Ebenso wenig hatte ich die Folgen meiner Worte vorausgeahnt, die ich
anlässlich jener denkwürdigen Wiener Jause am 11. März 1938 in Wien ausgesprochen hatte. In der emotionellen Krise jener Stunden hatte ich versprochen, mit al-
len jenen von den Kleinkunstbühnen, die es schaffen würden, nach New York zu
kommen, eine Theatergruppe zu begründen. Nun begannen sie, sich einer nach
dem anderen zu melden und erinnerten mich an mein Versprechen. Also riefen wir die „Viennese Refugee Artist Group“ ins Leben und begannen mit einer Reihe von
Vorbereitungen.
Das Ziel müsse sein, Theater in englischer Sprache zu spielen. Nur dann würden
überhaupt Aussichten bestehen. Der überwiegende Teil der Refugees war entgegengesetzter Meinung. Binnen weniger Monate hatte sich in New York eine Art
Ghetto der Wiener Emigranten gebildet. Sie separierten sich vollständig von der
bestehenden Bürgerschaft deutscher Herkunft in Yorkville und auch von jener jüdischer, russischer und polnischer Herkunft, wie sie seit Langem an der Lower East
Side bestand. Es stellte sich jetzt heraus, dass nicht, wie nämlich die Nazis behaup-
teten, Wien zu verjudet sei, sondern dass die Juden zu verwienert waren.
Die Wiener Juden in New York wollten nichts mit den Deutschen, nichts mit den
Juden und nichts mit den Amerikanern zu tun haben. Sie siedelten sich eng beieinander an der mittleren Westseite an, begründeten echte Wiener Konditoreien
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die entdeckung amerikas
und Gasthäuser und verbrachten dort ihre Zeit damit, sich gegenseitig zu bedauern, über die verlorenen guten, alten Zeiten zu jammern, sich wehmütig an die Wiener Schnitzel, den feinen Kaffee mit Schlagobers und an alle anderen Herrlichkeiten zu erinnern, die in diesem „barbarischen“ Amerika nicht zu erhalten waren.
Sie veranstalteten Wiener Abende mit Wiener Liedern und Wiener Witzen, vor-
getragen von Wiener Schauspielern, zum Beispiel Karl Farkas1. Diese Kreise wei-
gerten sich, Englisch zu lernen.
Am bedauernswertesten erschienen mir jene, die, ihr Leben riskierend, Juwelen
und Geld mitgeschmuggelt hatten und die jetzt schicksalsergeben auf die richtige Geschäftsgelegenheit warteten, so lange bis kein Cent mehr da war.
So wollten wir uns nicht verhalten. Nach langer Diskussion wurde der Ent-
schluss gefasst: Wir werden wienerisches Theater nach der Art der Kleinkunst-
bühnen spielen, aber in englischer Sprache für ein amerikanisches Publikum.
Was wir besaßen, waren Begabungen der verschiedensten Arten: Meist junge Ak-
teure, Autoren, Musiker, Bühnenbildner und die herausgeschmuggelten Texte von
Szenen und Liedern. Was wir nicht hatten, war Geld. Irgendwie verdienten alle Künstler ihren Lebensunterhalt als Kellner, Geschirrwäscher, Dienst- oder Kindermädchen.
Unsere Texte wurden in Nachtarbeit von jungen amerikanischen Autoren über-
setzt. Ich arbeitete zum Beispiel an Jura Soyfers satirischem Stück „Der Lechner Edi
schaut ins Paradies“ („Journey to Paradise“), das ich in miserables Englisch über-
trug. Dann unternahm ein Bekannter von Ruth, John Latouche, eine amerikanische
Nachdichtung. Er war hoch talentiert, aber noch völlig unbekannt. Später wurde er durch sein Stück „Opera for Americans“ sehr berühmt, starb aber leider in jungen
Jahren.
Ein ausgezeichneter Linguist, Arthur Lessack, stellte sich zur Verfügung, nicht
nur um allen Englisch beizubringen, sondern um mit komplizierten Zungenübungen unseren Akzent auszumerzen. Allabendlich wurde bis zur physischen Erschöp-
fung geübt. Leider konnte ich wegen meiner Arbeitsverpflichtungen nicht teilneh-
men und bin deshalb im Unterschied zu den anderen meinen Wiener Akzent nie ganz losgeworden.
Mit dem Eintreffen des Regisseurs Herbert Berghof begann intensive Proben-
arbeit. Bald hatten wir ein kleines Repertoire von Szenen, Liedern und Solos in englischer Sprache einstudiert.
1
Dem Autor, Regisseur und Schauspieler Karl Farkas gelang 1938 über Brünn und Paris die Flucht nach New York. 1946 kehrte er nach Wien zurück und übernahm die Leitung des Theater Simpl.
die schauspieler kommen
Nun wandten wir uns, den Brief von Professor Einstein vorweisend, an wohlha-
bende jüdische Familien um Hilfe. Wir wurden zu großen Partys und Empfängen
eingeladen und stellten uns mit Szenen und musikalischen Einlagen vor. Geldspen-
den langten ein und machten es möglich, dass die Brotbeschäftigungen aufgegeben
und Probenarbeit intensiviert werden konnten.
Bei einem dieser Empfänge war Mrs. Beatrice Kaufman2, die Frau des berühm-
ten Bühnenautors, anwesend. Sie war von den Leistungen der Gruppe beeindruckt und telefonierte mit ihrem Mann. Wir wurden in Taxis verfrachtet und fuhren zu
Mr. George Kaufman3 in seine Wohnung. Das Vorspielen schien ihm zu gefallen,
weniger gefiel ihm unsere Idee, wie in Wien in kleinen Lokalen, in denen auch Speisen serviert wurden, aufzutreten. Er schlug stattdessen vor, wir sollten eine
intime Revue vorbereiten, die dann in einem der großen Broadway Theater zur
Aufführung gelangen solle. Er würde versuchen, möglichst viele Mitglieder der New
Yorker Theaterszene zu gewinnen, uns zu unterstützen. Zu diesem Zweck jedoch sei es notwendig, das Programm durch weitere Szenen zu vervollständigen, die
Sprachübungen fortzusetzen und durch Mithilfe amerikanischer Theaterfachleute
den hohen Standard, den das New Yorker Publikum gewohnt sei, zu erwerben. Wir erklärten uns mit großer Begeisterung einverstanden.
Mr. Kaufman erwirkte Wunder. Eine amerikanische Unterstützungsorganisation
trat ins Leben, der zum Beispiel Irving Berlin, Eddie Cantor, Edna Ferber, Lorenz
und Moss Hart, Al Jolson, Frederic March, Harpo und Zeppo Marx, Richard Rodgers und unsere Freundin Ruth Yorke angehörten4. Als einziger Nicht-Amerikaner
wurde ich in den Verwaltungsrat dieser Gruppe gewählt. Die Hilfe, die uns zuteil 2 3
4
Beatrice Kaufman widmete sich der Herausgabe moderner Dichter und Romanautoren (T.S. Eliot, Djuna Barnes, William Faulkner, John Steinbeck, Eugene O’Neill etc.). Sie selbst schrieb Kurzgeschichten, die u. a. in der Zeitung The New Yorker veröffentlicht sowie Theaterstücke, die am Broadway aufgeführt wurden. Der Dramaturg, Theaterdirektor und Produzent George S. Kaufman schrieb Komödien und politische Satiren sowie auch einige Musicals, u. a. für die Marx Brothers. Irving Berlin (geboren als Israel Isidore Beilin oder Baline), US-amerikanischer Komponist; Eddie Cantor, US-amerikanischer Komiker, Sänger, Schauspieler, Autor und Songwriter; Edna Ferber, US-amerikanische Schriftstellerin ungarischer Herkunft; Moss Hart, US-amerikanischer Dramaturg und Theaterdirektor, bekannt für seine Interpretationen des Musiktheaters am Broadway; Lorenz (Larry) Hart, Textautor des Broadway-Songwriting-Teams Rodgers und Hart, er schrieb u. a. „Blue Moon“ und „My Funny Valentine“; Al Jolson (geboren als Asa Yoelson), US-amerikanischer Sänger und Entertainer; Frederic March (geboren als Frederick Ernest McIntyre Bickel), US-amerikanischer Schauspieler; Richard Charles Rodgers, US-amerikanischer Komponist.
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die entdeckung amerikas
wurde, war überwältigend. Für Proben wurden uns die Bühnen verschiedener großer Theater zur Verfügung gestellt. Es wurde genügend Geld aufgebracht, um allen
Mitgliedern der Gruppe existenzsichernde Beihilfen zu zahlen. George Kaufman persönlich half bei der Regie, Irving Berlin setzte sich ans Klavier, um musikalische
Nummern mit uns zu proben, Donald Oenslager entwarf Bühnenbilder, Irne Sharaff schuf die Kostüme, Charles Friedmann war Produktionsassistent5.
In meiner Funktion als „Mädchen für alles“ war ich das Bindeglied zwischen den
Wienern und den amerikanischen Helfern. Ich bestimmte, dass wir als Kollektiv alle die gleichen Gagen erhalten würden und erwirkte ein Loyalitätsversprechen aller Mitglieder, solange die Gruppe bestehen würde.
Unsere Freunde vom Broadway sorgten aber auch dafür, dass wir in die Theater-
praxis des Broadways Einblick nehmen durften. So konnten wir den Vorstellungen
aller erfolgreichen Shows beiwohnen. Besonders beeindruckt war ich von einer sa-
tirischen Revue „Pins and Needles“6, die sehr an das „Politische Kabarett“ erinnerte.
Gleichzeitig mit diesen Vorbereitungen, die manchmal ganze Nächte verschlan-
gen, setzte ich meine Arbeit am „Futurama“, und als diese zu Ende gegangen waren, als freier Designer fort. Es war eine hektische Zeit, aber unvergesslich interessant,
weil sie mich mit vielen genialen, hoch talentierten amerikanischen Künstlern in freundschaftliche Verbindung brachte.
Der erste Auftrag Nach fast sechsmonatigen Anstellungsverhältnissen war ich zum ersten
Mal arbeitslos. Etwas entmutigt, tief in Gedanken versunken, wandelte ich wie im
Traum über die Fifth Avenue. Plötzlich hörte ich meinen Namen wiederholt laut gerufen. Ein gut gekleideter Herr mittleren Alters sprach mich an: „Sie sind doch
der Architekt Grünbaum aus Wien?“ Als ich bejahte, meinte er: „Endlich habe ich
Sie gefunden. Ich habe Sie wochenlang gesucht und auch versucht, Sie telefonisch zu erreichen.“ (Das konnte er natürlich nicht, weil ich kein Telefon besaß.) Er stellte
5
6
Donald Oenslager war ein US-amerikanischer Bühnendesigner, er wurde 1959 mit dem Tony Award for Best Scenic Design ausgezeichnet. Irene Sharaff arbeitete als Kostümbildnerin für große Broadwayproduktionen und in Hollywood, für ihre Arbeiten erhielt sie insgesamt fünf Oscars. „Pins and Needles“ war eine 1936 von der International Garment Worker’s Union in Auftrag gegebene Revue, die nach einem Jahr Probearbeiten mit jungen Industriearbeiterinnen und -arbeitern am Broadway zur Aufführung kam. Mit 1107 Aufführungen war Pins and Needles das bis dahin erfolgreichste Stück am Broadway.
der erste auftrag
sich als Herr Ludwig Lederer vor. Sofort konnte auch ich mich an seine zahlreichen
Geschäfte in Wien und anderen europäischen Städten erinnern, in denen feine
Lederwaren zum Verkauf angeboten wurden und die alle eine charakteristische, hellgraue Glasfassade hatten.
Er erklärte, dass er alle seine europäischen Geschäfte verloren habe, aber genü-
gend Kapital besitze, um einen neuen Beginn zu machen. Wir wanderten ein paar
Schritte weiter und er zeigte mir ein Lokal in bester Lage, nahe der fünfundfünfzigsten Straße an der Fifth Avenue, das er gemietet hatte. Dann verkündete er: „Ich
habe Ihre Geschäfte in Wien immer bewundert. Ich will, dass Sie mein neues Geschäft entwerfen.“ Wir besichtigten die Räumlichkeiten. In einem nahe gelegenen
Restaurant besprachen wir seine Wünsche, das Budget und alle anderen Voraussetzungen. Am Ende dieses Gespräches hatte ich meinen ersten Architekturauftrag
für Amerika in der Tasche.
Freudig eilte ich in unsere Wohnung und setzte mich an den von Wien mitge-
brachten Zeichentisch. Jetzt kamen mir alle Zeichenutensilien, die ich mitgebrachte
hatte, zunutze. Ich begann mit dem Entwurf.
Eigentlich stimmt das nicht ganz. Ich zeichnete nämlich nur das auf, was in mei-
nem geistigen Auge sich als Vision schon in groben Umrissen gebildet hatte. Eine
alte Erfahrung bestätigte sich einmal mehr, eine Erfahrung, die wahrscheinlich jeder schöpferische Mensch gemacht hat. Wann immer ich mich durch eine Aufgabe
herausgefordert fühlte, ob sie nun eine literarische oder architektonisch-planerische war, so folgte der erste Entwurf einem schöpferischen Moment der Vision. Als
wenn mir ein Licht aufgehen würde. Das Wort „Entwurf “ beinhaltet in seinem Sinn ja schon den „glücklichen Wurf“.
Als ich mich also vor das blütenweiße Papier setzte, das ich auf den Zeichentisch
gespannt hatte, war es nur mehr notwendig, die physische Form des gegebenen
Grundrisses, Aufrisses und Schnittes aufzutragen, aufgrund der mir übergebenen
Pläne und der zusätzlichen Maße, die ich genommen hatte und dann zu prüfen, ob der schon in meinem Kopf existierende Entwurf auch wirklich anwendbar sei. Eine erregende Tätigkeit.
Mein geübtes Auge und der durch viele Jahre hindurch gewonnene Erfahrungs-
schatz führten mich nur selten in die Irre. So geschah es auch hier. Nach drei Tagen
emsiger Arbeit war es Gewissheit: Die Idee und die Realität passten zusammen,
und ich konnte Herrn Lederer einladen, sich die Entwurfsskizzen anzusehen.
Die Vision: Entlang der Fifth Avenue ein zum Gehsteig hin offenes Atrium zu
schaffen, in dem sich die gehetzten Fußgänger wie in einem Auffangbecken sam-
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die entdeckung amerikas
meln konnten. In dem sie Schutz vor Witterung ebenso wie vor den Stößen des
Menschengewimmels finden könnten. An den zwei Seitenwänden und an der
Rückwand dieses Atriums würden sechs kleine individuelle Glasvitrinen herausragen, an der Rückwand würde eine Vollglastüre sowohl Einblick wie Eintritt in
das Geschäftsinnere ermöglichen. Die Schauflächen der Vitrinen an den beiden
Seiten würden sich im rechten Winkel zu den Gehrichtungen befinden und deshalb mehr Aufmerksamkeit erregen als Schaufenster, die parallel zur Gehrichtung
liegen. Die Flächen zwischen, über und unter den Vitrinen würden mit demselben
soliden grauen Glas verkleidet sein, das für die europäischen Geschäfte des Klien-
ten typisch war. Die Decke des Atriums würde aus durchlässigem Glas bestehen
und unsichtbare Lichtquellen darüber würden den offenen Vorplatz gleichmäßig, aber nicht zu stark erhellen. In der Mitte des neu geschaffenen Außenraumes sah
ich einen gläsernen Ausstellungstisch vor mir, ähnlich wie er in Museen verwendet wird, der zur Präsentation besonderer Waren dienen würde. Diese und auch die Verkaufsobjekte in den Vitrinen würden durch kleine verborgene, sehr starke
Scheinwerfer, wie sie im Theater verwendet werden, auch bei Tag hell angestrahlt
werden. Der Firmenname würde in silbernen Buchstaben an der Rückwand über der Eingangstüre angebracht sein.
Herr Lederer zeigte sich begeistert. Die sechs Auslagen und der zusätzliche
zentrale Ausstellungstisch boten ihm Gelegenheit, ein großes Assortiment zu präsentieren. Sofort war ihm klar, dass der geschaffene, wind- und wettergeschützte
kleine Platz im Gedränge des Fußgängerverkehrs eine willkommene Oase bilden
würde. Ich versicherte ihm, dass dieser Entwurf, bei etwas einfacherer Gestaltung des Innenraumes, innerhalb der vorgesehenen Bausumme von etwa zehntausend
Dollar realisiert werden könnte.
Der Hauseigentümer, dessen Einwilligung wir einholen mussten, empfing uns
kühl. Der sehr konservative Mann schenkte den Zeichnungen wenig Aufmerksamkeit, aber erklärte: „Ich kenne Herrn Grünbaum nicht, habe noch nie etwas von ihm
gehört und gesehen. Ich kann es nicht gestatten, dass in meinem Gebäude ein unbe-
kannter Refugee tätig ist.“ Herr Lederer aber blieb hartnäckig. Er legte dar, dass er
niemand anderen mit dem Auftrag betrauen würde, dass der schon hergestellte Vorentwurf ihn völlig begeistere und daher ausgeführt werden müsse. Schließlich kam
es zu einem Kompromiss. Der Hausbesitzer nannte einen jungen, amerikanischen
Architekten, der gerade mit dem Umbau des Nachbargeschäftes Ciro, das Imitationsschmuck verkaufte, betraut war. Er nahm an, dass dieser junge, nicht besonders
vielbeschäftigte Architekt bereit wäre, mit Herrn Grünbaum zu kooperieren.
der erste auftrag
Wir suchten diesen Architekten, Mr. Morris Ketchum, sofort auf.
Bei der angegebenen Adresse angekommen, erschrak ich. Es war das elegan-
teste neue Bürogebäude New Yorks, das im Rockefeller Center als „Kathedrale
der Geschäftswelt“ bekannt war. Das muss schon ein sehr berühmter und reicher
Architekt sein, der sich leisten kann, in diesem Palast sein Atelier zu unterhalten, dachte ich. Es stellte sich jedoch heraus, dass Mr. Ketchum nur einen Zeichentisch
in den Büroräumlichkeiten des sehr bekannten Architekten Edward Stone in Un-
termiete benützte.
Ich zeigte Morris Ketchum die Fotos meiner Wiener Geschäftsbauten und die
Vorentwürfe für das Lederer-Geschäft. Herr Lederer betonte, dass er von ihm nichts anderes erwarte, als dass er seine Stampiglie und Unterschrift auf meine
Pläne setze. Herr Ketchum war damit einverstanden. Er werde die Baupläne für das Lederer-Geschäft als Architekt unterzeichnen und mich bei Verhandlungen
mit Bauunternehmungen unterstützen. Als Gegenleistung sollte ich ihm beim Ent-
wurf des angrenzenden Ciro-Geschäftes behilflich sein. Das war für alle akzeptabel. Mehr im Scherz als im Ernst wurde dann auch vereinbart, dass, falls sich aufgrund
dieser zwei Projekte Neuaufträge ergeben sollten, wir sie in derselben Weise, er als
Architekt und ich als Designer, übernehmen würden.
Ich stellte mich dann noch bei Edward Stone vor, dessen Arbeiten mir gut be-
kannt waren. Ich erzählte ihm von dem Übereinkommen mit Morris, das ihm gefiel.
Als ich auch ihm Fotos meiner Wiener Arbeiten zeigte, bat er mich, sie behalten zu dürfen, er würde dafür sorgen, dass sie zusammen mit Artikeln über mich in amerikanischen Architekturzeitschriften erscheinen. (Ein Versprechen, das er voll einhielt.) Um Arbeitsplätze solle ich mir keine Sorgen machen, er verfüge infolge
der Depression über viel überschüssigen Raum. Ich dankte ihm für seine Groß-
zügigkeit und fragte mich, ob in einem ähnlichen Fall so etwas in Wien möglich gewesen wäre.
In den folgenden Monaten arbeitete ich Seite an Seite mit Morris Ketchum, trug
einiges zum Entwurf des Ciro-Geschäftes bei, konzentrierte mich aber auf die De-
tailplanung und später auf die Bauaufsicht des Lederer-Geschäftes.
Im Juli 1939 wurden beide Geschäfte eröffnet. Herr Lederer war zufrieden und
glücklich. Ich war noch glücklicher. Der öffentliche Widerhall, den dieses kleine
Geschäft auslöste, überstieg meine kühnsten Erwartungen. Nicht nur Architektur-
und Fachpresse, sondern auch Tageszeitungen und Wochenschriften brachten lobende Artikel. Immer kehrte die Bemerkung wieder: „Das Lederer-Geschäft ist der
erste wichtige Ausdruck kontemporärer Architektur auf diesem Gebiet in Amerika.“
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die entdeckung amerikas
Ich selbst war mit dem Resultat wohl auch zufrieden, aber ich konnte mir die
sensationelle Wirkung nicht ganz erklären. Den Grund hierfür fand ich später her-
aus. Er lag darin, dass amerikanische Architekten sich bisher kaum mit Laden- und
Geschäftsbau beschäftigt hatten. Diese Tätigkeit war gänzlich großen Unterneh-
mungen überlassen, die vom Entwurf bis zur Ausführung alles schlüsselfertig lieferten. Aufgrund der Monopolstellung einiger großer Unternehmungen mangelte
es an Individualität, Originalität und Ideenreichtum auf dem Gebiet des Laden- und
Geschäftsbaues.
Das Lederer-Geschäft blieb für lange Zeit unverändert erhalten. In allen ein-
schlägigen Architekturbüchern wurde es ausführlich besprochen. Sogar als es 1963
abbrannte, beauftragte mich ein neuer Besitzer damit, es dem Originalentwurf entsprechend wieder herzustellen. Im Sommer 1976 wurde ich allerdings Zeuge seiner
Demolierung; es musste einer Schuhhandelskette weichen.
Morris Ketchum und ich waren mit dem Erfolg beider Geschäfte hoch beglückt.
Die Situation, die wir bei unserem ersten Treffen scherzhaft erwähnt hatten, trat
ein. Wir erhielten eine ganze Reihe von Aufträgen für Geschäfte und Läden der
verschiedensten Warenkategorien.
Angespornt durch diesen Erfolg machte mir Morris Ketchum eines Tages das
Angebot, gemeinsam eine Architekturfirma zu gründen, in der wir gleichberechtigte Partner sein würden. Ich sagte Ja.
Einige Tage später lud mich Morris zu einem Spaziergang im ältesten Teil New
Yorks, dem Wall-Street-Viertel. Er erschien sehr ernst und etwas verstört. Schließlich erzählte er mir vor der alten Trinity-Kirche, die zwischen den umrahmenden
Wolkenkratzern der Finanzinstitute eingekeilt ist, dass die Eltern seiner Frau Isabell in diesem Relikt der Vergangenheit getraut worden seien. Seine Frau habe ge-
meint, dass es nicht standesgemäß wäre, wenn er, dessen Familie schon mit dem
ersten Schiff, der Mayflower, als Pioniere nach Amerika gekommen sei, sich mit einem eben angekommenen Refugee verbände. (Ich habe übrigens später von so
vielen Familien gehört, die mit der Mayflower nach Amerika gekommen sind, dass ich zur Annahme gelangte, es müsste das größte Schiff der Welt gewesen sein.)
Morris stammelte also, er müsse sein Angebot zu seinem Leidwesen zurück-
ziehen, aber er biete mir dafür eine gut bezahlte Stelle als Chefdesigner an. Ich antwortete: „Die Trinity-Church ist ja einigermaßen alt und ehrwürdig, aber die
Synagoge, in der meine Eltern getraut wurden, ist älter. Meine Angestelltenkarriere in Amerika betrachte ich als abgeschlossen. Ich muss dein Angebot also leider
ablehnen. Ich werde mein Glück als selbständiger Designer versuchen.“
selbständig
Wir beschlossen, unsere Klienten und jene, von denen wir hofften, dass sie es
werden würden, gerecht aufzuteilen. Wir schieden als gute Freunde.
Morris, der ein sehr fähiger Architekt war, schuf etwas später mit zwei Ameri-
kanern eine Partnerschaft, die, aufbauend auf unserem gemeinsamen guten Ruf,
Erfolg hatte. Sein Ehrgeiz, oder vielleicht der seiner Frau, trieb ihn dazu, sich um
die Präsidentschaft des amerikanischen Architekteninstitutes zu bewerben, was
ihm schließlich auch gelang.
Ich empfand einige Genugtuung, als mir etwa zwanzig Jahre später von ihm das
Ordensband der „Fellowship“ als eine der größten Ehrungen des Architekteninsti-
tutes um den Hals gelegt wurde.
Selbstständig Um als selbstständiger Designer in New York zu arbeiten, musste ich ei-
nen großen Entschluss fassen. Ich konnte nicht erfolgreich sein, wenn ich mich auf
einen gemieteten Zeichentisch bei Edward Stone oder auf eine Tätigkeit in meiner
Wohnung beschränkte. Ich musste ein Atelier mieten.
Ich fand es in einem sogenannten Loft-Gebäude, das gewerblichen Zwecken
dient und in jedem Stockwerk von der Straßenfront bis zur Hoffassade nur aus
einem einzigen Raum plus einem Waschraum und einem WC besteht. Es lag im
dritten Stock, ohne Aufzug und war äußerst schäbig und schmutzig. Es war jahre-
lang freigestanden und hatte früher als Modistinnensalon gedient, woran noch die etwas verblichene Wandbemalung mit großen Straußenfedern erinnerte.
Als Elsie Krummeck von meinem Entschluss hörte, beschloss sie sofort, ihre ein-
trägliche Beschäftigung bei Ivel aufzugeben, um mit mir gemeinsame Sache zu machen. Wir begründeten die Designfirma „Grünbaum und Krummeck“. Das Mobiliar
war spärlich: mein alter Zeichentisch aus Wien und die mitgebrachte Sitzgarnitur, ein schäbiger Schreibtisch, den wir in einem Altwarengeschäft erstanden, ein paar
Sesseln, sonst gähnende Leere. Wir arbeiteten an einigen Projekten, die ich aus
der Zusammenarbeit mit Morris Ketchum übernommen hatte, und wir warteten
auf den ersten neuen Klienten. Elsie und ich hausten in einem hässlich möblierten
Zimmer in der Nähe des Ateliers. Unsere Ausgaben und Mieten waren zwar niedrig, trotzdem hatte ich finanzielle Probleme.
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die entdeckung amerikas
Der Onkel in Amerika
Ich wendete mich vertrauensvoll an meinen Onkel Harry. Er war über mei-
ne Waghalsigkeit entsetzt, aber er lieh mir 1000 Dollar, die ich versprach, in drei
Jahren zurückzuzahlen. (Ein Versprechen, das ich auch einhalten konnte.)
Das war eines der seltenen Treffen mit meinem Onkel Harry, der ein merkwürdiger,
von vielen Komplexen geplagter Mensch war. Er, der schon 1914 Deutschland verlassen hatte, fühlte sich (nicht ganz grundlos) durch Antisemitismus bedroht. Seinen Na-
men hatte er zu Harry Lowry amerikanisiert. Meine Besuche waren ihm unerwünscht,
weil es auffallen hätte können, dass er mit einem jüdischen Refugee verkehrt. Solange
wir in Europa waren, hatte er meiner Mutter regelmäßig lange Briefe geschrieben.
Weil er fast immer einen Fünf- oder Zehn-Dollar-Schein in seine Briefe einschloss, war
er für uns der „reiche Onkel aus Amerika“. Erst nach meiner Ankunft fand ich heraus,
dass er, schon dreiundvierzigjährig, als Gepäcksportier in einem zweitklassigen Hotel
eine sehr untergeordnete Stelle hatte. Später kündigte er auch diese Position, weil
sie ihm als zu verantwortlich erschien. Er lebte dann von seinem Vermögen, das er
früher in Guatemala in der Hotelbranche erworben hatte, in einem billigen Hotelzim-
mer, schwamm täglich im Hudson-River, bis er 1974 im dreiundachtzigsten Lebensjahr
starb. Trotz aller seiner Komplexe war er ein liebenswerter Mann, warmherzig, groß-
zügig, der Musik und besonders der Oper ergeben. Bis in sein hohes Alter hatte er
eine ungeheure Anziehungskraft auf Frauen, aber ich durfte seine vielen Freundinnen,
die ihn aufopfernd pflegten und umsorgten, nie kennenlernen.
Er interessierte sich für alles, was ich tat, war aber über mein „verrücktes Le-
ben“, wie er es nannte, entsetzt. Ich war zu Tränen gerührt, als ich nach seinem
Tode erfuhr, dass er in seinem Testament das „Zentrum für Umweltplanung“, von
dem er wusste, wie wichtig es für mich war, mit 500 Dollar bedacht hatte. Die 1000
Dollar, die er mir lieh, betrachtete ich als eiserne Reserve, mit der wir zum Beispiel
eine Sekretärin bezahlen konnten, die zwar ganz tüchtig war, aber Elsie und mich
tyrannisierte.
Ein bemerkenswerter Charakter
Der erste neue Klient, der die steile Stiege heraufkletterte, war ein Herr
Stefan Klein. Er war einer der bemerkenswertesten Charaktere, die ich je traf: Herr
Klein hatte, aus Polen kommend, einige Jahre in Wien verbracht, wo er als Vertreter
von Karlsbader-Oblaten in engem Kontakt mit Bonbon-Geschäften stand und viel
selbständig
über die Erzeugung und den Vertrieb von Schokoladen-Pralinen gelernt hatte. Er
kam zu mir, weil er in Wien Läden, die ich entworfen hatte, kennengelernt und be-
wundert hatte. Er benützte, egal ob er deutsch oder englisch sprach, viele jiddische
Wörter sowie den Tonfall und die Satzstellung dieses deutsch-russisch-hebräischen Sprachgemisches.
Er begann das Gespräch mit dem für mich unvergesslichen Satz: „Unter wie viel,
Herr Architekt, können Sie nicht entwerfen ein kleines Bonbon-Geschäft?“ Meine
Antwort: „So ein Geschäft kann nicht unter 2500 Dollar eingerichtet werden.“ Er sah mich treuherzig an und fragte, ob es nicht für 2000 Dollar möglich wäre. Ich
verneinte, worauf er unser Atelier enttäuscht verließ. Nach einer halben Stunde
keuchte er ein zweites Mal den steilen Weg zu uns hinauf und machte ein Angebot von 2200 Dollar. Ich meinte, man könne hierüber nicht feilschen, nach meiner
Erfahrung wären 2500 Dollar ein Minimum. Unter heftigen Gebärden hielt er mir
vor, dass ich eine große Chance verlöre, er beabsichtige nämlich, eine große Kette solcher Läden zu errichten, und ich solle mir doch ausrechnen, was das für meine
Zukunft bedeute. Ich blieb bei der erstgenannten Summe. Erst bei einem dritten
Besuch stimmte er dem Voranschlag von 2500 Dollar zu. Dann die Verhandlungen über das Honorar. Ich verlangte die üblichen zehn Prozent, er bot fünf. Es dauerte
geraume Zeit, bis wir Übereinstimmung erzielten. Dann erkundigte ich mich einigermaßen besorgt, ob er denn überhaupt über das notwendige Kapital verfüge. Ich solle das seine Sorge sein lassen, meinte er.
Das von Herrn Klein gemietete Geschäftslokal befand sich am oberen Broadway
in der Nähe der 82. Straße in einer Wohngegend des jüdischen Mittelstandes. Was
Herr Klein von uns erhielt, überstieg dieses Honorar bei Weitem: Wir entwarfen nicht nur das Geschäftsinnere und das Portal, sondern erfanden auch den Namen
„Barton’s Bonbonniere“7 und entwarfen das Markenzeichen, Briefpapier, Packpapier und Firmenschild.
Der kleine Geschäftsraum wurde durch einen vorfabrizierten, in Schweden er-
zeugten Holzstabparavent derart vom Lager abgegrenzt, dass sich ein Halbkreis
ergab. Durch Verspiegelung einer Wand entstand optisch die Illusion von einem
kreisförmigen Raum. Dieser Eindruck wurde verstärkt durch die Deckenbeleuch-
tung, die aus mehreren kleinen Halbkreisen aus lauter einzelnen Glühbirnen be-
7
1938 gründete Stephen Klein Barton’s Bonbonniere, bekannt als Barton’s Candy. Der Betrieb boomte in den Fünfzigerjahren und produzierte Süßigkeiten in fünf Fabrikanlagen in Brooklyn, New York. In den Sechzigerjahren verkaufte die Kleinfamilie den Betrieb, der Name blieb bis 2009 erhalten.
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die entdeckung amerikas
stand. Durch eine einzige große Glasscheibe konnte man von außen den gesamten
Verkaufsraum überblicken, der mit dekorativen Vitrinen und einem von Elsie gestalteten, mit handgemaltem Muster dekorierten Ladentisch ausgestattet war.
Geschäft, aber auch Ware brachten Herrn Klein einen durchschlagenden Erfolg.
Sein Angebot schloss eine amerikanische Marktlücke: Kleine, typische Wiener Pralinen, die von Herrn Klein und seinen sechs Brüdern in einer gewöhnlichen Küche
handgefertigt wurden. Bis dahin hatte es nur massenfabrizierte übergroße Bonbons gegeben, die in der Drogerie, lieb- und geschmacklos verpackt, zu kaufen wa-
ren. Einen Bonbonladen europäischer Art hatte es bisher nicht gegeben.
Bald wusste ich, dass Stefan (wie wir ihn später nannten), als er uns den Auf-
trag erteilte, weder das Geld für den Geschäftsbau noch das Honorar für unsere
Arbeiten besessen hatte. Aber jetzt begann eine Erfolgsgeschichte, die man als die
„Stefan-Klein-Saga“ bezeichnen könnte und die beweist, dass die Vereinigten Staaten, zumindest für den Tüchtigen, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten waren. Binnen weniger Wochen konnte Herr Klein nicht nur bezahlen, sondern uns
auch mit dem Entwurf für fünf weitere Geschäfte betrauen. Nach dem sechsten
Laden meinte er, dass er sich Architektenhonorare ersparen könne, weil er die Geschäfte nun ja nur zu kopieren brauche. Er arbeitete von da an nur mehr mit Bau-
unternehmungen, wobei die Qualität des Aussehens ständig sank.
Über Ersuchen stellte er Lizzie als Schaufensterdekorateurin an. Später wurde
sie leitende Schaufenstergestalterin und arbeitete lange Zeit für ihn in der Region
von San Francisco.
Etwa zwölf Jahre nach der ersten Zusammenkunft hielt ich mich zufällig wieder
in New York auf. Aus Los Angeles, wo damals längst mein Büro war, wurde mir ein
Telegramm nachgesandt, dass Herr Klein mich zu sprechen wünsche. Über meinen
sofortigen Anruf war er erstaunt und geschmeichelt. Ich ließ ihn in dem Glauben, dass ich nur seinetwegen nach New York gekommen wäre. Er erklärte stolz, dass
er nun vor der Eröffnung seines 50. Geschäftes stehe. Zu diesem Zweck habe er
ein kleines Gebäude gegenüber New Yorks größtem Warenhaus, Macy’s, erworben.
In dankbarer Erinnerung daran, dass ich der Schlüssel zu seinem Erfolg gewesen
war, bestand er darauf, dass ich dieses besonders glanzvoll zu gestaltende Geschäft entwerfen müsse. Ich gratulierte zu seinem Erfolg, brachte aber meine Bedenken
über eine gute Zusammenarbeit zum Ausdruck, da ich ihn als unangenehmen „Chiseler“ (Feilscher) in Erinnerung habe. Herr Klein protestierte heftig. Es sei wohl
richtig, dass er einmal ein „Chiseler“ gewesen sei, aber jetzt, als Besitzer einer großen Candy-Fabrik, von 49 Geschäften und zwei Cadillacs, gebe es keinen Grund
selbstständig
mehr zu feilschen. Er würde mir das beweisen, indem er jede Honorarforderung annehmen würde.
Ich wollte ihn auf die Probe stellen und führte aus, dass ich wegen der großen
Preissteigerungen, und da es sich um die Gestaltung eines ganzen Hauses handle, die Kosten auf etwa 70.000 Dollar schätze und deshalb ein Honorar von 7000 Dollar
verlangen müsse. Nach einem Moment totaler Stille kam eine sehr kleinlaute Stimme: „Könnten es nicht sein 6000 Dollar?“
„Aber Stefan“, rief ich, „Sie haben ja gerade versprochen nie mehr zu feilschen!“
Wieder eine lange Stille und dann ganz zaghaft: „Nur noch dieses eine Mal, bitte!“ Ich musste unbändig lachen. Dieser Lacher war mir 1000 Dollar wert.
So kam es zum Bau der 50. Barton-Bonbonniere. Ein neues Image für diese Stores
schien mir fällig, sodass ich einen der talentiertesten Künstler Amerikas, Alvin Lustig,
zur Neugestaltung der Aufschriften und Firmenzeichen heranzog. Der Gesamtein-
druck des neuen Geschäftes war so sensationell frisch und lebendig. Architekturzeit-
schriften lobten vor allem das Spielerische und Farbenfrohe der neuen Komposition. Nach weiteren zehn Jahren hörte ich von Stefan Klein das nächste Mal. In der
Zwischenzeit konnte man das phantastische Wachstum des Barton-Imperiums verfolgen. In jeder Stadt des Westens und Mittleren Westens, in jedem Einkaufszent-
rum schossen Barton-Geschäfte wie Pilze aus dem Boden. Barton-Candies waren in jedermanns Munde.
Als er mich Anfang der Sechzigerjahre anrief, hatte er die Leitung der Geschäfte
längst in die Hände seiner sechs Brüder gelegt und betätigte sich im Realitätengeschäft. Nun lautete seine Frage: „Victor, unter wie viel können Sie nicht bauen
ein sechzigstöckiges Bürogebäude?“ Ich erwiderte, dass ich mit ihm lieber in guter
Freundschaft leben, als über Kosten und Honorare streiten wolle.
Designer in New York
In den ersten Monaten der Selbstständigkeit erhielten wir einige interes-
sante kleine Aufträge, z. B. zur Einrichtung einer eleganten Wohnung, zur Ausgestaltung von Ausstellungsräumen und zum Entwurf einer beträchtlichen Anzahl
von Läden. Zum Beispiel stammt die Gestaltung des skandinavischen Delikatessengeschäftes Old Denmark, das sich großer Beliebtheit erfreute, von uns: Wir waren
überaus beschäftigt, doch die finanziellen Resultate waren sehr bescheiden.
Eines Tages kam ein überraschender Besuch. Der Kompagnon unseres früheren
Arbeitgebers Ivel, der Geschäftsführer Herr Berthel, machte uns das Angebot, unser
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Partner zu werden. Seine eigene Firma wollte er verlassen. Er bewundere unsere
Arbeiten und wäre zur Überzeugung gekommen, dass wir größeren Erfolg verdienten. Nur fehle es uns offensichtlich an Geschäftssinn. Wenn wir ihn als tüchtigen
Kaufmann zur Seite hätten, könnten wir viel Geld verdienen. Elsie und mir schien
der Vorschlag nicht ganz geheuer. Wir fragten, was er denn unter „viel Geld“ ver-
stünde. Mindestens 300 Dollar wöchentlich, war seine Antwort. Dies schien uns als eine unverantwortliche Aufschneiderei. Wie lehnten seinen Vorschlag ab.
Bald darauf erhielten wir einen Prestige-Auftrag. Es handelte sich wieder um ein
Süßwarengeschäft und wieder um Wiener Flüchtlinge: Die Herren Altmann und
Kühne, die am Wiener Graben das renommierte Bonbon-Geschäft, das von dem
berühmten Architekten Josef Hoffmann entworfen war, betrieben hatten.8 In einem
Lokal an der Fifth Avenue, genau gegenüber vom Lederer-Geschäft, wollten sie eine Confiserie ganz besonderer Art eröffnen.
Dies war eine große Herausforderung. Wir hatten die Idee, Pralinen wie Juwelen
zu präsentieren. Der zur Verfügung stehende hohe Raum wurde im rückwärtigen
Teil mit einem Balkon ausgestattet, zu welchem man über eine spiralförmige Treppe mit Glasgeländer gelangte. Dort wurden Sonderbestellungen für große gesellschaftliche Ereignisse entgegengenommen. Prunkvoll war der Geschäftsraum in
Weiß und Gold gehalten. Rosa Akzente verliehen den Charme, den man in einem exquisiten Süßwarensalon erwartet.
Als Anfang Dezember 1939 die Hüllen der Konstruktionsbarrikaden fielen, fand
eine Premiere im Broadway-Stil statt. Das Geschäft wurde als die schönste Confi-
serie der Welt gepriesen. In einer Weise, die sonst nur der Besprechung von Kunst-
werken zukommt, wurde das Ereignis in großen Zeitungsartikeln gewürdigt. Im
Buch über Laden-Architektur in Amerika schrieb Emrich Nicholson im Vorwort,
dass an beiden Seiten der Fifth Avenue in New York, genau gegenüber, zwei Ge-
schäfte liegen, die wohl als die schönsten Amerikas bezeichnet werden können:
Lederer und Altmann & Kühne.9
Wieder erhielten wir ein verlockendes Angebot, unsere Selbstständigkeit aufzu-
geben. Diesmal kam es von der Baugesellschaft, die die Arbeiten für das Geschäft
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Altmann & Kühne eröffneten 1932 ihre erste Konfiserie am Wiener Graben in einem von den Architekten Josef Hoffmann und Oswald Haerdtl gestalteten Geschäft. Sie spezialisierten sich auf die Herstellung von handgemachtem Miniatur-Konfekt und Bonbons, die in Verpackungen der Wiener Werkstätte vertrieben wurden. Emrich Nicholson, Contemporary Shops in the United States. Architectural Book Publishing: New York 1945, 45.
die premiere
Altmann & Kühne durchgeführt hatte, sie wollten uns zu ihren Chefarchitekten machen. Wir lehnten ab.
Auf diesem Sensationserfolg hätte sich in New York eine schöne Karriere auf-
bauen lassen, um den Preis allerdings, dass man uns mit dem Stempel der „Ladenbau-Spezialisten“ versehen hätte. Wieder einmal kam es zu einem jener glücklichen Zufälle – auch „Maser“ genannt –, die mein Leben immer wieder beeinflussten.
Auch dieses Mal wurde ich von der einseitigen Spezialisierung bewahrt.
Die Premiere Noch bevor dieses Zufallsereignis aber eintraf, war es zu einem anderen
gekommen, das wir viele Monate vorausgeplant hatten. Am 20. Juni 1939 fand im
Musicbox Theatre, einem der schönsten Theater am Broadway, die Premiere der ersten Produktion der „Viennese Theatre Group“ statt. Die musikalische Revue trug
den Titel „From Vienna“. Die Tragweite unseres Wagnisses war uns klar.
Die meisten der jungen Schauspielerinnen und Schauspieler sollten zum ersten
Mal in einem wirklichen Theater auf einer wirklichen Bühne stehen, noch dazu in
einem amerikanischen und am Broadway. Für mich bedeutete es noch mehr. Am
Morgen war meine Mutter aus England in New York eingetroffen. Jetzt saß sie im
Zuschauerraum, um schon am ersten Abend ihres Aufenthaltes eine Show zu sehen, die ihr Sohn produziert hatte.
Durch das Guckloch im Bühnenvorhang wollte ich sehen, ob überhaupt Publi-
kum da war. Schließlich war es Sommerzeit und tote Theatersaison. Der Zuschauerraum war zum Bersten voll. Nach der musikalischen Ouvertüre, für die wir nach
den Gewerkschaftsregeln ein amerikanisches Orchester engagieren mussten, und
die überhaupt nicht zu unserer intimen Revue passte, hob sich endlich der Vorhang. Zur Einleitung sang das gesamte Ensemble den Song „Dear Parents“, einen
wehmutsvollen Brief an „die Eltern daheim“. Es folgte das Stück von Hans Weigel10,
„Musical Day“, in dem klassische Musik parodiert wurde, und das Werner Michel ins Englische übertragen hatte. Das Hauptstück des ersten Teiles war Jura Soyfers
„Journey to Paradise“ in sechs Szenen. Nach der Pause folgten ein Sketch über die
Salzburger Marionetten-Spiele, eine Solo Tanz- und Gesangsnummer mit Illa Roden (Text: Peter Hammerschlag11) und die Humoreske „English in Six Easy Lessons“,
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Hans Weigel, österreichischer Schriftsteller und Theaterkritiker, überlebte die Kriegsjahre im Exil in der Schweiz und kehrte danach nach Wien zurück. Peter Hammerschlag war ein österreichischer Dichter, Schriftsteller, Kabarettist und soge-
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die entdeckung amerikas
in der wir unsere Sprachschwierigkeiten „überspielten“. Den Schluss bildete der
Chorvortrag von Wiener Liedern, in deutscher und englischer Version. Die Auffüh-
rung verlief trotz des Premierenfiebers glatt und ohne Fehlleistung. Reichlich Beifall nach den einzelnen Szenen.
Nach der Vorstellung warteten wir alle aufgeregt bis zum Morgengrauen auf das
Erscheinen der Kritiken. Wir waren nervös, denn wir wussten in der Zwischenzeit, dass schlechte Kritiken, besonders in der führenden New York Times, jeder Show ein jähes Ende bereiteten. Noch bevor der Tag anbrach, atmeten wir erleichtert
auf: Die Zeitungen brachten ungewöhnlich lange Besprechungen, die von warmer
Sympathie bis zur Begeisterung reichten. Das erste lange Stück „Journey to Paradise“ wurde etwas weniger gelobt als die heiteren kurzen Szenen. Voll Bewunderung
wurde quittiert, dass eine Schar von Heimatvertriebenen so kurz nach ihrer Ankunft eine respektable Broadway Show in gutem Englisch auf die Beine gestellt hat. Ich zitiere aus einem von drei Artikeln des großen Brooks Atkinson in der New
York Times:
Niemand kann daran zweifeln, dass wir dankbar sein müssen für ihre Anwe-
senheit, denn die ‚Refugee Artistsʻ sind heitere und charmante Leute mit viel Ta-
lent und einer gewinnenden künstlerischen Einstellung ... Es war viel Emotion auf beiden Seiten der Rampenlichter, eine Emotion, die ohne Einschränkung von allen geteilt werden konnte ... Die Begeisterung, mit der diese Schauspieler jede Rolle
angehen, ist an sich schon bewundernswert, eine ‚Revue-Technikʻ, die hierzulande unbekannt ist ... Eine der offenkundigen Wahrheiten ist, dass diese ‚Refugeesʻ
Talente und Ideen mit sich bringen, die unsere Kultur bereichern werden ...
Der Artikel schließt mit den Worten: „Hitler’s loss: our gain!“ (Hitlers Verlust:
unser Gewinn!)
Die Kritiken waren so gut, dass sie den Zusammenhalt der Gruppe gefährdeten.
Einzelne Schauspieler wurden als Stars herausgegriffen, vor allem Illa Roden (das
Mädchen, das mich in Wien vor der Gestapo gewarnt hatte). Von ihr meinte man, sie verdiene es, sofort in einer großen Show aufzutreten. Tatsächlich wurde ihr
bald nach der Premiere eine führende Rolle in einer Broadway-Show angeboten, die sie aus Gründen der Loyalität zur Gruppe ablehnte.
Für die gesamte Spielzeit von drei Monaten standen wir im Mittelpunkt des öfnannter „Blitzdichter“, d. h. er machte auf Zuruf aus dem Publikum im Stegreif Gedichte. Vor dem Krieg war er als Hausautor der Wiener Kleinkunstbühne „Der liebe Augustin“ tätig und verfasste darüber hinaus Beiträge für Die Stachelbeere, Literatur am Naschmarkt, ABC u. a. Er starb 1942 im Konzentrationslager Auschwitz.
der ruf des westens
fentlichen Interesses! Interviews, Bildberichte, Rundfunkbesprechungen. Eine große Freude bereitete der Besuch von Eleonore Roosevelt, Gattin des US-Präsidenten.
Sie kam auf die Bühne und dankte allen Mitwirkenden persönlich.
Aufgrund des Erfolges von „From Vienna“ wurde eine zweite Revue „Reunion in
New York“ einstudiert, die am 21. Feber 1940 erstaufgeführt wurde und ebenfalls
ungefähr drei Monate lief. Sie war bereits viel amerikanischer und routinierter. Un-
ter anderem wurde für sie das ernste Gedicht „Das Dachaulied“ dramatisiert, das
Jura Soyfer im Konzentrationslager geschrieben hatte und das herausgeschmuggelt
worden war.
Die Bühnenbilder wurden diesmal von dem Wiener Harry Horner entworfen,
der schon im „Politischen Kabarett“ mitgewirkt hatte und dessen amerikanische
Traumkarriere schon erwähnt wurde.
Obwohl auch diese Show drei Monate hindurch enormen Erfolg hatte, lösten
wir an ihrem Ende die Gruppe auf. Mein am 11. März 1938 gegebenes Versprechen
war mehr als erfüllt. Fast allen Mitgliedern des Teams stand nun die Möglichkeit offen, im amerikanischen Theater oder Filmbetrieb unterzukommen. Einige waren
von da an in den USA sehr erfolgreich, einige kehrten nach dem Krieg nach Europa zurück.
Mir hat die Betätigung mit der „Viennese Theatre Group“ nicht nur große per-
sönliche Befriedigung gegeben, sondern auch die Zusammenarbeit mit führenden
amerikanischen Künstlern und Intellektuellen ermöglicht, wodurch vielleicht mei-
ne Amerikanisierung beschleunigt und vertieft wurde.
Unser Regisseur Herbert Berghof heiratete die deutsche Schauspielerin Utah
Hagen und führt noch immer eine erfolgreiche Theaterschule, die auch Vorstellungen gibt. Ich hatte, als seltsame Parallele zu meinem ersten Auftrag für eine
Tanzschule in Wien, den Umbau des vierstöckigen Pferdestalles in eine Theaterschule und Spielstätte gestaltet. Vor Kurzem habe ich übrigens ein Programmheft der „Herbert Berghof Spieler“ erhalten. Das Schauspielerverzeichnis enthielt auch
(in der Nebenrolle der 4. Maus) den Namen meiner zwölfjährigen Enkelin, Madeleine Gruen, einer der drei Töchter meines Sohnes.
Der Ruf des Westens Nach erfolgreichem Abschluss meiner Theaterzeit wollte ich mich nun
völlig der Architektur widmen. Der Ruf des Westens erreichte mich in der Form eines unbedeutenden Telefonanrufes. Ein mir unbekannter Phil Harris stellte sich
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die entdeckung amerikas
als Vizepräsident eines Damenbekleidungshauses vor und ersuchte mich um eine
Gefälligkeit. Einer seiner Angestellten, ein Herr Zwarowsky (der Bruder von Ruth
Yorke), hatte ihm meinen Namen und Telefonnummer gegeben. Ob ich einen meiner technischen Zeichner für einige Stunden in sein Büro senden könne. Es handle
sich um eine kleine Änderung an den Plänen der Probierkabinen eines großen Geschäftes an der Westküste, das eben errichtet werde. Er wisse genau, was er wolle,
könne es aber nicht maßstabsgetreu zu Papier bringen. Selbstverständlich würde
ich für die Überlassung meines Angestellten ausreichend bezahlt werden. Ich er-
klärte, dass ich jedem, der mit Ruth Yorke, wenn auch noch so entfernt, bekannt sei, behilflich sein würde.
Da der einzige technische Zeichner, den mein Büro besaß, ich selbst war, begab
ich mich mit den nötigen Zeichenutensilien zur Firma Grayson im Garment-Center auf der Seventh Avenue.
Mr. Harris war sehr geschmeichelt. Er erklärte seine Änderungswünsche, die
ich innerhalb einer Stunde aufzeichnete. Er erzählte mir, dass diese Pläne für ein
Geschäft in Seattle, im Staate Washington seien, das das erste große Zweiggeschäft an der Westküste darstellen solle. Später würden eine Reihe von Zweigstellen in
anderen Städten der Westküste folgen. Voll Stolz präsentierte er das gesamte Plan-
paket, das von einem Architekten in Seattle stammte. Der Form halber erkundigte er sich, wie es mir gefiele.
Ich fand die Arbeit unterdurchschnittlich und dachte, dass ich nichts verlieren
könne, wenn ich meine Meinung ehrlich sagte. Ich kritisierte ziemlich schonungslos und wies besonders darauf hin, dass der Entwurf die Tatsache, dass es sich um
ein vierstöckiges Gebäude handelt, völlig unberücksichtigt ließ. Die oberen Stock-
werke blieben völlig ungenützt. Meiner Meinung nach sollte dies zumindest in der Gestaltung der Fassade ihren Niederschlag finden. Der jetzige Entwurf, der nur eine konventionelle, parterrehohe Auslagenfront vorsah, war meiner Ansicht nach eine „verpasste Gelegenheit“, die der Errichtung weiterer Geschäfte nicht gerade
nützlich sein würde.
Mr. Harris war ganz bestürzt. Er bat mich einen Augenblick zu warten, eilte da-
von und kam mit der Nachricht wieder, dass der Generaldirektor, Mr. Heiman Kouschai, mit mir sprechen wolle.
Im Chefzimmer fand ich ein Bild vor, wie ich es nur aus amerikanischen Filmen
kannte. Großes Eckzimmer, imponierender Schreibtisch in der entferntesten Ecke, im überdimensionierten Fauteuil dahinter Herr Heiman Kouschai mit einer dicken
Zigarre, zurückgelehnt, die Füße auf dem Schreibtisch. Ohne die Zigarre aus dem
der ruf des westens
Mund zu nehmen murmelte er herablassend: „Junger Mann, ich habe mit Erstaunen
gehört, dass der Entwurf für unser großes Geschäft in Seattle nicht Ihren Beifall
findet. Beschreiben Sie mir kurz und bündig, was Ihnen nicht gefällt.“
Völlig unbeeindruckt trug ich meine Ansichten vor, auf die er mit ironischem
Lächeln reagierte: „Es ist zwar schon zu spät, irgendetwas an den fertigen Plänen
zu ändern, aber spaßeshalber würde ich gerne sehen, wie Sie sich die Gestaltung der Außenfront vorstellen.“
In professioneller Pose antwortete ich, dass ich spaßeshalber keinen Finger rüh-
ren würde, worauf er mein Honorar für eine einfache Ideenskizze wissen wollte.
Kurz entschlossen nannte ich den mir exorbitant erschienenen Betrag von hundert
Dollar. Er grinste: „Heute ist Freitag. Wenn Sie mir Ihren Entwurf Montag vormittags vorlegen, zahle ich das Doppelte.“ Mit Vergnügen stimmte ich ein.
Mein Versprechen war weder leichtsinnig noch unverschämt, wie es vielleicht
schien, denn ich war meiner Sache ganz sicher. Die Grundidee der Fassade war mir
schon während des Gespräches mit Mr. Harris gekommen: Der vordere vierstöckige,
hässliche und völlig unnütze Gebäudeteil müsste von der Straße weg zwanzig Meter
nach innen abgerissen werden, nur die zwei dachtragenden Pfeiler sollten bleiben.
Auf diese Weise könnte entlang der viel begangenen Straße eine imposante Vorhalle
von ungefähr gleicher Breite, Höhe und Tiefe entstehen. Diese könnte nach oben hin durch eine parabolisch geschwungene Decke abgegrenzt werden, die von der Höhe
des vierten Stockes aus bis in das Parterre-Verkaufsgeschoß herunterreichen würde.
So würde eine zwanzig Meter tiefe Arkade mit zwei großen Seitenschaufenstern
und zwei freistehenden Schaukästen rund um die zwei Tragpfeiler entstehen, erst an ihrer rückwärtigen Glaswand würden zwei Vollglastüren den Zutritt eröffnen.
Ich zeigte Elsie die mitgebrachten Planunterlagen, schilderte meine Vision und
auch die „Postarbeit“ für das Wochenende. Nun mussten wir in maßgerechten
Zeichnungen herausfinden, ob die Idee realisierbar war. Dann kam die vielleicht
wichtigste Aufgabe: Elsie fertigte eine farbige Perspektivzeichnung, die in überzeugender und für einen Laien leicht verständlichen Weise die Idee zum Ausdruck
brachte. Wir arbeiteten wie die Besessenen an Grundrissen, Schnitten und Ansich-
ten und waren Sonntagabend fertig.
Montag um pünktlich zehn Uhr präsentierten wir unsere Arbeit. Herr Kou-
schai war durch die effektvolle Zeichnung beeindruckt. „Dieser Entwurf ist wohl das Verrückteste, das mir je untergekommen ist“, meinte er, „aber er zeigt einiges
Talent, und vielleicht können wir Ihnen in der Zukunft die Gelegenheit geben, für Grayson’s zu arbeiten.“ Er gab uns einen Scheck über zweihundert Dollar und gab
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die entdeckung amerikas
schmunzelnd jener Hoffnung Ausdruck, dass sein kalifornischer Partner die Zeich-
nungen nie sehen würde. Dieser wäre nämlich ein Narr, sodass ihm unsere Ideen möglicherweise noch gefielen.
Gerade als er unser Projekt in einem Schrank verwahren wollte, öffnete sich die
Türe. Wie „deus ex machina“ erschien der kalifornische Partner. Hoch gewachsen und schlank, einen breitkrempigen Sombrero über dem gebräunten Gesicht, völlig
in Weiß gekleidet, auch die Reitstiefeln schneeweiß: Walter Kirschner. Über der
Adlernase leuchtende schwarze Augen.
Obwohl Mr. Kouschai uns in größter Eile hinauskomplimentierte, wollte Mr.
Kirschner wissen, wer wir seien und was uns hierher geführt habe. Er erspähte
die Zeichnungen und trotz aller Proteste seines Partners bestand er darauf, sie zu
sehen. Er studierte sie ernsthaft einige Minuten, dann wandte er sich an Elsie und
mich mit sonorer Stimme: „Was habt ihr Kinder zum Mittagessen vor?“ „Nichts
Unaufschiebbares“, antworteten wir. „Dann werden wir eine kleine, intime Besprechung während eines Mittagessens haben, und zwar nur wir drei.“
Das intime Mittagessen fand im protzigen, großen Speisesaal des Hotels New
Yorker statt, wo zur Unterhaltung der Gäste eine lärmende Eisrevue auftanzte. Sich
bei diesem Lärm zu verständigen, war schwer möglich, aber schließlich verstanden
wir Kirschners Frage, was wir denn für morgen vorhätten. Auf meine angeberische
Rede, dass ich erst den Terminkalender zu Rate ziehen müsste (obwohl ich ohnehin am folgenden Tag nichts vorhatte), winkte er ab: „Ich weiß genau, was ihr morgen
macht. Ihr fliegt nach Seattle und machte neue Pläne für das dort zu errichtende Geschäft, und zwar aufgrund der Ideen, die ihr präsentiert habt.“
Von da an ging es in aufregenden Dimensionen weiter. Dienstag nachmittags sa-
ßen Elsie und ich, die wir beide nie weit aus New York hinausgekommen waren, in
der ersten Klasse des Nachtflugzeugs von New York nach Seattle. Das Fliegen war
übrigens zur Zeit der Propellerflugzeuge wohl langsamer, aber in vieler Beziehung angenehmer als später im Jet-Zeitalter. Nach dem Start wurden Cocktails und ein
ausgezeichnetes Abendessen serviert, dann wurden die Sitze, wie in einem Eisen-
bahnschlafwagen, in obere und untere Betten verwandelt. Nach gutem Schlaf wurde das Frühstück im Bett serviert, und nachdem wir genügend Zeit zum Waschen
und Anziehen gehabt hatten, landeten wir in Seattle an der Westküste.
Mr. Kirschner hatte uns mit einem sorgfältig ausgeklügelten Reiseplan ausge-
stattet. Das sah nicht nur die Besichtigung des Lokals in Seattle und Gespräche
mit den dortigen Generalunternehmern vor, sondern für den Zeitraum von zehn
Tagen auch den Besuch einer ganzen Reihe von anderen Städten. Dort sollten wir in
der ruf des westens
Aussicht genommene Mietlokale inspizieren, um uns ein Urteil über Geschäftslage
und bauliche Eigenschaften bilden zu können. Die Blitztour ging unter anderem nach Portland (Oregon), San Francisco, Los Angeles, Santa Monica, San Diego (alle
Kalifornien), Omaha (Nebraska) und Chicago (Illinois).
Uns quälte der Gedanke, dass wir kaum genügend Zeit haben würden, die ver-
schiedenen Flugverbindungen zu bewältigen. Dann aber verlief die Prüfung der
verschiedenen Standorte einfacher als wir dachten. Bald hatten wir die Richtig-
keit des Ausspruches: „If you know one American mainstreet you know them all!“
(Wenn du eine amerikanische Hauptgeschäftsstraße kennst, kennst du sie alle!)
erkannt. Überall gab es ein sogenanntes „hot corner“, wo sich die Hauptverkehrs-
straße mit ihrer besten Nebenstraße kreuzte. Je näher ein Lokal zu dieser Ecke
lag, desto höher konnte es bewertet werden. Im Übrigen fand man überall Zweiggeschäfte der nationalen Ketten mit identischen Geschäftsfronten, Auslagen und
Innenausstattungen. Die Ausnahme von der Regel bildete eigentlich nur der Ort,
von dem wir gekommen waren, Manhattan, der trotz aller seiner Wolkenkratzer in vielerlei Beziehung die europäischste Stadt Amerikas zu sein schien.
In der kurzen Zeit, die zur Verfügung stand, mussten wir uns bei der baulichen
und räumlichen Begutachtung mehr auf Intuition als auf gründliche Forschung verlassen. Nach unserer Rückkehr erstatteten wir ziemlich erschöpft, aber ausführlich
einen Bericht, der positiv aufgenommen wurde. Es wurde uns mitgeteilt, dass wir
uns von nun an als „Haus- und Hofarchitekten“ sowohl der Grayson-Kette als auch
der verwandten Robinson-Kette betrachten könnten. Ein Status, der, wie sich spä-
ter zeigen sollte, uns für viele Jahre kreuz und quer durch Amerika führen sollte.
Das erste Projekt war das große Geschäft in Seattle. Wir mussten sofort dorthin
zurück, um im Büro des Bauunternehmers mithilfe seines technischen Stabes alle
notwendigen Pläne herzustellen. Einige Monate lang versuchten wir auch das New
Yorker Atelier aufrechtzuerhalten und ernannten Michael Auer, einen alten Freund
von Elsie, zum Partner. (Die Firma hieß für kurze Zeit „Grünbaum, Krummeck und
Auer“). Es zeigte sich jedoch bald, dass ohne unsere ständige Anwesenheit die New
Yorker Tätigkeit verebbte. Wir pendelten zwar noch einige Zeit zwischen New York
und der Westküste, mussten aber bald erkennen, dass unsere ständige Anwesenheit in Südkalifornien notwendiger war, da die Hauptentscheidungen vom dynamischen Walter Kirschner getroffen wurden, der auf einer Ranch in Indio, nicht
weit von Palm Springs und Los Angeles, residierte. Wir mieteten eine heruntergekommene, aber möblierte Wohnung in der Irolo-Straße, in der Nähe des Wilshire
Boulevards, der Hauptschlagader der Region Los Angeles.
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die entdeckung amerikas
Walter Kirschner war als sehr junger Mann aus Russland, wo er für den Beruf
eines Rabbis bestimmt war, geflohen und als blinder Passagier mit einem Schiff
nach New York gelangt. Dort arbeitete er einige Zeit für einen Fleischermeister namens Grayson und dann im New Yorker Textil-Viertel. Durch Glück und Geschick gelang es ihm, Teilbesitzer einer noch im Gründungsstadium befindlichen Kette
von Damenkonfektionsgeschäften zu werden, die er in Erinnerung an das Fleischergeschäft Grayson nannte.
Wie er bei der Gründung neuer Zweiggeschäfte an der Grenze des Erlaubten
manövrierte, sollte ich in Portland erfahren. Er erschien dort in einem schneeweißen Cadillac und in Begleitung einer bildschönen jungen Dame, die er als seine
Krankenpflegerin vorstellte. Er mietete die eleganteste Suite im besten Hotel. An die Frau des Besitzers des von uns für gut befundenen Gebäudes sandte er einen
großen Korb mit Früchten von seiner Ranch (Orangen, Mandarinen, Grapefruits
und Datteln) sowie einen riesigen Blumenstrauß. Dann besuchte er den Hausherrn. Mit gewinnendem Charme verhandelte er über den Mietvertrag und es gelang ihm, eine schriftliche Option zu erlangen, die, sobald die Bonität Grayson’s
bewiesen war, in einen Mietvertrag verwandelt werden würde. Dann eilte er zur größten lokalen Bank, um dort dem Direktor den schriftlichen Optionsverträge für den großen Laden in bester Lage vorzulegen, worauf er die Bank einlud, ihm einen
Kredit zur Verfügung zu stellen. Der Banker wollte sich diese Gelegenheit nicht
entgehen lassen, worauf auch seine Frau einen Früchtekorb und Blumenstrauß erhielt. Als sich am nächsten Tag der Hausbesitzer erkundigen kam, erhielt er die
beruhigende Auskunft, dass Kirschners Firma einen beträchtlichen Kredit bei der
Bank besäße.
Er war durch und durch extrovertiert. Er liebte es, sich in Szene zu setzen und
seine Mitwelt durch Freigiebigkeit und Charme für sich zu gewinnen. Auf seiner
großen Ranch arrangierte er gerne Gesellschaften, um mit den enormen Ausma-
ßen seines im spanischen Stil erbauten Landhauses und mit seinen zwei großen
Swimming-Pools zu imponieren. Der überdimensionierte Wohnraum mit riesigen
Fenstern erinnerte an die Auslage eines Einrichtungshauses. Er war übermöbliert
und besaß auch eine reichhaltige Bibliothek, die deshalb so eindrucksvoll aussah,
weil Walter gutaussehende, in Leder gebundene Bücher en gros, per Laufmeter, erworben hatte. In einem Zubau gab es eine Kunstgalerie mit Samt bespannten Wänden und Leuchten über jedem Bild. Unter den Gemälden waren in Bronze gerahmte
Blättchen mit Texten angebracht. Ein solcher Text lautete zum Beispiel: „Madonna
von Raphael (Kopie), Rahmen vierzehn Karat Gold“. Walter hatte eine Waggonla-
der ruf des westens
dung gemischter Ölbilder-Kopien erworben und dann einen Grafiker wochenlang damit beschäftigt, die Etiketten herzustellen.
Einen Großteil seiner geschäftlichen Transaktionen wickelte Walter in einem sei-
ner Schwimmbecken ab, um die rundum Telefone arrangiert waren, die er bei Anrufen anschwamm. Auch unsere Besprechungen über die Gestaltung verschiedener Geschäfte fanden rund um den Swimmingpool statt, und zwar derart, dass Walter schwamm und wir uns im Badeanzug am Rand postierten. Wenn es zu einem heiklen
Thema wie etwa unserem Honorar kam, tauchte Walter unter, um später behaupten zu können, er habe nie etwas gehört. Wenn es schließlich bei Picknicks am trockenen
Land zur Erörterung dieses Punktes kam, bot er uns gewohnheitsmäßig die Hälfte der
von uns geforderten Summe an. Wir neutralisierten diese unangenehme Gewohnheit, indem wir das Doppelte des gewünschten Honorars forderten, was bewirkte, dass derartige Verhandlungen zur Zufriedenheit aller Teile beendet werden konnten.
Seinen engsten Mitarbeitern gegenüber, zu denen wir gehörten, benahm er sich
wie ein äußerst wohlwollender Tyrann. Er interessierte sich in rührender Weise
für das Privatleben und Wohlergehen seiner Untertanen, andererseits erwartete er, dass man ihm jederzeit und an jedem Ort zur Verfügung stand.
Er war ein leidenschaftlicher Telefonierer, der mich zu jeder Tages- und Nacht-
zeit anrief. Durch einen Nachtanruf forderte er mich einmal auf, ihn so schnell wie
möglich in seinem Geschäft in San Francisco aufzusuchen. Als ich mit dem nächsten
Flugzeug dort ankam, fand ich lediglich die Nachricht, dass Kirschner vor einigen Stunden nach Hawaii abgereist sei und dass er mich dort erwarte.
Er war auch gewissenlos genug, um meine Unkenntnis der lokalen Gesetze aus-
zunützen. Einmal lud er uns ein, Gäste bei einer Fiesta auf seiner Ranch zu sein.
Das Fest solle wohltätigen Zwecken dienen, nämlich der Errichtung einer Kirche in
Indio. Mich bat er um den kleinen Gefallen, von Los Angeles einen Umweg über Las
Vegas, Nevada, zu machen, um dort ein halbes Dutzend gebrauchter Glücksautomaten zu erstehen. Ich nahm diesen Auftrag, der ja wohltätigen Zwecken diente, gerne
an, ohne zu wissen, dass ich mich wegen der streng verbotenen Einfuhr von Glücksautomaten nach Kalifornien eines Verbrechens schuldig machen würde. Zu meiner
Ahnungslosigkeit konnte ich die Frage des Zöllners an der kalifornischen Grenze, ob ich verbotene Güter einführe, mit dem reinen Gewissen verneinen. Wäre ich
erwischt worden, hätte dies meine Chancen, je Staatsbürger der USA zu werden,
begraben. Die von mir mitgebrachten „Slot-Maschinen“ brachten übrigens keinerlei
Ertrag für die wohltätige Sammlung. Sie waren nämlich deshalb ausrangiert worden, weil ihr fehlerhafter Mechanismus regelmäßig den Spieler gewinnen ließ.
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die entdeckung amerikas
Durch unbändige Energie, politische Taktiken und geschäftliche Rücksichtslo-
sigkeit gelang es Walter, in einigen Jahren ein weit verzweigtes Imperium der Grayson-Robinson-Geschäfte aufzubauen, deren Umsatz von jährlich sechs Millionen
Dollar 1940 auf ungefähr einunddreißig Millionen Dollar 1946 anwuchs.
Grayson besaß auch das berühmteste New Yorker Bekleidungsdiskontgeschäft
Klein-On-The-Square, das in äußerst schäbigen Räumlichkeiten ein Paradies für
Schnäppchen-Jäger darstellte, die auch in wohlhabenden Schichten zu finden waren. Als wir mit dem Entwurf einer Diskont-Filiale in Newark, im Staate New Jersey, betraut wurden, mussten wir lernen, künstlich eine Atmosphäre der Schäbigkeit,
die das Um und Auf eines solchen Geschäftes ausmachte, herzustellen. Zum Bei-
spiel hatten Reinigungsleute jeden Morgen Abfallpapier rund um die Verkaufsstände zu verstreuen, um auch bei frühen Einkäufern den Eindruck zu erwecken, dass ein „Wühlen“ nach billiger Ware schon stattgefunden hat.
Das Zweiggeschäft in Newark enthielt zwar zwei Rolltreppen und eine Klimaan-
lage, aber die Verkaufsräumlichkeiten mussten im Widerspruch zu unseren ästhe-
tischen Grundsätzen so unbequem und unordentlich wie möglich arrangiert und beleuchtet werden.
Walter Kirschner war eine einmalige und merkwürdige Mischung aus liebens-
wertem Charme, Fantasie und sicherem Geschäftsinstinkt. Ähnlich einem Gangsterboss beherrsche er eine straff organisierte Gang, die wohl keine Verbrechen
verübte, aber zu kleineren Vergehen jederzeit bereit sein musste.
In der Nachkriegszeit, als wir nicht mehr für Grayson arbeiteten, brach die
künstlich aufgeblasene Organisation zusammen und ging bankrott. Die Gesellschaf-
ter allerdings hatten Millionen-Vermögen in Sicherheit gebracht. Walter zog sich nach Florida zurück, wo er in ausgezeichneten finanziellen Verhältnissen lebte und schließlich doch eine seiner „Nurses“ aus Liebe heiratete. Tragischerweise starb sie
bald danach, während Walter mit seinem angeblichen Herzleiden sie lange über-
lebte.
Ich hörte das letzte Mal von ihm in den späten Fünfzigerjahren, als er mich um
zwei Uhr früh durch einen Telefonanruf aufweckte. Schlaftrunken hörte ich Walters
warme Stimme: „Wie geht es Dir Victor? Ich rufe Dich an, weil ich nicht schlafen
konnte und mit jemandem plauschen wollte.“ Die Plauderei über Politik, Weltschmerz und Gesundheit dauerte etwa eine Stunde, dann meinte Walter, nun wäre er müde.
wie wir südkalifornier wurden
Wie wir Südkalifornier wurden Irgendwann im Herbst 1941 änderte sich alles gründlich. Vor einem Jahr
hatten wir noch geglaubt, frei und ungebunden dahinleben zu können. Wir hatten nicht einmal ernstlich an Heirat gedacht. Irgendwo, so fühlten wir, werden wir uns
einmal niederlassen wollen. New York gefiel uns weitaus am besten. Dann wieder
fiel unsere Wahl auf San Francisco, diese Stadt mit ihrem erfrischenden Klima und der vitalen Atmosphäre eines konzentrierten, kultivierten Zentrums.
Aber wir hatten unsere Rechnung ohne unseren Freund Walter Kirschner ge-
macht. Er hatte nach dem triumphalen Erfolg der Geschäftseröffnung in Seattle er-
kannt, dass wir für die Zukunft seiner Organisation (oder seiner „Gang“) unentbehrlich sein würden. Mit all seinem Charme und Organisationstalent ging er daran, auch
uns zu binden und einzugliedern. Seine Strategie war: Erstens, wir müssten heiraten.
Zweitens, wir müssten uns an einem Ort, möglichst nahe seinem Hauptquartier in Indio niederlassen, und das konnte nur Los Angeles sein. Drittens, wir sollten als
Aktienbesitzer und leitende Angestellte in die Organisation integriert werden.
Den dritten Punkt erreichte er wegen unseres eigenwilligen Strebens nach Un-
abhängigkeit nicht. Die ersten zwei aber verfolgte er unermüdlich und mit Erfolg.
So kam es, dass wir in Los Angeles sesshaft wurden, ein Wohnort, den wir uns freiwillig nicht ausgesucht hätten.
Cowboy in Nevada
Ich lebte damals in noch getrennter, aber nicht geschiedener Ehe mit Liz-
zie. Walter arrangierte durch den Firmenanwalt einen dreiwöchigen Aufenthalt im
Scheidungsparadies Nevada. So kam ich zu meinen ersten Ferien in den USA.
Wir waren auf einer Dude-Ranch bei Las Vegas untergebracht. Ein Hauch von
Wildem Westen umgab uns. Man wohnte in primitiven Blockhütten. Personal und
Gäste trugen Cowboy-Kleidung. Man ritt auf Mustangs einher. Als völlig unerfahre-
ner Reiter erbat ich ein möglichst gutmütiges Pferd. Ich bekam ein riesengroßes, das einen müden Eindruck machte. Ross und Reiter fühlten sich höchst unbequem
auf ihren langsamen Ausritten in die Wüste, gleichermaßen unglücklich. Trotzdem
genoss ich die einzigartige Schönheit dieser Landschaft: Ondulierte Sandhügel, gar-
niert mit Joshua-Bäumen und Kakteen.
Nach der Strapaz des Ausritts erholte man sich bei Barbecues, in Western Sa-
loons oder bewunderte staunend den Volksbrauch der Rodeos. Wo immer man
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die entdeckung amerikas
hinkam, in Supermärkte, zum Friseur, in allen Geschäften, bei Tankstellen, klaff-
ten einem die hungrigen Mäuler von Slot-Maschinen entgegen. Fleißige betätigten
stundenlang gleichzeitig zwei der einarmigen Banditen. Das stärkte die Armmus-
keln gewaltig, schwächte aber das Portemonnaie noch mehr.
Mit Einbruch der Dunkelheit wird Las Vegas zur Wolkenkratzer-Stadt. Millionen
bunte, blendende, rotierende Reklamelichter übertreffen den hellen, grellen Times
Square in New York bei Weitem. Alles strebt in die prunkvoll-kitschigen Spielkasinos am Las Vegas Strip. Auch wir gerieten in den Sog dieses Sündenbabels. Neben
ausgezeichneten Restaurants, in denen man äußerst billig und gut essen konnte,
gab es ebenso ausgezeichnete und preiswerte Monster-Musicals und Varietés. Geld, das man in den preiswerten Restaurants und Shows ersparte, wurde man dann in den Spielsälen bei Roulette und Baccara los.
Erst im Morgengrauen verlässt man müde und meist pleite die Paläste des
Glücks. Dann ist das Lichtermeer erloschen, die Wolkenkratzer entpuppen sich als
schäbige niedrige Gebäude, von deren Dächern die nackten Gerüste der Lichtrekla-
men gespenstisch zum Himmel ragen.
Meine Neigung, Cowboy oder Spieler zu werden, war niemals stark entwickelt.
Nach drei Wochen in Las Vegas war sie völlig getilgt. Gewonnen hatten wir al-
lerdings auch: Außer der Scheidung noch die dringend benötigten Führerschei-
ne. Zur Prüfung hatten wir nur zwei Fragen zu beantworten: „Sind Sie irrsinnig?“
und „Sind Sie blind?“ Wir konnten wahrheitsgemäß verneinen und wurden nach
Bezahlung einer Gebühr von je fünf Dollar mit der Berechtigung zum Fahrzeuglenken entlassen. In Los Angeles galten diese Lizenzen leider nur für drei Monate, aber binnen dieser Frist konnten wir üben, wobei uns auch einige kleinere Unfälle
nicht erspart blieben, um dann die dortige strenge Fahrerprüfung zu bestehen.
Hochzeit auf der Zauberinsel
Kaum waren wir zurückgekehrt, begann Walter die Vorbereitungen für
die Hochzeit. Elsies und meine Mutter wurden auf Geschäftskosten erster Klasse
nach Los Angeles eingeflogen und in einem eleganten Hotel untergebracht. Dort
warteten schon Walters Blumensträuße auf sie. Selbst Elsies Mutter, eine typisch
deutsche Hausfrau, die mit Juden nie etwas zu tun gehabt hatte, noch haben wollte,
war überwältigt: Dieser Kirschner erschien ihr als wirklicher Gentleman. Ich als sein Günstling musste wohl auch in Ordnung sein, woraus sie schloss, dass ihre
Tochter das große Los gezogen hatte.
wie wir südkalifornier wurden
Ein gechartertes Wasserflugzeug brachte die Hochzeitsgesellschaft (Walter, sei-
ne Krankenschwester, beide Mütter und das Brautpaar) zur Insel Santa Catalina im
Pazifischen Ozean. Elsie, zum ersten Mal elegant gekleidet, war bezaubernd.
Santa Catalina muss einmal eine herrlich einsame subtropische Insel gewesen
sein, aber seit einiger Zeit gehörte sie dem Kaugummi-König Wrigley und war
zwecks Touristenattraktion in eine Mischung aus Südseeinsel und Disney-Land
verwandelt worden. Mit Generosität und Herzlichkeit gestaltete unser Gönner die
Hochzeit, sie war besonders für die vom Staunen überwältigten Mütter ein rauschendes Fest.
Auf Häuserjagd
Das frisch vermählte Paar benötigte zwei Häuser. Ein größeres für sich selbst
und ein kleineres für die Mütter. Dass wir kein Geld besaßen, spielte für Walter keine
Rolle. Er würde uns die nötigen Summen langfristig zur üblichen Verzinsung leihen.
Aber wo sollten wir in diesem nie enden wollenden Los Angeles eine Bleibe finden?
Hollywood war das große Zauberwort, das uns beeindruckte, aber wo war Hol-
lywood? Es gab die Hollywood Hills, die durch haushohe Buchstaben an den felsigen Hügelwänden gekennzeichnet waren. Es gab den Hollywood Boulevard, aber
bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, dass es eine ganz gewöhnliche, ziemlich
billige Geschäftsstraße war, die nur ein Premierenkino, Grauman’s chinesisches
Theater, als Sehenswürdigkeit aufwies. Rund herum eine Wohngegend, von der niemand sagen konnte, wo sie anfängt und wo sie endet.
Häuser wurden uns von Immobilienmaklern massenweise empfohlen. Wir ins-
pizierten einige Dutzend. In jeder Größe, Preislage und in den unterschiedlichsten
Baustilen: Colonial-Stil, French-Provence, Georgisch, Spanisch, Maurisch, Chinesisch,
Renaissance, Rustikal und alles was sich das Herz sonst noch wünschen möchte. Hollywood ist ein Teil der riesigen Agglomeration, die man als West Los Angeles bezeichnet und die aus einer Reihe von Landstrichen mit fantasievollen Namen und einigen
selbstständigen Städten, wie zum Beispiel Beverly Hills, besteht. Weiters sind dort
Vierteln wie Brentwood (für Wohlhabende), Bel Air (für Millionäre), die verschiedenen Canyons (für Individualisten und Künstler), die teilweise gar nicht zur Stadt Los
Angeles, sondern zu den verschiedenen Counties (Verwaltungsbezirken) gehörten.
Jenseits der Hollywood Hills liegt das San Fernando Valley. Zur Zeit unserer Häu-
serjagd war hier ein spärlich besiedeltes Gebiet. Einige Jahre später entstand dort ein Stadtteil mit über einer Million Einwohner.
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die entdeckung amerikas
Als einer jener Hunderttausenden „Eastener“ (das waren alle, die aus irgendei-
nem Staat östlich von Kalifornien zuwanderten) wurden wir im Sunny Southland, im Land des ewigen Frühling sesshaft, in einem Gebiet, das man der Einfachheit
halber Los Angeles nennt.
Wir besaßen also nun ein zweistöckiges Haus, das stolz auf einem Hügel der
Kings Road, einer steilen Seitenstraße des berühmten Sunset Boulevards, thronte. Der Sunset Boulevard ist das breite Band, das sich etwa zwanzig Kilometer lang
durch die verschiedensten Gebiete schlängelt, vorbei an Geschäften, Versiche-
rungspalästen, ehemaligen Luxusvillen längst ausgeflogener Filmstars, schäbigen
Häusern und Brachland. Von Downtown bis zum Pazifischen Ozean geht sein Weg, bis er das Meer erreicht, wo er einigermaßen verlegen merkt, dass er nicht weiter
kann.
Unserem Urteil nach lag dieses Haus nicht zu weit entfernt. Es fragt sich nur:
Nicht zu weit entfernt wovon? Was uns in unserer Wahl beeinflusste, war, dass sich
in ungefähr fünf Minuten Fahrdistanz einige urbane Aktivitäten entwickeln konn-
ten. Besonders angetan hatte es uns Schwab’s Drugstore, ein Treffpunkt von Künstlern und Intellektuellen. Eine Art Literatenkaffee, in dem man an einer langen Theke saß, Sandwiches, Hot Dogs oder Ice-Creme-Sodas verzehrte und Coca-Cola trank.
Daneben wurden Medikamente und Drogeriewaren verkauft. Rund um Schwab’s Drugstore hatten sich zwei Supermärkte, mehrere Restaurants, eine chemische
Reinigungsanstalt angesiedelt, was uns, die wir uns nach großstädtischem Leben
sehnten, schon als ein Stück New York erschien. Aus diesen nostalgischen Beweg-
gründen kauften wir das Haus an der Kings Road. Für unsere Hündin Susi waren damit alle Probleme gelöst. Sie frühstückte in Schwab’s Drugstore und lunchte und dinierte in einem der Restaurants.
Wir waren nicht nur die Besitzer dieses Hauses und der undisziplinierten Hün-
din Susi, sondern auch eines großen roten Gebraucht-Automobils, weiters von zu-
sammengewürfeltem Mobiliar und Hausrat, von denen die aus New York nachgeschickten Relikte meiner Wiener Vergangenheit noch immer die solidesten Stücke
waren. Wir besaßen zwei Goldfische, die im Springbrunnen schwammen, der den einen Teil des Wohnraumes völlig unbenutzbar machte. Zu all dem erwartete Elsie
für das Frühjahr 1942 unser erstes Kind.
Als neu Zugereiste wollten auch wir uns bemühen, uns den Sitten und Gebräu-
chen der „Eingeborenen“ anzupassen. (Das sind solche, die schon länger als ein Jahr
in Südkalifornien leben.) Das brachte Schwierigkeiten mit sich, denn Schein und
Wirklichkeit klafften nirgendwo so stark auseinander wie in Los Angeles: Nach au-
wie wir südkalifornier wurden
ßen hin erscheint das Leben wie in einem Ferienparadies. Alles trägt saloppe, farbenfrohe und spärliche Kleidung. Viele begnügen sich mit Bikinis, obwohl sich die
Abendtemperaturen auch hier dem Nullpunkt nähern. Sonnenbrillen sind obligat. Sie dienen nicht nur als Augenschutz, sondern kaschieren auch die durch den fast
permanenten Smog verursachten Tränen. Füße werden als Fortbewegungsmittel
nicht mehr benutzt, es sei denn beim Druck aufs Gaspedal. Gehsteige sind unbe-
kannt. Für den Normalbürger ist das Auto nicht nur Beförderungsmittel, sondern
das eigentliche Heim. In ihm werden Mahlzeiten eingenommen, die in Drive-in-
Restaurants von kurz geschürzten Mädchen serviert werden. Unterhaltung wird in Drive-in-Kinos erledigt, seelische Entspannung in Drive-in-Kirchen, finanzielle
Angelegenheiten in Drive-in-Banken. Auch als Liebeslaube ist es stark im Einsatz.
Verkehrssalate sind nicht wie anderswo seltene Zuspeisen, sondern Hauptge-
richte mehrmals am Tag, was die „Eingeborenen“ aber nicht hindert, sich dennoch,
mit ewig-glücklichem Lächeln, ans Steuer zu setzen. Dies müssen sie auch tun,
wenn sie arbeiten, einkaufen, Bekannte besuchen, sich fortbilden oder unterhalten
wollen. Zwei bis drei Autos in jedem Stall gehören deshalb nicht nur zum guten Ton, sondern auch zur Sicherung der Familienexistenz. Kein Automobil zu besitzen ist das Zeichen von Armut und Arbeitslosigkeit.
Außerhalb des Autos dienen Millionen von Einzelheimen zum Wohnen – große,
mittlere und kleinere Schachteln. Jedes ist an allen Seiten von einem landvergeudenden Garten umgeben. Um diese Gärten instand zu halten, werden automatische
Sprinkleranlagen in Betrieb genommen und Pflanzenschutzmittel gesprüht.
Dem Anschein nach ist Los Angeles ein Eden der Wohlhabenden mit Hundert-
tausenden von Swimmingpools, gigantischen Supermärkten, eleganten Kaufhäusern und Restaurants, endlosen Palmenalleen und südtropischer Blütenpracht in
den Gärten. Die weiten Strände entlang des Pazifischen Ozeans locken, und an kla-
ren Tagen werden die schneebedeckten Berge der Sierras im Osten und Inseln des
Pazifischen Ozeans im Westen sichtbar.
Doch hinter der filmtraumhaften Fassade verbergen sich weniger erfreuliche
Realitäten. Die Abgase der Millionen Automobile verpesten die Luft und verdüstern den sonnigen Himmel, der sich angeblich darüber befindet. Trinkwasser, Flüsse
und Meer sind verseucht. Termiten nagen an den Fundamenten selbst der elegan-
testen Häuser. Millionen von Ratten belästigen die Bewohner.
Slums, Rassendiskriminierung und hohe Kriminalität sind an der Tagesordnung.
Die urbanen Sünden sind hier vielleicht nicht viel ärger als in anderen Städten, aber hier verstecken sie sich hinter einer kitschigen Maske der Fröhlichkeit, die sich
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die entdeckung amerikas
strudelteigartig über endloses Siedlungsgebiet zieht. Die offizielle Region Los An-
geles ist etwa 80 mal 190 Kilometer groß. Die Besiedlung führt als lockeres, fast
ununterbrochenes Muster über Ebenen, Hügel und Täler von Santa Barbara im
Norden bis zur mexikanischen Grenze im Süden. Das sind fast 400 Kilometer, etwa die Strecke von Wien nach München.
Trotz allem schwören Millionen, dass sie nirgends anders als im „Sunny South-
land“ leben möchten. Entzückt loben sie die Vorzüge des Los Angeles „way of life“.
Auch wir, die wir nun Los Angelinos wurden, wollten versuchen, das Schöne und Erlebenswerte dieser neuen Umgebung herauszufinden.
Weltkrieg Wir hatten gerade begonnen, uns in Los Angeles einzuleben und ihr angeneh-
mes Klima zu genießen. Grayson hielt uns so beschäftigt, dass wir technisches Personal anstellen mussten. Unser erster Mitarbeiter war Karl Van Leuven.12 Er hatte wohl
Architektur studiert, aber schon seit Jahren in den Walt Disney-Studios bei der Herstellung der berühmten Zeichentrickfilme mitgearbeitet. Dass er wenig Architekturer-
fahrung hatte, störte uns nicht. Er war fantasievoll, talentiert und überaus liebenswert.
Die Nachrichten, die wir über Radio und Zeitungen aus Europa erhielten, wur-
den immer beunruhigender. Wir hörten mit Schaudern, wie Hitlers Armeen ein
Land nach dem anderen überrollte wir hörten über die schrecklichen Judenverfolgungen, allerdings nichts im Detail. Die offensichtliche Stimmung Amerikas
war gespalten. Die meisten meinten, Amerika solle sich nicht in die europäischen Feindseligkeiten einmischen. Andere, und wir gehörten dazu, fühlten, dass nur ein Eintritt Amerikas in den Krieg einen Sieg über Hitler bringen könne. In dieser Lage
wurde ich, obwohl überzeugter Pazifist, zum Kriegshetzer.
Die Sympathien fast aller Amerikaner waren bei den demokratischen, antifa-
schistischen Kräften. Als Dezember 1942 der japanische Bombenangriff auf einen
der größten amerikanischen Kriegshäfen, Pearl Harbour, stattfand und den größten
Teil der amerikanischen Flotte zerstörte, war dies der Anstoß für Amerika, in den
Krieg einzutreten. Das Land war zur Kriegsführung nicht vorbereitet, aber mit ungeheurem Elan und einem für Amerika überraschenden Einsatz freiwilliger Kräfte stürzte sich die Nation in die Aufrüstung und Mobilisierung.
12
Karl Van Leuven war bei dem Medienkonzern Disney u. a. an der Produktion der Filme Dumbo (1941) und Bambi (1942) beteiligt.
weltkrieg
Wir waren beruflich und persönlich betroffen. Ich erhielt einen „Alien-Enemy-
Ausweis“ und galt offiziell als Österreicher, also feindlicher Ausländer. Meine Bewegungsfreiheit wurde stark eingeschränkt. Ich durfte mich nur einmal in der Woche
auf der Hauptstraße zwischen der Wohnung und den vier Baustellen in Süd-Kali-
fornien bewegen. Aber das dauerte nur einige Wochen, dann wurden die von Hitler
Vertriebenen von allen Einschränkungen befreit. Im Gegenteil: Ich wurde sogar auf die Einberufungsliste gesetzt, musste mich bereithalten, wurde aber tatsächlich nie eingezogen! Nur den vielen Japanern an der Westküste ist es schlecht ergangen, sie
wurden in Internierungslager gebracht.
Kurz nach Kriegsbeginn im März 1942 wurde unser Sohn Michael geboren: Nach
seiner Geburt litt er an Herzstörungen und musste ins Kinderspital. Der Arzt sagte
mir, es wäre wenig Hoffnung auf sein Überleben, eine Nachricht, die ich Elsie vorsorglich unterschlug. Schon am nächsten Tag erfuhr ich, dass der kleine Herzklap-
penfehler beseitigt und Michael völlig gesund war.
Notstands-Tätigkeiten
Alle wollten bei den Kriegsvorbereitungen helfen. Die Flugzeug- und Mu-
nitions-Industrien wuchsen und die seit der Depression anhaltende Arbeitslosig-
keit verschwand über Nacht und Millionen von Frauen mussten plötzlich in die
Fabriken. Elsie und ich besuchten einen Kurs für Flugzeugentwurf und bestanden die Prüfung mit Auszeichnung. Aber als Ausländer bzw. als Frau eines Ausländers
konnten wir keine Beschäftigung in der Kriegsindustrie erhalten. Das war enttäuschend, denn auch die Bautätigkeit war durch das Verbot, strategisch wichtige Ma-
terialien anders als für Kriegsvorbereitung zu nutzen, völlig unterbrochen. Grayson
aber wollte die unerhörte Konjunktur ausnützen. Da jetzt alle verdienten, stiegen die Konsumentenansprüche ins Unermessliche.
Wir erfanden eine Methode, provisorische Geschäfte ohne die Verwendung die-
ser strategischen Materialien zu errichten. Wir nannten sie Victory Stores. Sie wurden aus Holz und feuerimprägnierten Textilien erstellt. Die Karton-Schilder trugen
nicht nur den Firmennamen, sondern auch die Aufschrift „Kauft Kriegsanleihen“.
Grayson baute ungefähr zwanzig solcher Victory-Stores. Das Überraschende war, dass auch diese Geschäfte in der Architekturpresse Anerkennung fanden.
Vom Endsieg waren alle Amerikaner überzeugt. Außer jenen, die Familienange-
hörige auf den Schlachtfeldern in Europa und Japan verloren, merkte die Bevölkerung nur wenig vom Kriegsgeschehen. Gewisse Luxusgüter wie Nylonstrümpfe und
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die entdeckung amerikas
Steaks wurden rar. Benzin wurde rationiert. Hie und da wurde man durch Gerüchte
über japanische Unterseeboote an der Pazifischen Küste beunruhigt. Aber diese
Gerüchte waren nie wahr. Was dagegen völlig stockte, war der Bau von Wohnungen
und Häusern.
Vater des Einkaufszentrums
Ich hatte nun mehr Zeit, Vorträge zu halten und Artikel zu schreiben. Einer
dieser Artikel erwies sich für die Zukunft von ausschlaggebender Wichtigkeit. Er
wurde für die Architekturzeitschrift Architectural Forum geschrieben, die im Mai
1943 eine Sondernummer mit Thema „Architektur im Jahre 194X“ herausgab (womit das Jahr nach dem ungewissen Ende des Krieges gemeint war).13 Die Zeitschrift lud
angesehene Architekten ein, ihre Zukunftsvisionen in Wort und Bild darzustellen.
Die Worte stammten von mir, die Illustrationen von Elsie. Ich behandelte erstmals
das Thema „Einkaufszentrum“, wie es sich für mich aus der tagtäglichen Konfron-
tation mit allen Missständen vor allem in Los Angeles ergab: Durch die endlose Aneinanderreihung der Geschäfte und Unternehmungen an beiden Seiten der Haupt-
durchzugsstraßen ergaben sich für den Einkaufenden endlos lange Wege, die oft
nur mit dem Auto bewältigt werden konnten. Einkaufen war somit nicht nur zeitraubend, sondern vergrößerte auch den ohnehin schon vorhandenen Durchzugs-
verkehr. Außerdem wurde durch das Abstellen der Fahrzeuge der Raum vor den
Geschäften noch verengt, was zu zusätzlichen Konflikten unter allen Verkehrsteil-
nehmern – Autobus, LKW, PKW, Fußgänger – führte. Darauf stellte ich meine Idee für ein Nachbarschaftszentrum vor, das abseits der Hauptstraße gelegen sein müsste.
Die Geschäfte und Betriebe sind in einem einheitlichen Gebäude untergebracht,
das einen gärtnerisch gestalteten nur für Fußgänger bestimmten Innenhof umgibt.
Die Fassade des Gebäudes ist, ohne den Wohncharakter der Umgebung zu stören,
gefällig und bescheiden gestaltet, ohne irgendwelche Firmenzeichen. Nur ein brei-
ter Haupteingang führt in das Zentrum. Für Zulieferung und Abtransport der Waren
wie für das Parken von Autos gibt es lichtgeschützte Zonen. Der Käufer betritt nicht
von der Straßenseite her die einzelnen Geschäfte, sondern gelangt vom Parkplatz aus in den Gartenhof, in den die Geschäftsportale sehen. Entlang dieser Geschäfte
befindet sich ein offener Säulengang, der vor Wind und Wetter schützt. Der Einkäu-
13
Victor Gruen, New Buildings for 194x: Shopping Centers. In: Architectural Forum 78:5 (1943), 101–103.
weltkrieg
fer kann also entlang der Geschäfte promenieren, in der parkähnlichen Atmosphä-
re des Innenhofs Vergnügen und Erholung finden oder in Ruhe völlig separiert vom
Automobilverkehr seinen Geschäften nachgehen. Dieses Center enthält nicht nur Geschäfte, sondern viele andere Dienstleistungsbetriebe des täglichen Lebens, wie
z. B. Postamt, öffentliche Bibliothek, Ärztepraxen, Versammlungs- und Klubräume.
Trotz dem einheitlichen Gesamtensemble, das ich besonders betonte, ist es den einzelnen Geschäften gestattet, ihre Portale und Auslagen entlang der Gartenseite
individuell zu gestalten. Ich wies darauf hin, dass dieses Nachbarschaftszentrum in größerem Umfang auch als Regionalcenter ausgeführt werden kann.
Dieser Artikel hat mir noch während des Zweiten Weltkrieges die Bezeichnung
„Vater des Einkaufszentrums“ eingebracht.
Kriegsende
Echte Vaterfreuden erlebte ich 1944 zum zweiten Mal, als nämlich unse-
re Tochter Margarete, „Peggy“, geboren wurde. Als stolze Eltern wurden wir nicht müde, endlose Filme über unsere Sprösslinge zu drehen. Michael entwickelte sich
zu einem bildhübschen, hellblonden, immer hilfsbereiten kleinen Buben, der aber
zum Gehen- und Sprechenlernen lange brauchte. Peggy war von Anfang an aufgeweckter und versuchte immer wieder mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder zu
konkurrieren. Teilweise mit Erfolg.
Obwohl der Krieg keine besonderen Entbehrungen für die Daheimgebliebenen
mit sich gebracht hatte, jubelte man auch in Amerika, als der Krieg, der alle Kriege
enden sollte, aus war. Dem Abwurf der zwei Atombomben über Hiroshima und
Nagasaki stimmte die breite Bevölkerung Amerikas anfänglich begeistert zu, da sie
den Abschluss des schrecklichen Krieges beschleunigten. Dass aus dem Ende mit
Schrecken ein Schrecken ohne Ende wurde, erkannte man erst viel später.
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IV. DER GROSSE DURCHBRUCH
46: Victor Gruen vor dem Modell Milliron, Los Angeles ca. 1946 Courtesy Gruen Associates
170
47 und 48: Victor Gruen auf der Milliron Baustelle, Los Angeles ca. 1948 Courtesy Peggy Gruen Collection
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49: Modell Northland Center, Southfield Courtesy Gruen Associates
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die entdeckung amerikas
50: Zeitungsausschnitt Detroit Times, 12. Okt. 1954 Library of Congress
51: Zeitungsausschnitt Detroit Times, 13. Nov. 1954 Library of Congress
kindheit
173
52: Luftaufnahme, Northland Center, Southfield, ca. 1954 Courtesy Gruen Associates 53: Gruen präsentiert Shopping Centers of Tomorrow, mit Margaret Arlen im Studio CBS, Los Angeles 1953 Library of Congress
174
54: Opernball, Southdale Center, Edina ca. 1957 Courtesy Gruen Associates
55: Hermann Gutman, Victor Gruen, Rudi Baumfeld im Southdale Center, Edina ca. 1956 Courtesy Gruen Associates
56: Ankündigung, Southdale Center, Edina ca. 1956 Library of Congress
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57: Gruen und Lazette van Houten auf dem Kreuzfahrtschiff Queen Elisabeth 1961 Courtesy Peggy Gruen Collection 58: Gruen, Lazette van Houten und Hund Reddy, Los Angeles 1958 Courtesy Michael Gruen Collection
Zu neuen Ufern Das Ende des Zweiten Weltkrieges löste in den Vereinigten Staaten eine
Euphorie aus. Alle Beschränkungen der Freizügigkeit und Bautätigkeit wurden
aufgehoben, aufgrund des aufgestauten Bedarfs kam es zu einem rasanten Wirtschaftsaufschwung.
Jetzt oder nie, fühlte ich, musste ich die Chance nützen, die berufliche Tätigkeit
auszuweiten, und aus der bisherigen Einseitigkeit auszubrechen, die in dem Ent-
werfen von Läden und Grayson-Geschäften bestand. Die Arbeiten für Grayson setz-
ten sich zwar noch einige Jahre fort, wurden aber Routine. Wir brachen die Verbindung ab, weil wir uns in einem prinzipiellen Disput über neue Planungsaspekte, wie
sie sich aus neuen Situationen ergaben, nicht einigen konnten. Die Zeitschrift Architectural Forum schrieb darüber unter der Schlagzeile „Architekt beißt Klienten“.
Die Aussicht, mit alt etablierten Geschäftsarchitekten um Aufträge für konven-
tionelle Gebäudeplanung zu konkurrieren, erschien mir weder reizvoll noch erfolgversprechend. In diesen Fällen wird der Architekt aufgrund vorgegebener Programme zum technischen Handlanger der auf kurzfristige Renditen ausgerichteten
Auftraggeber, also zum Zeichensklaven.
Viel aussichtsreicher erschien mir, neue Bautechniken, neue Bautypen, neue
Baugesinnungen zu kreieren und zu propagieren. Ich wollte Klienten anziehen, die sich dem Schöpfer neuer Konzepte vertrauensvoll zuwenden würden. Meine
Grundidee war, anstatt im Konkurrenzkampf mit konventionellen Architekten Klienten zu ergattern, neue Klienten durch neue Konzepte zu schaffen.
Öffentlichkeitsarbeit
Ich setzte also die schon während des Krieges begonnene Vortragstätig-
keit fort, verfasste Artikel, Broschüren, gab Interviews für Fernseh- und Rundfunkveranstaltungen. Ich tat dies nicht nur im südlichen Kalifornien, sondern, um
möglichst wirkungsvoll zu sein, in vielen Staaten Amerikas, besonders im Mittleren
Westen und an der Ostküste. New York, das nicht nur das geistige und kulturelle,
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der grosse durchbruch
sondern auch das wirtschaftliche und journalistische Zentrum der USA war, erschien mir besonders wichtig. Von dort aus wurden Projekte in allen Teilen des
Landes entwickelt und finanziert. Dort befanden sich die Redaktionen der wichtigsten Zeitungen und Zeitschriften, einschließlich aller wichtigen Architektur magazine, die Hauptsitze großer Baugesellschaften und Konzerne.
Der mittlerweile erworbene gute Ruf öffnete viele Türen und bewirkte, dass ich
als Vortragender zu zahlreichen nationalen Kongressen, zu Veranstaltungen von
Vereinigungen vieler Arten eingeladen wurde. Vor allem sprach und schrieb ich von
einem besonderen Vertrauensverhältnis zwischen Auftraggeber und Architekten.
Ein mit humorvollen Zeichnungen (von Karl Van Leuven) begleiteter Vortrag „How to live with your architect“1 (Wie man mit seinem Architekten leben soll) erschien als Buch und fand beträchtliche Verbreitung.
Andere Themen waren unter anderem die Flexibilität bei Errichtung von Groß-
kaufhäusern (von denen viele jetzt international zur Selbstverständlichkeit gewor-
den sind), bessere Isolierung und Wetterschutz zwecks Energiesparens, Teilstadt-
zentren in vorörtlichen Gebieten (aufbauend auf den Artikel über Einkaufszentren, den ich 1943 schrieb), oder die Wiederbelebung der Innenstädte.
Eines der zahlreichen Interviews, um die ich gebeten wurde, erwies sich als
wichtiges persönliches Erlebnis, das für meine Zukunft bestimmend war. Eine leitende Redakteurin der täglich erscheinenden Handelszeitschrift Retailing Daily,
Lazette van Houten, wollte mich über neue Ideen zu Ladeneinrichtungen befragen. Sie erschien in meinem New Yorker Hotel. Unser Gespräch war ausführlich und
interessant, eine Reihe von Artikeln entstand. Darüber hinaus war ich von ihrer
Persönlichkeit fasziniert. Als ich, nachdem sie sich nach dem ersten Treffen verabschiedet hatte, bemerkte, dass sie ihre Handschuhe vergessen hatte (ob absichtlich oder versehentlich habe ich nie herausgefunden), rief ich sie in ihrer Redaktion an
und lud sie zum Nachtmahl ein. Sie nahm an. Es entwickelte sich eine enge Freundschaft. Um so oft wie möglich mit Lazette zusammen zu sein, flog ich die Strecke
Los Angeles–New York noch öfter als geschäftlich nötig, bis ich allmählich fast jedes
Wochenende mit ihr verbrachte.
Das war aber nicht das einzige, wenn auch beglückendste Ergebnis meiner New
Yorker Öffentlichkeitsarbeit. Ich wurde in die Planungsabteilung des größten Kaufhauses Amerikas, R.H. Macy’s, gerufen und mit der Inneneinrichtung zweier großer
Filialgeschäfte, eines in San Francisco und eines in Kansas City betraut. 1
Victor Gruen, How To Live With Your Architect. Store Modernization Institute: New York 1949.
zu neuen ufern
Neue Kontakte
Erfolgreiche Gespräche folgten im Hauptbüro der Tishman-Realitäten Ge-
sellschaft, die ihre Tätigkeiten an die Westküste ausdehnen wollte. Mein Atelier
war daraufhin für dieses Unternehmen viele Jahre hindurch mit dem Entwurf für Büro- und Wohnhausprojekte tätig.
Aus unseren Tätigkeiten für Macy’s in San Francisco ergaben sich Aufträge für
die elegante Damenbekleidungsfirma Joseph Magnin. Der Chef, Cyrill Magnin, be-
absichtigte das erste Zweiggeschäft in Paolo Alto, einer vornehmen Vorstadt San
Franciscos, zu errichten. Er forderte mich auf, dieses mittelgroße Gebäude innen
und außen in einer noch nie dagewesenen Weise, die besonders jugendliche Kundschaft ansprechen würde, zu gestalten. Als ich ihm einen völlig neuartigen Entwurf
vorlegte, war er begeistert, meinte aber, er wäre nicht bereit, ein so revolutionäres Projekt auszuführen, wenn ich ihm nicht ähnliche schon realisierte Beispiele
zeigen könne. Es kostete einige Anstrengung, ihn davon zu überzeugen, dass sein
Wunsch, ein noch nie dagewesenes Geschäft zu schaffen, nicht erfüllbar wäre, wenn es schon existieren würde. Schließlich entschloss er sich, das Risiko einzugehen.
Dieses Geschäft – eine Anzahl von Boutiquen, die rund um eine spiralförmige
Treppe auch ins Obergeschoß führten – übte eine ungewöhnliche Anziehungskraft aus, und der Erfolg war so groß, dass wir im Laufe der nächsten zwanzig Jahre
eine ganze Reihe von Zweiggeschäften für ihn bauen konnten. Wir erhielten in
San Francisco und Umgebung so viele Aufträge, dass wir ein Zweigbüro eröffnen konnten.
Das Kaufhaus der Zukunft
Durch einen glücklichen Zufall lernte ich auch den Besitzer eines Groß-
kaufhauses Milliron in Los Angeles kennen. Die Verbindung kam dadurch zustande, dass der Sohn des Besitzers, Tom, mit meinem langjährigen Mitarbeiter Karl Van
Leuven befreundet war. Sie kannten sich seit der Schulzeit und waren jetzt damit
beschäftigt, eine epochale Erfindung auszuarbeiten: die des trägerlosen Büsten-
halters. (Leider hatten die beiden es versäumt, sich ihre Erfindung, die später die
Damenwelt eroberte, patentieren zu lassen.) Durch Karl erfuhr ich, dass Herr Milliron sen. sein Innenstadtgeschäft aufzugeben und in der Vorstadt Westchester, in
der Nähe des Los Angeles Flughafens, ein neues Kaufhaus zu errichten gedachte.
Ein Treffen mit Herrn Milliron sen. wurde arrangiert.
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der grosse durchbruch
Anstelle der üblichen Imitation eines innenstädtischen Kaufhauses beschrieb
ich ihm ein völlig neuartiges Konzept für ein Vorstadtkaufhaus und beeindruckte
ihn derart, dass er schon vorhandene Entwürfe aufgab, um uns mit dem Auftrag
für unser erstes Großbauwerk samt Innenausstattung zu betrauen. Die Idee bestand im Wesentlichen darin, die gesamte Verkaufstätigkeit auf das Erdgeschoß zu
konzentrieren. Das Dach des eingeschoßigen Gebäudes war durch zwei Rampen
erreichbar und diente als Autoabstellfläche. Nur auf der Dachseite, die der Haupt-
straße zugewandt war, wurde ein Teil für einen Versammlungsraum samt Bühne
und Restaurant ausgebaut, die auch abends sowie an Sonn- und Feiertagen geöffnet waren.
Dieses ebenerdige Kaufhaus ging auch in der Auslagengestaltung und Waren-
präsentation ungewöhnliche Wege. Auf übliche Schaufenster wurde mangels Laufkunden völlig verzichtet. Um aber die Blicke der Autofahrer anzuziehen, wurden
vor dem etwas zurückgesetzten Hauptgebäude inmitten von Grünanlagen große
Schaukästen aufgestellt. Je nachdem, ob sie von der linken oder rechten Fahrbahnseite eingesehen werden konnten, waren sie zur Hauptfront schräg gestellt. Das
Kaufhaus brachte nicht nur großen geschäftlichen Erfolg, sondern erwies sich als besonders wirtschaftlich im Bau und Betrieb. Es wurde von den nationalen
Architekturzeitschriften ausführlich gewürdigt und als „Kaufhaus der Zukunft“ bezeichnet.
Neue Arbeitsgebiete
Fast gleichzeitig erfolgte in Partnerschaft mit einem Anwalt die Errich-
tung des Mid-Wilshire Medical Building, eines damals neuen Gebäudetyps, das
ausschließlich für Arztpraxen entworfen war. Ein kompliziertes statisches Problem
war zu lösen. Während die Untergeschoße dem Parken dienen sollten und daher
möglichst von Pfeilern frei zu halten waren, mussten die sechs Obergeschoße Pfei-
ler erhalten. Ich wandte mich um Rat an zwei Ingenieurkonsulenten, von denen
einer ungarischer und einer italienischer Herkunft war. Der Italiener, Edgardo Con-
tini, beeindruckte mich mit einer ebenso genialen wie eleganten Lösung, sodass er,
der vorher für den Detroiter Architekten Albert Kahn gearbeitet hatte, mein Mitar-
beiter wurde. Das Mid-Wilshire Medical Building, in dem ich erstmals als Bauherr,
Teileigentümer und ausführender Architekt auftrat, wurde als neuartiges Bauwerk
gepriesen. Wirtschaftlich war es mangels ausreichendem Startkapital zu belastend,
und wir verkauften es mit Verlust.
zu neuen ufern
Ein neues Arbeitsgebiet eröffnete sich durch den Auftrag für ein städtisches
Wohnbauprojekt für mexikanische Gastarbeiter. Gleichzeitig aber setzte sich unsere Tätigkeit im Ladenbau in vielen Teilen der Vereinigten Staaten fort.
Trennung Arbeit von Wohnung
Unser Arbeitsstab musste stetig vergrößert werden. Wir waren in der
glücklichen Lage, besonders qualifiziertes Personal zu gewinnen – Menschen, de-
nen die breitgefächerte, nach neuen Lösungen strebende Tätigkeit besonders wünschenswert erschien, die im Gegensatz zur langweiligen Routinearbeit der meisten
konventionellen Architektur-Fabriken stand.
Unser Haus an der Kings Road war bald wegen der zwar idyllischen, aber chao-
tischen Vermischung von Reißschienen, Babywindeln und Kinderspielzeug als expandierendes Atelier unmöglich geworden. Wir mussten also den Arbeitsbereich
vom Wohnbereich trennen und mieteten Räumlichkeiten zuerst in einem kleinen
Gebäude in der Nähe unseres Wohnhauses. Dieses war bald zu klein und wir mie-
teten zwei kleine Arbeitsstätten dazu. Als sich diese Dreiteilung als ineffizient er-
wies, konzentrierten wir den gesamten Arbeitsstab, der zu etwa vierzig Personen
angewachsen war, in einer geräumigen ehemaligen Werkstätte, die zwar etwas
schäbig war, aber genügend Raum für etwaiges zukünftiges Wachstum enthielt. In
wirtschaftlicher Beziehung stiegen wohl die Einnahmen, aber ebenso, wenn nicht schneller, auch die Ausgaben, sodass der verbleibende Reinertrag verhältnismäßig
bescheiden war.
Neben meiner hektischen Berufstätigkeit büffelte ich auch für die Prüfungen,
die zur Erlangung der Architekturlizenzen in jedem Bundesstaat separat abzule-
gen waren. Da ich schon 1943 US-Staatsbürger geworden war und ich bei dieser
Gelegenheit meinen für Amerikaner schwer aussprechbaren Namen Grünbaum
(„Gruenbum“) gleich zu Gruen verkürzte, stand mir nun diese Möglichkeit offen.
Ich erwarb 1948 meine erste Lizenz im Staate Kalifornien und sechsundzwanzig zusätzliche in allen größeren Staaten im Laufe eines Jahres. Durch Aufnahme in das Amerikanische Institut der Architekten war ich nun berechtigt, die Buchstaben
A.I.A. hinter meinem Namen zu führen. Von 1948 an hieß deshalb die Firma nicht mehr „Gruen und Krummeck Designers“, sondern „Victor Gruen Architect A.I.A.“.
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der grosse durchbruch
Ehekrise
Die erfolgreiche berufliche Entwicklung blieb auf die ehelichen Beziehun-
gen zwischen Elsie und mir nicht ohne Wirkung. Schon kurz nach der Geburt unserer Tochter Peggy hatte sich eine Trübung bemerkbar gemacht, schon damals sprachen wir von einer Scheidung, wenn die Kinder älter geworden wären.
Ich glaube, dass meine Attraktivität für Elsie, als wir uns 1939 kennen- und lie-
ben lernten, teilweise dadurch hervorgerufen war, dass sich ihre großzügige Hilfsbereitschaft für den damaligen hilflosen Flüchtling voll auswirken konnte, wodurch
sie einen bedeutenden Anteil zu meiner Amerikanisierung, aber auch zu meiner
Arbeitstätigkeit leistete. Je mehr sich meine beruflichen Aussichten erhellten, desto
mehr scheint es, verdüsterten sich die persönlichen Bedingungen. Je heimischer ich in Amerika wurde, desto mehr wuchs die eheliche Entfremdung.
Ein anderes Band, das zerriss, war die engste Zusammenarbeit in den ersten
Jahren gewesen. Teilweise wegen ihrer neuen Mutterpflichten, teilweise weil die
Aufgaben größer und technischer wurden, fühlte Elsie, manchmal zu Unrecht, dass
ihr Beitrag als grafische Künstlerin zusehends an Bedeutung verlor, und zog sich
von der Arbeitswelt schrittweise und schließlich völlig zurück, was durch die Trennung von Wohn- und Arbeitsstätte noch beschleunigt wurde. Andererseits muss ich zugeben, dass ich in meinem enthusiastischen Arbeitseifer und durch meine
vielen Reisen meine ehelichen und familiären Verpflichtungen vernachlässigte.
1948 – Michael war sechs, Peggy war vier Jahre alt – kamen wir zum Entschluss,
dass wir uns nun in aller Freundschaft scheiden lassen sollten. Wir besprachen dies
während eines Spazierganges in einem romantischen Wäldchen im Griffith-Park.
Elsie versicherte mir, dass sie für sich selbst keinerlei finanzielle Ansprüche machen wolle, dass sie aber erwarte, dass ich für Unterhalt und Erziehung der Kinder
aufkommen würde, was ich als Selbstverständlichkeit versprach. Dann aber äu-
ßerte sie voll Emotionen ihre Sorge um meine künftige Einsamkeit. Gerührt durch
diese Fürsorge beging ich den unsinnigen Fehler, ihr mitzuteilen, dass ich in New
York eine Frau kennengelernt hatte, zu der ich mich hingezogen fühlte.
Diese unüberlegte Bemerkung hatte am nächsten Morgen ein heftiges Nachspiel.
Elsie erklärte, sie habe sich die ganze Angelegenheit gründlich überlegt. Sie wolle
sich überhaupt nicht scheiden lassen, weil sie mich noch immer liebe. Sollte ich
jedoch auf eine Scheidung bestehen, dann würde sie Bedingungen stellen, die mich bettelarm machen würden und es mir unmöglich machen würden, je eine neue
Frau zu erhalten. Als ich meinte, wir sollten doch zu unserem Übereinkommen vom
Vortag stehen, erklärte sie, ich würde von ihrem Anwalt hören.
zu neuen ufern
Ich nahm diese Drohung nicht sehr ernst, weil ich Elsies großzügige Natur kann-
te und wusste, dass sie niemals besonderen Wert auf Geld gelegt hatte. Jedenfalls
aber verließ ich das gemeinsame Heim. Ich schlief im Büro, wo ich eine Couch aufstellen ließ und einen kleinen Waschraum mit Dusche zur Verfügung hatte. Einige
Tage später besuchte mich Elsies Anwalt, ein äußerst tüchtiger Mann. Die finanziellen Forderungen, wie er sie stellte, waren tatsächlich so hoch, dass sie mir damals
als unerfüllbar erschienen. Sie waren ein Vielfaches dessen, was ich zu verdienen
hoffen konnte, und ich sah mich dem finanziellen Ruin gegenüber. Der Anwalt meinte lächelnd, er habe so viel Gutes über meine Tüchtigkeit gehört, dass er nicht
daran zweifle, dass es mir in absehbarer Zeit möglich sein würde, die gestellten
Forderungen zu erfüllen.
Stachel im Fleisch
Diese Bemerkung saß mir wie ein Stachel im Fleisch. Ich begann darü-
ber zu grübeln, ob und wie ich seine Prophezeiung wahrmachen könne. Für die
Gegenwart und nahe Zukunft sah ich jedenfalls keine Lösung. Ich überließ Elsie
die Kinder, unser Haus, die Einrichtung, unseren Hund und unser Automobil und
überwies ihr monatlich angemessene Beträge für ihren und der Kinder Unterhalt.
Ich arbeitete härter als je zuvor, und reiste, heimlos geworden, noch öfter, beson-
ders nach New York, um mit Lazette zusammen zu sein. Das zigeunerhafte Leben in
Hotels war auf Dauer aber unerträglich. Wir mieteten schließlich eine Wohnung an
der 12. Straße in Greenwich Village, die groß genug war, um auch Lazettes Mutter
beherbergen zu können, die als sehr konventionelle Dame unser Verhältnis nega-
tiv beurteilte. Diese Wohnung hatte im Dachgeschoß einen durch interne Treppen
verbundenen großen Raum samt Nebenräumen, die ich als Atelier benützen wollte. Der Zufall wollte es, dass an dem Tage, an dem wir einzogen, das Telegramm
meines alten Klienten Stefan Klein bezüglich des Entwurfes seines fünfzigsten Geschäftes kam. Ich hatte also die Möglichkeit, sofort eine Arbeitstätigkeit in der neuen New Yorker Wohnung zu entwickeln.
Zwischen Lazette und mir herrschte volles Einverständnis darüber, dass, sobald
ich eine Scheidung erreichen könnte, wir heiraten wollten. Sie setzte ihre beruf
liche Tätigkeit mit großer Hingabe fort, und ich begann Pläne zu schmieden für den
Aufbau einer großen Organisation, die mich wirtschaftlich in die Lage versetzen
würde, die finanzielle Belastung, die sich durch die Scheidungsforderungen ergab, zu tragen.
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der grosse durchbruch
Anstoß zu einer Vision
Der starke Wunsch nach finanzieller Beweglichkeit war aber nur der An-
stoß, um viel weiter reichenden Visionen, von denen ich schon in meiner Jugend
geträumt hatte, neuen Auftrieb zu geben. Damals bewunderte ich jene überragenden
Persönlichkeiten, die sich nicht darauf beschränkt hatten, lediglich Einzelgebäude zu
entwerfen, sondern die als Universalisten an der Gestaltung der mensch-geschaffe-
nen Umwelt bedeutende Leistungen vollbrachten. Meine Leitbilder waren Leonardo
da Vinci, der sich als Künstler, Ingenieur, Erfinder, Architekt in gleicher Weise ver-
stand, der schweiz-französische Baukünstler Le Corbusier, der, aufbauend auf einer
Idee, soziale Grundzüge für eine neue Stadtgestaltung (La Ville Radieuse) entwickelte, und dessen Schriften mich während meiner Schulzeit derart beeindruckten, dass
ich unter ihrem Einfluss selbst einen Artikel über die Stadt der Zukunft für eine Wiener Zeitschrift verfasste2, und schließlich der Wiener Otto Wagner, der als Mitglied
der Künstlervereinigung Secession in seiner Architektur mit dem im 19. Jahrhundert
vorherrschenden Eklektizismus brach und eine großzügige Stadtplanung für das damals explosiv wachsende Wien vorantrieb. Er schuf eine Reihe öffentlicher Verkehrseinrichtungen wie z. B. die noch immer bestehende Stadtbahn, die über das Wiental
und Gürtellinie führt, samt allen Stationsgebäuden und Brücken.
Diesen drei von mir idealisierten Männern war gemeinsam, dass sie nach einer
Fusion von Technik, Planung, Architektur und den schönen Künsten strebten und
aufgrund dieser Verschmelzung allumfassend Umweltarchitektur ins Leben zu ru-
fen trachteten.
Dass ich heute mit vielen städtebaulichen Konzepten von Le Corbusier und Otto
Wagner nicht mehr übereinstimmen kann, ist wohl durch die neuen Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erklären, konnte aber an meiner
Überzeugung nichts ändern, dass eine generalisierende und integrierende Gesamtsicht bewunderns- und nachahmenswert sei.
Ich grübelte, wie sich eine allumfassende Tätigkeit in unserer Ära der überaus
pluralistischen, technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Struktur wohl
gestalten lassen könnte und kam zur Einsicht, dass dies nicht wie in der Vergangen-
heit durch einen Einzelnen, sondern nur durch ein gleichgesinntes Team erreichbar
wäre, das aus Architekten, Planern, Malern, Bildhauern, Grafikern, Ingenieuren aller Fachgebiete und Wirtschaftsfachleuten bestehen müsste.
2
Viktor Grünbaum, Die Großstadt von Morgen. Ein Spaziergang durch die Stadt der Zukunft. In: Arbeiter-Zeitung 1933.
notlandung
Um so ein Team wirkungsvoll einsetzen zu können, würde es einer großen, au-
ßergewöhnlichen Organisation bedürfen. In optimistischer Weise fühlte ich, dass
ich ein solches Team aus den Reihen meiner jetzigen Mitarbeiter ausbauen könne und dass ich mithilfe dieses Kaders eine neuartige Organisation aufbauen und
leiten könnte. Was aber fehlte, waren große, außerordentliche Auftraggeber mit einem Vorhaben, das einen universellen Einsatz möglich machen würde.
Notlandung Interviewer haben oft versucht zu ergründen, in welcher meiner Wohn-
stätten oder Ateliers ich den größten Teil meiner Arbeiten entwickelt habe. Mei-
ne Antwort lautete immer: in Flugzeugen. Tatsächlich legte ich jährlich Hundert-
tausende von Meilen als Luftpendler zurück, weshalb mich einige Fluglinien zum
Admiral mit V.I.P.-Rang ernannten.
Es war auf einem meiner allwöchentlichen Flüge, die ich von Los Angeles nach
New York unternahm. Im Vor-Jet-Zeitalter waren diese Flüge zeitraubend und weit
mehr vom Wetter abhängig als heute. Ich hatte es mir deshalb zur Gewohnheit gemacht, die Zeit nicht nutzlos im Flug verstreichen zu lassen, sondern mit Diktafon,
Skizzenbuch und Notizblöcken produktiv zu sein.
An einem Samstag im Herbst 1948 konzentrierte ich mich besonders auf meine
Arbeit, um die durch das sturmbedingte Schaukeln des Flugzeuges hervorgerufenen Angstgefühle zu übertauchen. Ich legte gerade eine Liste der für die große,
universalistische Organisation benötigten Teammitglieder an, notierte die Namen
jener Mitarbeiter und Konsulenten, die als zukünftige Partner in Betracht kamen,
entwarf einen Strukturplan und eine Verfassung. Ich folgerte, dass sich alle Proble-
me lösen ließen, wenn ich nur den außergewöhnlichen Auftraggeber finden könnte. Zu diesem Zeitpunkt ertönte aus dem Lautsprecher, dass alle Flughäfen entlang
der Ostküste wegen dichten Nebels gesperrt seien und dass wir in Detroit notlanden müssten. Diese Botschaft erschien mir als Wink des Schicksals. Statt im tristen
Wartesaal des Flughafens herumzusitzen, stattete ich der Stadt Detroit einen längeren Besuch ab. Es gab dafür einige Gründe: Schon vor Langem war ich eingeladen worden, den Manager einer großen lokalen Ladenkette aufzusuchen. Detroit
war eine der wenigen US-Großstädte, die ich im Zuge des Zweigstellenausbaus für
Grayson’s nicht kennengelernt hatte. Und so wollte ich auch das legendenumwobe-
ne zweitgrößte Kaufhaus der Welt, das Hudson’s, kennenlernen.
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der grosse durchbruch
Verödeter Stadtkern
Vor dem Schlafengehen wanderte ich noch durch den Stadtkern der Milli-
onen-Metropole. Der Rundgang nahm nicht viel Zeit in Anspruch. Es gab nur zwei,
allerdings breite, Hauptstraßen, den Washington Boulevard, hauptsächlich von
Bürohäusern gesäumt, und die Einkaufsstraße Woodward Avenue, an der einige
Filialgeschäfte und Diskontläden aufgefädelt waren, aber auch geschlossene Lokale
mit einem „Zu vermieten“-Schild. Alles schien mir veraltet, leblos und herunterge-
kommen. Es gab nur eine dramatische Ausnahme. Inmitten der stagnierenden Öde
stand wie ein Bollwerk der gigantische vierzehnstöckige Block des J.L. Hudson-
Kaufhauses mit einer schier endlosen Reihe von hell erleuchteten Schaufenstern. Seine solide, vielfenstrige, rote Ziegelfassade war durch keinerlei Firmenzeichen oder Reklame verunziert, lediglich an den Seitenpfeilern der zahlreichen Eingänge
fand ich kleine Bronzeplaketten mit dem Geschäftsnamen. Nirgends sonst konnte
ich neuere Bauwerke oder Geschäftsportale ausnehmen, wohl aber einige Baulücken. Jeder Schritt abseits der Hauptstraßen brachte mich in desolate Slums, aus denen ich mich, Gefahr witternd, schnell wieder zurückzog.
Touring-Detroit
Sonntagmorgens holte mich Herr Sabaroff, der Vater eines meiner Mitar-
beiter, mit seinem großen Wagen ab und wir unternahmen eine gründliche Erkundungstour durch die bekannteste Automobilmetropole der Welt. Schon während
des Frühstücks erhielt ich von diesem gut unterrichteten Mann Informationen über
Lage und Geschichte der Stadt. Er erzählte zum Beispiel, dass Detroit die älteste Stadt der Vereinigten Staaten außerhalb der Ostküstenkolonien war, 1701 von
französischen Siedlern begründet. Durch den Detroit River, den Eriesee und den
Lake St. Claire ist sie gegenüber Kanada abgegrenzt. Als Grenzstadt entwickelte sie
sich halbkreisförmig in nur drei Richtungen. 1805 brach ein Feuer aus, das, mit der
Ausnahme eines einzigen Hauses, die Stadt in Asche legte. In der Folge wurde ein
völlig neuer Stadtplan entwickelt: Ungewöhnlich breite Straßen, die teilweise wie
die Speichen eines Rades von einem Punkt am Fluss in alle Richtungen des Hinter-
landes führten, teilweise als konzentrische Ringe angeordnet waren. Die Radnabe
befindet sich am Flussufer, gegenüber der viel kleineren kanadischen Schwesterstadt Windsor, die über eine Autobrücke erreichbar ist. Die Verfasser des großzügi-
gen Stadtplanes, so scheint es fast, mussten 1805 ein Ereignis vorausgeahnt haben, das etwa 100 Jahre später eintraf: die Autoflut.
notlandung
Detroit war schon seit Langem Hauptsitz der Transportindustrie, zum Beispiel
waren dort die Pullman Waggon Werke eingerichtet worden. Just in meinem Geburtsjahr, 1903, wurde die Stadt das Zentrum der neuen Automobilindustrie, in
dem schon 1904 Firmen wie Ford, Cadillac, Oldsmobile zweitausend Arbeiter be-
schäftigten. Etwa dreißig Jahre später gab es in Detroit fünfhunderttausend Arbei-
ter in der Autoindustrie, die über 90 Prozent aller US-Kraftwagen herstellten.
Herr Sabaroff meinte, wir könnten auf eine Besichtigung des Stadtkernes ver-
zichten, dort sei ohnehin mit der Ausnahme des Hudson-Gebäudes nichts los. Das
anschließende Wohngebiet, das sogenannte Kernrandgebiet, diene nur der Behausung der Ärmsten, vor allem der schwarzen Minorität. Das wirkliche Leben spiele sich ausschließlich in den „Suburbs“, den Vorstadt-Zonen, ab. Um dieses wirkliche
Leben kennenzulernen, mussten wir in einer achtstündigen Fahrt Hunderte Kilometer zurücklegen.
Aufgrund der geografischen Lage hatte ich erwartet, dass diese Stadt an zwei
großen Seen und einem breiten Fluss einzigartige Landschaftsaspekte bieten
müsse. Meine Erwartungen wurden enttäuscht. Entlang des gesamten Ufers des
Erie-Sees und des Detroit Flusses gab es nur hässliche Industrien mit dazugehörigen Frachthäfen und Lagern. Lediglich entlang des Lake St. Claire hatten sich die
Reichen in palastartigen Villen mit Jachthäfen und Badeanlagen niedergelassen, in
einem Viertel, das allerdings auch von einer Hauptverkehrsader durchschnitten
wurde. Das übrige nicht von Industrien in Beschlag genommene Hinterland glich
einem Fleckenteppich, der sich aus kleinen Parzellen mit kleinen Gärten und mit-
telgroßen Parzellen mit mittleren Gärten zusammensetzte. Auf jeder Parzelle ein
Schachtelhaus mit einem völlig nutzlosen Rasenstück; dieser Garten war die Visi-
tenkarte der Bewohner, weshalb an ihm dauernd mit dem Rasenmäher herummanikürt wurde. An den dem Straßenverkehr zugewandten Seiten der Häuser lag das
wenig benützte Wohnzimmer mit einem überdimensionierten Vollglasfenster (dem
sogenannten „Picture Window“). Im Vorbeifahren schien es mir, als ob hinter jedem
dieser Renommierfenster die gleiche Stehlampe mit Kunststoffschirm postiert war, die gleiche Vase, die gleichen Blumen auf gleichen Tischchen.
Das war das Bild in den dreieckigen oder trapezförmigen Wohnblocks, die
zwischen den wie Speichen und Felgen zueinander angeordneten Hauptstraßen
lagen. Entlang dieser Verkehrsbänder aber war das Land laut Nutzungsplan ausschließlich für Geschäfte reserviert. Hier hatte sich ein Kunterbunt von kleinsten
und großen Unternehmungen angesiedelt. Eine Parade von Tankstellen, Würstelständen, Kaufhäusern, Schnellimbissstuben, Schnapsbuden, Supermärkten, Fili-
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der grosse durchbruch
algeschäften, Gebrauchtwagenplätzen, Leichenbestattungsunternehmungen, die
alle grell um die Aufmerksamkeit der Vorbeifahrenden warben. Die meisten dieser
Unternehmungen waren nur parterrehoch und verließen sich darauf, dass ihre
Kunden am Straßenrand einen Parkplatz finden würden. Nur in Ausnahmefällen
waren Abstellflächen vor oder hinter einer Gebäudereihe vorgesehen, in welchem Fall sich dieser Block dann stolz „Einkaufszentrum“ nannte. Darunter waren auch
drei größere Kaufhäuser, Filialen nationaler Konzerne. Obwohl diese Hauptstra-
ßen außerordentlich breit waren, konnten sie der vielfältigen Beanspruchung
durch Einkaufsverkehr, Parken, Warenan- und -ablieferung sowie Fußgänger nicht
gerecht werden. Um dem endlosen Verkehrschaos zu entrinnen, wich man zum
Parken in Wohnstraßen aus, wobei man allerdings oft vom Verkehrs-Regen in
die Verkehrs-Traufe gelangte. Das so großzügig geplante Hauptverkehrsnetz war
längst für den Durchzugsverkehr unbrauchbar geworden: In einer Stadt, in der es
kein erwähnenswertes öffentliche Verkehrssystem gab und in der jedermann aus
Prestige-, aber auch aus pragmatischen Gründen mindestens zwei Wagen in der
Garage haben musste, wurde deshalb ein ehrgeiziges Stadtautobahnnetz errichtet, das die Wohngebiete rücksichtslos in Stücke zerriss. Alle Betroffenen verfluchten
diese als Lärmerreger und Störenfriede, es kam zu zahlreichen Protestbewegungen.
Vor dem Argument, dass sie ohne Autobahnen nicht zu ihren Arbeitsplätzen in der Autoindustrie gelangen könnten, kapitulierten jedoch die Protestierenden.
Aufschlussreicher Abend
Nach einem Picknick der Kommunistischen Partei, zu dem sich die Genos-
sen in ihren großen Schlitten eingefunden hatten, und an dem auch ich, an Erfah-
rungen stets interessiert, teilgenommen hatte, war der Zeitpunkt für den Besuch bei Ben und Edna Goldstein gekommen. Etwas erschöpft erreichte ich die elegante
Villa meiner Gastgeber. Beide erwiesen sich als charmante, gebildete und herzliche
Menschen, mit denen es sofort zu einer engen Freundschaft kam. Sie planten, ihr
Damenmodengeschäft in der Innenstadt aufzugeben und stattdessen eine Reihe
von Geschäften entlang der Hauptstraßen der Vorstädte zu errichten. Wegen der chaotischen Zustände, die dort herrschten, fiel es ihnen aber schwer, geeignete
Standorte mit respektablen Nachbarn und ausreichenden Abstellplätzen zu finden.
Erstaunt fragte ich nach dem Grund, warum sie der Innenstadt entfliehen wollten,
wo doch das Kaufhaus Hudson’s dort mit einer Verkaufsfläche von über zweihunderttausend Quadratmetern offensichtlich erfolgreich bestehen konnte. Bei der
notlandung
Erwähnung des Namens Hudson’s wurden meine Gastgeber nervös und schwankten, ob sie mehr ihrer Bewunderung für die kaufmännische Tüchtigkeit oder ihrer
Aversion gegen den übermächtigen Konkurrenten zum Ausdruck bringen sollten. Schließlich legten sie dar, dass gegen Hudson’s mit seiner Vielfalt an Waren und
Serviceleistungen (z. B. die Zulieferung ins Haus) innerhalb des verödenden Stadtzentrums niemand bestehen könne. Noch vor etlichen Jahren habe es in Downtown
viele Großkaufhäuser und Detailgeschäfte gegeben, aber als sich das Wohngebiet
mehr und mehr an den Stadtrand verlegte, hätte der Handel ebenfalls die Flucht
nach außen ergriffen. Hudson’s, so meinten sie, sei eine Abnormität, ein gigantischer Felsen, der aus dem Staub des Verfalls rundherum herausrage. Edna gestand, dass auch sie trotz einer ermüdend langen Fahrt bei Hudson’s einkaufe, weil dies der einzige Ort in Detroit sei, wo der Gesamtbedarf an einer Stelle gedeckt werden
könne. Ben warf ein, dass man sich allerdings auch bei Hudson’s über die steigende
Konkurrenz des Handels an der Peripherie ernstliche Sorgen mache.
Auf meine Erklärung, dass ich am nächsten Tag Hudson’s einen Besuch abzustat-
ten gedachte, um eben diese Probleme mit der Direktion zu diskutieren, brachen
Ben und Edna in schallendes Gelächter aus. So als hätte ich einen guten Witz erzählt. Als sie sich beruhigt hatten, legten sie mir dar, dass sie mich für den naivsten
Mann Amerikas hielten. Hudson’s sei kein kommerzielles Unternehmen, sondern eine Art Monarchie. Es gäbe dort keine Direktion, sondern einen König und dessen
Thron. Man diskutiere nicht mit dem König, sondern man warte, bis man zu einer Audienz berufen würde, um Befehle zu empfangen. Der gegenwärtig regierende
König hieße Oscar Webber. Er sei ein scheuer, äußerst konservativer Mensch, der als starrsinnig galt und den selbst sie noch nie zu Gesicht bekommen hätten. Sie
meinten, ich könne selbstverständlich die J.L. Hudson Company besuchen und alle
Verkaufsräume inspizieren, ich würde sie wahrscheinlich beispielhaft finden, aber
die Idee, dass ich die heiligen Hallen der Geschäftsführung im elften Stock auch nur
betreten könne, erschien ihnen äußerst grotesk. Um die Absurdität meines Ansin-
nens noch zu unterstreichen, erklärten sie, dass die Hudson-Leute noch niemals
geschäftlich oder gesellschaftlich mit Leuten jüdischer Abstammung etwas zu tun
gehabt hätten. Je mehr ich von Schwierigkeiten hörte, desto stärker und faszinier-
ter fühlte ich mich herausgefordert.
Noch am selben Abend wurde mir etwas klar: Hudson’s war jener außerordent-
liche Klient, mit dem ich jene außerordentlichen Aufgaben erhalten könnte, wie sie
nur von der mir vorschwebenden außerordentlichen Organisation erfüllbar wären.
Nur einige kleine Hindernisse waren noch zu bewältigen. Die Hudson-Leute wuss-
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ten noch nichts von meiner Existenz, und sie ahnten nicht, dass ich der einzige
Mann in den USA war, der ihre Absichten – deren sie sich noch gar nicht bewusst
waren – erfolgreich realisieren würde. Schließlich kannte ich den König nicht, und
ich wusste auch von niemandem, der Beziehungen zu ihm hatte. Angesichts der
Zustände in Detroit und seinen Vororten war mir klar, dass entscheidende Maßnahmen notwendig waren, wie sie nur ein mächtiger Konzern wie Hudson’s ergreifen
könnte. Ich kannte nun meine Zielsetzung. Was jetzt notwendig wurde, war eine zielstrebige Strategie.
Auf heißer Spur Mein erster Zug im spannenden Schachspiel, das ich eröffnete, war eine
gründliche Inspektion der 13 Hudson’s-Verkaufsgeschoße. Die gediegene Ausstat-
tung, das reiche Warenangebot beeindruckten mich sehr. Schließlich nahm ich mit
dem Geschäftsarchitekten, Fred Wilkins, ein gutes Mittagessen im Großrestaurant
des Kaufhauses ein. Bald stellte sich heraus, dass Herr Wilkins eine eher untergeordnete Position innehatte, die sich auf die Instandhaltung von Räumen und Möb-
lierung beschränkte. Alles andere interessierte ihn nicht. Auf meine Ausführungen
zur allgemeinen Geschäftslage in Detroit bemerkte er nur, ich könnte, wenn mich
das alles so bekümmere, den Geschäftsführer und Vizepräsidenten James B. Web-
ber um eine Unterredung ersuchen, die, wie er achselzuckend hinzufügte, wahrscheinlich nicht gewährt werden würde.
Mein zweiter Zug bestand darin, in New York Erkundigungen über Hudson’s
einholen zu lassen, in erster Linie durch Lazette und ihre Beziehungen. Dies erwies
sich als gar nicht so einfach. Während nämlich in der Handelswelt die täglichen
Verkaufsziffern jedes Betriebes bekannt waren, erwies sich Hudson’s als unbeschriebenes Blatt. Geheimagenten glaubten jedoch herausgefunden zu haben, dass
Hudson’s Geschäftsumfang seit Jahren stagniere oder sogar zurückgehe. Von Oscar
Webber wusste man nur, dass er seit dem Tod seiner Frau völlig zurückgezogen auf
einer großen Farm lebe. Sein Neffe James, der Kronprinz, wäre zugänglicher, aber
ohne Einfluss.
auf heisser spur
Ein folgenreicher Brief
Trotzdem beschloss ich, an diesen Kronprinz James B. Webber einen zwölf
Seiten langen Brief zu schreiben, der eine ausführliche Analyse meiner Ansichten
über die Detroiter Detailhandelsszene enthielt. Andeutungsweise führte ich meine
Ideen aus, wie Hudson’s einer Situation, die ich als sehr düster charakterisierte, entgegenwirken könne, und ersuchte, mir diesbezüglich eine Unterredung zu gewähren. Nach Los Angeles zurückgekehrt, erhielt ich binnen weniger Tage ein kurzes
aber höfliches Antwortschreiben. Mein Bericht, so schrieb Herr James Webber,
habe ihn sehr interessiert. Sollte ich zufällig wieder einmal in Detroit sein, möge
ich ihn doch besuchen. Es dauerte lediglich drei Tage, bis ich „zufällig“ wieder einmal in Detroit war. Ein Telefonanruf genügte, ich hatte einen Termin. Das von jedermann für unmöglich gehaltene Eindringen in die geheiligten Räume des elften
Stockwerkes war binnen zehn Tagen gelungen.
James B. Webber erwies sich als interessierter und interessanter Gesprächspart-
ner. Meine Detroiter Wirtschaftsanalyse habe ihn sehr beeindruckt. Er und einige
Direktoren hätten schon seit Langem versucht, den Präsidenten zur Errichtung von
Zweiggeschäften im Umland zu bewegen, wären jedoch nicht imstande gewesen,
dessen starke Gegenargumente zu entkräften. Präsident Oscar Webber meinte ers-
tens, dass der Begriff Hudson’s mit imponierender Größe in Verbindung stehen müsse. Kleine Hudson-Geschäfte wären so undenkbar wie kleine Riesen. Weiters
meinte er, dass alle bestehenden Einkaufszentren baulich, verkehrstechnisch und
von der Qualität der Waren so miserabel seien, dass eine Teilnahme Hudson’s an diesen Übeltaten undenkbar wäre.
Ein Vorschlag
Zu seiner Verblüffung erklärte ich Herrn James B. Webber, dass ich die An-
sichten seines Onkels völlig teile. Mein Vorschlag wäre vollkommen anderer Natur.
Hudson’s solle ein eigenes großes Zentrum in einem Wachstumsgebiet errichten,
wo die städtebauliche und verkehrstechnische Entwicklung noch gelenkt werden
könne. Das Zentrum, und somit auch das Hudson-Geschäft, solle von außerordentlicher Größe und Qualität sein und es sich zur Aufgabe machen, auch als kulturelles, gesellschaftliches und Dienstleistungs-Zentrum für die rund 500.000 Menschen zu
dienen, die im regionalen Einzugsgebiet lebten. Ich schilderte meine Vision von einem Zentrum, das in allen Belangen der hohen Qualität, Vornehmheit und dem
Ruf des Stammhauses gerecht werden würde.
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James Webber hatte viele Detailfragen, die ich intuitiv so vollständig wie mög-
lich beantwortete. Jim (wie er genannt wurde) machte eifrig Notizen und ich regis-
trierte höchst befriedigt, dass meine Vision ihn merklich interessierte. Er meinte
schließlich, dass dieses Konzept völlig neue Perspektiven eröffne, für die er möglicherweise auch seinen Onkel interessieren könne.
Gipfeltreffen
Nach Los Angeles zurückgekehrt, traf binnen einer Woche eine Einladung
ein, meine Ideen Herrn Oscar Webber und seinem Generalstab darzulegen. Um
meine Vision konkreter auszuarbeiten und zu vertiefen, verblieb nur wenig Zeit.
Schließlich aber wurde ich von einem vor Nervosität zitternden Direktor in das
große Konferenzzimmer geleitet. Ich wurde kurz Herrn Oscar Webber vorgestellt,
einem kleinen, unauffälligen, völlig braun in braun gekleideten Mann. Etwa vier-
zehn respektvoll schweigende Direktoren hatten sich um den großen Sitzungstisch
platziert. Oscar Webber murmelte etwas, das ich für eine freundliche Begrüßung hinnahm, wandte sich an die Versammelten mit dem Vorschlag, Herrn Gruen das
Wort zu erteilen, worauf alle, wie aus einem Mund „Yes, Sir“ riefen. Wie ich später herausfand, sprach Mr. Webber alle seine Untergebenen mit dem Vornamen an,
während diese ihn mit „Mister Webber, Sir“ titulierten.
Couragiert legte ich los. Etwa eine Stunde sprach ich nicht nur über meine Be-
urteilung der Entwicklung des Detailhandels der Detroiter Region und die gefährdete Position Hudson’s, sondern auch über meine Idee eines großen regionalen
Hudson-Zentrums, wobei ich schon viel tiefer ins Detail ging, als ich es James B.
Webber gegenüber getan hatte. Mit dem Appell, dass damit Hudson’s eine große gesellschaftliche und öffentliche Verantwortung habe, schloss ich meinen Vortrag.
Eisiges Schweigen ringsum. Oscar Webber verzog keine Miene. Als ich mein Re-
ferat beschlossen hatte, fragte er kurz angebunden, ob die Versammelten Fragen
hätten. „No, Sir“, klang es im Chor. „Dann“, sagte er, „habe ich eine sehr schwer-
wiegende Frage. Wie stellst Du, Victor, Dir eigentlich vor, dass wir die treffend
beschriebenen Probleme durch die Errichtung eines einzigen, wenn auch großen
Zentrums lösen könnten. Meiner Ansicht nach sind da zumindest vier Zentren nötig. Was hast Du dazu zu sagen?“
„Oscar“, sagte ich, und Entsetzen stand ob dieser familiären Anrede in allen Ge-
sichtern, „ich glaube, Du hast vollkommen recht. Ich habe es nur nicht gewagt, ei-
nen so weitreichenden Vorschlag zu machen.“
vorschläge und rückschläge
„Unsinn“, brummte Oscar. „Du bist ja sonst auch nicht auf den Mund gefallen. Wenn
es den anderen Herren recht ist, möchte ich dich zu einer unverbindlichen Forschung
beauftragen. Binnen drei Wochen will ich wissen, wie viel und welche Art von Land
für jedes der vier Zentren benötigt wird und wo diese Areale gelegen sein sollten.
Ich werde Dir dann geeignete Leute zur Verfügung stellen, um herauszufinden, ob es
möglich ist, Land mit den beschriebenen Qualitäten zu erwerben. Der Erfolg dieser
Angelegenheit hängt aber davon ab, dass nichts, was in diesem Raum gesagt wurde,
an die Öffentlichkeit dringt. Alle Anwesenden sind zur völligen Verschwiegenheit ver-
pflichtet. Du, Victor, wirst in diesem Raum arbeiten, und zwar eingesperrt. Ich werde
dafür sorgen, dass alle benötigten Informationen beigestellt werden. Über Honorar
zu sprechen ist überflüssig, Hudson’s ist großzügig. Hast Du irgendwelche Fragen?“
„Ja“, sagte ich. „Ich will diese geheime Forschung gerne betreiben, möchte aber
einen meiner verlässlichsten Mitarbeiter, Herrn Karl Van Leuven beiziehen, weil ich
mich sonst zu Tode langweilen würde.“
„Bewilligt“, sagte Oscar. „Ihr werdet auf unsere Kosten im nächstgelegenen Hotel
wohnen, aber nur auf einem Umweg unser Gebäude durch einen Nebeneingang betreten. Wann fängst Du an?“ „Morgen“, sagte ich.
„Ok“, meinte Oscar. „Ich will Dich täglich um 9.00 Uhr in meinem Privatbüro spre-
chen.“
Nach dieser denkwürdigen Sitzung war mir klar, dass es noch viele Hindernisse
zu überwinden gab, ehe Hudson’s jener außergewöhnliche Auftraggeber war, den
ich für die erträumte außergewöhnliche Organisation brauchte. Einiges aber war
erreicht. Oscar Webber hatte den Vorschlag, ein gigantisches Zentrum zu bauen,
vervierfacht. Es schien mir, dass dieser Mann, wenn er sich einmal in eine Idee
verbissen hatte, nicht aufgeben würde, und dass eine Opposition vonseiten des JaSage-Chores nicht zu befürchten war. Schließlich hatte ich mich durch die scheinbare Nebensächlichkeit, ihn mit dem Vornamen angesprochen zu haben, von allen
seinen Untertanen deutlich abgesetzt und mit einer Tradition gebrochen. Damit
war viel für eine gedeihliche Zusammenarbeit erreicht, ich konnte damit rechnen,
von Oscar Webber als Gleichgestellter behandelt zu werden.
Vorschläge und Rückschläge Die Arbeit der Arrestanten im Konferenzzimmer, wo sogar die Mahlzeiten
serviert wurden, ging zügig voran. Karl Van Leuven und ich begannen, anhand ei-
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nes hypothetischen Planes den Landbedarf für sieben Baukörper, Fußgängerräume
und fließenden und ruhenden Verkehr sowie für einen breiten Grüngürtel an der
Außenseite der Autoabstellfläche zu errechnen.
Über die Resultate unserer Kalkulationen waren wir selbst erschrocken und es
gehörte einiger Mut dazu, bei einem der allmorgendlichen Treffen Oscar Webber zu
berichten, dass für jedes Zentrum etwa 43 Hektar Land gebraucht werden würden.
Wir seien aber der Ansicht, dass ein Areal erworben werden sollte, das zwei- bis
dreimal größer als der Zentrumsbedarf war, um sich vor sogenannter „Piraterie“ durch Konkurrenzunternehmen zu schützen. Diese würden aus der Existenz des
großen Autoabstellplatzes Vorteile ziehen. Weiters sollte das umliegende Land,
das ohne Zweifel eine Wertsteigung erfahren würde, einer Nutzung, unter ande-
rem durch Wohnstätten, Büros, Hotels oder Werkstätten zugeführt werden, die im
Interesse der Harmonie des Zentrums einheitlich zu planen seien.
Oscar zuckte nicht mit der Wimper und meinte, das klinge sehr vernünftig. Wir
sollten uns später auch mit der Planung des umgebenden Landes befassen.
Das geheime Unternehmen „X“ lief wie auf geölten Schienen. Obwohl Oscar un-
sere einzige Kontaktperson war, mussten offensichtlich Dutzende Heinzelmännchen am Werk sein, die uns mit detaillierten Landkarten, Landnutzungsangaben,
Verkehrsstatistiken und anderen Informationen fütterten. Als wir zusätzliche Angaben über demografische Daten wie Einwohnerzahl und Einkommensverhältnisse für verschiedene Regionen anforderten, erhielten wir diese in überraschender
Geschwindigkeit. Aufgrund unserer Studien konnten wir auf der Generalkarte von
Detroit und Umgebung eine Reihe von möglichen Zonen als rote Ringe eintragen. Nun setzte Oscar durch Mittelsmänner, die nicht wussten, wer der Auftraggeber
war, ein Heer von Agenten in Bewegung, die Ausschau hielten, ob und wo innerhalb
der großen, von uns mit roten Linien eingerahmten Gebiete Land in der gewünsch-
ten Größe zu erwerben war.
Die Vorschläge, die eintrafen, wurden von uns zuerst anhand der Grundstück-
karten und Verkehrszugänglichkeit theoretisch überprüft, wobei die meisten als
ungeeignet ausschieden. Ungefähr ließ sich aber die Lage der vier Zentren bestimmen, die wir Northland, Eastland, Westland und Southland tauften.
Ich muss offen gestehen, dass uns oft unheimlich wurde, nachdem alle Vorschlä-
ge, die wir wohl nach bestem Wissen und Gewissen, aber doch größtenteils intuitiv ausarbeiteten, mit frappanter Geschwindigkeit in die Tat umgesetzt wurden.
Als unsere Entscheidungen über die ungefähre Lage der Zentren gefallen waren,
meinte Oscar, wir hätten die Aufgabe des Forschungsauftrages erfüllt. Er befreite
vorschläge und rückschläge
uns aus unserem Arrest. Es würde nun wohl einige Monate dauern, bis alle Verhandlungen und Formalitäten über Landerwerb abgeschlossen wären. Er wollte mit der Planung keines einzigen Zentrums beginnen, bevor nicht das Land für alle
vier gesichert sei, da sonst die Immobilienpreise hinaufschnellen würden.
Während der folgenden zehn Monate wurden Karl und ich nur von Zeit zu Zeit
gerufen, um Grundstücke zu besichtigen. Dass wir viele ablehnten, imponierte Oscar Webber und bestärkte ihn in der Annahme, dass uns die Erreichung von Quali-
tät wichtiger war, als schnell „ins Geschäft“ zu kommen.
Vorbereitungen
Es war auch höchste Zeit, dass ich mich nach meinem fast ausschließli-
chen Einsatz für Hudson’s wieder dem Büro in Los Angeles zuwandte, das in der
Zwischenzeit von meinen Mitarbeitern erfolgreich weitergeführt worden war. Es
war aber auch die Zeit gekommen, so fühlte ich optimistischerweise, ernsthafte
Vorbereitungen für die sogenannte außerordentliche Organisation zu treffen. Ich
trug meine Vision meinen damaligen besten Mitarbeitern vor. Zu diesen gehörten: Karl Van Leuven, mein erster Angestellter im Kings-Road-Atelier; der Italiener Edgardo Contini, der sich als ausgezeichneter Statiker hervorgetan hatte; und
schließlich jener alter Schulkamerad Rudolf L. Baumfeld3, mit dem ich schon in der
Staatsgewerbeschule in Wien von einem gemeinsamen Atelier träumte. Nach einer
abenteuerlichen Flucht nach Amerika, viele Monate nach der meinen, suchte er
mich in Kalifornien auf und gehörte seit Kriegsende zu meinem Stab.
Diese drei Männer, die ich einlud, meine Partner zu werden, hatten eines ge-
meinsam: Sie waren alle starke Persönlichkeiten, deren Meinung ich respektierte.
Mit ihnen zu diskutieren, habe ich immer als bereichernde Erfahrung erlebt. Andererseits wusste ich, dass sie genügend Achtung vor mir hatten, um, wenn es um das
Interesse der Gesamtorganisation ging, sich mir unterzuordnen.
Karl und ich stellten in Aussicht, dass, wenn alles gut ginge, wir binnen Jahres-
frist einen Monsterauftrag in Detroit erhalten könnten. Obwohl unsere Büroerwei-
3
Rudolph L. Baumfeld war in den frühen Dreißigerjahren in Wien als Berater des Wiener Wohnbauprogramms tätig, danach führte er eine Ateliergemeinschaft mit Norbert Schlesinger und arbeitete u. a. für die Firma Julius Meinl. Baumfeld floh 1938 erst in die Tschechoslowakei und dann nach Italien, wo er in Genua inhaftiert wurde. 1940 gelang ihm die Flucht in die USA. Dort arbeitete er erst als Zeichner für die US-Navy und dann als Mitarbeiter und Partner bei „Victor Gruen Associates“. Baumfeld starb 1988 in Kalifornien.
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terung befriedigend verlief, sahen wir uns für einen Superauftrag nicht gerüstet. Da
bot ich meinen drei Freunden an, eine Aktiengesellschaft zu gründen, in der sie mit
mir gleichberechtigte Partner würden, wobei ich als Begründer und Seniorpartner mir nur ein Vetorecht im Falle von Unstimmigkeiten sichern wollte. Als Gegen-
leistung würde ich von der neuen Aktiengesellschaft verlangen, dass sie alle jene
Kosten übernimmt, die sich aus einer Scheidung von Elsie ergeben. Mein Ziel wäre,
dass die neue Organisation sich nicht auf Architektur im engeren Sinn beschränkt,
sondern von der Grafik- und Innengestaltung über alle Ingenieur-Disziplinen bis
zur Verkehrs- und Wirtschaftsplanung und Landschaftsgestaltung alles meistern solle. Dazu wäre es notwendig, schon jetzt innerhalb und außerhalb unseres Stabes
geeignete Persönlichkeiten für einen Führungskader zu suchen. Diese Personen,
meinte ich, könnten wir später zu „Associates“ mit Gewinnbeteiligung ernennen,
um ihre Loyalität zu sichern. Alle drei waren von dem Vorschlag begeistert.
Ab nun waren sie Partner mit eigenverantwortlichem Arbeitsbereich. Rudolf
Baumfeld war verantwortlich für Design, Karl Van Leuven für Klientenkontakte, Edgardo Contini für alle Ingenieurfächer, Ben Southland, der 1956 dazustieß, für
Planung. Jeder dieser Männer sah Architektur, Ingenieurwesen, Design und Planung als untrennbare Ganzheit und jeder mischte sich daher in alle Aspekte der
Durchführung eines Projektes ein. Dies führte wohl zu zeitraubenden Diskussionen, aber auch dazu, dass jedes Projekt von der Vielseitigkeit der Ansichten profitierte.
Wir fassten damals den prinzipiellen Entschluss, die sogenannte außerordentli-
che Organisation in jeder Beziehung vorzubereiten, um für den Auftrag X gerüstet
zu sein.
Ich besuchte Detroit in unregelmäßigen Abständen, um Landareale mit Oscar
Webber zu inspizieren. Er bestand darauf, ohne meine Zustimmung keinen Kauf
abzuschließen, da ich ja schließlich die Verantwortung für das Gelingen der Pro-
jekte trug.
Schwierigkeiten gab es nur beim Erwerb eines Teiles des Landes für das Zent-
rum Northland, wo ein achtzigjähriger Bauer wohl bereit war zu verkaufen, aber
darauf bestand, das Nutzungsrecht seines Landes bis zu seinem Ableben zu be-
halten. Dieser Farmer war ein interessanter Gegenspieler zu Oscar Webber. Starrsinnig widerstand er allen finanziellen Verlockungen. Ich riet Oscar nachzugeben,
schlimmstenfalls müsste man die Errichtung von Northland verschieben oder versuchen, eine temporäre Lösung zu finden, die dieses Hindernis berücksichtigen
würde.
vorschläge und rückschläge
Vertragsverhandlungen
1949 verständigte uns Oscar, dass die Landkäufe abgeschlossen seien, und
dass es nun Zeit wäre, zu einer vertraglichen Abmachung zu kommen. Wir soll-
ten unseren Anwalt von Los Angeles nach Detroit mitbringen, wo er mit Hudson’s
Anwalt den Vertrag aushandeln solle. Das Problem, das wir Oscar nicht gestehen
konnten, war, dass wir gar keinen Firmenanwalt besaßen. Aber Karl hatte einen
Freund, Herrn Griffith, der Anwalt war. Er bat ihn telefonisch, baldmöglichst in
Detroit zu erscheinen. Wir informierten ihn ausführlich über unseren Wunsch, einen möglichst allumfassenden Auftrag zur Planung aller Aspekte der vier Zentren auszuhandeln. Wir wollten unser Honorar in Form des kompletten Spesenersatzes
sowie der Bezahlung unseres gesamten technischen Personals mit einem angemessenen Zuschlag für Regien und Gewinn.
Die beiden Anwälte schienen sich ausgezeichnet zu verstehen und nach etwa
zwei Wochen berichteten sie, dass sie sich in allen Vertragspunkten geeinigt hätten.
Eines Nachmittags hatten wir dann eine Besprechung mit Herrn Oscar Webber, bei
der beide Anwälte ein etwa vierzigseitiges Vertragsdokument übergaben, und ver-
sicherten, er könne es ruhig unterschreiben, die Interessen beider Parteien seien
in jeder Beziehung gewahrt.
Nun kam der erste entscheidende Rückschlag. Herr Oscar Webber wog das um-
fangreiche Dokument in der Hand und sagte: „Das unterschreibe ich nicht.“ Dem
Hinweis der beiden Anwälte, dass er das Dokument ja noch gar nicht gelesen hätte, begegnete er damit, dass etwas von dieser Länge offensichtlich zu kompliziert und daher seiner Ansicht nach als Arbeitsgrundlage nicht geeignet sei.
Mit diesen Worten verließ er wütend das Zimmer. Karl und ich waren wie vom
Donner gerührt. Unsere Hoffnungen waren in einem Augenblick zerschmettert.
Das Hotel-Briefpapier
Nach einem trübseligen Abendessen setzten wir uns im Hotelzimmer an
den Schreibtisch und verfassten auf einem Stück Hotel-Briefpapier einen Kurzver-
trag. Er klang ungefähr wie folgt:
1. Die beiden Parteien verfolgen ein gemeinsames Ziel, das in einem Zeitraum
von etwa fünfzehn Jahren realisiert werden soll.
2. Sie verpflichten sich zu enger Zusammenarbeit, besonders zwischen Victor
Gruen und Oscar Webber persönlich, wobei kein Schritt unternommen werden soll, dem nicht beide zustimmen.
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der grosse durchbruch
3. Die Hudson-Gesellschaft vergütet der Gruen-Gesellschaft all jene Barausgaben,
die sich im Interesse des gemeinsamen Projektes als notwendig erweisen.
4. Die Gruen-Gesellschaft legt in monatlichen Abständen eine Zusammenstel-
lung aller ihrer Kosten für technisches Personal vor und diese werden multipliziert mit 2,5 von der Hudson-Gesellschaft bezahlt.
5. Im Falle, dass dieses Vertragsverhältnis aus irgendeinem Grund aufgelöst wer-
den muss, hält die Hudson-Gesellschaft die Gruen-Gesellschaft für alle Unkosten
und Schäden, die hieraus erwachsen, schadlos.
Am nächsten Morgen rief ich Oscar Webber an, der meinte, er hätte den An-
ruf schon erwartet. Ich solle ihn sofort besuchen. Ich sagte, dass ich ein Konzept
eines Kurzvertrages bei mir habe, und er meinte, das wäre ein komischer Zufall,
denn auch er hätte einen Kurzvertrag verfasst. Ich bat ihn, mir seinen Entwurf zu
zeigen, aber er winkte ab und meinte, er wolle zuerst meinen sehen. Ich gab ihm
das handgeschriebene Hotel-Briefpapier. Er las es aufmerksam, ergriff die Feder
und unterzeichnete es. Ich meinte, ich hätte auch gerne seine Vorschläge gehört.
Er sagte, das sei nicht notwendig, meine seien besser. Dann brachte er einige zusätzliche Wünsche zum Ausdruck. Die Hauptarbeit sollte in einem Detroiter Büro
erfolgen. Zudem wollte er, dass Karl Van Leuven, zu dem er eine tiefe Zuneigung
wie zu einem Sohn gefasst hatte, das Arbeitsbüro leite und sich in Detroit ansiedelte. Das war ein Problem, da Karl nicht nur eine Frau, sondern auch sechs Kinder
hatte. Als Konsulenten würde er uns hochqualifizierte Leute zur Verfügung stellen, die aufgrund unserer Weisungen handeln sollten. Wir sollten unsere Organisation
aufbauen, die notwendigen Übersiedlungen durchführen, geeignete Büroräumlich-
keiten mieten und dann sobald wie möglich mit dem Entwurf des ersten Zentrums
beginnen. Auf meinen Einwand, dass es notwendig sein werde, für kürzere oder
längere Zeit Mitarbeiter von Los Angeles einzuschalten, stimmte er zu und mein-
te, dass er das vollkommen uns überlasse, dass Hudson selbstverständlich für alle
Reisekosten und andere Spesen aufkommen würde.
In dieser unorthodoxen Weise kam ein Vertragsverhältnis über eines der
größten Bauvorhaben Amerikas der Fünfzigerjahre binnen einer halben Stunde
zustande. Mit diesem Stück Papier in der Tasche war die Zielsetzung, einen außerordentlichen Auftraggeber zu gewinnen, erfüllt. Die Frage, ob ich eine große
außerordentliche Organisation schaffen sollte, bestand nicht mehr, wir waren nun
gezwungen, sie so schnell wie möglich aufzubauen, um eine allumfassende Aufgabe
in allumfassender Weise zu erfüllen.
Überraschungen erlebten wir allerdings noch, als wir Oscar Vorschläge für die
vorschläge und rückschläge
Unterbringung von Van Leuvens Familie und des Büros machten. Er fand sie alle
völlig ungeeignet. Er meinte, dass unsere Organisation nun ein Mitglied der Hudson-Familie wäre und deren Standard einzuhalten habe. Er verfügte, dass für Karl
ein großes Haus in der elegantesten Wohngegend, nahe des Lake St. Claire, gekauft
und auf Kosten von Hudson’s repräsentativ eingerichtet wurde. Die Büroräumlichkeiten sollten am nahe gelegenen Washington Boulevard ebenso repräsentativ
sein, vor allem doppelt so groß als wir geschätzt hatten, da er beabsichtige, die vier
Zentren in Abständen von etwa dreieinhalb Jahren zu errichten, und wir deshalb
wahrscheinlich gleichzeitig an mehreren Projekten arbeiten würden. Schmunzelnd
meinte er, dass es bei den gigantischen Projektkosten falsch wäre, bei den Kosten
jener zu sparen, die diese Projekte schufen.
Falsche Sparsamkeit wurde auch dem Äußeren meiner Erscheinung vorge-
worfen. Gleich nach der Vertragsunterfertigung musste ich mich in der Herrenabteilung auf Kosten des Hauses von Unterwäsche bis Hut, Schuhe und Mantel (in
mehrfacher Kombination) total neu einkleiden. Indem ich bei Hudson’s die letzten
Reste meiner europäische Garderobe abstreifte, schlüpfte ich endgültig aus meiner europäischen Haut.
Rückschläge
Es gab dann noch einen zweiten, viel ernsteren Rückschlag. Während der
Ausarbeitung des Eastland Projektes brach der Korea-Krieg aus und alle Bauaktivitäten mussten, ähnlich wie während des Zweiten Weltkrieges, eingestellt werden. Wir
fürchteten nun, dass Oscar unsere Tätigkeiten stoppen würde. Unsere Ängste wa-
ren grundlos. Oscar meinte, dass wir den Zeitaufschub dazu nutzen könnten, um die
Landerwerbsverhandlungen für Northland abzuschließen, in welchem Fall es sein
Wunsch wäre, Northland – weil es die potenziell beste Lage hatte – zuerst zu bauen.
Wir sollten also sofort mit der Ausführung der Planung für Northland beginnen.
Ich ergriff diese Gelegenheit, ihm zu gestehen, dass ich im Zuge der Arbeiten am
Vorprojekt für Eastland zur Überzeugung gekommen war, dass unser erstes Konzept nicht befriedigend war und dass ich jetzt eine viel bessere Idee hätte, die ich
ihm beschrieb. Er stimmte dem neuen Konzept, das dann tatsächlich gebaut wurde, begeistert zu und meinte, dass die Ausgaben, die wir bis jetzt für das alte Konzept gemacht hätten, als Erfahrungsgewinn abzuschreiben seien.
Zu einem dritten ernsten Rückschlag kam es bei der Frage der Wirtschaftlich-
keit und Finanzierung des Northland Projektes. Hudson’s hatte zur Beurteilung
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der grosse durchbruch
der Rentabilität zwei Wirtschaftsexperten berufen. Der eine war der von mir emp-
fohlene Larry Smith, mit dem ich schon vorher gearbeitet hatte und mit dem ich
später gemeinsam das Buch „Shopping Towns U.S.A“ verfasste.4 Der andere war der von Hudson’s gewählte Experte, Homer Hoyt. Larry lieferte einen langen, mit
vielen Statistiken versehenen Bericht, der sich auf die Erfahrungen der existierenden sogenannten Einkaufszentren stützte, und zu außerordentlich pessimistischen
Schlussfolgerungen gelangte. Das Zentrum sei, in Anbetracht der geschätzten hundert Millionen Dollar Entstehungskosten, viel zu groß und viel zu teuer. Von Ren-
tabilität könne daher keine Rede sein. Er schätzte den höchsten Umsatz nach fünf
Betriebsjahren auf etwa fünfzig Millionen Dollar. Homer Hoyt lieferte einen kurzen
Bericht, der mehr auf Intuition als auf Statistiken beruhte. Er meinte, das Projekt sei so einzigartig, dass es von Anfang an ein Erfolg werden würde.
Oscar blieb von beiden Berichten unbeeindruckt. Dagegen waren die großen
Versicherungsanstalten durch den Bericht des sehr renommierten Larry Smith
offenbar so abgeschreckt, dass sich keine fand, die bereit war, den notwendigen
Finanzierungsbeitrag zu leisten. Als ich glaubte, dies bedeute das Ende, irrte ich
mich abermals. Oscar persönlich war von dem Erfolg des Zentrums so überzeugt, dass er meinte, wenn nicht anders, dann werde die Hudson-Gesellschaft es eben
selbst finanzieren.
Dass seine Entscheidung richtig war, zeigte sich noch vor Baubeginn, als schon
alle Räumlichkeiten an renommierte Mieter zu guten Bedingungen vergeben wa-
ren. Dieselben Finanzierungsgesellschaften, die vorher abgelehnt hatten, begannen
sich nun darum zu reißen, günstige Anleihen zu gewähren. Dem Bau von North-
land stand nun lediglich die Aufhebung der Baurestriktionen als Folge des Korea-
Krieges im Wege.
Von der Vision zur Realität Northland wurde als erster großzügiger und gelungener Versuch ge-
würdigt, in umweltbewusster Weise für die endlosen Wüsteneien der für amerikanische Großstädte so typischen vorstädtischen Verhäuselung eine Oase der Gemeinschaftlichkeit, Geselligkeit, Erholung, kulturellen Betätigung und auch des
vergnüglichen Einkaufs geschaffen zu haben. Seine Bedeutung wurde in unge4
Victor Gruen und Larry Smith, Shopping Towns U.S.A. The Planning of Shopping Centers. Reinhold: New York 1960.
von der vision zur realität
wöhnlicher Weise und seltener Einhelligkeit durch nationale Massenmedien und Architekturzeitschriften unterstrichen.
So schrieb zum Beispiel die bekannte Stadtplanungskritikerin Jane Jacobs schon
wenige Monate nach Eröffnung im angesehenen Architectural Forum: „Dies ist ein
klassisches Beispiel für die Planung von Einkaufszentren in dem Sinne, wie Rockefeller Center das klassische Beispiel für die Planung von Wolkenkratzergruppen
im Kerngebiet oder Radburn, New Jersey, für die Planung von neuen Wohnvierteln
ist.“5 Jacobs beschrieb Northland als ein dankbares Studienobjekt für Stadtplaner: die flexible Verwendung von offenen Plätzen, ähnlich einer Marktstadt, bietet sich
als denkbar günstige Möglichkeit an, die Rehabilitation bestehender, vom Verfall
bedrohter Stadtviertel zu meistern. Beispielgebend waren ihrer Ansicht nach das
hohe Niveau der grafischen Gestaltung und die ungezwungene, großzügige und erfrischende Einbeziehung von Kunstwerken.
Die vielen illustrierten Zeitschriften, allen voran das damals populärste Magazin
Life, brachten vielseitige, durch Farbfotos dokumentierte Berichte. Eleonore Roosevelt, die Witwe des Präsidenten, stattete Northland einen langen Besuch ab und
schrieb einem begeisterten Artikel in einem Frauenmagazin. Aber auch sonst wurde Northland zu einer Art Wallfahrtsort für Berichterstatter, Städteplaner, Kaufleu-
te und Bauunternehmer.
Behörden und professionelle Vereinigungen überschütteten uns mit Ehrenur-
kunden und Preisen, die Bundesregierung hatte ein gigantisches Farbfoto des Pro-
jektes anfertigen lassen, das im Rahmen einer Ausstellung über US-Architektur in
vielen Teilen der Welt, darunter auch in Moskau, gezeigt wurde.
Für unsere Zukunft als neu begründete, große interdisziplinäre Organisation
war diese außerordentlich positive Reaktion lebenswichtig. Ohne diese Erfolgsbestätigung wäre unser Arbeitsprinzip der allumfassenden Tätigkeit als Fehlschlag
bewertet worden. So aber fanden wir nicht nur unsere Auffassung von Umweltarchitektur, sondern auch die partnerschaftliche Arbeitsweise, wie wir sie mit
Hudson’s ausübten, wegweisend für unsere zukünftige Arbeit.
Rückblickend muss ich feststellen, dass das Lob, mit dem wir überschüttet wur-
den, größtenteils dem Auftraggeber und im Besonderen der Person Oscar Webbers
gebührte. Ohne seine ethische Grundeinstellung, seinem voraussehenden, durch
Konservativismus gezügelten Unternehmungsgeist hätte diese Bresche in die vor5
Northland: A New Yardstick For Shopping Center Planning. Editorial, In: Architectural Forum 100/6 (Juni 1954), 102–119.
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der grosse durchbruch
herrschende Praxis des kurzfristigen Profitdenkens nie geschlagen werden können.
Da sich aber diese Bresche als zielführender Pfad zu wirtschaftlichen Vorteilen er-
wies, konnten wir von nun an andere Auftraggeber von den Vorteilen großzügigen, langfristigen Planungsdenkens und Handelns überzeugen.
Als nach Ablauf des ersten Betriebsjahres, das einen Gesamtumsatz von über
100 Millionen Dollar brachte, Oscar den Wirtschaftskonsulenten Larry Smith et-
was sarkastisch fragte, wie es denn möglich gewesen sei, dass er den potenziellen
Umsatz so stark unterschätzt hatte, entgegnete er „Sir, ich nahm an, dass Sie beabsichtigen, ein konventionelles Einkaufszentrum zu errichten. Dass Sie etwas völlig
anderes, noch nie Dagewesenes bauen würden, konnte ich nicht ins Kalkül ziehen.
Aber wenn Sie mich in Zukunft befragen, bin ich jetzt in der Lage, realistische Prognosen zu erstellen.“ Oscar ersuchte ihn, dies für die drei folgenden Zentren zu tun.
Und nun könnte die Frage aufgeworfen werden, wie es dazu kam, dass ein Pro-
jekt kommerzieller Art von der breiten Öffentlichkeit als architektonische „Großtat“ angesehen wurde. War dieses Werk, könnte man fragen, das Resultat eines genialen Geistesblitzes oder war es nur das logische Resultat von Gegebenheiten und
Sachzwängen, denen man sich mit einiger Geschicklichkeit anpasste?
Beide Fragen können weder absolut bejaht noch verneint werden. Von den übli-
chen Sachzwängen war dieses Projekt, mit Ausnahme der Bauordnung, eigentlich
frei, aber wir hatten uns durch eine Baugesinnung selbst Sachzwänge geschaffen, denen wir uns unterwarfen.
Wenn ich hier die Worte „wir“ und „uns“ gebrauche, dann bezieht sich das im
engeren Sinn auf des Planungs-Führungsteam, das sich aus Oscar Webber, Karl Van
Leuven und mir zusammensetzte und im weiteren Sinn auf die Partner unserer
Gesellschaft in Los Angeles, auf einige Personen des Führungskaders der HudsonGesellschaft und eine Reihe unserer Konsulenten. Innerhalb des Führungsteams
existierte eine einfache Vereinbarung. Oscar würde ohne unsere Zustimmung an
keinem der vier geplanten Projekte etwas unternehmen, wir andererseits würden alle wichtigen Schritte mit ihm besprechen. In Zweifelsfällen versuchten wir ihn zu
überzeugen oder, wenn dies nicht gelang, neue Vorschläge zu unterbreiten.
Aus der Tatsache, dass wir vorschlugen und die anderen bezahlten, ergab sich
bizarrerweise die Situation, dass wir im Allgemeinen zur Sparsamkeit rieten, wäh-
rend Oscar im Hinblick auf künftige Erhaltungs- und Betriebskosten auf höchste
Qualität der Ausführung bestand und dadurch zusätzlich hohe Kosten hervorrief.
So verlangte er zum Beispiel, dass schon beim Bau der ersten Phase Aufstockungs-
voraussetzungen für jedes Gebäude und Fundamente und Untergeschoße für zu-
von der vision zur realität
sätzliche vermietbare Gebäude geschaffen werden sollten. Die Planungsidee war
deshalb leicht zu umreißen, weil sich unsere Ansichten und Zielsetzungen deckten.
Wir alle wollten regionale, multifunktionelle Teilstadtzentren schaffen, die die Lebensqualität der umgebenden bestehenden und künftigen Wohngebiete erhöhten.
Deshalb mussten Vorkehrungen getroffen werden, um für die anliegenden Gebiete
den Schutz vor Lärm, Verkehr und Abgasen, sicher zu stellen. Störende Ausblicke
auf Ladetätigkeiten waren ebenso unerwünscht wie grelle Zeichen des Kommer-
zialismus.
Zusammenarbeit
Die Zusammenarbeit der Teamführung vollzog sich während entscheiden-
der Phasen bei den täglichen Besprechungen um Punkt 9.00 Uhr in Oscars Büro
oder bei jenen gelegentlichen Besuchen in unseren Arbeitsquartieren. Er erwies
sich als ein sehr starker Partner, der seine eigenen Ansichten und auch einige Vor-
urteile besaß und uns deshalb zu höchster Leistung anspornte.
Dass Oscar wahrscheinlich unterschwellig den Wunsch hatte, ein zusätzliches
Monument für Hudson’s zu errichten (das Stammhaus galt ja schon als Wahrzeichen Detroits, ähnlich wie der Eiffelturm für Paris), könnte eine weitere Triebfeder für sein ungewöhnliches Vorgehen gewesen sein. (Vor Kurzem erfuhr ich aus
US-Zeitungen, dass dieses Wahrzeichen wegen des fortschreitenden Verfalls der Innenstadt demoliert werden soll6.) So war es sein Wunsch, dass alle Mieter bei der Gestaltung ihrer Geschäftsfronten und Innenräume demselben qualitativen
Standard folgen sollten, wie er von Hudson’s gesetzt wurde. Da nicht zu erwarten
war, dass dies durch Zureden allein herbeigeführt werden konnte, wurde bestimmt,
dass jedem Mieter namhafte Zuschüsse für Gestaltung und Einrichtung seines Ge-
schäftes gewährt werden sollten und die Mieter und deren Architekten sich als
Gegenleistung der Kontrolle des Zentrumarchitekten zu unterwerfen hätten.
Diese und andere Neuerungen erschienen konventionellen Finanz- und Immo-
bilienexperten irrsinnig. Nach deren Ansichten sollte ein Einkaufszentrum eine
billigst produzierte Einkaufsmaschine sein, die den Kunden durch nichts von sei-
ner Hauptaufgabe, sein Geld so schnell wie möglich gegen Ware auszutauschen, ablenken solle.
6
1989 verkaufte Dayton Hudson das Hudson Department Store in Detroit und am 24. Oktober 1998 wurde das Gebäude gesprengt.
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der grosse durchbruch
Auch wir aber dachten wirtschaftlich, jedoch in einem unkonventionellen, wei-
teren Sinn. Wir waren zum Beispiel der Ansicht, dass nur Zentren mit überragender Qualität jede künftige Konkurrenz entmutigen würden und dass ein zentraler
Ort, der weit mehr als nur Einkaufsmöglichkeiten zu bieten hatte, eine ungewöhn-
liche Zugkraft ausüben würde, die schlussendlich auch dem Geschäftsumfang zugu-
tekommen würde. Die Subventionen an die Mieter, meinte Oscar, könnten als eine
Anleihe angesehen werden. Durch die steigenden Umsatzmieterträge (Prozentsätze vom Geschäftsumsatz) würde der Erbauer und Besitzer entschädigt.
Wir befassten uns mit Dingen, die mit Architektur im engeren Sinn nicht das
Geringste zu tun haben. Wir entwickelten zum Beispiel eine Art „Gesetzgebung“
für die künftigen „Gemeinwesen“, die sich aus vielen tausend Angestellten und
Hunderttausenden Besuchern zusammensetzen würden. Wir lieferten den An-
wälten, die an Mietverträgen arbeiteten, Entwürfe für jene Bedingungen, die für ein funktionierendes Zentrum wichtig erschienen: Zum Beispiel das Verbot eines
Übergreifens kommerzieller Tätigkeiten in die öffentlichen Fußgängergebiete oder des marktschreierischen Charakters von Einzelgeschäften. So gab es zum Beispiel
Vorschriften über die Maximalgröße der Buchstaben von Firmenzeichen, ein Verbot für Neonlichtzeichen und für auf die Fenster angeklebte Papierzeichen, das
Verbot aller überragenden Firmenzeichen, das Verbot, Dächer durch irgendwelche
Aufbauten zu verunzieren, die Vorschrift, keine Fernseh- und Radioantennen anzubringen, sondern sich an eine Zentralantenne anzuschließen. Ladenöffnungs- und
-schließzeiten mussten einheitlich sein, es bestand die Verpflichtung, Schaufenster
auch an Sonn- und Feiertagen täglich ab der Dämmerung bis 22.00 Uhr zu beleuch-
ten, so lange sollte das Zentrum zu betreten sein.
Wir entwarfen Statuten für ein Mieterparlament, das Fragen, die das ganze Zen-
trum betreffen, behandeln sollte. Wir nahmen auch starken Einfluss auf die Strategie der Vermietung, indem wir einen Vorvermietplan erstellten, in dem Größe und
Lage der Unternehmung aller Branchen eingetragen wurden. Dieser Vorvermietplan zeigte auch an, dass nur ein Supermarkt zugelassen werden sollte, während für andere Branchen zwei bis drei konkurrierende Firmen vorgesehen waren. Alle
jene Unternehmungen, die sehr viel Bodenfläche benötigten, wie Möbel-, Hartgut-,
Baustoff- und ähnliche Geschäfte, sollten im Erdgeschoß lediglich eine Eingangshalle mit Rolltreppe erhalten, ihre Verkaufs- und Ausstellungsräume aber im Un-
tergeschoß unterbringen.
Mit all diesen Auflagen und Einschränkungen erschwerten wir die Tätigkeit des
Mannes, der mit der Vermietung und den Mieterbeziehungen betraut worden war:
von der vision zur realität
Herrn Horace Carpenter. Wir hatten ihn ausgewählt, weil er durch keine vorherige
Erfahrungen mit Geschäftsvermietung verdorben war. Mietanwärter konnten es
anfangs nicht verstehen, dass für sie entweder überhaupt kein Raum vorhanden
war oder weit weniger als sie forderten und dieser nur in vorbestimmter Lage. Da
er zeitlich nicht unter Druck stand, erzielte er schließlich eine ausgewogene Ver-
mietung an qualifizierten Unternehmen.
Bei dem Projekt Northland boten uns die vielen Aktivitäten, die mit Architek-
tur im konventionellen Sinn wenig zu tun hatten, zum ersten Mal im großen Maßstab die Gelegenheit, meine Auffassung über Aufgabe und Wesen der Architektur
zu erproben. Architektur ist nur dann bedeutungsvoll, wenn sie als Synthese von
Kunst, Technik, Wissenschaft, Politik, Wirtschaftlichkeit, Philosophie, Planung und
Gestaltung verstanden wird. In diesem Sinn ist Architektur eine Herausforderung, die den Einsatz synchronisierten Denkens erfordert.
Zu diesem synchronisierten Einsatz kam es im Verlauf aller unserer Projekte
bis zu deren Fertigstellung. Wir waren zum Beispiel politisch tätig, indem wir bei
Bürgerversammlungen die Öffentlichkeit durch Lichtbilder und Vorträge über den
ungewöhnlichen Charakter der Projekte informierten und davon zu überzeugen suchten, keine Einwände gegen eine Baubewilligung vorzubringen. Wir stellten
uns in Diskussionen allen jenen, die sich skeptisch zeigten. Wir verhandelten mit
Behörden aller Art, um Ausnahmebestimmungen zu erreichen, wie zum Beispiel die gemischte Landnutzung für die verschiedensten Funktionen. Wir überredeten
die Verkehrsbehörden, gewisse Verbesserungen durchzuführen, wie zum Beispiel einen öffentlichen Autobusverkehr für die Region einzurichten.
Der Entwurf
Parallel zu diesen Bemühungen und im Geiste der Baugesinnung entstand
auch der planerische und architektonische Entwurf. Wie das deutsche Wort „Ent-
wurf“ es treffend ausdrückt, handelt es sich um eine grundlegende Idee, die man in einem Moment der Eingebung auf ein Stück Papier „hinwirft“. Dieses Hinwerfen erfolgt aufgrund von Intuition, welche unterbewusst langjährige Erfahrung, die
Kenntnis des Baulandes und seiner Umgebung sowie des Klienten einschließt. Das
menschliche Gehirn einer schöpferischen Person scheint, ähnlich wie ein Compu-
ter, imstande zu sein, eine Unzahl von Informationen zu speichern und in einem einzigen Moment der Eingebung ein Konzept zu gebären. Man nennt dies auch den
Moment, in dem einem der Knopf aufgeht.
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der grosse durchbruch
Im Falle von Northland war dies die Ideenskizze, die Oscar Webber vorgelegt
wurde: Im Zentrum des großen Geländes, also weit entfernt von allen öffentlichen
Straßen, sollte ein scharf umgrenzter „knollenförmiger“ Komplex situiert werden, der aus Baukörpern und dazwischenliegenden offenen Räumen bestand. Um den
zentralen Kern dieses „Knollens“ sollten in unregelmäßiger Form alle anderen Tei-
le der Gesamtkomposition angeordnet werden. Der erste Ring waren gärtnerisch
gestaltete öffentliche Plätze verschiedenster Form und Größe. Am Rande dieser
Grünräume, die ausschließlich Fußgängern dienten, sollte ein Kranz von fünf par-
terrehohen, aber unterkellerten Mietobjekten liegen. Die Zwischenräume, die sich durch die verschieden großen Abstände dieser Objekte zueinander ergaben, waren
Fußgängerpromenaden, die die Verbindung zu einem weiteren breiten Ring herstellten, der für Autoabstellplätze vorgesehen war. Nur an einer Seite des zentralen
Kernes war der Kranz der Mietobjekte unterbrochen, um die volle Sicht des Hudson-Gebäudes von einer Hauptverkehrsstraße offen zu lassen. An dieser Stelle war
dem zentralen Gebäude eine reichlich bemessene Fußgängerterrasse vorgelagert,
auf welcher Großveranstaltungen stattfinden konnten.
Die Skizze zeigte auch, wie die verschiedenen Verkehrsarten voneinander sepa-
riert werden konnten. Ausschließlich für Fußgänger waren die öffentlichen Räume
im Zentrum und die um eine Stufe erhöhten Gehsteige bestimmt, welche die Parkfläche in neun Sektoren gliederten. Für den Lastenverkehr war eine gesonderte
Straße vorgesehen, die im Bereich des „Knollens“ im Untergeschoß verlief. Schließlich wurde eine Fahrbahnschleife ausschließlich für den Autobus- und Taxiverkehr geplant. Für den privaten Autoverkehr gab es eine ringartige Verbindungsstraße
an der Peripherie des Wagenabstellgebietes mit Anbindungen an die fünf umge-
benden öffentlichen Straßen. Als letzten konzentrischen Ring gab es einen breiten
Grüngürtel, der als Schutzzone zwischen den Wohngebieten und der Autoabstell-
fläche gedacht war. Zusätzlich wurde vorgesehen, dass die technischen Einrichtun-
gen, wie sie für Zentralheizung, Klimaanlagen, Reparaturwerkstätten, Feuerwehr-
und Polizeistation notwendig waren, nicht wertvollen Platz im Zentralgebäude
einnehmen sollten, sondern in einem eigenen Betriebsgebäude in einer entfernten
Ecke des Geländes untergebracht werden.
Dieser Entwurf benachteiligte offensichtlich die direkte Zugänglichkeit des gro-
ßen Kaufhauses von der Autoabstellfläche. Oscar Webber akzeptierte ihn trotzdem,
weil er meinte, diese Benachteiligung sei gerechtfertigt, da Hudson’s als Hauptmagnet die Käufer ohnehin anziehen würde und es im Interesse des Gesamtzentrums
vorteilhaft wäre, die Fußgängerströme an den Einzelgeschäften vorbeizuleiten. Si-
von der vision zur realität
gnifikant für das Selbstvertrauen von Hudson’s war, dass sie auf jederlei Firmenzeichen am Kaufhausgebäude verzichteten und sich nur mit kleinen Bronzeplaketten
bei den Eingängen zufriedengaben. Ein Firmenzeichen, meinte Oscar Webber, sei
überflüssig, da ja ohnehin jedermann in Detroit und Umgebung wüsste, dass ein Gebäude solcher bedeutenden Größe nur von Hudson’s stammen könnte.
Ein Entwurf als Resultat eines Geistesblitzes muss natürlich erprobt werden.
Ich hatte schon einen Entwurf für Eastland geliefert, der mit meinen eigentlichen
Absichten nicht übereinstimmte. Ich hatte vorgesehen, dass die Geschäfte ringförmig einen großen Parkplatz umgeben. Zusätzlich waren Autoabstellplätze an der
Außenseite dieses Rings vorgesehen. Dieses Schema hätte zwar allen Geschäften
optimale Zugänglichkeit gebracht, aber keine Separierung der Fußgänger vom Au-
toverkehr. Auch waren die Distanzen zwischen den Geschäften zu groß geworden.
Ich fand selbst, dass dieser der Autogerechtigkeit entspringende Entwurf das größte Ei war, das ich je gelegt hatte. Die Atempause, die durch den Koreakrieg eintrat, bewahrte uns davor, dieses schlechte Projekt auszuführen.
Jetzt wollten wir für Northland unsere neuen Erkenntnisse anwenden. In der
Architektensprache bezeichnet man diesen Vorgang der Prüfung als präliminäres
Zeichnen, bei welchem wir von innen nach außen arbeiteten. Auch beim HudsonGebäude selbst wurde konzentrisch vorgegangen. Dieser Nukleus des Gesamtknol-
lens erhielt ebenfalls einen inneren Kern, der alle mechanischen Funktionen beherbergen sollte. Um die Größe dieses Innenkerns festzustellen, mussten Ingenieure
aller Sparten festlegen, wie viel Fläche für Lastenaufzüge, Personenaufzüge, verti-
kale Leitungen und Schächte benötigt wurde. Erst als Größe und Form des „mechanischen Kerns“ feststanden, konnte man sich mit der Auslegung der „Kernschale“, die in geeigneter Form alle Verkaufsräumlichkeiten aufnehmen sollte, beschäftigen.
In dieser Phase war eine Zusammenarbeit zwischen allen Abteilungsleitern von
Hudson’s und jenen Leuten in unserer Organisation notwendig, die besondere Erfahrung mit Geschäftseinrichtung hatten.
Das Design des Inneren
In jedem Verkaufsgeschoß sollte ein Gang dem Kunden ermöglichen, alle
Verkaufsabteilungen zu besichtigen, wobei er auf den dem mechanischen Kern
nahe gelegenen Seiten kleinere Boutiquen und auf den Außenwänden nahe gelegenen Seiten die Warenfülle der großen individuellen Abteilungen finden sollte. Erst aufgrund dieser und anderer Detailstudien konnte über genaue Größe und Form
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der grosse durchbruch
sowie Anzahl der Stockwerke des Hudson-Gebäudes entschieden und die Lage der
vermietbaren Blöcke und die Dimensionen der fünf verschieden großen, verschieden geformten Gartenhöfe festgelegt werden. Bei der Gestaltung der vermietbaren
Gebäude kamen uns unsere Kenntnisse über Ladenbau sehr zugute.
Um die optimale Lösung der tragenden Säulenkonstruktion zu finden, die größ-
te Flexibilität bei der Unterteilung in Einzelgeschäfte erlaubt, war eine praktische
Zusammenarbeit von Ingenieuren und Architekt erforderlich. Wir hatten im Prinzip beschlossen, dass alle diese Gebäude und auch Hudson’s von Kolonnaden umgeben sein sollten, die Schutz vor prallem Sonnenschein, Regen und Schnee boten.
Um die Höhe dieser Kolonnaden und die optimalen Ausmaße der Säulen zu ermitteln, wurden auf der Baustelle aus Holz in voller Größe mehrere Modelle von Teilen dieser Gebäude errichtet. Bei Dimensionierung der Säulen ging es uns darum, dass
sie einerseits eine architektonische Verbindung herstellten, andererseits nicht so
wuchtig ausfielen, dass sie den Blick auf die Auslagenfronten blockierten.
Um die fünf öffentlichen Plätze voneinander abzugrenzen, bedienten wir uns
gedeckter Fußgängerpassagen, die teilweise eine solide Seitenwand hatten. Diese
soliden Wände wurden innerhalb der Fußgängerpassage zum Anbringen von Orientierungsplänen, Trinkbrunnen für Kinder und Erwachsene, Ankündigungen usw.
genutzt, während die Außenseiten als Hintergrund für künstlerische Arbeiten, wie
Mosaike und Skulpturen, konzipiert waren.
Die Gestaltung der Außenseiten, mit der die sogenannten Formgeber beginnen
und sehr oft auch aufhören, kam zuletzt. Für das Hudson-Gebäude ergab sich, dass
alle jene Außenwände, die Verkaufsräume umgaben, über solide Mauern verfügen,
da sonst nicht genügend Platz für Warenregale war. Nur im obersten Stockwerk,
wo die Angestelltenerholungsräume und das Restaurant untergebracht waren, wurden horizontale Lichtbänder eingeführt.
Um eine Identifizierung mit dem Stammgeschäft zu betonen, wurden die so-
liden Wände mit roten Ziegeln verkleidet und so gegliedert, dass die tragenden
Säulen nach außen sichtbar wurden, um im Erdgeschoß als Kolonnadensäulen zu erscheinen. Die zurückgesetzten Wände des Erdgeschoßes wurden verglast, um als
Auslagen genutzt zu werden und Einblicke in Verkaufsabteilungen zu gestalten. Die
Fassadengestaltung der vermietbaren Blöcke war durch die Kolonnaden gegeben.
Sie wurde ergänzt durch vertikale Steinstreifen, die die einzelnen Geschäfte deutlich voneinander trennten und an denen auch Nottelefone und die Briefschlitze
angebracht waren, die gleich zu Postbehältern in den unterirdischen Lieferstraßen
führten.
von der vision zur realität
Was für den durchschnittlichen Besucher des Zentrums wichtiger scheint als die
Fassadengestaltung, waren Charakter und Atmosphäre der öffentlichen Plätze, die
zum Spazierengehen, aber auch zum Ausruhen auf Bänken einladen sollten. Diese
großen Flächen würden ihre Aufgabe, so waren wir überzeugt, nur dann erfüllen,
wenn sie Erlebnisse bieten könnten. Daher wurde der Anordnung von Baumgruppen, Sträuchern und Blumenbeeten viel Aufmerksamkeit, Liebe und Geld gewidmet. Wir luden auch eine Gruppe von etwa zehn jungen Künstlern ein, Vorschläge
für Skulpturen, Wandmalereien und Mosaike zu machen und durch sie Architektur
und Landschaftsgestaltung zu verschmelzen. Es waren durchwegs talentierte und
erfolgreiche Künstler, die aber noch nicht zur arrivierten Spitzengruppe gehörten.
Wir gaben ihnen für ihre Arbeit folgende Leitlinien: Die Atmosphäre, die wir schaffen wollten, war eine der unbeschwerten Heiterkeit. Dramatische oder tragische
Themen wären also fehl am Platz. Wir wollten keinen altmodischen Realismus, andererseits aber auch keine völlige Abstraktion, die eine Kommunikation mit den
Beschauern erschweren würde. Wir wollten die Besucher zum Nachdenken über
die Kunstwerke anregen, aber nicht so weit gehen, dass Unverständnis zu Frustra-
tionen führte.
Die Künstler hatten viele entsprechende Ideen. Mobiles, Reliefs, Brunnenfiguren,
die oft Tiere und Kinder beim Spielen zeigten, wurden entworfen. Als es aber zur
Ausführung kam, stellte sich heraus, dass diese Künstler wohl an Kleinplastiken für
Galerien gearbeitet hatten, aber dass sie der Aufgabe, sehr große Werke zu schaffen, die Wind und Wetter überstehen mussten, ziemlich ratlos gegenüberstanden. Das
Problem konnte nur durch eine Zusammenarbeit zwischen Ingenieuren, Architekten und Künstlern gelöst werden. Die Kunstwerke, die für Northland geschaffen
wurden, erwiesen sich als so effektvoll, dass eine bedeutende New Yorker Galerie
eine Ausstellung der Modelle und Fotografien, welche die Werke in ihrer Umwelt
zeigten, veranstaltete.
Planungsfehler
Es muss auch gesagt werden, welche Umweltplanungsmöglichkeiten wir
nicht ausschöpften. Hudson’s hatte auf unseren Rat hin zu den etwa über fünfzig
Hektar für das Zentrum notwendigem Land zusätzlich etwa einhundertfünfzig
Hektar erworben. Wir konnten zwar durchsetzen, dass dieses Reserveland teilweise für den Grüngürtel und teilweise für andere Funktionen, wie zum Beispiel Hotels,
Wohngebäude, Laboratorien und ein Theater mit 1400 Plätzen verwendet wurde,
209
210
der grosse durchbruch
aber eine wirkliche Integration dieser Funktionen mit dem Hauptzentrum gelang
uns nicht. Die Nutzung dieses Landes wurde einer mit Hudson’s in Verbindung stehenden Immobiliengesellschaft übertragen. Das Planungs- und Führungsteam des
Zentrums war mit anderen Aufgaben so überbeschäftigt, dass die Kontrolle über die Planung des Zusatzlandes entglitt.
Die Verwertung des Landes wurde an individuelle Unternehmen vergeben. Dies
wirkte sich finanziell so vorteilhaft für Hudson’s aus, dass unser Auftraggeber mehr als die Gesamtbaukosten des Zentrums zurückerhielt. Aber jeder der individuellen
Unternehmer baute sein eigenes Teilzentrum, ein Hotelzentrum, ein Gewerbezentrum und ein Wohnzentrum, von denen jedes mit den notwendigen Parkflächen
umgeben war. Auf diese Weise entstand ein Agglomerat, das man als Streuzentrum
bezeichnen könnte, in dem es eigentlich trotz der geografischen Nähe nicht mög-
lich war, das Mutterzentrum ohne Auto zu erreichen. Dadurch wuchs der Bedarf nach Verkehrsflächen.
Verschiedene Wege
Ungefähr zur gleichen Zeit, als Northland eröffnete, wurde auch das neue
General Motors Technical Center, ein sehr großes und ambitiöses Verwaltungszent-
rum in Detroit fertiggestellt. Es wurde vom berühmten finnischen Architekten Eero
Saarinen7 entworfen. Bei einem Besuch in seinem idyllisch in einer Vorstadt gelegenen Atelier stellte ich fest, dass Eero seine Aufgabe mit einem verhältnismäßig
kleinen Stab von Architekten gemeistert hatte. Angesichts der intimen Atmosphäre, die in Eeros Atelier herrschte, fragte ich mich ernstlich, ob unsere Arbeitsweise, die
einen großen Stab von Mitarbeitern voraussetzte, wirklich die richtige war. Ich äu-
ßerte Eero gegenüber, dass in Zukunft vielleicht besser seinem Beispiel zu folgen sei. Er lachte herzlich und sagte, dass er soeben zu dem Schluss gekommen sei, dass
nur unser Weg, Entwurf und komplette Ausführung innerhalb einer Organisation zu
vereinen, befriedigende Resultate erbringen könne. Er hatte den Prozess der Herstellung präliminärer Zeichnungen und Arbeitszeichnungen einem großen Ingenieurunternehmen überlassen. Überzeugend wies er nach, dass, wenn er in General
Motors nicht einen Klienten gehabt hätte, bei dem Geld für ein solches Vorhaben
überhaupt keine Rolle spielte und er nicht in der Lage gewesen wäre, alle Dokumente mehrmals herstellen zu lassen, das Projekt nicht hätte ausgeführt werden
7
Eero Saarinen entwarf u.a. auch das Gebäude des TWA Terminals am JKF International Airport.
eine erfindung wird gemacht
können. Er meinte auch, dass seine Energie und Nervenkraft durch die Auseinandersetzungen mit Leuten, die seine Ideen nicht verstehen wollten oder konnten, so
verschlissen wurden, dass er dies nicht ein zweites Mal durchmachen möchte. Diese Äußerung ermutigte mich, den Ausbau unserer großen Organisation fortzusetzen.
Eine Erfindung wird gemacht Erfindungen beruhen manchmal auf Zufällen. So geht die Erfindung des
überdachten, klimatisierten Einkaufszentrums auf meine Beobachtungen der Wet-
terverhältnisse in Minneapolis in Minnesota zurück. In dieser Stadt lag das Dayton
Kaufhaus, das von fünf jungen Brüdern geführt wurde, die, obwohl alle in akademischen Berufen tätig, ihrem früh verstorbenen Vater versprochen hatten, den Familienbetrieb gemeinsam fortzuführen.
Oscar Webber war mit der Dayton Familie eng befreundet und stand den fünf Män-
nern mit väterlichem Rat zur Seite. Ein solcher Rat war, dass sie unsere Organisation
beauftragen sollten, um ihre Vergrößerungspläne zu realisieren. Das erste Projekt war
ein Zweigkaufhaus, das in Rochester, Minnesota (nicht zu verwechseln mit Rochester,
New York, das mit einem anderen unserer wichtigen Projekte verbunden ist), errichtet wurde. Die gelungene Außen- und Innengestaltung, die zum Großteil das Verdienst
meines Partners Rudolf L. Baumfeld war, ermutigte sie, Pläne für ein großes Einkaufszentrum in Edina, einer Vorstadt von Minneapolis, zur Sprache zu bringen.
Während der Arbeit für das Zweiggeschäft in Rochester und der Vorgespräche für
das Einkaufszentrum hatte ich wiederholt Gelegenheit, zu den verschiedensten Jah-
reszeiten Minneapolis zu besuchen. Es war entweder im Winter im Schnee versunken
und bitterkalt oder im Sommer glühend heiß, während es im Frühling und Herbst viel regnete. Der Vorschlag, Northland, dessen Pläne die Dayton Brüder bewunderten, zu
duplizieren und landschaftlich gestaltete Fußgängergebiete unter freiem Himmel zu
schaffen, schien unter diesen Umständen nicht erfolgversprechend.
Inspiriert vom orientalischen Basar und europäischen Passagen und Galerien,
besonders der Galleria Vittorio Emanuele in Mailand, drängte es mich, ein moder-
nes Zentrum mit überdachten und klimatisierten Fußgängergebieten zu schaffen.
Diese Inspiration fand Ausdruck in einem Entwurf: ein großer, öffentlicher, gedeckter Platz mit Oberlichten, umgeben von einem Ring aus zwei Kaufhäusern und vielen kleineren Geschäften.
Dieser Entwurf fand im Prinzip allgemeine Zustimmung. Jedoch blieb die große
Frage, wie gewisse technische und vor allem wirtschaftliche Probleme, wie sie sich
211
212
der grosse durchbruch
aus den zusätzlichen Kosten einer Überdachung ergeben würden, gelöst werden
könnten. Hier erwies sich der multidisziplinäre Aufbau unserer Organisation als
äußerst nützlich. Nachdem die Zielsetzungen in Aussprachen zwischen allen Part-
nern und Abteilungsleitern dargelegt und angenommen wurden, konzentrierten
wir uns gemeinsam auf die Aufgabe, Mittel und Wege zu finden, durch die es möglich sein würde, ein überdachtes Zentrum mit ungefähr demselben Kostenaufwand
wie ein sogenanntes offenes Zentrum herzustellen. Vom planerischen und architektonischen Standpunkt war klar, dass die Weitläufigkeit der öffentlichen Räume, wie
sie in Northland existierten, eingeschränkt werden müsste. Die Bebauungsdichte
war zu vergrößern und statt einer Verkaufsebene waren zwei einzurichten, und
zusätzlich das Untergeschoß zu einem noch höheren Maße als in Northland für
rentable Zwecke zu nützen. Die Frage, wie beide Verkaufsgeschoße denselben An-
teil am Einkäuferzustrom erhalten könnten, wurde gelöst, indem eine Hälfte der
Parkflächen vom Straßenniveau beginnend über eine Neigung direkt zum oberen
Verkaufsgeschoß führte, während die andere Hälfte über eine Neigung nach unten direkten Zugang zum unteren Verkaufsgeschoß ermöglichen würde.
Die Betriebskosten für Heizung und Kühlung der großen Fußgängergebiete wur-
den niedrig gehalten, indem wir zum ersten Mal in einem großen Projekt die Me-
thode der Wärmeaustauschpumpe, die jetzt in der Zeit des Energiesparens wieder
zu Ehren kommt, verwendeten und auch Einrichtungen zum Austausch von kühler
Luft im Winter und heißer Luft im Sommer an der Peripherie und der warmen oder kühleren Luft in den zentralen Gebieten schafften. Der große Innenhof sollte
zentrales Luftreservoir sein.
Eine solche Anlage, die ungeachtet des Außenklimas frühlingshafte Tempera-
turen herstellen sollte, konnte aber nur funktionieren, wenn auf alle Eingänge zu
den einzelnen Geschäften von der Autoabstellfläche her, wie sie in Northland be-
standen, verzichtet würde. Stattdessen galt es, je drei mit Doppeltüren geschützte
Eingänge für die obere und untere Verkaufsebene zu schaffen. Durch diese sechs
Eingänge sollte man durch Fußgängerpromenaden an Geschäften vorbei in den zentralen großen Gartenhof gelangen.
Dieses Arrangement eröffnete eine Reihe neuer Möglichkeiten. Durch den Weg-
fall von Eingängen und Auslagen an der Außenseite wurden große Ersparnisse
erzielt. Die einzelnen Geschäftsleute konnten den von ihnen gemieteten Raum,
der nur auf einen inneren Eingang ausgerichtet war, effektiver nutzen und die
Außenseite des zweistöckig erscheinenden Gebäudekomplexes, aus dem nur die zusätzlichen Stockwerke der beiden Kaufhäuser emporragten, konnten ohne jede
eine erfindung wird gemacht
Firmenaufschrift in einheitlicher Weise gestaltet werden. Durch den Verzicht auf die separaten Geschäftseingänge und Auslagen an der Außenseite wurde Southdale
nicht nur das erste überdachte und klimatisierte, sondern auch das erste „introver-
tierte“ Einkaufszentrum der Welt.
Da der gesamte Gebäudekomplex sich gleicher Klimabedingungen erfreute,
konnte weiters eingespart werden. Doppeltüren, wie sie im Falle eines offenen
Zentrums notwendig waren, konnten völlig entfallen. Ja man konnte sogar einen
Schritt weitergehen und sogenannte offene Geschäftsfronten errichten, die nur abends durch eine Glasschiebetüre oder ein Gitter geschlossen wurden. Aufgrund dieser und vieler anderer Sondermaßnahmen konnte das überdachte, klimatisierte
Zentrum wirtschaftlich sehr wohl mit dem „offenen“ Zentrum konkurrieren.
Eine Utopie
Unser Arbeitsverhältnis mit Dayton’s folgte in Fragen der Honorie-
rung und der partnerschaftlichen Zusammenarbeit jenen Methoden, die wir mit
Hudson’s so erfolgreich festgelegt hatten. Nur dadurch konnten wir Dayton’s dazu
überreden, die langwierigen Studien, durch die das Ideenkonzept bestätigt werden
musste, durchzuführen. Weil die Dayton-Brüder in engster Zusammenarbeit mit
uns sich von der Richtigkeit der in der präliminären Phase ausgearbeiteten gestal-
terischen und technischen Vorschläge überzeugen konnten, brachten sie den Mut
auf, den Warnungen aller Wirtschafts- und Immobilienexperten zu widerstehen.
Die einhellige Meinung aller jener nämlich, die vorgaben, etwas von Einkaufszentren zu wissen, war, dass die Idee des überdachten, klimatisierten Zentrums eine
einzige Utopie sei, die sich weder technisch noch wirtschaftlich verwirklichen ließe.
In Bezug auf Vermietungsbedingungen, Kontrollen über Firmenzeichen, Mieter-
parlament, Vormietverträge usw. folgten wir den Richtlinien, die wir für Northland ausgearbeitet hatten. Gestalterisch aber standen wir vor einer völlig neuen
Situation. Dadurch, dass die öffentlichen Räume überdacht waren, bestand die Gefahr, dass es zwischen der Atmosphäre der öffentlichen und der kommerziellen
Räume keinen Unterschied mehr gab. Wir wandten deshalb der Gestaltung dieser überdachten Fußgängerfläche besondere Aufmerksamkeit zu. Wir wollten eine Art
Außenatmosphäre schaffen, formten den Gartenhof als dreistöckigen Raum und führten an der Nordseite des dritten Stockwerkes eine durchlaufende Glasfläche
ein. Durch diese Glasfläche erzielten wir für die Besucher eine optische Verbindung
mit der Außenwelt: Man konnte den Himmel und die Wolken zu den verschiede-
213
214
der grosse durchbruch
nen Tageszeiten sehen. Durch die direkte Tageslichtbestrahlung war es möglich, auch Bäume und Blumen sowohl auf dem Boden als auch entlang der Balkone des
oberen Verkaufsgeschoßes zu pflanzen. Ein Vogelhaus, ein Goldfischteich und ein
Kaffeehausgarten ergänzten diesen künstlichen Außencharakter.
Die Daytons und besonders Bruce Dayton, der ein Kunstsammler war, zeigten
sich für Kunstwerke außerordentlich interessiert. So wurde zum Beispiel der bedeutende Bildhauer Harry Bertoia herangezogen, um zwei dreistöckige abstrakte
Skulpturen, die im Volksmund bald „goldene Bäume“ hießen, aufzustellen.
Auch im Falle von Southdale war unser Aufgabengebiet umfassend. Wir entwarfen
die Innenräume des Dayton Kaufhauses und einer Reihe von Einzelhandelsgeschäf-
ten, planten die Verbauung der umgebenden Grundstücke, die im Besitz der Dayton-Company waren, mit Wohngebäuden, Bürogebäuden usw. und wurden zu allen
Entscheidungen, die das Zentrum und seine Umgebung betrafen, herangezogen. Die
Hauptarbeitslast wurde vom Büro in Los Angeles getragen. In Minneapolis gab es nur ein kleines Koordinations- und Aufsichtsbüro, das von einem der Mitarbeiter, Herman
Guttman, geleitet wurde. Wegen seiner Verdienste wurde er 1956 vollwertiger Partner. Eine vielleicht nebensächliche Einrichtung wurde durch das frühlingshafte
Klima des Zentrums notwendig. Es mussten nahe den Eingängen in großer Anzahl
Schließfächer eingerichtet werden, in denen Regenmäntel, Schirme, Galoschen etc. abgelegt werden konnten.
Es erwies sich, dass besonders der große Gartenhof mit den dort eröffneten
Möglichkeiten des Flanierens, Ausruhens, Kaffeetrinkens oder Betrachtens von
Kunstwerken eine überraschende Anziehungskraft ausübte, die den Verkaufserfolgen aller Unternehmungen zugutekam. Darüber hinaus konnten im Gartenhof als dem größten geschützten öffentlichen Raum, den Minneapolis besaß, abendliche
Symphoniekonzerte und Bälle veranstaltet werden.
Als Southdale 1956 eröffnet wurde, war die Reaktion in den Massenmedien und in
der Architekturpresse ebenso positiv und groß wie im Falle von Northland. Nach sei-
ner Fertigstellung wurde das Zentrum wiederholt vergrößert, bis es von anfänglich
60.000 Quadratmeter auf etwa 110.000 Quadratmeter Verkaufsfläche erweitert war.
Trotz dieses offensichtlichen Erfolges des „überdachten, klimatisierten Ein-
kaufszentrums“ dauerte es etwa zehn Jahre bevor irgendjemand anderer sich an
diesen neuen Gebäudetyp heranwagte. Dann aber wurden überdachte, klimatisier-
te Einkaufszentren plötzlich weltweit üblich. Sogar in Gebieten mit klimatischen
Bedingungen, in denen ein offenes Zentrum durchaus möglich oder sogar über legen gewesen wäre.
V. IM STURM DER ENTWICKLUNG
59: Gruen und Lazette van Houten auf der Kreuzfahrt nach Hawai, März 1962 Courtesy Peggy Gruen Collection
60: Kemija Salihefendic, Prein 1970 Courtesy Peggy Gruen Collection
216
der grosse durchbruch
217
63: Buchcover, Shopping Towns USA (1960)
61 und 62: Atrium, Cherry Hill Mall, New Jersey Courtesy Gruen Associates, Foto: Joseph Molitor
218
64: Model Midtown Plaza, Rochester Courtesy Gruen Associates
65: Midtown Plaza, Rochester 2008 Foto: Anette Baldauf
219
66 und 67: Fort Worth Telegraph, 11. März 1956 Library of Congress
220
68: Broschürencover, A Greater Fort Worth Tomorrow Wienbibliothek im Rathaus
221
69: Luftaufnahme, A Greater Fort Worth Wienbibliothek im Rathaus
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70: Fresno Fußgängerzone, A Greater Fort Worth Wienbibliothek im Rathaus
Die Geister, die ich rief „The Malling of America“ ist das Thema, dem sich die am 1. Mai 1978 erschie-
nene Ausgabe des amerikanischen Wochenmagazins New Times widmet.1 „Malling“ ist ein neu geprägtes Wort für ein neues Phänomen. „Mall“ ist die ursprüngliche Bezeichnung für eine breite Promenade in England, sie wurde in Amerika für die Fußgängereinkaufsstraße und später speziell für überdachte, klimatisierte Einkaufszen-
tren entlehnt. Man sagt also in Amerika nicht „gehen wir zum Einkaufszentrum“, sondern „laßt uns zum Mall gehen“ oder kürzer „gehen wir malling“.
Malling, so besagt der von William Severini Kowinski verfasste 22 Seiten lange
Artikel, ist seit dem entscheidenden Durchbruch, nämlich der Eröffnung des South dale Zentrum im Jahr 1956, zu einem Begriff der amerikanischen Lebensweise ge-
worden. Laut der Zeitschrift US News and World Report verbringt der Durchschnittsbürger mehr Zeit in Malls als irgendwo anders, außerhalb seines Arbeitsplatzes und seines Heims. Einkaufszentren tätigen etwa 300 Milliarden Dollar Jahresumsatz
oder ungefähr die Hälfte des Gesamtumsatzes im US-Einzelhandel. 60 Milliarden
Dollar sind in Unternehmungen, hauptsächlich durch große Versicherungsgesellschaften, investiert. Es existieren etwa 18.000 Shopping Centers in den USA, von
denen 1000 sehr groß und einige 100 gigantisch sind. Sie umfassen zusammen 200
Millionen Quadratmeter Verkaufsfläche. Hieraus ist erfahrungsgemäß zu schließen,
dass sie etwa das Fünffache der Verkaufsfläche, also eine Milliarde Quadratmeter,
für Autoabstell- und Verkehrsflächen benötigen, also insgesamt eine Milliarde und
200 Millionen Quadratmeter der Bodenfläche belegen, wozu noch die etwa ebenso
große Fläche öffentlicher Zu- und Abfahrtsstraßen zu rechnen wäre. Sie beschäftigen viereinhalb Millionen Angestellte (das ist fast doppelt so viel wie die Anzahl der
Arbeiter und Angestellten der Republik Österreich) und sie werden von Kunden in manchen Fällen aus einem Umkreis von 30 bis 40 Kilometern aufgesucht.
1
William Severini Kowinski, The Malling of America. In: New Times 10 (1. Mai 1978), 31–55.
224
im sturm der entwicklung
Die Errichtung von Einkaufszentren ist zu einer aggressiven und komplexen In-
dustrie geworden, die in dem Verband International Council of Shopping Centers2 mit einem jährlichen Budget von einer Million Dollar organisiert ist. In Washington gibt es eine einflussreiche Lobby und neben der offiziellen Verbandszeitschrift Shopping
Centers Today widmen sich drei weitere Zeitschriften dem Thema „Shopping Center“.
„Malls“ haben die Landschaft, die Städte und die Lebensgewohnheiten in Ameri-
ka entscheidend verändert. Gigantische Einkaufszentren an den Stadträndern haben die Stadtkerne, besonders im Westen und Mittleren Westen, zu leeren Schalen
gemacht, die Gefahr laufen, wirtschaftlich und kulturell zu veröden. Sie haben dem
großen Exodus der Bewohner, des Handels und Gewerbes aus den ursprünglichen
Stadtgebieten, wie er schon seit 1940 erfolgte, zwar nicht ausgelöst, aber zusätzliche Dynamik verliehen.
So schreibt Ralph Keyes in seinem Roman We, the Lonely People: „Malls sind
nicht Teile der Community, sie sind die Community “3 Tom Walter meint im Atlanta Journal: „Wenn man ein Phänomen nennen müsste, das für die amerikanische
Zivilisation am typischsten ist, dann ist das Shopping Center das hervorragendste.“ In seinem neuesten utopischen Film Dawn of the Dead läßt George Romero die
vier einzigen Überlebenden einer durch Menschen verursachten Katastrophe im Helikopter nach einem Ort der Sicherheit und Geborgenheit suchen. Sie finden ihn
in Form eines gigantischen überdachten Shopping Centers, wo sie allerdings durch das Überangebot an Konsumgütern völlig verwirrt werden.
Das absolut Neueste ist angeblich schon im Stadium des Entwurfs. Es wird
als Raumschiff für Zehntausende Personen entwickelt. Der Astrophysiker Gerald
O’Neill hat in Zusammenarbeit mit der NASA ein Projekt ausgearbeitet und es „Is-
land Nr. 1“ getauft.4 Die Zeichnung zeigt ein Gebilde, das einem gedeckten Einkaufszentrum mit Wohnkabinen über den Geschäften und einen Gartenhof zwischen den Gebäuden gleicht. O’Neill nannte es „Southdale der Sterne“.
Die Flut von Einkaufszentren überrollt keinesfalls nur die Vereinigten Staaten
von Amerika. In Kanada existieren 3500 Shopping Centers. Die Entwicklung hat auch 2
3 4
Das International Council of Shopping Centers (ICSC) ist ein internationaler Wirtschaftsverband der Einkaufszentrum-Branche. Die Organisation wurde 1957 gegründet und hat 2012 ca. 67.000 Mitglieder in mehr als einhundert Ländern. Unter den Mitgliedern befinden sich Eigentümer von Einkaufszentren ebenso wie Entwickler, Manager und Konzerne sowie staatliche Organisationen mit Wirtschaftsinteresse. Ralph Keyes, We, the Lonely People: Searching for Community. Harper & Row: New York 1973. Gerard K. O’Neill, The High Frontier: Human Colonies in Space. William Morrow and Company: New York 1977.
die geister, die ich rief
Australien, Japan, Südafrika und andere Teile der Welt erfasst. In Europa gibt es laut
Information des Instituts für Gewerbezentren (München) in der BRD allein 600 Einkaufszentren, von denen allerdings nur 65 regionale Einkaufszentren mit einer Verkaufsfläche von zusammen zwei Millionen Quadratmetern sind. In Frankreich gibt es
25 regionale Einkaufszentren, in Großbritannien 17, in der Schweiz elf, in den Niederlanden 21, in Dänemark neun, in Schweden neun, in Belgien vier und in Österreich zwei.
Auch die kommunistischen Staaten sind an der Entwicklung von Einkaufszent-
ren interessiert. Zu der Comecon-Konferenz5, die in Brünn, Tschechoslowakei, 1975
über dieses Thema abgehalten wurde, war ich als Vortragender geladen. Ich erklär-
te, dass das speziell für die amerikanischen Suburbs entwickelte Einkaufszentrum
auf europäische Verhältnisse nicht übertragbar ist, ohne dass dadurch die Stadt-
zentren gestört würden. Ob meine kritischen Bemerkungen irgendeine abschreckende Wirkung hatten, kann ich gegenwärtig nicht beurteilen.
Ebensowenig kann ich abschätzen, welchen Einfluss die Vorträge gehabt haben,
die ich für das International Council of Shopping Centers und für das Institut für
Gewerbezentren 1978 in London und 1974 in München hielt. In beiden Fällen wurde ich als sogenannter „Vater des Einkaufszentrums“ aufgefordert, als einer der
Hauptredner über das Thema „Die Zukunft des Einkaufszentrums“ zu referieren6. Die Zuhörer waren schockiert zu hören, dass das einfunktionale suburbane oder
auf „der grünen Wiese“ gelegene Einkaufszentrum, da völlig auf den Individualver-
kehr angewiesen, mit dem Auto steht und fällt.
Ursprünglich wurde das Einkaufszentrum kreiert, um der Trostlosigkeit der
ausgedehnten amerikanischen Vorstadtgebiete, die keinerlei zentrale Einrichtun-
gen hatten, entgegenzuwirken. Der bereits erwähnte Artikel im New Times sagt hie-
rüber: „Die Visionäre der Zentren meinten, dass sie inmitten der Vorstädte, die nur
Einfamilienhäusern vorbehalten waren, gemeinschaftliche Einrichtungen schaffen
würden. 1960 schrieb der Pionier Victor Gruen, dass solche Zentren die Möglichkeit der Partizipation am modernen Gemeinschaftsleben in derselben Weise schaffen
könnten, wie dies die griechische Agora, der mittelalterliche Marktplatz und die älteren amerikanischen Stadtplätze taten.“7
5 6
7
The Council for Mutual Economic Assistance, kurz: Comecon, war als Wirtschaftsorganisation von 1949 bis 1991 aktiv, unter der Leitung der Sowjetunion koordinierten sich dabei die Länder des ehemaligen Ostblocks und andere kommunistische Staaten. Victor Gruen, Die Zukunft des Einkaufszentrums. In: Perspektiven. Der Aufbau 41 (1986), Nr. 3/4, 158–159. William Severini Kowinski, The Malling of America. In: New Times 10 (1. Mai 1978), 31–55.
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226
im sturm der entwicklung
Die ursprüngliche Zielsetzung, bestehende Missstände zu beheben, ist während
der folgenden Jahre der Massenerrichtung verloren gegangen. Sie wurde ersetzt
durch eigennütziges Profitstreben, das ohne Rücksicht auf den wirklichen Bedarf
neue Übelstände schuf: Verkehrslawinen, Energievergeudung, Kaufkraftabfluss aus den gewachsenen Zentren.
So sagt zum Beispiel Cesar Pelli, der von 1967 bis 1977 ein Partner der Gesell-
schaft „Gruen Associates“ war und jetzt Rektor der Architekturschule der Yale
University ist: „Die Mall ist zu einer großen Maschine geworden. Einkaufszentren
waren zuerst erfolgreich, weil sie auf Grund idealistischer Motive gestaltet wurden. Aber jetzt sind sie einfach zu erfolgreich geworden, in gleicher Weise, wie das
Automobil zu erfolgreich wurde. Sie sind so überwältigend, dass nichts mehr imstande ist, das Gleichgewicht wieder herzustellen. Siedlungen und selbst Städte
verschwinden einfach.“ Sogar der Präsident des International Council of Shopping
Centers, Albert Sussman, gesteht: „Einige Zentren haben die Landschaft vergewal-
tigt, haben Hässlichkeit und chaotische Verkehrsverhältnisse geschaffen und das lokale Gemeinschaftsleben zerstört.“
Das Buch Shopping Towns U.S.A., das ich zusammen mit dem Volkswirtschafter
Larry Smith 1960 veröffentlichte, wird überraschenderweise noch immer als Bibel
der Shopping-Center-Industrie angesehen. Beachtung aber finden nur jene Teile,
die sich mit technischen und Management-Themen beschäftigen. Unbeachtet schei-
nen jene wichtigen Teile zu sein, die auf die Verantwortlichkeit für urbane, soziale
und Umweltaspekte hinweisen.
So betont das Buch nachdrücklich, dass die neuen stadtplanerischen Ideen, die
im Neuland der vorstädtischen Gebiete am leichtesten durchführbar waren, nur als
Modellversuche anzusehen sind, die erst zur vollen Bedeutung gelangen könnten,
wenn man sie auf die dicht besiedelten innerstädtischen Gebiete übertragen würde. Es heißt dann zum Beispiel: „Man kann als sicher annehmen, dass innerhalb der
nächsten 20 Jahre die Bedeutung von umweltbewusster Planung für städtische Gebiete erkannt werden wird, und dass sich aus der jetzigen verzweifelten Situation
der Wille und die Erkenntnis entwickeln werden, unsere Kernstädte zu vitalisieren.“8
Die Zeichen, dass nach einem kometenhaften Aufstieg die Götterdämmerung der
peripheren Einkaufsmaschinen angebrochen ist, mehren sich. Widerstände gegen ihre Errichtung wachsen in den meisten Ländern. Ein kalifornisches Zentrum zum
8
Victor Gruen und Larry Smith, Shopping Towns USA. The Planning of Shopping Centers. Reinhold: New York 1960.
die geister, die ich rief
Beispiel musste 140 öffentliche Anhörungen passieren, bevor es nach einschneidenden Änderungen bewilligt werden konnte. Der Zeitraum zwischen fertiggestellter
Planung und Eröffnung eines Zentrums, der früher ein bis drei Jahre betrug, hat sich im Durchschnitt auf vier bis sechs Jahre verlängert.
In Europa macht sich schon eine deutliche Abkehr bemerkbar. Während in den
Jahren 1972 bis 1973 jährlich zehn bis zwölf große Zentren eröffnet wurden, sind es
jetzt nur etwa drei bis vier. Auch das Ausmaß der Zentren hat sich verringert. Während die ersten europäischen Zentren rund 64.000 Quadratmeter Verkaufsfläche aufwiesen, liegt der Durchschnitt jetzt bei etwa 31.000 Quadratmeter.
Das Institut für Gewerbezentren stellt in einem Bericht von 1978 fest, dass sich
die Standorte von der Peripherie in innerstädtische Gebiete verlagert haben und dass sich ein deutlicher Trend zu kleineren Zentren bemerkbar mache.
Dieselbe Entwicklung trifft auch für Amerika zu. Die größten und erfolgreichsten
neuen Zentren werden oft als Bestandteil der wiederbelebten Innenstädte geplant.
Ein durchschlagender Erfolg war zum Beispiel die Wiederherstellung des historischen Ensembles Faneuil-Hall in Boston als städtischer Kristallisationspunkt.
Umwelteinflüsse
Die tieferen Gründe für diese Richtungsänderung liegen in der weltweiten
Umwelt- und Energiekrise. Das peripher gelegene Einzweckzentrum ist land- und energievergeudend und trägt zur endlosen Auswucherung städtischer Gebilde
bei. In den Vereinigten Staaten, dem Geburtsland des Einkaufszentrums, hat die
Bundesumweltbehörde (Environmental Planning Agency) schon 1973, also vor der
sogenannten Ölkrise, Gesetze erlassen, die jeden Bauwerber dazu verpflichten, zusätzlich zur örtlichen Baubewilligung auch eine Genehmigung von der Umweltbe-
hörde einzuholen: Der Bauwerber muss beweisen, dass sein Bauvorhaben keinen
negativen Umwelteinfluss ausübt. Als „negativ“ wird jedes Projekt bewertet, das
den individuellen Personen- und Lastenverkehr zwangsweise erhöhen würde. In
der Aufzählung der Bauwerke, die als „Verkehrserreger“ gelten, ist das Einkaufs-
zentrum eingeschlossen. Von einem Verbot sind nur solche nicht betroffen, die
nachweisen, dass sie durch bestehende öffentliche Verkehrsmittel erreichbar sind
und daher keine Parkplätze benötigen.
Diese Gesetzesbestimmungen erregen selbstverständlich den heftigsten Wider-
stand aller Betroffenen, zum Beispiel Autofabrikanten, Straßenbauunternehmer und
Einkaufszentrumsplaner. Da es auch in Amerika Hintertüren und Korruption gibt,
227
228
im sturm der entwicklung
wird es wahrscheinlich noch geraume Zeit dauern, bis sich diese Bestimmungen voll durchgesetzt haben. Deutliche Zeichen einer Wende sind aber schon sichtbar.
Sowohl in Amerika als auch in Europa blühen totgesagte Stadtzentren wieder
auf. Bezeichnend ist, dass in Europa in den letzten Jahren 340 innerstädtische Fuß-
gängerbereiche geschaffen wurden und zwar zum Großteil mit aktiver Unterstüt-
zung durch die Kaufmannschaft.
Das vorstädtische und periphere Einkaufszentrum ist ein Kind des Ölzeitalters.
Wir wissen aber, dass dieser nicht erneuerbare Rohstoff in absehbarer Zeit zu Ende gehen und sich stetig verteuern wird.
Die weltweite geradezu fetischistische Liebe zum Auto wird immer größere
finanzielle Opfer fordern, sodass ein wachsender Teil des Familienbudgets dem
Betrieb des geliebten Statussymbols gewidmet werden muss. Dies aber ist offensichtlich nicht im Interesse des Handels gelegen, für den nur ein schrumpfender
Teil des Volkseinkommens übrig bleibt. Die peripher und manchmal sogar weit außerhalb der Stadtgrenzen gelegenen Mammutzentren aber verführen den Bürger dazu, lange und immer teurer werdende Fahrten mit seinem Auto zu unternehmen
und daher immer weniger Geld für Einkäufe übrig zu haben.
Das wachsende Umweltbewusstsein der Bevölkerung, das sich auch gegen
die Zerstörung der Erholungslandschaft richtet, hat schon in vielen Ländern zu
gesetzlichen Maßnahmen gegen die Errichtung von Einkaufszentren im Umland
geführt. Wenn es, wie es scheint, zu einem Ende des „Shopping-Center-Zeitalters“
kommt, so liegt die Schuld größtenteils an dem unverantwortlichen Verhalten und
der Kurzsichtigkeit jener Unternehmer und Spekulanten, die aus einer ursprüng-
lich städtebaulich begründeten und verantwortungsvollen Tat ein skrupelloses
Geschäft gemacht haben. Vieles spricht dafür, dass wir in der Stadtplanung gene-
rell eine Gesinnungsänderung erleben, die in dem Schlagwort „Stadterneuerung anstelle von Stadterweiterung“ zum Ausdruck kommt.
Von der Vorstadt in die Stadtmitte Der große wirtschaftliche Erfolg des neuen Bauwerks „Einkaufszentrum“
hatte in den USA zweierlei Auswirkungen: Erstens, er mobilisierte die Gegenwehr
jener, die bedeutende Investitionen in den Stadtzentren getätigt hatten und nun
mit Schrecken wahrnahmen, dass die Werte ihrer Grundstücke und Bauten dahinschmolzen. Zweitens wurde, da die Vorstadtzentren ihren Erfolg gezielter plane-
rischer Tätigkeiten verdankten, mit einem Mal der Begriff „Planen“, der bisher im
von der vorstadt in die stadtmitte
Land des ungezügelten freien Unternehmertums als unamerikanisch und kommunistisch verpönt war, salonfähig. In der Folge bestürmten die eifrigsten Verfechter der „individuellen Freiheit“, Banken, Versicherungen und Grundstücksbesitzer, die
Behörden, doch um Himmels Willen dirigistische Planungsmaßnahmen zu ergreifen.
„Save Downtown!“ wurde zum Schlachtruf. Zuerst versuchten es die Stadtver-
waltungen mit Gesetzgebungsmaßnahmen, als dies nichts half, intervenierten die einzelnen Bundesstaaten und schließlich, trotz Widerstreben der Föderalisten, die
Bundesregierung in Washington. Bemerkenswerterweise wurde die einigermaßen
revolutionäre „Urban Renewal Legislation“ (Stadterneuerungsgesetz), die auch
Enteignungsbestimmungen enthielt, unter der konservativen Administration des Präsidenten Eisenhower beschlossen.
Einzelmaßnahmen wurden getroffen. In der Meinung, dass die suburbanen Ein-
kaufszentren nur deshalb reüssierten, weil sie reichlich Abstellplätze für Autos anbo-
ten, versuchte man das Innenstadtgeschäft mithilfe staatlicher Subventionen durch
den Bau großer Garagen zu beleben. Hierfür wurden zwar Milliarden investiert,
aber ohne Erfolg – die Garagen blieben leer. Die „WASPS“ (Abkürzung für weißeanglosächsische-Protestanten) konnten nicht allein durch Parkmöglichkeiten in die
verschlampten, verstopften, ausschließlich von den diskriminierten Bevölkerungsschichten bewohnten und als unsicher erlebten Innenstädte zurückgelockt werden.
Dann wurden große „Slum-Clearence“-Maßnahmen eingesetzt, die durch die
Enteignungsbedingungen der Stadterneuerungsgesetze ermöglicht wurden. Ganze Elendsviertel wurden einfach abrasiert. Erfolgte der Wiederaufbau durch eine
Bundesbehörde, dann wurden gigantische „Public-Housing-Projekte“ (öffentliche Wohnprojekte) errichtet, die, da sie völlig subventioniert waren, nur an die
Ärmsten der Armen vergeben werden durften. Auf diese Weise entstanden statt der alten kleinen Gettos, die, weil organisch langsam gewachsen, Ansätze eines
Gemeinschaftslebens zeigten, neue, sterile Komplexe. Sie sahen zwar von außen sauber aus und waren besser mit Sanitäranlagen ausgerüstet als die alten, aber sie
verbesserten weder das innerstädtische Wirtschaftsklima noch die öffentliche Sicherheit. Das Zusammenpferchen des Elends in großen Speichern führte zu neuen
Problemen. Im Falle eines großen Projektes in San Louis, das von einem bedeutenden Architekten entworfen worden war, kam es zu derart kriminellen Missständen
(Raub, Mord, Jugendkriminalität, Vergewaltigung), dass man sich schließlich gezwungen sah, den ganzen Komplex mit Dynamit in die Luft zu sprengen.9
9
1972 wurde der Sozialbau Pruitt-Igoe in San Louis, Missouri, gesprengt. Charles Jencks be-
229
230
im sturm der entwicklung
Generell wird zwar der Erwerb, der Abbruch und die Neuerschließung von
Slum-Gebieten durch die Stadterneuerungsbehörde vorgenommen, aber das Land
dann an den meistbietenden Bauunternehmer übertragen, wobei der Ertrag des
Verkaufs meistens unter den Kosten liegt, die der Stadterneuerungsbehörde erwachsen sind. Mit dem Ziel eine Rendite zu erwirtschaften entstehen in einem solchen Fall anstelle des ehemaligen Slums Wohnungen für zahlungskräftige Mieter, die aber meistens schwer und nur nach langem Zuwarten zu finden sind.
Die bedauernswerten Vertriebenen siedeln sich meist so nahe wie möglich beim
vorherigen Wohnort in halbzerfallenen Gebäuden wieder an. Letztlich wird also der Slum nicht weggeräumt, sondern nur verschoben.
Die fast unlösbar scheinenden Probleme der amerikanischen Innenstädte,
die durch ethnische und konfessionelle Vorurteile noch verschärft werden, be-
reiteten uns Umweltarchitekten große Sorge. Wir kamen zu dem Schluss, dass
Maßnahmen gegen einzelne Symptome nicht zielführend sein können. Notwendig
schien eine konzertierte Anstrengung, um durch ein ganzes Maßnahmenpaket
zu den Wurzeln des Übels vorzustoßen. Es war offensichtlich, dass vielen dieser Probleme nicht durch die Künste der Architekten oder Planer allein beizu-
kommen ist. Ohne politische und soziologische Eingriffe erweist sich weder die
Bereitstellung von menschenwürdigem Obdach noch die Integration von Bevölkerungsschichten verschiedenster Einkommens-, ethnischer und konfessioneller
Schichten als möglich.
Solche Eingriffe aber sind schwierig in den USA, wo eine erdrückende Mehr-
heit aus „Habe-viel“- oder „Habe-genug“-Bürgern einer etwa zwanzigprozentigen
Minderheit von „Habe-zu-wenig“-Bürgern gegenübersteht. Bei einer derartigen
Bevölkerungsstruktur arbeiten die Spielregeln der Demokratie gegen die benachteiligte Minderheit. Dies zeigt sich nicht nur in der Zusammensetzung öffentlicher
Körperschaften, sondern auch bei Volksabstimmungen. Als zum Beispiel im Jahr
1978 auf Betreiben einer Bürgerinitiative in Kalifornien darüber abgestimmt werden musste, ob die Grundbesitzsteuer, deren Erträge das Rückgrat aller staatlichen
gemeinnützigen Aufwendungen darstellt, radikal herabgesetzt werden sollte, äu-
ßerten sich zwei Drittel zustimmend. Dies bewies, dass in Kalifornien zwei Drittel
der Bevölkerung Haus- und Grundbesitzer sind, oder sie mit der wirtschaftlich ausschrieb diesen Moment als das Ende der modernen Architektur. Im Gegensatz dazu lässt Chad Freidrichs in seinem Dokumentarfilm The Pruitt-Igoe Myth (2011) die Bewohner_innen die Geschichte des Komplexes rekonstruieren und verweist auf massive strukturelle Probleme, strategische Unterversorgung und ökonomische Vernachlässigung.
von der vorstadt in die stadtmitte
gleichenden Aufgabenstellung des Gemeinwesens als Eingriff in die individuelle
Freiheit nicht sympathisieren.
Die missliche Situation der Innenstädte beruht vorwiegend darauf, dass sie zum
Wohnort der „Habe-zu-wenig“-Minorität geworden sind. Durch die Konzentration in diesen spezifischen innerstädtischen Bereichen wurden diese zur erdrückenden
Mehrheit, während die Majorität der Wohlstandsbürger sich in Gebieten, die oft
außerhalb der politischen Stadtgrenzen liegen, angesiedelt hat. So erklärt es sich,
dass viele US-Städte Bürgermeister wählen, die einer ethnischen Minorität angehö-
ren, ohne dass diese mit den zur Verfügung stehenden, beschränkten budgetären
Mitteln entscheidende Verbesserungen durchführen können.
Der Schmelztiegel
Diese Apartheid-Praxis wird von Regierungsstellen zwar bekämpft, aber
Erfolge äußern sich nur langsam. Vor allem auf dem Gebiet des Siedlungswesens.
Der viel zitierte amerikanische „Schmelztiegel“ wird noch für lange Zeit eine fromme Legende bleiben. Die Vereinigten Staaten sind eher zu vergleichen mit einer
Kraftbrühe, die ihre Stärke aus der Demokratie bezieht und in der Klöße verschiedenster Größe, Hautfarbe und Beschaffenheit halbwegs friedlich nebeneinander
schwimmen.
Im Bereich der Arbeitsstätten ist die wirtschaftliche und ethnische Integration
zu einem viel höheren Grad erreicht worden. Unter den etwa dreihundert Angestellten von „Victor Gruen Associates“ zum Beispiel waren Menschen aller möglichen Hautfarben und ethnischen Ursprüngen gleichrangig vertreten. Ein Symbol
dafür: An den Türen zu den Toiletten waren die Aufschriften „Herren“ und „Damen“
in 26 Sprachen zu lesen.
Die Überwindung von Vorurteilen am Arbeitsplatz, die Jahrzehnte beanspruch-
te, eröffnet die Aussicht, dass Ähnliches auch in Bezug auf das Siedlungswesen in voraussehbarer Zukunft schrittweise erreicht werden kann. Erst dann werden
planerische Maßnahmen universalistischer Art zur Revitalisierung der Städte voll
wirksam werden können.
Die soziologischen, ethnischen und konfessionellen Probleme in den Städten der
USA bestehen, wenn auch in geänderter Form, in fast allen Städten der Welt, auch zum Beispiel durch das Gastarbeiterproblem beeinflusst in den Wohlstandsländern
Europas. Obwohl es unerlässlich ist, dass durch Planer und Architekten gemeinsam
Schritte unternommen werden, die die Städte lebenswerter gestalten, ist es auch
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232
im sturm der entwicklung
notwendig, dass sie ihre beruflichen und fachlichen Grenzen erkennen und sich auch gesellschaftspolitischen Aufgaben widmen.
Wiedergeburt der Urbanität an drei Beispielen
a. Fort Worth
Unmittelbar nach der Fertigstellung des Northland Centers in Detroit 1954
veröffentlichte die Wirtschaftszeitschrift der Harvard Universität, Harvard Business
Review, einen Artikel von mir, in dem ich beschrieb, dass die in einem vorstädtischen Projekt angewandten neuen Planungsprinzipien sinngemäß auch auf innerstädtische Gebiete übertragbar sind. Ich argumentierte, dass die Technik der inte-
grierenden Planung, wie wir sie zum ersten Mal bei den Einkaufszentren erproben
konnten, noch sinn- und bedeutungsvoller zur Wiederherstellung von Urbanität in den Innenstädten eingesetzt werden könnte.10
Eine direkte Folge dieses Artikels war eine Berufung in die Stadt Fort Worth
in Texas durch den Präsidenten der Texas Electric Service Company, J.B. Thomas.
Schon im ersten Gespräch erwies er sich als einer jener raren bedeutenden Wirtschaftskapitäne, der seine gefühlvollen idealistischen Motive, wie Liebe zu seiner
Heimatstadt und Sorge über deren sukzessiven Verfall, in kühle geschäftliche Argumentation umzuwandeln vermochte.
Er erklärte, dass seine Gesellschaft, welche die Stadt und Region von Fort Worth
mit Elektrizität und Gas möglichst gewinnbringend für die Aktionäre zu versorgen
hätte, es immer schwieriger fände, dies erfolgreich zu tun. In jenen Stadtgebieten, in denen sich das dichteste Leitungsnetz befände, gehe durch Verödung, durch leer stehende Gebäude und Grundstücke, die Gas- und Elektrizitätsabnahme ständig
zurück, während andererseits die ungestüme Ausbreitung des Siedlungsgebietes
geringer Dichte enorme Investitionen für neue Anlagen und Verteilungsnetze not-
wendig mache.
Er mache seit vielen Jahren die Planungsbehörden auf die Gefahren dieser Ent-
wicklung aufmerksam, die auch die Finanzen der Stadt durch erhöhte Ausgaben
für Schulen, Straßen, Feuerwehr und Polizeistationen schwer belasten, sei aber nur
10
Victor Gruen, Dynamic Planning for Retail Areas. In: Harvard Business Review 32, No. 6 (November–Dezember 1954), 53–62.
wiedergeburt der urbanität an drei beispielen
auf taube Ohren gestoßen. Wenn es, wie in der Harvard Business Review behauptet,
wirklich möglich wäre, eine markante Wiederbelebung der Innenstadt zu erreichen,
und dadurch die Ausnützung bestehender Kapitalwerte seiner Gesellschaft zu erhöhen und gleichzeitig die zentrifugale Ausweitung des Leitungsnetzes zu verlangsamen, wäre ein solcher Effekt von großer finanzieller Bedeutung für die Gesellschaft. Um aber die Behörden und die Öffentlichkeit von der Möglichkeit und von den
Vorteilen einer solchen Entwicklung zu überzeugen, benötige er einen wohl durchdachten, realistischen und für die Allgemeinheit verständlichen Plan, der nicht so
sehr die Vorteile für seine Gesellschaft, sondern jene für die Gesamtbevölkerung
beweisen würde. Wenn „Victor Gruen Associates“ einen solchen Plan entwickeln
könnte, dann wäre seine Gesellschaft im Hinblick auf die geschäftlichen langfristigen Vorteile bereit, für die Kosten in großzügigster Weise aufzukommen und alle
benötigten Informationen zur Verfügung zu stellen.
Dieses Anbot war verlockend. So kam es zu einem achtzehnmonatigen inten-
siven Einsatz des Teams in Los Angeles, um einen Generalplan für das Kerngebiet
von Fort Worth zu entwickeln. J.B. Thomas bestand darauf, dass der Plan, um seine
Integrität zu bewahren, bis zur öffentlichen Präsentation geheim gehalten werden solle und war persönlich der Koordinator zwischen Texas und Los Angeles. Erster Stadterneuerungsplan
Auf diese Weise entstand der erste städtische Wiederbelebungsplan der
USA, wahrscheinlich sogar der Welt. Dass der Auftraggeber keine städtische Behörde war, sondern ein privates Unternehmen, das städtische Umweltplanung aus
geschäftlichen Gründen förderte, sollte nachdenklich stimmen. Wenn es nämlich einer privaten „Versorgungsgesellschaft“ im eigenen Geschäftsinteresse so wichtig
war, dicht verbautes Gebiet zu revitalisieren und das Auswuchern der Stadt zu verhindern, so wäre für europäische Städte zwangsweise der Schluss zu ziehen, dass
sie Revitalisierungsplanung im Interesse ihrer Steuerzahler mit höchster Intensität
verwirklichen müssten.
Die Details des Fort Worth-Planes sind in den Büchern The Heart of Our Cities11
und Das Überleben der Städte12 beschrieben und grafisch belegt. Hier sei nur auf die
wichtigsten Punkte des Planes hingewiesen: 11
12
Victor Gruen, The Heart of Our Cities. The Urban Crisis: Diagnosis and Cure. Thames and Hudson: London 1965. Victor Gruen, Das Überleben der Städte: Wege aus der Umweltkrise. Molden: Wien 1973. .
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im sturm der entwicklung
Der gesamte Bereich der Innenstadt wird, mit der Ausnahme von kleinen elekt-
rischen Autobussen, vom Oberflächenverkehr befreit. Der Güterverkehr erfolgt auf
unterirdischen Straßen.
Die hierdurch frei werdenden Flächen, alle gegenwärtig durch „kernfremde“
Funktionen eingenommene Parkplätze, Lagerhäuser, Tankstellen, Reparaturwerkstätten und leer stehenden Bauparzellen, werden für urban sinnvolle Zwecke wie
Wohngebäude, Büros, Geschäfte, kulturelle und gesellschaftliche Einrichtungen
sowie für öffentliche Grünanlagen genutzt. Das sterile Straßensystem wird teilweise durch Abriegelung mittels quer gestellter Gebäude, teilweise durch Verengung
und Ausweitungen in eine abwechslungsreiche Aufeinanderfolge von Promenaden, kleineren und größeren Plätzen gewandelt. Ähnlich wie im Northland-Zentrum
sind diese öffentlichen Räume durch Grünflächen und Kunstwerke abwechslungs-
reich gestaltet.
Um das Kerngebiet von jedem PKW-Verkehr freizuhalten, dient – ähnlich wie der
mittelalterliche Verteidigungswall – ein Umfahrungsring, der als vielspurige Straße
das zentrale Gebiet umgibt und dem als Auffangbecken sechs große Parkgaragen
beigegeben sind, die bis ins Stadtinnere hineinragen. Ein- und Ausfahrten erfolgen
ausschließlich von der „Ringstraße“ her, wogegen Fußgänger die Garagen von jener
Seite, die dem Mittelpunkt der Innenstadt am nächsten liegt, betreten und verlassen. Auf den Dächern der Parkgaragen haben wir uns Gärten, Tennisplätze und
andere Sportstätten vorgestellt.
Außer mit dem Auto wird dieser Ring auch durch ein neues Expressbussystem
erreicht, das auf eigenen Trassen radial aus allen Richtungen der Region kommt
und ein lokales Bussystem ergänzt.
Das grafische Material, das wir lieferten, wurde durch eine Kostennutzungsrech-
nung und eine Broschüre ergänzt, die die Planungsstrategie erläuterte: Durch diese
Pläne würden in der Innenstadt Umweltbedingungen erzielt werden, die denen der
Vorstädte weit überlegen sind. Die Innenstadt würde durch bessere Luftqualität, große Verkehrssicherheit und geringeren Lärm zu einem bevorzugten Wohnort
werden. Gleichzeitig würden die optimalen Umweltbedingungen, der Erlebnisreichtum und die gute Erreichbarkeit die Innenstadt zu einem bevorzugten Arbeits-
und Besuchsort machen. Neue kommerzielle Unternehmungen sowie neue Stätten
der Kultur und Geselligkeit könnten entstehen. All dies würde der Stadtverwaltung eine erhebliche Steigerung der Steuereinnahmen bringen.
wiedergeburt der urbanität an drei beispielen
Präsentation
Als der Plan in Anwesenheit des Bürgermeisters, aller Gemeinderäte, der
Vertreter der nationalen Presse, des Handels und des Gewerbes feierlich präsentiert und ausführlich diskutiert wurde, war die Reaktion bedingt enthusiastisch.
Der Ausdruck „bedingt“ ist angemessen, weil sich besonders bei den für die Stadtplanung Verantwortlichen zur Bewunderung auch Verblüffung und Eifersucht gesellten.
Das Projekt hatte kein Glück. Nach anfänglicher Begeisterung, während der Ge-
neralplan vom Gemeinderat im Prinzip genehmigt wurde, äußerten sich Stimmen
des Zweifels und der Opposition. Organisierter Widerstand erhob sich von den
innerstädtischen Parkplatzbesitzern, die sich um ihre Weiterexistenz sorgten, ob-
wohl man ihnen klarzumachen versuchte, dass sie die künftigen großen Garagen an der Umfahrung betreiben könnten.
Dann wurden die Finanzierungsprobleme, die normalerweise der Bundesbe-
hörde für Stadterneuerung oblagen, diskutiert. In Texas gab es spezielle Probleme.
Der große und stolze Staat Texas verteidigt mit großem Starrsinn seinen „autonomen“ Status und steht jeder Hilfe von Washington mit Misstrauen gegenüber.
Selbstfinanzierung wäre in diesem reichen Staat vielleicht möglich gewesen, aber
die Stadtverwaltung, die sich in der Sache bevormundet fühlte, war nicht willens,
außerordentliche Anstrengungen in diese Richtung zu unternehmen. Als Einziges
wurde der Bau eines Teiles der vorgeschlagenen „Ringstraße“ in Angriff genommen. Weiteres Schicksal
Irgendwie aber verblieb das Konzept im Bewusstsein der Bevölkerung.
Die Zeitschrift des amerikanischen Architekteninstitutes brachte im März 1978 einen langen Aufsatz über die Zwillingsstädte Dallas und Fort Worth, in dem die
aus dem 19. Jahrhundert stammenden Reste der Urbanität von Fort Worth ge-
priesen wurden: Es hieß, diese Qualitäten wären zuerst in Victor Gruens klassischem Kerngebietsplan erkannt worden, dem ersten Projekt der Nation, das von
einer autofreien Innenstadt ausging. Dass diese einflussreiche Vision damals nicht
ausgeführt wurde, veranlasste Edmund Bacon (damals Stadtplaner von Philadel-
phia) zu folgendem Ausspruch: „Der Fort Worth Plan ist das einzige ungeborene
Kind, das Hunderte von Enkeln produziert hat. Eines dieser Enkelkinder ist jetzt heimgekehrt. Die Stadtplanung hat jetzt zusammen mit Lawrence Halprin einen
Innenstadtplan geschaffen, der viele Elemente des Vorschlages von Victor Gruen in
weniger ambitionierter Weise enthält.“
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im sturm der entwicklung
Diese Feststellung bestätigt eine Tatsache, die Visionäre resignierend zur Kennt-
nis nehmen müssen. Zukunftsträchtige Konzepte haben oft eine Reifungsperiode
von zwanzig bis dreißig Jahren und kommen schließlich anderswo ans Licht der
Welt.
Aber der Plan brachte auch greifbare Resultate für das Arbeitsteam von „Victor
Gruen Associates“. Seine volle Bedeutung wurde Stadtvätern und der Öffentlichkeit
durch das populäre Buch The Exploding Metropolis von Jane Jacobs nähergebracht: „Der Plan für Fort Worth aus dem Jahr 1956 war von Victor Gruen inspiriert, dem
erfolgreichen Architekten der Shopping Malls. ... Gruens Plan schlug ein autofreies Stadtzentrum mit Büros und Shopping vor. Eine Ringautobahn, entlang derer
sechs große Parkgaragen mit Parkplätzen für bis zu 60.000 Autos untergebracht
waren, sollte es möglich machen, dass die Straßen im Stadtzentrum ausschließlich
von Fußgängern benutzt und zweistöckigen Geschäftslokalen gesäumt werden. Die
Zeichnungen mit Kiosken, Transparenten, geschmackvoller Beleuchtung, schwebenden Blumenbeeten, interessanter Straßenmöblierung sowie einem gemuster-
ten Straßenbelag boten eine aufregende Alternative zu den mit Autos verstopften Straßen.“13
Für Jacobs war der entscheidende Punkt, dass die Straßen abwechslungsreicher,
intimer und lebendiger werden sollten, als sie es vorher je waren – aber dieses
Hauptargument, das den geistig-seelischen Inhalt des Planes darstellt, werde von seinen Nachahmern meist nicht verstanden.
Dieser Hinweis für die „Nachahmer“ ist besonders wichtig in einer Ära, in der
Hunderte Städte und Städtchen unter dem Eindruck des kommerziellen Erfolgs
von Einkaufszentren daran glaubten, innerstädtische Geschäftsstraßen einfach dadurch zum neuen Leben erwecken zu können, dass man an ihren beiden Enden
Stop-Tafeln für Automobile aufstellt. All diese Versuche, einschließlich jener, die
einige kleine Blumentöpfe in der Mitte des Straßenpflasters aufpflanzten, waren
von vornherein zum Misserfolg verurteilt. Eine Straße kann nicht allein durch Subtraktion von Automobilen, sondern nur durch die Addition neuer Funktionen und
Aktivitäten belebt werden.
Als Folge des Fort Worth-Planes wurden wir beauftragt, als Planer oder Be-
rater an ungefähr 50 Stadterneuerungsprojekten mitzuwirken, wobei es sich im
Wesentlichen immer wieder um die Wiederbelebung der Innenstädte handelte. In den älteren Städten der Ostküste, wie Philadelphia und Boston, handelte es sich
13
Jane Jacobs, The Exploding Metropolis. Doubleday Anchor Books: New York 1957.
wiedergeburt der urbanität an drei beispielen
vorwiegend um die Erhaltung und Konservierung wertvoller Bausubstanzen sowie um eine Verbesserung des bestehenden Verkehrs. Aufgrund unseres Generalplanes wurde sowohl in Boston als in Philadelphia das U-Bahn-System erweitert.
In den neueren Städten im Mittleren Westen, wie Cincinnati in Ohio oder Kalamazoo in Michigan, ging es immer noch um den Schutz erhaltenswerter Gebäude
und Ensembles. In den jüngsten Städten an der Westküste, wie San Bernardino
oder Sacramento in Kalifornien, musste das öffentliche Verkehrssystem überhaupt erst eingeführt werden. Neben der Sanierung der Verkehrssysteme zielten unsere
Vorschläge vor allem darauf, die Bewohnerschaft sowie die kulturellen Tätigkeiten wieder in die Stadtzentren zurückzubringen. Gruenisierung
Die Methode integrierter Stadtplanung wurde von den Massenmedien, die
begierig sind, jede Tätigkeit mit einer Etikette zu versehen, als „Gruenisierung“ be-
zeichnet – selbst in Fällen, an deren Planung wir nicht beteiligt waren. Gleichzeitig
wurde ich mit dem Titel „Vater der Fußgängerstraße“ ausgezeichnet, was ebenso wie
die vorherige Titulierung „Vater des Einkaufszentrums“ bald äußerst peinlich wurde,
weil viele Urheber missratener Kinder mir die Vaterschaft in die Schuhe schoben.
Aus der Nichtrealisierung des Fort Worth-Planes hatten wir gelernt, dass Pla-
nungstätigkeit ohne Einwilligung der Behörden ergebnislos bleibt. Aber wir fanden bald heraus, dass auch Projekte, die nur in Zusammenarbeit mit offiziellen
Stellen zustande kommen, von den Bürgern misstrauisch beurteilt werden, dass
ihre Verwirklichung oft durch Bürgerinitiativen und Kritik in den Massenmedien
verhindert wird. Erfolge waren in jenen Fällen zu erringen, in denen wir mehr als
einen Auftraggeber hatten, nämlich einerseits die zuständige Bundesbehörde, an-
dererseits ein repräsentatives Bürgerkomitee und zusätzlich die Stadtverwaltung.
Gleichzeitig war intensive Aufklärungsarbeit mit den Proponenten der Massenmedien zu betreiben.
Umweltverändernde Planung verlangt politisches und öffentliches Engagement
sowie völliges Eingehen auf die Bedürfnisse und Hoffnungen der betroffenen Bürger.
Dass durch Zusammenarbeit mit Behörden und privaten Interessen im Kernge-
biet von Städten der Weg vom Entwurf zur Realisation (der normalerweise Jahr-
zehnte beansprucht) auch in kürzester Zeit zurückgelegt werden kann, soll an zwei
Beispielen, eines im Osten und eines im Westen des Landes, dokumentiert werden.
Vorher aber eine kurze Charakteristik amerikanischer Städte im Verhältnis zu europäischen:
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im sturm der entwicklung
Anatomie der Städte
Wenn in den Betrachtungen über Schicksal und Zukunft von US-Städten
Ausdrücke wie Stadtkern, Innenstadt, Stadtzentrum gebraucht werden, so ist das
insofern falsch, als hier europäische Begriffe der Einfachheit halber auf amerikanische Verhältnisse übertragen werden. In Wirklichkeit sind diese Worte im Eng-
lischen unbekannt. Ein bestimmter Stadtteil, meistens in der Nähe des Bahnhofes
oder des Hafens, der weit sichtbar markiert ist durch eine Vielzahl von Wolken-
kratzern, wird in Anlehnung an New York, wo die Entwicklung im niedrigsten Teil
der Insel von Manhattan begann, Downtown genannt. In der Sprache der Planer
und der Geschäftswelt wird er als C.B.D. (Central Business District – zentrales
Geschäftsgebiet) bezeichnet. Diese Gebiete waren in den USA seit eh und je ausschließlich dem Geschäftsleben und zu einem bescheidenen Ausmaß der städtischen Verwaltung gewidmet.
Im Straßenbahnzeitalter siedelten sich im C.B.D. die Beschäftigten in kurzer
Gehdistanz von Straßenbahnstationen, meist in netten Holzhäuschen, an, wäh-
rend Wohlhabende, die über Kutschen verfügten, etwas entfernter von Downtown
wohnten. Als das Automobilzeitalter in Amerika viel früher und intensiver als in Europa ansetzte, und als die Mehrzahl der im C.B.D. Beschäftigten sich ein Auto
leisten konnten, folgten sie dem Beispiel der Wohlhabenden und zogen in stetig größer werdenden Entfernungen ins Umland. Die ehemaligen Wohnstätten leerten
sich, aber das Vakuum wurde schnell gefüllt durch die Massenimmigration jener,
die durch Mechanisierung der Landwirtschaft ihre Arbeitsplätze verloren hatten,
sowie durch die Angehörigen ethnischer Minoritäten, die aus ihrer Heimat aus-
gewandert waren. In Zeiten der Hochkonjunktur fanden sie, ähnlich wie heute die
Gastarbeiter in den europäischen Industrieländern, Beschäftigung in untergeord-
neten Positionen. Die heruntergekommenen Wohnbezirke wurden zu den sogenannten „grauen Ringen“, die schließlich drohten, den C.B.D. zu erwürgen.
Dass die großen Geschäftsstädte Amerikas nicht gleichzeitig Zentren der Re-
gierung und der damit zusammenhängenden Gesamturbanität wurden, geht auf die puritanische Gesinnung der „Väter der Republik“ wie George Washington und
Thomas Jefferson zurück. Da sie alle europäischen Hauptstädte für Sündenbabel
hielten, bewerkstelligten sie, dass alle Regierungs- und Repräsentationsstätten
in unbedeutenden Landgemeinden eingerichtet wurden. Diese wurden dann zur
Hauptstadt jedes der Einzelstaaten. Auf diese Weise sollte jeder mögliche Einfluss
der verderblichen Geschäftswelt auf die Volksvertretung ausgeschaltet werden.
Auch die Bundeshauptstadt Washingten musste soweit wie möglich von den Han-
wiedergeburt der urbanität an drei beispielen
delszentren des Ostens entfernt liegen. Präsident Jefferson, der selbst auch Archi-
tekt war,14 prophezeite damals, dass Washington nie mehr als 100.000 Einwohner
haben werde. (Um 1980 betrug die Einwohnerzahl des Districts Washington über drei Millionen.)
Im Gegensatz dazu war in europäischen Städten der Sitz der Kaiser, Könige und
Kirchenfürsten jener Kern, um den sich die Angehörigen des Hofstaates, also die
Wohlhabenden, und die dem Hofstaat dienenden Gewerbetreibenden scharten. Nur einige der Privilegierten errichteten außerhalb der befestigten Stadt palastartige
Sommerresidenzen, um die sich Villen des Hofstaates und Wohnsitze von Hand-
werkern, Gewerbe und Handelstreibenden formierten. Auf diesen Ansiedlungen basiert ein Großteil der Vorstädte.
Der Ausbruch der industriellen Revolution brachte in Europa tiefgreifende Ver-
änderungen in die Struktur der Städte. Neue, mit Maschinen ausgerüstete Produk-
tionsstätten zogen Hunderttausende Erwerbssuchende an. Dieser Massenzuzug
erforderte Massenquartiere, die wegen Platzmangels nur außerhalb der Stadtmauern errichtet werden konnten. Die industrielle Entwicklung brachte aber auch neue
Waffensysteme mit sich, sodass die alten Befestigungsanlagen nutzlos wurden und
geschleift werden konnten. Ein zahlenmäßig und wirtschaftlich mächtig gewordenes Bürgertum, das sich am Rande des früher befestigten Gebietes ansiedelte,
zwang die Machthabenden einerseits zu demokratischen Zugeständnissen, veran-
lasste sie aber andererseits, ihr Prestige durch Repräsentationsbauten und Prachtstraßen in der unmittelbaren Nähe der Herrschersitze zu erhöhen. Die Bevölke-
rungszunahme hatte die Verschmelzung des vergrößerten inneren Stadtgebietes
mit den durch großzügige Eingemeindung hinzugekommenen neuen Vorstädten zur Folge.
Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges bestanden grundlegende Kontraste in der
Anatomie amerikanischer und europäischer Städte. Der Gebrauch des Autos durch
die Massen hatte in Europa noch nicht eingesetzt. So verblieben die innerstädti-
schen und angrenzenden Gebiete in Europa nicht nur als Wohnort der materiell
Bessergestellten, sondern auch als Standort aller Regierungsstellen und fast aller Kulturstätten. Als „Central Busines District“ spielte der Stadtkern meistens eine
zweitrangige Rolle, weil sich die großen Geschäfte und große Gewebebetriebe ent-
lang der Straßen äußerer Bezirke auffädelten. An der Stadtperipherie, also dort,
14
Jefferson baute selbst zwei Gebäude: seinen Wohnsitz in Monticello und die Universität von Virginia.
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im sturm der entwicklung
wo sich in den USA die „Habe-viel-Bürger“ niedergelassen hatten, bestanden in
den meisten europäischen Städten ausgedehnte Proletarierviertel mit niedrigster
Wohnqualität. Andererseits waren Gärten und Jagdgebiete früherer Feudalherren
in öffentliche Parks und Erholungsgebiete umgewandelt worden, sodass in dieser
Beziehung alte europäische Städte den amerikanischen überlegen sind.
Wenn man von den Bombenzerstörungen des Zweiten Weltkrieges absieht,
verblieb diese Strukturverschiedenheit bis zur Ära des sogenannten großen Wirtschaftswunders. Dann aber setzte durch Ausbruch des europäischen Automobil-
zeitalters, durch falsches oder mangelndes Planungsverhalten eine Entwicklung
ein, die eine Angleichung an die Probleme der geplagten amerikanischen Innen-
städte mit sich brachte.
Die zentralen Stadtbereiche verloren ihre Einwohnerschaft, die das Weite such-
ten. Viele historische Stadtkerne wurden zu zentralen Business Districts, garniert mit Fremdenverkehrsattraktionen. Auch in den europäischen Städten entstanden
„graue Zonen“ der Vernachlässigung, die sich teilweise mit einer neuen Art des Proletariats, dem der Gastarbeiter, füllten.
Die Landverschwendung durch endlose Ausuferung der Städte als Resultat des
Automobilzeitalters ist in den Vereinigten Staaten ein ernstes Problem. Wie viel
ernster dieses Problem aber im dichter besiedelten West- und Mitteleuropa ist,
wird durch den Vergleich der Bevölkerungsdichte illustriert. Das Bizarre an der Situation, wie sie nun seit etwa zwanzig Jahren besteht, ist, dass viele amerikanische
Städte energisch versuchen, ihre Anatomie nach dem Beispiel europäischer Städte,
wie sie einmal bestanden, umzuwandeln, während viele europäische Städte eifrig
und blindlings bemüht scheinen, die amerikanische Stadtvernichtung, die dort zur
Krise geführt hat, nachzuahmen.
Wenn man zum Beispiel beobachtet, dass in San Franciscos Innenstadt auf der
zentralen Market Street durch Verengung der Fahrbahn Platz für dreireihige Bau-
malleen geschaffen wird und im Kontrast dazu feststellen muss, wie bestehende
Alleen in europäischen Städten vernichtet werden, um Platz für den Autoverkehr zu schaffen, scheint es fast so, als ob in den USA eine Renaissance der Urbanität
eingesetzt hat, während es die Europäer auf die Verödung ihrer historischen Zen-
tren angelegt haben.
wiedergeburt der urbanität an drei beispielen
b. Midtown Plaza
In der mittelgroßen Stadt Rochester, im Staat New York, die u. a. Sitz der
Kodak Fotogesellschaft ist, stellt das Projekt Midtown Plaza ein frühes Beispiel dar,
wie in den Jahren 1956 bis 1961 in der Innenstadt neues Leben entstand. Zwei mit-
einander in Freundschaft konkurrierende große Kaufhäuser, McCurdy’s und Fore
man, waren die Initiatoren. Sie ersuchten mich in einer scheinbar ausweglosen
Situation um Rat. McCurdy’s hatte seit Langem an der Hauptstraße und Foreman
an der einzig belebten Nebenstraße des Central Business District ihr gesamtes Ka-
pital im Kaufhaus investiert und waren bis vor etwa zehn Jahren noch sehr erfolgreich. Nun aber waren sie vom allgemeinen Niedergang des C.B.D. betroffen. Sie
hatten wohl zwei Zweiggeschäfte in vorörtlichen kleinen Einkaufszentren eröffnet,
doch diese brachten nicht den erhofften Gewinn. 1956 standen sie vor der Frage, ob sie ein großes regionales Zentrum nach der Art von Southdale errichten und
sich gänzlich aus des C.B.D. zurückziehen sollten, oder ob sie die noch sehr vagen
Revitalisierungsbemühungen der Stadtgemeinde unterstützen sollten, um dadurch einen Weiterbestand ihrer Unternehmungen zu sichern.
Der zweite Weg schien, schon weil die Regionalbevölkerung des Umlandes nicht
ausreichend war, um ein großes Zentrum zu rechtfertigen, der einzig logische. Zuerst sicherten sich die beiden aufgrund meines Rates die Kaufrechte für ein großes
Areal, das im Anschluss an die Rückfronten ihrer Geschäfte im sogenannten grauen
Ring lag. Die Grundstücke konnten von einer Vielzahl kleiner Besitzer verhältnismäßig billig erworben werden und reichten bis zu einer zur Hauptstraße parallel
verlaufenden Verkehrsader.
Dies erwies sich als äußerst zeitraubend. Erst 1958 war es möglich, anhand eines
Entwurfsplanes mit dem Bürgermeister über das Projekt eines multifunktionellen
Ensembles inmitten des C.B.D. zu sprechen. Er stand der Idee wohlwollend gegenüber, meinte aber, für eine Genehmigung durch den Gemeinderat wäre der Beweis
essenziell, dass das vorgeschlagene Bauvorhaben sich harmonisch in einen in Aus-
arbeitung begriffenen Generalplan einfüge. Diese Generalplanung, so stellte sich
heraus, lehnte sich an den Fort Worth-Plan an: Sie sah die Errichtung einer äußeren
autobahnähnlichen Umfahrungsstraße und eines inneren Ringes mit anschließenden Hochgaragen vor.
Für die Stadtverwaltung wurde von uns ein ergänzender Plan ausgearbeitet, der
eine Verbreiterung der inneren Ringstraße vorsah und die Möglichkeit aufzeigte,
wie dadurch der gesamte zentrale Bereich in ein Fußgängergebiet verwandelt werden könnte. Midtown Plaza, so konnte demonstriert werden, würde ein erstes
241
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im sturm der entwicklung
integriertes Teilstück des Gesamtprojektes bedeuten. Seine Durchführbarkeit hing allerdings von drei Maßnahmen der Stadtverwaltung ab:
1. Statt der im Generalplan für dieses Gebiet vorgesehenen 500 Autos fassenden
Hochgarage musste eine dreistöckige Tiefgarage mit 2000 Abstellplätzen errichtet werden.
2. Jener Teil der inneren Ringstraße, der die rückwärtige Grenze des Projektgebietes bildete, musste schnellstens gebaut werden.
3. Der öffentliche Autobusverkehr an den Stadtrand und ins Innere des Stadtgebietes musste verstärkt und verbessert werden.
Es bedurfte einiger Sitzungen mit dem gesamten Gemeinderat, bevor diese drei
Bedingungen akzeptiert wurden. Um eine enge Zusammenarbeit zwischen Behörden und privatem Unternehmertum sicherzustellen, wurden wir von der Stadtver-
waltung mit dem Entwurf der Garage und der ihr dienenden Verkehrswege betraut. Das Projekt war im Wesentlichen eine Übertragung unserer Erfahrungen von
der Peripherie in die Stadtmitte. Es ähnelte Southdale insofern, als alle Betriebs-
stätten um einen dreistöckigen mit Oberlichten versehenen klimatisierten Platz
gruppiert waren, der aber bedeutend geräumiger als der Gartenhof in Southdale
war. Es unterschied sich von einem peripheren Einkaufszentrum durch den Wegfall
des ausgebreiteten Parkgeländes für viele Tausende Autos. Es begnügte sich mit einer 2000 Autos fassenden Tiefgarage, da es ohnehin meist von Fußgängern und
Autobusbenützern aufgesucht würde.
Es enthielt neben den zwei Kaufhäusern, die beide beträchtlich vergrößert wur-
den, und etwa siebzig Geschäften auch eine reiche Palette anderer städtischer Funk-
tionen, wie einen Autobus-Zentralbahnhof, Verwaltungsstätten und Schulen und in
zwei zwanzigstöckigen Hochbauten Büros, ein Hotel, ein Aussichtsrestaurant, Ärz-
tepraxen usw. Im markanten Kontrast zu den Peripheriezentren, in denen die sogenannten öffentlichen Räume im Privatbesitz verbleiben, wurde der große gedeckte
Platz und die zu ihm führenden Arkaden in den Besitz der Stadt übergeben, sodass sich eine für die Öffentlichkeit jederzeit verfügbare gedeckte klimatisierte Passage
zwischen der Hauptstraße, der neuen Ringstraße und deren Autobusstationen ergab.
Die Pessimisten, die vorausgesagt hatten, es würde unmöglich sein, für ein in-
nerstädtisches Projekt Interessenten zu gewinnen, waren überrascht, als es zum
Zeitpunkt der Eröffnung 1961 keinen Quadratmeter unvermieteten Raum mehr gab. Die Eröffnungszeremonie fand vor über 10.000 Personen auf dem zentralen
Platz statt. Der vor Kurzem neu gewählte Bürgermeister machte als Angehöriger
der ehemaligen Opposition die außerordentlich demokratische Geste, seinen ge-
wiedergeburt der urbanität an drei beispielen
schlagenen Gegner, der unser Projekt stets unterstützt hatte, einzuladen, die Eröffnung dieses für die Stadt so bedeutenden Stadt-Ensembles mit ihm gemeinsam
vorzunehmen.
Dass sich Midtown Plaza wirtschaftlich als erfolgreich erwies, erfreute die zwei
Kaufhausinitiatoren. Folgeerscheinungen blieben nicht aus: Im weiten Umkreis
von Midtown Plaza entwickelte sich eine bedeutsame Bautätigkeit von Büros, Geschäften und Hotels. Kodak gab seine fertigen Pläne für ein außerhalb der Stadt ge-
legenes Verwaltungsgebäude auf und errichtete dieses statt dessen anschließend an Midtown Plaza, mit dem es durch eine Fußgängerpassage verbunden war. Eine
rege Renovierungstätigkeit nahm im ganzen Innenstadtgebiet seinen Anfang, und
Projekte für Einkaufszentren außerhalb der Stadtgrenzen wurden in aller Stille begraben. Die Stadtverwaltung registrierte die Entwicklung mit großer Befriedigung.
Ein seelenloser zentraler Geschäftsdistrikt wurde in ein wirkliches Stadtzent-
rum verwandelt, mit dem sich die auch weit außerhalb Wohnenden identifizierten.
Es war besonders der große, bei jeder Witterung und zu jeder Tageszeit benutzbare
Stadthauptplatz, der diesen Wandel bewirkte. Dort konnte man promenieren, sich
in Kaffeehäusern treffen, dort aber wurden auch außerhalb der Geschäftszeiten po-
litische Versammlungen, Ausstellungen, Konzerte, Festakte und Bälle veranstaltet.15 In der Mitte dieses Hauptplatzes steht zweieinhalb Stockwerke hoch nach dem
Muster europäischer Uhren die „Uhr der Nationen“ – eine Spieluhr mit Glocken-
werk, die bald zum Wahrzeichen von Rochester wurde. Sie wurde, wie sich das für eine Spieluhr gehört, von Rudolf L. Baumfeld in fast barockem Design gestaltet. Um
einen zentralen Schaft, der die Turmuhr trägt, rotieren zwölf Zylinder, von denen
sich bei jedem Stundenschlag einer öffnet, worauf zu entsprechender Musik Marionetten einen der Volkstänze der vielen ethnischen Gruppen, die in Rochester ver-
treten sind, vorzuführen beginnen. Um zwölf Uhr mittags öffnen sich alle Zylinder, rotieren um den Schaft und werden täglich von vielen Schaulustigen bewundert.16
Dieses Spielzeug kostete unseren Klienten eine Menge Geld, ohne eine sichtbare
Rendite zu erbringen. Aber die Uhr wurde in einem ungeahnten Ausmaß beliebt.
Als sie einmal wegen einer Reparatur stillgelegt werden musste, wurde ihre neue 15
16
Siehe der von Jam Handy im Jahr 1963 produzierte Film Rochester. City of Quality, Prelinger Archiv @ https://archive.org/details/prelinger Rudolf L. Baumfeld war für das technische Design der Uhr verantwortlich, Geri Kavanaugh für das Konzept und die künstlerische Gestaltung. Als 2008 Midtown Plaza geschlossen wurde, wurde die Uhr vorübergehend am Flughafen in Rochester ausgestellt, sie fand dann im Strong Memorial Hospital in Rochester ein permanentes Zuhause.
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im sturm der entwicklung
Inbetriebnahme in Zeitungsschlagzeilen gewürdigt. Puritanischen Architekten
war diese heitere Uhr ein Dorn im Auge. Für mich bestätigte ihre Popularität die
Ansicht, dass sich Architektur nicht nur von tierischem Ernst, sondern auch von Humor, Gefühl und Fantasie leiten lassen sollte.
c. Fresno
Ein zweites Stadtplanungsprojekt, dessen wichtigster Teil in verhältnis-
mäßig kurzer Zeit, von 1958 bis 1964, von der Planung zur Realisierung reifte, war die Revitalisierung des Kerngebietes der Stadt Fresno in Kalifornien. Fresno ist mit
ungefähr 200.000 Einwohnern das Marktzentrum des fruchtbaren St. Joaquin Tales und liegt auf halbem Weg zwischen Los Angeles und San Francisco.
Der Plan, der den allgemeinen Prinzipien der sogenannten „Gruenisierung“ folg-
te, ist in den Büchern The Heart of our Cities und Das Überleben der Städte beschrieben und illustriert. Das zentrale Fußgängergebiet wurde in diesem Fall auch durch
Passagen mit dem angrenzenden Verwaltungszentrum der Provinz, seinem großen Park und einem neuen Kongresszentrum mit Hotel verbunden.
Das Projekt wurde von „Victor Gruen Associates“ gemeinsam mit den Land-
schaftsarchitekten Eckbo, Dean, Austin und Williams (EDAW) verfasst. Auch hier
ging es nicht nur darum, schwierige Planungs- und Verkehrsprobleme zu lösen,
sondern in den mit Ausnahme von kleinen elektrischen Bussen verkehrsfreien Be-
reichen eine städtische und abwechslungsreiche Atmosphäre zu schaffen. In welchem Grad dies gelungen ist, bezeugt vielleicht am besten die Beschreibung eines
Außenseiters, des Schriftstellers Bernard Taper, der in der Zeitschrift McCall im
Oktober 1966 davon berichtete, wie er in der Mitte der Fulton Street, der Hauptstraße des Zentrums von Fresno, Kalifornien, saß und schrieb. Vor zweieinhalb
Jahren noch wäre er bei dieser Tätigkeit überfahren, verhaftet oder zum Psychiater
abgeführt worden, aber jetzt sei diese Teil des neues Lebensstils – ein Lebensstil, der davon ausging, dass das Stadtzentrum für die Menschen da sei. Umgeben war
er nicht mehr von Verkehrsstaus, Auspuffgasen und der üblichen Hässlichkeit einer
amerikanischen Innenstadt, sondern von Gärten, Springbrunnen, Teichen und vie-
len schönen Skulpturen. Für Kinder gab es fantasieanregende Spielplätze und für die Älteren oder Ruhesuchenden von Weinranken beschattete Bänke.
Das Geheimnis der raschen Durchführung dieses Projektes lag darin, dass wir
für drei Auftraggeber dieselbe Aufgabe, nur von verschiedenen Gesichtspunkten
zu lösen hatten. Es waren dies die Bundesbehörde (Federal Urban Development
wiedergeburt der urbanität an drei beispielen
Corporation), die Stadtverwaltung und ein Bürgerkomitee (das sich die „Hundertprozenter“ nannte). Es erforderte einige Diplomatie, Interessen, die anfangs entgegengesetzt aussahen, unter einen Hut zu bringen. Der schönste Dankbeweis
für unsere Bemühungen war wohl, als uns das Komitee der Kaufleute, die anfangs
nicht recht daran glauben wollten, dass sie ohne Autoverkehr Geschäfte machen
würden, einen Betrag von 150.000 Dollar zum Ankauf von Kunstwerken für die Fußgängergebiete überreichte.
Dennoch soll darauf hingewiesen werden, dass dieses Projekt trotz des vielen
Lobes kein voller Erfolg wurde. Es gelang nicht, größere kommerzielle Unternehmungen, die in Fresno bislang noch nicht vertreten waren, in den mit neuem Leben erfüllten Stadtkern zu ziehen.
Angelockt vom wirtschaftlichen Potenzial dieser Stadt, das in unserem Projekt
voll zum Ausdruck kam, wurde von Spekulanten ein großes Einkaufszentrum auf
der grünen Wiese, ein paar Schritte außerhalb der Stadtgrenzen, errichtet. Auf-
grund der niedrigen Grundstückspreise wurden dort Vermietungsangebote ge-
macht, mit denen das Innenstadtgebiet nicht konkurrieren konnte. Das völlige
Fehlen einer Regionalplanung machte es den Behörden unmöglich, diesen Akt der Piraterie zu verhindern.
Das Versäumnis, das Umland von Städten mit Rücksicht auf deren Lebensinte-
ressen als Erholungsstätten und Luftreservoir zu erhalten, hat in allen Teilen der
Welt unermessliche Schäden hervorgerufen. Nicht nur die teuren Stadtsanierungen, wie im Falle von Fresno, werden eines Großteils ihres Wertes beraubt, sondern auch die Steuereinnahmen der Stadt erleiden Einbußen.
Der Mangel einer wirkungsvollen Regionalplanung hat zum Beispiel 1976 dazu
geführt, dass die Behörden der Stadt Wien tatenlos zusehen mussten, als 500 Meter
außerhalb der Stadtgrenzen ein gigantisches Einkaufszentrum mit französischen,
schwedischen und Schweizer Großmietern eröffnet wurde, um einen beträchtlichen Teil der Kaufkraft der Einwohner Wiens an sich zu ziehen.17
Wachstum Nichts bedeutet wohl größere Befriedigung, als zu beobachten, wie die
Saat, die man aussetzte, reiche Früchte trägt. Die „Victor Gruen Associates“ war 17
Die Shopping City Süd (SCS) wurde 1976 von Hans Dujsik gegründet und 2007 für 607 Millionen Euro an den niederländischen Immobilienkonzern Unibail-rodamco verkauft.
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im sturm der entwicklung
Ende der Sechzigerjahre eine der zwanzig größten Architekturorganisationen der
USA. Sie war überdies eine der wenigen Großunternehmungen, deren Leistungen
auch von der eigenen Branche hoch bewertet wurden. In drei repräsentativen, kli-
matisierten, großräumigen und (zu meinem Leidwesen) auch mit einem Computer ausgerüsteten Arbeitsstätten in Los Angeles, New York und Washington D.C. waren
1967 ungefähr 300 Mitarbeiter beschäftigt.
Das uns gestellte Aufgabengebiet hatte sich stark erweitert. Zum Entwurf von
Einzelgebäuden wie Läden, Eigenheimen, Banken, Kaufhäusern, Bürogebäuden,
Wohnblöcken, religiösen und kulturellen Bauwerken, die rasch realisiert werden
konnten, gesellten sich in zunehmendem Maße langfristige Aufträge, wie Einkaufszentren innerhalb und außerhalb der Stadt, Satellitenstädte, Raumplanungsprojek-
te und Generalplanungen für die künftige Entwicklung großer Städte.
Auch geografisch dehnte sich der Wirkungsbereich auf Kanada, Südamerika,
Australien, Europa und den Iran aus. Bei den großräumigen Projekten mussten
wir in den meisten Fällen erkennen, dass Planungskonzepte, wenn sie überhaupt akzeptiert wurden, viele Jahre, ja Jahrzehnte in Anspruch nahmen, und dass ohne
politisches Engagement und ohne Kompromisse kaum an Erfolg zu denken war.
So kam es, dass die Partner und ich auch in der politischen Arena auf städtischer,
landes- und bundesstaatlicher Ebene tätig werden mussten. Ich arbeitete u. a. am
städtebaulichen Teil des Wahlprogramms von John F. Kennedy (urban platform)
mit und beteiligte mich während der Präsidentschaft Lyndon B. Johnsons in Zusammenarbeit mit dem Minister für Stadtplanung (Robert Weaver) und dem In-
nenminister (Stewart Udall) an einer Planungsstudie zur Lage und Gestaltung neuer Millionen-Städte in unbesiedelten Gebieten. Die für ein unterbevölkertes Land
durchaus praktikable Idee bestand darin, den übermäßigen Bevölkerungszuwachs
in bestehenden städtischen Regionen zu bremsen, bei gleichzeitiger modellhafter
Verbesserung bestehender Stadtkerne.
Das stete Wachstum unserer Organisationen, so erfreulich es auch war, brachte
aber auch Probleme mit sich. Ein immer größerer Teil der Zeit und Energie der
Partner musste administrativen und organisatorischen Aufgaben geopfert werden, sodass sich die Zeit für schöpferische Tätigkeiten verringerte. Trotzdem konnten
wir diesem Drang nach Wachstum kaum widerstehen. Der offenbar wünschenswerte Zustand der Stabilität, also des Nullwachstums, wird irrigerweise nicht nur
von konventionellen Volkswirtschaftlern aller Staaten, sondern auch von den Mitarbeitern einer Organisation wie der unseren fälschlich als Rückschritt bewertet.
Er löst Sorgen über den Arbeitsplatz und über die Möglichkeiten des persönlichen
wachstum
Aufstieges aus und bewegt manchen wertvollen Mitarbeiter dazu, eine stabile Organisation zu verlassen, um zu einer schnell wachsenden überzuwechseln.
Diese panische Angst vor Stabilität, wie wir sie im kleinen Maßstab erlebten,
scheint die Wurzel für den ständigen Wunsch nach oftmals verderblichem, mate-
riellen und technologischen Wachstum zu vieler Organisationen und Nationen zu sein.
Unser Wachstum führte aber auch zu finanziellen Problemen. Produktions- und
Regiekosten stiegen dermaßen, dass wir den Zeitintervall zwischen Leistung und Bezahlung nicht mehr aus Eigenmitteln finanzieren konnten.
Ich wollte über diese Verlegenheit mit den Direktoren der Bank, in der wir ein
Sparkonto unterhielten, während eines Mittagessens in unserem Konferenzsaal
vorsichtig sprechen. Ich kam aber nie dazu. Am Ende des Mahls wurde uns höflichst
gedankt, aber gleichzeitig bittere Beschwerde darüber geführt, dass wir der Bank
kein Geschäft zukommen ließen. Die Bank, so sagte man uns, könne offensichtlich nicht davon leben, uns Sparzinsen zu zahlen. Wir sollten also kooperieren und eine
Anleihe von 500.000 Dollar mit kulanter Verzinsung aufnehmen. Nach einigem Zögern erklärten wir uns zu dieser „Gefälligkeit“ bereit, worauf die Vertreter der Bank
uns freudig versprachen, sich nun in ihrem eigenen Interesse um unser wirtschaftliches Wohlergehen durch neue Klienten zu bemühen. Sie hielten ihr Versprechen,
und das Wachstum hielt an.
Öffentliche Planung und Privatwirtschaft
Großräumige Stadtplanungen verlaufen mit wenigen Ausnahmen, wie z. B.
die von Midtown Plaza und Fresno, in einer demokratischen Gesellschaft der freien Marktwirtschaft eher frustrierend. Zwar hatte die Bundesregierung durch die
Einführung der „Urban Development Corporation“ dafür gesorgt, dass solche Planungen von tagespolitischen Veränderungen in der Stadtverwaltung unabhängig
gemacht wurden und damit die Möglichkeit geschaffen, dass in vielen Fällen Pro-
jekte mit der Zielsetzung, dem Gemeinwohl zu dienen, entstehen konnten. Schwierigkeiten aber ergaben sich fast immer im Übergang von öffentlicher Planung zur
Ausführung durch private Unternehmer. Die der „Urban Development Corporation“ zur Verfügung stehenden Kontrollen erwiesen sich als viel zu schwach, um
grundlegende Änderungen der Planung im Interesse einer höheren Rendite zu ver-
hindern. Aufgrund dieser Diskrepanz zwischen der ideellen öffentlichen Planung
und materialistisch motivierten Ausführung stellte sich ernsthaft die Frage, bis zu
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im sturm der entwicklung
welchem Grad der Steuerzahler für die Planung und Verbesserung der städtischen Umwelt aufzukommen habe.
Um dieses Problem, vor dem ich in den Siebzigerjahren auch in Frankreich
stand, zu lösen, scheint eine Verschiebung der Grenzziehung zwischen öffentlicher
und privater Tätigkeit notwendig zu sein.
Bei Priorität der Interessen des Gemeinwohls müssten die öffentlichen Agenturen
einige Schritte weitergehen, als nur ein Planungskonzept zur Verfügung zu stellen.
Sie müssten auch verantwortlich sein für alle Konstruktionsdokumente und könnten
dann lediglich die bauliche Ausführung an Privatunternehmer vergeben. In einem
solchen Fall sollte die Öffentlichkeit, da sie ja alle Kosten getragen hat, Eigentümerin
aller Anlagen bleiben und als solche in den Genuss von Einnahmen kommen.
Falls aber Mittel hierzu nicht aufzubringen sind, könnte die öffentliche Agen-
tur sich auf die Begrenzung eines Entwicklungsgebietes, die Festlegung von Enteignungs- und Übersiedlungsbedingungen beschränken. Sie sollte dann lediglich
eine Reihe von Privatunternehmungen zur Planung und Ausführung gemäß ih-
rer Leitlinien einladen. Durch eine entsprechend zusammengesetzte Jury könnte
entschieden werden, wessen Plan den Interessen des Gemeinwohls am nächsten
kommt und deshalb ausgeführt werden soll. In diesem Falle wären Rechtsmittel
anwendbar, die den Unternehmer dazu verhalten könnten, seinem eigenen Plan
treu zu folgen.
Bei diesem Weg scheint es recht und billig, dass der betraute Unternehmer, der
ja die Kosten des Landerwerbs, der Aufschließung und Planung trägt, als Besitzer der neuen Anlagen daraus Nutzen ziehen würde. Überlegungen dieser Art stießen
weder in den USA noch in Frankreich und anderen Ländern auf Verständnis. Der
Gedanke drängt sich auf, dass zukunftsweisende Planungstätigkeit in demokratischen Ländern mit freier Marktwirtschaft meist ein überaus langwieriges und oft erfolgloses Unternehmen ist.
Generalplan für Teheran
In der Hoffnung, dass Planung innerhalb eines autoritären Regimes ein-
facher und erfolgversprechender sein würde, nahmen wir eine Einladung der
iranischen Regierung zur Erstellung eines Generalplanes für Teheran an. Wir bemühten uns sehr, das Rennen gegen andere eingeladene Planer zu gewinnen. Über
Vermittlung des uns bekannten persischen Architekten Abdul Aziz Farmajan des
iranischen Pavillons der New Yorker Weltausstellung, der über ausgezeichnete Ver-
wachstum
bindungen zum Schah-Regime verfügte, gelang es uns, den Auftrag zu erhalten und
zwar ohne Zahlung der ortsüblichen Provisionen. Dies gelang nur deshalb, weil unser iranischer Architektenfreund herausfand, dass eine zehnprozentige Provision
für einen anonym bleiben wollenden Mittelsmann in die Tasche eines Bruders des
Schahs wandern sollte. Als er den Schah hiervon verständigte, war dieser empört
darüber, dass nicht er selbst der Empfänger sein sollte und verbot uns, irgendwelche Provisionen zu zahlen.
Wir errichteten eine Arbeitsstätte in Teheran und stellten sie unter die Leitung
eines unserer Associates, Fereydoon Ghaffari, der iranischer Herkunft war und die
Landessprache Farsi beherrschte. Die Koordination mit dem Teheraner Atelier von
Architekt Abdul Aziz Farmajan wurde dadurch erleichtert, dass sein aus Innsbruck stammender Bürochef sich mit mir im besten tirolerischen Deutsch unterhalten
konnte.
Zur Koordination des gesamten Planungsvorhabens setzte Schah Reza Pahlevi
einen Planungsdirektor ein und zwar seine Gattin, Schabanou Farah Diba Pahlevi,
wobei ich die Anweisung erhielt, alle wichtigen Planungsaspekte persönlich mit Ihrer Majestät zu besprechen.
Das erste Zusammentreffen verlief wegen des Hofzeremoniells – Ansprache als
„Your Majesty“ in dritter Person, Hinausschreiten im Rückwärtsgang und eine Reihe anderer Formalitäten – ziemlich steif, und wir kamen nicht viel weiter, als uns
gegenseitig kennenzulernen. Sie machte auf mich den Eindruck einer sehr attrak-
tiven, sehr gebildeten und intelligenten Frau. Beim zweiten Besuch versuchte ich die Arbeitsatmosphäre etwas informeller zu gestalten. Ich wusste, dass sie in Paris
Architektur studiert hatte. Als ich meinte, dass wir doch eigentlich Berufskollegen
wären und uns deshalb als Herr und Frau Kollege titulieren könnten, war sie von
diesem Vorschlag, den sie als sehr schmeichelhaft empfand, begeistert. Nun stand
einem informellen, vonseiten Ihrer Majestät sehr verständnisvollen Gedankenaus-
tausch nichts mehr im Wege.
Einige der Probleme und Zielsetzungen, die einvernehmlich besprochen und
beschlossen wurden:
- Der Plan solle für eine zwanzigjährige Durchführungsperiode erstellt werden.
- Der gegenwärtig anhaltende jährliche große Bevölkerungszuwachs wird im
Laufe der 20 Jahre zu ernsten Problemen führen und kann durch keine Stadtplanung verkraftet werden. Es müssen also auf nationaler Ebene gesellschaftspolitische Maßnahmen gesetzt werden, um die Landflucht zu unterbinden und Erwerbs-
möglichkeiten in anderen Teilen des Landes zu schaffen.
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- Maßnahmen zur Verbesserung der Volksgesundheit sind vordringlich. Ein öf-
fentliches Wasserleitungs- und Kanalisationssystem muss den gegenwärtigen un-
hygienischen Zustand beenden, in dem Brunnen und Senkgruben so nahe beieinander liegen, dass eine Verseuchung des Trinkwassers erfolgt.
- Ein modernes öffentliches Massenverkehrssystem in Form einer Untergrund-
bahn ist notwendig, um die Zerstörung der Stadt durch den Autoverkehr zu ver-
hindern.
- Die Wohnungsnot muss durch Neubauten behoben werden. Diese aber sollen
die klimabedingten Wohntraditionen, bei denen während der heißen Jahreszeit die
Benützung der Höfe zum Wohnen und der flachen Dächer zum Schlafen eine wichtige Rolle spielt, berücksichtigen.
- Hinsichtlich der Stadtstruktur soll ein polyzentrisches System mit einem
Hauptzentrum und zahlreichen Stadtteil- und Quartier-Zentren geschaffen werden, wobei die Tradition der Basare und offenen Märkte beibehalten werden sollte.
In den zahlreichen Konferenzen erwies sich Ihre Majestät ihrem Amt als Pla-
nungsdirektor voll gewachsen, sie war sozial und umweltbewusst. Die Planungsarbeit machte gute Fortschritte.
Bald aber mussten wir wahrnehmen, dass parallel zu dieser Planungsarbeit
auch Seine Majestät, der Schah, den ich nie die Ehre hatte zu Gesicht zu bekommen, durch unseren iranischen Partner Farmajan seine eigenen Planungswünsche zum
Ausdruck brachte. Diese waren auf Prestige- und Repräsentationsgebäude, Prachtstraßen und imponierende Plätze und Monumente ausgerichtet. Einiger dieser uns
übermittelten Wünsche schienen, wenn auch unerwünscht, verkraftbar, aber als uns
ein „Befehl Seiner Majestät“ übermittelt wurde, sahen wir uns mit einem Gewis-
senskonflikt konfrontiert. Der „Befehl“ lautete, in der Stadtmitte einen gigantischen
Fußgängerplatz, der den Dimensionen des berühmten historischen Platzes von Isfahan entsprach, zu schaffen. Dieser Platz solle von Prachtgebäuden, wie zum Beispiel
einem Opernhaus, umgeben werden. Die größten und höchsten Bauwerke aber soll-
ten die Quelle des iranischen Reichtums zum Ausdruck bringen: Wolkenkratzer als
Verwaltungsgebäude der Ölindustrie. Ich erklärte so taktvoll wie möglich, dass mich
dieser Befehl Seiner Majestät aus vielen planerischen Gründen sehr unglücklich mache und berichtete darüber an einem Donnerstag meiner „kaiserlichen Kollegin“.
Ihre Majestät versuchte mich zu beruhigen. Sie meinte, ich wäre völlig im Irrtum,
wenn ich diesen Vorschlag als „Befehl“ auslegte. Seine Majestät sei kein autoritärer
Mann, und wenn er eine Idee äußere, so tue er das nur zu dem Zweck, um herauszufinden, wie sich Experten dazu stellten. Wenn also gewichtige Argumente
wachstum
gegen diese Idee vorlägen, so solle ich sie doch schriftlich darlegen. Dazu, meinte
ich, stehe keine Zeit zur Verfügung. Seine Majestät habe für Montag eine Sitzung anberaumt, bei der eine endgültige Entscheidung über den großen Platz getroffen
werden sollte. Dann, sagte Ihre Majestät, sollte ich versuchen, meine Bedenken ihr
darzulegen. Wenn sie mit mir übereinstimme, dann hätte sie das lange Wochenende (Freitag, Samstag und Sonntag) zur Verfügung, um Seiner Majestät die Argu-
mente vorzubringen.
Ich brachte die folgenden Argumente vor: Ein Platz solcher gigantischen Di-
mensionen könnte in der Sonnenglut Teherans von keinem Fußgänger überquert
werden. Der schöne historische Platz von Isfahan war für bestimmte Funktionen
gestaltet worden, die allesamt im modernen Iran nicht mehr existieren. In Isfa-
han waren beispielsweise Ritterturniere abgehalten worden und die umgebenden
Gebäude wurden als Zuschauertribüne benützt. Es war ein Ort der religiösen Ze-
remonien, dominiert von der großen Moschee. Der Platz fungierte aber auch als
regionales Handelszentrum, wo allmonatlich die Händler ihre Zelte aufschlugen.
Heute sind Ritterturniere nicht mehr üblich. Für große Sportereignisse gibt es Stadien. Der Handel wird in Geschäften und Kaufhäusern abgewickelt und Moscheen
stehen in genügender Anzahl zur Verfügung. Anhand einiger Bücher, die ich mitge-
bracht hatte, zeigte ich Ihrer Majestät Abbildungen italienischer Renaissancestäd-
te mit ihren dicht gewobenen städtischen Mustern, in dem ein ständiger Wechsel enger schattiger Gässchen und mittelgroßer, mit Kolonnaden umgebener Plätze ein
Höchstmaß an Urbanität erzielt. Die Ähnlichkeit der klimatischen Bedingungen in Erwägung ziehend meinte ich, dass sich für die autolose Innenstadt in Teheran eine ähnliche Gestaltung eignen würde.
Ihre Majestät erklärte ihr völliges Einverständnis mit den Argumenten und Vor-
schlägen und brachte zum Ausdruck, dass ich der Montags-Konferenz mit Zuversicht entgegensehen könne.
Es zeigte sich, dass sie zu optimistisch gewesen war. Am Montag erklärte Sei-
ne Majestät, dass der Platz aufgrund seiner Vorschläge zu planen und zu bauen
wäre. Er fügte hinzu, dass, wenn auch Ihre Majestät mit der Planungskoordination betraut worden sei, er als Schah alle Entscheidungen zu treffen habe. Er meinte
weiters, wenn gewisse Leute, die er nicht namentlich erwähnen möchte, damit fortfahren würden, Ihrer Majestät verrückte Ideen in den Kopf zu setzen, solche
Personen im Iran nicht weiter willkommen sein würden.
Ich stattete Ihrer Majestät einen Abschiedsbesuch ab, bei dem ich sie etwas nie-
dergeschlagen vorfand. Sie bedauerte, dass sie nichts erreichen konnte, aber Seine
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im sturm der entwicklung
Majestät habe die Diskussion mit der Drohung, dass man das ihr sehr wichtige Erbfolgegesetz (nachdem sie im Falle seines vorzeitigen Ablebens die Regentschaft für
den minderjährigen Sohn weiterführen sollte) nicht beschließen würde, abgebrochen. Der Generalplan wurde, beeinflusst von den imperialistischen Wünschen Seiner
Majestät, mit einem Minimum meiner persönlichen Anteilnahme durch die Partner
und Associates fertiggestellt und formell angenommen. Er musste inzwischen wegen des unaufhaltsamen Bevölkerungswachstums wiederholt modifiziert werden.
Mit diesen Änderungen hatte auch die Vergabe des U-Bahnbaus viel zu tun. Ursprünglich hatte die Sowjetunion das Anbot gemacht, die Konstruktion der U-Bahn
praktisch umsonst zu unternehmen. Als sie hierfür aber immense Öllieferungen
forderte, wurde der Auftrag der Eigentümergesellschaft der Pariser Metro erteilt,
die auch mit der detaillierten Ausarbeitung unseres Generalplanes beauftragt wurde. Ob und wie erfolgreich jene Probleme gelöst wurden, die aus der Landflucht
resultierten und zu der explodierenden Metropole Teheran führten, entzieht sich meiner Kenntnis.
Als auch eine Konsulententätigkeit für das Militärregime Venezuela über Stadt-
planungsprobleme von Caracas fruchtlos verlief, war unser Glaube erschüttert, dass Planung in Diktaturen leichter als in marktwirtschaftlichen Demokratien sei.
Russland
Wie verhält es sich wohl mit Stadtplanung in Oststaaten, die sich ja der
Planwirtschaft verschrieben haben, und in denen, da alles dem Staat gehört, das
Profitmotiv ausgeschaltet ist? Einen ersten Einblick hofften wir zu erhalten, als
1963 eine vom US-Außenministerium geförderte Delegation von ungefähr vierzehn
russischen Kollegen und zwei Dolmetschern auf einer Rundreise unser Büro in
Los Angeles besuchte. Zwei Dolmetscher waren deshalb anwesend, weil einer der russischen Delegation angehörte, aber das US-Außenministerium fand, dass ihm
ein zweiter beigegeben werden müsse, um darüber zu wachen, ob sein russischer
Kollege alles richtig übersetze.
Um unseren Gästen einen Überblick über die Tätigkeit eines privatwirtschaft-
lich geführten Betriebes zu vermitteln, präsentierten wir einige unserer Architek-
tur- und Planungsprojekte. Die Herren zeigten sich milde interessiert, stellten nur
wenige Fragen, die Atmosphäre war einigermaßen steif. Ich schlug deshalb vor, dass die gesamte Gruppe mich zum Nachtmahl in unserem Haus besuchen sollte.
Obwohl ich meine Frau Kemija, mit der ich damals gerade ein Jahr verheiratet war,
wachstum
erst um fünf Uhr nachmittags von der bevorstehenden Invasion von etwa zwanzig
Russen und Amerikanern verständigte, reagierte sie gefasst und bereitete nicht nur
ein ausgezeichnetes Mahl, sondern deckte sich auch mit einer beträchtlichen Men-
ge von Wodka ein.
Die Russen, sehr zivilisierte Gäste, überreichten uns Geschenke, Kunst und Ar-
chitekturbücher, zum Beispiel über alte russische Kirchen. Meine Frau bekam Ka-
viar und kleine Volkskunstobjekte, offensichtlich Massenproduktion.
Während der Cocktailstunde tranken die Russen amerikanischen Whisky, wäh-
rend die Amerikaner den russischen Wodka bevorzugten. Als sich die Zungen zu
lösen begannen, entwickelte sich ein reges Streitgespräch. Es ging aber nicht um
die Vor- und Nachteile professioneller Aktivität in dem einen oder anderen Wirt-
schaftssystem, sondern um die Rivalität zwischen Stadtplanern und Architekten.
Bald bildeten sich zwei Parteien, eine aus russischen und amerikanischen Planern
und die andere aus russischen und amerikanischen Architekten. Wie tief dieser
völlig sinnlose Konflikt ging, zeigte sich während der Mahlzeit, als ich bei einhelliger Zustimmung einen Toast auf die Freundschaft beider Völker vortrug. Als ich
einen zweiten Toast auf die fruchtbare Zusammenarbeit von Planern und Architek-
ten aussprach, stand der Leiter der russischen Delegation, ein Planer, auf, rief laut
„Njet“ und erklärte, so etwas wäre unmöglich, was auch die amerikanischen Planer fanden. Trotz des Geplänkels verlief der Abend in bester Stimmung. Bekanntschaften wurden geknüpft, die sich anlässlich einer Studienreise nach Russland im
Herbst 1963 als hilfreich erwiesen.
In Begleitung des unvermeidlichen „Intourist“-Führers18 bewunderten wir auf
dieser Reise in Moskau die offiziellen Touristenattraktionen und waren durch die
beispielhafte Instandhaltung besonders der Kirchen beeindruckt. Die Untergrundbahn, deren „neobarocke“ Gestaltung mich etwas schockierte, funktionierte großartig. Auf den Fahrten durch neuere Stadtteile sahen wir Hauptstraßen von gigantischer Breite gezäumt von sterilen Wohnhochhäusern niederer Qualität. Hie und da
ein modernes Kaufhaus mit spärlich gefüllten Regalen. Man gewann den Eindruck,
dass die Planer des neuen Moskaus eine Mischung von Paris und New York vor Au-
gen gehabt hatten. Pariserisch waren die breiten Boulevards, New York war durch
Wolkenkratzer, in denen öffentliche Institutionen untergebracht waren, repräsentiert. Die Erwartung, dass es in einem kommunistischen Land keine Lichtreklame
18
Intourist war die ehemals staatliche Monopol-Reiseagentur für den Auslandsfremdenverkehr, die 1929 in der Sowjetunion gegründet wurde.
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geben würde, wurde enttäuscht. Die Namen staatlicher Betriebe oder politischer
Parolen wurden mit imponierenden Neonleuchten verkündet.
Bei einem Besuch im Moskauer zentralen Planungsbüro, einer Institution mit
16.000 Angestellten, wurde ich von einem der Direktoren freundlichst empfangen und ersucht, am nächsten Tag einen Vortrag vor einer größeren Gruppe von
Stadtplanern zu halten. Als ich mich unter Hinweis auf meinen amtlich festgelegten
Fahrplan, der für die nächsten Tage einen Besuch in Leningrad vorsah, entschuldigte, wurden sofort Arrangements mit dem dort befindlichen zweiten zentralen
Planungsbüro getroffen.
Leningrad, das frühere St. Petersburg, ist als Stadt Moskau weit überlegen. Vom
Zar Peter dem Großen 1703 mit der Absicht begründet, eine Öffnung zu Westeuropa
zu erzielen, wurde sie großzügig geplant und wegen des sumpfigen Terrains unter
schwierigsten Umständen und unter großen Menschenopfern errichtet. Am finnischen Meerbusen und in der Delta-Mündung der Newa gelegen, von Dutzenden
Kanälen durchzogen, erinnert es an die Stadt Venedig. Wie dort sind die meisten Häuser auf Holzpfeilern errichtet. Die größte Bautätigkeit fand zwischen 1801 und
1825 statt, als riesige Komplexe mit einer planerischen und architektonischen Einheit geschaffen wurden.
St. Petersburg oder Petrograd, wie es nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges ge-
nannt wurde, war aber auch der Ort, an dem die Kontraste zwischen dem Luxus der
Herrschenden und dem Elend der Bürger in der Vergangenheit am stärksten ausgeprägt waren. So war es dort ständig zu Unruhen gekommen, die im Sturm auf den
Winterpalast und damit der russischen Revolution 1917 ihren Höhepunkt fanden.
Leningrader sind, wie wir von unserer charmanten Reiseführerin, einer Archi-
tektin, erfuhren, sehr stolz auf die erhaltene Schönheit und auf die Geschichte ihrer
Stadt. Im Vergleich sei Moskau nur ein großes Dorf ohne Kultur. „Selbst die Revo-
lution“, meinte unsere Führerin, „konnten die in Moskau nicht zusammenbringen.“
Tatsächlich schien uns nach der Muffigkeit von Moskau die Atmosphäre hier leichter, liberaler und kultivierter.
Im Leningrader Planungsbüro hatte man sich auf meinen Besuch schon vor-
bereitet. In einem großen Raum hatten sich etwa 40 leitende Angehörige des
„Planungskollektivs“ versammelt, dem der Entwurf neuer Städte in vielen Teilen Russlands anvertraut war. Über Ersuchen des Vorsitzenden sprach ich über die
Probleme der amerikanischen Städte, über deren Lösungsversuche und meine
eigenen Gedanken zu diesem Thema. Unsere Reiseführerin, die als Dolmetscher
diente, übersetzte nicht nur flüssig, sondern, wie es mir schien, mit großer Ein-
wachstum
dringlichkeit und Begeisterung. Nachdem der heftige Applaus abgeklungen war,
wurde ich ersucht, wenigstens eines der neun an den Wänden ausgestellten Stadtplanungsprojekte näher zu betrachten, um es dann kritisch zu beurteilen. Mein
Versuch, mich dieser möglicherweise riskanten Aufgabe zu entziehen, indem ich
auf mein Prinzip verwies, im Ausland keinerlei Kritik zu üben, war ergebnislos.
Mich von dieser Aufgabe zu drücken, wäre eine unfreundliche Geste gewesen.
Nach einem kurzen Überblick konzentrierte ich mich auf ein Projekt für eine
Satellitenstadt von Nowo Sibirsk. Die Kritik war scharf. Die Stadt, meinte ich, wäre
nicht „lebenswert“, weil nichts vorgesehen war, um die Einwohner von den Um-
weltstörungen der großen Industriebetriebe abzuschirmen. Das Straßensystem, das in einem streng geometrischen Raster verlief, schien mir langweilig und steril.
Die endlosen Reihen identischer hoher Wohngebäude, der Mangel an städtischen
Plätzen und Parkanlagen, würde jede Identifikation mit Wohnung und Umwelt unmöglich machen. Zusammenfassend meinte ich, das Projekt erinnere mich an die
übelsten Beispiele kapitalistischen Spekulantentums, in denen alle menschlichen
Bedürfnisse auf dem Altar des Profits geopfert werden.
Hierauf erschall frenetischer Beifall. Etwas überrascht erkundigte ich mich, ob
die Übersetzung vielleicht ungenau gewesen wäre, ich hätte ja das Projekt in Grund
und Boden verdammt. Der Vorsitzende versicherte, die Kritik wäre richtig verstanden worden. Den Vorgang in einem Planungskollektiv erklärend wies er darauf hin, dass jeder Teamleiter für eine bestimmte Arbeit verantwortlich sei, dass aber alle
Projekte von allen Kollektivleitern beurteilt werden. Das Projekt, dem ich mich
zugewandt hatte, sei für eine solche Überprüfung für den nächsten Tag vorgese-
hen. Das Kollektivmitglied Soundso (er wies auf einen Mann hin) sei ihm schon
seit geraumer Zeit ein Dorn im Auge gewesen. Ich hätte also dem Gesamtkollektiv
einen großen Gefallen getan, indem ich auf die Unzulänglichkeiten seines Projek-
tes hingewiesen habe. Ergänzend meinte er, dass in mancher Beziehung der Planer nicht voll verantwortlich gemacht werden könne. Was die Lage der Industrien
betrifft, wäre es äußerst schwer, Einfluss zu nehmen. Diesen Produktionsstätten
verschiedener staatlicher Konzerne würde eine Verlegung oder Belastung mit Umweltschutzeinrichtungen unmöglich machen, ihr Plansoll zu erreichen. Ähnliches
gelte natürlich auch für militärische Einrichtungen. Planung, meinte er seufzend,
habe also leider seine Grenzen. Er erkundigte sich, ob es nicht ähnliche Schwierigkeiten in Amerika gäbe, eine Frage, die ich aus voller Überzeugung bejahen konn-
te. Immerhin, dachte ich mir im Stillen, wäre es in einem demokratischen System
wahrscheinlich leichter, im Nachhinein Umweltschutzvorkehrungen zu treffen.
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Auch würden die Folgen für den Verfasser eines unglücklichen Planes bedeutend harmloser sein, als jene, die ich unabsichtlich wahrscheinlich für einen Herrn des
Planungskollektivs bereitet habe.
Im Weißen Haus
Der tiefliegende Unterschied zwischen autoritärem und demokratischem
Verhalten wurde mir bewusst, als ich ungefähr zur selben Zeit, als wir an dem Generalplan für Teheran arbeiteten, jahrelang allmonatlich das Weiße Haus in Washington besuchte.
Nach einem Aufenthalt in Honolulu, der durch ein Projekt für die Planung des
Kerngebietes dieser Stadt notwendig wurde, beschloss ich, auf einer der fast unbe-
wohnten Inseln des Hawaii-Archipels einmal völlig auszuspannen. Ich wies meine
Sekretärin an, mir für zwei Wochen keinerlei Post zu übermitteln. Sie fragte scherzend, ob dies auch für Briefe aus dem Weißen Haus gelte, und ich erwiderte, in
diesem Fall könne sie eine Ausnahme machen. Das Hotel war ein idealer Ruheplatz.
Es bestand aus einem kleinen Zentralgebäude, das man mit dem Taxi vom Miniaturflughafen bequem erreichen konnte, und einer Anzahl von weit auseinander
liegenden Bungalows direkt am sandigen Strand. Zu diesem kam man nur zu Fuß oder mit einem kleinen Elektrowagen. Wir waren gerade beim Auspacken, als uns
ein Telegramm erreichte. Es teilte mir mit, ich wäre vom Weißen Haus zum Mitglied eines Komitees zur Verschönerung der Bundeshauptstadt nominiert worden, die
Vorsitzende erwarte meine Anwesenheit bei der Eröffnungssitzung in zwei Tagen.
Damit war der Erholungsurlaub beendet und ich war pünktlich bei der Sitzung
des Komitees, das aus etwa einem Dutzend Mitgliedern bestand, unter anderen
dem Bürgermeister der Stadt Washington, der George Washington hieß und Afro-
Amerikaner19 war, dem damaligen Innenminister Stewart Udall, Lawrence Rockefeller und anderen Persönlichkeiten der Stadt.
Der Vorsitz wurde von der First Lady, Frau „Lady Bird“ Johnson, geführt, die sich
in der für sie neuen Rolle etwas unsicher fühlte und eine programmatische Erklärung vorlas: Die nationale Hauptstadt Washington, hieß es dort, würde jährlich von
Millionen Besuchern als Aushängeschild der Nation besucht und solle daher durch
Schönheit beispielhaft wirken. Die Verschönerung Washingtons durch Blumenbee-
te wäre daher eine nationale Aufgabe, der sich dieses Komitee widmen müsse.
19
Begriff dem gegenwärtigen Sprachgebrauch angepasst.
wachstum
Die Diskussion konzentrierte sich auf rein kosmetische Aspekte. Eine wohlha-
bende Dame bot eine Spende von Hunderten blühenden Azaleenbüschen, die dankbar akzeptiert wurde. Schließlich griff ich in die Diskussion ein. Die Zielsetzung, die
nationale Hauptstadt beispielhaft zu gestalten, wäre äußerst lobenswert, sagte ich.
Es sei aber zu bezweifeln, dass Azaleenbüsche die Misthaufen, wie sie in den Slumgebieten das Straßenbild beherrschten, verdecken könnten oder das urbane Elend
nicht noch mehr akzentuieren würden. Verschönerung müsste viel tiefer eingreifen
und zu allererst „Hässlichkeit“ beseitigen.
Ich bat um Erlaubnis, Mrs. Johnson eine persönliche Frage zu stellen: „Wenn Sie
morgens aufstehen, waschen Sie sich zuerst das Gesicht und legen dann Make-up an oder machen Sie es umgekehrt?“ Mrs. Johnson erwiderte errötend: „Ich wasche
mich natürlich zuerst. Im Übrigen habe ich Ihre Frage verstanden. Vor unserer nächsten Sitzung werde ich mir die Slums gründlich ansehen.“
Nach der Sitzung bot ich dem Innenminister meinen Rücktritt an, da ich glaubte,
Mrs. Johnson in Verlegenheit gebracht oder gar beleidigt zu haben. Er lachte und
meinte, ich solle nur in diesem Sinne fortfahren, das sei genau die Rolle, die er mir
zugedacht habe. Die Komiteearbeit änderte sich in dem Maße der Eindrücke, die Mrs.
Johnson auf ihren Wanderungen durch die Stadt gewonnen hatte. Fragen der Stadtsanierung, der Wohnungsnot und Stadterneuerung wurden daraufhin diskutiert.
Das gesamte Komitee unternahm daraufhin Busrundfahrten in sogenannte Pro-
blemgebiete. Bei einer solchen Gelegenheit wurde die Scheu, die Mrs. Johnson als
„Südstaatlerin“ gegenüber der schwarzen Bevölkerung hatte, allmählich abgebaut.
Bei der Besichtigung eines schwarzen Gettos in der Vorstadt wurde die Komiteegruppe von Hunderten Frauen (die Männer waren an ihren Arbeitsplätzen) um-
ringt. Nach längerem Zureden entschloss sich Mrs. Johnson, von der Veranda eines
Einfamilienhauses eine kurze Ansprache zu halten. Sie sprach in herzlicher, einfacher Weise von den Problemen, die allen Frauen gemeinsam waren, über die Sor-
gen mit Ehemännern, dem Haushalt und vor allem mit Kindern aller Altersgruppen.
Eine Welle der Sympathie schlug ihr entgegen. Zum Entsetzen der Sicherheitsorgane begab sie sich in die Menge, wurde umarmt und geküsst. Als sie zum Komitee
zurückkehrte, schien sie tief gerührt.
Ich fühlte zunehmend Respekt und Bewunderung für diese außerordentliche,
kluge Frau. Ein Verhältnis des gegenseitigen Vertrauens und Freundschaft bahnte
sich an. Der völlige Mangel jeder Formalität im Weißen Haus, wo Arbeitsräume
und Privatzimmer durchmischt waren, stand in auffallendem Kontrast zu dem höfischen Zeremoniell in Teheran. Einmal passierte es mir, dass ich auf der Suche nach
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im sturm der entwicklung
einem Waschraum in den Schlafraum einer der Töchter geriet, die lesend in voller
Bekleidung auf dem Bett lag, nach einem freundlichen „Herein“ aufsprang und mir den richtigen Weg zeigte.
Schabanou Farah Diba und Lady Bird Johnson kannten einander und korrespon-
dierten häufig. Als Ihre Majestät Farah Diba mich einmal ersuchte, eine Botschaft
an die First Lady der USA zu übermitteln, empfing mich Mrs. Johnson zum Tee in
ihrem Boudoir. Plötzlich sah ich ein Tonbandgerät vor dem Kamin und erkundigte mich über dessen Zweck, worauf Mrs. Johnson gestand, sie habe gedacht, ich hätte
es mitgebracht. Als ich verneinte, meinte sie in aller Ruhe, dann gehöre es wahr-
scheinlich einer ihrer Töchter, die die Gewohnheit hätten, ihre Dinge herumliegen
zu lassen.
Die Zusammenarbeit mit Mrs. Johnson war deshalb von Wichtigkeit, weil sie
einen großen Einfluss auf ihren Gatten, den Präsidenten hatte. Die Zeitungen be-
richteten zum Beispiel, dass sie ihn zur Lektüre des von mir verfassten Buches The
Heart of Our Cities ermunterte, indem sie es jeden Abend auf seinen Nachttisch legte.
Die durch die Komiteearbeit erweckten Interessen hielten bei Mrs. Johnson an.
Auch nach dem Rücktritt ihres Mannes widmete sie dem Thema der Umweltplanung viel von ihrer Zeit.
Die Frage, ob umweltgerechte Planung in autoritären oder demokratischen Sys-
temen aussichtsreicher sei, kann damit beantwortet werden, dass sie in allen Wirtschaftssystemen, die sich dem materiellen Wachstum verschrieben haben, eine äu-
ßerst schwierige, langfristig Angelegenheit ist. In demokratischen Gesellschaften sind ihr wenigstens Chancen gegeben.
Wien Im Laufe der Entwicklung gab es persönliche freudige und tragische Er-
eignisse, die mein professionelles Leben beeinflussten. Mit Lazette van Houten,
die ich nach vollzogener Scheidung von Elsie 1952 geheiratet hatte, führte ich eine
glückliche und abwechslungsreiche Ehe, zeitweise in unserem New Yorker Apart-
ment, zeitweise in einem kleinen Haus in Brentwood, einem westlichen Vorort von
Los Angeles. Wir reisten viel und verbrachten jährlich einmal Urlaub in den verschiedensten Staaten Europas: Lazette, ursprünglich aus Ohio, liebte besonders die
österreichische Landschaft, und so kam es, dass wir alljährlich mindestens eine
Woche im Hotel Weißes Rössl am Wolfgangsee verbrachten.
wien
Dort lernten wir 1959 ein charmantes Mädchen kennen, Kemija Salihefendic, die
im Hotelbetrieb arbeitete. Aus freundschaftlichen Gesprächen erfuhren wir, dass
Kemija als achtjähriges Mädchen nach einer Flucht aus den jugoslawischen Kriegs-
und Partisanenwirren, bei denen ihr Vater getötet wurde und ihre Geschwister verloren gingen, 1945 mutterseelenallein in Südkärnten anlangte, wo sie schließlich
von einer Bauernfamilie aufgenommen wurde. Wir boten ihr, die sich zu einem
äußerst liebenswerten und tüchtigen jungen Mädchen entwickelt hatte, die Adop-
tion an. Diese lehnte sie mit Begründung ab, dass sie ihr eigenständiges Leben weiterführen wolle, bot uns aber ihre Freundschaft an. Von da an unterhielten wir eine rege Korrespondenz und trafen sie regelmäßig während unserer Sommerurlaube.
Während dieser Urlaube verbrachten wir regelmäßig auch einige Tage in Wien.
Die Besuche in meiner Vaterstadt waren mir ein Bedürfnis und berührten mich tief. Meine erste kurze Rückkehr nach Wien fand schon 1948 statt, als ich versuchte, mit
einem Gefühl des Heimwehs, das mich in meine Träume verfolgte, fertigzuwerden.
Dieser erste Besuch, den ich allein unternahm, verlief dramatisch. Schon die Ankunft an jener Stelle, wo einst der Wiener Westbahnhof stand, war ein Schock. Vom Gebäude war nichts als Schutt übrig geblieben. Man stieg einfach auf der Straße
aus. Ein altes Taxi in desolatem Zustand führte mich in das einzige damals von den
Besatzungsmächten nicht okkupierte Hotel Astoria, vorbei an den Ruinen der Ringstraße, vorbei an Bergen von Schutt, die über die gesamte Stadt verteilt waren. Den
ganzen Tag irrte ich durch diese Szenerie des Grauens, fuhr mit den alten Straßen-
bahnen, deren Fenster mit Brettern vernagelt waren, bis zum Wienerwald. Mit tie-
fer Trauer um diese Stadt und ihre Bewohner beendete ich meinen ersten Besuch.
Im Gegensatz zu vielen Freunden und Bekannten, die aufgrund ihrer Verfolgun-
gen und Misshandlungen, sei es der eigenen oder der an ihren Verwandten, ein
Hassgefühl gegen Österreich und besonders Wien entwickelten, das sie dazu veranlasste, ihre Vaterstadt nie mehr zu betreten, habe ich solche Gefühle nicht auf-
kommen lassen. Ich war überzeugt, dass jede Verallgemeinerung von Urteilen und
Vorurteilen gegenüber Nationalitäten oder Rassen ethisch unverantwortlich sei.
Aufgrund meiner Erfahrungen mit Massenhysterie und Terror konnte ich ver-
stehen, dass Hunderttausende es nicht gewagt hatten, sich der Nazi-Irrlehre zu
widersetzen, obwohl sie ihr gleichgültig oder sogar ablehnend gegenüberstanden. Darüber hinaus wusste ich, dass alle wahren Freunde meiner Jugend, von denen
ich viele bei meinen Besuchen in Wien wiedertraf, sich in dieser Schreckenszeit ordentlich verhalten hatten. Viele von ihnen waren zeitweilig emigriert, andere hat-
ten unter größtem persönlichen Einsatz in der Widerstandsbewegung gekämpft.
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im sturm der entwicklung
Selbst unter jenen, die dem Selbsterhaltungstrieb und dem Zwang folgend in der
Armee oder Parteimitglied waren, waren viele, die sich auch während des größten Druckes Verfolgten gegenüber human und anständig verhalten hatten. Dieses
Wissen hat mich davor bewahrt, meiner Vaterstadt je mit feindseligen Gefühlen gegenüberzustehen.
Als daher Lazette 1960 vorschlug, wir sollten uns doch in Wien einen Wohnsitz
für unsere alten Tage schaffen, stimmte ich begeistert zu. Wir erwarben im vierten
Bezirk, am Schwarzenbergplatz20, eine Wohnung, die, weil sie vorher von der russischen Besatzung benutzt worden war, einem Schutthaufen glich. Als wir die ver-
wüstete Stätte besichtigten, in der die Parkettböden durch Lagerfeuer verbrannt, der Verputz von den Wänden und Decken abgefallen, Waschbecken und Toiletten
herausgerissen waren, brach Lazette in Tränen aus. Aus dieser Ruine, meinte sie, könne niemals eine Wohnung werden. Mich aber reizte die Aufgabe, in einem 1890 erbauten Gebäude mit dicken Mauern und hohen luftigen Räumen eine moderne
Wohnung einzurichten. Mithilfe jener Erfahrungen, die ich in den Jahren 1933 bis
1938 bei Umgestaltung und Einrichtung alter Wohnungen gewonnen hatte, ging ich mit Eifer daran, ein behagliches Heim zu schaffen, das ab 1974 mein Hauptwohnsitz in Europa wurde.
Nachdem die Aufträge für diese Wohnung an die Handwerker vergeben waren,
verließen wir Wien und baten Kemija, die Bau- und Einrichtungsarbeiten in unserer Abwesenheit zu überwachen. Sie erledigte diese Aufgabe mit solchem Geschick, dass schon bei unserem nächsten Ferienaufenthalt, im Sommer 1961, die Wohnung
soweit fertiggestellt war, dass wir zusammen mit einigen alten Freunden eine in-
formelle Housewarming-Party geben konnten, bei der Lazette und Kemija gemeinsam die Bewirtung übernahmen.
Lazettes Tod
1962 reiste ich für drei Tage nach Österreich, um meine künstlerisch be-
gabte Tochter Peggy zur Sommerakademie von Oskar Kokoschka in Salzburg zu
bringen. Auf der Durchreise hielt ich mich kurz in Wien auf, um Kemija zu besuchen
und die fertiggestellte Wohnung zu sehen. Um 3.00 Uhr morgens erreichte mich
die telefonische Nachricht, dass Lazette, mit der ich abends noch ein langes Tele-
fongespräch geführt hatte, plötzlich während eines Gespräches mit einer Freundin
20
Die Wohnung befindet sich im Dritten Wiener Gemeindebezirk, am Schwarzenbergplatz.
wien
in unserem Haus in Los Angeles einem Gehirnschlag erlegen war. Völlig verstört
kehrte ich nach Los Angeles zurück, wo nur die liebevolle Betreuung durch meinen
Sohn Michael einen Nervenzusammenbruch verhinderte. Die Besprechungen mit
dem profitgierigen privaten Bestattungsunternehmen waren widerlich. Völlig ver-
zweifelt erledigte ich testamentarische Angelegenheiten und kümmerte mich um die künftige Versorgung von Lazettes alter Mutter. Daraufhin war es mir unmöglich
an jenen Orten in Los Angeles und New York, die ich mit Lazette zusammen be-
wohnt hatte, weiter zu leben. Ebenso unmöglich schien mir, meine Arbeit im Atelier wieder aufzunehmen.
Kemija
So kehrte ich nach Wien zurück, um mich in der von Erinnerungen unbe-
lasteten neuen Wohnung in Arbeit zu vertiefen. Um meinen Schmerz zu vergessen, arbeitete ich von frühmorgens bis spät in der Nacht an dem englischen Manuskript
für das Buch The Heart of our Cities.
Kemija, die den Haushalt führte, erklärte mir plötzlich anlässlich eines Nacht-
mahls, sie wolle mich nicht mehr wie bisher gewohnt „Papachen“ nennen, da sie ganz
andere Gefühle für mich entdeckt habe. In meiner Trauer nahm ich diese Bemerkung
nur oberflächlich zur Kenntnis, um mich erst viel später ihrer vollen Bedeutung zu
besinnen. Ich verließ Wien nach einigen Monaten, Kemija, die in der Zwischenzeit diplomierte Kosmetikerin geworden war, blieb in der Wiener Wohnung.
Zu Weihnachten 1962 traf ich Kemija in New York, von wo wir zusammen nach
Los Angeles reisten. Das „Happy End“ war, dass wir trotz Stirnrunzelns vieler Freunde und Bekannter wegen des dreiunddreißigjährigen Altersunterschiedes am 28. Feber 1963 heirateten.
Wir waren uns einig, dass wir ein neues Heim in Los Angeles benötigten, um
die Trauer, die wir beide über Lazettes Tod empfanden, zu überwinden. Aber es
war Kemija, die mit unfehlbarem Instinkt unter vielen Angeboten jenes einzigartige Haus fand, in dem ich mich sofort zu Hause fühlen konnte und trotz meiner finanziellen Bedenken auf dessen Erwerb bestand.21 Es entsprach völlig meinen ästhetischen Ansprüchen, sodass wir es nicht einmal umbauen mussten.
Die Vorzüge dieses Hauses waren nicht nur seine Geräumigkeit, die günstige
Anordnung der Räume zueinander, sein großer Garten mit uralten Platanen, son21
Das Haus befand sich in 315 North Beverly Glen Boulevard, Los Angeles.
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im sturm der entwicklung
dern auch seine völlige Übereinstimmung mit den klimatischen Verhältnissen von
Südkalifornien. Es war eine getreuliche Kopie eines südspanischen Herrenhauses, einer sogenannten Hazienda. Mit seinen eigens von Mexikanern errichteten
dicken Außenmauern aus Adobe (Lehmziegeln), seiner umrahmenden schatten-
spendenden Kolonnade, seinen aus vier Schichten roter Dachziegel bestehenden
Eindeckung, hob es sich vorteilhaft von den typischen kalifornischen Häusern ab, einschließlich den sogenannten „hochmodernen“. Der Aberglaube, dass man in
Südkalifornien ohne Klimaanlage nicht existieren könne, war durch die energiebe-
wusste Bauweise dieses Hauses, dessen Inneres während Hitzewellen angenehm kühl blieb, überzeugend widerlegt.
Wir konnten es erst am 14. Dezember 1963 in Besitz nehmen. Nachdem wir äu-
ßere Dekorationselemente entfernen, zwei Räume ausmalen und das Ganze mit
modernen Möbeln, meist skandinavischer Herkunft, ausstatten ließen, eröffneten
wir das Haus zu Silvester 1963/64 mit 100 Gästen. Unsere erstaunten Freunde bewunderten nicht nur die rasche Fertigstellung, sondern gewannen den Eindruck eines sehr schönen, schon lange bewohnten und behaglichen Heimes.
In diesem Haus, in dem wir bis 1974 lebten, hatte ich zum ersten Mal seitdem ich
Wien 1938 verlassen hatte, das Gefühl, in einer mir entsprechenden privaten Umwelt zu leben. In den vielen übrigen Wohnstätten hatte ich mehr oder weniger nur
„gehaust“. Es ist größtenteils Kemijas vielseitigen Talenten zu verdanken, dass wir
auch später in den verschiedensten Ländern nur noch schöne Wohnungen besaßen. Dabei haben wir immer versucht, eine Verbindung zwischen Altem und Neuem
zu schaffen. In Paris etablierten wir 1970 Wohnung und Büro in einem Gebäude des
19. Jahrhunderts. In Österreich bauten wir ein um 1900 errichtetes Gutshaus am Fuße der 2000 Meter hohen Rax in der Nähe von Prein zu einem Wochenend- und
Ferienrefugium um und verwandelten ein über mehrere Jahrzehnte vernachlässigtes Ödland in ein kleines Paradies. Was uns zur Ansiedlung auf diesem Besitz
„Bergholtzgut“ bewog, waren teils die Kindheitserinnerungen, die ich von den Ferien mit meinen Eltern in dieser Gegend hatte, teils die Pläne, in dieser sehr schönen Lage eine Muster-Bergbauernlandwirtschaft zu entwickeln. Hier sollten meine
Umweltplanungsbestrebungen praktischen Ausdruck finden.
Kollegen mag es merkwürdig erscheinen, dass ich niemals den Versuch unter-
nommen habe, mich im Neubau eines eigenen Hauses zu verwirklichen. Die Aufgabe, in Altes, Bestehendes neues Leben zu hauchen, hat mich immer bedeutend
mehr interessiert.
unvollendete sinfonien
Unvollendete Sinfonien Der wachsende Aufgabenbereich zwang uns besonders in den Jahren nach
1960 zur Straffung der Organisation. Eine exaktere Teilung der Arbeitsgebiete und
der Verantwortung war die Folge. Im Gegensatz zu früher wurde es für alle sie-
ben Partner unmöglich, jedem einzelnen der gleichzeitig stattfindenden Projekte
vollste Aufmerksamkeit zu widmen. Wenn trotzdem die Gesamtleistung zufriedenstellend gemeistert wurde, so war das nur dem Führungsteam von Associates und
Abteilungsleitern zu verdanken, das in langjähriger Zusammenarbeit aufgebaut
worden war. Diesem Team wurde nun Verantwortung übertragen.
Diese Delegierung von Verantwortung fiel mir trotz allem Vertrauen, das ich in
meine Mitarbeiter setzte, nicht leicht. Immer wieder gab ich der Versuchung nach,
durch die Zeichensäle zu wandern, mich an irgendeinem der Arbeitsplätze nieder-
zulassen, bei einzelnen Projekten Ratschläge zu geben, durch schnell hingeworfene
Skizzen Vorschläge zu machen oder auch Kritik zu äußern. Ich tat dies alles mit den
besten Absichten und mit der gebotenen Höflichkeit. Diese Gewohnheit wurde mir
von jenen, die für die Geschäftsgebarung verantwortlich waren, übelgenommen.
Sie meinten, ich reduziere die Effizienz. „Jeder deiner Spaziergänge“, musste ich hören, „kostet der Firma 30.000 bis 50.000 Dollar.“ Ich konnte mich diesem Argument nicht völlig verschließen. Andererseits wollte ich mich nicht mit der Rolle eines „big boss“ und einer „Repräsentationsfigur“ zufriedengeben. Man versicherte mir, dass
ich in diesen Funktionen unersetzlich sei.
Schließlich vereinbarten wir, dass ich zusätzlich zu meinen organisatorischen
Verpflichtungen jährlich ein oder zwei Projekte, die ich selbst auswählen konnte,
vom Entwurf bis zur Fertigstellung persönlich ausführen könnte. Verständlicherweise wählte ich Projekte, die im besonderen Maße von politischen und wirtschaftlichen Sachzwängen abhängig waren.
Obwohl ich mich diesen Vorhaben mit voller Energie widmete, sie in den meis-
ten Fällen starke öffentliche Zustimmungen fanden, und ich sie selbst als wichtige
Resultate meines Schaffens empfand, erlitten viele von ihnen das Schicksal, entweder gar nicht, oder viel später und in veränderter Weise von anderen ausgeführt zu
werden. Drei von diesen „unvollendeten Sinfonien“ erscheinen mir wichtig genug,
um sie zu beschreiben. Diese drei Projekte waren Traumprojekte, wie sie jeder Architekt ersehnt. Sie waren trotz ihres fantastischen Charakters realistisch, wurden
auch von Behörden und in den Medien ernst genommen. Man nannte sie „wertvoll“
und „erneuernd“.
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im sturm der entwicklung
Weltausstellung 1964
Das erste Traumprojekt betraf die für 1964 in Amerika angesetzte Interna-
tionale Weltausstellung. Da viele Städte der USA sich um den Sitz dieser Weltausstellung bewarben, setzte Präsident Eisenhower eine dreiköpfige Kommission ein,
welche die Vorschläge aller Bewerberstädte prüfen sollte. Sie sollte eine Empfehlung über den Standort der World’s Fair 1964 an den Präsidenten erstellen.
Wir waren von der Handelskammer der Stadt Washington D.C. aufgefordert
worden, ein Projekt auszuarbeiten, das finanziell durch den Broadwayproduzenten Roger Stevens, mit dem ich durch meine Theateraktivitäten 1939 bekannt geworden war, unterstützt wurde. Die Idee, Washington mit seinem Image als
Bundeshauptstadt, mit seinen Baudenkmälern, Prachtstraßen, nationalen Kunstund Kulturstätten als Sitz der Weltausstellung zu wählen, entbehrte nicht einer entsprechenden Logik. Wir legten deshalb Pläne, Zeichnungen, Berechnungen
und einen ausführlichen Bericht vor, der darauf hinauswollte, die etwas müde
gewordene Einrichtung einer Weltausstellung – die erste fand vor mehr als hundert Jahren im Londoner Kristall-Palast statt – wiederzubeleben. In der jüngsten
Vergangenheit war sie in zunehmendem Maße zur Propagandaveranstaltung der
Industrie und des Fremdenverkehrs herabgesunken. Zusätzlich war bedauerlich,
dass die gigantischen Mittel, die von Veranstaltern, Ausstellern und Stadtverwal-
tung investiert wurden, sich nach sechsmonatiger Ausstellungsperiode als Verschwendung erwiesen. Mein Konzept enthielt deshalb zwei grundlegend neue
Ideen: Erstens, die Ausstellung sollte als Leitmotiv die Frage, wie urbane Lebensqualität verbessert werden kann, verfolgen. Zweitens, sie sollte von vornherein
so geplant und gebaut werden, dass sie nachher in eine Modell-Satellitenstadt
umgewandelt werden konnte. Von den Proponenten wurde ein unbebautes, landschaftlich schönes Grundstück in der Umgebung von Washington gesichert.
Nach Schließung der World’s Fair, für die man mit täglichen Besucherzahlen von
etwa fünfzig Millionen Menschen rechnete, würden der neuen Satellitenstadt be-
deutende städtebauliche Leistungen, wie sie für die Weltausstellung geschaffen
werden mussten, zur Verfügung stehen: Schnellbahnlinien und Schnellstraßen, welche die Verbindung zu den Zentren von Washington und Baltimore herstellen
würden; die gesamte technische Infrastruktur und deren Leitungsnetz für Wasser, Elektrizität, Heizung und Klimatisierung sowie alle Entsorgungseinrichtungen;
Fußgängerbereiche, Grünanlagen, Elektrofahrzeuge, die den Fußgängerverkehr
unterstützten. Weiters würde die künftige Stadt durch Umwidmung der Ausstellungshallen und Verwaltungsgebäude in Opernhaus, Theater, Rathaus, Museen,
unvollendete sinfonien
Vergnügungspark, Einkaufsbasar, Hotels usw. über wichtige städtische Einrichtungen verfügen.
Einige Wochen nachdem wir, so wie die Vertreter aller anderen Städte, unser
Projekt vor der Kommission präsentiert hatten, wohnten mein Partner Edgardo
Contini und ich einer Veranstaltung der „Architectural League“ in New York bei.
Wir wurden verständigt, dass über Radio und Fernsehen die Nachricht verbreitet worden war, dass die Kommission sich für unseren Entwurf und damit für die
Weltausstellung in Washington entschieden hätte. Freudig umarmten wir einander, wir wurden umjubelt.
Unser Freudentaumel aber endete mit den Morgenzeitungen. Diese meldeten,
dass Nelson Rockefeller, der Gouverneur des Staates New York, den erkrankten
Präsidenten Eisenhower im Spital aufgesucht habe, um ihm mitzuteilen, dass die
amerikanische Finanzwelt für eine Weltausstellung außerhalb der Stadt New York
keinen Cent beisteuern würde. Unter diesem Druck blieb Eisenhower nichts anderes übrig, als die Entscheidung seiner Kommission zu ignorieren und zugunsten einer World’s Fair in New York zu entscheiden.
Im Frühjahr 1960 brachte die buchmäßig aufgemachte Kulturzeitschrift Horizon
einen achtseitigen Artikel, in dem das Washington Weltausstellungskonzept umfas-
send illustriert dargestellt und gepriesen wurde. Die Architekturkritikerin der New
York Times, Ada Luise Huxtable, appellierte darin an die Veranstalter der World’s Fair, doch wenigstens den Grundideen des Konzeptes zu folgen:
„Der von Victor Gruen eingebrachte Plan für die Weltausstellung sieht vor, das
Ausstellungsgelände in der Folge als Stadtteil zu nutzen – er ist eine in Originalgröße vorgebrachte Demonstration dessen, was die Stadt der Zukunft sein kann ...
Das beeindruckende Merkmal ist, dass es sich um einen Plan handelt, der wieder-
verwertbar ist. Nach der Fertigstellung der Ausstellung sollen Rummelplatz und
Installationen in eine neue Sattelitenstadt umgewandelt werden.“22 Nichts dergleichen geschah. Die Weltausstellung hinterließ nach sechs Monaten den üblichen
Schuldenberg und unverwertbare Hallenreste.
Valencia
Die zweite „unvollendete Sinfonie“ war der Plan einer Stadt für 250.000 Ein-
wohner auf einem rund 200 Hektar großen Grundstück, das bisher als Farmland ge22
Ada Louise Huxtable, Out Of A Fair, A City. In: Horizon Vol. II, No. 5 (Mai 1960), 80-89.
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im sturm der entwicklung
dient hatte. Das Ungewöhnliche an diesem Projekt war nicht nur seine Größe, sondern
auch, dass wir es mit einem idealistischen Auftraggeber zu tun hatten. Dieser bestand
aus dreißig Personen. Ich lernte sie alle anlässlich der ersten Besprechung in einem der vornehmen alten Klubs von San Francisco kennen. Das Oberhaupt, Scott Newhall
(Herausgeber der liberalen Zeitung San Francisco Chronicle), erklärte, dass ich mich in der Gesellschaft der Angehörigen der Familie Newhall befände – den Enkeln und
Urenkeln jenes Mr. Newhall, der zu einer Zeit als Los Angeles noch ein unbedeutendes
Dorf war, vierzig Kilometer außerhalb einen Landbesitz für eine große Ranch erwarb. In der Zwischenzeit habe sich vieles geändert. Das Los Angeles Becken und die
anschließenden Hügeln und Täler waren zur Wohn- und Arbeitsstätte von rund sie-
ben Millionen Menschen geworden. Die ursprünglich vierzig Kilometer entfernte
Siedlung hatte sich bis zu zwei, drei Kilometer an die Grenzen der Newhall Ranch
herangeschoben. Zwei Autobahnen und eine Bahnlinie durchkreuzen jetzt das Gelände. Der Anschluss an das kalifornische Wassersystem war hergestellt worden.
Schließlich war man vor einigen Jahren auf Öl gestoßen, das aber laut geologischem Gutachten nur noch für einen Zeitraum von zehn Jahren förderbar sein würde.
Die Familie, deren Mitglieder längst nicht mehr von der Ranch wirtschaftlich ab-
hängig waren, hatten beschlossen, das Andenken ihres Gründers auf seinem Land
durch die Errichtung einer Modellstadt zu ehren, die optimalen Umweltbedingun-
gen entsprechen und frei von den üblichen städtischen Missständen sein sollte. Die
Planung und Realisierung solle sich auf einen Zeitraum von zwanzig bis dreißig
Jahren erstrecken, und sie wäre frei von dem üblichen Druck der raschen Rentabilität. Die derzeitige Nutzung, Landwirtschaft und Ölförderung, könne während der ersten Bauetappen fortgesetzt werden. Finanzielle Probleme gäbe es ebenfalls
keine, da der Wert des hypothekenlosen Landes sich derart erhöht habe und durch
Planungsaktivitäten sich weiter erhöhen würde.
Wir gingen mit großem Elan an die Arbeit. Die Stadt sollte Valencia heißen, wes-
halb an der Grundsteinlegung sogar der Bürgermeister von Valencia aus Spanien
teilnahm. Wir dachten sie uns als wirtschaftlich autonomes Gebilde mit eigenem
Industrie- und Gewerbesektor, der in der Wüste im äußersten Norden liegen und direkten Anschluss an Eisenbahn- und Autobahnnetz erhalten sollte. Im Übrigen
sollte die Stadt mit einer Gesamtbevölkerung von 250.000 Menschen eine Föde-
ration von zehn semiautarken Teilstädten sein, die jede ihr eigenes Zentrum auf-
weisen sowie in mehrere Nachbarschaften gegliedert sein sollte. Die Anordnung der städtischen Teile folgte rhythmisch den Konturen des hügeligen Landes. Die
Wohndichte innerhalb jeder der Teilstädte sollte bedeutend höher sein als die in
unvollendete sinfonien
der Region von Los Angeles übliche. Dies sollte durch Reihenhäuser, Atriumhäuser
und Mehrfamilienhäuser erreicht werden; aber vor allem dadurch, dass jede der
Nachbarschaftsgruppen frei von inneren Fahrstraßen wäre. Für den Autoverkehr gäbe es nur Umfahrungsstraßen mit Gemeinschaftsgaragen. Ansonsten wären die
Teilstädte und Nachbarschaften ruhige Fußgängeroasen, womit die übliche große Landverschwendung für Autostraßen vermieden wäre.
Für Fußgänger leicht erreichbare Nachbarschaftszentren und Teilzentren soll-
ten nicht nur Einkaufsmöglichkeiten, sondern auch alle Gemeinschafts- und Versorgungseinrichtungen umfassen. Die geplante höhere Wohndichte ermöglichte
nicht nur, jede urbane Einheit von der anderen durch Grüngürtel zu separieren, sondern auch große reizvolle Gebiete völlig unbebaut zu lassen, die zum Wandern,
Reiten, für andere Sportausübungen und als Naturreservate erhalten blieben.
Sobald die Besiedelung der Teilstädte und ihrer Nachbarschaften genügend fort-
geschritten war, sollte mit der Konstruktion des übergeordneten, sehr kompakten
Stadtkerns, der zwischen Industriezone und den Teilstädten lokalisiert sein sollte,
begonnen werden. Das Modell dieses zentralen Kerns ist in dem Buch Das Überle-
ben der Städte dargestellt. Dort hätten Wohnungen für etwa 15.000 Menschen, Bü-
ros, Verwaltungsgebäude, Kultur und Vergnügungsstätten, Hotels, Verkaufs- und
Dienstleistungsbetriebe mit einer Gesamtnutzfläche von einer Million Quadratmeter untergebracht werden können.
Die Verbindung unter den Teilgebieten sowie mit der Industriezone und dem
Stadtkern sollte durch Schnellbahnen erfolgen, für deren Errichtung und Betrieb
namhafte Subventionen von Regierungsstellen in Washington zugesagt wurden.
Weiters war ein System von Fußgängerzonen und Radfahrwegen, das mit Überbzw. Unterführungen von übrigen Straßen separiert wäre, sowohl innerhalb der
Nachbarschaften als auch zwischen diesen, geplant.
Die konzeptuelle Planung wurde vom Familienrat Newhall gebilligt. Da aber
kein Mitglied der Familie jene Zeit und Energie, die für ein so großes Projekt erforderlich war, aufwenden konnte, wurde die Aktiengesellschaft „The California Land
Company“ gegründet. Mit deren Führung wurden erfahrene Bank- und Immobilienfachleute betraut. Es stellte sich heraus, dass idealistische Motive im Rahmen
konventioneller Geschäftsgebarung bald verloren gingen. Planungen, die sich vor
allem am Gemeinwohl ausrichten, sind in der Realität der profitorientierten Markt-
wirtschaft nur schwer realisierbar.
Eine Schwierigkeit war die Steuergesetzgebung der Vereinigten Staaten, durch
die sogenannte „Vermögensgewinne“ (capital gains) niedrig (damals waren es 25
267
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im sturm der entwicklung
Prozent), Einkommen aber hoch (damals waren es bis zu achtzig Prozent) besteuert wurden. Die herkömmliche Immobilienvermarktung sah also so aus, dass der
Landbesitzer nur die wichtigsten Aufschließungsarbeiten, wie Straßen und Leitungen, mittels Bankkrediten selbst besorgte, um dann „Landpakete“ verschiedens-
ter Größe an „Subdivider“ (Unterteiler) zu verkaufen. Dies hatte den Vorteil, dass
von den daraus erwachsenden großen Profiten nach Abzug der Investitionen nur
fünfundzwanzig Prozent an Vermögenssteuer bezahlt werden mussten. Diese Vorgangsweise hatte den Nachteil, dass es ungeheuer schwierig, wenn nicht überhaupt
unmöglich war, die vielen Subdivider dazu anzuhalten, den Leitlinien eines einzigen Gesamtplanes zu folgen.
Hätten andererseits die ursprünglichen Landeigentümer die Baulichkeiten selbst
plangemäß errichten lassen, dann wären sie von der Steuerbehörde als Bauunternehmer eingestuft worden und hätten hohe Einkommenssteuern aus dem Verkauf oder der Vermietung der Objekte zu zahlen gehabt. Außerdem standen die meisten
Bank- und Immobilienfachleute als echte Kalifornier einem öffentlichen Schnellbahnsystem trotz der angebotenen staatlichen Subventionen ablehnend gegenüber.
Sie konnten nicht glauben, dass ein Kalifornier von seinem Auto lassen würde.
Vom großen Plan blieb schließlich die generelle Anordnung der Teilstädte, ein
Teil des separierten Fußgängernetzes und das Konzept der polyzentrischen Organisation übrig. 1978 war Valencia noch immer in Bau. Die Entwicklung verlief
etwas langsamer als ursprünglich geplant, nicht zuletzt deshalb, weil der Bevöl-
kerungszuzug in der gesamten Region wegen Smog- und Verkehrsschwierigkeiten
praktisch zum Stillstand gekommen ist. Mit der Errichtung des Stadtkerns wurde deshalb noch nicht begonnen.
Welfare Island
Anlässlich eines Besuches bei einem unserer Klienten, Fred Richmond23,
kam uns eine Idee. Er hatte mich eines Abends in sein Apartment eingeladen, das im zwanzigsten Stockwerk eines Wolkenkratzers im elegantesten Uferviertel des
East Rivers in Manhattan lag. Von dort oben konnten wir auf das Lichtermeer der
Bezirke Queens und Brooklyn hinabsehen. Mitten im Fluss sahen wir einen schmalen dunklen Landstreifen, die sogenannte Welfare Insel, in paralleler Form den ge-
23
Frederick William Richmond war zu diesem Zeitpunkt (1958–1960) stellvertretender Finanzvorsitzender des Nationalkomitees der Demokratischen Partei.
unvollendete sinfonien
schäftigsten Gebieten von Manhattan vorgelagert. Es war auffallend bizarr, wie hier
in der Mitte einer der größten Metropolen der Welt völlig ungenutzt wirkendes
Land lag.
Am nächsten Morgen nahmen wir uns vor, die Welfare Insel bei Tageslicht zu
besehen. Der Weg dahin war kompliziert. Von Manhattan aus war die Insel über-
haupt nicht zu erreichen. Man musste über eine für den Schiffsverkehr erhöhte
Brücke zuerst nach Queens, um dann von dort über die einzige Zugbrücke zur Insel zu gelangen.
So leer, wie uns das von unserem hohen Beobachtungsposten schien, war die
Insel allerdings nicht. Auf ihr sahen wir imposante Ruinen, Schuttberge, Müllhalden und Tausende von Ratten. Die Insel hatte ursprünglich als Großgefängnis für
Schwerverbrecher gedient. Als sich die berüchtigte Al Capone-Bande nach Liquidierung der Wärter dort verschanzt hielt und ihr Unwesen trieb, musste die Insel
mit militärischer Hilfe zurückerobert werden. Die in diesem Kampf am Leben gebliebenen Verbrecher wurden am Festland in Gewahrsam genommen, die weitläu-
figen, demolierten Gefängnisgebäude der Welfare Island für immer gesperrt. Von den ursprünglichen „Wohlfahrtseinrichtungen“ war noch ein Heim für „gefallene
Mädchen“ übrig geblieben, dessen Insassen in der Zwischenzeit ältliche Damen ge-
worden waren, und zwei mittelgroße Spitäler, die wegen ihrer schweren Erreichbarkeit von Ärzten, Pflegern und Besuchern wenig geschätzt wurden. Es schien uns, als ob diese Insel wie ein im Archiv verstaubender Akt einfach vergessen worden
war.
Nachdem wir uns die notwendigen Planunterlagen verschafft hatten, legten
wir dem damaligen Bürgermeister von New York, Robert Wagner, einen Entwurf und ein Modell zur Nutzung der vergessenen Insel vor. Es sollte auf ihr ein neues
städtisches Viertel entstehen, in dem bis zu vierzigtausend Menschen aller Ein-
kommensschichten und ethnischer Zugehörigkeiten integriert werden sollten.
Das Viertel sollte mit allen Erziehungs-, Kultur- und Gesundheits-, Einkaufs- und
Vergnügungseinrichtungen ausgestattet werden. Als Rückgrat des Stadtteils sollte
statt der üblichen Hauptstraße eine etwa ein Kilometer lange, zweistöckige, überdachte, klimatisierte, aber mit Tageslicht erhellte Promenade fungieren. Auf einer
balkonartigen Zwischenebene würde ein öffentliches Verkehrsmittel in der Form eines „Carveyor“ (ein kontinuierliches Laufband mit fix montierten Wagen für je
zwei Personen) zirkulieren. Die Untergrundbahn, von der ohnehin zwei Linien
unter dem East River die Insel querten, sollte für die Inselbewohner eine eigene
Station etablieren. Zusätzlich konnten Fährschiffe und Seilbahnen die Verbindung
269
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im sturm der entwicklung
mit den Ufern herstellen. Auf der Insel sollte es keinen Autoverkehr geben. Jene
Bewohner, die dennoch eigene Autos besaßen, könnten diese in Garagen in Queens
unterstellen. Die Uferpromenaden auf beiden Seiten der Insel würden als Gärten gestaltet sein.
Der Bürgermeister nahm das Projekt mit großer Begeisterung auf und sorgte
auch dafür, dass es über Massenmedien der Öffentlichkeit bekanntgegeben wurde.
Auch diese begrüßten es wohlwollend. Dann aber kamen Bürgermeisterwahlen. Robert Wagner verlor die Wahl und sein Nachfolger, John Lindsay, betraute nach
einiger Zeit den von ihm geschätzten Architekten Philip Johnson mit der Ausfüh-
rung.24 Das Projekt wurde seinem Ausmaß nach verkleinert und seinem Charakter nach völlig geändert. Zurzeit ist es noch in Bau.25 Eine Seilbahnverbindung dient
als öffentliches Verkehrsmittel zwischen Manhattan und der Insel, die in der Zwischenzeit den Namen „Roosevelt Island“ erhielt.26
Da meiner Ansicht nach der neue Entwurf jedes soziale Engagement vermissen
ließ, äußerte ich dies Philip Johnson gegenüber. Die sich daraus ergebende lange
Korrespondenz wurde schließlich von Philip lapidar beendet: „Als Künstler ent-
werfe ich das, was mir persönlich gefällt!“
24
1969 unterzeichnete die New York State Urban Development Corporation (UDC) einen Pachtvertrag für die Insel und beauftragt die Architekten Philip Johnson und John Burgee mit der Planung von Sozialbauten, für ca. 20.000 Bewohner_innen. 25 Der Masterplan von Philip Johnson und John Burgee basierte auf drei Entwicklungsphasen: Northtown I und II und Southtown. Die erste Phase des Projekts, Northtown I, wurde 1975 abgeschlossen und verfügte über 2000 öffentlich gestützte Wohnungen. Der Bau der dritten Einheit, Southtown, begann 1998 und konnte bis heute nicht abgeschlossen werden. 26 Die Insel wurde 1973 nach Franklin Delano Roosevelt benannt.
VI. DE ARCHITECTURA
71: Victor Gruen an seinem 70. Geburtstag, Prein 1973 Courtesy Peggy Gruen Collection
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72: Portrait Victor Gruen, Los Angeles 1970 Courtesy Peggy Gruen Collection
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73: Victor Gruen, How to design a store, Los Angeles 1959 Courtesy Peggy Gruen Collection
74: Victor Gruen, Box Library of Congress, Foto: Anette Baldauf
Was ist Architektur? Für jemanden, der sich wie ich seit einem halben Jahrhundert mit der
Gestaltung jener Artefakta beschäftigt, die die menschliche Umwelt bilden oder
beeinflussen, stellte sich immer wieder die Frage: „Was ist denn eigentlich Architektur?“ Und: „Kann und darf ich mich selbst als Architekt bezeichnen?“ Mein
Tätigkeitsfeld umfasste Aufgaben verschiedenartiger Größe und Bedeutung (vom
Entwurf einer Tischlampe oder eines Sessels zu Einzelgebäuden der verschiedensten Verwendungsarten und schließlich zur Gestaltung von Gebäudegruppierungen und Stadtvierteln und zur Landschafts- und Regionalplanung), dass sich die Frage aufdrängt, ob all dies in einem Begriff auszudrücken sei.
Diskussionen mit meinen Berufskollegen über dieses Thema bringen mich der
Antwort auf meine Frage „Was ist denn eigentlich Architektur?“ ebensowenig weiter wie die Statuten der Standesorganisationen. Manche beschreiben Architektur
als Kunst und versuchen sie gleichzusetzen mit Musik, Malerei, Poesie, andere ver-
werfen diese Definition ebenso überzeugend, da Bauwerke ja als Gebrauchsartikel anzusehen seien. Viele meinen, Architektur sei eine Profession, wie etwa die
des Anwalts, des Arztes oder Veterinärs, und solle deshalb nur von jenen, die sich durch das vorgeschriebene Studium und Praktikum die notwendigen Kenntnisse
erworben haben, ausgeübt werden. Diese wenigen Auserwählten sollten durch
ihre Lizenz vor „Pfuschern“ geschützt werden. Die Vertreter der Wirtschaft hingegen, welche als Klienten die ausschlaggebende Rolle spielen, betrachten Archi-
tektur wieder als Dienstleistung, die danach zu beurteilen ist, auf welche Weise sie
zur Maximierung von Renditen beiträgt. Die Wirtschaft erwartet vom Architekten
lediglich „Dienst am Kunden“, das heißt bedingungslose Unterordnung unter wirtschaftliche Ziele zu möglichst niedrigen Preisen, und kümmert sich nicht darum, ob sich der Architekt als Künstler oder als akademischer Freiberufler fühlt.
Keine der Alternativen umschreibt die Tätigkeit, die ich ausübte, ganz. Ich begin-
ne daran zu zweifeln, ob ich denn wirklich ein Architekt bin und sehe wiederholt
276
de architectura
Beweise, dass diese Zweifel berechtigt sind. Ob ich Architekt bin oder nicht, hängt teilweise auch von dem Land ab, in dem ich mich befinde. In 21 der 50 Vereinigten Staaten von Amerika bin ich, wie gedruckte Zertifikate bestätigen, ein befugter und
lizenzierter Architekt. In einigen der übrigen 24 Staaten habe ich mich der Mühe, eine Lizenz zu erwerben, entweder nicht unterzogen, oder es hatte mir auch die
größte Mühe nicht genützt. In diesen waren nur Personen, die an einer der örtlichen Universitäten ein technisches Studium absolviert hatten, dazu berechtigt, sich
einer Lizenzprüfung zu unterziehen. In anderen Staaten der Welt bin ich je nach
Gesetzeslage entweder Architekt, da dieser Titel wie z. B. in der Schweiz gesetzlich
jedem, der Pläne unterzeichnet, zusteht, oder aber ist es mir, wie z. B. in Österreich,
untersagt, mich als Architekt zu bezeichnen oder auch nur bezeichnen zu lassen.
So hatte ich mich 1967 in Wien vor Gericht zu verantworten, weil ich anlässlich
von Vorträgen und in Zeitungsartikeln, bei Rundfunk- und Fernsehsendungen als
„Architekt“ tituliert wurde. Anklage gegen mich wurde erhoben von einer Gruppe
von österreichischen Architekten, über Veranlassung des Herrn Herbert MüllerHartburg, der danach strebte, Präsident der österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereinigung zu werden.1 Er hoffte, durch diesen Schritt Popularität zu
gewinnen. Es kam zu einer denkwürdigen Verhandlung, die zufällig in jenem Saal
des Bezirksgerichtes Innere Stadt angesetzt war, in dem ich in meiner Kindheit
vom Wohnungsfenster aus den Auftritten meines Vaters zusah.
Die Kläger waren durch die Anwaltskanzlei Dr. Gürtler vertreten, aber nicht per-
sönlich anwesend. Ich hingegen beschloss, ohne Anwalt meine eigene Verteidigung
zu übernehmen.
Einleitend rügte der Richter, dass im Gegensatz zum Angeklagten, der eigens aus
New York gekommen war, sich die klagende Partei lediglich durch einen Anwalt
vertreten ließ. Der Anwalt der Gegenpartei führte aus, dass in Österreich nur jene
als Architekt bezeichnet werden dürften, die Studium, Praktikum und Ziviltechni-
ker-Prüfung mit Erfolg absolviert hätten. Nur diese wären berechtigt, das Bundes-
wappen neben der Bezeichnung Architekt zu führen. Der Angeklagte erfülle diese
Bedingungen schon allein deshalb nicht, weil er amerikanischer Staatsbürger sei. Er meinte, mein Vergehen sei deshalb so bedeutend, weil sich im Telefonbuch nicht 1
Herbert Müller-Hartburg (1925–2011) war von 1968 bis 1970 Präsident der Architektenkammer für Wien, Niederösterreich und Burgenland und von 1970 bis 1978 Präsident der Bundesingenieurskammer. 1999 ernannte ihn die TU Graz zum Honorarprofessor. Müller-Hartburg baute u. a. die Großraum-Radar-Station am Kolomansberg, die katholische Kirche in Gablitz sowie den Florido Tower in Wien.
was ist architektur?
nur mein voller Name, sondern nach demselben auch die Silbe „Arch.“ befände. Ich
erwiderte, dies wäre doch wohl kein Titel, sondern diene lediglich dem Zwecke, eine Berufsbezeichnung anzugeben, um Verwechslungen auszuschließen.
Nun wandte sich der Richter streng an mich und fragte: „Was sind Sie denn wirk-
lich von Beruf, Herr Gruen?“ Auf diese Frage verweigerte ich die Antwort, mit der Bemerkung, dass ich mich sonst selbst inkriminieren würde. Der Richter lächelte. „Als
Angeklagter haben Sie natürlich das Recht, diese Antwort zu verweigern. Ich werde
Sie deshalb als Zeuge unter Eid vernehmen“, meinte er. Aufgrund der Vereidigung
wurde dann die Frage gestellt, womit ich denn meinen Lebensunterhalt verdiene und
welcher Beruf in meinem Reisepass eingeschrieben sei. Ich musste wahrheitsgemäß antworten, dass ich als Architekt arbeite und dass diese Berufsbezeichnung auch in
meinen Dokumenten enthalten sei. Weiters befragt musste ich gestehen, dass ich in
26 Staaten eine Lizenz zur Ausübung des Architekturberufes besäße.
Nun nahm der Richter den Kläger ins Verhör. Er wurde gefragt, ob er denn wisse,
dass Herr Gruen in Amerika tatsächlich ein bedeutender Architekt sei. Dies wurde
zugegeben, mit dem Zusatz jedoch, dass dies für Österreich nicht gelte. Nun stell-
te der Richter die Frage: „Wenn der Erzbischof von Boston zu Besuch nach Wien
kommt, ist er dann noch immer ein Erzbischof oder plötzlich etwas anderes?“ Der
Anwalt der Gegenpartei musste zugestehen, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach
auch in Wien als Erzbischof angesehen werden würde. „Ergo ipso“, sagte der Rich-
ter, „ist Herr Gruen auch in Wien ein Architekt. Sollten die gesetzlichen Bestimmungen etwas anderes sagen, dann sind diese Bestimmungen lächerlich und bedürfen der Änderung. Ich rate Ihnen, zu einem vernünftigen Übereinkommen mit
Herrn Gruen zu gelangen. Sollten Sie dazu nicht imstande sein, werde ich in einer
weiteren Verhandlung eine Entscheidung zugunsten des Herrn Gruen treffen. Die
Verhandlung ist geschlossen.“
Im Gang zog mich der Anwalt der Gegenpartei ins Gespräch. „Herr Architekt“, sag-
te er, „wie wollen wir die Sache aus der Welt schaffen?“ „Es genügt mir völlig, wenn
Sie mich als Herr Gruen ansprechen“, korrigierte ich ihn. Darauf schlug er den folgenden Vergleich vor: Ich könne die Berufsbezeichnung ohne Weiteres gebrauchen,
wenn ich das Wort mit einem „c“ und nicht mit einem „k“ („Architect“) schreiben würde. Er würde seinen Klienten raten, die Sache auf sich beruhen zu lassen, wenn
ich außerdem eine Spende von öS 10.000,-- an die Ingenieur- und Architekten-Vereinigung entrichten würde. Ich stimmte diesem faulen Kompromiss lächelnd zu.
Kurz darauf wurde bekannt, dass „Victor Gruen Associates“ im internationalen
Wettbewerb für den Entwurf des Hauptquartiers der Vereinten Nationen in Wien
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de architectura
den ersten Preis erhalten hatte. Österreichische Architekten wandten sich an mich,
in der Hoffnung, dass sie zu österreichischen Mitarbeitern des Teams ernannt
würden. Einer dieser Briefe kam von Architekt Herbert Müller-Hartburg, der in
der Zwischenzeit wirklich sein Ziel, Präsident der Vereinigung zu werden, erreicht
hatte. Er war adressiert an „Herrn Architekt Diplomingenieur Victor Gruen“ und begann mit der Anrede „Lieber Herr Kollege“.
Als die Stadtverwaltung von Wien mich mit einem städtebaulichen Konzept für
die Innenstadt (Kerngebiet Wien) betrauen wollte, wurde der Vertrag nominell an
einen meiner Angestellten, der die Berufslizenz besaß, ausgestellt. Die erste Be-
dingung des Vertrages lautete allerdings, dass der Auftragnehmer verpflichtet sei,
alle Arbeiten unter der Leitung des Herrn Victor Gruen durchzuführen. Das Projekt
für das Kerngebiet beeindruckte die Architektenschaft Wiens derart, dass ich da-
raufhin aufgrund einer Empfehlung der Ingenieur- und Architekten-Vereinigung mit dem Architekturpreis der Stadt Wien ausgezeichnet wurde. Seitdem scheinen sogar in Wien alle Zweifel darüber, ob ich Architekt sei oder nicht, verstummt.
Hingegen wurde mir in der Schweiz, wo der Architektentitel nicht geschützt
ist, im Verlaufe eines sechs Jahre lang dauernden Prozesses bewiesen, dass das,
was ich schuf, keine Architektur sei. In diesem Falle hatte ich geklagt und zwar die
Einkaufszentrum Glatt AG, weil sie die von mir stammenden Pläne für das multifunktionelle Stadtteilzentrum Glatt nach ihrer schriftlichen Annahme durch einen
anderen Architekten völlig entstellen ließ.2 Das Projekt wurde seines geistigen In-
halts beraubt und als reines Kommerz-Center erbaut.
Meine Klage auf Diebstahl geistigen Eigentums wurde mit der Begründung ab-
gewiesen, dass Werke der Architektur nur insofern gesetzlich geschützt seien, als
sie als Werke der Kunst verstanden werden könnten. Da aber der von mir entwor-
fene Gebäudekomplex in zweckmäßiger Weise menschliche Bedürfnisse befriedige,
könnte er, im Gegensatz etwa zum Petersdom, nicht als Architektur im künstlerischen Sinne bezeichnet werden. Es wäre meine Verpflichtung gewesen, allen Wünschen des Auftraggebers, auch wenn ich sie aus ethischen Gründen für schädlich
hielt, nachzugeben oder mich ohne jeden Anspruch vom Vertrag zurückzuziehen.
In der Schweiz also ist der Architekt ein völlig untergeordneter Erfüllungsge-
hilfe, der Interessen des Gemeinwohls und der Umweltkämpfer dem Profitdenken
des Klienten unterzuordnen hat. Der negative Ausgang des Rechtsverfahrens, der
2
Das Einkaufszentrum Glatt, meist nur das Glatt genannt, ist eines der ersten Einkaufszentren der Schweiz. Es wurde 1975 eröffnet und liegt in Wallisellen unmittelbar an der Stadtgrenze Zürichs.
architektur im chaos
auch vom Bundesgerichtshof bestätigt wurde, war eine große Enttäuschung für
meine Anwälte und mich. Er hat mich jede Menge finanzielle und nervliche Kraft
gekostet und für den gesamten Stand der Architektenschaft der Schweiz deren voll-
kommene Abhängigkeit manifestiert. Appelle, die ich diesbezüglich international an Berufsvereinigungen richtete, fanden keinerlei Widerhall. Diese Vereinigungen
haben längst ihre eigentliche Aufgabe, das Ansehen des Berufsstandes zu wahren,
aufgegeben. Ihr Tun beschränkt sich darauf, sich als Interessenvertretung vor Neu-
zuwachs zu schützen.
In Amerika habe ich mich trotz der großen Ehrungen, die das amerikanische In-
stitut der Architekten mir zukommen ließ (wie die Ernennung zum Fellow des Institutes, vielen Ehrenurkunden und Medaillen), an dem Vereinsleben wenig betei-
ligt. Bei einem der großen nationalen Kongresse in den Sechzigerjahren in Hershey,
Pennsylvania, konnte ich meine Anwesenheit nicht verhindern, da ich zusammen
mit dem Architekten Philip Johnson dazu auserkoren war, bei der Schlussveranstal-
tung eine Festrede zu halten.
Zusammen mit den Mitgliedern des Präsidiums und den Ehrengästen aus Politik
und Wirtschaft harrten wir geduldig während des ebenso langen wie kulinarisch mittelmäßigen Festmahls aus. Nur mit Mühe blieben wir während der endlosen
Ansprachen über Geschäftsordnungen wach. Im Saal trösteten sich über tausend
unserer Kollegen durch kräftigen Zuspruch zu Alkohol. Als der Vorsitzende endlich und mit langatmigen Vorstellungen verkündete, nun kämen zum Höhepunkt des
Abends die Vorträge zweier berühmter Architekten, erkannten wir, dass es völlig
vergebliche Liebesmüh wäre, über Architektur zu sprechen. Statt unsere Vorträge
zu halten, standen wir gleichzeitig auf, legten einander die Arme auf die Schultern
und sangen nicht gerade schön, aber laut das deutsche Volkslied: „Du, du, liegst mir am Herzen, du, du, liegst mir im Sinn, du, du, machst mir viel Schmerzen, weißt
nicht wie gut ich dir bin.“ So schloss der große nationale Kongress der Vereinigung
der amerikanischen Architekten in einem für diesen Berufsstand typischen Chaos.
Architektur im Chaos
Die Tragik des Architekturberufes liegt in der tiefen Kluft zwischen My-
thos und Realität. In der Volksmeinung existiert der Glaube an eine fast gottähnliche Allmacht des Architekten, der deshalb für alles, was an Unbehaglichkeit und
Hässlichkeit in unseren Siedlungen und Städten existiert, verantwortlich zu machen ist. Die Öffentlichkeit macht den Architekten verantwortlich für Verkehrs-
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de architectura
staus, Parkplatznot, für die Sterilität neuer Stadtviertel, für den Zerfall alter Stadt-
teile, für mangelhaftes Funktionieren des technologischen Apparates, für zu kleine
Wohnungen mit zu dünnen Wänden und Decken, ja selbst für die durch Naturkatastrophen wie Erdbeben ausgelösten Schäden.
Im Gegensatz zu diesem Mythos steht die Wirklichkeit. Der Architekt ist in unse-
rer materialistischen Gesellschaft meistens ein Dienstleistungssklave, dem es nur erlaubt ist, das zu Papier zu bringen, was dem Renditendenken seiner privaten
oder öffentlichen Dienstgeber am besten zu entsprechen scheint.
Architektur als Beruf hat seine Vergangenheit nicht überwunden und den An-
schluss an die Gegenwart nie ernstlich gesucht. Sie hat ihre Berufung, die mensch-
liche Umwelt zu gestalten, kampflos anderen überlassen, die sich weniger für Gestaltung als für Verunstaltung interessieren. In den meisten Fällen, wie beim Bau
vorfabrizierter Behausungen, bei der Gestaltung von Städten oder Stadtvierteln, bei der Planung von Verkehrs- und Produktionsanlagen usw., wird der Architekt
überhaupt nicht herangezogen.
Wenn er für Dienstleistungen überhaupt bemüht wird, dann sind alle wichtigen
Grundlagen für seine Tätigkeit durch Bestimmung der Lage, der Nutzung, der Grö-
ße, der Höhe, des Budgets festgelegt. Die Bewegungsfreiheit des Architekten wird
durch weitere Fesseln, wie die der Baupolizei, der Planungsbürokratie und der Bau-
industrie eingeschränkt. Seinem „Bauherrn“, also seinem Vorgesetzten und Befehls-
haber, steht der Architekt wehrlos gegenüber, weil seine Ausbildung ihm in keiner
Weise das Rüstzeug mitgegeben hat, die oft kurzsichtigen, schädlichen, manchmal gemeinwohl-gefährdenden Weisungen seiner Klienten infrage zu stellen.
Der mit der Vergangenheit verhaftete Architekt träumt manchmal von den „sa-
genhaften Zeiten“, in denen Mäzene ihren Geltungsdrang (mithilfe von Sklaven und
Leibeigenen) in stolzen Monumenten ausdrücken wollten, wobei sowohl jede Laune des Erbauers als auch die Ideen des Architekten Berücksichtigung fanden.
Dieser Traum kann nur äußerst selten erfüllt werden. Eine marktwirtschaftlich
ausgerichtete pluralistische Gesellschaft, wie sie aus der „industriellen Explosion“
hervorgegangen ist, hat die Zeit von feudalen Prestigebauten, seien es nun Paläs-
te, Dome, Kathedralen, Museen, Tempel, Repräsentationsmonumente, abgelöst.
Noch Mitte des 19. Jahrhunderts war es möglich, dass zum Beispiel Kaiser Franz
Joseph I. von Österreich mit einem Federstrich den Bau der Wiener Ringstraße und
damit den Abbruch Tausender Bauwerke (Stadttore, Basteien, die heute alle unter
Denkmalschutz stehen würden) in seiner „von Gott gegebenen Allmacht“ diktieren
konnte. So etwas ist heute nur in Diktaturen (egal ob rechte oder linke) vorstellbar.
architektur im chaos
So setzt denn der ehrgeizige zeitgenössische Architekt bei seinen Träumen, an-
deren und sich selbst ein Monument zu setzen, seine Hoffnungen auf arabische
Scheichs, kurzlebige Diktatoren, auf die Eintagsfliegen von Stammeshäuptlingen
in den Entwicklungsländern oder auf geltungsbesessene Milliardäre. Der Vorrat
an diesen „Idealklienten“ ist aber so klein, dass er nicht ausreicht, einen Berufsstand mit Hunderttausenden von Angehörigen beschäftigt zu halten. Selbst in der
Sowjetunion ist seit dem Tod Stalins mit Monumentalität kein Staat mehr zu machen.
Für repräsentative Prunkarchitektur gibt es also keinen Markt mehr. Im Gegen-
satz dazu beruht aber die Schulung des Architekten, soweit sie nicht rein technischer Natur ist, nur auf der Übermittlung historischen Formenwissens. Ich wurde
in dieser Beziehung so gedrillt, dass mir längst Vergangenes noch immer im Gedächtnis haftet. Ich weiß soweit Bescheid über dorische, ionische, korinthische Ka-
pitäle, über Architrave, Lisenen, Risalite, Postamente, Gewölbe und Kuppeln, dass
ich den Bau eines griechischen oder römischen Tempels ohne Weiteres übernehmen könnte. Ein Auftrag, den ich leider nie hatte.
Ähnlich geht es wahrscheinlich den meisten anderen Architekten. Die Aufträge, für
die wir geschult wurden, sind nicht vorhanden. Und die zahllosen Probleme, die wir
im Dienste der menschlichen Gesellschaft zu lösen haben, wurden in unseren Lehr-
jahren nie erwähnt. Wenn also Architekten ihre Schulen verlassen, sind sie unvorbereitet, in einer materialistischen, marktwirtschaftlichen Gesellschaft selbstständig zu
werden, geschweige denn soziale, humane, ökologische Lösungen zu finden.
Schätzungsweise finden sich von etwa eintausend Absolventen eines Architek-
turstudiums neunhundert lebenslänglich als Angestellte bei Baugesellschaften, Industriekonzernen oder Architektursupermärkten wieder. Fünf erhalten sich nach
frustrierenden Versuchen in der Praxis als Architekturjournalisten, -kritiker und
-historiker am Leben. Etwa vierzig betätigen sich in kleinen Ateliers, meistens ohne
viel Erfolg. Vielleicht vier erlangen als Leiter großer Architekturfirmen großes Ansehen als Geschäftsmänner und einer unter tausend bringt es zuwege, einen jener
raren Mäzene zu finden, um sich dann in verhältnismäßiger Freiheit als sogenann-
ter Formgeber zu verwirklichen.
Die Zahlen dieser Statistik sind wahrscheinlich ebenso unverlässlich wie jene,
die durch Meinungsforscher und Computer ausgearbeitet werden. Wenn sie aber
auch nur annähernd stimmen, beweisen sie, dass im Architekturberuf eine unüber-
brückbare Kluft zwischen dem Angebot und der Nachfrage an Architekten besteht.
Die Bautätigkeit ist wohl quantitativ beeindruckend, legt aber meist nur auf rück-
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de architectura
sichtslose Ausbeutung des Baulandes und der Bausubstanz Gewicht und erfüllt selten die Forderungen nach mehr Qualität.
Der Wirkungsbereich des Architekten ist weiters dadurch begrenzt, dass er in
den meisten wichtigen Belangen gezwungen ist, sich den Diktaten von Spezialisten
zu beugen, die sein Bauherr auf den Gebieten von Statik, Heizung, Belüftung, Be-
leuchtung, Klimatisierung, Verkehrswesen, Finanzierung hinzuzieht. Da der Durchschnittsarchitekt wenig oder nichts über diese Spezialgebiete weiß, ist er dem Heer
der sogenannten Fachleute wehrlos ausgeliefert, die viel über ihr eigenes Fach,
aber nichts über alles andere wissen. Da die verschiedensten Spezialisten sich ge-
legentlich auch gegenseitig in die Haare geraten, resultieren statt harmonischer
Kompositionen meist nur faule Kompromisse.
Schließlich ist der Architekt oft ein ohnmächtiger Zuschauer, wenn es zur Aus-
führung des Projektes kommt. Die Aufträge werden meist von Bauherrn vergeben,
und zwar entweder an jene, die die niedrigsten Angebote liefern, oder an jene, die
gute persönliche, geschäftliche oder politische Beziehungen zu ihm unterhalten.
Bauunternehmungen sind naturgemäß weniger daran interessiert, den Architekten
zufriedenzustellen als denjenigen, von dem sie Zahlungen erhalten. Sie schlagen
ihrerseits Projektänderungen vor, wenn ihr Materiallager und ihr Maschinenpark
dies nahelegen. Sie gaukeln dem Bauherrn vor, dass solche Änderungen entweder
Geld oder Zeit sparen.
Die Möglichkeit, als Künstler schöpferisch zu wirken, ist also in den meisten
Fällen beschränkt. Aber auch die Chance, als Freiberuflicher wirksam zu sein, ähnlich dem Arzt oder Anwalt, existiert angesichts des üblichen Honorierungssystems
nicht. Es stellt den Architekten auf eine Stufe mit dem Vertreter, zum Beispiel des
Immobiliengeschäftes. Nach diesem Honorierungssystem erhält der Architekt einen bestimmten Prozentsatz der Baukosten. Standesregeln empfehlen die Höhe
des Prozentsatzes und zwar in umgekehrter Relation zu den Baukosten. (Für ein
kleineres Bauwerk etwa 15 Prozent, für ein größeres bis zu etwa zwei Prozent der
Bausumme.) Diese Art der Honorierung ist unwürdig, ungerecht und demoralisierend, weil sie dazu neigt, große Leistungen zu bestrafen und kleine zu belohnen.
Da der Architekt nicht aufgrund seiner Leistungen, sondern auf der Basis der
von zahlreichen Zufällen abhängigen Kosten eines Bauwerkes honoriert wird, befindet er sich in einem bizarren Dilemma. Je gewissenhafter er seine Leistungen
erbringt, desto mehr Zeit muss er aufwenden, wobei sich gleichzeitig wegen der
Genauigkeit seiner Pläne die Kosten des Gebäudes vermindern und deshalb auch sein prozentuelles Honorar sinkt.
architektur im chaos
Schlägt der Architekt seinem Klienten bessere, haltbarere oder energiesparende
Maßnahmen vor, so wird er von diesem verdächtigt, dadurch die Baukosten und daher auch sein Honorar anheben zu wollen. Der gute Architekt ist gleichzeitig ein
miserabler Geschäftsmann.
Anders verhält es sich mit dem schlechten Architekten. Er ist bestrebt, seine
eigene Arbeit so billig wie möglich zu erstellen. Zu diesem Zweck bedient er sich
zum Beispiel einer umfangreichen Kartei, in der Reklame und Detailangaben aus
Architekturzeitschriften gesammelt werden. Diese werden dann Zeichnern zum
Kopieren übergeben. In seine Planung und seine Baubeschreibung nimmt er fabriksmäßig hergestellte Elemente der Bauindustrien auf. Diese zeigen sich erkennt-
lich, indem sie ihm die fertigen Zeichnungen ins Haus liefern. Er legt wenig Wert
auf Genauigkeit der Baudokumente und bewirkt dadurch, dass die mit der Ausfüh-
rung des Gebäudes konkurrierenden Bauunternehmungen mit Reserven für Ungenauigkeiten kalkulieren, und der Gesamtpreis des Gebäudes daher steigt.
Der gute Geschäftsmann, der notwendigerweise ein schlechter Architekt sein
muss, erzielt auf diese Weise niedrige Kosten seines eigenen Produktes, erhält aber
ein hohes Honorar, das sich als Produkt der erhöhten Baukosten ergibt. Dank sei-
ner höheren Profite kann sich der geschäftstüchtige Architekt höhere Ausgaben für Werbetätigkeiten und für die Ausstattung seiner Büroräumlichkeiten leisten
und mit etwas Glück und Geschick kann er sich zum Architektur-Supermann mit
hundert oder mehr Angestellten aufschwingen. Statt in ein Delikatessengeschäft gerät der Kunde in einen Supermarkt.
Das prozentuelle Honorierungssystem ist in Zeiten unstabiler Währungen auch
aus einem anderen Grund bedenklich. Hat der Architekt das Glück, seine Pläne in
der Zeit einer Rezession mit verhältnismäßig niedrigen Löhnen für seine Ange-
stellten anzufertigen, und fällt die Bauperiode in eine Zeit der Inflation, in der die
Baukosten stark ansteigen, dann kassiert er unverdienterweise einen gewaltigen Bonus. Bei umgekehrten Wirtschaftsverhältnissen – also Anfertigung der Pläne
während der Inflation und Ausführung des Projektes in der Rezession – kann dies seinen finanziellen Ruin bedeuten.
Dem größtenteils machtlosen Architekten bleibt in den meisten Staaten aber
eine Verpflichtung: Er trägt die Verantwortung für alle Mängel und Gebrechen je-
des von ihm entworfenen Gebäudes. Die Architekten in den USA versuchen sich
durch Haftpflichtversicherungen abzusichern, für die sie hohe Prämien zahlen.
Aber auch das hat seine Schattenseiten. Der Bauherr, der weiß oder sogar darauf
besteht, dass sein Architekt haftpflichtversichert ist, wird ihm ohne jede Gewis-
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284
de architectura
sensbisse alles anlasten, was in dem Gebäude oder in dessen Umgebung schiefgeht. Wir erlebten zum Beispiel, dass eine Dame beim Verlassen ihres Automobils
über eine Holzschwelle stolperte, die zwei Autoabstellplätze trennte, und sich das
Bein brach. Der Besitzer des Einkaufszentrums bezahlte einen beträchtlichen Schadenersatz, zog diese Summe aber mit der Begründung von unserem Honorar ab,
dass unsere Haftpflichtversicherung uns ohnehin schadlos halten würde. Die Ver-
sicherung zahlte denn auch, erhöhte aber sofort die Prämien und drohte, dass sie
im Wiederholungsfall die Versicherung kündigen würde.
Einem strebsamen Architekten verbleibt, falls er einen liberalen Klienten hat,
als einzige Möglichkeit, als Außendekorateur der Fassaden oder Innendekorateur
öffentlicher Räume zu arbeiten. Sein Bauherr wird ihm spielerische Betätigung ge-
statten, wenn die Dekorierung nicht viel kostet und so werbewirksam ist, dass sie
sich in der Rendite günstig auswirkt. Deshalb wetteifern viele Architekten, Deko-
rateure sein zu dürfen.
Aber auch diese Oberflächen-Maßnahmen erweisen sich bei der Mehrheit aller
Gebäude im Stadtgebiet als vergebliche Liebesmüh. In unseren chaotischen Städten
können architektonische Ausdrucksformen gar nicht mehr wahrgenommen werden, sie werden unsichtbar.
Unsichtbare Architektur
Die Überschätzung der Errungenschaften der Technologie auf Kosten
wichtiger menschlicher Werte hat mich schon in meiner frühen Jugend aufgeregt. Schon damals diskutierte ich über dieses Thema und verfasste einige Satiren als
Pfeile gegen den sogenannten technologischen Fortschritt.
Dieses in mir tief verwurzelte Gefühl, dass wir durch maßlosen Einsatz tech-
nologischer Hilfsmittel wohl den Anschein des Wohlstands hervorzaubern, aber dem Wohlbefinden der Menschheit ein trauriges Ende setzen könnten, vertiefte
sich noch, als ich 1941 nach Los Angeles zog. Dort musste ich am eigenen Leibe feststellen, dass besonders die technologische Errungenschaft des Autos, statt nützlich
zu sein, eine ganze Stadt terrorisiert und sie unbehaglich macht.
Im Gegensatz zu Wien und Manhattan, wo ich wie die meisten Bürger in verhält-
nismäßiger Unabhängigkeit vom Auto lebte, weil meine Wohnstätte nur ein paar
Minute von meiner Arbeitsstätte entfernt war und ich auch alle anderen Ziele, wie
Baustellen, Freunde, Restaurants und Theater zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen konnte, musste ich in Los Angeles erkennen, dass wir ohne
unsichtbare architektur
Auto von jeder beruflichen Aktivität, vom Einkauf, von der Geselligkeit und kultureller Betätigung abgeschnitten gewesen wären. Als meine Kinder heranwuchsen
und Wohn- und Arbeitsstätte getrennt wurden, wurden ein zweites und drittes
Auto notwendig, um Haushalt, Erziehung, Arbeit und gesellschaftliches Leben aufrechtzuerhalten.
Bei meinem Besuch amerikanischer Großstädte fand ich heraus, dass diese
Lebensweise sie alle ergriffen hatte. Die großartige Errungenschaft des jederzeit
zur Verfügung stehenden Solo-Verkehrsmittels schafft einerseits die Möglichkeit,
Entfernungen zwischen Wohn- und Arbeitsplätzen ins Maßlose zu steigern, bringt
andererseits aber Gefahren und Belästigungen mit sich. Diese sind Anlass dazu, sich ständig weiter vom Stadtzentrum wegzubewegen.
Urbanität
In Los Angeles hat die Ausweitung des zersplitterten Siedlungsgebietes
solche Dimensionen angenommen, dass sich das städtische Gefüge völlig auflöste, die Stadt zur Unstadt wurde, in der alle Tätigkeiten, die man unter dem Begriff
„Urbanität“ zusammenfassen kann, unmöglich wurden. Denn Urbanität als jene
Eigenschaft, welche die Stadt zur Wiege der Zivilisation, Wissenschaft und Kunst
machte, beruht darauf, dass ursprüngliche Belastungen des Einzelnen von der Gemeinschaft, der „Kommune“ oder „Munizipale“, übernommen werden. Es liegt
im Wesen der „Urbs“, dass sie kollektive Einrichtungen, Wasserleitung, Kanalisation, Energieversorgung und Sicherheitsorganisation ihren Bürgern zur Verfügung
stellt. Der Massengebrauch individueller Transportmaschinen ist im Rahmen ei-
nes Kollektivs eine Absurdität, ein existenzgefährdender Verstoß gegen alle Werte
der Stadt. Ebenso könnten alle Bürger darauf bestehen, ihre eigenen Ziehbrunnen,
Senkgruben und Schießgewehre zu besitzen.
Obwohl auch andere technische Neuerungen, wie zum Beispiel Klimaanlagen,
die natürliche Lebensweise beeinträchtigen, ist die Masse der Autos jener typische
Missbrauch der Technologie, der sich am deutlichsten manifestiert. Der kulturbe-
wusste Architekt muss feststellen, dass jede Anstrengung, das Äußere eines Gebäudes gefällig zu gestalten, eigentlich nutzlos geworden ist, denn in einer Unstadt,
in der alle Gebäude an reißenden Verkehrsströmen liegen, wird Architektur ebenso unsichtbar wie Gemälde in einer finsteren Galerie. Die volle Aufmerksamkeit des am Verkehr teilnehmenden Bürgers ist notwendigerweise auf die Tausenden
anderen, die hinter ihm, vor ihm, rechts oder links an der Verkehrsschlacht teil-
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de architectura
nehmen, und auf Ampeln, Verbotsschilder und -pfeile fixiert. Hie und da gelingt es grellen Plakaten und Leuchtschriften, seine Aufmerksamkeit für Sekunden zu
erlangen. Die Gebäude entlang der Verkehrsströme sind aber zur völligen Bedeu-
tungslosigkeit herabgesunken. In seinem Fortbewegungsbehälter wird der Bürger zum Architektur-Analphabeten.
Diese Aussichtslosigkeit, einem Bauvorhaben stärkeren Ausdruck zu verleihen,
mussten wir 1964 erleben, als wir einen Gebäudekomplex, der auch unser großes
Büro enthalten sollte, entwarfen. Nicht nur die sorgfältig entworfenen Fassaden,
sondern auch die mit viel Talent und Geld gestaltete Eingangshalle blieb „unsicht-
bare Architektur“. Selbst die liebevoll gärtnerisch gestaltete Fußgängerpromenade
zwischen den zwei Gebäudeteilen blieb in einer Stadt, in der die Menschen das
Zufußgehen verlernt hatten, menschenleer und unbeachtet. Die schöne Eingangshalle im Erdgeschoß spielte eigentlich nur bei der Eröffnung des Gebäudes und gelegentlich für den Briefträger eine Rolle. Unser Gebäude hatte nämlich, so wie
alle modernen Bürogebäude in Los Angeles, keine Eingänge, sondern Einfahrten.
Man betritt das Gebäude nicht, sondern befährt es. So gelangt man direkt in eines der drei Garagengeschoße im Keller und von dort per Aufzug zu den Büros.
Auch für die Planung wurde gefordert, dass alle menschlichen Bedürfnisse den
Verkehrserfordernissen unterzuordnen seien. Am Anfang jeder stadtplanerischen
Tätigkeit haben die Straßen und Parkmöglichkeiten zu stehen. Aufgrund der Zielsetzungen meiner Architektur-Philosophie sagte ich dem Automobil als falsch verstandenes Massenverkehrsmittel den Kampf an. Dieser Kampf, den ich durch mein
ganzes Schaffen hindurch führte, bestand darin, Zwangsmobilität zu verringern. Im
Gegensatz zu der von Le Corbusier mitverfassten „Charta von Athen“ hatten meine
Bemühungen zur Umstrukturierung von Städten das Ziel, großräumige Separierung der verschiedenen Lebensbereiche, Wohnen, Arbeiten, Lernen, Freizeit, zu
vermeiden. Die von Le Corbusier gepredigte „Entflechtung“ wollte ich durch enge,
„kleinkörnige Verflechtung“ ersetzen. Als zusätzliche Werkzeuge zur Befreiung der
Städte vom Terror des Automassenverkehrs sah ich den großzügigen Ausbau kollektiver Transportmittel (Autobusse, Straßenbahnen, Schnellbahnen, Untergrundbahnen) sowie die Eröffnung völlig autoloser städtischer Lebensbereiche. Diese
Zielsetzungen finden in meinen Schriften, aber auch in meinen Projekten Ausdruck:
In Fußgängerzonen in vorstädtischen und innerstädtischen Zentren, in von mir geplanten neuen Stadtteilen und Städten.
In diesem Kampf hielt ich der Öffentlichkeit immer wieder jene Gefahren vor
Augen, die sich durch Luftvergiftung, durch Verkehrsverletzte und -tote ergaben.
unsichtbare architektur
An erster Stelle des Sündenregisters gegen Automassenverkehr steht aber der ungeheuerliche Landverbrauch dieser Verkehrsart. Für Fortbewegung und Ruhen
beansprucht sie ein Vielfaches des Landes, das für alle sonstigen menschlichen Tä-
tigkeiten benötigt wird. Dieser unersättliche Appetit auf Land brachte es mit sich, dass zum Beispiel im Zentrum von Los Angeles zwei Drittel des städtischen Bodens
für den Verkehr und nur ein Drittel für Gebäude genutzt sind. Er bewirkt aber auch, dass im Umland der Städte die Gebiete, die für Landwirtschaft und für Erholung
lebensnotwendig sind, für Autobahnen und -straßen geopfert werden.
Aberglauben
Der Glaube an eine ständige Vergrößerung des Automobilbestandes ist nur
ein markanter Teil des generell vorherrschenden Aberglaubens, dass ungezügeltes
materielles Wachstum auf allen Gebieten fortgesetzt werden kann. Neben diesem
Aberglauben an ständiges Wachstum gibt es zwei irreale Träume des Wohlstandsbürgers, die im engen Zusammenhang miteinander stehen. Sie beruhen auf dem
weit verbreiteten Wunsch, die Sitten und Gebräuche einer feudalen Gesellschaft
auf eine demokratische Wohlstandsgesellschaft zu übertragen. In der feudalen Gesellschaft hatten die oberen Zehntausend ein Übermaß an Privilegien. Zu diesen
zählte zum Beispiel das Privileg der individuellen Mobilität durch die Nutzung von
eigenen Reitpferden und privaten Karossen. Diese Privilegien erzeugten zwar bei
den Unterprivilegierten ein hinreichendes Maß an Neid und Ärgernis, die Verände-
rungen hervorriefen, welche einem Großteil dieser Privilegien ein Ende bereiteten.
Dabei hatten diese keine Verkehrsstauungen zur Folge, erforderten keine Superstraßen oder Großampelanlagen. Dem Mobilitätsprivileg der oberen Zehntausend
genügten einige baumbeschattete Alleen.
Die oberen Millionen
Wenn aber diese Privilegien der „oberen Zehntausend“ in einer Wohl-
standsgesellschaft von den oberen Millionen in Anspruch genommen werden,
wenn diese Millionen in ihren eigenen Karossen zu fahren wünschen und in Millionen Lustschlössern in der Form gartenumringter Zweithäuser wohnen wollen, dann wird dieser Traum des Wohlstandsbürgers zum Alptraum. Alle müssen sich
über alle ärgern, weil alle finden, dass sie sich gegenseitig in die Quere kommen.
Über dieses Ärgernis hinaus aber verursachen die „oberen Millionen“ durch ihre
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de architectura
feudalen Manieren irreparable Umweltschäden. Im Fall der individuellen Mobilität
durch Fahrzeuge für Millionen erkennen wir schon heute aufgrund bitterer Erfah-
rungen, dass diese schließlich in kollektiver Immobilität resultieren muss.
Der Kampf gilt nicht dem individuellen Verkehrsvehikel als solchem (das durch
die Verwendung anderer Betriebsstoffe verbesserungsfähig wäre), sondern seinem
Missbrauch. Es steht außer Zweifel, dass das Automobil in verbesserter Form auch
in der Stadt, wenn es sich um raschen Einsatz handelt, wie zum Beispiel Feuerwehr,
Rettung, Ärztenotdienst, von großem Wert ist, besonders dann, wenn das Tempo
der Einsatzfahrzeuge durch das Verkehrsgewühl nicht zum Schneckentempo wird. Wie alt der Traum vom kleinen Eigenhaus im Grünen ist, wird durch ein Gedicht
von Kurt Tucholsky (1890–1935) aus den Dreißigerjahren illustriert: „Ja, das möchste:
Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse,
vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße; mit schöner Aussicht, ländlich-mondän,
vom Badezimmer ist die Zugspitze zu seh’n – aber abends zum Kino hast du’s nicht weit.“
Mein stetiger Feldzug gegen den Missbrauch des Automobils, den ich in Büchern,
zahllosen Artikeln und Vorträgen führte, brachte verhältnismäßig bescheidene Erfolge. Dafür aber umso schärfere Angriffe, anonyme Briefe, Morddrohungen und
dank der Macht der internationalen Autolobby allgemeine Unpopularität. Dies ist deshalb nicht verwunderlich, weil unter allen Spielzeugen, die die Technik dem
Einzelnen zur Verfügung gestellt hat, sich das Auto eine besondere Stellung als Statussymbol im Herzen der Menschen erobert hat.
Totengräber von Manhattan
In Manhattan wurde in den Sechzigerjahren unter dem Druck der Ge-
schäftswelt ein detaillierter Plan für die Errichtung von zehntausend Parkplätzen
in Hochgaragen für das Midtown-Gebiet, also das Geschäfts- und Kulturzentrum
New Yorks, propagiert. Ich kritisierte diesen Plan öffentlich, weil er nicht mehr
Kunden, sondern nur mehr Fahrzeuge in die ohnehin schon verstopften Straßen
bringen würde, und weil die Blechlagerhäuser städtischen Boden einnehmen würden, der somit für produktive Nutzung verloren gehen würde.
unsichtbare architektur
Ich erhielt die übliche Anzahl von Drohbriefen. Einer dieser Briefe war beach-
tenswert, weil er vom Präsidenten des größten New Yorker Warenhauses, Mr. Jack Strauss verfasst war, mit dem ich berufliche Beziehungen hatte. Er beschuldigte
mich, der Totengräber Manhattans zu sein. Ich retournierte das Kompliment, indem ich darauf hinwies, dass er als Verfechter des Monstergaragenprojektes ja
wohl mit größerer Berechtigung diese Bezeichnung verdiene. Es kam zu einer längeren persönlichen Aussprache während der ich Herrn Strauss einige Fragen vor-
legte: „Welcher Prozentsatz der Hunderttausenden von Kunden, die Macy’s täglich
besuchen“, fragte ich, „kommen gegenwärtig mit dem eigenen Automobil?“ Herr
Strauss berief seinen Statistiker, der ihm mitteilte, dass sich die Zahl zwischen ein
und zwei Prozent bewege. Trotzdem meinte Herr Strauss, dass dieser Prozentsatz
wohl erheblich erhöht werden könnte, wenn es die Möglichkeit gäbe, das Auto in
einer nahe liegenden Garage oder vor den 42 Eingängen seines Warenhauses abzu-
stellen. Ich wies darauf hin, dass selbst wenn vor jedem Eingang fünf Wagen parken
würden, dies nur in 210 zusätzlichen Kunden seinen Niederschlag fände. Selbst eine
mittelgroße Garage könnte nur einige tausend Kunden beisteuern. Dieser kleine
Gewinn würde dadurch aufgehoben werden, dass die durch das Garagenprogramm
künstlich hervorgerufenen Verkehrsstauungen und Gefahren Zehntausende der
jetzigen Kunden davon abhalten würden, zu Fuß oder mit dem Autobus ins Geschäft zu kommen. Jack Strauss meinte dann mit einem schlauen Lächeln, man
könnte vielleicht die Gebäude gegenüber des Macy-Warenhauses demolieren und
dort eine Monstergarage schaffen. Damit hoffte er, mit einem Schlag zwei Fliegen
zu treffen, denn die Gebäude gegenüber gehörten Macy’s größtem Konkurrenten, dem Kaufhaus Gimbel’s.
Meine Opposition gegen das Midtown-Garagenprojekt war erfolgreich, es ver-
schwand von der Bildfläche. Kurz darauf veröffentlichte ich im Sonntagsmagazin
der New York Times Pläne für ein Gegenprojekt, mit dem Ziel, die Kernteile von
Manhattan menschlicher, attraktiver und in der Folge auch für die Geschäftswelt
erfolgreicher zu gestalten. Aufgrund des Planes sollte die langgestreckte, aber
schmale Insel von Manhattan in ihren Hauptteilen völlig vom Oberflächenver-
kehr befreit werden und in eine Umweltoase nur mit Fußgängerhilfsverkehr (zum
Beispiel Elektrobussen) verwandelt werden. Der Autohauptverkehr, der über die
zahlreichen Brücken und Tunnels von anderen Teilen New Yorks und Umgebung
herbeiströmte, sollte durch ein peripheres Straßensystem mit integrierten großen
Untergrundgaragen aufgefangen werden. Dieser Plan erregte große Aufmerksamkeit und brachte es in den folgenden Jahren mit sich, dass wenigstens probewei-
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de architectura
se Straßenzüge wie die 5th Avenue und die Madison Avenue für den Autoverkehr
gesperrt wurden. Da aber diese Experimente halbherzig unternommen wurden,
fielen sie bald dem Druck der Autolobby zum Opfer.3
In der Höhle des Löwen
In ein zweites Abenteuer im Kampf gegen das Automobil ließ ich mich
ausgerechnet in der Weltmetropole der Autoerzeugung, in Detroit, ein. Dort war der Zustand der Innenstadt, die völlig zu veröden drohte, fast noch trauriger als in
Los Angeles. Die Verhältnisse waren so alarmierend, dass ich von der Handelskammer eingeladen wurde, im größten Saal der Stadt einen Vortrag über Möglichkeiten der Revitalisierung des Stadtzentrums zu halten. Die große Halle war zum Bersten
voll, Vertreter der Stadtregierung, des Handels und der Industrie (hauptsächlich
der Autoindustrie) waren erschienen. Ich stellte dar, dass die Verödung des Detroi-
ter Stadtkerns auf die Flucht der Bevölkerung und der Geschäftswelt in die sich immer mehr ausbreitende Besiedelung im Umland zurückzuführen sei. Diese Flucht
wurde ermöglicht durch das effiziente Stadtautobahnnetz und den Automassenverkehr. Der desolate Zustand der Stadt, ihre katastrophale Finanzlage und die völlige
kulturelle Verödung musste als direkte Folge des in Detroit verehrten Automobils angesehen werden.
Ich wartete auf eine Reaktion der Automobilindustrie, die auch prompt am
nächsten Morgen eintraf. Ich erhielt einen Telefonanruf der General Motors Gesellschaft, mit dem ich höflich aber nachdrücklich zu einem Besuch ins Hauptquartier eingeladen wurde. Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst. In der Höhle des
Löwen wurde ich überraschend freundlich empfangen. Es wurde mir mitgeteilt,
dass man mir einen Film vorführen wolle, der mich interessieren würde. Der aus-
gezeichnet gemachte Film war die deutlichste Verurteilung des Autos als Massen-
verkehrsmittel, die ich je gesehen hatte. Verglichen mit diesem Film konnten alle
meine Argumente als höflich und zurückhaltend bezeichnet werden. Der zweite
Teil des Films zeigte dann die offensichtlichen Vorteile von Massenverkehrsmitteln. Als die Lichter wieder aufblinkten, fragte ich mich erstaunt, wo ich denn eigentlich
sei. Im Hauptquartier von General Motors, wurde mir lächelnd versichert, aber in
der Unterabteilung für Autobusherstellung. Ich fragte, ob denn die Generaldirek-
3
Andy Logan und Brendan Gill, New City, Talk of the Town. In: New Yorker, 17. März 1956; Merchants Lose Downtown Blues. In: New York Times, 27. Februar 1955.
unsichtbare architektur
tion so einen Angriff auf ihr Hauptprodukt, das Privatauto dulde? Ich erfuhr, dass
sich die Generaldirektion nicht einmische, denn die Aufgabe der Unterabteilung sei es, Autobusse zu verkaufen und diese Aufgabe musste sie optimal erfüllen.
Die Automobilindustrie
Die amerikanische Automobilindustrie nahm meine Bedenken durchaus
ernst. Es wurde eine Sitzung der Präsidenten aller Automobilwerke einberufen,
bei der ich um Rat gefragt wurde, wie man für die Zukunft vorsorgen solle. Dies alles geschah, nebenbei gesagt, zu einer Zeit, in der noch niemand an eine Ölkrise
dachte. Was die Leiter der Automobilindustrie schon damals, in den frühen Sechzi-
gerjahren mit Sorge erfüllte, war das wachsende schlechte Image der Industrie im
Volksbewusstsein, wie es durch Smog-Probleme, Verkehrsstauungen, Rücksichtslosigkeit beim Straßenbau hervorgerufen wurde. Die leitenden Herren meinten, dass es, wenn sich die Verhältnisse nicht bessern würden, innerhalb der nächsten
zwanzig Jahre zu einer Krise in der Automobilindustrie kommen könnte, auf die sie vorbereitet sein wollten. Meine Empfehlung, die Industrie umzurüsten auf die
Erzeugung von Autobussen und anderen öffentlichen Verkehrsmitteln, wurde, so schien mir, durchaus ernst genommen.
Wir erhielten jedenfalls von der Automobilhersteller-Assoziation den Auftrag,
eine wissenschaftliche Studie über die verkehrsgerechte Stadt auszuarbeiten. Es
sollte erwiesen werden, ob es möglich wäre, eine wachsende Anzahl von Automobi-
len in den Städten unterzubringen, bei gleichzeitiger Ausmerzung aller gegenwär-
tigen Verkehrsprobleme und einer zufriedenstellenden Anordnung von Wohnhäusern und anderen städtischen Einrichtungen. Unsere Verkehrsabteilung ging mit
großem Ernst ans Werk. Für eine hypothetische Stadt wurde ein Raster von Straßen
erster, zweiter und dritter Ordnung entworfen und durch die Anordnung von Unter-
führungen und Überführungen kreuzungsfrei gehalten. In den offenen Feldern des
Rasters versuchten wir dann die für die hypothetische Stadt notwendigen Wohnstätten, Arbeitsstätten und alle anderen urbanen Einrichtungen unterzubringen. Ein
erster Versuch zeigte, dass unter Annahme einer halbwegs vernünftigen Bevölke-
rungsdichte das von uns entworfene Straßennetz für einen reibungslosen Verkehr nicht ausreichen würde. Es musste also vergrößert werden und da dies zusätzliches
Land in Anspruch nahm, musste auch die zu besiedelnde Fläche expandiert werden. Die Erweiterung des Siedlungsgebietes aber führte, wie errechnet wurde, zu einer stärkeren Belastung der Straßen, deren Fläche deshalb wieder erweitert werden
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de architectura
musste. Es war ein Teufelskreis, aus dem wir keinen Ausweg fanden. Wir mussten
unseren Auftraggebern mitteilen, dass wir wohl einen Teil des Auftrages, nämlich ein tadellos funktionierendes Straßensystem zu planen, erfüllen konnten, aber dass
wir dem zweiten Teil der Aufgabe, nämlich die Benützer der Autos auf dem rest lichen Land wohnlich unterzubringen, nicht gewachsen waren.
Dass diese Aufgabenstellung tatsächlich unlösbar ist, zeigte sich einige Jahre spä-
ter, als die Gebietsverwaltung (County) von Los Angeles ihr Zwanzigjahresprogramm zur stufenweisen Erweiterung des schon bestehenden Autobahnnetzes durch einen
Computer überprüfen ließ. Dem Computer wurden das vorhergesagte Autowachs-
tum und die nach zwanzig Jahren zur Verfügung stehenden Verkehrsflächen eingegeben. Die Auswertung war niederschmetternd. Sie besagte, dass sich die jetzt bestehenden Verkehrsprobleme in zwanzig Jahren verdoppeln würden. Die Behörden
waren einigermaßen überrascht, trafen aber dann die einzig logische Entscheidung.
Da es offensichtlich aussichtslos war, den Wettlauf zwischen steigender Auto-
mobilzahl und Vergrößerung des Straßensystems zu gewinnen, war es klüger, den
ganzen Autobahn-Zukunftsplan in den Papierkorb zu werfen. Es wurde beschlossen, den weiteren Autobahnbau einzustellen und die Belastbarkeit der bestehenden Autobahnen dadurch zu vergrößern, dass man auf den am meisten befahrenen
je eine Spur für Expreßautobusse reservierte. Diese Entscheidung wurde 1973 ge-
troffen, seither wurde der Autobuseinsatz verstärkt, die Zahl der Passagiere hat sich merklich erhöht.
Schnellbahnsystem
Diese Schritte aber genügten nicht, um die unersättlichen Mobilitätsbe-
dürfnisse im Becken von Los Angeles zu befriedigen. Man gelangte zu der Erkennt-
nis, dass Los Angeles ein modernes Schnellbahn- und Untergrundbahnsystem
benötigte. Diese Erleuchtung kam reichlich spät, wenn man bedenkt, dass Los Angeles bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges über ein gutes elektrisches Schnell-
bahnnetz mit einem Zentralbahnhof in der Innenstadt verfügt hatte, das damals auf
Drängen der Automobilindustrie (und weil es defizitär war) eines Tages eingestellt
wurde. Danach sind alle Schienen herausgerissen und die Grundstücke der Trassen an Immobilienmakler verkauft worden.4
4
In Los Angeles wurde das öffentliche Verkehrssystem bis Mitte der Vierzigerjahre von zwei Firmen, Los Angeles Railway (1042 Straßenbahnen) und Pacific Electric (437 Straßenbahnen) betrieben. 1943 begann General Motors in American City Lines zu investieren und bald darauf
unsichtbare architektur
Wir und einige andere Organisationen arbeiteten wiederholt an Projekten für
ein neues öffentliches Schnellverkehrssystem. Bei der Auslegung der Linienfüh-
rung aber kamen wir zur enttäuschenden Feststellung, dass es in Los Angeles weder Ausgangspunkte noch Zielorte von genügender Dichte gab, um ein schienenge-
bundenes Massenverkehrsmittel zu rechtfertigen. Da man einerseits überzeugt war,
dass die Existenz der Stadt ohne ein solches Massenverkehrsmittel gefährdet war,
andererseits aber auch wusste, dass seine unförmige Gebietsausdehnung keine Er-
richtung ermöglichte, blieb keine andere Wahl, als Los Angeles von Grund auf neu
zu planen. Die Stadtplanungskommission erstellte in jahrelanger Arbeit einen Plan,
der die Schaffung von großen multifunktionellen kompakten Teilstädten vorsah, die dann miteinander und einer zentralen Teilstadt effizient verbunden werden
konnten. Der Durchführung dieses ambitionierten Planes stellten sich natürlich immense finanzielle Probleme entgegen, die bisher nicht gelöst wurden.
Verkehrsplanung in Moskau
Eine andere Episode bezieht sich auf die Verhältnisse in der Sowjetuni-
on. Vor einigen Jahren besuchte mich im Wiener Büro der Stadtplanungsdirektor
von Moskau, Michail Posochin. Der Hauptzweck seiner Reise war, bei einer Wiener
Firma Kristall-Luster für ein Repräsentationsgebäude in Moskau einzukaufen. Er
wollte aber Wien nicht verlassen, ohne mich gesehen zu haben und über seine Arbeit an einem neuen Generalplan für Moskau zu berichten.
Die allgemeinen Zielsetzungen dieses Generalplanes waren lobenswert. Sie wa-
ren darauf ausgerichtet, das weitere Wachstum der Bevölkerung sowie die geografische Ausbreitung des verstädterten Gebietes zu verhindern, Grünanlagen und
Erholungsgebiete merklich zu vergrößern, einen Grüngürtel um die Metropole zu
schaffen und die sehr bescheidene Durchschnittsgröße von Wohnungen zu erhö-
hen. Er belegte die beschriebenen Details mit statistischem Material. Ich beglück-
wünschte ihn zum generellen Konzept des Planes, der meiner Ansicht nach das
im Westen typisch auftretende Auswuchern der Städte und die Verhäuselung der
kaufte American City Lines Aktien der Los Angeles Railway. Im Jahr 1945 waren 59 Prozent der Los Angeles Railway Aktien im Besitz von American City Lines, und Los Angeles Railway gab öffentlich die Einstellung der Mehrzahl der Straßenbahnlinien bekannt. 1953 wurde Pacific Electric verkauft. Der neue Besitzer, Metropolitan Coach Lines, wollte in Zusammenarbeit mit GM das Zugsystem in ein Bussystem umwandeln. Die Ereignisse gingen als „the great American streetcar scandal“ in die Geschichte US-Amerikas ein.
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de architectura
Landschaft verhindern könnte. Er zeigte sich erfreut, aber meinte, das Beste habe ich noch gar nicht gehört. Ein besonderer Teil des Planes betreffe den Verkehr. Die
Zahl der Autos, die jetzt verhältnismäßig klein war, nämlich 150.000, würde auf 1.500.000 erhöht werden. Ich zeigte mich erstaunt, da ich aus eigener Erfahrung
wusste, wie gut die russische Hauptstadt mit öffentlichen Verkehrsmitteln ausgestattet war, vor allem der vorbildlichen Untergrundbahn. Ich erinnerte ihn daran,
dass der Vorsitzende Nikita Chruschtschow anlässlich seines Besuches in Ameri-
ka über die Verstopfungen der Straßen gespottet und gesagt hatte, so ein Unsinn könnte nur in kapitalistischen Ländern passieren.
Ich erklärte, dass dieser eine Aspekt seines Planes alle anderen löblichen Absich-
ten undurchführbar machen werde. Der Landanspruch von 1.500.000 Automobilen
würde so groß sein, dass die Begrenzung des Stadtgebietes, die Vergrößerung der Grünanlagen, die Vergrößerung der Wohneinheiten unmöglich gemacht werden
würde. Er konnte dies nicht recht glauben, weil doch viele Straßen Moskaus sehr
breit angelegt waren. Ich rechnete ihm nun vor, wie viel Platz jedes Auto für Fortbewegung und Parken an den drei Stellen Wohnung, Arbeitsplatz und mindestens
einenem Besuchsort, sowie für Tankstellen, Reparaturwerkstätten, Unfallspitäler
benötigt. Das ergibt eine Bedarfsfläche von ungefähr dreihundert Quadratmeter
per Fahrzeug.
Er überprüfte diese Berechnung und fragte ganz bestürzt: „Warum sagt mir
denn das niemand? Das ist ja eine Katastrophe!“ Ich meinte, er solle seinen Plan
dahingehend revidieren, die Zahl der zugelassenen Autos möglichst nicht zu er-
höhen. „Sie stellen sich das so einfach vor“, meinte er. „Die von mir geplante Autoanzahl beruht auf einem Wunsch des Genossen Leonid Breschnew und ist ein Teil
des nationalen Planes zum Ausbau der Automobilindustrie.“ Ich musste einsehen,
dass offenbar zwischen dem profitorientierten Wachstum der kapitalistischen Au-
toindustrie und dem machtorientierten Wachstum der sowjetischen Autoindustrie
kein Unterschied bestand. Ich hörte übrigens später, dass das Plansoll für Autos in
Moskau etwas gesenkt wurde.
Auto und Architektur
Meine Bemühungen, und die vieler Gleichgesinnter, etwas gegen den Miss-
brauch des Autos als Massentransportmittel zu unternehmen, haben teils wegen
der Fragmentierung der Städte (die zum Fahren zwingt), teils wegen des Presti-
gecharakters des geliebten Vehikels nur zu sporadischen Erfolgen geführt. Sogar
unsichtbare architektur
der große Schock der Ölkrise 1973 hatte nur kurzlebigen Einfluss. Am stärksten
sind die Bemühungen, die Verkehrsprobleme zu meistern, merkwürdigerweise im
Geburtsland des Automobils in den USA. Dort wurden Geschwindigkeitsbegren-
zungen von etwa achtzig Stundenkilometer auch für Autobahnen eingeführt. Die
Treibstoffsteuern dürfen dort für den Bau und die Verbesserung von öffentlichen Verkehrsmitteln eingesetzt werden, mit der Folge, dass in einer ganzen Reihe von
amerikanischen Städten neue Untergrundbahnnetze geplant oder gebaut werden.
In Amerika hat auch die sogenannte U.S. Environmental Protection Agency im Interesse der Luftreinhaltung verfügt, dass Baubewilligungen dann verweigert werden
müssen, wenn die planenden Einrichtungen als Erzeuger von Autoverkehr einzustufen sind, zum Beispiel Großmärkte und Einkaufszentren, aber auch peripher ge-
legene Wohnprojekte, wenn sie durch öffentliche Verkehrsmittel nicht erreichbar
sind. Angesichts der Opposition der Auto- und Bauindustrie muss natürlich abge-
wartet werden, in welchem Grad und in welchem Zeitraum diese Bestimmungen auch wirksam durchdringen.
Trotz der enttäuschenden Resultate im Kampf gegen den Autoterror bin ich für
die voraussehbare Zukunft (etwa die nächsten zwanzig bis dreißig Jahre) zuver-
sichtlich und glaube, dass unter dem Druck der ständig wachsenden Verknappung der Rohstoffe bedeutende Veränderungen auf uns zukommen. Dazu kommt das
in der Bevölkerung wachsende Verständnis für Umweltschutz, sodass die Bestrebungen, Städte und Siedlungen menschengerecht, anstatt autogerecht zu gestalten,
einmal von Erfolg gekrönt sein werden. Solange das nicht der Fall ist, wird Archi-
tektur unsichtbar bleiben. Je dichter der Autoverkehr, umso dünner die architektonische Qualität. Das wirkt sich auch auf historische Gebäude aus, die trotz aller löblichen Bemühungen der Denkmalschützer im Dunstkreis von Verkehrsströmen
unbeachtet bleiben.
Die Reaktionen des modernen Architekten auf diese unangenehme, aber un-
leugbare Wahrheit sind unterschiedlich. Die meisten resignieren, indem sie auf
jede Gestaltung der Außenseite ihrer Gebäude verzichten.
Andere versuchen die Aufmerksamkeit des Autofahrers zu erwecken, indem sie,
völlig aussichtslos, auffälliger wirken wollen als die anderen. In der Verkehrslandschaft ist es aber schwierig, mit Pop-Art, zum Beispiel dem Würstchenverkaufsstand in Form einer großen Wurst oder den gigantischen Pin-ups auf Plakatwänden, zu konkurrieren.
Eine dritte Gruppe zieht sich aus dem Dilemma, indem sie sich von der ungast-
lichen Realität auf die wenigen, verbleibenden „Inseln der Seligen“ zurückzieht.
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de architectura
Solche Inseln der Seligen sind nicht leicht zu finden. Universitätsgebäude sind solche oder isoliert liegende Herrschaftssitze von Millionären, Gewerkschaften oder
Versicherungsgesellschaften. Was die Gebäude im städtischen Verband betrifft,
könnten sie nur wieder sichtbar und achtbar gemacht werden, wenn man imstande wäre, die Menschen im eigentlichsten Sinn des Wortes auf ihre beiden Beine zu
stellen, sodass sie ihre Füße wieder zum Gehen benützten.
Die Möglichkeiten, die sich hierdurch wieder eröffnen, wurden uns deutlich, als
wir im Februar 1978 drei Wochen in dem autolosen Feriendorf Mürren im Berner Oberland in der Schweiz verbrachten. Dort wanderten meine Frau und ich täglich
über die schneebedeckten, von keinen Radspuren durchfurchten und von keinen
Ölflecken verschmutzten Gässchen und konnten in der klaren, reinen und von al-
lem Motorlärm verschonten Atmosphäre nicht nur Gesundheit auftanken, sondern
alles um uns gemächlich auf uns einwirken lassen – nicht nur die majestätischen
Gipfel der umgebenden Berge, die mit Schnee bedeckten Bäume und Sträucher, sondern auch die Zeugen aus Menschenhand, wie alte Bauernhäuser, Wohnhäuser,
Hotels usw. Hier war Architektur keinesfalls „unsichtbar“, und man konnte gute, mittelmäßige und schlechte wieder leicht erkennen.
Architekturgesinnung Verunsichert über die Bedeutung der Begriffe „Architektur“ und „Archi-
tekt“ und durch den chaotischen Zustand des Berufsstandes habe ich lange nach einer Definition für jene Tätigkeit gesucht, die ich gefühlsmäßig schon immer als
wichtig und erfüllend angesehen habe. Ich fand sie in Erinnerung an eine der wenigen Weisheiten, die ich im Unterricht über die Geschichte der Architektur gehört
hatte. Mit anderen Weisheiten hat sie gemeinsam, dass sie sehr alt ist. Sie ist enthalten in den Thesen, die der römische Staatsarchitekt Marcus Vitruvius Pollio in
dem Werk De Architectura libri decem (Zehn Bücher über Architektur) zwischen 33
und 22 vor Christi geschrieben hat.
Nach seiner Definition umfasst Architektur drei Gebiete: Aedificatio, Gnomonice
und Mechinatio. „Wahre Baukunst“ erfordert nach ihm: Firmitas, Utilitas, Venustas.
Langenscheidts Übersetzung dazu lautet Festigkeit, Zweckmäßigkeit und Schön-
heit. Aber auch das ist nicht aussagekräftig. Die englische Übersetzung von Henry
Wotton, nämlich firmness, commodity und delight kommt meiner Ansicht nach
dem Sinn des lateinischen Textes viel näher. Ich würde sie mit Haltbarkeit, Behag-
lichkeit und Ergötzlichkeit übersetzen.
architekturgesinnung
Im deutschen Architektur-Unterricht wird auch der Ausdruck Nutzbarkeit statt
Zweckmäßigkeit oder Behaglichkeit verwendet. Diese Art der Übersetzung birgt
die Gefahr in sich, dass in unserer von der Wirtschaftlichkeit überschatteten Be-
griffswelt man unter Nutzbarkeit den materiellen Nutzen für den Bauherrn verste-
hen könnte. Dass Vitruvius das nicht gemeint hat, wird klar, wenn er für die Fes-
tigkeit verlangt, dass sie „sine avaritia“, also ohne Habsucht, erreicht werden muss. Das Wort „Ergötzlichkeit“ bedeutet auch, dass das Gefühlsleben des Menschen
zu berücksichtigen ist. Langeweile und Monotonie sind zu vermeiden. Also das
Gegenteil von den endlosen Wiederholungen gleicher Haustypen, wie sie im Sozialen Wohnbau zu finden sind, und eher an endlose Aktenschränke für Menschen
erinnern. „Ergötzlichkeit“ schließt psychische Anregung durch optische Abwechs-
lung mit ein, wie sie durch überraschende Platzgestaltungen, Kunstwerke, Teiche,
Aquarien und die Millionen der Fantasie keine Grenzen setzenden Einfälle erreicht
werden kann.
Zu den drei Bedingungen des Vitruvius müssen, um zeitgenössischen Verhält-
nissen Rechnung zu tragen, noch zwei hinzugefügt werden, nämlich Flexibilität und
Entfernbarkeit.
Flexibilität ist deshalb wichtig, weil sich der zeitgenössische Architekt nur in
Ausnahmefällen dem endgültigen Besitzer oder Benützer eines Bauwerkes gegenübersieht, viel öfter aber mit Aufträgen konfrontiert ist, die sich an einen noch nicht bekannten Benützer richten. Selbst dort, wo Besitzer und Benützer, wie im Falle
eines Eigenheimes, bekannt sind, ist anzunehmen, dass sich deren Bedürfnisse in
Hinkunft entscheidend verändern können. Die Familie kann sich durch Zuwachs
vergrößern oder nach dem Aufwachsen der Kinder verkleinern. Die Ansprüche des
Besitzers können sich je nach Vermögenslage oder Gesundheitszustand verändern. Durch flexible Zwischenwände und eine geschickte Anordnung der Räume kann
die Möglichkeit einer späteren Neueinteilung geschaffen werden. Räumlichkeiten, die viele Installationen erfordern, wie Küche und Badezimmer, sollten womöglich
nicht so angelegt werden, dass sie die Raumteilung des Hauses für immer fixieren. Bei großen Wohnobjekten, bei Bürogebäuden, aber auch bei Geschäftsbauten
ist sehr häufig der künftige Bewohner oder Benützer nicht bekannt. Bei großen
Wohnanlagen erweisen sich zum Beispiel gewisse Methoden der Vorfabrikation,
die die Trennwände zwischen Wohneinheiten als tragende Strukturelemente ver-
wenden, als nachteilig, weil auf diese Weise es für alle Zeiten unmöglich gemacht wird, Einzelwohnungen zu vergrößern oder zu verkleinern. Im Gegensatz dazu
wird eine Konstruktionsmethode, die nur Pfeiler als tragende Elemente verwendet,
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de architectura
es ermöglichen, vom Beginn an verschiedentliche Wohnungsgrößen vorzusehen
und später die individuellen Wünsche nach Raumunterteilung, Vergrößerung und
Verkleinerung zu berücksichtigen.
So ein Einraumhaus kann ganz abenteuerlich werden. Ich habe vor einigen Jah-
ren das Haus meines ultramodernen Kollegen, Raymond Kappe, besucht, der auch
Leiter einer Architekturschule ist.5 Er fühlte sich offenbar verpflichtet, das, was er seinen Schülern lehrte, selbst zu realisieren. (Das stellt übrigens eine Ausnahme
dar, denn die meisten Glas- und Stahl-Architekten leben selbst in romantischen
alten Scheunen, Mühlen und Bauernhäusern, mitten im wurmstichigen alten
Hausrat mit überdimensionierten, mit Holz gefeuerten Kaminen und bei Kerzenbeleuchtung.) Das Innere des Hauses von Kappe war in verwirrendes Halbdunkel
gehüllt. Die verschiedenen Lebensbereiche waren nicht durch Wände voneinander getrennt, sondern nur durch verschieden hoch gelegene Plattformen markiert. Die
Höhendifferenzen betrugen ein bis zwei Meter. Aus ästhetischen Gründen gab es kein Geländer. Auf die zahlreichen Plattformen gelangte man über kaum sichtbare Glasstufen.
Ich fühlte mich erleichtert, als wir uns nach der Klettertour auf der höchsten
Terrasse zum ausgezeichneten Nachtmahl niederließen. Der Gedanke an den Abstieg über diese von oben so eindrucksvolle Berg- und Tal-Landschaft verbot mir,
auch nur ein Glas des herrlichen Weines anzurühren.
Das Kriterium der Entfernbarkeit scheint deshalb wichtig, weil die ständi-
ge Änderung unserer Lebensweise die Behaglichkeit und Zweckmäßigkeit eines
Gebäudes trotz Flexibilität nach einer gewissen Zeit infrage stellen kann. Ich bin
wohl keineswegs der Ansicht, dass wir Wegwerfgebäude errichten sollten, oder
dass man so weit gehen muss, wie bei einem New Yorker Wolkenkratzer, auf des-
sen Grundstein vermerkt ist: „Erbaut 1966, zu demolieren 1986.“ Eines Tages kann sich in einer sich entwickelnden Gesellschaft die Entfernung eines Bauwerkes als
notwendig erweisen, weshalb der Bedingung Entfernbarkeit Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Die vielen Flaktürme des Zweiten Weltkrieges, wie sie besonders von Deutschen inmitten von städtischen Parks errichtet wurden, blieben
erhalten, weil ihre Demolierung ohne Dynamit (womit verheerende Auswirkungen
für die Umgebung verbunden wären) nicht möglich ist. 5
Nach dem Ende des Automobilzeitalters werden wir uns fragen, wie wir die soZwischen 1968 und 1972 war Ray Kappe Vorstand des Architekturinstituts an der California State Polytechnic University, Pomona, danach gründete er gemeinsam mit Kolleg_innen und Studierenden das Southern California Institute of Architecture, kurz SCI-Arc.
architekturgesinnung
liden Eisenbetonkonstruktionen der städtischen Autobahnen wieder loswerden
können. In San Francisco wurde ein Stadtautobahnteil wegen heftiger öffentlicher
Proteste nie eröffnet und musste schließlich abgetragen werden. Die Abtragung kostete mehr als seine Errichtung. In San Francisco hat man dieses Ereignis in
Form einer abstrakten Skulptur dargestellt, die an die Betontrümmer einer demolierten Autobahn erinnert. Im Volksmund heißt diese Skulptur: „Monument der menschlichen Dummheit“.
Gegen das Gebot der leichten Entfernbarkeit verstoßen auch Atomkraftwerke,
die erfahrungsgemäß nur eine Funktionsperiode von etwa dreißig Jahren haben,
aber nach Auslauf dieser Periode Hunderte Jahre nicht nur nicht abgetragen werden können, sondern scharf bewacht werden müssen, da die angesammelte Radio-
aktivität jeden Zutritt lebensgefährlich macht.
Die Formulierung einer Architekturgesinnung auf der Grundlage der drei Be-
dingungen des Vitruvius und meiner zwei vorgeschlagenen Zusatzbedingungen
scheint mir von größter Wichtigkeit, sie waren wichtige Leitlinien für meine Be-
mühungen. Ich bekenne mich auch zu einem Satz, den der amerikanische Architekt
Frank Lloyd Wright einmal gesagt hat: „Der Architekt soll dem Klienten nicht geben
was er will, sondern was er wollen sollte!“ Die Voraussetzung dieses Leitgedankens jedoch ist, dass der Architekt über Überzeugungen und Kenntnisse verfügt, die es
ihm erlauben zu wissen, was der Klient wollen sollte. Etwas erweitert könnte Frank
Lloyd Wrights Motto lauten: „Der Architekt soll dem Klienten nicht geben, was er
will, sondern das, was er in seinem eigenen und im Interesse der Gemeinschaft wollen sollte.“
Versucht man nun mit einer solchen Baugesinnung Werke wahrer Baukunst zu
schaffen, sieht man sich in der Praxis mit einigen Fragen konfrontiert. Die erste
Frage betrifft das Problem, ob es in unserer profitorientierten Marktwirtschaft
überhaupt eine Nachfrage nach wahrer Baukunst gibt. Offensichtlich sind jene Auf-
traggeber, die möglichst schnell und viel profitieren wollen, also solche, die man als
Spekulanten bezeichnen könnte, weder an Behaglichkeit noch Haltbarkeit noch Ergötzlichkeit interessiert. In vielen Fällen jedoch fand ich meine optimistische Auf-
fassung gerechtfertigt, dass es auch Auftraggeber geben müsse, die langfristig und
wiederholt erfolgreich sein wollen und deshalb das Interesse des Gemeinwohls respektieren.
Man könnte mich wegen dieser Einstellung vielleicht als Träumer bezeichnen,
ich glaube aber, ein realistischer Träumer zu sein. Ich glaube nicht, dass man Auf-
traggeber durch den schönen Ausspruch “Wohltuen bringt Zinsen“ beeinflussen
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kann. Andererseits aber bin ich überzeugt, dass eine fundierte Beweisführung einen aufgeschlossenen und weitblickenden Klienten davon überzeugen kann, dass auf längere Sicht gesehen ein Bauwerk, das öffentliches Gefallen findet, also das
Gemeinwohl berücksichtigt, auch wirtschaftlich am erfolgreichsten sein wird.
Wenn sich ein Architekt also weitreichende Kenntnisse und Erfahrungen er-
wirbt, die weit über die Enge seines Fachgebietes hinausreichen, versetzt er sich
und seinen Klienten in die Lage, in vorbeugender Weise Maßnahmen für die langfristige wirtschaftliche Gesundheit eines Gebäudes zu treffen, ähnlich einem Arzt, der dann am besten ist, wenn er vorbeugend behandelt.
Diese optimistisch klingende Annahme erscheint auch deshalb berechtigt, weil
das Bedürfnis nach Lebensqualität im Gegensatz zum vorher ausschließlichen Stre-
ben nach quantitativem Wachstum im Steigen begriffen ist.
Arten und Abarten der Architektur Die nicht praktizierenden architektonischen Außenseiter, wie Architektur-
kritiker, -journalisten und -historiker üben einen bedeutsamen Einfluss auf die Ent-
wicklung der zeitgenössischen Baukunst aus. Da sie über den Miseren des Berufsalltags stehen, könnten sie über größere Perspektiven und tiefere Einsicht verfügen,
wie dies bei dem Architekturphilosophen Lewis Mumford6 der Fall ist, oder beim
großen Architekturschriftsteller Wolf von Eckardt. Aber die große Mehrzahl sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Viele verfallen der allgemeinen Versuchung des
Journalismus, dem Leser statt Information Nervenkitzel zu übermitteln. Ebenso wie
verantwortungslose Massenmedien Mord und Verbrechen, politische oder private
Skandale ins Scheinwerferlicht rücken, ist auch ein Teil der Architekturjournalisten bestrebt, dem Publikum Sensationen zu bieten und gediegene gewissenhafte Werke
stiefmütterlich zu behandeln. Andererseits bemühen sich gewisse Architekten, ein
großes Maß an Aufsehen zu erregen, selbst um den Preis von Missetaten. Die Aufga-
be des Journalismus darf deshalb keinesfalls unterschätzt werden.
Architekten, die Sensationen liefern, haben außergewöhnliche Chancen, be-
rühmt zu werden. Als oft erwähnte, ja sogar oft angegriffene Baukünstler findet
man sie in seriösen Büchern, in kunstgeschichtlichen Werken und Nachschlage-
werken. Auf diese Weise erwerben sie ein Stückchen Unsterblichkeit und als Ne6
Das Buch The City in History (1961) gilt als Mumfords bedeutendstes Veröffentlichung (dt.: Die Stadt. Geschichte und Ausblick. Kiepenheuer & Witsch: Köln 1963).
arten und abarten der architektur
benprodukt interessante Klienten. Um also in der Architektur „in“ zu sein, kann
man entweder wirklich Bedeutsames schaffen oder lediglich Sensationsgier befriedigen.
Architekturhistoriker haben in den USA als Lehrmaterial, das alle Kandidaten
zur Lizenzerlangung zu studieren haben, eine Liste der fünfzig wichtigsten inter-
nationalen Architekten verfasst und jedem einen bestimmten Stil wie Klassizismus,
Humanismus, Expressionismus, Funktionalismus und Technologismus zugeordnet.
Obwohl mein Name auch in dieser Liste enthalten ist, scheint mir das Resultat dieser Fleißaufgabe höchst zweifelhaft.
Die Liste enthält eine Mischung von rechtmäßig Berühmten und rechtmäßig Be-
rüchtigten. Sie ist keineswegs umfassend. Es fehlen die Namen vieler, die nicht nur
ihren eigenen Geltungsdrang befriedigten, sondern die Bedürfnisse des Gemein-
wohls und die wahren Interessen ihrer Klienten. Sie werden zwar in der seriösen Fachpresse gewürdigt als jene, deren Werke eine bessere Umwelt verheißen, da
sie aber keine akrobatischen Kunststücke zum Besten geben, werden sie von den sensationshungrigen Massenmedien vernachlässigt.
Ferner muss bezweifelt werden, dass die im offiziellen Dokument der US-Ar-
chitektenvereinigung erwähnten Baustile wirklich als solche angesehen werden
können. Man könnte ja noch einige zusätzliche Baustile, wie den Hitlerischen, den
Mussolinischen und den Stalinistischen erwähnen. Die Bemühungen, für unsere
Zeit Baustile festzulegen, ist vergebliche Liebesmüh, weil der Baustil einer Epoche gewöhnlich erst rückblickend definiert werden kann.
Für die Vergangenheit konnten Baustile je nach Bauperiode, nach geografischer
Region, vorhandenen technischen Fähigkeiten (Rundbogen, Spitzbogen, Kuppel),
örtlich vorhandenen Materialien (Stein, Lehm, Ziegel, Holz, Eisen) oder klimati-
schen Verhältnissen bestimmt werden. Falls es in etwa zweihundert Jahren noch
jemanden geben sollte, der Zeit und Muße hat, auf die Schöpfungen unserer Zeit
zurückzublicken, so wird dieser wahrscheinlich feststellen, dass von einem einheit-
lichen Baustil des 20. Jahrhunderts keine Rede sein kann. Dank eines hochentwickelten Kommunikationssystems konnte in den verschiedensten Weltgebieten eine
Unzahl von Materialien und Techniken eingesetzt werden. Am wahrscheinlichsten
scheint es, dass man Autobahnen mit ihren kühnen Brücken, wenn sie so wertlos
geworden sind wie heute die ägyptischen Pyramiden, als den wahren Ausdruck
unserer Zeit nehmen wird.
Wenn sich heute ehrgeizige Architekten darum bemühen, neue Baustile zu kre-
ieren, und wenn eifrige Journalisten ihre Finger wund schreiben, um diese Stile auf-
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zuzeigen und säuberlich zu katalogisieren, dann sind sie Opfer einer grundlegenden
Verwechslung zwischen den Begriffen Baustil und Mode. Architekturmoden wechseln zwar nicht ganz so schnell wie Damenmoden, aber doch einigermaßen rasant.
Allein in den letzten siebzig Jahren habe ich unter anderem folgende Moderich-
tungen miterlebt: Eklektizismus, Sezessionismus, Funktionalismus, Monumentalismus, Puritanismus, Brutalismus, Abstraktionismus und Nostalgie. Wie in der
Damenmode gibt es einige Modeschöpfer der Haute Couture und eine Unzahl von
Konfektionären, die die Mode durch Massenerzeugung verbreiten.
Der Unterschied zwischen Architektur-Modezaren und ernst zu nehmenden
Baukünstlern besteht vielleicht darin, dass der Baukünstler im Sinne der vorher
beschriebenen Architekturgesinnung vom Inhalt und Zweck des Gebäudes ausge-
hend zur äußeren Form gelangt. Diese versucht er der Landschaft und Umgebung
anzupassen. Der Modezar, der auch Formgeber genannt wird, beschäftigt sich mit der äußeren Form und deren Originalität und versucht dann (oder überlässt es
anderen) den Inhalt in die „geniale“ Form hineinzupressen.
Die Harmonie zwischen seinem Kunstwerk und der Umgebung oder Landschaft
interessiert ihn nicht. Ganz im Gegenteil weiß er, dass die größte Dissonanz in bes-
ter Weise dazu geeignet ist, Aufsehen zu erregen.
Da viele Formgeber ein Höchstmaß an Ruhm erlangt haben, scheint es nicht unan-
gebracht, zu fragen, ob sie überhaupt im Sinne der Definition von Vitruvius als wahre
Baukünstler anzusehen sind, oder als mehr oder weniger fantasiebegabte Menschen, die zufällig, statt sich als Künstler zu beschäftigen, nun Gebäude gestalten.
Um den Eindruck zu widerlegen, dass ich nur tote Architekten als gute Architek-
ten anerkenne, wie es die branchenübliche Sitte ist, soll festgehalten werden, dass
ich sowohl einer großen Anzahl von sogenannten berühmten Architekten als auch
einer noch viel größeren Zahl von noch nicht berühmt gewordenen mit höchster
Wertschätzung gegenüberstehe. Ich hatte das Glück, mit einigen großen Architekten persönliche Kontakte zu haben.
Frank Lloyd Wright war ein Einzelgänger, der sich keinem sogenannten Stil zu-
ordnen lässt. Er schöpfte aus seiner reichen Fantasie, von dem Grundsatz ausge-
hend, dass Architektur organisch sein müsse. Bauwerk und Natur müssten also zu
einer Einheit verschmelzen. Jedes seiner Werke strahlt Persönlichkeit aus, aller-
dings selten jene der Besitzer oder Bewohner, sondern jene des Meisters.
Eine seiner Klientinnen schilderte einmal ihr Leid. Sie hatte nur einen einzi-
gen persönlichen Wunsch ausgesprochen, nämlich den, aus der Küche frei in den
Garten blicken zu können. Als sie das Haus bezog, fand sie die kreisförmige Küche
arten und abarten der architektur
fensterlos im Zentrum des Hauses als organischen Mittelpunkt des Lebens. Sie war
nur durch eine Oberlichte erhellt.
Um Wrights Schaffen gebührlich zu feiern, bedarf es des Ausdrucks Genialität.
Er begründete zwei Meisterschulen, eine im Westen, eine im Osten Amerikas. Er
nannte sie „Talies in West“ und „Talies in Ost“. In diese Heiligtümern architektonischer Lehr- und Arbeitsstätten pilgerten Scharen von Touristen und zahlreiche
Jünger. Diese mussten ihre Dienste nicht nur im Atelier, sondern auch in der Haus-
wirtschaft unentgeltlich zur Verfügung stellen. Als mein Freund, der spätere Grafiker Alvin Lustig, einmal dem Dienst entfloh, wurde er wieder eingefangen und
musste bis nach Ablauf seiner „Lernverpflichtung“ bleiben.
Ich hatte das Glück, zwei Häuser des Meisters, eines in den Hügeln von Los An-
geles, das andere in einem Wald in Pennsylvania, zu besuchen. Diese Häuser besa-
ßen eine fast magische Kraft. Besonders das Haus „Fallingwater“, in das uns sein
Besitzer Edgar Kaufmann7 für einige Wochenenden einlud, zog in seinen Bann wie
eine aufregende romantische Landschaft. Es wirkte wie herausgewachsen aus dem
Wald und dem Felsgebilde, die einen rauschenden Wasserfall umgaben. Durch einen steten Wechsel von niedrigen engen Räumlichkeiten und solchen mit überwäl-
tigender Höhe und Größe bot es, ohne dass es eine Anlehnung an historische Stile gab, jene Stimulation, die man sonst nur in alten Burgen empfindet.
Unser Gastgeber klagte über die hohen Erhaltungskosten. Im Wohnzimmer gab
es zum Beispiel eine große horizontale Glasoberlichte, die den Blick in majestäti-
sche Baumwipfel freigab. Sie war leider nicht wasserdicht und bedurfte ständiger
Reparaturen. Ähnlich war der Verputz der Fassaden nicht ganz wetterfest. Edgar
meinte, man müsse ein Multimillionär sein, um so ein Haus zu erhalten. Ich beru-
higte ihn: „Da du ein Multimillionär bist, ist es wie maßgeschneidert für dich.“
Zweimal traf ich Frank Lloyd Wright persönlich: Einmal anlässlich eines Vortra-
ges, der von unseren Daytons-Klienten veranstaltet wurde. Er benutzte diese Gelegenheit, um das vor Kurzem fertig gestellte Southdale-Center und dessen Urheber
zu beschimpfen. Er sprach von der Schändung der Natur. Er hatte in gewisser Weise
recht, denn der Entwurf war hauptsächlich auf Ergötzlichkeit für Menschen ausgerichtet.
Nach einem Vortrag fragte ein schüchterner Student, was der Meister davon
halte, dass er Ingenieurwesen studiere. „Sehen Sie diese kleine Warze auf meiner 7
Edgar Kaufmann war Besitzer des Kaufmann’s Department Store. Neben Fallingwater gehörte ihm auch das sogenannte Kaufmann House, das von Richard Neutra 1946 erbaut worden war.
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linken Hand? Das sind Ingenieure! Ich benutze sie wie ein Lexikon. Finde ich die gewünschte Antwort, schlag ich das Buch wieder zu.“
Frank Lloyd Wright hasste nicht nur Ingenieure und moderne Architekten, son-
dern auch Städte. Trotzdem entwarf er eine Zukunftsstadt, der er den Namen Broad-
Acres verlieh. Hier grenzte jedes Heim an einen dahinter liegenden Acker. Sein Bestreben war offensichtlich darauf ausgerichtet, den Weg zurück zur Natur zu finden.
Wrights einziges berühmtes Gebäude innerhalb einer Stadt ist die Guggenheim-
Kunstgalerie an der 5th Avenue in New York. Dieses Gebäude gelangte auch nur durch ein Missgeschick an diesen Ort. Frank Lloyd Wright hatte es als freistehenden
Kunsttempel für die romantische Landschaft des Central-Parks konzipiert, sodass
man sich ihm zu Fuß von allen Seiten hätte nähern können. Als die Stadtverwaltung in einem plötzlichen Anfall von Umweltschutz jede bauliche Beeinträchtigung des
Parklandes verbot, erwarben die Auftraggeber ein dem Park gegenüber liegendes
Grundstück. Frank Lloyd Wright weigerte sich, irgendetwas an seinem Entwurf zu
ändern. So steht nun dieser Tempel, eingeschoben wie eine kleine Schublade, in einer Reihe turmhoher Wolkenkratzer, sodass nur die Vorderfront und hinter den
Autoschlangen nicht einmal die sichtbar blieb. Erst beim Betreten kann die eigen-
willige Innengestaltung mit ihrer spiralförmigen Rampe wahrgenommen werden.
Die Schöpfungskraft dieses außergewöhnlichen Mannes konnte sich allgemein
nur dort ausdrücken, wo reiche Leute dies ermöglichten.
Frank Lloyd Wright ist übrigens der einzige Architekt, von dem behauptet wird,
dass er auch nach seinem Tode aktiv weiterwirkt. Das Atelier wird von seiner Wit-
we8 geführt, die sagt, dass sie dank ihrer spirituellen Kräfte imstande sei, sich bezüglich jedes Entwurfes mit dem Verstorbenen in Verbindung zu setzen.
Auch Richard Neutra war so ein hochbegabter, schöpferischer Architekt. Mit ihm
verband mich persönliche Freundschaft. Er war, so glaube ich, der erste, der die
Zusammenhänge zwischen Biologie und Architektur erkannte, sie studierte und darüber schrieb. Seine Werke waren meist Häuser für gebildete und wohlhabende
Mitglieder des gehobenen Mittelstandes. Sein bevorzugtes Baumaterial war Holz
und er verstand es, ohne Anleihe bei Vergangenem eine Architektur zu schaffen, die sich natürlich und angenehm in die Hügeln und Schluchten von Süd-Kalifornien eingliederte.
Wie bei Frank Lloyd Wright waren auch seine Beziehungen zu dichten städti-
schen Gebieten sehr lose. Die Los Angeles County Hall of Records, die er gemein8
Olgivanna Lloyd Wright (1898–1985).
arten und abarten der architektur
sam mit Robert Alexander im Los Angeles Civic Center errichtete, zeugt von anständiger Architekturgesinnung, ist aber in keiner Weise außergewöhnlich.
In seinen reifen Jahren träumte er von Großprojekten wie von einem Opernhaus,
einer Universität oder einem Museum in einem der arabischen Staaten des Nahen
Ostens. Da er keine Organisation aufbauen wollte, bot er uns an, seine Partner und
architektonischen Erben zu werden. Weitere Besprechungen aber ergaben, dass
er die Entwurfstätigkeit völlig für sich selbst in Anspruch nehmen und uns nur
für technische und zeichnerische Dienstleistungen verwenden wollte. Wir mussten also leider absagen.
Richard Neutra glänzte in seinen Schriften und mit inhaltsreichen und geistvol-
len Vorträgen. Er gehört zweifellos zu den großen Männern der Architektur.
Im Gegensatz zu den zwei erwähnten Architekten war Le Corbusier brennend
am Schicksal der Städte interessiert. Zwei Erscheinungen beeindruckten ihn besonders: Die skandalösen hygienischen und sozialen Missstände europäischer
Städte zu Beginn dieses Jahrhunderts, die lichtlosen, lärmenden und verschmutz-
ten Straßen, die zu Krankheiten, besonders zu Tuberkulose führten. Die andere
war der am Anfang des 20. Jahrhunderts herrschende Glaube an die Allmächtigkeit der modernen Technologie. In den Jahren 1920/21 schreib er für die Pariser
Zeitschrift Esprit Nouveau etwa ein Dutzend Artikel, die später in dem Buch Vers
une architecture, Paris (1923), deutsche Übersetzung Kommende Baukunst (1926)9
zusammengefasst wurden.
Wie schon in einem früheren Kapitel erwähnt, war ich von diesem Universalis-
ten und sozialen Reformer tief beeindruckt. Le Corbusier sah im Ingenieur, der „beraten durch das Gesetz der Sparsamkeit und geleitet durch Berechnungen, Harmonie erreicht“, die große Hoffnung der Baukunst. „Seine Werke“, so schrieb er, „sind auf dem Weg zur großen Kunst. Die Architektur hingegen erstickt am alten Zopf.“
Er war ein großer Bewunderer der Ozeandampfer, Flugzeuge und Autos, er pre-
digte die Entwicklung der „Wohnmaschine“ und den Serienbau von Häusern. Er
verstand „Baukunst“ als „reine Schöpfung des Geistes“.
Auf seinem Zeichentisch entstanden schon 1920 Turmstädte, in denen sechzig
Stockwerk hohe, gleichgestaltete Gebäude in Abständen von 250 bis 300 Metern
inmitten von großen Grünanlagen gelegen waren, die ihrerseits von mächtigen,
kreuzungsfreien, autobahnähnlichen Verkehrsadern durchschnitten wurden. Die
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Le Corbusier, Kommende Baukunst (hrsg. von Hans Hildebrandt). Deutsche Verlags-Anstalt: Berlin/Leipzig 1926.
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Turmstadt, die er zum Beispiel anstelle des jetzigen Zentrums von Paris errichten wollte, sollte der Metropole als Arbeitszentrum dienen. In seiner Vision der Ville
Radieuse strahlten vom Zentrum Untergrundbahnen und Autobahnen in durchgrünte Wohngebiete aus.
Im fortgeschrittenen Alter wandelte sich Le Corbusier zum Romantiker. Er schuf
zum Beispiel die schöne Kapelle von Ronchamp (Frankreich) und 1954 den Plan für die indische Provinzstadt Chandigarh mit einem unregelmäßigen Straßenmuster
und einem romantisch anmutenden Hauptverwaltungsgebäude. Anlässlich eines
Vortrages in den USA, bei dem ich ihn traf, sprach er „von den Äußerungen des Reifealters, in dem die Kunst blüht“.
In diesem Sinne verfasste er auch das Vorwort zur 1958 erschienenen Neuaufla-
ge seines Buches Ausblick auf eine Architektur: „Feinschmecker der Salons (in Paris
oder in den Vereinigten Staaten) bezeichnen mich heute als ‚barockenʻ Architekten.
Das ist die allergrausamste Bezeichnung, die man mir nur geben kann. Als ‚dreckiger
Ingenieurʻ habe ich 1920 angefangen (das hatte ich akzeptiert), jetzt bin ich offenbar
am entgegengesetzten Rand der Hölle angekommen – es leben die Extreme! Aber viel-
leicht ist es nicht einmal das schlechteste, noch mit siebzig angepöbelt zu werden!“10
Seine Thesen von 1921 und 1922 haben einen nachhaltigen Einfluss auf die Pla-
nungs- und Baugesetzgebung aller Städte gehabt. Das Schlagwort von der Entflech-
tung der verschiedensten städtischen Funktionen entsprach dem Ordnungssinn der Bürokraten. Im Sinn einer menschlichen Städteplanung, die für kleinkörnige
Verflechtung aller Funktionen eintritt, sind diese Auswirkungen bedauerlich, doch
gehört Le Corbusier zu jenen großen Architekten, die Stadtplanung erstmals vom
sozialen Standpunkt her betrieben und nicht wie in frühen Zeiten vom militärischen oder repräsentativen.
Meine Bewunderung gilt auch all jenen Architekten, die sich gegen alle Wider-
stände mit den schwierigen Aufgaben der Stadterhaltung und Stadterneuerung,
mit dem städtischen Wohnbau, dem Zusammenhang zwischen Architektur und
Umweltproblemen, mit der Erhöhung der Lebensqualität von Städten und anderen Siedlungen erfolgreich beschäftigen und die nicht oder noch nicht als berühm-
te Baukünstler angesehen werden. Dazu gehören auch meine engsten Mitarbeiter,
wie zum Beispiel Rudolf L. Baumfeld, Edgardo Contini und Ben Southland.
Im Gegensatz dazu zähle ich wohl viele der berühmten Formgeber zu meinen
Freunden und Bekannten, stehe ihnen aber kritisch gegenüber. Dem „Deutschen 10
Le Corbusier, Ausblick auf eine Architektur. Bertelsmann: Berlin 1969, 10.
arten und abarten der architektur
Bauhaus“ in Dessau und später in Weimar kam der Verdienst zu, alle Merkmale vergangener Stile mit einem verchromten Stahlbesen wegzuräumen und ohne diese
Krücken nach einer neuen Formensprache zu suchen. Mit seinem Begründer Walter
Gropius war ich eng befreundet und stand seinen Schöpfungen mit großer Sympa-
thie gegenüber, weil sein tiefer Humanismus alle formalistischen Fesseln sprengte.
Mit Mies van der Rohe verhielt es sich anders. Er verstand das Schlagwort „Form
folgt Funktion“ als etwas, das sich lediglich auf die Funktion des strukturellen Ge-
rippes eines Gebäudes bezog. Er schüttete das Bad mit dem Kinde aus, indem er
nicht nur die alten Ornamente, sondern alles ablehnte, was Baukunst mit Mensch-
lichkeit, Traditionen und Gefühlen verbindet.
Von den Architekturkritikern wurde er als Klassizist gerühmt, weil er eine ganz
bestimmte Formensprache entwickelte, die er unbeachtet des Zwecks und des In-
haltes seiner Gebäude überall anwandte. Im Illinois Institute of Technology in Chicago, das nach seinem Entwurf errichtet wurde, sahen Vorlesungshallen, Kraftwerk
und Kirche alle gleich aus. Das Kraftwerk konnte man für eine Kirche halten, weil sein hoher Schornstein einem Glockenturm ähnlich sah.
Mies van der Rohe wandte seine Hauptaufmerksamkeit der Außenerscheinung
der Gebäude zu. Für sie verwendete er das einfache Muster eines Rasters, der nur
aus vertikalen und horizontalen Linien bestand. Daraus ergab sich die Notwendig-
keit, ausschließlich horizontale Dächer zu verwenden. Sein Schüler Philip Johnson, der sich später von ihm abwandte, nannte ihn seinen „Guru“. Er behauptete, Mies
hätte Deutschland verlassen, nicht etwa weil er gegen die Politik des Dritten Reiches etwas einzuwenden hatte, sondern weil er Adolf Hitler als schlechten Archi-
tekten betrachtete, der es ihm nicht erlauben würde, Gebäude mit flachen Dächern zu bauen.
Ich hielt Mies (wie er allgemein genannt wurde, während seine vielen Anhän-
ger sich als „Miesianer“ bekannten) für einen humorlosen, starrköpfigen Mann. Er
fühlte sich als Puritaner, der seinem Motto „weniger ist mehr“ folgend auch dadurch gerecht wurde, dass er sein Vokabular an Baumaterialien auf Glas, Metall
und polierten Marmor beschränkte. Zwei weitere Thesen vervollständigten sein
schöpferisches Rüstzeug. Erstens: Der Architekt sei lediglich ein Künstler, und zwar
ein Bildhauer, dessen Aufgabe darin bestehe, große Skulpturen in den Raum zu set-
zen. Zweitens: Mit Problemen, die außerhalb der Bildhauerkunst liegen, wie zum
Beispiel mit Stadtplanung, dürfe sich der Architekt nicht beschäftigen.
Die Chance, seine ersten zwei „Skulpturen“ in Amerika ausführen zu dürfen,
erhielt er durch den Bauunternehmer Grunewald in Chicago. Die Baugründe be-
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fanden sich in schönster Lage, am Ufer des Michigan Sees. Nach einem Besuch bei
Freunden, die sich als Sammler moderner Kunstwerke in einer der beiden Wohn-
Skulpturen eingemietet hatten, war ich bei Mies in seiner Wohnung in Los Angeles. Er war von zahlreichen Anbetern umringt. Es entspann sich ein Dialog, in dem meine Äußerungen sowohl vom Meister als auch seinen Jüngern übelgenommen
wurden: Ich berichtete, dass meine Freunde wohl sehr stolz darauf waren, in einem
Gebäude eines der berühmtesten Architekten zu wohnen, dass dieses Vergnügen
aber beeinträchtigt wurde, weil sie hinter den immensen Glasflächen an der Nord-
westseite froren und an der Südwestseite schmorten. Dem begegnete Mies mit der
trockenen Bemerkung: „Für die Kunst muss man eben bereit sein, Opfer zu bringen.“ Mein Einwand war, dass die Funktion der Struktur in Wirklichkeit gar nicht zum
Ausdruck komme, weil die tragenden Elemente, nämlich Stahlsäulen, nicht sichtbar waren, da sie dem Brandschutz zuliebe mit Beton verkleidet werden mussten.
Deshalb ist der Aluminiumraster, der der Fassade vorgesetzt war und die großen Glasscheiben umrahmte, meiner Ansicht nach nichts anderes als Dekoration. Mies
entgegnete ärgerlich, dass er für idiotische bürokratische Vorschriften wegen
Brandschutzes nicht verantwortlich sei, und dass der Aluminiumraster als Symbolisierung der Konstruktion zu verstehen und deshalb völlig legitim sei.
Die Klage meiner Freunde über das Fehlen einer Klimaanlage und die äußerst
dürftige Innenausstattung schob Mies mit der Antwort zur Seite, dass alle diese
Dinge zur Verantwortlichkeit des Gebäudebesitzers gehören und ihn als Architekten nichts angingen. Er habe lediglich für die ästhetische Erscheinung der Skulptur
zu jeder Tageszeit zu sorgen. Deshalb habe er auch für alle Fenster gleiche silbergraue Rollos vorgesehen, die laut Hausordnung von allen Mietern zur gleichen Zeit
heruntergelassen werden müssen.
Als ich scherzhaft bemerkte, dass das Motto „weniger ist mehr“, wenn zu Ende
gedacht, bedeuten könnte „gar nichts ist am meisten“, beendete Mies die Diskussion offensichtlich verärgert.
In den später gebauten Glashäusern wurden einige Missstände dadurch beho-
ben, dass alle Räume klimatisiert wurden. Es muss auch zugestanden werden, dass
Mies der Proportionierung seiner Skulpturen und der liebevollen Gestaltung des
Metallrasters große Aufmerksamkeit schenkte. Das trug dazu bei, dass die Fassadengestaltung sich als sehr kostspielig erwies.
Zu einer weiteren Zusammenkunft mit Mies kam es in den Sechzigerjahren in
Detroit. Dort hatte eine Arbeitsgemeinschaft, bestehend aus den Architekten Oskar Stonarov (Philadelphia), Minoru Yamasaki (Detroit) und meiner Organisation im
arten und abarten der architektur
Auftrag der Redevelopment Agency ein Projekt für ein großes neues Wohngebäude
geschaffen. Es war im Stadtkern gelegen und sollte in einem von Minoritäten be-
wohnten Slum errichtet werden.
Für den Erwerb des Baulandes und die Bauausführung wurden, den Regeln
der Redevelopment Agency entsprechend, Offerte von privaten Baugesellschaf-
ten eingeholt. Den weitaus höchsten Kaufpreis bot das Chicagoer Unternehmen
Grunewald. Er war allerdings an die Bedingung geknüpft, dass ein neues Projekt
vom Architekten des Herrn Grunewald unsere schon angenommenen Pläne ersetzen müsse. Dieses neue Projekt war von Mies van der Rohe und dem Stadtplaner
Ludwig Hilbesheimer verfasst worden. Es wurde mithilfe eines großen, exquisit ausgeführten Modells dem Baukomitee präsentiert. Das Modell zeigte eine Gruppe
gleichartiger Wohntürme in strenger geometrischer Ordnung. Der Vorsitzende des
Baukomitees, Walter Reuther (Obmann der Autoarbeitergewerkschaft) reagierte
kritisch: „Das Problem mit euch Deutschen“, sagte er, „ist, dass ihr den Unterschied zwischen militärischer Disziplin und harmonischer Ordnung nie begriffen habt.“
Trotz allgemeinen Missbehagens aber musste wegen des günstigen finanziellen
Angebots das Projekt Mies-Grunewald angenommen werden. Anschließend führte
ich während eines Mittagessens ein Gespräch mit dem erfolgreichen Bauunternehmer. Ich erkundigte mich, wie es denn möglich wäre, dass er trotz der teuren
Fassadengestaltung und trotz des hohen Landpreises, den er zu zahlen gewillt war,
wirtschaftlich sein Auslangen finden könne. Er wollte mich zuerst damit abfertigen, dass er nur als Bewunderer des großen Meisters Mies als Kunstmäzen handle. Als
ich mich mit dieser Antwort nicht zufriedengab, erklärte er, dass die Außengestal-
tung wohl teurer als gewöhnlich wäre, aber doch nur einen Bruchteil der Gesamtkosten des Gebäudes ausmache. Er setzte fort: „Ich kann mit Mies als Architekt per Quadratmeter billiger als nach den Entwürfen irgendeines anderen Architekten bauen, weil der Künstler Mies die bewundernswerte Eigenschaft hat, sich für alle
Dinge, die innerhalb der Fassade vorgehen, nicht zu interessieren. Es ist mir also
möglich, im Inneren nach meinem eigenen Gutdünken vorzugehen und große Ersparnisse zu erzielen. Da außerdem kunstverständige Leute bereit sind, höhere
Mieten für das Privileg zu zahlen, in einem vom Meister entworfenen Gebäude zu
wohnen, erziele ich eine ausgezeichnete Rendite.“
Ganz anders waren die Motivationen des Eigentümers einer der berühmtesten
Mies-Schöpfungen, des Seagram-Gebäudes an New Yorks eleganter Park Avenue.
Da das Gebäude weit von der Avenue zurückgerückt war, und so der teuerste Teil
des Baugrundes unverbaut blieb, und der überschlanke Turm mit einer aufwendi-
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gen Fassade aus Bronze und Glas ausgestattet war, wurde das Seagram-Gebäude
zum kostspieligsten Büroturm der Stadt.
Der Bauunternehmer, Herr Bronfman, verfolgte ein zweifaches Ziel. Das Gebäu-
de sollte als dreidimensionales Plakat für Seagram Whisky werben: je aufsehener-
regender und teurer dieses Plakat ausfiel, desto größer würde die Werbewirkung sein. Herr Bronfman war auch darauf bedacht, dass sein persönliches Image, das
durch den Verdacht des Alkoholschmuggels während der Prohibitionszeit lädiert
war, durch seine Rolle als Kunstmäzen aufpoliert wurde.
Als das Seagram-Gebäude, an dem Mies mit Philip Johnson zusammenarbeitete,
noch in Planung war, lobte ich seinen Entwurf gegenüber Philip. Durch das Zurücksetzen des Gebäudes von der Straße würde, so meinte ich, in der Steinwüste von
New York ein öffentlicher Platz entstehen, der mit Bäumen, Blumen und Ruhebänken ausgestattet zu einem einladenden Erholungsraum werden könne. Philip sah mich entgeistert an und meinte, dass dies keineswegs in den Absichten von Mies
van der Rohe liege. Der Platz solle nur der Erhöhung der monumentalen Wirkung
des Gebäudes dienen und den vorbei- und hineinströmenden Menschen das Gefühl
ihrer eigenen Kleinheit gegenüber der Majestät des Gebäudes vermitteln. Es würde
weder Bäume noch Ruhebänke geben. Ganz im Gegenteil hätten sie sich bemüht, die Einfassung der vier symmetrisch an beiden Seiten des Platzes angeordneten
Springbrunnen so zu gestalten, dass es unmöglich wäre, auf ihnen zu sitzen.
Beim Seagram-Gebäude zeigte sich übrigens, welche Opfer das Streben nach
Monumentalität und nach einer nach allen vier Seiten hin gleich pompösen Fassade erfordert. Beim Bau stellten die Ingenieure nämlich fest, dass aus Stabilitäts-
gründen die gesamte Nordfassade als solide Eisenbetonwand errichtet werden
müsse. Die Lüftungsingenieure beanspruchten für ihre Schächte einen Teil der
West- und Ostfassaden. Mies van der Rohe ließ sich seine Skulptur durch solche
Notwendigkeiten nicht verderben. Die Nordfassade wurde mit Marmor verkleidet und dann einschließlich der Fassadenteile an der Ost- und Westseite, hinter denen die Lüftungsschächte lagen, mit demselben Glas- und Bronzeraster maskiert wie
alle übrigen Fassadenabschnitte. Dass wichtige Teilbereiche des Inneren hierdurch
dunkel und unbenutzbar wurden und die Maskierung mit Glas ein offensichtlicher
Schwindel war, entschuldigte Mies mit der Bemerkung, dass dies im Interesse der äußeren Erscheinung und der Monumentalität durchaus gerechtfertigt sei.
Das von Mies kreierte Rastersystem aus Glas und Metall, das den Vorteil hatte,
dass es aus kleinen, vom Dach herabgelassenen Gondeln mittels Wasserschläuchen leicht gereinigt werden konnte, war nicht nur leicht nachzuahmen, sondern
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erwies sich auch als gute Einnahmequelle für die Produzenten von Metallrastern.
Mit bedeutend weniger Sensibilität für die Proportionierung der Rasterelemente
wurden diese „Vorhangfassaden“ bald massenfabriziert und per Quadratmeter zu
günstigen Preisen verkauft. So entstand das, was man den „Internationalen Stil“
nennt, der sein Entstehen der Möglichkeit der billigen Massenproduktion verdankt
und der bald überall ohne Rücksichtnahme auf klimatische und traditionelle Verhältnisse Anwendung fand. Wahrscheinlich hat Mies selbst vor dieser Entwicklung
gegraut, die mit Kunst wahrhaftig nichts mehr zu tun hatte. In diesen Glastürmen,
wie sie überall entstanden, kam es hinter den „futuristischen“ Fassaden zu einer Revolte der Benützer gegen diese Neue Sachlichkeit. Hinter den vorgeschriebenen
gleichförmigen Rollos entstanden Wandverbauungen, die von den großen Glasflächen nur Fensteröffnungen üblicher Größe freiließen. Ansonsten wurden die In-
nenräume je nach Geschmack der Innendekorateure in den verschiedensten historischen Stilen ausgestattet. Klimatisierung und elektrische Beleuchtung hatte die
Innenseite von der Außengestaltung völlig unabhängig gemacht, und so geschah
es, dass die Glasflächen, die ursprünglich der Beleuchtung und der großartigen
Aussicht dienen sollten, diese Funktionen völlig verloren und jeder Zusammenhang
zwischen Fassaden- und Innengestaltung verschwand. Aus diesem Grund scheint
mir die Frage gerechtfertigt, ob der berühmte Formgeber Mies van der Rohe als
Architekt oder als Bildhauer betrachtet werden sollte, der mit großer Hingabe an der Erstellung gigantischer Skulpturen arbeitete.
Dieselbe Frage erhebt sich bei allen anderen Formgebern, denen die Gestaltung
der äußeren Hülle alles und die des Inhaltes nur wenig bedeutete. Ein hervorra-
gendes Beispiel eines hochtalentierten Urhebers architektonischer Haute Couture
ist Philip Johnson, der auch heute als einer der berühmtesten Architekten der USA
gilt und 1978 mit der höchsten Auszeichnung der amerikanischen Architektenvereinigung geehrt wurde.
Durch persönliche Bekanntschaft – einmal bot Philip mir an, mein Partner zu
werden – bot sich die Gelegenheit, seine wechselnde Zugehörigkeit zu verschiedenen Moderichtungen zu verfolgen. Als ich ihn kennenlernte, war er der Neuen
Sachlichkeit und der Glashausmode ergeben und baute für sich innerhalb einer
Parklandschaft ein voll durchsichtiges Glashaus, das er noch immer bewohnt. Später wurde er, weil ihn der Puritanismus nicht nur langweilte, sondern ihm auch als
Schwindel erschien, zum Expressionisten, mit dem einzigen Ziel der künstlerischen
Selbstverwirklichung, die nach seinen Worten darin bestand, jede Nutzbarkeit und
Menschlichkeit zu missachten. “Ich betrachte Architektur nur als Kunst, sie kann
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deshalb mit Funktionalität und Menschlichkeit nicht verbunden werden, sonst ist
sie nicht frei“, sagte er damals.
Andere Zitate: „Wir modernen Architekten sind alle Schwindler“, „Ich bin eben
nur ein Ästhetizist“ und „Ich bin gegen alles, das funktioniert, ich will die Leute verärgern.“ Oder: „Ich weiß, dass ich arrogant bin, aber es ist besser, ehrlich arrogant
zu sein, als unehrlich bescheiden.“
Da er nichts dagegen hatte, dass diese und ähnlich „arrogante“ Bemerkungen
der Öffentlichkeit bekannt gemacht wurden, autorisierte er sie überdies in seinen
Büchern. Seine aufsehenerregenden Aussprüche und auch die aus seiner Geisteshaltung resultierenden Gebäude brachten ihm ein ungewöhnliches Ausmaß an Publizität und Klientel.
Wie er wirklich dachte, geht aus einem Interview hervor, das er anlässlich eines
mir und meinen Partnern gewidmeten Artikels über Umweltarchitektur gab. Dort
heißt es: Victor ist der Meinung, wenn man über Design spricht, vernachlässige
man das Gesamtbild: Seine Architektur ist sauber, er unternimmt keine Versuche, originell zu sein. Hält man sich in einem seiner Schöpfungen auf, so erhält man den
Eindruck von weit mehr als Design. Man könnte sagen, es gibt niemanden, der ihm
gleicht. Die Architektur kann sich glücklich schätzen, ihn als Architekten zu haben. Auch der Ruhm eines anderen großen Formgebers, Louis Kahn – der die Mode
des Brutalismus mitbegründete mit dem Motto „hässlich ist schön“ –, war das Produkt von Architektur-Journalisten. Das Beispiel eines Artikels, der in einer der an-
gesehensten Architekturzeitschrift erschien, möge genügen, eine pervertierte Art
der Architekturkritik aufzuzeigen. In der Kritik des „Richards Medical Laboratori-
um“ heißt es unter anderem: Das Gebäude ist für seinen Zweck völlig unbrauchbar.
Der Platz, der für die vielen Angestellten benötigt wird, ist einfach nicht vorhanden, und die Korridore sind mit Schreibtischen angefüllt. Die Arbeitsverhältnisse und die Arbeitsatmosphäre sind ungünstig. Das Gebäude ist nicht wasserdicht. Seine
Heizung und Kühlung ist mangelhaft. Mit anderen Worten, das Gebäude dient jenen
Zwecken, die der Auftraggeber im Auge hatte, in keiner Weise. Dies zeigt die Größe
des einmaligen Architekten, der nicht bereit ist, sich sklavisch dem Ruf nach Nütz-
lichkeit zu unterwerfen, sondern dem seine eigenen künstlerischen und schöpferischen Ideen so wichtig sind, dass er bereit ist, ihnen alles zu opfern. Wahrhaft ein
großer Architekt!11
11
James Marston Fitch, A Building of Rugged Fundamentals. In: Architectural Forum, Juli 1960, 82–87.
arten und abarten der architektur
Ein europäisches Beispiel des Brutalismus stellt das Pariser Kulturzentrum Cen-
tre Pompidou dar, das von den Parisern scherzhaft „Raffinerie Pompidou“ genannt
wird. Entworfen von den Architekten Piano und Rogers wirkt dieses Bauwerk, das
dem löblichen Zweck dient, Kultur und Kunst der Bevölkerung näherzubringen,
wie ein terroristischer Anschlag auf ein liebevoll restauriertes altes Ensemble. Der naive Beschauer muss meinen, dass es noch nicht fertig und noch von Gerüsten
umgeben sei. In Wahrheit sind diese Stahlgerüste Teile der tragenden Konstruk-
tion, die aufgrund der „grauen Theorie“ als Funktionselemente voll zur Wirkung kommen müssten.
Da dieses schlanke, ungeschützte Tragwerk sich unter Hitzeeinfluss verbiegen
könnte, und das ganze Gebäude unter Umständen Tausende Besucher unter sich
begraben würde, ist auch hier, wie im Falle der Schöpfungen von Mies, diese Trag-
konstruktion nur ein Symbol. Die wirkliche gegen Brand isolierte Tragkonstruktion sitzt weit dahinter.
Die Konstruktionselemente nur außen zu zeigen, schien den Entwerfern nicht
befriedigend. Das gesamte System der Eingeweide und Verdauungsorgane, das in einem natürlichen Organismus wegen seiner Empfindlichkeit durch Haut, Fleisch
und Knochengerüst geschützt ist, erscheint hier in kräftigen Farben bemalt und
„künstlerisch“ gestaltet. Lüftungsschächte, Wasserleitungen, sanitäre Abflussstränge, Rohrleitungen aller Art dienen an der Außenseite als Fassaden-Dekorationsele-
mente. (Hierbei muss man noch dankbar sein, dass die Künstler den Blick auf die
Klomuscheln nicht freigaben.)
Auch die Rolltreppe liegt nicht, wie es für die zahlreichen Besucher komfortabel
wäre, im Zentrum der Anlage, sondern verläuft wie eine Schlange an einer der Au-
ßenseiten. Sie ist eingehüllt in eine durchsichtige Plastikröhre und erfordert eine besonders starke und energievergeudende Heizungs-, Lüftungs- und Kühlungsanlage.
(Durch ähnliche Plastikschläuche müssen sich nebenbei gesagt auch die Besucher des Pariser de-Gaulle Flughafens in einer Berg und Talfahrt durchschleusen lassen.)
Die Besessenheit, alle Gedärme in luxuriöser Ausführung an der Außenseite zu
exponieren, verschlang so viel Aufmerksamkeit und Geld, dass für das Innere des
Kunsttempels wenig übrig blieb. Als Folge zeigen sich schon jetzt Zeichen des Verschleißes, die einen schäbigen Eindruck vermitteln. Trotz allem ist zu erwähnen,
dass dieses Gebäude aufgrund des Aussehens und der Publizität in die Kunstge-
schichte des 20. Jahrhunderts Eingang finden wird.
Der abstrakte Architekt ist ein Verpackungskünstler, der versucht für seine
Gebäude, auch wenn sie den verschiedensten Funktionen dienen, eine möglichst
313
314
de architectura
einheitlich geometrische Form zu finden, die dann außen in verschieden gefärbte
Spiegeln verpackt wird. Architekturfotografen sind von solchen Gebäuden fasziniert, weil diese im Glücksfall interessante Reflexe der Umgebung, wie z. B. von
Türmchen, Kuppeln, steilen Dächern wiedergeben. Wenn der Himmel es will, reflektieren sie auch Sonnenauf- oder -untergang, Wolkenformationen oder strah-
lendes Azurblau.
Zu welchen Folgen der Abstraktionismus führt, wird augenfällig, wenn man sich
vorstellt, dass eine Stadt aus lauter solchen verspiegelten Gebäuden besteht. Diese
würden sich dann nur gegenseitig spiegeln und am ehesten den Effekt eines Lachkabinetts in einem Vergnügungspark hervorrufen.
Die sogenannten Expressionisten, die sich als Formgeber betätigen, scheinen
jedes Problem mit der Frage „Warum sollte man nicht?“ anzugehen. Sie fragen: Warum sollte man nicht statt des üblichen Rechtecks für den Grundriss ein Dreieck, ein Fünfeck, ein Sechseck, ein Achteck, einen Kreis, eine Eiform, eine Nierenform
oder eine Komposition aus all diesen geometrischen Formen wählen? Warum soll-
ten die Außenwände statt vertikal nicht schief emporstehen und auf diese Weise
Pyramiden, Kegeln usw. entwickeln? Warum sollte ein Haus nicht die Form eines
Schneckengehäuses, eines Kegels, eines Iglus oder eines Zeltes erhalten? Warum sollte mir nicht etwa noch nie Dagewesenes einfallen, um die Welt und besonders die Kritiker zu beeindrucken, schockieren oder maßlos zu ärgern?
Auf die Gefahr hin, als Ketzer angesehen zu werden, behaupte ich, dass alle jene,
die sich unter Ausschluss aller übriger Beweggründe lediglich mit der Form und
Gestalt der äußeren Hülle eines zur menschlichen Nutzung bestimmten Gebäudes
beschäftigen, im Sinn der Bedingungen des Vitruvius nicht als Baukünstler und
Architekt anzusehen sind.
Der öffentliche Unwille über die vielen Moderichtungen in der Architektur blieb
nicht aus. Deshalb reiten jetzt viele Architekten auf der Nostalgie-Welle. Die verschiedensten „Heimatstile“ und andere Volkskunst-Elemente werden imitiert. Das
aber scheint ein auswegloses Unterfangen zu sein. Naivität ist ebenso wie Jungfräu-
lichkeit, wenn sie einmal verloren ist, nicht wieder zu finden.
Wohl aber scheint es aussichtsreich, die Zeugen anonymer Architektur zu stu-
dieren und den Ursachen für langsam gewachsene Traditionen, für gewisse Materi-
alverwendung, für gewisse Formenwahl nachzugehen, um sie dann mit den Mitteln,
die uns heute zur Verfügung stehen, einer umweltbewussten Menschheit als zeit-
genössische Architektur zum Genuss auszubreiten.
VII. UMWELTPLANUNG
75: Broschürencover, Victor Gruen International, Kerngebiet Wien, Wien 1969/70 Wienbibliothek im Rathaus
76: Erste Seite, Victor Gruen International, Kerngebiet Wien, Wien 1969/70 Wienbibliothek im Rathaus
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77: Zeichnung Luegerplatz, Victor Gruen International, Kerngebiet Wien, Wien 1969/70 Wienbibliothek im Rathaus
79. Victor Gruen International, Leitlinien für die Stadtentwicklung Wienbibliothek im Rathaus, Anette Baldauf
78: Grundlagen für die Schaffung von Leitlinien für die Stadtentwicklung. Zentrum für Umweltplanung, o.J. Wienbibliothek im Rathaus
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80: Verleihung des Großen Goldenen Ehrenkreuzes, Wien 1978 Library of Congress
81: Victor Gruen, Peggy Gruen und Herta Firnberg bei der Verleihung des Ehrentitels, Wien 1978 Courtesy Peggy Gruen Collection
Abbruch und Aufbruch Im März 1938 waren es äußere Umstände gewesen – die Flucht vor dem
faschistischen Regime –, die eine entscheidende Wende in meinem Lebenslauf herbeiführten. Dann aber waren es innere Kräfte, die mich in Unruhe versetzten, um
schließlich dreißig Jahre später im Juli 1968 nochmals zu einer tief greifenden Wendung zu führen. Diese inneren Kräfte, unterbewusst oder halbbewusst schon seit
meiner Jugend am Werk, drängten zusehends an die Oberfläche.
Es wurde von Jahr zu Jahr schwieriger, diese Unruhe durch Geschäftigkeit, beruf-
lichen Erfolg, ja selbst häusliches Glück zu bändigen. Zwischen der Ideenwelt von
„Gesinnung“ und der Realwelt des Agierens bestanden Widersprüche. Mit ständigem
Erfolg erweiterte sich die Kluft zwischen diesen zwei Welten. Ich witterte Gefahr:
Würde ich mich weiter von der Strömung meines „Fortschritts“ treiben lassen, dann
könnten die teils selbstgeschaffenen Sachzwänge mich dazu bringen, durch zur Rou-
tine gewordene Arbeit Unersetzliches zu verlieren. Angefeuert durch Erfolg könnte
das Feuer innerer Überzeugung erlöschen. Zuwachs an materieller Sicherheit und an
weltlichem Ansehen könnten ein Absinken des seelischen Lebensinhaltes bewirken.
Ich unternahm vieles, um dieser Gefahr zu entgehen. Meine Arbeit an Traum
projekten, die Lehrtätigkeit an Universitäten wie an der Columbia University in
New York und der University of California, Berkeley, und die Teilnahme an Akti-
vitäten humanitärer Organisationen waren solche Ausbruchsversuche. Die entscheidende Wende aber wurde, wie so oft in meinem Leben, durch einen Zufall
herbeigeführt: In der Verfassung der Victor Gruen Associates war 1950 vorgesehen
worden, dass jeder der Partner mit seinem 65. Lebensjahr zurücktreten müsse, um Platz für den Nachwuchs zu schaffen.
Da ich im Juli 1968 meinen 65. Geburtstag begehen würde, eröffnete diese Be-
stimmung die Möglichkeit meines Rücktrittes. Der Beschluss, von dieser Möglich-
keit Gebrauch zu machen, reifte schon lange vorher. Anfang 1966 brachte ich dies
meinen Partnern gegenüber offiziell zum Ausdruck. Wohlgemeinte Vorschläge über
ausnahmsweise Aufhebung der Altersklausel für meinen Fall oder für ein Weiter-
wirken als leitender Konsulent wies ich entscheidend zurück. Ich wollte mich in
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umweltplanung
Zukunft, möglichst auf mich allein gestellt, Beratungstätigkeiten auf den Gebieten
der Stadt- und Umweltplanung widmen. Hiermit wollte ich baldmöglichst begin-
nen und die Zeit bis zu meinem offiziellen Rücktritt dazu nützen, der Organisation den Übergang zu erleichtern und schrittweise meine Aufgabengebiete anderen zu
übertragen.
Meine Entscheidung verursachte Probleme für alle Beteiligten. Die Frage tauch-
te auf, wie wir es verhindern konnten, dass meine Beratungstätigkeit mit der der
Organisation in Konflikt gerät. Wir trafen eine Vereinbarung geografischer Natur.
Ich konzentrierte meine Tätigkeit auf Europa, der Rest der Welt stand der von mir begründeten Organisation offen.
Während der Übergangsperiode, 1966 bis 1968, half ich auch neue Partner zu
finden. Es gelang uns den äußerst begabten Cesar Pelli für die Funktion des krea-
tiven Entwerfens heranzuziehen (einige Jahre später verließ er nach erfolgreicher
Tätigkeit die Firma und wurde Dekan der Yale University’s School of Architecture). Einige der Associates wurden zu Partnern ernannt. Der Firmenname wurde durch
Weglassung des Vornamens Victor zu Gruen Associates geändert. Mein Freund Rudi Baumfeld, ungefähr so alt wie ich, beschloss, als Konsulent in der Organisation zu
verbleiben.
Die anfängliche Sorge, dass mein Austritt einen Ruin der Organisation herbei-
führen würde, erwies sich dank der Tüchtigkeit der Partner und des Stabes als unbegründet. Alte Klienten blieben treu, neue kamen hinzu. Auch nachdem ich mich
1968 völlig aus allen Tätigkeiten zurückgezogen hatte, florierte die Organisation
weiter.
Für mich persönlich war der Bruch auch mit schweren Opfern begleitet. Den
Verlust meiner repräsentativen Chefzimmer in Los Angeles, New York und Washington D.C. und den des Prestiges als Präsident einer großen Organisation konn-
te ich angesichts der neu gewonnenen, persönlichen Freiheit verschmerzen. Viel
schwieriger war es, den Verlust der engen persönlichen Kontakte zu verkraften, die nicht nur mit meinen Partnern, sondern mit vielen der Mitarbeiter, besonders
mit der jahrelangen Privatsekretärin Hortense Hockett, der Geschäftsführerin He-
len Michaelis und vielen der Associates, die auch persönliche Freunde geworden
waren, bestanden. Ich sah sie alle während der längeren Reisen nach Amerika, die
ich fast jährlich bis 1976 unternahm. Bei solchen Gelegenheiten wurden Treffen mit allen Partnern, aber auch Besprechungen mit der Gesamtgruppe der Associates abgehalten.
abbruch und aufbruch
Ein internationaler Wettbewerb
Nur einmal, im Jahre 1969, bewirkte ein Zufallsereignis unfreiwilligerwei-
se eine Vermengung unserer beider professioneller Tätigkeiten. Zu jener Zeit war
ich gerade in Wien. Cesar Pelli bat telefonisch um einen Rat bezüglich der Teilnahme an einem internationalen Architekturwettbewerb für das projektierte Zentrum der Vereinten Nationen in Wien, den die österreichische Regierung ausgeschrieben
hatte. Ich riet ihm entschieden von einer Beteiligung ab. Meine Begründung: Ich halte Architekturwettbewerbe im Allgemeinen aufgrund der Erfahrungen, die ich
als Mitglied von Jurys gemacht habe, für untaugliche Mittel, optimale Lösungen
für Projekte zu finden. Entscheidungen werden oft nicht durch die Qualität der
Entwürfe gefällt, sondern durch Zufälligkeiten, wie besonders effektive grafische Darstellung oder die überragende Redegabe eines der Juroren.
Im Falle dieses UN-Wettbewerbes hatte ich überdies städtebauliche Bedenken.
Die geplante Zentralisierung der bisher über die Stadt zerstreuten Amtsgebäude
der Vereinten Nationen erschien mir schon wegen des Verkehrsaufkommens und
der Gefahr der Gettobildung problematisch. Ich befürchtete außerdem, dass politi-
sche Einflüsse bei der Wahl des Architekten eine bedeutende Rolle spielen würden. Cesar Pelli und seine Mitarbeiter fanden aber die Aufgabe so reizvoll, dass sie
sich der ungeheuren Mühe der Beteiligung an diesem gigantischen Projekt unter-
zogen. Die Entscheidung der Jury brachte eine große Überraschung. Der erste Preis
wurde an Gruen Associates, der zweite an einen englischen, der dritte an einen deutschen und erst der vierte an einen österreichischen Architekten vergeben. Da
die Wettbewerbsbestimmungen vorsahen, dass der Sieger des Wettbewerbes auch
zur Durchführung des Bauwerkes herbeigezogen werden musste, reisten Pelli und
sein Team in euphorischer Stimmung nach Wien, um den Preis und den Arbeits-
vertrag in Empfang zu nehmen.
So sehr ich mich über den Erfolg meiner Freunde freute, geriet ich durch ihn
in Verlegenheiten. Dem Ersuchen, als Dolmetscher in Verhandlungen mit Behörden zu fungieren, konnte ich mich nicht entziehen. Wegen der Namensgleichheit
wurde ich von den Massenmedien verdächtigt, dass ich nur deshalb auch in Wien
schon vor Jahren eine Arbeitsstätte begründet hätte, um an diesem Wettbewerb
teilzunehmen. Auch dass wir ihn gewinnen würden, soll ich laut Zeitungsmeldungen schon vorausgeahnt haben.
Schon die ersten Gespräche ergaben, dass meine Befürchtung nicht unbegrün-
det war. Ein unbedeutender Absatz des Jury-Urteils wurde benützt, um einen
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umweltplanung
Zusatzwettbewerb auszuschreiben. Dieser Absatz besagte, dass – wie bei einem
Ideenwettbewerb ohnehin nicht anders zu erwarten – keines der preisgekrönten
Projekte als ausführungsreif zu betrachten sei. Daraus wurde von den österreichischen Behörden aber abgeleitet, dass die vier Gewinner genauere Angaben über
ihre Projekte machen sollten, wobei zusätzliche Forderungen erhoben wurden,
aber auch eine bescheidene Vergütung versprochen wurde. Es wurde weiters prä-
zisiert, dass diese „zweite Wettbewerbsstufe“ durch die von der Jury getroffene
Reihung nicht beeinflusst werden würde.
Diese zusätzliche Leistung wurde von allen vier „Siegern“ erbracht, worauf eine
Kommission von Gutachtern die Wirtschaftlichkeit der vier Projekte verglich. Das
von einem deutschen Wirtschaftsfachmann erstellte Gutachten kam zu dem Resultat, dass das Projekt des österreichischen Architekten Johann Staber bei Weitem das billigste sei, während das mit dem ersten Preis ausgezeichnete amerikanische
Projekt die höchsten Kosten verursachen würde.
Ich habe am 2. Juni 1975 im Zusammenhang mit Gutachten über Atomkraftwer-
ke in der Wiener Zeitung Die Presse gesagt, dass der Begriff „Gutachter“ daher
rührt, dass er vom Auftraggeber angestellt und bezahlt, alles das für gut erachtet,
was sein Auftraggeber wünscht. „Schlechtachter“, sagte ich damals, sind nicht erwünscht, „Schlechtachten“ werden nicht honoriert.
So war es auch in diesem Fall. Der begreifliche Wunsch der österreichischen
Behörden, aus patriotischen Gründen die Ausführung des Projektes dem vierten
Preisträger zuzuschanzen, wurde im Wirtschaftsgutachten berücksichtigt. Der Gutachter verwendete eine ebenso einfache wie falsche Methode, die Kosten zu
berechnen. Er errechnete genauestens den Kubikinhalt jedes der vier Projekte mit-
hilfe des Computers und multiplizierte die Resultate mit einem fixen Einheitspreis
pro Kubikmeter, ohne Berücksichtigung unterschiedlicher Baumethoden. Da nun
das Projekt des österreichischen Architekten Johann Staber weit weniger Räum-
lichkeiten vorsah, als das Wettbewerbsprogramm gefordert hatte, ergab sich für
jene Art der Planung auch die kleinste Anzahl an Kubikmetern und daher der niedrigste Preis. Gegen diese Methode der Wirtschaftlichkeitsberechnung protestierten
die Vertretung der Vereinten Nationen und die drei Architekten, deren Projekte auf diese Weise als teuer bezeichnet wurden.
Ich sah mich genötigt, die österreichischen Behörden auf die offensichtliche
Fehlleistung des Gutachters aufmerksam zu machen und wandte mich schließlich
an jenen Mann, von dem ich wusste, dass er die endgültige Entscheidung traf, näm-
lich meinen alten Jugendfreund Bundeskanzler Dr. Bruno Kreisky. Es kam zu einer
abbruch und aufbruch
ausgedehnten Korrespondenz, von der Dr. Kreisky jene Teile, die ihm als nicht zu
gravierend erschienen, veröffentlichen ließ. Schließlich verkündete er aber sei-
ne Entscheidung im Parlament mit einer ganz anderen Begründung, die politisch möglicherweise klug, aber sonst völlig unlogisch war. Auch im Fernsehen wurde diese Entscheidung verlautbart. Dr. Bruno Kreisky sagte, dem Sinn nach, er wolle
unter keinen Umständen beschuldigt werden, seine Freunde zu begünstigen. Nun
werde aber das Projekt des britischen Architekten von seinem guten Freund, dem
damaligen Prime-Minister Harold Wilson, das Projekt der deutschen Architekten
von seinem guten Freund, dem damaligen deutschen Bundeskanzler Willy Brandt,
und das amerikanische Projekt von seinem guten alten Freund Victor Gruen unterstützt. Nur einer der vier Architekten, nämlich Johann Staber, würde von keinem
Kreisky-Freund besonders gefördert, er habe den Namen nur zufällig durch seinen Masseur gehört. Wollte er also nicht beschuldigt werden, einem seiner Freunde
beizustehen, bliebe ihm nichts anderes übrig, als eine Entscheidung zugunsten des bis dahin unbekannten Architekten Johann Staber zu fällen.
Das imposante Projekt wurde im Sommer 1979 fertiggestellt und feierlich eröff-
net. Die Kosten übertrafen alle Schätzungen des Gutachters, sogar für das angeblich
teuerste Wettbewerbs-Projekt. Dies war durchaus erklärlich, denn Staber musste
ja im Zuge der Ausführungsplanung den Kubikinhalt entsprechend den Wünschen der UN-Behörden erhöhen. Wegen der geschwungenen Fassaden der Gebäude kam
es auch zu einem höheren Konstruktionspreis per Kubikmeter als bei dem viel ein-
facheren Projekt, wie es sich aus dem ersten Preis ergeben hätte.
Der gigantische Gebäudekomplex bildet nun ein „Unwahrzeichen“ Wiens. „Un-
wahr“ deshalb, weil schon die Grundidee von Anfang an falsch war, dass es notwendig wäre, die verschiedensten UN-Behörden mit insgesamt viertausend Angestell-
ten in einem Komplex unterzubringen, um ihre Effizienz zu erhöhen. Im Zeitalter
der Telekommunikation ist ein dezentralisiertes System nicht nur ebenso effizient,
sondern aus der Perspektive der Benützer und Besucher auch humaner und behag-
licher. Eine Verbindung dieses „Verkehrserregers“ durch ein effizientes öffentliches
Verkehrsmittel, nämlich die projektierte U-Bahn, wird nicht nur ungeheure Kosten verursachen, sondern auch noch etwa vier Jahre auf sich warten lassen.
Neue Ziele
Mit der Ausnahme dieses einen Zufallsereignisses aber agierte ich von
1966 bis 1968 vorbereitend und von dem Tage meiner „offiziellen Pensionierung“
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umweltplanung
im Juli 1968 an ausschließlich in völliger Unabhängigkeit. Der Vernunftgedanke,
nämlich als Fünfundsechzigjähriger nicht nochmals eine neue Lebens- und Schaffensperiode zu beginnen, kam mir merkwürdigerweise überhaupt nicht. Mit mei-
ner jungen, dynamischen Frau an der Seite erschien es verlockend, eine erfolgsge-
krönte Karriere in den USA nach dreißigjähriger Entwicklung abzubrechen und
von Neuem zu beginnen.
Zwei Herausforderungen standen am Beginn dieses neuen Abschnitts: Ich woll-
te einen Beitrag zur Verbesserung des menschlichen Daseins im Allgemeinen leisten und Europa vor dem amerikanischen Beispiel warnen.
Zur Verwirklichung des ersten Zieles gründete ich schon in Los Angeles die ge-
meinnützige Organisation „The Victor Gruen Foundation for Environmental Planning“. Dies geschah aufgrund innerer Überzeugungen, die ich schon lange hegte.
Bereits 1966 hatte die Los Angeles Times geschrieben: Lange bevor irgendjemand
sich mit Umweltproblemen beschäftigt hat, gab es einen Mann namens Victor
Gruen, der Umweltplanung predigte.1
Es geschah in einer Ära, in der das Wort „environment“ als neuer Begriff nur
wenigen Voraussehenden geläufig war. Es bedurfte intensivster Bemühungen, die
Öffentlichkeit von Sinn und Bedeutung dieser „Umwelt-Tätigkeit“ zu überzeugen.
Dies erschien mir damals so dringend, dass ich diesem Traum der Weltverbesserung den größten Teil jener Mittel opferte, die sich aus meiner Pensionierung und der Auszahlung der Geschäftsanteile von Victor Gruen Associates ergaben.
Unser geräumiger Wohnsitz am North Beverly Glen Boulevard in Bel Air, der
bisher unserer persönlichen Behaglichkeit und Geselligkeit gedient hatte, wurde
zum Hauptquartier umweltbewusster Bestrebungen. In einem der Trakte wurde
eine Umwelt-Bibliothek eingerichtet, andere Räumlichkeiten wurden zu Administ-
rationsbüros, Sitzungs- und Verwaltungsräumen für Beratungen und Seminare umfunktioniert, die bei guter Witterung auch im Garten abgehalten wurden. Für unseren persönlichen Gebrauch reservierten wir nur Schlafräume und Badezimmer sowie die Gästeräume, in die wir die von Jugoslawien zugezogene Familie meines
Schwagers, Kemal Salihefendic mit seiner Frau Ramza und seinem sechsjährigen
Sohn Hasib, unterbrachten. Unsere Verwandten erwiesen sich in der Aufrechterhaltung des Hauses und des Gartens, aber auch in der Arbeit für das Zentrum als äußerst hilfreich.
1
Joyce Haber, Victor Gruen: Architect, Dreamer and Doer. In: Los Angeles Times Magazine, 18. September 1966, 8.
abbruch und aufbruch
Victor Gruen International
Ein zweiter in der hinteren Gartenecke frei stehender Nebentrakt, der bis-
her als Badehaus mit Umkleidekabinen gedient hatte, wurde umgebaut und als
Quartier für mein zweites Tätigkeitsgebiet eingerichtet. Er enthielt einen Sekre-
tärinnenraum und ein Arbeitszimmer mit Zeichentisch und Schreibtisch für mich als Hauptquartier der neu begründeten Gesellschaft „Victor Gruen International“.
Die Änderungen in unserem Privatleben, die sich mit dieser Metamorphose unse-
res Heims in eine Arbeitsstätte ergaben, brachten schwere Opfer mit sich, besonders
für Kemija. Bisher hatte Haus und Garten ihr reichlich Gelegenheit zur Ausübung
ihrer vielseitigen Talente gegeben. Sie hatte den Garten in ein Blumen- und Blüten-
paradies verwandelt. Sie hatte durch meisterhafte Bewirtungen und Feste das Haus zu einem Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens in Los Angeles gemacht.
Schließlich wurde sie, inspiriert durch das Ölgemälde „Schloß Kammer“ von Gus-
tav Klimt, das von Lazette und mir 1959 in New York erworben worden war, selbst zur schöpferischen Malerin und schuf eine große Anzahl von Ölgemälden, die nicht
nur Verwunderung, sondern auch Bewunderung auslösten. Diese Bilder, die in der ausgeräumten Garage unseres Hauses entstanden waren, und jene, die in späteren
Jahren hinzukamen, prägen jetzt den Charakter unserer Wohnung in Wien. Alle diese Tätigkeiten, die Kemijas Persönlichkeit zur vollen Entfaltung brachten, mussten
angesichts der neuen Pflichten, die sie ab 1968 übernahm, in den Hintergrund tre-
ten. Von nun an war sie meine engste Mitarbeiterin – vielleicht der entscheidendste Partner in meinem Leben. Ob die Opfer, die wir beide brachten – Geld, Energie,
Zeit, Aufgabe liebgewonnener Beschäftigungen –, sich gelohnt haben, ist eine Frage,
die ich nicht zu beantworten wage. Die Bemühungen mit der Zielsetzung „Umwelt-
planung“ konnten natürlich keine sichtbaren oder greifbaren Resultate liefern. Ein
Widerhall oder gar eine Auswirkung konnte nur auf lange Sicht erwartet werden. Wir haben diese Bemühungen trotzdem fortgesetzt und auch in Europa 1973 eine ähnliche Organisation begründet: das „Zentrum für Umweltplanung“.
Auch mit der zweiten Organisation verfolgte ich einen ganz bestimmten Zweck:
„Victor Gruen International“ sollte der Aufgabe dienen, alle jene Erfahrungen und
Erkenntnisse, die ich auf dem Gebiet der Architektur, Stadt- und Umweltplanung gesammelt hatte, in Europa zur Anwendung zu bringen. Meine Hoffnung war, dass
ich meinem Heimatkontinent Wissen vermitteln und ihn davor bewahren könne,
Stadtplanungsfehler der USA zu wiederholen. Meine Devise lautete: „Amerika darf man nicht kopieren, man muss es kapieren.“
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umweltplanung
Als Missionar in Europa Die Frage, ob und wie ich Interessenten für meine Beratungstätigkeiten
gewinnen sollte, war völlig offen, da wir kaum Klienten in Europa hatten. Opti-
mistischerweise nahm ich an, dass sich jene Erfahrung, die ich kurz nach meiner
Ankunft in Amerika schon 1939 machte, nämlich dass die kleinen Samen, die ich
in fünfjähriger Architektentätigkeit in Wien gesät hatte, in Amerika Früchte tragen konnten, auch in umgekehrter Richtung wiederholen würden. Diese Hoffnung
begründete sich auch darauf, dass ich den Boden in Europa gut durchackert hatte.
Während meiner jährlichen Sommerreisen seit 1948 hatte ich mich nicht nur der
Kultur und Erholung hingegeben, sondern auch Vorträge gehalten, an Konferenzen und Kongressen teilgenommen und Gespräche mit einflussreichen Architekten,
Planern, Regierungsmitgliedern, Politikern, Wirtschaftsexperten und Wissenschaftern geführt.2 Hoffnung schöpfte ich auch deshalb, weil viele meiner amerikanischen Projekte in den führenden europäischen Architekturzeitschriften wie Architectural Record in London, L’Architecture d’ Aujourd’hui in Paris, Baumeister in
der BRD und auch in den Tageszeitungen vieler Länder wiederholt hervorgehoben
worden waren.
Auch zeitlich schien das Vorhaben begünstigt. Zwanzig Jahre waren seit dem
Ende des Zweiten Weltkrieges vergangen, genug, um die Wunden der Zerstörung
fast überall zu heilen, die Schrecknisse zu überwinden und im Zeichen der „Hoch-
konjunktur“, die dem „Wirtschaftswunder“ gefolgt war, Neues zu unternehmen.
Gleichzeitig hatte die USA den Gipfel ihres Prestiges erreicht. Alles, was ameri-
kanisch war, wurde in Europa entweder in übertriebener Weise bewundert oder
neidvoll kritisiert. Meine Position als erfolgreicher amerikanischer Architekt, der
2
Victor Gruen erwähnt hier folgende Beispiele: die Arbeit mit der Royal Academy of Architects in London, die Zusammenarbeit mit Bürgermeister Urban Hansen in Kopenhagen, mit dem er die Gestaltung der ersten Fußgängerstraße Europas (Strøget) besprach, die Europa-Gespräche in der Stadt Wien (1973), wo er das Einführungsreferat „Die europäische Großstadt – Licht und Irrlicht“ hielt; die wiederholten Vortragsreisen nach Skandinavien, wo er Vorträge in Kopenhagen, Stockholm, Oslo, Bergen, Helsinki hielt, die Besprechungen mit dem holländischen Architekten Jacob Bakema, insbesondere im Zusammenhang mit dem vom Northland Center in Detroit inspirierten Wiederaufbau der Innenstadt Rotterdams, die Teilnahme an mehreren Konferenzen in Wien, wo er auf Franz Jonas (den späteren Bundespräsidenten), Bruno Marek, Felix Slavik und Leopold Gratz traf, der Meinungsaustausch mit Stadtplanern in Hamburg (Hans Konwiarz), Stockholm (Goren Sidenbladh) Zürich (Gerhard Sidler), Wien (Roland Rainer), Moskau (Michail Posochin), Paris (Paul Delouvrier), Venedig (Giorgio Gentili), dem Bürgermeister von München (Hans-Jochen Vogel) und dem Planungsstadtrat von München (Detlef Marx).
als missionar in europa
aber über europäische Herkunft und Geisteshaltung verfügte, würde, so hoffte ich, den Zwiespalt der Einstellungen zu überwinden helfen.
Anfänglich erwartete ich eine langsame Entwicklung und sah eine gemächliche
Nebenbeschäftigung auf mich zukommen. Diese Erwartungen waren irrig. Obwohl ich auf hohe Stunden- und Tageshonorare und auf Vergütung aller Reisekosten
und Aufenthaltsspesen bestand, wurde ich mit herausfordernden Aufträgen nur so überschüttet.
Dementsprechend mussten wir uns einer neuen Art von „Nomadenleben“ an-
passen. Bald fanden wir heraus, dass wir zusätzliche Sprachkenntnisse benötig-
ten. Kemija und ich sprachen zwar Deutsch und Englisch (Kemija beherrschte außerdem Slowenisch und Serbokroatisch), was uns aber fehlte, waren gründliche
Kenntnisse der französischen Sprache. Kurz entschlossen unterzogen wir uns einem intensiven Unterricht. Wir fanden einen ausgezeichneten Französisch-Lehrer in Los Angeles, mit dem wir drei Monate lang täglich einige Stunden arbeiteten. Zu
unserer Verblüffung stellte sich heraus, dass er ursprünglich aus Wiener Neustadt, einer Kleinstadt südlich von Wien, stammte. Wir beherrschten die neue Sprache
bald so gut, dass ich Vorträge und Berichte in französischer Sprache schreiben
konnte, während Kemija ihre linguistischen Fähigkeiten so vervollkommnete, dass
man sie in Paris bald für eine Französin hielt – allerdings aus Marseille, was vom
Standpunkt eines Parisers durchaus keine Schmeichelei war.
Eine meiner Beratungstätigkeiten, nämlich die für das Alsterzentrum des Woh-
nungsunternehmens Neue Heimat in Hamburg, gab Gelegenheit, die nahe gelegene Erinnerungsstätte meiner Kindheit in Eutin, Schleswig-Holstein, wieder aufzusuchen. Mit Vergnügen stellte ich fest, dass der romantische kleine Stadtkern
unbeschädigt und unverändert zu sein schien. Alles war noch so wie zur Zeit unserer jährlichen Besuche vor dem Ersten Weltkrieg. Nur das Familienhaus und der schöne Garten waren nicht zu finden. An ihrer Stelle erhob sich – welch Ironie des
Schicksals! – ein modernes Einkaufszentrum. Erkundigungen brachten zutage, dass
das Haus während der Nazizeit beschlagnahmt und demoliert worden war, da es in
jüdischem Besitz war. Mir war wehmütig zumute.
So pendelten wir denn zwischen 1966 und 1972 fast ohne Unterlass zwischen Los
Angeles und New York einerseits und Frankreich, Belgien, Deutschland, Italien, der Schweiz, Österreich, Spanien, den Niederlanden, Dänemark, Schweden und Norwegen andererseits, mit Abstechern nach Russland, in die Tschechoslowakei, Ungarn und
Jugoslawien. Lebenskünstlerisch versuchten wir Arbeit und Vergnügen zu verbinden.
Unvergessliche Festmahle wurden in verschiedenen Städten für uns arrangiert.
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umweltplanung
Den größten Eindruck machte ein Fest der Architektenschaft in Bergen, bei dem
wir schon beim Eintritt durch ein Spalier von Fackelträgern geleitet wurden. In
Paris brachten wir bei einem Galadiner, zu dem wir einluden, die Vertreter von Regierung und Wirtschaft, Kultur und Politik, etwa sechzig Personen, im Restaurant
Le Dojen zusammen. Eine kleine Sensation war, dass wir dort auch die Ehefrauen einluden, was in Frankreich ein durchaus nicht üblicher Brauch war.
Die ursprüngliche Idee, alle Arbeit ausschließlich durch unseren persönlichen
Einsatz zu meistern, erwies sich angesichts der Vielzahl und Vielfalt der Beschäftigung als undurchführbar. Die Hauptarbeit wurde zwar von den großen Arbeitsstäben unserer vielen Klienten erbracht, oder auch von assoziierten Planern und
Architekten, aber zum Verständlichmachen von Ideen benötigte ich hochqualifizierte Zeichner. Wenn auch Kemija die Kunst, ein ausgezeichneter Reise-Marschall
zu sein, bald völlig beherrschte und die Geschäfts- und Buchführung leitete, benö-
tigten wir in den verschiedensten Ländern die Hilfe von Anwälten, Buchhaltern
und Steuerberatern. Vor allem aber musste die weitläufige Korrespondenz in den
verschiedensten Sprachen erledigt und übersichtlich aufbewahrt werden. Wo immer es ging, improvisierten wir mit der Hilfe von Sekretärinnen, die die Hotels zur
Verfügung stellten, aber in manchen Fällen genügte dies nicht.
In Paris gründeten wir die Zweiggesellschaft „Société civile de Recherches sur
l’Urbanisme“ (S.R.U.) in geräumigen Quartieren, die ein volles Stockwerk des Gebäudes 4 Avenue Marceau einnahmen. Dort vereinten wir Wohnung mit Arbeits-
und Konferenzraum, mit einem Zeichenraum und mehreren Gästeräumen für zeit-
weilig beschäftigte Techniker. Andere Arbeitsstätten, wie zum Beispiel die „Victor Gruen International Ges.m.b.H.“, entstanden in Wien im Gartentrakt des Hauses
1040, Goldeggasse 7 und später gründeten wir die „Victor Gruen Planung und Architektur AG“ mit dem Sitz in Cham in der Schweiz und mieteten für diese auch
Arbeitsräume in Wien, Traungasse 7. Andere Arbeitsstätten entstanden zeitweilig in Louvain und Brüssel in Belgien und in Mailand. In all diesen Ateliers und auch in
der Geburtsstätte der Gesellschaft, im Badehaus von Los Angeles, waren vielsprachige Sekretärinnen beschäftigt.
So vergingen sieben Jahre, während der wir überall und nirgends zu Hause wa-
ren. Während eines langweiligen Fluges zählten wir einmal zum Spaß die Zahl der
Toiletten, die wir in unseren verschiedenen Wohnungen in Los Angeles, New York, Paris, Wien und im Landhaus Bergholtzgut hatten: Siebenundzwanzig.
Die Beratungsaufgaben, mit denen wir konfrontiert waren, können in vier Kate-
gorien unterteilt werden:
als missionar in europa
1. Wiederbelebung verödeter Stadtzentren, wie zum Beispiel Wien (Österreich), Antwerpen (Belgien), Lyon (Frankreich), Mailand und Monza (Italien)
2. Entwurf und Planung neuer Städte wie Louvain (Belgien), sechs Satellitenstädte in der Region von Paris (Frankreich), zwei Städte in Nouvelle Caledonie
(Neuguinea)
3. Entwurf neuer Stadtteile wie das Wienerberger Gelände im Süden von Wien, die Donauinsel in Wien, das Alsterzentrum in Hamburg
4. Multifunktionelle Nebenstadtzentren wie eine Reihe von Zentren für Kooperativa Förbundet (Schweden), ein regionales Zentrum für Floridsdorf, Wien,
regionale Zentren in Nizza, Orleans, Bordeaux, Nancy und Strasbourg (Frankreich), das Tête Défense in dem neuen Stadtteil La Défense, Paris, ein regiona-
les Zentrum in der Nord-West-Region von Mailand und eine Reihe von Zentren in der Schweiz.
Ähnlich wie in der Medizin wurde ich als „Städtearzt“ oder „Urbanologe“ zur Diagnose der verschiedensten Krankheitserscheinungen zu Rate gezogen. Gelegentlich
lagen schon Diagnosen verschiedener anderer Spezialisten vor, sodass oft vermerkt
wurde, die Natur der Krankheit und mögliche Heilmethoden schon zu kennen. Die
Symptome der kranken Städte: Kreislaufstörungen, Alterserscheinungen, Vergif-
tungen durch die Überdosis von Fremdstoffen, Vitaminmangel, Blutarmut, Verstopfungen, Unterernährung, Übersättigung oder Herzschwäche.
Als „Städtearzt“ verfügte ich in meiner Instrumententasche über jene Heilmittel,
die ich in meiner langjährigen Erfahrung entwickelt und gesammelt hatte. Über
sie habe ich ausführlich in den Büchern The Heart of Our Cities. Das Überleben der
Städte und Die lebenswerte Stadt berichtet.3
Für die „lebenswerte und liebenswerte Stadt“ galten für mich folgende Leitlinien:
a) Auch eine große Stadt darf nicht ein aufgeblasenes Zerrbild einer maßgerech-
ten urbanen Einheit sein, sondern eine gegliederte Föderation von selbstständigen
maßgerechten Stadteinheiten, von denen jede eine Bevölkerung zwischen vierzig-
tausend und achtzigtausend umfassen könnte.
b) Jede dieser Stadteinheiten ist untergliedert, um die Identifikation mit maßge-
rechten Teil-Einheiten zu erlauben und um Sterilität zu vermeiden. Solche Untergliederungen könnten sein: Bezirke, Stadtviertel, Nachbarschaften, Gemeinschaf-
ten, Familienverbände.
3
Victor Gruen, The Heart of Our Cities. The Urban Crisis: Diagnosis and Cure. Simon and Schuster: New York 1964; Victor Gruen, Das Überleben der Städte: Wege aus der Umweltkrise. Molden: Wien 1973.
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umweltplanung
c) In jedem Element der Gliederung und Untergliederung findet eine kleinkör-
nige Verflechtung sowohl aller soziologischen Gruppierungen als auch aller städtischen Einrichtungen (Wohnstätten, Arbeitsstätten, Kulturstätten, Lehrstätten, Ver-
gnügungsstätten, Gesundheitsstätten usw.) statt. Eine kleinkörnige Verflechtung ist
nur dann erreichbar, wenn jede einzelne Funktion und die Gebäude und Anlagen,
die sie beherbergen, von maßgerechter Größe sind und wenn jeder „Gigantismus“
vermieden wird.
d) Die „lebenswerte Stadt“ ist eine räumliche Stadt, das heißt sie ist unter Nut-
zung der drei Dimensionen Länge, Breite und Höhe geplant. Die kleinkörnige Verflechtung wird also nicht nur durch Verflechtung im horizontalen, sondern auch durch eine im vertikalen Sinn erreicht.
e) Während auf dem Gebiet der menschlichen Beziehungen engste Integration
angestrebt wird, ist im Hinblick auf das Verhältnis zwischen vorwiegend technischen und vorwiegend menschlichen Funktionen die höchstmögliche Separation
anzustreben. Aufgrund des multidimensionalen Planungsprinzips ist es möglich,
technische Gemeinschaftsanlagen und Hauptleitungen (Kanal, Verteilerstationen,
Gashauptleitungen), inklusive aller Verkehrsflächen, die der mechanischen Fortbe-
wegung dienen, auf jenen Ebenen unterzubringen, die für menschliche Bleibeorte
und Betätigungen wenig wünschenswert erscheinen. Eine solche Unterbringung
kann unterirdisch oder unter künstlichen Plattformen erfolgen, wobei als Grundsatz zu beachten ist, dass technische Hilfseinrichtungen so wenig wie möglich gesehen, gehört oder gerochen werden sollen.
f) Als äußere Form der Stadteinheiten und Untergliederungen wird sich, um
gleiche Entfernungen herzustellen, jene günstigste anbieten, die dem Kreis nahe-
kommt. Dieser besitzt in Relation zu seinem Umfang die größte Fläche, in ihm sind
alle Entfernungen zum Mittelpunkt gleich lang. Dies soll keineswegs bedeuten, dass
eine mechanische Verwendung des Kreises empfohlen wird, sonders nur, dass un-
ter Berücksichtigung der Topografie, der Geografie, der klimatischen Verhältnisse
und der Tradition unregelmäßige Formen entstehen sollen, die sich aber eher der
Ballen- als der Bandform nähern.
g) Die Besiedlungsdichte einer Stadt (Einwohnerzahl per Maßeinheit) ist eine
Frage, die die Gemüter erhitzt. Hier gibt es eine Bandbreite, die von Schwellenwerten begrenzt wird. Eine zu geringe Dichte und „Verhüttelung“ wie z. B. in Los Angeles macht Urbanität unmöglich und vergeudet natürliche Güter wie Land, Wasser, Luft, Fauna, Flora und Rohstoffe unnötigerweise. Eine zu große Dichte führt
zu Übersättigung und zum Ersticken der Urbanität. Als maßgerechte Dichte, die
als missionar in europa
weder zu einem Gedränge von Menschen noch zu einem Gedränge von Verkehrsmaschinen führt, können einhundertfünfzig bis vierhundert Personen per Hektar angenommen werden.
h) Freiheit des individuellen Ausdrucks kann in der gegliederten Stadt, die sich
aus kleinen und kleinsten Einheiten zusammensetzt, erreicht werden, weil die
einzelnen Bauwerke und Anlagen von Zehntausenden kreativen Kräften im Zu-
sammenwirken mit den Benützern gestaltet werden können. Superprojekte, die a
priori unter Sterilität leiden, soll es in der lebenswerten Stadt nicht geben.
i) Aufgrund ihres strukturellen Aufbaues, der aus autarken und semiautarken
Gliederungen und Untergliederungen besteht, und des Prinzips der kleinkörnigen
Verflechtung wächst die Möglichkeit, die direkte menschliche Kommunikation stärker zu nützen. Gleichzeitig schrumpft der Bedarf an Verkehrseinrichtungen. Der
verringerte Bedarf an Zwangsmobilität kann problemlos durch Gemeinschaftsfahrzeuge (zum Beispiel Taxis) und kollektive Fahrzeuge (Autobusse, U-Bahnen, Straßenbahnen) gemeistert werden.
j) Die lebenswerte Stadt ist nicht nur in besonderen Ausnahmefällen möglich,
wie etwa bei der Planung und Anlage neuer Städte. Jede unserer bestehenden Städte kann schrittweise den Visionen der lebenswerten Stadt nähergebracht werden.
Da die Eigenschaft des Lebenswerten auch durch eine Verflechtung von Altem und
Neuem ohne zu tiefe Eingriffe in das Gewohnte angestrebt wird, scheinen sich der
schrittweisen Umgestaltung bestehender Städte aussichtsreiche Chancen zu eröff-
nen.
Dem allgemein verbreiteten Glaubensbekenntnis der von Le Corbusier erarbei-
teten „Charta von Athen“ setzte ich die Prinzipien der von mir 1973 veröffentlichten „Charta von Wien“4 entgegen: Im Wesentlichen setzte ich den zentralen Begriffen der „Charta von Athen“ – Entlastung, Entflechtung und verkehrsgerechte
Gestaltung der Stadt – die der Förderung höchster Kompaktheit, größtmöglicher
Verflechtung und der nicht autogerechten, sondern menschengerechten Stadt entgegen. In diesem Sinn erklärte ich, dass ich die mit höchster Priorität behandelte
Verkehrsplanung im Prinzip für irrig halte. Ich empfahl nicht für den Verkehr, sondern gegen den Verkehr zu planen, um in der Anlage von städtischen Einheiten und
Untereinheiten ein Höchstmaß an Kommunikation zu Fuß und ein Mindestmaß an mechanisiertem Verkehr zu erreichen.
4
Victor Gruen, Charta von Wien. In: Das Überleben der Städte: Wege aus der Umweltkrise. Molden: Wien 1973.
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umweltplanung
Die Ausübung meiner „städteärztlichen“ Tätigkeit wurde erschwert durch die
verschiedensten nationalen „Spleens“ (die mir in den USA nicht untergekommen waren). So zum Beispiel gab es bei den Architekten und Planern in Frankreich
gewisse Vorstellungen von Monumentalität und Repräsentation. Immer wieder
wurde vorgeschlagen, in Stadtzentren auch einen „Place de la Prestige“ zu schaffen, wobei allerdings niemand wusste, durch welche Art von Gebäuden dieser Platz
umrahmt werden sollte. Mit der Begründung, dass „Animation“ unerlässlich wäre,
wollten viele Kollegen Autos selbst dort zulassen, wo keine Notwendigkeit dafür
war. Die jungen Architekten, die meist der äußersten politischen Linken angehören,
schworen auf eine sogenannte „Agora“, um einen geeigneten Platz für Studentendemonstrationen und Barrikadenkämpfe zu haben. Ältere Kollegen hingegen wa-
ren im Geiste des berühmten Architekten Georges-Eugène Haussman bemüht, eindrucksvolle Perspektiven entlang breiter Paradestraßen zu schaffen. Bei russischen
Kollegen entdeckte ich eine Vorliebe für bürokratische und militärische Ordnung, die italienischen wechselten ihre Präferenzen zwischen Futurismus oder Nostalgie.
Die Geschichte der etwa sechzig Fälle, zu denen ich als „Urbanologe“ hinzugezo-
gen wurde, ist für die Nachwelt teilweise in einer Sammlung des Archivs der Stadt
Wien und teilweise in der Library of Congress in Washington D.C. erhalten worden.
Viele von ihnen sind als Fallstudien in meinen Büchern Das Überleben der Städte
und Centers for the Urban Environment5 beschrieben und illustriert. Lediglich drei
Projekte sollen hier in Kurzform demonstriert werden:
Louvain la Neuve, Belgien
Aufgrund der bedauerlichen ethnischen Differenzen zwischen der flä-
misch und der französisch sprechenden Bevölkerung Belgiens musste für die etwa
20.000 frankophonen Studenten der uralten Universität von Louvain eine völlig neue Stadt gebaut werden. In der Folge sollte diese Universitätsstadt eine ganze
Stadt für 50.000 Einwohner werden. Die Beratungstätigkeit begann damit, ein geeignetes völlig unbebautes Terrain zu finden. Nachdem ein 350 Hektar großes Areal
gefunden war, entwickelte ich aufgrund der Leitlinien des Konzepts der lebenswer-
ten Stadt eine äußerst kompakte, gegliederte Stadt, einschließlich eines sie umgebenden Grüngürtels. Das Konzept, das eine autofreie, durchgrünte Föderation
5
Victor Gruen, Centers for the Urban Environment: Survival of the Cities. Van Nostrand, Reinhold: New York 1973.
als missionar in europa
von fünf Unterstädten vorsah, wurde vom akademischen Rat gebilligt. Dann aber überließ die belgische Regierung in ihrem Bestreben zu helfen der Universität ein
Areal von 900 Hektar. Hierdurch wurden viele der selbstauferlegten Beschränkungen gegenstandslos, die eine kompakte gegliederte Stadt ermöglicht hätten.
Die Ausführungspläne, die in Zusammenarbeit mit einem belgischen Pla-
nungsteam entstanden, bewirkten eine Ausweitung des Stadtgebietes, die zur Folge hatte, dass das ursprüngliche Konzept, jeden Autoverkehr im urbanen Gebiet auszuschließen, nicht mehr aufrechterhalten werden konnte. Die neue Stadt, die
den Namen Louvain la Neuve erhielt, ist seit 1971 in Konstruktion. Etwa 13.000 Studenten sind dort schon jetzt untergebracht. Die ursprüngliche Gliederung in semi-
autarke Quartiere wurde zwar beibehalten, aber neben einem System von Fuß- und
Radfahrwegen wurde auch ein komplettes Straßensystem vorgesehen. Einzelne
Gebäude und Gebäudegruppen, die von verschiedenen Architekten liebevoll ent-
worfen wurden, bieten einen reizvollen Anblick, andere Teile der Stadt jedoch sind in monotoner Weise durch massenproduzierte Gebäude gestaltet.
Zusammenfassend muss eingestanden werden, dass meine jahrelangen Bemü-
hungen um dieses Projekt nur Teilerfolge brachten.6
Die Region von Paris
Unter der Präsidentschaft von General Charles de Gaulle wurde ein ambi-
tionierter Plan für ein gelenktes Wachstum der Pariser Region bis zum Jahre 2000
erstellt. Eine zukünftige Bevölkerung von etwa 14 Millionen wurde ins Auge gefasst.
Die Zielsetzung bestand darin, die in Amerika übliche amorphe Zersiedelung zu
vermeiden und stattdessen sechs oder sieben semiautarke Großstädte zu schaffen. Das notwendige Land für die Urbanisierung, aber auch das Terrain für breite
Grüngürtelzonen wurde vom Staat erworben, die Erschließung des Gesamtgebie-
tes durch öffentliche Verkehrsmittel, Straßen, technische und soziale Infrastruktur
waren geplant.
Die Tatsache, dass ich von der USA-feindlichen Administration besonders für
die Planung der Kerngebiete der neuen Städte und Nachbarschaften herangezogen
wurde, hatte ich nur dem Umstand zu verdanken, dass ich als Europäer betrachtet
wurde, weil ich in Wien aufgewachsen war. Meine Tätigkeiten begannen in der zen6
Laut Wikipedia wohnten 2011 ca. 10.000 ständige Einwohner_innen in Louvain-la Neuve; als zentrale Figuren der Stadtplanung und Architektur werden hier Raymond Lemaire, Jean-Pierre Blondel and Pierre Laconte genannt.
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umweltplanung
tralen Planungsstelle, wurden aber für jede der neugeschaffenen Präfekturen der neuen Städte fortgesetzt. Es gelang mir ohne Zweifel, den Entwurf der Stadtkerne
und Nebenstadtkerne zu beeinflussen. Schwierigkeiten entstanden dadurch, dass
das Land für urbane Zwecke in übergroßen Flächen zur Verfügung gestellt wurde,
sodass trotz aller meiner Bemühungen eine größtenteils sehr lockere Bebauung in
Stil von Los Angeles nicht vermieden werden konnte.
Die größten Probleme aber ergaben sich daraus, dass unter der Präsidentschaft
von de Gaulles Nachfolger, Georges Pompidou, eine scharfe Rückwendung von der
staatsgelenkten zur privatkapitalistischen Wirtschaftsgesinnung erfolgte. Die Aus-
führung der zum Gemeinwohl bestimmten Planung wurde großen Bauunterneh-
mungen übertragen, die im Sinne des Renditendenkens radikale Änderungen der
ursprünglichen Planung vornahmen. Die Satellitenstädte sind jetzt im Bau. Die ursprünglichen Planungsideen kommen jedoch nur mangelhaft in einigen der neuen
Stadtkerne und Nebenstadtkerne zum Ausdruck.
Kerngebiet Wien
Während meiner vielen Reisen nach Wien zwischen 1948 und 1968 hatte
ich wegen des besonderen Interesses, das mich mit meiner Geburtsstadt verbindet,
fast jährlich Unterredungen über die planerische Gestaltung dieser Stadt mit Bürgermeistern, Planungsdirektoren, aber auch mit Wirtschaftsführern. Schließlich
erhielt ich 1969 von der Stadtverwaltung den Auftrag, eine Studie über die Neuge-
staltung und Revitalisierung des Kerngebietes zu unternehmen. Der Auftrag betraf
auch alle Maßnahmen, die zum Zwecke der Gesundung der Innenstadt in den äu-
ßeren Bezirksteilen und dem Umland als notwendig erschienen.
Das Kerngebiet Wien ist identisch mit dem ersten Wiener Gemeindebezirk,
aber auch mit dem ältesten Teil der Stadt, wie er bis 1860 mit Festungsmauern und
Stadttoren umgeben war. Die ursprüngliche Einwohnerschaft von über 100.000 war
auf 25.000 zurückgegangen. Der frei gewordene Raum war durch Geschäftshäuser, Gewerbebetriebe und Büros übernommen worden. Im Kerngebiet befinden
sich aber auch die bedeutendsten öffentlichen Gebäude wie Museen, Burgtheater,
Staatsoper, Konzertsäle, die schönsten Kirchen, die Ministerien sowie das Hauptgebäude der Universität. Einkäufern und Besuchern stehen Hunderte von kleineren
und mittleren Geschäften sowie eine große Anzahl von Gaststätten zur Verfügung.
Die Voraussetzungen der Multifunktionalität waren also zum größten Teil intakt.
Ihre Nutzung jedoch litt darunter, dass das engmaschige, unregelmäßige, spinnen-
als missionar in europa
netzartige System von kleinen Straßen, Gassen und Plätzen mit Personenautos und
Lastkraftwagen derart überlastet war, dass Verkehrsverstopfungen zur Regel wurden, und der Fußgängerverkehr ernstlich gefährdet wurde. Die hierdurch erzeugte
Lärm- und Abgasbelästigung drohte auch die letzten Einwohner zu vertreiben und
wirkte abschreckend auf Käufer und Besucher.
Unsere Studie, die 1971 abgeschlossen wurde, zeigte Methoden auf, durch die
die gesamte Innenstadt innerhalb der fast kreisförmigen Umfahrungsstraßen
(Ring – Franz Josefskai – Lastenstraße) als Umweltoase gestaltet werden könnte.7 Weiters wurde dargelegt, wie dieses Gebiet besonders durch Verbesserung des öffentlichen Verkehrs besser erreicht werden könnte, und in welcher Weise
innerstädtische Kommunikation mittels elektrisch betriebener Kleinfahrzeuge
(Fußgänger-Hilfsverkehrsmittel) erleichtert werden könnte. Für den Waren- und
Mülltransport wurde vorgeschlagen, teilweise die in Projektierung befindlichen U-
Bahnlinien während später Nachtstunden und früher Morgenstunden zu benützen, teilweise aber auch ein System von unterirdischen Förderbändern und schließlich
elektrische Gütertransport-Fahrzeuge einzurichten, die während früher Morgen-
stunden verkehrten.
Die störenden Nebenwirkungen des Individualverkehrs sollten durch konzent-
rische Umfahrungsringe eingedämmt werden. Jeder dieser Ringe würde aus einer
Umfahrungsstraße und zugeordneten Garagen und Güterumlagerungsstätten bestehen. Der äußerste würde außerhalb der Stadtgrenzen liegen und war als Auf-
fangbecken für den größten Teil des aus der Region heranfahrenden Individual-
verkehrs gedacht. Als zweiter Ring würde der bestehende Gürtel und als dritter der Doppelkreis von Ring, Franz Josefskai und Lastenstraße dienen. Entlang dieser
Letzteren würden ausschließlich Untergrundgaragen geschaffen werden, in der Innenstadt waren Privatfahrzeuge nicht erlaubt.
Das Ziel des Konzeptes war es, durch die Reinhaltung der Luft, die Verringe-
rung des Lärms und durch zusätzliches Grün die Umweltbedingungen derart zu
verbessern, dass das Kerngebiet als lebenswertester Bereich der Stadt sowohl als
Wohnort als auch als Besuchsort wieder größere Anziehungskraft ausüben würde.
Meine Vorschläge dazu: Die Erschließung der Innenstadt durch neue Untergrundbahnlinien, der völlige Ausschluss des benzinbetriebenen Fahrzeugverkehrs sowie
Ersatz der üblichen Einzelbeheizungen durch Fernheizmethoden. Weiters schlug
7
Victor Gruen, Kerngebiet Wien, Bericht über den Abschluss der ersten Arbeitsphase (1970, unveröffentlichte Broschüre in der Library of Congress in Washington und der Wienbibliothek im Rathaus).
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umweltplanung
ich die Umsiedlung von kernfremden Funktionen, die viel Land und Lastenverkehr
beanspruchten (wie Lagerhäuser, Speditionen, gewisse Industriebetriebe) in ande-
re Teile der Stadt vor. Jene Flächen, die hierdurch frei werden, sollten hauptsächlich zur Errichtung von Wohnungen genutzt werden.
Die Aufgabe, meine Vaterstadt lebenswerter zu gestalten, war mir natürlich ein
Herzensanliegen, für das ich viel Energie, meinen gesamten Erfahrungsschatz und
beträchtliche Geldmittel (ungefähr doppelt so viel, wie ich an Honorar erhielt) einsetzte. Ich hatte diese Aufgabe in Zusammenarbeit mit den hierfür zuständigen Ma-
gistratsabteilungen der Stadtverwaltung durchzuführen. Diese Bedingung erwies sich unglücklicherweise nicht als Hilfe, sondern als Hindernis. Es zeigte sich, dass
auch hier, wie in den meisten Städten der Welt, die Planungs-Bürokratie aus Spezialisten bestand, die unfähig waren, universell zu denken oder zu planen. Spezifisch
hatte ich mit Verkehrsspezialisten zu tun, die unter der viel verbreiteten Krankheit
„Autoneurosis“ litten. Die Planungsgesinnung dieser Art von Verkehrsfetischisten
setzt sich das Ziel, die Stadt autogerecht zu gestalten und betrachtet Straßenbah-
nen, Autobusse, aber besonders Bäume und Bepflanzungen als lästiges Hindernis.
Ihnen hatte ich erst beibringen müssen, was ein Fußgänger ist.
Alle Maßnahmen, die ich vorschlug und die darauf hinausliefen, die Stadt men-
schengerecht zu gestalten, stießen nicht nur auf völliges Unverständnis der Pla-
nungsbürokratie, sondern auf offenen Widerstand. Ich wurde zum Beispiel gezwungen, ein ganzes Kapitel meines Berichtes zu eliminieren, in dem ich empfahl, das geplante Stadtautobahnnetz nicht zur Ausführung zu bringen. Sollte ich mich dieser Zensur nicht fügen, so würde ich kein Honorar erhalten.8
Trotzdem weigerte sich die Stadtverwaltung, den Planungsbericht zu veröffent-
lichen und wies sogar das Angebot eines großen privaten Verlegers (Fritz Molden) zurück, den Bericht in Buchform herauszugeben.
Unter diesen Umständen ist es immerhin bemerkenswert, dass zumindest Teile
des Gesamtplanes schrittweise zur Ausführung gelangten. So sind im Jahre 1979 ei-
nige Linien der Untergrundbahn fertiggestellt, einige der Tiefgaragen gebaut und in
Betrieb genommen worden, eine Reihe von Straßenzügen der Innenstadt zu Fußgängerzonen umgewandelt und eine beschränkte Anzahl von Diesel-Minibussen
für den Lokalverkehr innerhalb des Kerngebietes in Betrieb genommen worden.
8
Mein wiederholter Hinweis, dass der Plan nur in der Gesamtheit seiner ZielIn den Sechzigerjahren war eine Stadtautobahn, die sogenannte Donaukanal-Autobahn, quer durch Wien geplant. Nach jahrelangen politischen Konflikten verabschiedete sich der Wiener Bürgermeister Felix Slavik in einer Grundsatzerklärung 1972 von dem Projekt.
als missionar in europa
setzung voll gerecht werden könne, wurde von einem der leitenden Beamten der
Magistratsabteilung in folgender Weise beantwortet: „Wir wissen, Herr Architekt, dass das, was Sie vorgeschlagen haben, in seiner Ganzheit notwendig sein wird,
aber wir fürchten uns davor, die Wähler zu erschrecken und gehen daher nach der
Salami-Taktik vor.“ (Salami ist eine beliebte Stangenwurst, von der man dünn Scheibe für dünne Scheibe herunterschneidet und verzehrt.)
Trotz aller Widrigkeiten und Widerstände wurde ich im Zusammenhang mit
diesem Projekt offiziell geehrt. Ich erhielt nicht nur den Architekturpreis der Stadt
Wien (1972), sondern auch das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um das Land
Wien (1978). Letztendlich hat sich auch die teilweise Verwirklichung der Planungsvorschläge in einer kräftigen Belebung des Geschäfts-, Gesellschafts- und Kulturlebens der Wiener Innenstadt ausgewirkt. Von den übrigen Projekten wurden einige
nicht oder noch nicht durchgeführt. In manchen Projekten wurden die Zielsetzungen durch Reduzierungen oder Veränderungen ursprünglicher Ideen nur teilweise
erreicht. Rückblickend auf die intensive Tätigkeitsperiode als Missionar in Europa
zwischen 1966 und 1972 kann sie als für mich überaus lehrreich und für die vielen
Mitarbeiter, mit denen ich zusammenarbeitete, als fruchtbar bezeichnet werden.
Wenn die Resultate in vielen Fällen hinter den Erwartungen zurückblieben, so ist
dies auf Hemmnisse und Sachzwänge zurückzuführen, die ohne besonderen Unter-
schied des Gesellschafts- und Wirtschaftssystems auftraten.
Als Hauptursache für Enttäuschungen sind meiner Ansicht nach eine Serie an
Umstände verantwortlich: Entscheidend war das Fehlen von Persönlichkeiten, die
als Universalisten bereit oder imstande wären, Stadtplanungsprobleme von verschiedenen Seiten zu betrachten. Ich fand, dass überall ausgezeichnet ausgebilde-
te Spezialisten zur Verfügung standen, zum Beispiel für die Verkehrsplanung oder den Entwurf von Einzelanlagen, aber dass nirgends Mitarbeiter eingesetzt werden
konnten, die bereit waren, über die Scheuklappen eines Spezialgebietes hinauszublicken. So hatte ich es zum Beispiel bei der Planung der Satellitenstädte in der
Region von Paris entweder mit Absolventen der Ecole des Ponts et Chaussees (Brücken- und Straßenbau) oder mit den ästhetisch orientierten Absolventen der Ecole
des Beaux Arts zu tun. Die Mitarbeiter, die das Planungsamt der Stadt Wien zur
Verfügung stellten, waren durchwegs Tiefbautechniker.
Es zeigte sich auch, dass die (in den demokratischen Staaten gewählten, in den
autoritären bestimmten) Politiker der Planungstätigkeit wenig Interesse entge-
genbringen. Ein Umstand, der sich aus ihrer Vorbildung erklärt. Trotzdem aber
bestehen sie in den meisten Fällen darauf, entscheidenden Einfluss besonders auf
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umweltplanung
die populären Durchführungsmaßnahmen auszuüben. Bei Planungsvorhaben, die
zu ihrer Verwirklichung einen Zeitraum von zwanzig bis dreißig Jahren benötigen, wirkt es besonders zerstörend, wenn Politiker deutlich wahrnehmbare Maß-
nahmen zu gewissen, ihnen wichtigen Zeitpunkten, wie zum Beispiel vor Wahlen, fertiggestellt und eröffnet haben wollen. Dadurch ergibt sich oft, dass essenzielle
Maßnahmen, die weniger publikumswirksam sind, hinausgeschoben oder überhaupt nicht durchgeführt werden.
Hinzu kommt, dass im Falle von großen Vorhaben – wie zum Beispiel für die
Region von Paris – zwar unabhängige Planungsorganisationen geschaffen werden, die unabhängig von der Tagespolitik im langfristigen Interesse der Gemeinschaft
planen, kommt es aber zur Durchführung des Projekts, werden verschiedene Teile des Gesamtprojektes an private Unternehmen vergeben. Es erweist sich dann
meistens als unmöglich, die Interessen der Ausführenden mit denen des großen
Planes in Einklang zu bringen. Das Interesse für das Gemeinwohl wandelt sich im Interesse der Privatunternehmer im Streben nach hoher Rendite. Solange diese Praxis der Zweiteilung andauert, ist das Geld, das für öffentliche, gemeinnützige Stadt- oder Raumplanung aufgewendet wird, nicht voll zu rechtfertigen.
Trotz dieser Hemmnisse und Sachzwänge hatte diese Beratungstätigkeit Auswir-
kungen nicht nur für jene Städte und Behörden, mit denen ich direkt zusammenwirk-
te, sondern auch andernorts. Die Idee der Einführung autofreier Gebiete in Städten
hat in ungefähr vierhundert europäischen Städten Widerhall gefunden. Darüber hinaus haben aber besonders die Rückschläge und Hindernisse nicht nur mir, sondern
Tausenden anderen die Überzeugung gebracht, dass die schwerwiegenden Probleme,
die allen menschlichen Siedlungen gemein sind, nicht allein durch die konventio-
nellen Mittel der Planung gelöst werden können, sondern dass eine grundlegende
Änderung des menschlichen Verhaltens in Bezug auf soziologische und ökologische
Gegebenheiten erforderlich ist. Diese Aufgabe aber kann weder durch Politiker noch
Planer, Architekten, Ingenieure und Techniker alleine bewerkstelligt werden. Sie bedarf der engsten Zusammenarbeit von Wissenschaftern aller Disziplinen.
Als Zeugnis dafür, dass meine Missionarstätigkeit Widerhall fand, zitiere ich ei-
nen im Juli 1978 in der Tageszeitung Tages-Anzeiger veröffentlichten Artikel des
Schweizer Schriftstellers Rudolf Schilling: Victor Gruen ist der Wegbereiter einer neuen Definition der Rolle des Architekten. Nach seiner Auffassung besteht diese
weniger darin, Baudenkmäler zu errichten, als darin, gegenüber dem Bauherrn das
soziale Gewissen zu vertreten. Der Architekt als Umweltplaner und Umweltveränderer ist in erster Linie vor der Gesellschaft und vor der Natur verantwortlich und
als missionar in europa
hat deshalb gerade heute immer wieder für Selbstbeschränkung und Rücksicht auf die gesellschaftliche und natürliche Umwelt einzutreten.
Umweltzentren
Aufgabe des „Victor Gruen Center for Environmental Planning“ sollte es
sein, auf Grundlage des Wissens der Humanökologie zu wirken. Dies sollte durch
das Studium und die Erweiterung von Forschungsergebnissen auf dem Gebiet der
Natur- und Gesellschaftskunde erfolgen, durch Weitergabe von Kenntnissen an
Schüler und Massenmedien, durch Einflussnahme auf gesetzgebende Körperschaf-
ten und Persönlichkeiten und durch praktische Arbeit auf dem Gebiet der Stadt-,
Regional- und Energieplanung.
Dem erstellten Programm versuchten wir durch die Herausgabe von Büchern
und Broschüren sowie Flugschriften gerecht zu werden, durch die Veranstaltung
von Konferenzen und Seminaren, durch Rundfunk- und Fernsehsendungen und
durch Kurse für Lehrkräfte an öffentlichen Schulen. Zusätzlich begründeten und
vergrößerten wir laufend eine frei zugängliche Bibliothek. Bücher, Broschüren, Zeitschriften und eine internationale Sammlung an Zeitungsausschnitten sollten Einblick in die einschlägigen Veröffentlichungen vermitteln. Wir unterhielten auch
eine rege Korrespondenz, um Informationen mit anderen in- und ausländischen
Organisationen, mit Wissenschaftern und Politikern auszutauschen.
Für die Leitung des Institutes gewann ich Frau Dr. Claudia Moholy-Nagy, die
Tochter des Bauhauskünstlers Laszlo Moholy-Nagy. Sie widmete sich in idealistischer Weise ihrer Aufgabe mit größtem persönlichen Einsatz. Dies war umso bewundernswerter, als sie es trotz ihrer durch die Gicht völlig entstellten Hände
zuwege brachte, rapid Schreibmaschine zu schreiben. Zu diesem Zweck klopfte sie
statt mit den Fingern mit zwei Stiften auf die Tasten, die sie in ihren zusammen-
gekrümmten Fäusten festhielt. Sie erkrankte schließlich schwer und erlag ihrem
Leiden 1971 im Alter von fünfunddreißig Jahren.
Eine ihrer Freundinnen, Tracy Susman, Gattin eines angesehenen Anwalts, über-
nahm als Nachfolgerin die Leitung. Als ihre Stellvertreterin und Bibliothekarin
agiert Rose-Marie Rabin-Epstein. Sie war besonders an den Problemen der huma-
nistischen Erziehung sowie Umwelt interessiert und erwarb ein Master-Diplom für
urbane Probleme und Stadtplanung von der Antioch University in Los Angeles. Des
Weiteren gab es in wechselnder Größe ein teils aus bezahlten, teils aus freiwilligen Mitarbeitern bestehendes Personal.
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umweltplanung
Wir betrachteten es als unsere Aufgabe, in einer hauptsächlich materialistischen
Zielen gewidmeten, fortschrittsgläubigen Leistungsgesellschaft ein „Umweltgewissen“ zu erwecken. Wir wollten eine warnende Stimme sein gegen die gedanken-
lose Ausbeutung natürlicher Güter, wie der reinen Luft, des reinen Wassers, des
fruchtbaren Bodens, unersetzbarer Rohstoffe und der gesamten Flora und Fauna.
Gleichzeitig aber warnten wir vor der Ausbeutung des Menschen, wie der Bevöl-
kerung der dritten und vierten Welt, der ethnischen Minoritäten im eigenen Land
und schließlich auch vor jenen, die im Stress des Strebens nach steigender Produktion und Konsumation, physische und psychische Gesundheit aufs Spiel setzen
und im wahren Sinn des Wortes am Leben vorbeihetzen. Wir versuchten zu veranschaulichen, dass eine Fortsetzung des gegenwärtigen Verhaltens unvermeidlich
zu weltweiten Katastrophen, zu Hungersnöten, Umweltverseuchung, Energie- und
Rohstoffkrisen und in der Folge zu Revolutionen und schließlich zu verheerenden Kriegen führen würde.
In unserem Bestreben wurden wir durch eine langsam wachsende Gruppe an
Wissenschaftern, Planern, Architekten und öffentlichen Mandataren, die als Beratungsteam wirkten, unterstützt. Die Frage jedoch, durch welche Mittel das Um-
weltgewissen aufgerüttelt werden sollte, war schwer zu beantworten. Sollte und
konnte man versuchen, das von oben nach unten, also durch Einflussnahme auf
Entscheidungsträger, Behörden, Regierungsmitglieder, gewählte Volksvertreter zu
besorgen? Sollte man sich bemühen, auf die Wirtschaftstreibenden mäßigend ein-
zuwirken? Oder sollte man umgekehrt von unten nach oben arbeiten? Im letzten
Fall müsste man eine breite Öffentlichkeit und vor allem die Jugend durch Aufklärung und Erziehung auf die Bedrohungen und die möglichen Reaktionen aufmerksam machen, in der Hoffnung, dass eine Steigerung des Umweltbewusstseins der
Bevölkerung im demokratischen Prozess Widerhall bei Volksvertretern und der Regierung finden würde.
Wir versuchten auf all diesen Wegen vorwärtszukommen und erlebten Enttäu-
schungen. Massenaussendungen, mit denen wir zahlende Mitglieder zu gewinnen
suchten, kosteten viel Arbeit und erhebliche finanzielle Mittel, blieben aber wir-
kungslos. Von Entscheidungsträgern erhielten wir aufmunternde Worte, aber es folgten keine Taten. Besonders in den ersten drei Jahren, während der Kemija und
ich uns noch viel in Los Angeles aufhielten, schienen mir die dürftigen Erfolge den großen Einsatz von Arbeit und Geld in keiner Weise zu rechtfertigen. In einer Ära
des vermeintlichen Überflusses und einer expansiv wachsenden Wirtschaft stießen
wir scheinbar auf taube Ohren.
als missionar in europa
Schließlich mussten wir erkennen, dass für Bemühungen, die weder Profite,
Macht noch Ehrungen einbringen konnten, Erfolge nicht im Sturmschritt zu erringen waren. Sie würden sich, wenn überhaupt, erst in Jahrzehnten einstellen. In der
Zwischenzeit gingen aber unsere finanziellen Mittel zur Neige. Wir konnten das
große Haus am Beverly Glen Boulevard, das als Sitz der Organisation diente, nicht
länger aufrechterhalten und verkauften es 1974. Aber zu dieser Zeit war der Ruf des
Zentrums zu unserer Überraschung schon so weit gefestigt, dass eine der großen Privat-Universitäten, das Pepperdine College in Los Angeles, uns Räumlichkeiten in einem der Universitätsgebäude frei zur Verfügung stellte.
Auch finanzielle Unterstützung traf langsam ein. Allen voran von der privaten
Leshay-Foundation, weiters vom California Council for the Humanities, The National Endowment for the Arts, der K-100 Radio Station und anderen. Die Bereitwil-
ligkeit für Spenden resultiert in Amerika teilweise daher, dass alle Zahlungen an gemeinnützige Organisationen von der Steuer abgesetzt werden können. Hierzu
kommt, dass staatliche Behörden sich bereit erklärten, alle Beträge, die eine gemeinnützige Körperschaft aus privaten Spenden erhielt, ihrerseits zu verdoppeln.
Durch diese Zuwendungen konnten der Stab und die Bibliothek aufrechter-
halten werden. Wir organisierten zahlreiche Veranstaltungen in Los Angeles und
Umgebung: 1972 hielt der Science-Fiction-Autor Ray Bradbury einen Vortrag zum
Thema „Leben auf unserem Planeten im Jahre 2025“, wir organisierten ein Symposium über die projektierte Gesetzgebung „Environmental Quality Act“ und boten
ein internes Studienprogramm für fünf Studenten der dritten Welt an. 1973 erhielt erstmals ein Student der dritten Welt, der Westafrikaner Benson Emesiobi, ein
Stipendium (er ist heute Stadtplaner in Nigeria). Im selben Jahr wurde der erste
Planungspreis an William D. Ruckelshaus, dem ersten Verwalter der „Environmental Protection Agency“ vergeben. 1974 hielt Stewart Udall, Innenminister unter den
Präsidenten Kennedy und Johnson, einen Vortrag zum Thema der Energiekrise.
1975 referierte John Hirten, der Direktor des amerikanischen Institutes für Stadtplanung und Bundesbeauftragter für öffentlichen Verkehr, zum Thema „Verkehr und Stadt“. Zwischen 1975 und 1976 wurden Trainingsprogramme für Hunderte von
Lehrern für das gesamte südkalifornische Gebiet angeboten und der Umweltexperte Jean-Michel Cousteau, der Planungsdirektor Calvin Hamilton u. a. hielten Vorträge. 1978 fand eine Konferenz zu quantitativen und qualitativen Wasserproblemen
in Kalifornien statt. 1979 eine Konferenz zur nuklearen Krise, es diskutierten die
Physiker Henry W. Kendall und John Gofman, Charles Warren, Vorsitzender des
Präsidentschaftsrates für Umweltqualität sowie der kalifornische Gouverneur Jer-
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umweltplanung
ry Brown. 1979 boten wir Seminare zu rechtlichen Fragen des Umweltschutzes an.
Der permanente Arbeitsstab unter der Leitung von Tracy Susman und Rose-
Marie Rabin ist verhältnismäßig klein und bescheiden entlohnt. Er wird aber wirkungsvoll ergänzt durch eine Gruppe von enthusiastischen Freiwilligen und etwa
vierzig Beratern. Letztere umfasst Wissenschafter, Stadtplaner, Umweltstadträte,
Vertreter der staatlichen Umwelt-Qualitätsagentur, Stadtplaner, Architekten, Designer, Wirtschaftskundige, Anwälte, Schriftsteller und Pädagogen sowie anderwei-
tige, umweltbewusste Persönlichkeiten.
Als mich die Missionarstätigkeit dazu veranlasste, zusehends mehr Zeit in ver-
schiedenen europäischen Ländern zu verbringen, überließ ich die Leitung des ame-
rikanischen Zentrums den bewährten Direktorinnen und hielt die Zusammenarbeit nur durch Korrespondenz und Besuche im Abstand von etwa achtzehn Monaten aufrecht. Der letzte dieser Besuche fand im Sommer 1976 statt und war besonders
arbeitsintensiv. Ich hielt in verschiedenen Städten der USA eine Reihe von Vor-
trägen und Vorlesungen an einigen Universitäten. Ich dankte für die Verleihung des Ehrendoktorats durch die Pepperdine University mit einer Festrede über das
Equilibrium des urbanen Systems durch Wirtschaft, Ethik und Umweltplanung. Ich
wirkte in einem Film über Stadtplanung für das US-Außenministerium in Washington D.C. mit, verhandelte mit kalifornischen Fernseh-Anstalten über eine mehrteilige Umwelt-Fernseh-Show. Zu all diesen Verpflichtungen kamen noch zahlreiche
freudige Treffen mit alten Freunden in vielen Staaten, der Besuch bei meiner Toch-
ter in Spokane, Washington, und meines Sohns und seiner Familie in New York sowie von Kemijas Bruder und seiner Familie in Van Nuys bei Los Angeles und bei der Tochter Fritz Jahnels und ihrem Mann Dan Dingfield in Seattle.
Für Kemija und mich war dies eine erfreuliche, aber auch anstrengende „tour de
force“. Offensichtlich hatte ich mich etwas überanstrengt. Kurz nach unserer Rück-
kehr, gerade an jenem Tage, an dem die Wiener Reichsbrücke einstürzte, erlitt auch ich einen Zusammenbruch und musste wegen eines Herzinfarktes einige Tage ins
Spital. Wenn auch das Ereignis ohne ernste Folgen blieb, rieten meine Ärzte von
weiteren US-Reisen ab.
Inzwischen hatte ich nach langen Vorbereitungen 1973 ein europäisches Zent-
rum mit Hauptsitz in Wien begründet. Die Zielsetzungen waren die gleichen wie sie
1968 für das Zentrum in Los Angeles formuliert worden waren. Zu dieser Zeit hatte
ich mich vollständig von meiner hektischen Aktivität als „Missionar in Europa“ zurückgezogen. Ich tat dies aufgrund einiger Erkenntnisse: Das Instrumentarium, das
dem Stadtplaner, Architekten, selbst wenn er Universalist ist, zur Verfügung steht,
als missionar in europa
reicht zur Lösung der weltweiten Umweltprobleme nicht aus. Die Sachzwänge, wie
sie sich auf den eingefahrenen Gleisen der Marktwirtschaft (ob sie nun frei, sozial oder staatsgelenkt ist) ergeben, erweisen sich in jedem Fall als Hemmnisse auf dem
Weg zu humanökologischen, optimalen Zielen.
Meine nun durch fünfzigjährige Tätigkeit als Architekt und Planer pragmatisch
erworbene Erfahrung schien mir ungenügend gefestigt, um sie frei von Illusionen
in den ,,Dienst der Erhöhung menschlicher Lebensqualität“ zu stellen. Schließlich
hoffte ich, dass die materielle Frucht bisheriger Leistungen ausreichen würde, um
uns, finanziell unabhängig, einige Zeit für die Zielsetzungen der Umweltplanung arbeiten zu lassen.
Die durch einen Vertragsbruch eines Klienten herbeigeführte Beendigung des
damals größten Projektes für ein multifunktionelles Nebenstadtzentrum, das Glatt-
Zentrum in Zürich, führte die Entscheidung herbei, in Zukunft meine Kräfte nicht
mehr an Auftraggeber zu verschwenden. Nun wollten Kemija und ich unsere Arbeitskraft völlig für die gemeinnützigen Aufgaben des Zentrums für Umweltpla-
nung einsetzen.
Der Sach- und Personalaufwand, der sich aus der vielseitigen Tätigkeit für eine
internationale Klientel in den Jahren 1966 bis 1972 ergeben hatte, wurde nun rapide
vermindert. Das technische und administrative Personal wurde mit wenigen Ausnahmen entlassen, die Reisetätigkeit stark eingeschränkt, die Zweigarbeitsstätten
wurden geschlossen. Schließlich gaben wir auch 1975 schweren Herzens die angenehmen Räumlichkeiten im Gartentrakt des Hauses Goldeggasse 7 auf, weil sie
zu groß und zu kostspielig waren. Wir adaptierten bedeutend kleinere Räume in der Traungasse 7, in Gehdistanz von der Wohnung am Schwarzenbergplatz für die
Bedürfnisse des Zentrums.
Von diesem Büro aus entfaltete sich die rege Tätigkeit des Zentrum für Umwelt-
planung, kurz ZUP genannt. Der Einfluss reichte durch die zahlreichen Mitarbeiter, die in wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und staatlichen Stellen ihren Berufen
nachgehen, viel weiter. Diese Gruppe an Mitarbeitern bildete sich völlig informell
aus Männern und Frauen, die einerseits besondere Fähigkeiten auf einem Wissens-
und Gestaltungsgebiet haben, andererseits aber von der Notwendigkeit interdisziplinären Denkens und Handelns überzeugt sind. Besonders verbunden fühlte ich
mich Paul Blau, Volkswirtschafter und leitender Funktionär der Wiener Kammer für Arbeiter und Angestellte, Erich Bramhas, Stadtplaner und Architekt, Engelbert
Broda, Professor am Institut für Physikalische Chemie der Universität Wien, Ger-
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hart Bruckmann, Mitautor des Buches Sonnenkraft statt Atomenergie9, Werner Gamerith, Pionier des biologischen Landbaus, Gernot Graefe, Ökologe und Leiter der
Abteilung Ökosystemforschung der österreichischen Akademie der Wissenschaften, Werner Katzmann, Meeresbiologe im Bundesministerium für Gesundheitswesen, Helmut Knötig, Mitarbeiter der Humanökologischen Gesellschaft Österreichs,
Wilhelm Kühnelt, Professor der Zoologie an der Universität Wien, Rudolf Libiseller, Ökologe und Experte der biologischen Landwirtschaft, Bernd Lötsch, Vorstand
des Institutes für Umweltwissenschaften und Naturschutz der österreichischen
Akademie der Wissenschaften, Egon Matzner, Professor für Finanzwissenschaft der Technischen Hochschule und leitender Funktionär der Sozialistischen Partei
Österreichs, Franz Niessler, Hersteller von Sonnenenergieanlagen, Gertrude Ples-
kot, Professorin am Institut für Zoologie an der Universität Wien, Robert Reichardt,
Professor am Institut für Soziologie der Universität Wien, Peter Weish, Mitarbeiter
am Institut für Umweltwissenschaften und Naturschutz der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Die Bezeichnung „Mitarbeiter“ brachte weder Vergütungen noch Verpflich-
tungen. Man nahm lediglich an Diskussionen und Veranstaltungen teil, um Meinungsaustausch zu pflegen, mit dem Vorsatz, vom eigenen Wissen anderen etwas
zu übermitteln und durch das Wissen anderer seine eigenen Kenntnisse zu bereichern. Es gab keine Vereinsmeierei wie Statuten oder Abstimmung. Wir beachteten
nur eine Regel, und zwar, dass zu den internen Treffen der Gruppe, die etwa alle
fünf bis sechs Wochen stattfinden, Berichterstatter der Massenmedien nicht geladen wurden. Dadurch erreichten wir ein Gesprächsklima der völligen Freimütig-
keit. Des Öfteren gelangten auch Persönlichkeiten, die aufgrund ihrer Stellung in
der Öffentlichkeit entgegengesetzte Ansichten äußern müssen, zu Umwelterkennt-
nissen. Wann immer wir solche Erkenntnisse öffentlich bekanntgeben wollten, luden wir zu Pressekonferenzen, die sich eines regen Zuspruchs erfreuten.
Da die Teilnahme völlig auf Freiwilligkeit beruhte, schwankte die der Teilneh-
mer bei den Mitarbeiter-Treffen beträchtlich. Gewöhnlich fanden sich zwischen 15
und 25 Personen um den langen Konferenztisch ein. Politische Parteizugehörigkeit
spielte keine Rolle. Wichtig war lediglich solides Wissen auf einem wissenschaftlichen oder künstlerischen Gebiet und Gewissen in Bezug auf die menschliche und
außermenschliche Umwelt. Die Berufsbezeichnungen, die sich die Mitarbeiter 9
Gerhart Bruckmann, Paul Dubach, Karl Fantl, und Josef H. Stiegler, Sonnenkraft statt Atomenergie. Der reale Ausweg aus der Energiekrise. Molden: Wien 1982.
als missionar in europa
selbst gaben, verdeutlichten den multidisziplinären Charakter der Gruppe: Bio-
logen, Physiker, Soziologen, Verhaltensforscher, Chemiker, Techniker, Ökologen,
Ärzte, Rechtsanwälte, Stadtplaner, Architekten, Statistiker, Psychologen, Historiker,
Zoologen, Geologen, Landschaftsplaner, Geografen, Ökonomen, Agrarwirtschafter, Politologen, Raumplaner, Steuerberater, Baufachleute, Schriftsteller und Verleger.
Von Zeit zu Zeit luden wir zu den Mitarbeiter-Treffen Persönlichkeiten aus Wis-
senschaft, Wirtschaft und Politik, um Referate zu halten und mit der interdiszip-
linären Gruppe zu diskutieren. Wir diskutierten mit John Holdren, Physiker der
Berkeley University, die friedliche Nutzung von Kernenergie10 und dem National-
ratsabgeordneten Sixtus Lanner von der Österreichischen Volkspartei über die Mög-
lichkeiten des biologischen Landbaus. Mit Gerulf Stix, Nationalratsabgeordneter der
Freiheitlichen Partei Österreichs, sprachen wir über Sonnenenergie und andere Alternativenergien, mit Wilhelm Frank, Bundesministerium für Handel, Gewerbe und
Industrie, diskutierten wir die Probleme der Energiewirtschaft und mit Egon Matzner, Finanzwissenschafter, sprachen wir über die Berücksichtigung von Umwelt-
themen im offiziellen 1979-Parteiprogramm der SPÖ. Mit Hans Mayr, Finanzstadtrat
in Wien, Detlef Marx, Stadtentwicklungsreferent in München, und Rudolf Wurzer,
Stadtrat für Stadtplanung in Wien, diskutierten wir Probleme der Stadtentwicklung.
Im Rahmen der Tätigkeit des Zentrums wurden Bücher, Broschüren und zahl-
reiche Artikel geschrieben und herausgegeben. So zum Beispiel die Broschüre
„Leitlinien für die Stadtentwicklung Wiens“, „Die Charta von Wien“ (als ein Versuch
der Weiterentwicklung von Le Corbusiers „Charta von Athen“) und mein Buch Ist
Fortschritt ein Verbrechen?11 1973 organisierten wir die Konferenz „Wissenschaft
und Forschung als Grundlage für Raum- und Stadtplanung“ im Auditorium Maximum der Wiener Universität. 1974 fand ein internationales Seminar zum Thema
„Stadt und Verkehr“ im Wiener Amerika Haus, 1976 ein Seminar zum Thema „Zukunftsaspekte Wiens am Beispiel der Wiener Innenstadt“ im Palais Palffy statt. 1975 organisierten wir ein internationales wissenschaftliches Kolloquium zum Thema
„Umweltaspekte der Kernenergie“.
Ich hielt Vorträge unter anderem in Wien, Graz, Linz, Salzburg, Alpach, Bregenz,
Zürich, München, Essen, Freiburg, Zagreb, Brünn und San Diego. Sie wurden ergänzt durch die Vortragstätigkeit der Mitarbeiter, besonders zu erwähnen ist dabei
die meisterhafte Multi-Media-Show „Humanity in Green“ von Bernd Lötsch, die der
10 11
John Holdren ist Berater für Wissenschaft und Technologie des US-Präsidenten Barack Obama. Victor Gruen, Ist Fortschritt ein Verbrechen: Umweltplanung statt Weltuntergang. Zentrum für Umweltplanung: Wien 1975.
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offizielle Beitrag Österreichs für die UNO-Konferenz über menschliches Siedlungs-
wesen „Habitat 1976“ in Vancouver war. Weiters beteiligten sich viele der Mitarbeiter aktiv an Veranstaltungen anderer Organisationen in Österreich und Deutschland.
Das Zentrum führte auch ausführliche wissenschaftliche Arbeiten durch: 1974
erstellten wir die Studie „Wechselbeziehungen zwischen Siedlungsgebieten und
Infrastruktur“ im Auftrag des Bundeskanzleramtes, 1975 fand unser Forschungsantrag „Energiehaushaltung in städtischen Gebieten“ beim Jubiläumsfond der Ös-
terreichischen Nationalbank keine finanzielle Unterstützung, 1975 verfassten wir
einen Bericht über das Kolloquium „Umweltaspekte der Kernenergie“ für das Bun-
desministerium für Wissenschaft und Forschung und 1977 schrieben wir die Reso-
lution „Raschere Verbreitung der Sonnenenergienutzung in Österreich“.
Meine nun zwölfjährige Tätigkeit im Rahmen der Umweltzentren in Los Angeles
und Wien hat für mich persönlich zur geistigen Bereicherung und einer Auswei-
tung von Erkenntnissen geführt. Dies betrifft besonders Gebiete außerhalb meiner
eigenen, ursprünglichen Interessen wie Architektur und Stadtplanung. Ich ver-
danke dies dem intensiven Gedankenaustausch mit einer großen Gruppe inspirie-
render Männer und Frauen in allen Teilen der Welt. Dieser Personenkreis umfasst
Menschen mit außergewöhnlichem Wissen, idealistischer Einsatzbereitschaft und ungewöhnlichem Weitblick.
Gegenwärtig hat die Periode des aktivsten Einsatzes an den Zentren wegen mei-
nes geschwächten Gesundheitszustandes ein Ende gefunden. Auch die finanziel-
len Mittel, die notwendig sind, um den Betrieb aufrechtzuerhalten und die ich fast durchwegs selbst beistellte, sind jetzt erschöpft. Die ursprüngliche optimistische
Hoffnung, dass sich auch in Österreich andere finden würden, die finanziell behilflich sein würden, die Kosten einer gemeinnützigen Gesellschaft zu tragen, erwies sich als trügerisch. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten existiert in Österreich
keine steuerliche Begünstigung für Zuwendungen für wohltätige und gemeinnützige Zwecke. Von privater Seite konnte deshalb keinerlei Unterstützung gewon-
nen werden. Staatliche und städtische Stellen brachten zwar ihr großes Interesse
für unsere Arbeit zum Ausdruck, doch geschah dies nur durch Ehrungen, wie zum
Beispiel die Verleihung eines der höchsten Ordens Österreichs „Das Große Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich“ aus Anlass meines
75. Geburtstages 1978. Finanzielle Hilfe beschränkte sich auf drei Zuwendungen von
je ÖS 35.000,-- des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung. Auch meine Hoffnung, jemanden zu finden, der die beträchtlichen physischen und geistigen
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Werte des Zentrums in Zukunft nutzen würde, hat sich trotz aller Bemühungen bisher nicht erfüllt.
Würde man also den langjährigen Einsatz von Zeit, Energie und Kapital nach
konventionellen Wirtschaftsmethoden beurteilen, müsste man ihn als Fehlinves-
tition betrachten. Andere Erscheinungen deuten aber darauf hin, dass die Bemühungen um die Erweckung des Umweltbewusstseins globale Auswirkungen hatten:
Als ich 1968 das „Center for Environmental Planning“ in Los Angeles begründete,
waren wir eine kleine Gruppe von „Rufern in der Wüste“. Ähnliches lässt sich für
Europa und die anderen Erdteile sagen. Binnen zwölf Jahren ist der Begriff „Um-
welt“ in das öffentliche Bewusstsein in einem so hohen Grade eingedrungen, dass
er schon Gefahr läuft, als Schlagwort missbraucht zu werden. In fast allen Ländern
und Städten sind Umweltministerien, Umweltbehörden und Umweltabteilungen
gegründet worden. In vielen Ländern wird sogar der Versuch gemacht, Umweltpar-
teien zu begründen. Dabei handelt es sich um ein einigermaßen problematisches
Unterfangen, da versucht wird, eine heterogene Gruppen der verschiedensten politischen Ideologien auf einen einzigen Nenner zu bringen.
Während man noch vor zehn Jahren in den Massenmedien kaum etwas über das
Vorhandensein von Umweltproblemen lesen konnte, ist es heute fast unmöglich geworden, in den Massenmedien keine Hinweise zu diesem Thema zu finden. Politische
Parteien fast aller Richtungen haben Umweltfragen in ihre Programme aufgenommen. Hierbei darf nicht übersehen werden, dass viele beim Gebrauch der Begriffe
„Umwelt“, „Umweltschutz“ oder „Umweltplanung“ nur einer Mode folgen, manchmal nicht wissen, wovon sie sprechen und manchmal andere Interessen verfolgen.
Trotz allem aber gibt es weltweit eine wachsende Erkenntnis, dass tief greifende
Veränderungen im menschlichen Verhalten notwendig sind. Dass die für die Zukunft der Menschheit wichtigste Art der „Entspannung“ im Kalten Krieg zwischen
„Homo sapiens“ und „Natur“ herbeizuführen sei. Zusammenfassend glaube ich, zu
der Aussage berechtigt zu sein, dass die Bemühungen der Zentren für Umwelt
planung dazu beigetragen haben, diese Entspannung herbeizuführen und dass sich in diesem Sinn vielleicht doch alle Mühe gelohnt hat.
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EPILOG
82: Portrait Victor Gruen, Wien 1973 Courtesy Peggy Gruen Collection Foto: Peggy Gruen
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83 und 84: Wohnung Victor Gruen, Schwarzenbergplatz, Wien 1973 Courtesy Peggy Gruen Collection Fotoserie: Peggy Gruen
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„Zuwachs an Kenntnis ist Zuwachs an Unruhe“, sagte schon Goethe. Dieses Motto wähle ich als Motto für den 18. Juli, meinen Geburtstag.
Vor Kurzem erhielt ich an einem Tag zwei Briefe, die auf mein eigenes Gespalten-
sein hinweisen. Beide bezogen sich auf Arbeiten, die ich vor etwa zwanzig Jahren
erbracht hatte: Der erste Brief kam vom Stadtsenat der Stadt Kalamazoo, Michigan,
USA. Es stand darin, dass ich anlässlich des zwanzigjährigen Jubiläums der Wiederbelebung des Stadtzentrums geehrt werden sollte, das ich 1958 geplant hatte
(und das 1960 teilweise ausgeführt wurde). Für eine umfassende Festschrift sollte
ich einen Artikel über meine Planungskonzepte bezüglich der Erneuerung von Innenstädten plus Foto von mir übermitteln. Der Brief beschrieb, wie segensreich
sich der Plan auf das gesellschaftliche, kulturelle und geschäftliche Leben von Ka-
lamazoo ausgewirkt habe und brachte die Dankbarkeit der Bürger von Kalamazoo zum Ausdruck.
Der zweite Brief stammte von der „Dayton Hudson Corporation“. Meine beiden
Klienten, die ursprünglich zwei selbstständige Familienunternehmen waren, hatten
sich mittlerweile zusammengeschlossen und stellten nun Amerikas größte Detail-
handelsorganisation dar. Auch zwanzig Jahre nach der Eröffnung des Northland-
Zentrums in Detroit und des Southdale-Zentrums in Minneapolis fühlte sich die Firmenleitung mir gegenüber immer noch zu größtem Dank verpflichtet, umso mehr als dieser Pionierleistung von einst eine große Anzahl von neuen Zentren nach dem
Muster dieser Prototypen folgten. Dies geschah übrigens fast immer in Zusammenarbeit mit der von mir bis 1968 geleiteten Gesellschaft „Gruen Associates“.
Beide Briefe waren so verfasst, dass ich mich zu Recht darüber freuen konnte.
Dennoch war ich besonders durch den zweiten in große Unruhe versetzt. Die „Dayton Hudson Corporation“ teilte mir mit, dass sie ihr nächstes großes Einkaufszentrum etwa zehn Kilometer vom Stadtzentrum Kalamazoos entfernt zu errichten gedachte.
Was mich beunruhigte, war eine langjährige Erfahrung: Im Falle der Verwirk-
lichlung eines solchen Vorhabens konnten sich die Bürger von Kalamazoo die
Feierlichkeiten aus Anlass der Wiedergeburt ihres Stadtkerns ersparen. Ein Einkaufszentrum mit großen Kaufhäusern, einer klimatisierten Fußgängerzone und
reichlichen Autoabstellflächen würde in Konkurrenz zum Stadtkern stehen. Kauf-
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epilog
leute und Gewerbetreibende würden ebenso wie deren Kunden den Stadtkern verlassen. Verödung im Inneren und ein Bankrott der Stadtfinanzen wären die Folge.
Vor über zwanzig Jahren hatte ich sowohl die Pläne für die beiden Einkaufs-
zentren von Hudson und Dayton als auch für die Revitalisierung von Kalamazoo
nach bestem Wissen und Gewissen entworfen. Nun stand ich diesen Werken mit
gespaltenen Gefühlen gegenüber. Wie könnte ich die beiden Briefe dankend beant-
worten? Wünschte ich Dayton-Hudson Erfolg, unterschrieb ich ein Todesurteil für
Kalamazoo. Würde ich Kalamazoo gratulieren, müsste ich vor dem Projekt meiner Dayton-Hudson Freunde warnen und Kalamazoo dazu auffordern, alle Schritte zu unternehmen, dieses Vorhaben zu vereiteln.
Ich hätte natürlich die Möglichkeit, die „Dayton Hudson Corporation“ zu be-
einflussen, ihr Einkaufszentrum in der Region von Kalamazoo aufzugeben. Aber
ich wusste, dass ein solcher Rat mit dem Hinweis verworfen werden würde, dass
die Aktiengesellschaft die Interessen ihrer Aktionäre zu vertreten und dement-
sprechend zu handeln habe. Außerdem müsste ich mir von meinen Freunden bei
„Gruen Associates“ den Vorwurf gefallen lassen, dass ich sie eines wichtigen Auftrages beraube.
Heute weiß ich, dass das „konservative“ Vorhaben der Stadtverwaltung, das
Kerngebiet weiterhin zu verbessern und zu erneuern, vorzuziehen ist. Es trägt zur
höheren Lebensqualität der Bürger bei und es erhält und erhöht Gemeinschafts-
werte. Es verursacht keinen zusätzlichen Verkehr. Ich weiß heute, dass das „fortschrittliche Projekt“ des großen Einkaufszentrums störend wäre. Es würde nicht
nur landwirtschaftlich genutztes Land verbetonieren und zusätzliche Zersiedelung
verursachen, sondern auch durch Klimaanlagen und das Bedienen des Automobils
langfristig energievergeudend wirken. Schließlich würde es das Leben aus einem organisch gewachsenen Stadtkern abziehen.
Am Fall der Stadt Kalamazoo erlebte ich mein persönliches Dilemma. Es ver-
wirrte mich, weil es ein Licht auf meine eigene Gespaltenheit warf und weil ich einigermaßen frustriert erkannte, dass ich trotz allen Kenntniszuwachses nichts
zur Verhinderung der Gespaltenheit beitragen kann. Ähnliches wie in Kalamazoo
hat sich in Hunderten Städten der USA und in anderen Staaten der Welt ereignet.
Besonders bizarr sind jene Fälle, in denen Stadterneuerung mit staatlichen Mitteln
(also Steuergelder) betrieben und diese dann durch die unternehmerische Einrichtung von peripheren Einkaufs- oder Bürozentren völlig untergraben wird.
Dieses Ringen privater Interessen mit den Interessen des Gemeinwohls zeigt im
klassischen Land der freien Marktwirtschaft, den USA, jetzt Folgen. Gesetze sind
epilog
in Vorbereitung, die alle Gemeinden, die Stadtsanierung unter Zuhilfenahme öffentlicher Mittel planen oder durchführen, wirkungsvoll vor jeder konkurrierenden
kommerziellen Bautätigkeit schützen sollen. Es ist zu hoffen, dass diese Bestimmungen rechtzeitig in Kraft treten, um auch mein persönliches Dilemma im Falle der Stadt Kalamazoo zu lösen.
Aber selbst wenn auf diesem Teilgebiet der Stadtplanung ein Happy End eintre-
ten sollte, verbleibt meine Unruhe angesichts der Tatsache, dass sich die Welt im
Allgemeinen im Zeitalter des Dilemmas befindet. Wenig amüsant ist, dass wir trotz
unseres gespaltenen Verhaltens weiterhin Raubbau an unersetzlichen natürlichen
Gütern und an menschlicher physischer und psychischer Gesundheit betreiben, ohne als Ersatz dafür Lebenswertes zu schaffen.
Für dieses völlig unsinnige Verhalten ist ein Phänomen, wie ich es am Beispiel
meines eigenen Dilemmas beschrieb, zur Verantwortung zu ziehen. Der medizinische Ausdruck für dieses Phänomen heißt Schizophrenie.
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85–96: Rede vor der Kaufmannschaft (unveröffentliches Manuskript), Victor Gruen International, Wien 1971 Wienbibliothek im Rathaus
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97: Bauch an Bauch, Elsie Krummeck und Victor Gruen, Los Angeles 1942 Courtesy Peggy Gruen Collection
98: Elsie Krummeck, Bürscherl (Michael Gruen), Los Angeles 1942 Courtesy Michael Gruen Collection
99: Elsie Krummeck und Victor Gruen in Los Angeles, ca. 1941 Courtesy Peggy Gruen Collection
100: Elsie Krummeck und Viktor Grünbaum, New York ca. 1941 Courtesy Peggy Gruen Collection
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101–105: Peggy, Michael and Victor Gruen, Kings Road, Los Angeles ca. 1950 Courtesy Peggy Gruen Collection
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106: Victor Gruen im Garten, Los Angeles 1947 Courtesy Peggy Gruen Collection
Afterword Michael Gruen
My father wrote me in 1978 that he had embarked upon this work, a com-
bined autobiography and statement of his beliefs concerning architecture, planning
and ecology. My guess is that he began it with the autobiographical portion, narrat-
ing life-altering events of 1938 when the Anschluss of Austria forced his departure
from a land he loved dearly, his arrival in New York, and finding a way not only to
work as an architect, but to produce two Broadway revues, and then flashing back to his birth and childhood.
Autobiography is an introspective subject. He preferred to devote his time to the
social good through politics, theater, architecture, and environmental planning – to
look outwards toward the needs of others. And so, the reader will soon discover
that the great adventure of his professional career and his philosophy of architecture and planning take priority over personal details of his life.
It is also evident that, had he lived longer, he would likely have provided more
details of a phenomenally productive professional career of a phenomenally per-
suasive man. I undertake this afterword both to express my appreciation and love
of my father and in the hope that I can flesh out his story to some modest extent. I
particularly hope to provide a sense of the human being behind the career by relating some details of my life with him.
In doing this, I rely primarily on the fact that he and I talked together, a great
deal. Fortunately, at least for purposes of this essay, he did most of the talking, and
I most of the listening. Our talks were mostly over meals, at the adult table at which
I, in my childhood, was always seated as long as I can remember, from highchairhood onward. They also occurred sitting at the pool, or in a corner of a garden
that he had set up as an outdoor study, or on long walks in the mountains south of
Vienna, on evening dog walks, and in countless other locales.
I have no direct knowledge of my father’s life in Vienna before his emigration
in 1938, his earliest work there as a designer and architect, his vigorous ability in
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afterword
young adulthood to pursue his nascent profession while simultaneously devoting
himself to leading a political cabaret, and, at least in his spare time, to his first wife,
Lizzie (Alice) Kardos. Nor have I any direct knowledge of his life in New York from
1938 until 1941, his acquaintance with my mother, Elsie Krummeck, soon after he arrived in New York and their rapidly burgeoned romantic relationship, their venture
as partners in architectural design in New York and then, starting in 1941, in Los
Angeles. I am told, however, that by the time of my birth in 1942, they had a quite
successful architectural design practice under the name Gruenbaum & Krummeck. My birth was a firm project. Before the event, a photograph – obviously posed
– juxtaposes what was often affectionately described as my father’s “barrel chest” with my mother’s voluminously pregnant belly, in sinuous interrelationship. Not
long after that was taken, a drawing, or what might better be called a “rendering”
– the lavish sort of pastel architects produce to make their design look better than
the ultimately constructed building might turn out to be – was distributed depicting me as a project of the Gruenbaum & Krummeck office. Clearly, the drawing
was my mother’s. She had the more outstanding artistic talent; he the conceptual.
The idea might well have come from either as it reflects a playful sense of humor they shared. I later was called Mikey. Then I was known as “Burscherl,” or “Baby
Boy,” in the manner of an untitled project for an as yet uncommissioned design
for an imagined ideal storefront. The idealized “rendering” seemed to collide with
reality in the usual way; I was often told later that the nurse who first brought me
to my mother after I had been suitably cleaned, peeled the blanket from my face
and recoiled in horror exclaiming, “My God, if I had a face like that I’d hang a bag over it.”
Perhaps my earliest memory is of my father singing lullabies when I was pre-
sumably still in a crib. I can still hear clearly in my mind his tender rendition of a
German lullaby with music by Brahms: Guten Abend, gute Nacht,
Good night and sleep well,
Mit Rosen bedacht,
Under roses about you,
Morgen früh, wenn Gott will,
In the morn, if God wills,
Mit Nelken1 besteckt,
Schlupf unter die Deck:
Wirst du wieder geweckt, 1
And carnations interspersed,
To keep you warm for the night. You will wake up again,
It appears that the original used the word „Näglein” for carnations, but this is how I remember him singing it.
michael gruen
Morgen früh, wenn Gott will,
Wirst du wieder geweckt.
In the morn, if God wills, You will wake up again.
He generally sang it in German. The translation approximates his translation into English.
Another early memory repeats like a bad dream, but the repetition was all too
real. We are at the dinner table. Dessert is served, a pastry, and I get a nice big por-
tion. Before I can take more than a mouthful, my father shouts, “Look, the dog is on the stove.” I glance away, see nothing at all of concern in the kitchen, and, before
I can lift my fork again, discover that my dessert has been snatched away and my father is wearing a quite satisfied demi-smile. He loved a practical joke almost as
much as he loved pastry.
My sister, Peggy, was born almost two years to the day after me. She and I loved
the smoke ring game. Daddy would take a puff from the ever-present pipe or cigarette, then tap his cheeks and a perfect ring would waft into the air. Then we would
tap his cheeks to somewhat less perfect effect. He smoked much too much. The first instrument of what seemed both a pleasure and an affectation was a pipe. He
moved on to cigarettes, then cigarettes in a Franklin Roosevelt sort of cigarette
holder containing a little cylinder with some kind of fibrous fill to filter out the most damaging elements.
We had a friend and neighbor in New York in the ‘50s who drank a certain herbal
tea every morning to get herself going, and urged that we all do the same. She assured that it was not addictive; that, indeed, she had taken it every morning for
many decades. Daddy said he understands entirely: He has smoked for decades, and has successfully quit any number of times. Ultimately, he did permanently quit,
I suspect on emphatic doctor’s orders.
From my earliest childhood, he found time to do special things with me. We went
together to pick up flowers from Benny Franco, the florist on Sunset Boulevard. We
got our haircuts together from George whose shop was next to Benny Franco’s. I
watched as he got a manicure and George kneeded his scalp with the fingers of each
hand motivated by an electric vibrator. Despite George’s assurance that my hair
was so thick that I would never lose it, I did, while my father, thanks presumably to the massages, kept all of his.
He taught me chess and let me beat him for the first time when I was six, though
not often after that until, in junior high school, I took up the game relatively seriously. He also liked Parcheesi and, later, backgammon. As a good American citizen
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afterword
(which he became at the earliest opportunity) and a good father, he bought fire-
works and presented a show of them every July 4th.
Once I got old enough to wear a gray flannel suit and tie (probably about six
years old), he took me to construction sites to supervise. The site I remember best is the Milliron store in Westchester, Los Angeles. We spent a good deal of time on
the roof because he was very proud of the use of the roof for customer parking. My recollection is that he considered roof parking a significant innovation, a view that
is somewhat ambiguously supported by the book Design for Modern Merchandising2.
I also often visited the office, no doubt making a pest of myself with the drafts-
men. Once I could see over the edge of the drafting tables, I got to tour the drafting room with my father and listen to his design comments. I acquired a taste for architecture and made plans for a motel, and constructed a stick and string model
of a house with lichen landscaping, which Daddy patiently and sympathetically cri-
tiqued.
Daddy keenly observed Peggy’s efforts to seek attention and do whatever I did.
When she was around two or three, he wrote a poem for her called “Little Miss Me
Too” that I think has been lost. I remember only that “me too” occupied a prominent position in each refrain. Writing poetry (some call it doggerel) was something he did often.
Each Christmas, the task of buying a Christmas tree fell to Daddy, with the as-
sistance of Peggy and me. They were sold on large vacant lots in Los Angeles, with
thousands of trees. Most were spray-painted white, light blue or pink. Some were
sprayed green, a bit like a natural tree. Only a few were unpainted, and we had to
hunt hard to find one of those of the right height (about eight feet), circumference,
freshness, and well-balanced fullness. It was as full a course in Christmas tree ap-
preciation as our little minds could handle. Once the tree had reached home and gotten dressed, we gathered around it and sang “Oh Tannenbaum.”
On Christmas Eve, Peggy and I were told earlier than usual to go upstairs to bed.
Shortly later, Daddy would call upstairs in a panic, “Come quickly. Run.” We would
find him standing at the window pointing, upwards toward the sky. As we ran to-
wards him, it was impossible not to notice that the formerly empty space around
the Christmas tree was now piled high with wrapped packages. He insisted we look
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Architectural Record, Design for Modern Merchandising: Stores, Shopping Centers, Showrooms. F.W. Dodge Corporation 1954.
michael gruen
outside the window, fast. But when we got to the window, he could only describe in
awestruck tones the spectacle of Santa sledding off into the sky, which we had just
missed by the whisker’s breadth of a split second. He never explained how Santa got down the chimney, which we did not have.
I mention these childhood experiences, because my father says very little in this
book about the details of his family life as a child. Somewhere, however, he learned
to excel in the art of fatherhood, and I have to think that his own father, whom he greatly admired, must have set the example.
As my father reports, his mother, Elly, and Mom’s mother, Katherine or Katie,
lived together in a house about two miles from ours. Katie (whom Peggy and I
called Nanny) came out from New York when our parents moved to Los Angeles,
she had lived in the New York area since emigrating from the Rhineland where
she was born. Elly must have lived for a short while in New York, having left Vienna soon after my father. My father describes her as actively involved in social
life in Vienna, so she must have felt quite uprooted. I cannot imagine that living
with Nanny gave her much comfort. Nanny was a rather domineering Hausfrau
whose character and disposition seemed to go little beyond the conventions of that description. What I remember of her was her sternness, lack of humor, very long
white hair, which was braided and laid into a crown around her head, her seeming disinterest in children other than as to their orifices (she inspected each expulsion of stool, and treated all manner of perceived illnesses by inserting a glob of Vaseline
into our nostrils with the rounded end of a hairpin), and her nurturing of a garden full of geraniums the extensive variety of which stemmed from her going about the
neighborhood surreptitiously cutting sprigs from other people’s bushes to replant in her own garden.
Almost by imperceptible degrees, my father spent more and more time traveling
in the later ‘40s. The office had moved out of our house, where it occupied three or four rooms on the second floor, into much larger space on Santa Monica Boulevard
in Hollywood probably around 1948. At some point, he began using a former office
upstairs in our house as a bedroom. All of this went over my naïve head. At Christmas time, I think in 1952, our parents sat Peggy and me by the Christmas tree and
explained that the marriage was not working out and they would be getting a di-
vorce. Peggy, or it might have been either of us, asked, “Will you still be our father?” a question that seemed to inquire with child-like innocence and fear as to what this
meant for our identities and welfare, but implicitly recognized the meaning of all
the previous absence. It was, of course, explained that he would still be, and that we
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would have visitation on certain weekends and holidays. It was a devastating blow which has affected my enthusiasm for the Christmas season ever since.
My parents must have agreed on a further explanation that would be given to
Peggy and me over time for the break-up of the marriage: that the architectural
practice was rapidly expanding, Mom was more interested in hands-on design,
while Daddy was intent on pursuing larger projects; their professional lives, which
had been at the heart of their relationship, had grown apart. That was about all either of them told us.
Of course, there had to be more. Mom was, as Daddy writes about his first im-
pression of her, a stunningly beautiful woman. She had the looks of Ingrid Bergman, but less vulnerable and even more open and unaffected. She was generous in her
dealings with others, not only in terms of providing help, but in giving of her un-
restrained emotions. She had many good friends to whom she was intensely loyal.
She also expected, even demanded, equal intensity in return, and on her terms.
Those included, as to her children, “heart to heart talks” about the most intimate
matters. As an adolescent boy, or earlier, I don’t think I was abnormal in pulling away from such talks, and feeling unwelcomingly smothered. I can well imagine
that my father, who was not given to introversion, might have had a similar reaction.
It was also true that their interests differed. Mom was utterly devoted to artistic
creativity and emotional life. She loved to draw, paint, cut shapes in paper, mold clay. Her work was hands-on. It was not her style to delegate creative activity to
someone else, nor to think about architecture in terms of grand projects for the im-
provement of mankind rather than as a matter of very personal artistic design. I do
not doubt that Mom resisted the transformation of their firm from a small design studio to a behemoth institution for the output of major projects.
That is not to say that she did not admire my father’s talents, among them his
charm and persuasive ability. A favorite story of hers was of something that hap-
pened more than once. The two of them would walk into a roomful of people. My father would say to her, “You see that man over on the far side of the room? I intend
to get him as a client.” Before they left the party, my father had succeeded.
Once the legalities of the defunct marriage had been settled, Peggy and I were
invited to come east to meet our father’s new wife, Lazette. Lazette was not experienced with children, but had definite ideas about how they should be brought up.
She made it clear from the start that she expected proper dress, proper behavior,
and proper manners. Peggy, who was much more of a free spirit than I, totally resisted Lazette’s efforts to tame her, and the two remained pretty much at odds as
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time went on. I felt I could adapt to her requirements with no great loss of selfhood, and also found her very engaging. She had enormous charm, emanating from her avid interest in every thing and (almost) everyone she encountered, and strong
vividly expressed opinions. She delighted in literature, politics, art, design, theater and travel. She clearly admired and adored my father, and greatly inspired him in
his career. Plus, she loved me and demanded nothing in return but good company and civility.
I felt the sharp edge of Lazette’s strong opinions in the summer of 1955 when
Mom took Peggy and me on what was intended to be a tour of Europe. We went by ship and landed in Southhampton, England, where we picked up the Hillman station wagon Mom had bought. After a couple of weeks, Peggy decided that she
had had enough of traveling and wanted to stay in England for the remainder of the
summer. She was left in a “riding establishment” (from which she emerged several
months later with considerable equestrian skill and an English accent), and Mom and I crossed the channel for the grand tour. The first day on the continent, we
drove from Cherbourg to a small town in Belgium near the French border. I wrote
to Daddy and Lazette about my few hours’ worth of impressions of France versus
my by then supposedly deep knowledge of England, focusing on a contrast in tidiness that caused me to take an immediately dim view of France. Given what I knew
of Lazette’s hygienic standards, I thought my letter would meet with her approval.
In some way, she knew of our itinerary for the next week or so, and the return letter from her severely chastised me for the superficiality and lack of openness to other cultures reflected in my letter. Her letter had a galvanizing effect on my attitude
towards the world and other peoples, and dramatically increased my already great respect for her.
In this small town in Belgium, we made some inquiries at a public house of
some sort on a main square to find lodging. A man who had been sitting on the
plaza took an interest in helping us, which led to our sitting down for supper with him, followed by a ride, separately for each of us, over the cobbled streets in his
three-wheeled Messerschmidt mini-car, driver in front, single passenger behind. By no coincidence, he was Gerhard Messerschmidt of the industrial family that built
warplanes for the German Reich. Mom seemed not to take too much discomfort regarding his background, and some weeks later we visited him at his cabin in the
Bavarian mountains.
Here again, was a contrast with Lazette. Her strongly held opinions included one
or two implacable prejudices, most notably against the Germans on account of Nazi
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atrocities. She absolutely refused to set foot in Germany. Oddly enough, this prej-
udice did not extend to Austrians despite the well-known collaboration of many
Austrians with the Nazis. She may have bent on this issue because of my father’s love for Austria and his willingness to forgive those he had inveighed against as a
young man, satirized when a leader of the Socialist political cabaret, and suffered
from in the loss of his property and forcible eviction from his homeland. She may also have been seduced by Austria’s charm and Gemütlichkeit, both of which she quite openly admired.
Lazette was also prejudiced against airplanes. She did not fly. Period. This was
just fine with me because it meant that my trips with my father and her were al-
ways by Super Chief and 20th Century Limited when traveling across country, or Queen Elizabeth or Ile de France when crossing the Atlantic. On the Continent, the
preferred mode was the Orient Express.
In politics, Lazette was totally liberal. She owned a leftist oriented bookstore
in Greenwich Village in the 1930s. She deplored racial discrimination to the extent
that, in the face of prejudiced comments from anyone at a social gathering she
would announce that she is herself partly Negro (the enlightened term of choice in the ‘50s), then watch the chagrined backpedaling.
As my father writes, he and Lazette bought a house in Los Angeles and also had
an apartment in New York on West 12th Street. He describes the Los Angeles house
as “modest,” which it was in terms of size. Yet it was in Brentwood, a rather plush
part of the city. He installed a pool, but did relatively little in the way of remodeling.
Lazette had a cocker spaniel named Reddy, a finicky dog of considerable dis-
crimination. Just as Lazette would not travel by plane, Reddy chose not to do his
bowel movements except in three places in the entire United States: Washington
Square Park in New York, the Albuquerque railroad station where the Super Chief stopped, and a certain front yard in Brentwood which I will identify further in a
moment. Daddy and I were generally responsible for walking Reddy in the morning
and, especially, in the evening. This was a good time for talking and the talk often
turned to politics. Reddy evidently absorbed some of our opinions as the front yard he chose to perform in belonged to Richard Nixon. I can assure you that this was
Reddy’s choice. We did not lead him to it and no amount of encouragement would prompt him to make any different choice.
Reddy’s opinions lead me to my father’s. As he notes, he had been a socialist in
Austria. He points out that the Social Democratic Party was the only one, which
welcomed Jews, and it occupied his preferred portion of the political spectrum. In
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America, he was a fervent Democrat. He supported liberal positions on such issues as government involvement in economic planning, government support for the
poor, racial integration, and civil liberties. I was always interested in political doc-
trine (at least from around age 9) and we talked often about socialism, communism
and capitalism as economic and political systems. While he had some sympathy for
the idea of public ownership of vaguely defined key economic resources such as
sources of energy, he did not advocate for that in America, and had nothing against
private enterprise in general. He was a planner by nature, and sympathized with regulation to control excesses of capitalism. He admired Franklin Roosevelt. He
enthusiastically supported Adlai Stevenson; we listened for hours to the precinct by
precinct election returns on the radio. He backed John Kennedy. He was particularly impressed with Lyndon Johnson’s political skill in putting Kennedy’s programs into effect and achieving significant advances in civil rights.
A journalist asked me recently how my father, as a socialist, could have done so
much to promote the financial interests of capitalist businessmen. I really did not
see much of an issue there, and I doubt my father would have. His great interest
was in bettering the lives of the general populace, regardless of individual wealth
or lack of it. That some would make a buck off his ideas was not, I believe, of any
consequence to him (so long as he was fairly compensated for his professional ser-
vices). Aside from being a visionary, he was a practical man and would not have
let such an incidental matter as who would build a shopping center get in the way of its getting built. What bothered him much more was the shortsightedness of
some of the businessmen he dealt with in failing to develop the land around shop-
ping centers into communities that would not only provide profits in themselves but would support the shopping center as a focal point for a local populace and
diminish the prospect of competitive magnetic centers. As he writes in this book,
he thought governmental planning would do better, but later experience with governmental bureaucracy raised doubts about that view.
The apartment in New York was in a 13-story building built at the end of the 19th
century and beginning of the 20th, taller and wider than most buildings in the area.
We had half of the 12th floor, half of the 13th, and the roof on which my father had
erected a platform as a patio and garden. He made some renovations, primarily
adding cabinetry. He created an office on the 13th floor in which his working space
had a distinctly Viennese early 20th century modern flavor. Bathrooms, kitchen and
Lazette’s mother’s bedroom and sitting room (Lazette brought her mother to live in the apartment several months each year) were left substantially as built.
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This was where my father and Lazette preferred to be and spent most of their
time (meaning, perhaps, a third to a half of the year). We had company for dinner most evenings – friends, clients, or both. Often, singing around the piano followed
dinner. Lazette played the piano quite well. She favored American standards, especially Cole Porter and Harold Arlen. My father loved singing Viennese songs, which
Lazette played from an old songbook Daddy had salvaged from his home in Vienna. We spent much of one summer in the mid-50s in Detroit. I was employed some
of the time at the Gruen office, running the switchboard, a Medusa’s head of en-
tangled cords with adorning lights and buzzers. Calls were connected by plugging
male ends of the cords into female receptors on the panel, and disconnected by
reversing the process. Activity could get hectic, with many lights flashing, atten-
tion-getting buzzers buzzing, and cords snaking about the board and around one
another so that identification of the beginning and end became all but impossible.
Unfortunately, I was prone to premature disconnection, invariably affecting Karl
Van Leuven, the head of the Detroit office. The call I cut off was always an extremely important one and he would storm out of his office screaming at me.
I spent quite a few summers in Vienna and it is hard for me to differentiate them.
With Lazette, we always stayed at the Hotel Sacher, an imposing Beaux Arts edifice
behind the Opera. The personnel there punctiliously observed the Austrian custom
of addressing people by title, such as Herr Architekt, but always one title higher
than the one the addressee had actually earned. Thus Daddy was addressed as Herr
Professor, I (not old enough to be called “mister” at home) as Herr Gruen. I usually had a garret room at the backside of the hotel, generally reserved for the personal
servants accompanying some of the guests. It looked onto a dimly lit street that
met the Kärntnerstrasse. The better view was in front towards the Opera and the
Ringstrasse. But Lazette was quite envious of my view because the little street I overlooked was a meeting point for prostitutes. It fascinated her.
Vienna, I understand, had a population well exceeding a million at the time. But
it was also a small town. We frequently encountered people on the street whom
Daddy had known before he left Austria. Once, I was driving their car with the two
of them. Going out the Währingerstrasse towards Grinzing in the early evening,
we came to an intersection where I saw that another car was stopped on the cross
street to the right. As I crossed the intersection, the other car suddenly lurched into
us. I was probably about 18 years old and did not have vast driving experience; this
was my first accident and I was kind of shaken. Daddy got out of the car to deal with the other driver. I noticed that another man who had been passing by stopped and
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talked with him and then with the young woman driving the other car. After a few minutes, Daddy got back into our car and said everything had been worked out and
we continued on our way. He added that the other man, who had evidently been instrumental in resolving the matter, was an old friend from the Socialist youth movement. Felix Slavik was now the Mayor of Vienna.
For Daddy, visiting Vienna was a very emotional experience. It was not only that
he came from Vienna. To him, it was the paragon of civilized and joyful life. It was,
to begin with, a cosmopolitan center, stemming not only from its status as capital of
the Austro-Hungarian Empire and its situation on the Danube, a main trading route, but also from its role over centuries as bulwark against Turkish invasion of Europe.
It was, like New York, a melting pot of cultures, a place where being Viennese often
meant coming from Hungary, Czechoslovakia (where my grandfather came from), or, as in the case of my father’s mother, Hamburg. While the Turks were held at bay,
they nevertheless had a strong influence on the city, not least on its coffee.
The coffee house, which was everywhere, served as a social center. As my father
told me, everyone had his own coffee house – that is to say, a favorite where he had a Stammtisch or regular table, at which he could sit for hours after ordering a single
small cup of coffee, and read the racks of newspapers representing every political
persuasion. Your colleagues knew where to find you as the coffee house was the equivalent of your office. You conducted your business there.
One ate small meals frequently, and the experience was intercultural. A full re-
gime of daily meals in Vienna included not only breakfast, lunch and dinner, but a
mid-morning Gabelfrühststück (fork breakfast), and an afternoon Jause (snack) of
coffee and pastry. When I visited Vienna with Daddy and Lazette, we might well, on one day, have eaten a light lunch of open sandwiches and a small glass of beer or apple juice at Trzesniewski, had Apfelstrudel at Demel’s or the Sacher in the
afternoon, then had dinner at the Griechenbeisl [Greek bistro] or the Drei Husaren
[Three Hussars, named for the Hungarian cavalry officers who founded the restaurant]. And these examples of ethnic variety were within easy walking distance of one another.
The grandeur of the former empire is visible everywhere in the palaces of the
Kaiser, the many smaller scattered palaces of the aristocracy, and government buildings. In the 19th century, Kaiser Franz Josef created a degree of connectiveness
between the people and the royalty by opening to the people elegant parks and
public buildings along the Ringstrasse, which replaced the fortified city walls. The
parks served the usual function of green spaces, but also of drawing the common
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people into a realm of elegance and reverence for the magnificence of their empire,
where they could attend outdoor concerts in beautiful pavilions and eat in attractive surroundings. One could walk along the Ringstrasse and experience one magnificent edifice after another, many open to the public: the Votivkirche, the University, the National Museum, the City Hall, the Burgtheater, the Opera, the Karlskirche. My father loved the intimacy of narrow winding streets in the inner city, many
barely wide enough to accommodate any traffic, and the contrast they presented
to the wide Ringstrasse circling the so-called first district and providing a means
of reaching any part of the city center by traveling relatively quickly on the pe-
riphery rather than very slowly through the middle. But, then, an excellent tram
system along the Ringstrasse and along radial roads towards the outer edges of
the city made a choice between driving routes rather unnecessary. In the inner city there was even a small version of the indoor shopping mall, an arcade of stores on
the Michaelerplatz. I do not recall that he ever referred to that as a precedent, but he often referred to the much larger and grander Vittorio Emanuele arcade in the center of Milan.
In short, when my father writes that metropolitan planning should be devoted
to satisfying the needs of people, not cars, that what makes a good shopping en-
vironment is that it is integrated with opportunities for leisurely enjoyment of a social environment, that motorized vehicles do not mix well with pedestrian life
and are best consigned to periphery roads, not the center, that artistic culture and
varied social cultures are essential elements of the successful city – somewhere in the back of his mind, he was always writing about Vienna.
It was probably in 1959 that we spent several weeks in St. Wolfgang, a beautiful
lakeside village in the Salzkammergut, about 50 kilometers from Salzburg. It has enough charm to have earned its own song, indeed a whole operetta called the
White Horse Inn, after the leading hotel of the area. We stayed in an annex to the White Horse between the village and the base of the cog railway that climbs to the
top of the Schafberg, 1200 meters above the lake. There is plenty to describe in St.
Wolfgang, but what is important for present purposes is that one of our chambermaids was a young woman named Kemija Salihefendic. She made great efforts to
serve us well, and we learned from her something of her life story – the key ele-
ments of which were early childhood in Bosnia and abandonment by her parents in Carinthia – and the poor state of her health. Daddy and Lazette became quite
friendly with her. We took her a couple of times to see a local doctor. After we left
St. Wolfgang, Daddy and Lazette stayed in touch with her and may have helped her
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in studying to become a cosmetician. I tutored her in English one summer. After a
while I was encouraged to think of her as a member of the family. It did not cross my mind at the time that she would eventually become an actual member of the family as my father’s fourth wife.
In the summer of 1962, Daddy escorted Peggy to Vienna where she was to take
a course on painting with Oskar Kokoschka and he intended to start renovations
on the apartment he and Lazette had recently bought on the Schwarzenbergplatz,
using Kemija to stay in the apartment and watch over it. Although Daddy seldom
traveled without Lazette, I think this was intended as a very short trip, by air. Lazette, as I have said, did not travel by air. So she remained in Los Angeles. One
night after I had gone to bed, I got a call from Daddy’s old friend and partner Rudi
Baumfeld, who told me that Lazette had just died, very suddenly of what appeared
to be a stroke. This was surely the saddest event of my young life. It was so sudden, unexpected and pointless. She was young, not over 58 and probably younger. Her
only ailment of which I was aware was an agonizing case of psoriasis. Most of all,
she had lived a life of generous love, for which death was mean compensation.
I arranged to fly to Los Angeles the next morning. Daddy arrived soon after me,
tired and bereft. We drove together to their house. We went into the bedroom and
Daddy sat down at Lazette’s vanity table, lay his head against the assemblage of perfumes that she dabbed behind her ears and sprayed beneath her blouse, and cried it seemed interminably. Behind him on the wall opposite the dressing table
hung her ten or so favorite belongings – the birthday poems Daddy wrote and embellished with romantic and amusing drawings for her, which she had framed iden-
tically in red wood frames. I wish I knew where they are now. I do remember the text of one, given for her 50th birthday:
Half a cent’ you represent
With you only ten percent.
And the fact that I resent
Is that, of all this, I have spent
We did what we could to console each other, but consolation seemed futile.
Peggy later told me of the scene in Vienna when Friedl and Herta Scheu, close
friends of Daddy’s from the ‘30’s, came over at Rudi’s request to tell him of Lazette’s
death.3 Peggy and Kemija were both present in the apartment. As Peggy told me,
3
Much later, Friedl Scheu published the book, Humor als Waffe. Politisches Kabarett in der Ersten Republik. Europaverlag: Wien 1977.
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she sat against Daddy on one side and said, “Don’t worry, Daddy, I’ll take care of
you.” And Kemija sat against him on the other and echoed, “Don’t worry, Daddy, I’ll take care of you.”
Perhaps six months later, Daddy visited me at Harvard where I was in college. He
asked me what I would think of his marrying Kemija. Somewhat stunned, I could
only think of saying that she seemed very young, and was it not a little incestuous,
what with her being so much treated as a member of the family? I think though that we were talking about a decision that had already been made. My blessing was a
formality, and I assured that I would support his decision. The wedding did occur soon after; a private affair without guests as far as I am aware.
The relationship with Kemija was always somewhat of an enigma to me. Daddy’s
marriage to her lasted some 15 years, five years longer than any other – although,
the marriage to Lazette was surely prematurely cut off by her death. Kemija certainly had qualities one could admire: she was smart, ambitious, and artistically gifted, and worked energetically. She was capable of being ingratiating, but could
be abrasive too. I do not think I know of anyone, outside of Daddy, who professed
to like her as a person during the marriage. She was uneducated and conversation
with her never seemed particularly interesting. Daddy writes that she was very helpful to him in his work. I do not know exactly how, but have to assume that he honestly believed that. His history with previous wives suggests that this would be
a strongly cohesive factor. I would expect that he was flattered by the combination
of her attention and relative youth. A curious mélange of chemicals, but apparently
they worked.
For obvious reasons, Daddy wanted a new home in Los Angeles after Lazette
died. The search produced a spacious Spanish hacienda-style house on a large very
beautifully landscaped lot on Beverly Glen Blvd. in Bel Air. It had one bedroom, but a large living room and large dining room. It also had substantial servant quarters
in an outbuilding across the driveway from the kitchen. Kemija’s brother Kemal and
his wife, Ramsa, soon arrived from Bosnia to live in that space. He did the gardening
and she the cooking at the new abode. The seeming awkwardness of their func-
tioning as servants was presumably alleviated by the opportunity this situation provided for them to come to America as sponsored immigrants.
The house was very handsome and livable. Daddy did little to improve it beyond
adding lighting, and a built-in buffet in the dining room, and decorating a den in
the style of Kemija’s origins. The “Bosnian room,” both floor and furniture, was covered in vivid Caucasian carpets, which also wrapped the many pillows. There
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were, as I remember, a hookah and samovar. There was a modest occidental-style bar adjoining – of little avail to my father as he drank only modest amounts of wine and occasionally beer.
In early 1964, I met Susie Lloyd, an actress who supplemented her income from
movies and television shows with work as a saleswoman in various department
stores, and with political office work primarily for Jesse Unruh, a Democratic party
leader and legislator at the time. Susie was very charming and we very quickly decided to get married. Daddy had a private interview with Susie in the Bosnian room
– the substance of which I never learned – before condoning the marriage and offering to hold it at the Beverly Glen house. It was a lavish affair, with about a hundred
guests. Kemija, with Ramsa’s help, did a magnificent job of setting the whole thing
up and cooking. At the end of dinner, a many tiered “cake” was presented, carried
with poles like a sedan chair. In keeping with my political dreams, and Daddy’s own dreams of how high they should reach, the “cake” was a cardboard replica of the
White House, the details drawn by Daddy on a construction produced by his office.
The bridesmaids paraded it through the garden, after which it opened up to reveal real cakes baked by Kemija and Ramsa.
In 1968, my father retired from his U.S. firm and established his primary home
in Vienna. It has been suggested that, with American cities in the turmoil of racially
charged rioting, my father’s move represented a “retreat […] back across the Atlan-
tic to live in Vienna.”4 The implication that the move was involuntary and somehow shameful may simply stem from an unfortunate choice of words. In any event, I
think it is quite inconsistent with the evidence as I know it. He had told me, years before as I recall, that he had a long-standing agreement with his partners that he
would retire at age 65. Along the way, steps were taken to reorganize the firm. After 1966, a tier of vice presidents was established between the level of partners and
associates. Later, the name of the firm was changed to drop his first name, thereby somewhat diminishing any implication that this was an organization dependent on one person. His agreement, as he described it to me, allowed him to continue
practicing, but exclusively in Europe. Vienna was the logical place to go. He had re-
turned to visit there in 1948, apparently as soon as it was possible for him to do so.
It was a favorite vacation spot. He had bought the Vienna apartment in anticipation of moving there when he retired, and in the expectation that he would continue
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Jeffrey M. Hardwick, Mall Maker: Victor Gruen, Architect of an American Dream. University of Pennsylvania Press: Philadelphia 2003.
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working. Already before that, he had begun building up some international business, most notably, planning Tehran, a project which terminated with the Shah’s dethronement years later.
He made this transformation in a spirit of enthusiasm and hopefulness. The
phenomenal success of his new international firm demonstrates that that typically optimistic spirit was fully justified. Not only did jobs flow in, but many major
planning jobs provided the satisfaction of actually being executed, something that had not happened with the key American urban planning projects of Fort Worth
and Roosevelt Island. My own transition from student to career, and acquisition of my little family, reduced the frequency of visits with my father. One of the more
memorable was on the occasion of his 70th birthday in 1973. In the meantime, I had
separated from Susie and established a relationship with Vanessa Ahlfors, a woman
so charming and intriguing that we have remained together for some 40 years by
now. She came with two children from her former marriage, Stefan and Sebastian
Keneas. We had met in connection with the planning and preservation work we
both did with the Municipal Art Society, an organization dedicated to improvement of the urban environment of New York City. We have both maintained that interest
for decades onward. In the summer of 1973, Stefan and Sebastian went to spend the
summer with Vanessa’s parents at their summer cabin in Boothbay Harbor, Maine,
as was their custom. Vanessa, Madeleine (then age 6) and I drove through Austria, and visited my father and Kemija in Vienna and the country house they had gotten about an hour’s drive south of Vienna.
The house is half way up a mountain between the village of Prein-an-der-Rax
and the Preiner Gscheid Pass, on a narrow tortuous road of switchbacks. It sits on
mountain meadows and overlooks a valley and the rocky mountains framing the
valley on one side. It is a spectacular view. I think it had been built around 1900.
My father remodeled it, with Kemija’s help, to make it more reminiscent of a farmhouse, with a built-in bench nearly surrounding the dining table, and a large stucco heating stove in the shape of a quarter of a dome-like beehive in the corner of the
main living space. He added an indoor swimming pool, and a terrace overlooking
the valley and protected by a glass screen. Kemija was responsible for very attractive landscaping and for populating the meadows with Icelandic ponies and some cows and sheep.
Quite a few people made the trip from Vienna or elsewhere to attend the birth-
day celebration, including several of the “Girls” from the chorus line of the political cabaret of the 1930s, and other’s of my father’s friends from that period. Kemija
michael gruen
suggested that I take a ride on one of the Icelandic ponies, and the company en-
joyed seeing the little brute toss me off. As daylight waned, a brass band arrived
to provide rustic dance music. The band was from one or another of two adjacent provinces, perhaps Carinthia or Styria, I am not sure which. But the difference is important. The music of one province is lively and upbeat. The music of the other is
dirgelike. This band – half a dozen men in Lederhosen and green felt hats with long
feathers – came, it seems, from just over the wrong side of the provincial border.
And so the evening was spent under the spell of tubas wailing a cadence suitable only for trudging under the weight of a coffin.
Daddy was in great spirits. While we were there, we went on an excursion to a
relatively flat area at the top of the Rax mountain near the house and hiked around
the area. He also took us for a “hike” on a hillock on the property he had named
Mount Victor and was very proud of.
In January 1976, after a long wait for divorces on both sides to come through, Va-
nessa and I got married. Our first child together, Alexis, was born a month later, quite
prematurely by conventional standards. Viveca came about 18 months after that.
In February 1978, my father gave a speech in London complaining of the failures
of shopping center development. Jeffrey Hardwick construes the speech as a bitter
self-denunciation and a renunciation of the entire intellectual patrimony my father
had created in siring the shopping mall.5 Gruen “looked at what he had built and
despised what he saw,” Hardwick writes, adding as proof of the bitter spirit of re-
pudiation of his life’s work, that my father pronounced from the podium, “I refuse
to pay alimony for those bastard developments.” 6
I suppose that pithy phrases are their own worst enemy: They invite easy recol-
lection, and equally easy forgetting of the context that defined their meaning.
In this instance, Hardwick hangs a whole concluding chapter describing end-of-
life dejection and rejection on the “no alimony for bastard developments” quote.
But, in fact, the phrase does not appear in the speech. Rather, it appears ten months
later in a journalist’s syndicated column,7 a venue, which doubtless gave my father 5
6 7
Hardwick, op. cit. 216-218. The speech was entitled, “Shopping Centers: Why, Where, How?” delivered at the Third Annual European Conference of the International Council of Shopping Centers, London, February 28, 1978. A shortened version appeared in print under the title, the title, The Sad Story of Shopping Centers. In: Town and County Planning 46, No. 7/8 (Kuly/ August 1978), 350–353. Hardwick, op. cit. 216–218. Neal R. Peirce, The Shopping Center and One Man’s Shame. In: Los Angeles Times, October 22, 1978, D5.
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388
afterword
little to no control over the bon mot’s context or construction. My father mentioned
the phrase to me, and seemed pleased by its clever summation of his feeling about
being dubbed “father of the shopping mall” and thereby being implicitly held responsible for the multitudinous errors of other architects, other planners, other developers, and absence of governmental oversight, in allowing a good idea to get out of hand.
The speech reflects that he distinguished between the shopping centers he had
designed and lesser imitations. He was disappointed that others had extracted the
most superficial formulaic aspects of his shopping center concept without also inserting the soul. Yes, they imitated the enclosed malls, but they made them nothing
more than shopping machines, removing all social and cultural characteristics that made a Gruen shopping mall a center of social activity that people visited even
when all the stores were closed. They omitted the careful planning for diversity in leasing and chose to lease overwhelmingly to chain establishments with name
brands rather than to a variety of stores including Mom and Pops that offered
unique products. Far from reflecting the despair of a man approaching death and repenting for the sins of a lifetime – as Hardwick paints the picture – the London
speech is a hardheaded assessment of undisciplined abuse (by others) of the Gruen shopping mall formula, and of dramatically changed circumstances, coupled with a
prescription by a self-described “incurable optimist” for creating better ecological
and human environments by promoting urban clusters with “small-grained inter-
mingling of social and usage categories.” The speech defends the original purpose
to introduce multi-faceted urbanity to the then wasteland of suburban life in America. It condemns the average shopping center builder for ignoring all the cultural
facets that would make a shopping center urbane, and focusing exclusively on mak-
ing the biggest buck with the smallest investment. It criticizes government’s laxity
in the planning process and its inability to transcend arbitrary political boundaries,
thereby enabling developers to evade sensible control simply by building just outside municipal boundaries. And it recognizes that, as oil depletes, centralization of
urban life in order to reduce reliance on gasoline becomes increasingly essential.
The speech is full of hope, not despair. It ends with his affirmation of “confiden[ce]
that” the urban pattern of the future he foresees – one, incidentally, quite reminiscent of Vienna – “will evolve.”
We talked about these very issues. He was not discontent or self-critical about
the concept of the shopping center. To the contrary, he believed that, properly implemented, his concept of creating centers not just for shopping, but for obtaining
michael gruen
routine medical services, for engaging in formal social and political activities such
as town meetings, for passing leisure time in an environment which appealed to
the sense of beauty, were important contributions towards creating urbane environments and manageable and functioning satellite communities while preserving surrounding open space.
His objection was, in substantial part, that his ideas had not been properly im-
plemented. Where he had advised client developers to acquire substantial acreage
surrounding a new shopping center to facilitate the orderly formation of a working
community anchored by the shopping center, and perhaps incidentally to prevent
self-destructive competition from construction of nearby competing centers, the
clients routinely took a shorter range approach of maximizing near-term profits
without worrying about how the center would fare with undisciplined development and competition 20 years later.
A second major problem, closely related, was the reaction of competitors, each
seeking to cash in on the success of a predecessor, without recognizing that, at
some point, supply will exceed demand and all will fail. Thus, Southdale Center
in Edina, Minnesota, inspired another developer to build the Mall of America ten
kilometers away. Today almost any small city has its peripheral roadways speckled
with mile after mile of repetitious sequencing, like strands of DNA with their GACT
segments: shopping center, drive-up bank, fast-food restaurant, gas station, auto-
mobile dealer; shopping center, drive-up bank, fast-food restaurant, gas station, automobile dealer; over and over and over. At some point, they exceed demand and start to fail.
Vanessa and I tried to arrange several times to bring our little girls to Austria to
meet Daddy and Kemija. Kemija was, by that time, quite concerned about Daddy’s
declining health, and discouraged a visit as overly taxing. Daddy, on the other hand,
was very eager to see them. He finally prevailed, and it was arranged that we would
come to Vienna for a few days around October 1979. We arrived and Kemija spared
no effort to ensure that the girls saw everything in Vienna that two- and three-year old girls would want to see, other than their grandfather. So, she very kindly hired a
full-time nanny to take care of the girls while we visited with Daddy. It was all very
thoughtful, but when we came over Daddy kept asking why we had not brought the
girls with us. Finally, he insisted that they come and we brought them for a visit and dinner.
He was delighted and could not have had a better time crawling about on the
floor with the two little girls. It was much like Peggy and me 35 years earlier. It
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afterword
came time for dinner, which Kemija had presented with more formality than might
have been ideal. But, then, she had little to no experience dealing with children and could not have known better. The adults all sat on leather dining chairs. For the
girls, Kemija selected very beautiful silk-upholstered Biedermeier chairs. A maid
with a white apron and white gloves served a consommé with noodles. Vanessa and I worried how much of it would end up on the Biedermeier chairs. But the
girls handled the challenge extremely well, dipping their hands into the bowls to delicately move the noodles to their mouths. The next course arrived on a large
platter under a silver cover. Before the cover was removed, Kemija stage whispered
to Vanessa and me, “Don’t tell them. It’s Bambi!” Whereupon the girls decided that
they had eaten enough and Kemija said to Daddy, “You see, Victor, how badly American children behave.” In fact, he seemed not only uncritical but extremely pleased
to see them.
He was in good spirits on that visit and showed no overt physical signs of illness.
He did complain that his diet was sharply restricted. The one thing he could eat as
much of as he might wish was pastry, but his desire for it had diminished. Given his
love of pastry, one had to assume that his health was indeed failing.
The following February 14, with nothing of note having been communicated in
the interim, I received a telegram from Kemija at my office. It read, in German, “Your father is dying in the hospital.” About 20 minutes later, a second telegram from her arrived, “Your father is dead.” Even as telegrams go, the curtness took my breath
away. In a way, it presented the fact in so abstract and detached a manner that it
took some time for an emotional response to register. It hit me a few days later as I collapsed on our front stairway at home and cried on end.
So there it is. At one moment life is a heartbeat, a brain wave, a quick body. At the
next, an ultimately banal thud.
The physicality of it is one view. Another, as it appears in a written life – a biog-
raphy or autobiography – presents the meaning, the purpose, the impact, the inspiration. Time Magazine enshrined my father’s life as one of the ten most influential
of the twentieth century. Such lists are risky as they lead the gentlest cynic to ask,
ten? Maybe 20? or some other number? But no-one would doubt his importance
as a leading thinker and doer in a field that, since Babylon, Alexandria, Athens, and
Rome, has lain at the heart of civilization: the city.
Victor Gruen lived in an age when the city had been wrenched apart by the ad-
vent of a means of transportation, the automobile, which made it possible to live on
one’s own half acre, insulated from others by an expanse of lawn and a fence that
michael gruen
made one’s neighbors tolerable if not good, yet find employment within driving distance. The highway works of the 1950s only exacerbated the urban exodus, as did the resultant social upheaval as it came to appear that suburbs were for middle class white people, cities for poor black people.
Victor Gruen reminded America and the world that people actually enjoy com-
munal life. He brought a humanitarian emphasis to the planning profession, an emphasis on improving communities for the enjoyment of people, not just for the
passage and parking of motor vehicles. The impact was mind boggling. Not only
do we see shopping centers, perhaps too many, everywhere. We see dedicated pedestrian zones in virtually every significant city, and they are commonly the most
popular attraction of the city. We see zoning that rests on integration of activities
rather than their segregation. We see increasing variety. We see, at least in larger cities, and sometimes in the smallest villages, artisanal bakeries and small specialty
stores, among the brand chains.
Most of all, despite the urban decline of the 1950s, and despite even the common
wisdom of more recent times that people can live secluded lives, many miles from
one another, and communicate exclusively through cyber space, city life is resurg-
ing. So, Victor Gruen’s life lives on and thrives. And, thanks to him, there is a little bit of Vienna almost everywhere.
391
107: Elsie Krummeck, New York 1940 Courtesy Peggy Gruen Collection
More About My Mother Peggy Gruen
Though I have been in possession of a copy of my father‘s manuscript for
this book since shortly after his death in 1980, my German language skills are far
too limited for me to have been able to read more than one third of every sentence. It is with great appreciation that I thank Anette Baldauf for translating the entire
manuscript into English so that I could finally read the words he had penned so many years ago.
What a joy it has been to read about his life experiences, his insights, his thoughts
and ideas, his process and the history leading to various projects, and the psychology he used in communicating with people to be sure to reach his goals. Many of
the stories were familiar, but were wonderful to hear again, and in even more detail. So much of what he wrote though was about things he had not shared with me. I found it thoroughly fascinating and entertaining.
On the other hand, with all the details describing his life, there is much, espe-
cially of a personal nature, that he skips over. I would like to add some details of his
life with my mother, Elsie Krummeck, later Elsie Gruen, and then Elsie Crawford.
Though he mentions her, almost incidentally, several times, somehow the es-
sence of that relationship and its importance to my father’s career and life is lost
and so seems unimportant. She was a very creative and talented designer in her own right and had already accrued many accolades and much recognition for her
work before my father met her (and this was at a time when women were not often
recognized and rewarded for their accomplishments). As my father does mention,
when he got his first job in America at Ivel’s in 1938, she was the most highly regarded designer there. She was earning $100 per week, as compared to my father’s
$13, and as he points out, he was fired when he asked that his salary be raised to
$50. Their romantic involvement began at Ivel’s, and their design and architectural collaborations began soon afterward (in 1939, I believe) as the firm of “Gruenbaum
394
more about my mother
and Krummeck”. He mentions declining business partnerships with several people
who offered him one early on in his career. The fact that he turned them down yet
chose to go into partnership with my mother suggests that he must have been very
impressed with her on a professional as well as a personal level.
The characteristics of her design style are evident in all of those small boutique
stores in New York that they created together. My father was without a doubt full of
brilliant ideas. He was also charming, persuasive, and knew how to land a job. But securing jobs was surely aided by my mother’s ability to put ideas to paper visually. She
was an excellent artist and made beautiful pastel and airbrushed renderings of proposed designs to show the clients. Besides being an enthusiastic and capable design partner, with many ideas of her own, she was extremely beautiful, personable and fun
loving. I imagine they were a duo that was hard to resist. Their professional partnership lasted approximately ten years, she dropping out after giving birth to my brother
and myself and realizing that the demands of child rearing needed to take precedence. They shared much excitement and giddiness as their architectural practice took
off, bringing them to California, where the jobs became larger and larger. I have
myself delighted in reading the notes, letters and telegrams (of which I have a small
collection), which they sent back and forth while my father was traveling to different jobs. The excitement of the task at hand is so clear, and at the same time, it is
also clear how much in love they were.
I also find it somewhat puzzling that he was surprised at my mother’s response
when he told her that he was already in love with another woman, when my mother had believed that his frequent trips away from home were necessary because of
business. I think his bitterness surrounding that experience clouded his recollec-
tions of the fabulous collaboration that they had.
Since he has made the claim that she tried to ruin him financially, I will come
to her defense. First of all, she was an extremely generous person and I cannot
imagine that ruining him or making him a pauper would have even been in her vocabulary. In spite of the fact that he was secretly having a relationship with another
woman and was away from home and our family quite often, I think she was rightly entitled to a large portion of his earnings, primarily because she had launched his
business with him. In many cases, just being someone’s wife is enough to make a claim on property and funds, but my mother had also been an active participant in establishing the value of that business, which laid the foundation for his future. He
was never a pauper, and whatever she ended up getting from that settlement did not make her rich either. We lived comfortably, but never extravagantly.
peggy gruen
My mother continued her career as a designer for the rest of her life. After the
divorce, she worked at home while raising my brother and me. She worked beyond
the limits of conventional architectural and interior design, creating designs for a
multitude of projects including fabrics, toys, interiors, murals and large sculptures. Among her greater successes were her designs for large concrete and fiberglass
planters used in shopping centers, airports and parking lots. She also developed
a series of sculptural paper lamps, the most well known being her “zipper” lamp,
which had a patented, ingenious interlocking system to hold two sections of the lamp together, forming a zipper-like seam, which became part of the design.
She was widely recognized as an important California designer, and many of her
pieces were published in books and journals. She is today considered to have been
one of the top women designers in the United States. Her work is in the permanent
collections of both the Los Angeles County Museum of Art (LACMA) and the Oak-
land Museum of California.
395
Register Abelson, Elaine, S. 26 Ahlfors, Vanessa, S. 386, 387, 389, 390 Akademie der bildenden Künste Wien, S. 11, 92, 95, 96, 113 Akademie der Wissenschaften (Österreich), S. 344 Akademie der Wissenschaften (Österreich), Abteilung Ökosystemforschung, S. 344 Akademie der Wissenschaften, Institut für Umweltwissenschaften und Naturschutz, S. 344 Akademie für Musik und darstellende Künste Wien, S. 85 Albuquerque (New Mexico), S. 368 Alexander, Susan M., S. 33 Alexander, Robert, S. 304 Alexandria (Ägypten), S. 380 Alpbach (Österreich), S. 345 Alsterzentrum (Hamburg) (Bauprojekt), S. 327, 329 Altmann und Kühne (Geschäft), S. 148, 149 American City Lines (Firma), S. 292, 293 American Institute of Architecture (AIA,), S. 143, 181, 235, 279, 311 Amerika Haus (Wien), S. 345 Antioch University (Los Angeles), S. 339 Antwerpen (Belgien), S. 329 Arbeiterzeitung, S. 105, 108, 111 Architectural Forum (Zeitschrift), S. 27, 123, 166, 177, 201, 312 Architectural League (Organisation), S. 265 Architectural Record (Zeitschrift), S. 326, 374 Architectural Review (Zeitschrift), S. 20 Arlen, Harold, S. 380 Athen (Griechenland), S. 31, 327, 390 Atkinson, Brooks, S. 150 Atlanta Journal (Zeitung), S. 224 Auer, Michael, S. 155 Auschwitz, Konzentrationslager, S. 150
Bacon, Edmund, S. 235 Bahr, Erhard, S. 12 Bakema, Jacob, S. 326 Baltimore (Maryland), S. 264 Barnes, Djuna, S. 137 Bartons Zuckerlgeschäft (Barton‘s Bonbonniere, Barton‘s Candy), S. 145, 147 Bauer, Helene, S. 102 Bauer, Otto, S. 102 Bauhaus, S. 94, 306, 339 Baumeister (Zeitschrift), S. 326 Baumfeld, Rudolf (Rudi), S. 91, 92, 94, 195, 196, 211, 243, 306, 320, 383 BBC (Rundfunkanstalt), S. 104, 109 Behrens, Peter, S. 95, 96 Benjamin, Walter, S. 15, 16, 17, 22, 24, 25, 32 Bergen (Norwegen), S. 326, 327 Berghof, Herbert, S. 136, 151 Bergman, Ingrid, S. 376 Berkeley University (Kalifornien), S. 345 Berlin (Deutschland), S. 71, 85, 86 Berlin, Irving (Israel Isiodore Beilin/ Baline), S. 137, 138 Bertoia, Harry, S. 214 Blau, Paul, S. 343, Blondel, Jean-Pierre, S. 333 Boothbay Harbor (Maine), S. 386 Bordeaux (Frankreich), S. 329 Boston (Massachusetts), S. 223, 236, 237, 277 Bourdieu, Pierre, S. 33 Bradbury, Ray, S. 341 Bramhas, Erich, S. 343 Brandt, Willy, S. 323 Bregenz (Österreich), S. 345 Breitner, Hugo, S. 102 Brenner, Neil, S. 36 Brentwood (Los Angeles), S. 159, 258, 368 Breschnew, Leonid, S. 294
398
register
Brisbane (Australien), S. 92 Broadway (New York), S. 52, 67, 109, 137, 138, 145, 149, 150, 371 Broda, Engelbert, S. 343 Brown, Jerry, S. 342 Bruckmann, Gerhart, S. 344 Brünn (Tschechien), S. 136, 225, 345 Brüssel (Belgien), S. 328 Buchenwald, Konzentrationslager, S. 59, 106 Bundeskammer der Architekten und Ingenieurskonsulenten (Österreich), S. 12, 276 Bundesministerium für Gesundheitswesen (Österreich), S. 344 Bundesministerium für Handel, Gewerbe und Industrie (Österreich), S. 341 Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (Österreich), S. 108, 346 Burgee, John, S. 270 Burgtheater (Wien), S. 82, 382 Bustillo, Miguel, S. 14
Cadillac (Firma), S. 187 California Council for the Humanities (Organisation), S. 341 California State Polytechnic University, (Pomona), S. 298 Cantor, Eddie, S. 137 Caracas (Venezuela), S. 252 Carl-Theater (Wien), S. 80, 81, 84 Carpenter, Horace, S. 205 Central Park (New York), S. 125, 300 Centre Pompidou (Paris), S. 313 CERN (Schweiz), S. 108 Certeau, Michel de, S. 19 Cham (Schweiz), S. 328 Chandigarh (Indien), S. 306 Charta von Wien (Resolution), S. 29, 331, 345 Cherbourg (Frankreich), S. 377 Chicago (Illinois), S. 155, 307 Christlich-soziale Partei (Österreich), S. 56, 57
Christlich-sozialer Arbeiterverein (Österreich), S. 104 Chruschtschow, Nikita, S. 28, 29, 294 Chung, Judy Chuihua, S. 18 Chrysler (Firma), S. 22, Cincinnati (Ohio), S. 237 Cohen, Lizabeth, S. 28 Columbia University (New York), S. 319 Contini, Edgardo, S. 180, 195, 196, 265, 306 Cousteau, Jean-Michel, S. 341 Crawford, Margaret, S. 23, 34 Czartoryskischlössel (Wien), S. 101
Dachau, Konzentrationslager, S. 59, 81 Dallas (Texas), S. 235 Danegger, Mathilde, S. 70 Da Vinci, Leonardo, S. 184 Dayton, Bruce, S. 210 Dayton Hudson (Firma), S. 203, 351, 352, Dayton‘s (Kaufhaus), S. 29, 211, 213, 214, 303, 351, 352 Delouvrier, Paul, S. 326 Der Abend (Zeitung), S. 105 Der Kuckuck (Zeitung), S. 106, 1 11 Dessau (Deutschland), S. 306 Detroit (Michigan), S. 22, 29, 185–199, 203, 207, 210, 232, 290, 308, 326, 351, 380 Detroit Times (Zeitung), S. 169 Deutsch, Julius, S. 102, 106, Die politische Bühne (Zeitschrift), S. 49, 103 Die Presse (Zeitung), S. 322 Dingfield, Dan, S. 342 Doll, Jürgen, S. 103 Dollfuß, Engelbert, S. 54 Donnelly, Ignatius, S. 100 Dubach, Paul, S. 344 Dujsik, Hans, S. 245 Dunham-Jones, Ellen, S. 14
Eames, Charles, S. 27 Eastland (Einkaufszentrum), S. 194, 199, 207 Eckardt, Wolf von, S. 300 École des Beaux Arts (Universität), S. 337
register
École des Ponts et Choussees (Universität), S. 337 Edlach an der Lax (Österreich), S. 88 EDAW (Eckbo, Dean, Austin und Williams) (Architekturbüro), S. 244 Edina (Minneapolis), S. 211, 389 Ehrenzweig (Lucas), Robert, S. 101, 104, 109, 112 Eibenschütz, Siegmund, S. 84 Einkaufszentrum Glatt AG (Firma), S. 278, 343 Eisenhower, Dwight D., S. 22, 34, 229, 264, 265 Einstein, Albert, S. 131, 131, 132, 137 Eliot, T.S., S. 137 Emesiobi, Benson, S. 342 Environmental Planning Agency (Organisation), S. 227 Environmental Protection Agency (Organisation), S. 341 Esprit Nouveau (Zeitschrift), S. 305 Essen (Deutschland), S. 345 Eutin (Schleswig-Holstein), S. 85, 86, 87, 327 Fallingwater (Haus) (Pennsylvania), S. 303 Faneuil-Hall (Einkaufszentrum), S. 227 Fantl, Karl, S. 344 Farkas, Karl, S. 136 Farmajan, Abdul Aziz, S. 248, 249, 250 Faulkner, William, S. 137, Federal Urban Development Corporation (Bundesbehörde), S. 244, 247 Fehr, Gerd, S. 86 Fehr, Lucy, S. 86 Fehr, Rudi, S. 85 Fehr, Selmar, S. 85, 86 Ferber, Edna, S. 137 Ferlach (Österreich), S. 100 Fitch, James Marston, S. 312 Florido Tower (Wien), S. 12, 276 Ford (Firma), S. 22, 187 Foreman (Kaufhaus), S. 241 Fort Worth (Texas), S. 30, 232, 235, 236, 233, 237, 386
Franco, Benny, S. 373 Frank, Josef, S. 110 Frank, Susanne, S. 24 Frank, Wilhelm, S. 345 Frauenmode Richard Löwenfeld (Geschäft), S. 20 Freiburg (Deutschland), S. 345 Freidrichs, Chad, S. 230 Fresno (Kalifornien), S. 244, 245, 247 Friedberg, Anne, S. 23, 25 Frieden, Bernard, S. 31 Friedmann, Charles, S. 138
Gaulle, Charles de, S. 333, 334 Gablitz (Österreich), S. 10, 276 Galleria Vittorio Emanuele (Mailand), S. 27, 211, 382 Gamerith, Werner, S. 344 Gavin, Robert, S. 37 Geddes, Norman Bel, S. 133, 134 General Motors (Firma und Verwaltungsgebäude), S. 22, 23, 133, 134, 210, 290, 292, 289 Genf, (Schweiz) S. 108 Gentili, Giorgio, S. 326 Genua (Italien), S. 195 Gessner, Hubert, S. 94, 97 Gestapo (Behörde), S. 60, 67, 68, 69, 71, 107, 148 Ghaffari, Fereydoon, S. 249 Gimbel‘s (Kaufhaus), S. 289 Glas. Österreichische Glaserzeitung, S. 20 Glass, Annette, S. 65, 71 Goethe, Johann Wolfgang von, S. 351 Gofman, John, S. 341 Goldstein, Ben, S. 188, 189 Goldstein, Edna, S. 188, 189 Gosman, Paul, S. 65, 129 Graefe, Gernot, S. 344 Gratz, Leopold, S. 326 Grayson‘s (Kette), S. 152, 155, 158, 164, 165, 177, 185 Graz (Österreich), S. 10, 345
399
400
register
Gropius, Walter, S. 306 Gruen, Alexis, S. 387 Gruen, Elly (Elisabeth Lea Levi), S. 79, 160, 161, 375 Gruen, Madeleine, S. 151, 386 Gruen, (Marie-) Luise, S. 79, 84, 85 105 Gruen, Michael, S. 13, 85, 165, 167, 182, 261, 342 Gruen, Peggy (Margarete), S. 13, 167, 182, 260, 373, 374, 375, 376, 377, 383, 389, 383 Gruen, Viveca, S. 387 Grünbaum, Adolf, S. 79, Grünbaum, Fritz, S. S. 81 Grünbaum und Krummeck (Designfirma), S. 143, 181, 372, 394 Grunewald (Firma), S. 309 Guttman, Hermann, S. 214 Györgyfalvay, Adolf, S. 20, 66, 67, 68, 69, 70
Haber, Joyce, S. 324 Habitat 1976 (UNO-Konferenz), S. 346 Habsburg, Otto von, S. 88 Haerdtl, Oswald, S. 148 Hagen, Utah, S. 151 Halpern, Fritz, S. 109 Halpern, Liese, S. 109 Halprin, Lawrence, S. 235 Hamburg (Deutschland), S. 81, 85, 86, 326, 327, 371 Hamilton, Calvin, S. 341 Hammerschlag, Peter, S. 149 Hanchett, Thomas W., S. 34 Handy, Jam, S. 243 Hansen, Urban, S. 326 Hardwick, M. Jeffrey, S. 27, 385, 387, 388 Harnisch, Walter, S. 105, 109 Harris, Phil, S. 151, 152, 153 Hart, Lorenz (Larry), S. 137 Hart, Moss, S. 137 Harvard Business Review (Zeitschrift), S. 232, 233 Harvard University, S. 232, 384 Harvey, David, S. 17, 18, 33, 35
Hauptquartier der Vereinten Nationen (Gebäude) (Wien), S. 277 Haussman, Georges-Eugène, S. 332 Heimatwehr, S. 52, 104, 104 Helsinki (Finnland), S. 326 Hershey (Pennsylvania), S. 279 Hilbesheimer, Ludwig, S. 309 Hiroshima (Japan), S. 167 Hirten, John, S. 341 Hitler, Adolf, S. 64, 71, 92, 102, 106, 107, 134, 150, 164, 165, 307 Hockett, Hortense, S. 320 Hoffmann, Josef, S. 148 Holdren, John, S. 345 Hollywood (Kalifornien), S. 159, 365 Honolulu (Hawaii), S. 256 Horizon (Zeitschrift), S. 265 Horner, Harry, S. 109, 151 Hoyt, Homer, S. 200 Hudson, Kris, S. 14 Humanökologische Gesellschaft Österreichs (Organisation), S. 344 Huxtable, Ada Luise, S. 265 Huyssen, Andreas, S. 26
Illinois Institute of Technology (Chicago), S. 307 Inaba, Jeffrey, S. 18 Indio (Kalifornien), S. 155, 157, 159 Inger, Manfred, S. 110 Innsbruck (Österreich), S. 249 Institut für Gewerbezentren (Organisation), S. 227 International Council of Shopping Centers (Wirtschaftsverband), S. 224, 225, 226, 387 Isfahan (Iran), S. 250, 251 Ithaca (New York), S. 112 Ivel (Organisation), S. 129, 133, 143, 145, 147, 393 Jacobs, Jane, S. 30, 201, 236 Jahnel, Fritz, S. 60, 342
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Jahoda, Edi, S. 98, 99 Jahoda, Fritz, S. 99, 105, 108, 109 Jahoda, Marie, S. 99, 101 Jahoda-Rosi, S. 99 James, Sheryl, S. 27 Jarka, Horst, S. 109 Jefferson, Thomas, S. 238, 239 Jencks, Charles, S. 229, Jesus Christus, S. 81 J. L. Hudson (Firma), S. 22, 185, 186, 187, 188, 189, 191–199, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 213, 352 Jolson, Al (Asa Yoelson), S. 137 Johnson, Lady Bird (Claudia Alta), S. 30, 256, 257, 258 Johnson, Lyndon B., S. 246, 258, 341, 379 Johnson, Philip, S. 270, 279, 307, 310, 311 Jonas, Franz, S. 326 Joseph Magnin (Firma), S. 179 Julius Meindl (Firma), S. 195
Kafka, Richard, S. 61 Kahn, Albert, S. 180 Kahn, Louis, S. 312 Kaiser Franz Joseph I., S. 88, 280, 381 Kaiserin Zita (Bourbon-Parma, Zita von), S. 88 Kaiser Karl I., S. 88, 98 Kaitheater (Wien), S. 81 Kalamazoo (Michigan), S. 237, 351, 352, 352 Kalesa, Robert, S. 97 Kálmán, Emmerich, S. 80 Kansas City (Missouri), S. 178 Kappe, Raymond, S. 298 Kardos, Alice („Lizzie“), S. 20, 49, 50, 51, 52, 63, 67, 66, 105, 111, 130, 146, 159, 372, Karlsbader Oblaten (Firma), S. 144 Katzmann, Werner, S. 344 Kaufman, Beatrice, S. 137 Kaufman, George S., S. 137, 138 Kaufmann‘s Department Store (Kaufhaus), S. 303 Kaufmann, Edgar, S. 303
Kaufmann House (Gebäude) (Palm Springs), S. 303 Kavanaugh, Geri, S. 243, Kendall, Henry W., S. 341 Keneas, Sebastian, S. 386 Keneas, Stefan, S. 386 Kennedy, John, F. S. 246, 341, 379 Ketchum, Morris, S. 21, 141, 142, 143 Keyes, Ralph, S. 224 Kirschner, Walter, S. 154, 155, 156, 157, 158, 159, 160, 161 Kleines Haus (heute: Theater im Zentrum), S. 63 Kleines Blatt („Das kleine Blatt“) (Zeitung), S. 105, 112 Klein, Stefan, S. 144, 145, 146, 147, 183 Klimt, Gustav, S. 88, 325 Knötig, Helmut, S. 344 Kodak Fotogesellschaft (Firma), S. 241, 243 Kokoschka, Oskar, S. 260, 383 Koln (Böhmen), S. 99 Konwiarz, Hans, S. 326 Koolhaas, Rem, S. 18 Kopenhagen (Dänemark), S. 326 Kornhäusl, Joseph, S. 83 Kouschai, Heiman, S. 152, 153 Kowinski, William, S. 27, 223 Kraus, Karl, S. 100, 103 Kreisky, Bruno, S. 101, 322, 323 Kreisler, Fritz, S. 80 Krummeck (Crawford), Elsie, S. 20, 21, 27, 130, 143, 144, 148, 153, 154, 155, 162, 165, 166, 182, 183, 196, 258, 372, 393 Kühnelt, Wilhelm, S. 344 Kunschak, Leopold, S. 106 Laconte, Pierre, S. 333 Langer, Karl, S. 91, 92, 94 Lanner, Sixtus, S. 345, L’Architecture d’Aujourd’hui (Zeitschrift), S. 20, 326 LaRosa, Ben, S. 130 Lasallehof (Wien) (Gebäude), S. 94,
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Las Vegas (Nevada), S. 157, 159, 160 Latouche, John, S. 136 Lazarsfeld, Paul, S. 99, 101 Leamer, Edward, S. 36 Le Corbusier, S. 31, 94, 184, 286, 305, 306, 331, 345 Lederer de Paris (Geschäft), S. 141, 142, 148 Lederer, Ludwig, S. 20, 21, 139, 140, 141 Lehár, Franz, S. 80 Lehmann, John, S. 114, 115 Lehmann, Lotte, S. 112 Lemaire, Raymond, S. 333 Lemberger, Hedi, S. 71, 85 Lemberger (Lindtberg), Leopold, S. 71, 85, 86 Lemberger, Vally, S. 71, 85 Leningrad (St. Petersburg) (Sowjetunion), S. 254 Leong, Sze Tsung, S. 18 Leshay-Foundation (Organisation), S. 341 Lessack, Arthur, S. 136 Libiseller, Rudolf, S. 344 Library of Congress (Washington D.C.), S. 328 Life-Magazine (Zeitschrift), S. 201 Lindsay, John, S. 270 Linz (Österreich), S. 345 Lissabon (Portugal), S. 105 Literatur am Naschmarkt (Kabarett), S. 148 Lloyd, Susie, S. 385, 386 London (England), S. 67, 70, 71, 99, 104, 109, 225, 264, 322, 387, 388 Loos, Adolf, S. 19, 94, 111 Los Angeles, S. 10, 30, 31, 65, 85, 109, 146, 155, 157, 159, 161, 162, 164, 166, 178, 179, 185, 187, 188, 191, 192, 193, 194, 195, 197, 198, 202, 214, 233, 244, 246, 252, 258, 261, 266, 267, 284, 285, 286, 287, 290, 292, 293, 299, 303, 308, 320, 324, 325, 327, 328, 330, 334, 339, 340, 341, 342, 343, 346, 347, 372, 374, 375, 378, 383, 384 Los Angeles Civic Center (Gebäude), S. 300 Los Angeles County Hall of Records (Gebäude), S. 304
Los Angeles County Museum of Art (LACMA), S. 395 Los Angeles Railway (Firma), S. 292, 293 Los Angeles Times (Zeitung), S. 312, 324 Lötsch, Bernd, S. 344, 345 Louvain (Belgien), S. 328, 329, 332 Louvain la Neuve (Belgien), S. 332, 333 Lowry, Harry (Herbert Levi; Onkel Herbert), S. 52, 65, 86, 127, 144 Lustig, Alvin, S. 147, 303 Lyon (Frankreich), S. 329
Macy‘s (Kaufhauskette), S. 25, 146, 178, 179, 289 Mader, Friedrich Wilhelm, S. 100 Magnin, Cyrill, S. 179 Mailand (Italien), S. 328, 329, 382 Mall of America (Einkaufszentrum) (Minnesota), S. 389 March, Frederic (Frederick Ernest McIntyre Bickel), S. 137 Marek, Bruno, S. 326 Marseille (Frankreich), S. 327 Marx, Detlef, S. 326, 345 Marx, Harpo, S. 137 Marx, Karl, S. 17, 36 Marx, Zeppo, S. 137 Matzner, Egon, S. 344, 345 Max-Reinhardt-Seminar, S. 52, 65, 85 Mayerhofer, Mary, S. 109 Mayr, Hans, S. 345 McAndrew, John, S. 21 McCall (Zeitschrift), S. 244 McCurdy‘s (Kaufhaus), S. 241 Meiselmann, Arnold, S. 105, 109 Melcher, Edmund, S. 90, 93, 94, 95, 96, 97 Melcher und Steiner (Firma), S. 98 Messerschmidt, Gerhard, S. 377 Metropolitan Coach Lines (Firma), S. 293 Metzleinstaler Hof (Wien), S. 97 Miami (Florida), S. 14 Michaelis Helen, S. 320 Michel, Werner, S. 147
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Midtown Plaza (Rochester) (Stadterneuerungsprojekt) , S. 30, 241, 242, 243, 247 Mid-Wilshire Medical Building (Gebäude), S. 180 Miklas, Wilhelm, S. 52 Milliron (Kaufhaus), S. 179, 374 Minneapolis (Minnesota), S. 211, 214, 351 Mitchell, Stacy, S. 14 Molden, Fritz, S. 336 Moholy-Nagy, Claudia, S. 339 Moholy-Nagy, Lazlo, S. 339 Monte Carlo (Monaco), S. 80 Monticello (Virginia), S. 239 Monza (Italien), S. 329 Moskau (Russland), S. 26, 201, 253, 254, 293, 294, 326 Müller, Theodor, S. 90 Müller-Hartburg, Herbert, S. 12, 276, 277 München (Deutschland), S. 109, 164, 225, 326, 345 Mumford, Lewis, S. 30, 300 Mürren (Schweiz), S. 296 Music Box Theater (New York), S. 149 Musil, Robert, S. 20 Nagasaki (Japan), S. 167 Nancy (Frankreich), S. 325 NASA (Organisation), S. 220 Nationalsozialistische Partei (politische Organisation), S. 59, 66 Negri, Antonio, S. 34, 35 Neubauer, Evelyn, S. 11 Neue Heimat (Wohnungsunternehmen), S. 323 Neumann-Viertel, Liesl, S. 110 Neunkirchen (Niederösterreich), S. 103 Neutra, Richard, S. 303, 304, 305 Newark, New Jersey, S. 158 Newhall, Scott, S. 266 New Times (Zeitung), S. 223, 225 New York, S. 20, 21, 30, 35, 36, 53, 59, 60, 61, 67, 98, 108, 109, 112, 127, 131, 135, 136, 142, 143, 145, 147, 148, 149, 154, 155, 156, 159,
160, 162, 177, 178, 185, 182, 183, 186, 205, 238, 241, 246, 253, 261, 265, 269, 276, 288, 289, 294, 305, 310, 320, 325, 327, 342, 371, 372, 373, 375, 378, 379, 381, 385, 386, 394 New York Museum of Modern Art, S. 21 New York State Urban Development Corporation (UDC) (Behörde), S. 270. New York Times (Zeitung), S. 150, 265, 289 Nicholson, Emrich, S. 148 Niessler, Franz, S. 344 Nie-Wieder-Kriegsbewegung (Organisation), S. 49 Nixon, Richard M., S. 28, 29, 378 Nizza (Frankreich), S. 329 North Beverly Glen Boulevard (Los Angeles), S. 262, 324, 341, 384, 385 Northland Center (Einkaufszentrum), S. 22, 27, 194, 196, 199, 200, 201, 202, 203, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 213, 214, 232, 230, 326, 351 Nouvelle Caledonie (Neuguinea), S. 329 Nowo Sibirsk (Russland), S. 255
Oakland Museum of California, S. 395 Obama, Barack, S. 345 O’Connell, Vanessa, S. 14 Oenslager, Donald, S. 138 Old Denmark (Delikatessengeschäft), S. 147 Oldsmobile (Firma), S. 187 Omaha (Nebraska), S. 155 O’Neill, Eugene, S. 137 O’Neill, Gerald K., S. 224 Orleans (Frankreich), S. 329 Oslo (Norwegen), S. 326 Österreich-Este, Franz Ferdinand von, S. 83, 86 Österreichische Ingenieurs- und Architekten-Vereinigung, S. 276, 277, 278 Österreichische Nationalbank (ÖNB), S. 342 Österreichischer Wirtschaftsbund, S. 360 Österreichische Volkspartei (ÖVP), S. 345
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Paar, Hans, S. 94 Pacific Electric (Firma), S. 292, 293 Pahlevi, Reza, S. 249, 250, 251, 252, 386 Pahlevi, Schabanou Farah Diba, 249, 250, 251, 252, 258 Palm Springs (Kalifornien), S. 155 Palo Alto (Kalifornien), S. 179. Paris, S. 15, 24, 35, 60, 61, 67, 70, 71, 80, 84, 105, 110, 111, 115, 136, 203, 249, 253, 262, 306, 326, 327, 328, 333, 337, 338 Parfümerie Bristol (Geschäft), S. 20, 112 Parfümerie Guerlain (Geschäft), S. 20 Peirce, Neal R., S. 377 Pelli, Cesar, S. 226, 320, 321 Pepperdine College, S. 341, 342 Pepsi (Firma), S. 26 Peter der Große (Zar), S. 254 Petersdom (Rom), S. 278 Pfadfinder (Organisation), S. 98 Philadelphia (Pennsylvania), S. 235, 236, 237, 304 Piano und Rogers (Architektenduo), S. 313 Pleskot, Gertrude, S. 344 Polgar, Alfred, S. 105 Politisches Kabaratt, S. 17, 49, 50, 59, 67, 101, 102, 103, 105, 106, 107, 108, 109, 112, 114, 115, 129, 138, 151, 378, 386 Pomona (Kalifornien), S. 298 Pompidou, Georges, S. 334 Popper-Lynkeus, Josef, S. 99 Porgy & Bess (Lokal), S. 105 Porter, Cole, S. 380 Portland (Oregon), S. 155, 156, Posochin, Michail, S. 293, 326 Prag (Tschechien), S. 81, 107 Prein-an-der-Rax (Österreich), S. 262, 386, Princeton University (New Jersey), S. 131 Pruitt-Igoe (Sozialbau, St. Louis), S. 229 Pullman Waggon Werke (Firma, Detroit), S. 187 Qualtinger, Helmut, S. 62
Rabin-Epstein, Rose-Marie, S. 339, 342 Radburn (New Jersey), S. 201 Radio-Verkehrs AG, S. 51 Rainer, Ludwig, S. 87, 88 Rainer, Roland, S. 87, 326 Rathaus (Wien), S. 95, 382 Raudnitz(-Roden), Illa, S. 67, 72, 109, 149, 150 Redevelopment Agency (Behörde), S. 309 Reichardt, Robert, S. 344 Reichmann, Felix, S. 112 Reichmann, Lilly, S. 112 Retailing Daily (Handelszeitschrift), S. 178 Reuther, Walter, S. 309 Richards Medical Laboratories (Philadelphia) (Gebäude), S. 312 Richmond, Fred (Frederick William), S. 268 Ringstraße (Wien), S. 17, 82, 259, 280, 335, 380, 381, 382 Robinson’s (Firma), S. 155, 158 Rochester (Minnesota), S. 30, 211 Rochester (New York), S. 211, 241, 243 Rockefeller Center (New York), S. 141, 201 Rockefeller, Lawrence, S. 256 Rockefeller, Nelson, S. 265 Rodgers, Richard Charles, S. 137 Rom (Italien), S. 390 Romero, George, S. 31, 224 Roosevelt, Eleonore, S. 151, 201 Roosevelt, Franklin D., S. 28, 270, 379 Rote Spieler (Theatertruppe), S. 101, 103, 105, 107 Rotterdam (Niederlande), S. 326 Ruckelshaus, William D., S. 341
Saarinen, Eero, S. 210 Sacramento (Kalifornien), S. 237 Sagalyn, Lynne, S. 31 Salihefendic, Hasib, S. 324 Salihefendic, Kemal, S. 324, 338, 384 Salihefendic, Kemija, S. 30, 252, 259, 260, 261, 262, 325, 327, 328, 340, 342, 343, 382, 383, 384, 385, 386, 389, 390
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Salihenfendic, Ramsa, S. 324, 384, 385 Salzburg (Österreich), S. 345 Salzer, Felix, S. 85 San Bernardino (Kalifornien), S. 237 San Diego (Kalifornien), S. 155, 345 San Francicso (Kalifornien) , S. 130, 146, 153, 159, 178, 179, 240, 244, 266, 299 San Francisco Chronicle (Zeitung), S. 266 San Louis (Missouri), S. 229 Santa Barbara (Kalifornien), S. 162 Santa Catalina (Insel) (Los Angeles County), S. 161 Santa Monica (Kalifornien), S. 155 Schauspielhaus Zürich, S. 85 Schiling, Rudolf, S. 338 Scheu, Friedrich, S. 71, 108, 111, 383 Scheu, Gustav, S. 111 Scheu, Herta, S. 71, 111, 383 Scheu-Riesz, Helene, S. 111 Schiele, Egon, S. 88 Schlesinger, Norbert, S. 195 Schlossberg, Fritz, S. 94, Schlosser, Friedrich Christoph, S. 100, Schnitzler, Arthur, S. 20 Schober, Johannes, S. 103 Schober, Monette, S. 109 Schuschnigg, Kurt, S. 51, 52, 54, 69 Schwab’s Drugstore (Lokal), S. 160 Schwarzenbergplatz (Wien) S. 11, 12, 260, 343, 383 Schwarzwald, Eugenie, S. 100 Seagram-Gebäude (New York), S. 309, 310 Seagram Whiskey (Firma), S. 310 Seattle (Washington), S. 116, 152, 154, 155, 159, 342 Secession (Vereinigung), S. 184 Seeber, Ursula, S. 13 Seeboden (Österreich), S. 88 Seibel, Alexandra, S. 19 Seitz, Karl, S. 102 Sezession (Wien) (Gebäude), S. 100 Shanghai (China), S. 109 Sharaff, Irne, S. 138
Shopping Centers Today (Zeitschrift), S. 220 Shopping City Süd (SCS) (Wien), S. 245 Sidenbladh, Goren, S. 326 Sidler, Gerhard, S. 326 Singer (Berg), Betty, S. 83 Singer, Kurt, S. 95, 97, 114 Singer, Rudolf, S. 72 Slavik, Felix, S. 326, 336, 381 Smith, Larry, S. 200, 202, 226 Smith, Neil, S. 35 Société civile du Recherches sur l’Urbanisme (SRU) (Organisation), S. 328 Socony Oil Company (Firma), S. 129 Sorkin, Michael, S. 23 Southdale Center (Einkaufszentrum), S. 29, 213, 214, 223, 224, 241, 242, 303, 351, 389 Southern California Institute of Architecture (SCI-Arc), S. 298 Southhampton (England), S. 377 Southland (Einkaufszentrum), S. 194 Southland, Ben, S. 196, 306 Soyfer, Jura, S. 59, 104, 105, 106, 107, 108, 114, 115, 136, 149, 150 Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ), S. 51, 54, 55, 56, 57, 368 Sozialistische Arbeitsjugend (politische Organisation), S. 100, 112 Sozialistische Partei Österreichs (SPÖ), S. 340, 341, 378 Spindel, Judith, S. 61 Spokane (Washington), S. 342 Staatsgewerbeschule, S. 90, 91, 95, 98, 113, 195 Staber, Johann, S. 322, 323 Stalin, Josef, S. 281 Stalingrad (Wolgograd, Russland), S. 69 State Polytechnic University, Pomona, S. 294 Steinbeck, John, S. 137 Steiner, Leo, S. 95, 96 Steiner, Willy, S. 71, 85
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Stevens, Roger, S. 264 Stevenson, Adlai, S. 379 Stiegler, Josef H., S. 344 Stix, Gerulf, S. 345 Stockholm (Schweden), S. 326 Stoffausstatter Singer (Geschäft), S. 18, 20 Stonarov, Oskar, S. 308 Strasbourg (Frankreich), S. 329 Strauss, Jack, S. 289 Strnad, Oskar, S. 110 Stone, Edward, S. 141, 143 St. Wolfgang (Österreich), S. 382 Suschitzky (Zerner), Karla, S. 110, 111 Suschitzky, Olga, S. 110, 111 Suschitzky, Philipp, S. 111 Suschitzky, Wilhelm, S. 111 Susman, Tracy, S. 339, 342 Sussman, Albert, S. 226 Sydney (Australien), S. 109
Tages-Anzeiger (Zeitung), S. 335 Tandler, Julius, S. 102 Taper, Bernard, S. 244 Technische Universität Graz, S. 12, 276 Teheran (Iran), S. 248, 249, 251, 252, 256, 257, 386 Tête Défense (Gebäude) (Paris), S. 329 Texas Electric Service Company (Firma), S. 232 Theater Simpl (Wien), S. 137 The California Land Company (Aktiengesellschaft), S. 267 The Council for Mutual Economic Assistance (Wirtschaftsorganisation), S. 225, The Detroit Free Press (Zeitung), S. 27 The Greater Fort Worth Tomorrow (Einkaufszentrum), S. 217 The National Endowment for the Arts (Behörde), S. 341 The New Yorker (Zeitung), S. 135 Theodore, Nik, S. 36 Thomas, J.B., S. 232, 233 Time Magazine, S. 390
Tishman-Realitäten Gesellschaft (Firma), S. 179 Treumann, Carl, S. 81 Trinity-Kirche (New York), S. 140 Tucholsky, Kurt, S. 288 Turgenew, Iwan Sergejewitsch, S. 89
Udall, Stewart, S. 246, 256, 341 Ulanowsky, Lilian, S. 112 Ulanowsky, Paul, S. 112 Unibail-rodamco (Immobilienkonzern), S. 245 Universität Louvain (Belgien), S. 332 Universität Wien, S. 344, 345, 372 Universität Wien – Institut für physikalische Chemie, S. 343 Universität Wien – Institut für Soziologie, S. 344 Universität Wien – Institut für Zoologie, S. 344 University of California (Berkeley), S. 37, 319 University of Virginia (Charlottesville) (New Haven), S. 239 Unruh, Jessie, S. 385 Urban Renewal Legislation (Gesetz), S. 229 U.S. Environmental Protection Agency, S. 295 US News and World Report (Zeitschrift), S. 223
Valencia (Los Angeles), S. 266, 268 Valencia (Spanien), S. 266 Vancouver (Kanada), S. 342 Van der Rohe, Mies, S. 27, 307, 308, 309, 310, 311, 313 Van Houten, Lazette, S. 22, 178, 183, 190, 258, 260, 261, 325, 376, 377, 378, 379, 380, 381, 382, 383, 384 Van Leuven, Karl, S. 164, 178, 179, 189, 190, 191, 192, 193, 195, 196, 197, 202, 380 Van Nuys (Kalifornien), S. 342 Veblen, Thorstein, S. 32, 33 Venedig (Italien), S. 254, 326
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Verband sozialistischer Studenten (politische Organisation), S. 101 Vereinigung Sozialistischer Mittelschüler (VSM) (politische Organisation), S. 100 Verne, Jules, S. 100 Victor Gruen Associates (Gesellschaft), S. 12, 196, 226, 231, 233, 236, 244, 245, 259, 277, 319, 320, 321, 324, 351, 352 Victor Gruen Center for Environmental Planing (Stiftung), S. 31, 339, 343 Victor Gruen Foundation for Environmental Planing (Stiftung), S. 324 Victor Gruen International Ges.m.b.H. (Gesellschaft), S. 325, 328, 347 Victor Gruen Planung und Architektur AG (Gesellschaft), S. 328 Viennese Refugee Artists Group (Theatertruppe), S. 50, 134, 135, 149, 150, 151 Vitruv (Marcus Vitruvius Pollio), S. 296, 297, 299, 302, 314 Vogel, Hans-Jochen, S. 326 Völkischer Beobachter (Zeitung), S. 50, 71,
Waage, Fritz, S. 94 Wagner, Ludwig, S. 99, 101 Wagner, Otto, S. 94, 95, 184 Wagner, Paul, S. 99 Wagner, Robert, S. 269, 270 Wall, Alexander, S. 19 Wallisellen (Schweiz), S. 278 Walt-Disney-Studios (Firma), S. 164 Walter, Tom, S. 224 Warner Brothers Filmgesellschaft (Firma), S. 85 Warren, Charles, S. 341 Washington D. C., S. 229, 235, 238, 239, 246, 256, 257, 264, 265, 267, 320, 328, 342 Washington, George, S. 238 Washington, George (Bürgermeister der Stadt Washington), S. 256 Washington Square Park (New York), S. 368 Weaver, Robert, S. 246
Webber, James B. (Jim), S. 190, 191, 192 Webber, Oscar, S. 189, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 197, 198, 199, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 211 Weber, Max, S. 16 Wehrmacht, S. 50, 56, 62 Weidling-Wurzbachtal an der Stadtbahn, S. 88 Weigel, Hans, S. 149 Weimar (Deutschland), S. 10, 306 Weingartner, Katharina, S. 13 Weish, Peter, S. 344 Weisskopf, Victor, S. 108 Welfare Island (Roosevelt Island, New York), S. 268, 269, 386 Westchester (Kalifornien), S. 179, 374 Westernland (Sylt), S. 86 Westland (Einkaufszentrum), S. 194 Westminster (Kalifornien), S. 14 Westminster Mall (Einkaufszentrum), S. 14 Weys, Rudolf, S. 108 Wien, S. 11, 12, 14, 18, 19, 20, 30, 31, 53, 55, 56, 63, 65, 66, 67, 69, 70, 71, 79, 80, 81, 84, 88, 89, 99, 100, 109, 110, 111, 112, 130, 131, 135, 136, 137, 138, 139, 143, 144, 145, 149, 150, 151, 162, 164, 184, 195, 245, 258, 259, 260, 261, 262, 276, 277, 278, 284, 293, 311, 312, 321, 323, 325, 326, 327, 328, 329, 332, 333, 336, 337, 339, 342, 345, 346, 371, 365, 370, 371, 372, 375, 376, 378, 380, 381, 382, 383, 385, 388, 389, 391 Wiener Kammer für Arbeiter und Angestellte (Behörde) , S. 343 Wiener Neustadt (Österreich), S. 105, 327 Wiener Werkstätte, S. 94, 110, 146 Wilkins, Fred, S. 190 Williams, June, S. 14 Wilson, Charles Erwin, S. 22 Wilson, Elisabeth, S. 24, 25 Wilson, Harold, S. 323 Windsor (Kanada), S. 186 Winston, Selig, S. 128 Wittgenstein, Ludwig, S. 85
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Wlach, Oskar, S. 110 Wotton, Henry, S. 292 Wright, Frank Lloyd, S. 299, 302, 303, 304 Wurzer, Rudolf, S. 345
Yale University, S. 226 Yale University’s School of Architecture, S. 320 Yamasaki, Minoru, S. 308 Yorke, Ruth, S. 52, 53, 65, 115, 127, 130, 131, 134, 137, 152 Yorkville (New York), S. 133
Zagreb (Kroatien), S. 342 Zeisel, Hans, S. 101 Zentrales Planungsbüro (Regierungsorganisation), S. 254 Zentrum für Umweltplanung (ZUP), S. 31, 144, 325, 343, 345, 346, 347 Zimbelius, Hermann, S. 105, 108 Zobel (Bitturan), Karl, S. 104, 109 Zürich (Schweiz), S. 50, 67, 70, 71, 80, 85, 108, 106, 278, 326, 345 Zwerenz, Mizzi, S. 81, 84,