42 Zitate großer Philosophen: Über das Leben, das Universum und den ganzen Rest 3806232903, 9783806232905

»Gott ist tot«, »Der Mensch ist das Maß aller Dinge« oder »Ich denke, also bin ich« - all dies sind Zitate großer Philos

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German Pages 228 [229] Year 2016

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Titel
Impressum
Inhalt
Einführung
Zitierte Philosophen von A bis Z
1 Douglas Adams
2 Anselm von Canterbury
3 Aquinate
4 Aristoteles
5 A. J. Ayer
6 George Berkeley
7 Albert Camus
8 Simone de Beauvoir
9 René Descartes
10 Georg Wilhelm Friedrich Hegel
11 Martin Heidegger
12 Heraklit
13 Thomas Hobbes
14 David Hume
15 David Hume
16 Immanuel Kant
17 Immanuel Kant
18 John Keats
19 Søren Kierkegaard
20 Gottfried Wilhelm Leibniz
21 John Locke
22 J. L. Mackie
23 Karl Marx
24 John Stuart Mill
25 Friedrich Nietzsche
26 Friedrich Nietzsche
27 Wilhelm von Ockham
28 William Paley
29 Parmenides
30 Blaise Pascal
31 Platon
32 Platon
33 Protagoras
34 Bertrand Russell
35 Gilbert Ryle
36 Jean-Paul Sartre
37 Jean-Paul Sartre
38 Voltaire
39 Mary Warnock
40 Alfred North Whitehead
41 Ludwig Wittgenstein
42 Ludwig Wittgenstein
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42 Zitate großer Philosophen: Über das Leben, das Universum und den ganzen Rest
 3806232903, 9783806232905

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Gary Cox

42 Zitate großer Philosophen Über das Leben, das Universum und den ganzen Rest Aus dem Englischen von Axel Walter

© Gary Cox, 2015 This translation is published by arrangement with Bloomsbury Publishing Plc

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Der Konrad Theiss Verlag ist ein Imprint der WBG. © 2016 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Lektorat: Andrea Graziano di Benedetto Cipolla, Mainz Einbandgestaltung: Christian Hahn, Babenhausen Satz: Satzweise GmbH, Trier Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-3290-5

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-3353-7 eBook (epub): 978-3-8062-3354-4

Inhalt Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zitierte Philosophen von A bis Z 1 Douglas Adams . . . . . . . 2 Anselm von Canterbury . . . 3 Aquinate . . . . . . . . . . 4 Aristoteles . . . . . . . . . . 5 A. J. Ayer . . . . . . . . . . 6 George Berkeley . . . . . . . 7 Albert Camus . . . . . . . . 8 Simone de Beauvoir . . . . . 9 René Descartes . . . . . . . 10 Georg Wilhelm Friedrich Hegel 11 Martin Heidegger . . . . . . 12 Heraklit . . . . . . . . . . . 13 Thomas Hobbes . . . . . . . 14 David Hume . . . . . . . . . 15 David Hume . . . . . . . . . 16 Immanuel Kant . . . . . . . 17 Immanuel Kant . . . . . . . 18 John Keats . . . . . . . . . 19 Søren Kierkegaard . . . . . . 20 Gottfried Wilhelm Leibniz . . 21 John Locke . . . . . . . . . 22 J. L. Mackie . . . . . . . . . 23 Karl Marx . . . . . . . . . .

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Inhalt

24 John Stuart Mill . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . Friedrich Nietzsche . . . Wilhelm von Ockham . . William Paley . . . . . . Parmenides . . . . . . . Blaise Pascal . . . . . . . Platon . . . . . . . . . . Platon . . . . . . . . . . Protagoras . . . . . . . Bertrand Russell . . . . . Gilbert Ryle . . . . . . . Jean-Paul Sartre . . . . Jean-Paul Sartre . . . . Voltaire . . . . . . . . . Mary Warnock . . . . . . Alfred North Whitehead . Ludwig Wittgenstein . . Ludwig Wittgenstein . .

25 Friedrich Nietzsche 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42

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Einführung Wie jeder halbwegs vernünftige Mensch mag ich gern Zitate, prägnante Formulierungen oder auch kurze Passagen, die eine Idee oder ein Problem, eine Absurdität oder Frevelei in ihrem Kern erfassen und ausgesprochen witzig und eloquent auf den Punkt bringen. Besonders angetan haben es mir philosophische Zitate, zumal solche, die eine ganze Denkschule oder ein zentrales Prinzip der Ideengeschichte in ein paar Worten oder Zeilen zusammenfassen oder verdichten. Die in diesem Buch untersuchten und erklärten 42 philosophischen Zitate sind solche Zitate. Manche von ihnen sind sogar außerhalb der Philosophie sehr berühmt. Andere hingegen sind weniger bekannt. Einige von ihnen wirken auf den ersten Blick ziemlich unklar und unzugänglich, und das würden sie ohne die mitgelieferten Erklärungen auch bleiben bzw. ohne das, was mir bekannte englische Philosophieprofessoren unpacking nennen. Alle Zitate enthalten in sich eine ganze Argumentation, eine umfassende Philosophie, und es ist der Zweck dieses Buches, diese Philosophie zu »entpacken« und zumindest in ihren Grundzügen zu entfalten. Oder um es einfacher zu sagen: Dieses Buch will erklären, mit wem wir es bei bestimmten Hauptpersonen der Philosophie zu tun haben und was sie mit dem, was sie gesagt haben, sagen wollten. Viele der berühmtesten philosophischen Zitate sind hier mit aufgenommen. Aber nicht etwa, weil ich mich dazu verpflichtet gefühlt hätte, sondern weil sie die Dinge einfach großartig auf den Punkt bringen – deshalb sind sie ja auch berühmt. Kenner des philosophischen Zitats werden zweifellos einige eklatante Lücken ausmachen können. Hierzu kann ich nur sagen, dass dies kein Verzeichnis philosophischer Zitate ist und dass, wenn man sich auf 42 Zitate beschränkt, wie ich es getan habe, schlecht alle 7

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Kandidaten Berücksichtigung finden können, die es verdient hätten. Dieses Buch ist auch keine Hitparade der 42 berühmtesten Philosophiezitate aller Zeiten, was auch immer man sich darunter vorstellen wollte. Es ist meine persönliche Auswahl von 42 fantastischen Zitaten, die aus meiner Sicht wichtig sind und die, wenn sie an einem Ort versammelt und erklärt werden, zu einer Bestimmung der zentralen Aspekte der westlichen Philosophie beitragen können. Im Interesse der Vielfalt habe ich auch für die alles überragenden Gestalten der Philosophie nicht mehr als zwei Zitate vorgesehen. Selbst Nietzsche und Wittgenstein, jene beiden am besten zitierbaren Meister des Aphorismus und des Einzeilers, bilden keine Ausnahme dazu. Ich glaube allerdings, dass die beiden Zitate, die ihnen und den anderen Giganten reserviert sind, unmittelbar ins Zentrum ihrer jeweiligen Weltanschauung führen. Während ich mit der Auswahl der Zitate für dieses Buch beschäftigt war, ist mir völlig klargeworden, was ich lange schon vermutet hatte: dass es sich nämlich bei manchen der berühmtesten »Zitate« in der Philosophie weniger um das von den Philosophen tatsächlich Gesagte handelt, als vielmehr um Sätze, in denen das verdichtet ist, was sie mit dem, was sie gesagt haben, sagen wollten. So ist es beispielsweise zweifelhaft, ob Berkeley tatsächlich »esse est percipi« (»Sein ist Wahrgenommenwerden«) gesagt bzw. geschrieben hat oder nicht. Was er wirklich geschrieben hat, lässt sich in diesen Buch nachlesen und wird zu gegebener Zeit behandelt werden (siehe Zitat 6). Ein anderes Beispiel ist Hegels: »Die Geschichte ist eine Schlachtbank.« Zwar meinte er dies und noch vieles weitere mehr, doch wie Sie feststellen werden, gebrauchte er nicht genau diese Worte (siehe Zitat 10). Oder nehmen wir Ockhams: »Entitäten dürfen nicht ohne Notwendigkeit vermehrt werden.« Ockham meinte etwas ganz Ähnliches, dennoch hat er nie genau diese Formulierung benutzt. Interessenterweise kann ich tatsächlich keinen Kommentator ausfindig machen, der behauptet, Ockham habe dies gesagt. Alle sagen sie, andere hätten behauptet, er habe 8

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es gesagt. Wer sagt denn nun, dass Ockham dies gesagt habe? Das soll uns nicht weiter kümmern. Wir werden zu gegebener Zeit beleuchten, was Ockham wirklich gesagt hat (siehe Zitat 27). Einige der in diesem Buch versammelten Zitate sind der betreffenden Person zugeschriebene oder über eine sekundäre Quelle angeführte Zitate, da die Originalwerke, aus denen sie stammen, im Strudel der Zeit verlorengegangen sind, oder von denen wir nur umstrittene Fragmente besitzen. Ein solches Zitat ist etwa: »Aus nichts wird nichts«, das dem vorsokratischen Philosophen Parmenides (siehe Zitat 29) verlässlich zugeschrieben wird. Dieser Leitsatz ist über die Jahrhunderte von vielen Denkern und Verfassern zitiert und umformuliert worden, unter anderem von Aristoteles, Lukrez (um 99–um 55 v. Chr.) und Shakespeare (1564–1616). Shakespeare, an Parmenides anknüpfend und an diejenigen, die ihrerseits an Parmenides angeknüpft haben, bietet uns die vielleicht noch geläufigere Fassung: »Aus nichts kann nichts entstehn« (König Lear, 1. Aufzug, 1. Szene, Übers. Schlegel/Tieck). Zwei andere, in diesem Buch behandelte Zitate von vorsokratischen Philosophen – Heraklits: »Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen« (siehe Zitat 12) und Protagoras’: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge« (siehe Zitat 33) – werden zitiert, wie Platon sie in seinen Dialogen Kratylos bzw. Theätet zitiert hat. Das Zitieren aus Platon, soweit möglich, ist gängige Praxis, wo das vorsokratische Original verlorengegangen ist und nur Fragmente erhalten sind, die der in dem Zitat erfassten allgemeinen Idee Ausdruck verleihen. Abgesehen davon, dass Platon die anerkannte Quelle für diese großartigen Worte von Heraklit und Protagoras bildet, geben seine eigenen Ideen den vorzüglichsten Anlass, sie zu zitieren, wie in diesem Buch an zwei ausgesuchten und erläuterten Beispielen vorgeführt wird (siehe die Zitate 31 und 32). All das stützt Alfred North Whiteheads Behauptung aus dem 20. Jahrhundert, dass die Philosophie »aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht«. Whiteheads kluges kleines Zitat wird in diesem Buch ebenfalls behandelt (siehe Zitat 40). Ich habe es meinen Studen9

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ten gegenüber schon häufig angeführt, wie etwa auch Nietzsches Diktum »Christenthum ist Platonismus für’s ›Volk‹« (Jenseits von Gut und Böse, S. 4), das zwar genauso großartig und eingängig ist, es jedoch leider nicht in die Endauswahl geschafft hat. Wie dieses Buch zeigt, finden sich manche bekannte Zitate interessanterweise nicht dort, wo man sie vielleicht vermutet hätte, zum Beispiel in dem berühmtesten Werk eines Philosophen, und manche sind zu Leitsätzen für das Gegenteil dessen geworden, was der betreffende Philosoph eigentlich hatte sagen wollen. So findet sich beispielsweise Descartes’ »Ich denke, also bin ich« (cogito ergo sum; siehe Zitat 9), bei dem es sich wohl um den berühmtesten Einzeiler der gesamten Philosophiegeschichte handelt, nicht in seinem bekanntesten Werk, den Meditationen, auch wenn – wie Generationen von Lehrern ihren Schülern gegenüber betont haben – dieser Grundsatz die Ideen, die in diesem überaus einflussreichen Buch dargelegt sind, perfekt auf den Punkt bringt. Er ist in Descartes’ viel weniger bekanntem und sicher weitaus seltener untersuchtem Werk enthalten, der Abhandlung über die Methode. Das beste Beispiel für Zitate, die quasi gekapert wurden, dadurch dass man sie aus dem Zusammenhang gerissen hat, ist vielleicht Voltaires: »Gäbe es Gott nicht, so müsste man ihn erfinden« (siehe Zitat 38). Wie später erläutert wird, war es nicht als das atheistische Motto gedacht, zu dem es geworden ist. Voltaire glaubte an Gott und in Wahrheit attackierte er eine Gruppe atheistischer Philosophen, als er diesen Satz niederschrieb. Wie sich an den entsprechenden Stellen zeigen wird, weisen die 42 in diesem Buch erläuterten Zitate viele solcher lehrreicher Details auf. Sie alle haben eine Geschichte, einen Hintergrund und einen engen Bezug zum Leben des Philosophen, zu dem sie gehören und dessen Sicht auf die Dinge sie ausdrücken. Außerdem gilt, dass die 42 in diesem Buch erklärten Zitate in engem Bezug zueinander stehen und eigentlich nicht getrennt voneinander zu betrachten sind. Denn es ist doch so, dass sich Philosophen – häufig über viele Jahrhunderte Entfernung hinweg – in die gleichen umfassenden Debatten eingebracht und sich un10

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unterbrochen gegenseitig zugestimmt oder widersprochen haben. Die von mir ausgewählten großen Philosophen treten auf den folgenden Seiten den Beweis dafür an, wie lebendig die Philosophie ist, indem sie eine ganze Reihe unterschiedlicher Gespräche miteinander beginnen. Ich habe versucht, die Aufmerksamkeit auf viele der interessanten und informativen Querverbindungen zu lenken, die sich zwischen den Philosophen und zwischen den Philosophien ergeben. Der sorgfältige Leser wird jedoch selbst noch viel mehr solcher Verbindungen entdecken, als ich realistischerweise aufzeigen kann. Schließlich stellt sich die Frage, warum 42 Zitate? Nun ja, warum nicht? Doch im Ernst: 10 schienen nicht ausreichend und 100 doch etwas zu viel; zu viel für eine Übersicht. 42 ist zwar nicht ganz die Mitte zwischen 10 und 100, aber »zweiundvierzig« ergibt einen hübschen Anlautreim mit »fantastisch« und »Philosophie«. Dank Douglas Adams ist die 42 in den vergangenen Jahrzehnten zum Synonym für den Sinn des Lebens geworden. Adams’ Punkt ist folgender: Weil es auf die unklare philosophische Frage nach dem Sinn des Lebens keine letzte Antwort gebe, sei »42« eine ebenso gute oder schlechte Antwort auf sie wie jede andere. Dank Adams ist die 42 nun eine Zahl von philosophischer Bedeutung oder zumindest eine Zahl mit einem unter philosophischen Gesichtspunkten interessanten Mangel an philosophischer Bedeutung. Und darum gibt sie eine gute Zahl von philosophischen Zitaten ab, die in einem Buch wie diesem erkundet und erläutert werden können. Adams’ »42«-Zitat ist übrigens zufälligerweise das erste Zitat, das in diesem Buch behandelt wird, was aber nur daran liegt, dass ich mich an die alphabetische Reihenfolge gehalten habe. Bei den Recherchen zu diesem Buch und als ich es schrieb, wurde ich in meiner Überzeugung bestätigt, dass das Erkunden ganz unterschiedlicher philosophischer Zitate eine sehr gute Möglichkeit darstellt, um Menschen an die Philosophie heranzuführen und ihnen ein vielfältiges Bild von ihr und ihren Per11

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sonen zu vermitteln. Ob Sie die Ausführungen zu den Zitaten der Reihe nach lesen oder von hier nach da springen und sich irgendein Zitat herauspicken, das sie anspricht – ich bin so oder so zuversichtlich, dass Sie eine ebenso unterhaltsame wie informative Lektüre erwartet und dass Sie diese Zitate zu all jenen Anlässen, die sich intelligente Menschen ausdenken, um untereinander intelligente Ideen auszutauschen und zu diskutieren, zukünftig selbst zitieren oder zumindest auf sie verweisen werden.

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Adams »Zweiundvierzig«, sagte Deep Thought mit unsagbarer Erhabenheit und Ruhe. (Douglas Adams Per Anhalter durch die Galaxis, S. 171, Erstveröffentlichung des engl. Originals 1979)

Selten, wenn überhaupt einmal, beginnt ein philosophisches Buch damit, dass es dem Leser die Antwort gibt auf die große Frage nach dem Leben, dem Universum und dem Ganzen. Darum freut es mich außerordentlich, Ihnen gleich zu Anfang die Antwort mitteilen zu können, die Antwort auf die große Frage, die letzte Frage, die merkwürdige Frage, falls es überhaupt eine Frage ist. Sie lautet: »42«. Zufrieden? Nein, natürlich nicht. Denn welche Rätsel löst diese Antwort? Was bedeutet sie überhaupt? Siebeneinhalb Millionen Jahre gründlichen Nachdenkens benötigt der große Computer »Deep Thought« zu ihrer Errechnung, doch am Ende, kurz bevor er die Antwort gibt, sagt er: »Sie wird euch bestimmt nicht gefallen« (Per Anhalter durch die Galaxis, S. 171). Wenn Sie keiner der Millionen Anhänger des Kults um Douglas Adams (1952–2001) sind, des Kults um die 42 – vielleicht weil Sie selbst seit den späten 1970er-Jahren durchs Weltall getrampt sind –, dann fragen Sie sich womöglich, warum ich um die ganze Sache mit »Deep Thought« und der 42 so ein Gewese mache.Vielleicht überlegen Sie auch schon, dieses Buch wieder wegzulegen, weil es nicht die eher ernsthafte philosophische Arbeit ist, für die sie es gehalten haben. Wie heißt es so schön auf dem Umschlag von Per Anhalter durch die Galaxis? »Keine Panik!« Es wird alles deutlich werden. Nur: Eine befriedigende Antwort auf die große Frage wird es nicht geben. In seiner Geburtsstadt Cambridge wurde Adams in die renommierte Brentwood School aufgenommen, die sich vieler anderer namhafter ehemaliger Schüler rühmen kann. Schon in jungen Jahren fand er Anerkennung aufgrund seiner Körpergröße von immerhin fast zwei Metern und fiel durch seine einfallsreiche 13

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Art zu schreiben auf. Diese führte ihn schließlich ans St John’s College, wo er ein Englischstudium aufnahm. 1974 machte er seinen Abschluss, allerdings hatte er den Großteil seiner Zeit dem Schreiben und der Aufführung von komischen Bühnenstücken gewidmet, einige für den einflussreichen Footlights Dramatic Club der Universität von Cambridge. Nach seinem Studium baute Adams allmählich seine Karriere als Komödien- und Science-Fiction-Schriftsteller auf, zunächst am Rande des Comedy-Imperiums von Monty Python und später für die BBC-Serie Doctor Who. Schließlich schuf er die Reihe Per Anhalter durch die Galaxis, jene brillante Verbindung aus Komödie und Science-Fiction, mit der er als Autor zu Weltruhm gelangte. Adams, der auch über seinen Tod hinaus Komiker, ScienceFiction-Autoren, Wissenschaftler, Philosophen und Prog-RockBands inspirierte, erlag mit gerade einmal 49 Jahren in Kalifornien einem Herzinfarkt. Per Anhalter durch die Galaxis war zunächst als Radiohörspiel konzipiert worden und hatte gleich enormen Zuspruch beim Publikum gefunden. Später entstanden neben der erwähnten Romanreihe auch ein Mehrteiler fürs Fernsehen und ein Film, dazu allerlei Merchandising-Produkte, unter denen natürlich auch Handtücher (als wichtige Tramperutensilien) nicht fehlen durften. Die Geschichte ist eine wundervolle Kombination aus Komödie, Science-Fiction und Philosophie, voller tiefgründiger Einsichten, die denen der anderen großen Philosophen, die in diesem Buch zu Wort kommen, in nichts nachstehen. Per Anhalter durch die Galaxis ist auch innerhalb der Geschichte der Titel eines Buchs. Dabei handelt es sich um einen Reiseführer durch unser Sternensystem, der »die große Encyclopedia Galactica als Standardnachschlagewerk für alle Kenntnisse und Weisheiten inzwischen längst abgelöst« habe (Per Anhalter …, S. 8). Er existiert nur in elektronischer Form, »denn wenn man ihn in normaler Buchform gedruckt hätte, wäre der interstellare Anhalter gezwungen gewesen, mehrere unhandliche Lagerhallen mit sich rumzuschleppen« (Per Anhalter …, S. 31). In gewissem Sinne ist Adams’ Science-Fiction-Fantasie keine 14

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Fiktion mehr. Mit dem Internet gibt es heute ein allumfassendes elektronisches Nachschlagewerk, dessen gedruckte Seiten eine Menge riesiger Gebäude füllen würden und auf das man über diverse tragbare Geräte zugreifen kann. Zwar gab es in den späten 1970er-Jahren bereits Vorläufer des Internets (das habe ich gerade bei Wikipedia nachgelesen), Adams jedoch schenkte uns – viele Jahre bevor diese Dinge zumindest auf dem Planeten Erde wirklich existierten – ein Smartphone oder einen Tablet-Computer, allerdings mit Tastatur und nicht mit einem Touchscreen. Natürlich konnte er nicht an alles denken, und so können wir uns etwas darauf einbilden, dass unsere gegenwärtige Technologie zumindest in dieser Hinsicht weiter ist als die Science-Fiction von einst. In jedem Fall können Sie Douglas Adams’ fabelhaftes Universum über das Internet, über Bücher, Fernsehen oder Radio selbst erkunden, falls Sie das nicht schon längst getan haben. Ich für meinen Teil muss unbedingt auf die Sache mit »Deep Thought« zurückkommen und auf die 42 als Antwort auf die große Frage nach dem Leben, dem Universum und dem Ganzen. In dem Roman beschließt eine Rasse hyperintelligenter pandimensionaler Wesen, die in unserer Dimension als Mäuse in Erscheinung treten, die Frage nach dem Sinn des Lebens endgültig zu beantworten. Dazu bauen diese Wesen »Deep Thought«, den ihrer Meinung nach größten Computer im Universum. Kleinere Geräte – wie das Milliard Gargantuhirn, den Gugelplex Sterndenker oder den Großen Hyperbolischen Allverwandten Neutronenzänker – werden von ihm als bessere Rechenschieber oder Taschenrechner abqualifiziert. Dennoch räumt die Maschine – noch bevor ihr die große Aufgabe gestellt wird – ein, dass sie nur der zweitgrößte Computer im Universum ist bzw. sein wird. »Deep Thought« verkündet nämlich, er werde bei Gelegenheit den größten Computer im Universum konstruieren, verweigert aber erst einmal weitere Auskünfte dazu. »Deep Thoughts« Programmierer sind in heller Aufregung, weil ihr Schützling wiederholt versichert, dass es wirklich eine Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem Ganzen gibt. Doch als der Computer sich an seine große Auf15

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gabe macht, platzen zwei Philosophen in den Raum, Magikweis und Vrumfondel, und fordern dessen Abschaltung mit der Begründung, dass »die Suche nach der Letzten Wahrheit ganz eindeutig das unveräußerliche Recht eurer Berufsdenker« sei (Per Anhalter …, S. 164). Soll heißen: Wenn »Deep Thought« die Antwort finden sollte, würden die Philosophen arbeitslos. Der Computer teilt den beiden mit, dass seine Schaltkreise unwiderruflich damit beschäftigt seien, die Antwort zu finden, beruhigt sie jedoch, dass die ganze Prozedur siebeneinhalb Millionen Jahre in Anspruch nehmen werde – Zeit und Gelegenheit genug für die Philosophen, um aus der öffentlichen Aufmerksamkeit Kapital zu schlagen. Brillant argumentiert der Rechner: Aber mir scheint, dass ein Programm wie dieses zwangsläufig ein enormes öffentliches Interesse an der ganzen Philosophie hervorrufen muß. Jedermann wird seine eigene Theorie darüber anstellen, mit welcher Antwort ich schließlich anrücken werde, und wer könnte aus diesem Rummel wohl besser Kapital schlagen als ihr selbst? Solange ihr euch nur heftig genug gegenseitig in den Haaren liegt und in der Presse runtermacht, und solange ihr Nachbeter habt, die ein bisschen clever sind, habt ihr doch für eure Zukunft ausgesorgt. (Per Anhalter durch die Galaxis, S. 165)

Die Philosophen sind beeindruckt. Sie selbst wären nie auf diesen Gedanken gekommen, weil sie, wie sie sagen, »zu hochtrainierte« Hirne haben. Siebeneinhalb Millionen Jahre später schließlich gibt »Deep Thought« die unbefriedigende Antwort: »42«. Der Computer ist kein Narr, und er ist sich völlig darüber im Klaren, dass dies keine gute Antwort ist, auch wenn es definitiv die richtige ist auf die unklare Frage, die ihm gestellt wurde. Daher erklärt er, dass das Problem in der Frage liege. »Das Problem ist, wenn ich mal ganz ehrlich zu euch sein darf, daß ihr selber wohl nie richtig gewußt habt, wie die Frage lautet« (Per Anhalter …, S. 172). Um eine zufriedenstellende Antwort zu erhalten, müsse man erst einmal he16

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rausfinden, wie die Frage eigentlich lautet. Wie aber lautet die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem Ganzen? »Deep Thought« gibt zu, dass er die Frage nicht kennt und auch nicht weiß, wie man darauf kommen könne, er wisse jedoch, wer beziehungsweise was dazu in der Lage sei. Das Ganze endet damit, dass »Deep Thought« den Planeten Erde als Supercomputer entwirft, mit einem zehn Millionen Jahre laufenden Programm zur Ausarbeitung der Frage nach dem Leben, dem Universum und dem Ganzen. Die Bewohner des Planeten Magrathea bauen ihn. (Die Beweise für die Existenz von Dinosauriern sind also falsch, und die christlichen Fundamentalisten haben gegenüber den Evolutionstheoretikern zumindest darin Recht, dass die Erde nicht so alt ist, wie diese behaupten, und dass sie samt den Fossilien auf einmal geschaffen wurde.) Bedauerlicherweise wird die Erde, nur fünf Minuten bevor das Programm vollständig durchlaufen und die Antwort oder besser die Frage gefunden ist, von den fiesen bürokratischen Vogonen zerstört, um Platz für eine Hyperraum-Schnellstraße zu schaffen. Adams versteht es, seinen Lesern auf amüsante Art nahezubringen, dass es tatsächlich keine Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem Ganzen gibt. Egal, was uns auch angeboten wird – die Antwort wird zwangsläufig so unbefriedigend sein wie »42«. Folglich ist »42« eine ebenso gute oder schlechte Antwort wie jede andere auch. Dank Adams’ wahlloser Festlegung auf die 42 und dank der Tatsache, dass er sie im Zusammenhang einer witzigen Auseinandersetzung mit dem Sinn des Lebens populär gemacht hat, hat die Zahl einen fast mystischen Stellenwert erlangt. Dabei steht sie dafür, dass es keine Antwort gibt, oder besser, dass die Frage keinen Sinn ergibt und man sie gar nicht erst stellen sollte. Es kommt hin und wieder vor, dass ich »42« antworte, wenn ich als Philosoph gefragt werde, worin der Sinn des Lebens, des Universums und des Ganzen besteht. Allerdings versteht keiner, der mich das fragt, ohne Erklärung, worauf ich mit meiner Antwort hinauswill. Die Eingeweihten, also diejenigen, die wissen, dass »42« eine Antwort auf die große Frage ist, würden dagegen 17

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bestimmt nie ernsthaft nach dem Sinn des Lebens, des Universums und des Ganzen fragen. Adams hat ihnen beigebracht, eine so unklare, allzu allgemeine philosophische Frage gar nicht erst zu stellen. Weil »Deep Thought« davon überzeugt war, glaubte man, dass der Supercomputer Erde beim Durchlaufen seines Programms zumindest hinter die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem Ganzen kommen würde. Weil nun aber das Programm fünf Minuten vor dem Ende seiner Laufzeit zum Absturz gebracht wird, bleibt unklar, ob »Deep Thought« Recht hatte oder nicht. Er hatte zugegeben, die Frage nicht zu kennen – wie also sollten wir sicher wissen können, dass der von ihm entworfene Computer die richtige Frage herausbekommen hätte? Und wäre die richtige Frage überhaupt befriedigender und sinnvoller als die ursprüngliche verworrene Frage, oder erst die Antwort auf sie? Unmittelbar bevor die Erde von den Vogonen zerstört wird, geht einem Mädchen, das in der britischen Ortschaft Rickmansworth in einem Café sitzt, ganz plötzlich auf, was die ganze Zeit über schiefgelaufen ist und »wie die Welt gut und glücklich werden könnte« (Per Anhalter …, S. 7). Ihre Offenbarung resultiert ohne Zweifel aus dem Zehn-Millionen-Jahre-Programm, das sich seinem Abschluss nähert. Doch weil die Erde zerstört wird, bevor das Mädchen jemandem mitteilen kann, worauf es gekommen ist, wissen wir nicht, worum es sich dabei handelte, und schon gar nicht, ob es tatsächlich so gut war, wie es selbst glaubte.Vielleicht hätte ihr Einfall die Welt zu einem guten und glücklichen Ort gemacht. Doch die Welt zu verbessern ist gewiss nicht dasselbe, wie die Letzte Frage und die Antwort darauf zu finden. Möglicherweise sind Sie der Auffassung, dass es am Ende vielleicht doch eine im eigentlichen, echten Sinne letzte Frage gibt, die man stellen könnte – auch wenn wir sie noch nicht kennen. Das Problem daran ist, dass jeder Versuch, eine solche Frage zu formulieren, zwangsläufig zu einer weiteren Frage führt, die auch nur eine von vielen philosophischen Fragen ist. Weil jede von ihnen eine Frage unter anderen ist, kann keine von ihnen 18

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die letzte sein, die ja in irgendeiner Form sämtliche der tiefsten philosophischen Fragen, auf die Menschen eine Antwort finden wollen, in sich schließen müsste. Versuchen Sie sich doch einmal selbst an der Formulierung der Letzten Frage. Wenn Sie dabei auf unbestimmte und entsprechend unbeantwortbare Fragen wie »Was bedeutet das alles?« und andere Formulierungen à la Adams verzichten, werden Sie unweigerlich bei ähnlichen Fragen landen wie: »Hat das Leben, das Universum und das Ganze einen Zweck, und wenn ja, welchen?«, »Gibt es einen Gott?« oder »Kommt etwas nach dem Tod?«. Dies sind ganz zweifellos große philosophische Fragen, und in diesem Sinne ließen sie sich vielleicht als letzte Fragen bezeichnen, keine von ihnen aber ist die letzte Frage. Sie sind, und darauf kommt es an, konkret genug, dass man bei ihnen immerhin anfangen kann, nach Antworten zu suchen. Demnach gibt es letzte philosophische Fragen, wie es wichtigste philosophische Fragen gibt; es gibt jedoch keine philosophische Frage, deren Antwort auch alle anderen wichtigen philosophischen Fragen lösen würde. Diese Antwort würde in der Tat die Philosophie beenden, und die Befürchtungen von Magikweis und Vrumfondel, dass sie ihre Arbeit verlieren könnten, Wirklichkeit werden lassen. Aber so funktioniert es einfach nicht mit Fragen, Antworten, Logik, Vernunft und Philosophie. Ich hoffe, in diesem Buch ein Stück weit verdeutlichen zu können, wie die Philosophie in Bezug auf verschiedene konkrete philosophische Fragen und Themen tatsächlich funktioniert. Ehrlicherweise muss ich einräumen, dass ich die Wendung »die letzte Frage« im Titel meines vorigen Buchs verwendet habe, The God Confusion: Why Nobody Knows the Answer to the Ultimate Question (2013).Wo war ich nur mit meinen Gedanken? Nun ja, sicherlich habe ich mich von dem dramatischen Effekt dieser griffigen Wendung in gewissem Maße verführen lassen und gehofft, dass ich auch die Leser damit verführen könnte. Ich wollte mit ihrer Verwendung jedoch keineswegs andeuten, dass wir es bei der Frage nach der Existenz Gottes, also der Gottesfrage, mit der letzten Frage zu tun hätten, in dem Sinne, dass mit der Ant19

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wort auf sie auch die Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem Ganzen gefunden wäre. Würde man Gott beweisen oder seine Existenz widerlegen (was unmöglich ist, wie ich in The God Confusion argumentiere), dann hätte man nicht etwa mit einem Schlag die Antwort auf sämtliche philosophischen Fragen. Dennoch neige ich zu der Auffassung, dass die Gottesfrage in gewisser Weise die letzte Frage ist, da viele Menschen in ihr die wichtigste philosophische Frage sehen und die Antwort auf sie sich am stärksten auf andere zentrale philosophische Fragen auswirkt, zum Beispiel den Fragen nach der Entstehung des Universums, nach der Moral, der menschlichen Willensfreiheit oder dem Leben nach dem Tod. Nachdem im Anhalter die Vogonen die Erde zerstört haben, geben die hyperintelligenten pandimensionalen Wesen, die in unserer Dimension als Mäuse erscheinen, den Bau einer zweiten Erde in Auftrag, damit das Zehn-Millionen-Jahre-Programm noch einmal von vorn durchlaufen werden kann. Doch die beiden für das Projekt zuständigen Mäuse, Benjy und Frankie, müssen zugeben, dass ihnen die ganze Sache inzwischen »meterlang zum Halse raushängt« (Per Anhalter …, S. 187). Sie würden lieber in ihre eigene Dimension zurückkehren, um in die Produktion einer Talkshow und einer Vortragsreihe einzusteigen, die man ihnen angeboten hat, doch dazu brauchen sie ein Ergebnis, »die Letzte Frage in der einen oder anderen Form« (Per Anhalter …, S. 188). Sie beschließen, sich etwas auszudenken. Egal was, nur gut klingen muss es. Statt für »Wie viel ist sechs mal sieben?« (Per Anhalter …, S. 192), was ihnen übertrieben wörtlich und nüchtern vorkommt, entscheiden sie sich für »Wie viele Straßen muss der Mensch entlangspazieren?« (Per Anhalter …, S. 192). Das, so finden sie, »hört sich sehr bedeutend an, ohne daß es uns an irgendeine bestimmte Bedeutung bindet« (Per Anhalter …, S. 192). Da haben Sie sie also, die Letzte Frage, zumindest ist es die, auf die sich hyperintelligente Mäuse willkürlich festgelegt haben – eine Zeile aus einem Bob-Dylan-Song. Dieses Lied sagt uns übrigens auch etwas über die Antwort: »Die Antwort, mein Freund, 20

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weiß ganz allein der Wind, die Antwort weiß ganz allein der Wind« (Bob Dylan, Blowin’ in the Wind). 1

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Anselm von Canterbury Und gewiss kann, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, nicht allein im Verstande sein. Denn wenn es nur im Verstande allein ist, so kann man denken, es sei auch in der Wirklichkeit, was größer ist. (Anselm von Canterbury Proslogion, S. 23.Verfasst 1077/78)

Der heilige Anselm von Canterbury (1033–1109) gilt als einer der Großen unter den Philosophen des Mittelalters. In Italien geboren, wurde er Abt des Benediktinerklosters Le Bec in der Normandie und im Jahre 1093 schließlich Erzbischof von Canterbury. Fast genau 400 Jahre später (1494) sprach die Kirche ihn heilig, hauptsächlich wegen seiner Verdienste um die katholische Theologie. Anselm genießt den Respekt eines Philosophen, der auf die Kraft des Arguments setzt und weniger auf Autorität, womit in seinem Fall die der Bibel gemeint ist. Dennoch nimmt er als Christ und Kirchenmann des Mittelalters ständig Bezug auf sie, um seine Ansichten darzulegen. Das Proslogion ist Anselms mit Abstand bekanntestes Werk. In dieser Abhandlung über das Wesen Gottes bringt er das viel diskutierte ontologische Argument für die Existenz Gottes vor, das in unserem Eingangszitat zusammengefasst ist. Unabhängig davon, ob es Gott wirklich gibt oder nicht, kann man darüber nachdenken, was er seinem Wesen nach wäre, oder schlicht und einfach untersuchen, was der Ausdruck »Gott« bedeutet. Anselm sagt klar: Gott ist dasjenige, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. Gott ist das höchste We1

Deutsche Fassung von Hans Bradtke: Die Antwort weiß ganz allein der Wind.

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sen. Das ist einleuchtend, denn gäbe es ein Wesen im Universum oder jenseits davon, das noch über Gott stünde, dann wäre in Wahrheit dieses Wesen das höchste Wesen – also Gott –, und nicht das erste Wesen, das man zunächst im Sinn hatte. Der Ausdruck »Gott« bezieht sich auf das allerhöchste nur vorstellbare Wesen. Kurz und gut, »Gott« bedeutet »höchstes Wesen«. Als das höchste Wesen muss Gott über bestimmte göttliche Eigenschaften verfügen, verschiedene Vollkommenheiten aufweisen, ohne die er nicht das höchste aller Wesen wäre, ohne die er nicht Gott wäre. Das lateinische Präfix »omni« bedeutet »all«, und Gottes höchste Vollkommenheit lässt sich zusammenfassen, indem man sagt, er sei allwissend (omniszient), allmächtig (omnipotent), allgegenwärtig (omnipräsent) und allschaffend (von lat. omnificere). Er muss allwissend sein, denn wenn es etwas gäbe, das er nicht wüsste, dann hätte seine Macht darin eine Grenze. Als das allerhöchste Wesen, das überhaupt vorstellbar ist, kann Gott unmöglich einer solchen Grenze unterliegen. Derselben Argumentation nach muss Gott allmächtig sein. Statt von der Allwissenheit und Allgegenwart Gottes spricht Anselm häufig von seinem vollkommenen Verstand und vollkommenen Willen. Dadurch dass Gott einen Willen und Verstand hat, ist er Person und keine unpersönliche, abstrakte Kraft. Er muss ein personaler Gott sein, sonst würden ihm Eigenschaften fehlen, die selbst Hunde und Kinder haben, wie es Anselm formuliert, und das wäre undenkbar. Wäre Gott dazu nicht auch allgegenwärtig, so hätte er seinen Namen nicht verdient. Gott muss zu allen Zeiten zugleich und an allen Orten auf einmal sein. Gäbe es irgendeinen Ort, an dem er nicht wäre, so wäre er nicht einfach nur nicht dort, sondern es bestünde darin ein prinzipieller Mangel. Doch Gott, solange er Gott ist, kann unmöglich einen Mangel haben. Wenn Gott schließlich als allschaffend bezeichnet wird, dann heißt das, dass er der Schöpfer von allem ist, was nicht Gott ist. Er ist die erste Ursache von allem – ein Gedanke, der in unserem nächsten Zitat aufgegriffen wird, das von einem anderen Schwergewicht des Mittelalters stammt, nämlich von Thomas von Aquin 22

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(siehe Zitat 3). Gott selbst ist ungeschaffen und unzerstörbar, weil es nichts Mächtigeres gibt als ihn selbst, das seinen Anfang oder sein Ende bewirken könnte. Gäbe es eine solche Macht, wäre sie selbst Gott. Also gab es Gott von jeher und es gibt ihn für immer. Er ist ewig. Über die göttlichen Eigenschaften ließe sich noch viel mehr sagen, zum Beispiel über Gottes vollkommene Güte. Zudem gibt es uralten Streit um diese Eigenschaften, etwa darum, ob es zu Gottes Allmacht auch gehört, etwas Unlogisches zu bewirken oder bloß das logisch Mögliche. Dies sind ergiebige Themen, die allein ein ganzes Buch füllen können, wovon ich mich jüngst selbst überzeugen konnte. Wenn Sie ihnen gründlicher nachgehen wollen, darf ich Ihnen mein letztes Buch empfehlen, The God Confusion: Why Nobody Knows the Answer to the Ultimate Question (2013). Für unsere Zwecke hier ist es wichtig, dass Sie eine möglichst genaue Vorstellung davon bekommen konnten, was Anselm meint, wenn er sagt, Gott sei dasjenige, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. Wie Anselm im Eingangszitat wortreich formuliert, ist die Vorstellung von einem wirklich existierenden Gott größer als die von einem Gott, den es in Wirklichkeit nicht gibt. Darum muss es ihn geben, muss dasjenige, über das hinaus sich nichts Größeres denken lässt, tatsächlich existieren. Anders gesagt: Stellt man sich einen Gott vor, der nicht existiert, so ist dies ein geringerer Gott als ein tatsächlich existierender. Weil Gott definitionsgemäß kein geringerer Gott sein kann, sondern immer schon der größtmögliche, immer schon der höchste ist, darum muss es ihn geben. Dies ist ein ontologisches Argument, eines der renommierten und nach wie vor viel diskutierten theistischen Argumente für die Existenz Gottes und zudem das einzige von ihnen, das sich vollständig auf Logik und Vernunft stützt statt auf irgendein Element empirischer Erfahrung. Dieses Argument besagt, dass Gott als einem Wesen, welches über sämtliche positive Eigenschaften verfügt, auch die Eigenschaft der Existenz zukommen muss, denn sonst würde sie ihm fehlen, und weil Gott unmöglich etwas fehlen kann, wäre das ganz und gar ungöttlich. Die eigentliche Idee von 23

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Gott schließt dieser Argumentation zufolge seine Existenz ein. Gott richtig denken heiße, ihn sich seiend vorzustellen; wer Gott richtig denke, der wisse, dass es ihn gibt. Auf den ersten Blick wirkt das ontologische Argument völlig stichhaltig. Über viele Jahrhunderte hinweg hat es viele große Denker überzeugt, inklusive René Descartes, der etwas später noch zu Wort kommen wird (siehe Zitat 9). Es bleibt allerdings festzuhalten, dass das ontologische Argument nicht vollkommen stichhaltig ist, dass es nicht trägt, sondern auf einem logischen Taschenspielertrick beruht, den aufzudecken noch etwas kniffliger ist als die Darlegung des Arguments. Aus diesem Grund hat es sich über die Jahrhunderte an so manchem philosophischen Kontrollpunkt vorbeischmuggeln können und weit mehr Ansehen gewonnen, als es in Wahrheit verdient. Aus der bloßen Idee einer Sache lässt sich grundsätzlich nicht auf ihre Wirklichkeit und ihre tatsächliche Existenz im Universum schließen. Wenn der Ausdruck »Gott« notwendigerweise ein Wesen meint, das über »sämtliche möglichen All-Eigenschaften verfügt«, so bedeutet dies nicht, dass Gott notwendigerweise existiert, dass es ihn wirklich gibt. Das Wort »Dreieck« bezeichnet notwendigerweise eine »dreiseitige Figur«, doch weil eine Figur unbedingt drei Seiten haben muss, um als Dreieck zu gelten, bedeutet dies im Umkehrschluss nicht, dass es auch tatsächlich Dreiecke geben muss. Natürlich gibt es Dreiecke, keine Frage, dieser Fakt aber wurde anders festgestellt als durch die eingehende Untersuchung des bloßen Begriffs eines Dreiecks. Immanuel Kant formuliert das so: »Die unbedingte Notwendigkeit der Urteile aber ist nicht eine absolute Notwendigkeit der Sachen« (Kritik der reinen Vernunft, S. 173). Wie es der Zufall will, ist dieses Kant-Zitat eines der fantastischen philosophischen Zitate, um die es in diesem Buch an späterer Stelle noch gehen wird (siehe Zitat 17). Darum warte ich bis dahin mit weiteren und wohl auch noch notwendigen Erklärungen zu den Ungereimtheiten des ontologischen Arguments. Fürs Erste gebe ich mich damit zufrieden, dass Sie jetzt immerhin wissen, was das ontologische Argument ist und wie es funktioniert. 24

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Aquinate Es ist aber nicht möglich, daß es ins Unendliche gehe bei den notwendigen Dingen, die eine Ursache ihrer Notwendigkeit haben, wie dies auch bei den Wirkursachen nicht möglich ist. Also ist es notwendig etwas anzunehmen, das an sich notwendig ist und die Ursache seiner Notwendigkeit nicht von anderswoher hat, sondern das vielmehr Ursache der Notwendigkeit für die anderen Dinge ist. (Thomas von Aquin, Summe der Theologie, in Die Gottesbeweise, S. 57.Verfasst 1265–73)

Der heilige Thomas von Aquin (um 1225–1274) gehört ebenfalls zur ersten Garde der mittelalterlichen Philosophen. Nimmt man seinen Einfluss auf die katholische Kirche zum Maßstab, ist er zweifellos der bedeutendste von allen. Unter tatkräftiger Mithilfe seiner Anhänger, der Thomisten, wirkten seine Ideen tief in den Katholizismus hinein und bildeten schließlich dessen philosophischen Kern – und das bis heute. In Italien geboren, studierte Thomas in Neapel die altgriechische Philosophie des Aristoteles, wo er unter den Einfluss des wenige Jahre zuvor gegründeten Dominikanerordens geriet, in den er dann auch eintrat. Mit seiner Karriere ging es steil bergauf, und die Päpste wandten sich häufig Rat suchend an ihn. Seine Bedeutung zeigt sich daran, dass er 1323, kaum fünfzig Jahre nach seinem Tod, heiliggesprochen wurde. Thomas sorgte mit seinem Werk dafür, dass sich der Schwerpunkt der christlichen Theologie von den Lehren des Augustinus (354–430 n. Chr.) zu denen des Aristoteles hin verlagerte. Aristoteles, der vor der Zeit Jesu Christi gelebt hatte (384–322 v. Chr.), galt unter den Christen des Mittelalters als Heide und seine Ansichten wurden nur akzeptiert, wenn sie sich mit der christlichen Orthodoxie vertrugen. Seine Schriften wurden deshalb eher selektiv gelesen. Mittelalterliche Theologen wiesen beispielsweise Aristoteles’ Ansicht zurück, die Welt würde ewig bestehen, weil dies im Wi25

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derspruch zur biblischen Darstellung der Schöpfung stand. Was die mittelalterlichen Philosophen an Aristoteles schließlich am meisten bewunderten, war die Kraft, die Logik und Denken bei ihm entfalteten. Sie erkannten, dass sich seine logischen Denkund Schlussverfahren grundsätzlich dafür eigneten, ihre eigene christliche Weltsicht weiterzuentwickeln und zu untermauern. Thomas’ bekannteste Anwendung der aristotelischen Argumentationen und Prinzipien auf die christliche Theologie sind seine fünf Wege, die fünf Gottesbeweise, die in seinem wichtigsten Werk, der Summe der Theologie, enthalten sind. Interessanterweise befindet sich unter diesen Beweisen kein ontologischer, begriff Thomas doch als einer der Ersten, dass Anselms ontologisches Argument (siehe Zitat 2) nicht stichhaltig ist (siehe Zitat 17).Vielmehr sind drei der fünf Wege des Thomas kosmologischer Art, während das vierte Argument sich auf Vollkommenheitsgrade gründet und es sich bei dem fünften um das Schöpfungsargument handelt (siehe Zitat 28, Paley). Das kosmologische Argument ist in unserem Eingangszitat zusammengefasst, und um dieses soll es hier also gehen. Eigentlich gibt es drei kosmologische Argumente bzw. drei Aspekte des im Wesentlichen gleichen Arguments: nämlich das Argument vom unbewegten oder ersten Beweger, das Argument vom unverursachten Verursacher oder von der ersten Ursache und das Argument von Kontingenz und Notwendigkeit. Diese Argumente oder Aspekte eines Arguments entsprechen Thomas’ erstem, zweitem und drittem Weg. In unserem Zitat am Anfang ist hauptsächlich der dritte Weg behandelt, dieser lässt sich jedoch am besten im Kontext der ersten beiden Wege verstehen. Die Bewegung, auf die sich das Argument vom unbewegten Beweger bezieht, ist die Orts- oder Zustandsänderung. Physiker der Antike und des Mittelalters vertraten die Auffassung, dass das Universum eine Abfolge von Entitäten darstellt, welche die Verwirklichung ihrer Potenziale erfahren oder erfahren haben. Eis ist potenziell Wasser, doch dieses Potenzial muss durch etwas verwirklicht werden, das bereits Wärme hat, wie etwa Feuer. Alles, was im Universum bewegt und also verändert wird, muss 26

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durch etwas anderes bewegt werden, das bereits in Wirklichkeit das ist, was das zu bewegende Ding lediglich seiner Möglichkeit nach, also potenziell, ist. Heißt das nun, dass alles, was Veränderung bewirkt, selbst wiederum auf Veränderung zurückgehen muss, und das bis ins Unendliche, in einem sogenannten infiniten Regress? Thomas argumentiert, dass ein solches Zurückgehen der Veränderungen bis ins Unendliche eine Unmöglichkeit darstellt, da dieser Prozess die Veränderung als solche nicht hervorzurufen vermag. Wenn man sagt, dass Veränderung ad infinitum auf vorheriger Veränderung beruht, bleibt ungeklärt, warum es überhaupt Veränderung gibt. Darum muss es Thomas zufolge eine erste und oberste Quelle der Veränderung geben, einen Urgrund des Wandels, der keiner Veränderung unterliegt, einen unveränderlichen, unbewegten Urbeweger – mit einem Wort: Gott. Das Argument vom unbewegten Beweger ist aber kein verkapptes Argument der ersten Ursache. Es besagt nicht, es habe in der Vergangenheit eine unbewegte, nicht angestoßene Bewegung gegeben, mit der das Universum seinen Anfang nahm, sondern vielmehr, dass Veränderung stets auf einen unbewegten Beweger angewiesen ist, der das Universum fortwährend bewegt, ohne selbst bewegt zu werden. Das Argument vom unverursachten Verursacher oder von der ersten Ursache ist der bekannteste Aspekt des kosmologischen Arguments. Das Universum ist geprägt von Ursache-WirkungsKetten: Das Auto kam ins Rutschen, weil die Straße nass war. Die Straße war nass, weil es geregnet hat. Geregnet hat es, weil … Jedes Geschehen hat eine Ursache, und häufig besteht die Erklärung einer Sache in der Angabe ihrer Ursache. In der Regel verfolgen wir die Ursache-Wirkungs-Ketten nur bis zu dem Punkt zurück, an dem wir ein Problem diagnostizieren oder Zusammenhänge erkennen und entsprechende Zuschreibungen vornehmen können. Ursache-Wirkungs-Ketten lassen sich jedoch noch viel weiter zurückverfolgen. Jede Wirkung geht auf eine Ursache zurück und jede Ursache hat selbst eine Ursache, und eine Sache kann unmöglich die Ursache ihrer selbst sein und sich selbst her27

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vorbringen, weil sie sich dafür selbst vorausgehen müsste, was unmöglich ist. Doch können die das Universum kennzeichnenden Verkettungen von Ursache und Wirkung unendlich weit zurückreichen? Genauso, wie eine unendlich weit zurückreichende Reihe von Veränderungen die Veränderung als solche nicht erklären kann, so kann auch ein unendliches Zurückgehen, bei dem hinter jeder Ursache immer noch eine andere Ursache wirkt, die Verursachung an sich nicht erklären. Demnach muss es eine erste Ursache gegeben haben, die das Universum hervorgebracht hat und selbst nicht mehr auf eine andere Ursache zurückgeht, also eine unverursachte Ursache – mit einem Wort: Gott. Kommen wir zu Thomas’ drittem Weg, dem Argument von Kontingenz und Notwendigkeit, über das unser Eingangszitat alles Wesentliche enthält. Der Ausdruck »kontingent« bedeutet »nicht notwendig«. Es trifft allem Anschein nach auf alles im Universum zu, dass es nicht da sein muss und dass es einmal nicht da war. Thomas fragt, wie es ein kontingentes Universum geben könne. Wenn es alles nicht geben muss und alles einmal nicht da war, dann war einmal nichts. Doch nichts kann unmöglich etwas hervorbringen. So sagt es auch Parmenides: »Von nichts kommt nichts« (siehe Zitat 29). Demnach muss es etwas geben, das nicht kontingent ist, etwas Notwendiges, welches das Universum kontingenter Dinge hervorgebracht hat. Es muss etwas geben, das es geben muss, damit es Dinge geben kann, die es nicht geben muss. Es kann unmöglich alles kontingent sein. Das notwendige Sein aber nennt man Gott. In der modernen Philosophie gilt das kosmologische Argument als überholt. Die meisten ihrer Vertreter betrachten es als eine unbrauchbare Mischung aus verrufener Physik und unseriöser Metaphysik. Die Metaphysik verwendet dabei Begriffe, die rechtmäßig der empirischen Erfahrung zugehören, und versucht so unerlaubterweise, die Grenzen der empirischen Erfahrung und der Vernunft zu überschreiten, um auf das zu kommen, was jenseits des Physischen liegt. Diese Probleme des kosmologischen Arguments nehmen ihm zweifellos viel von seiner Plausibilität. 28

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Sie reduzieren es auf eine Reihe fragwürdiger Hypothesen über den Ursprung des materiellen Universums, die längst nicht der Beweis für die Existenz Gottes sind, den manche Philosophen darin erkannt haben wollen. Erstens mag es zwar ein notwendig Seiendes geben, das heißt aber nicht, dass es sich dabei um einen moralischen, personalen Gott handelt.Vielleicht sind es schlichtweg ewige mathematische Prinzipien, oder es ist reine Energie. Das kosmologische Argument selbst impliziert an keiner Stelle, dass es sich bei dem Notwendigen, Unverursachten und Unbewegten um ein empfindungsfähiges Wesen handeln muss. Zweitens weist die moderne Physik die aristotelische Vorstellung von Potenzialität und Aktualität, die für das Argument vom ersten Beweger von zentraler Bedeutung ist, als unzutreffend zurück. Es ist nicht so, dass etwas Wirkliches nur durch etwas hervorgebracht werden kann, das dieses Wirkliche bereits ist, denn sonst würden zwei kalte Gegenstände, die man aneinander reibt, keine Wärme produzieren. Drittens ist das Universum vielleicht gar nicht kontingent, wie es das Argument von Kontingenz und Notwendigkeit besagt. Nur weil die augenfälligeren Objekte kontingent sind – Papier, Pflanzen oder Planeten –, gilt das nicht automatisch auch für ihre Grundbausteine. Materie und Energie sind vielleicht notwendig und ewig, und das Universum ist möglicherweise eine unverursachte rohe Tatsache. Dieses unser Universum begann mit dem Urknall, und manche Physiker sind der Ansicht, dass »vor« dem Urknall nichts war. Andere halten es für möglich, dass eine Art vollkommener Gleichgewichtszustand existierte oder ein Vorgängeruniversum, das in einem Big Crunch kollabierte. So oder so ist in diesen Berechnungen kein Platz für ein empfindungsfähiges metaphysisches Wesen. Viertens könnte es statt eines einzigen Anstoßes mehrere, voneinander unabhängige unverursachte Ursachen geben. Dieser Argumentation nach ist ein höchstes Wesen, also Gott, unmöglich, da zu einem höchsten Wesen zwingend gehört, dass es die erste unter allen anderen Ursachen ist. 29

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Fünftens könnte es sein, dass Gott das Universum zwar hervorgebracht hat, aber in dem Moment, in dem er es schuf, zu existieren aufhörte. Ein solcher Gott hätte den Namen »Gott« nicht verdient, weil ein vergänglicher Gott nichts ist, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann (siehe Zitat 2). Diese Argumente bringen das kosmologische Argument ins Wanken; sein eigentliches Problem ist jedoch sein Vertrauen auf die Metaphysik. Gegen die Metaphysik lässt sich einwenden, dass sie Begriffe wie zum Beispiel »Verursachung« übernimmt, die zur sinnlichen Welterfahrung gehören und ausschließlich in diesem Kontext Sinn haben, und sie – freilich vergeblich – dazu zu benutzen versucht, unsere Erkenntnis über die Sinnenwelt hinaus auszudehnen. Immanuel Kant etwa erkennt in der Rede von einem als Ganzes verursachten Universum einen Missbrauch des Begriffs der Verursachung, indem er außerhalb seines passenden empirischen Kontextes verwendet wird. Das kosmologische Argument ist deshalb nicht falsch, aber es ist nichtssagend und unsinnig. Wenn Sie an weiterer Kritik an der Metaphysik interessiert sind, verweise ich Sie auf David Hume (Zitat 15).

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Aristoteles Eine Schwalbe macht noch keinen Frühling und auch nicht ein Tag. So macht auch ein Tag oder eine kurze Zeitspanne den Menschen nicht glücklich und selig. (Aristoteles Nikomachische Ethik, Erstes Buch, 1098a, S. 18. Verfasst um 340 v. Chr.)

Aristoteles (384–322 v. Chr.) war der Meisterschüler Platons und sicherlich ein Schüler, der seinem Meister geistig das Wasser reichen konnte. Außerdem war er der einzige Philosoph, der einen ebenso großen Einfluss auf die Ideengeschichte hatte wie sein Lehrer. Zeitweilig galt Aristoteles als der Größere von beiden. Seine Ideen beherrschten die Philosophie im Mittelalter, und die 30

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westliche Philosophie bestand lange Zeit aus fast nichts anderem als der Anwendung aristotelischer Prinzipien auf die christliche Theologie. Das Zitat von Thomas von Aquin ist ein Beleg dafür (siehe Zitat 3). Aristoteles war philosophisch äußerst vielseitig interessiert, und seine Neigung zur irdischen Welt war sicher größer als die seines Mentors. Er systematisierte die logischen Grundprinzipien und verwendete sie für das Studium der Metaphysik, der Physik, Astronomie, Meteorologie und Biologie, des Schlafs und der Träume, des Dramas, der Politik und der Ethik. Bis zum Aufkommen der modernen Wissenschaft galt Aristoteles in den meisten Fragen, die den Menschen und seine Erforschung betrafen, als der Experte schlechthin. Auch wenn sich speziell seine wissenschaftlichen Vorstellungen nicht halten konnten, ist er doch nach wie vor eine Autorität der Weisheit, die man zu vielen Themen weiterhin zurate ziehen kann, zumindest für den Einstieg. Aristoteles hat sich in seinen Schriften ausführlich mit der Ethik befasst; sein bekanntestes einschlägiges Werk ist die Nikomachische Ethik, benannt nach seinem Sohn Nikomachos, der sie herausgab. Alle großen Philosophen scheinen letztlich auf der Suche nach einer Ethik zu sein. Sie wollen verstehen, was es auf Erden gibt und woher wir wissen können, was es gibt, um entscheiden zu können, wie wir angesichts unseres Wissens über das Seiende leben sollen. Aristoteles bildet da keine Ausnahme. Sein Interesse gilt der Frage, wie Menschen leben und sich in allen Bereichen ihres Lebens verhalten sollen, um ihr Potenzial als Menschen voll auszuschöpfen, sich gut zu entwickeln und wirklich glücklich zu werden. In unserem Eingangszitat weist Aristoteles auf den wichtigen Punkt hin, dass Glück keine flüchtige Empfindung ist. Sowenig ich aufgrund der Beobachtung einer einzigen Schwalbe am Himmel behaupten kann, der Sommer sei gekommen, sowenig kann ich behaupten, glücklich zu sein, nur weil ich in einem Moment Freude oder Vergnügen empfinde. Übrigens wusste ich bis vor Kurzem nicht, dass das Sprichwort »Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer« auf Aristoteles 31

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zurückgeht. Meine Mutter sagte das immer zu mir, als ich noch ein Kind war, um mich zu warnen, nicht immer gleich zu verallgemeinern und keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Meine Mutter brachte mir aristotelische Logik bei, indem sie mich vor schlechter Induktion warnte (also davor, auf der Grundlage zu weniger Einzelbeispiele eine allgemeine Behauptung aufzustellen), ohne dass es einer von uns beiden bemerkte. Genau wie Platon vor ihm, lag auch Aristoteles viel daran, zu betonen, dass wahres Glück und echte Erfüllung etwas anderes sind als Vergnügen. Ein glücklicher Mensch hat an vielem Vergnügen, sein Glück aber ist nicht gleichbedeutend mit dem Vergnügen, das er empfindet. Die ständige Jagd nach Vergnügen führt zu Unzufriedenheit, denn schließlich bekommt man nicht immer, was man haben will; außerdem wird man immer mehr davon brauchen, um eine vorübergehende Befriedigung zu erreichen. Nicht zuletzt hat ausschweifendes Vergnügen oder übermäßiger Genuss Leid zur Folge: einen Sonnenbrand, einen Kater, Fettleibigkeit usw. Glück hat für Aristoteles nicht nur etwas mit den eigenen Gefühlen zu tun oder mit den Anschaffungen, die man sich leistet, Glück ist für ihn eine umfassende Seinsweise, eine ganze Art zu leben. Platon ist so etwas wie ein Asket. Seiner Auffassung nach findet man wahres Glück nur in einem Leben philosophischer beziehungsweise spiritueller Kontemplation, frei von Zugeständnissen an den körperlichen Genuss, so dass man den Achterbahnfahrten des Gefühls, dem ständigen Wechsel zwischen Freud und Leid, nicht länger ausgeliefert ist. Aristoteles erkennt den Wert der philosophischen oder spirituellen Kontemplation an und sieht in ihr einen Grundzug im Leben von Menschen, die eine im echten und eigentlichen Sinne gute Entwicklung nehmen. Dennoch soll man sein Leben voll ausleben, wenn auch freilich immer mit Blick auf eine in sich stimmige, ausgeglichene Existenz, in der man sich nicht eines Bereiches seines Lebens beraubt, weil man es in einem anderen übertreibt. In der Welt des Aristoteles kann ein Mensch leicht allzu fromm sein. In Platons Welt hingegen kann ein Mensch gar nicht fromm genug sein. 32

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Aristoteles war Teleologe. Seiner Auffassung nach hat jedes Ding in der Natur sein eigenes telos, den wahren und eigentlichen Endzweck, auf den es gerichtet ist. Das telos einer Eichel beispielsweise ist es, eine gesunde Eiche zu werden, die aus eigener Kraft wiederum gesunde Eicheln hervorbringt. Damit etwas sein telos erreichen kann, muss es sich gut entwickeln und gedeihen. In seiner Ethik oder Tugendlehre sucht Aristoteles die persönlichen Tugenden zu bestimmen, die ein gutes menschliches Gedeihen möglich machen, die es dem Einzelnen ermöglichen, ein Leben in Fülle zu gestalten, das die Mühen lohnt, Erfolg verspricht und befriedigt, die Tugenden mithin, die einen anhaltenden Zustand tiefen Glücks und tiefer Zufriedenheit herbeiführen, den die alten Griechen eudaimonia nannten. Diese zu einer guten Entwicklung nötigen Tugenden decken sich mit dem, was Aristoteles »die goldene Mitte« nennt. Um in seiner Einstellung dem eigenen Leben und anderen Menschen gegenüber die goldene Mitte zu erreichen, muss man eine Balance finden, einen gesunden Mittelweg zwischen diversen menschlichen Schwächen und dem Übermaß. Führt man sein Leben zu nachlässig oder zu verkrampft, dann verliert es seinen Einklang, ganz genau so wie eine Gitarre den rechten Klang verliert, wenn ihre Saiten nicht fest genug oder zu fest gespannt sind. Die Tugend der Großzügigkeit beispielsweise liegt zwischen der menschlichen Schwäche des Geizes und dem Übermaß der Verschwendung. Ein geiziger Mensch erfährt Ablehnung, hat wenig Unterstützung zu erwarten und wird seinen Alltag kaum angemessen bestreiten können. Eine verschwenderische Person wiederum, die ihr Geld mit offenen Händen ausgibt, wird ausgenutzt werden und ihre finanziellen Mittel so weit erschöpfen, dass sie sich selbst und den von ihr abhängigen Menschen nicht mehr helfen kann. Einer Person hingegen, die die goldene Mitte der Großzügigkeit trifft, wird echte Neigung und Achtung entgegengebracht werden, sie kann sich über die Gesellschaft angenehmer Menschen freuen und wird über ausreichende Reserven verfügen, um zu verhindern, dass sie selbst und die von ihr Abhängigen für andere zur Last werden. Einer solchen Person wird 33

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man sicher keine Unterstützung verwehren, weil sie sich das Recht erworben hat, um einen Gefallen zu bitten. Wichtig ist Aristoteles’ Erkenntnis, dass Großzügigkeit oder jede andere Tugend eine Frage der besonderen Umstände ist, in der sich die betreffende Person befindet. Was ein reicher Mensch unter Großzügigkeit versteht, wird ein armer zum Beispiel als Verschwendung ansehen. Die alten Griechen haben am Tempel des Apollon in Delphi die Inschriften »Erkenne dich selbst« und »Nichts im Übermaß« angebracht. In ihrer Kultur war es eine allgemein anerkannte Norm, dass jeder Mensch anhand seiner eigenen Welt- und Selbstkenntnis versuchen soll, herauszufinden, worin seine gesunde Mitte besteht. Manche Menschen vertragen mehr Alkohol als andere, manche Menschen haben in angespannten oder gefährlichen Situationen stärkere Nerven als andere, manche Menschen verfügen von Natur aus über eine gesunde Grundkonstitution, andere indes nicht.Wir halten alle ein anderes Blatt in den Händen – ob durch Zufall oder durch die Götter –, doch es kommt allein darauf an, wie wir es ausspielen, und nur, wenn wir gut spielen, sichern wir uns das Glück. Aristoteles’ Morallehre ist kein Regelwerk, das dogmatisch sagt: »Tu dies« oder »tu das«. Sie ist ein allgemeiner philosophischer und praktischer Lebensratgeber, der jedermann dazu auffordert, die eigene einmalige Person und Situation einer ehrlichen und intelligenten Bewertung zu unterziehen. Nur so können wir im Einzelnen entscheiden, wie wir leben müssen, um die Segnungen des wahren Glücks zu erlangen.

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Ayer Verallgemeinere ich nun meine obige Äußerung und sage »Geld zu stehlen ist nicht richtig«, dann bringe ich einen Satz hervor, der keine faktische Bedeutung hat, das heißt, der nichts aussagt, das entweder wahr oder falsch sein kann. (A. J. Ayer Sprache, Wahrheit und Logik, S. 141. Erstveröffentlichung des engl. Originals 1936)

Sir Alfred Jules »Freddie« Ayer (1910–89), besser bekannt als A. J. Ayer, hat mit dafür gesorgt, dass die bei den englischen Philosophen des 20. Jahrhunderts so beliebten Doppel- oder gar Tripel-Initialen populär wurden. War er doch einer der großen philosophischen Namen jenes Jahrhunderts. Ausgebildet in Eton und Oxford, stellte Ayer sich in die analytische Tradition von Bertrand Russell und G. E. Moore (1873–1958) und war wie alle vernünftigen Philosophen ein Anhänger Humes. Ayers philosophische Schriften sind von einer Klarheit und Präzision, die in der englischen Literatur ihresgleichen suchen; sein bekanntestes Werk ist Sprache, Wahrheit und Logik, durch das er die englischsprachige Welt mit dem logischen Positivismus bekanntmachte. Der logische Positivismus ist das geistige Kind einer Gruppe von Philosophen, die in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen regelmäßig in Wien zusammenkam. Die logischen Positivisten, die diesem heute berühmten Wiener Kreis angehörten, waren ebenfalls Anhänger David Humes. Sie hatten sich die Weiterentwicklung seiner Ideen auf die Fahnen geschrieben mit der Absicht, in der Philosophie aufzuräumen und sie für die Methoden und Prinzipien der modernen Wissenschaft anschlussfähig zu machen. Während eines Wien-Aufenthalts nach seiner Promotion führte sich Ayer 1932 selbst in den Kreis ein. Dort erkannte man seine Brillanz und sicher auch, dass dieser frühreife junge Mann von erst Anfang zwanzig über brillante gesellschaftliche Verbindungen verfügte. Und so nahm man ihn auf. Da er bereits eine 35

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entsprechende geistige Vorprägung mitbrachte, brauchte es nicht viel, um ihn für den logischen Positivismus zu gewinnen, und nur ein paar Jahre später verfasste er als Fünfundzwanzigjähriger Sprache, Wahrheit und Logik. Humes Empirismus umfasst in seinem Kern ein Prinzip, für das die Bezeichnung Humes Gabel [Hume’s fork] gebräuchlich wurde und das auch in Zitat 15 umrissen ist. Hume zufolge ist eine Äußerung oder Aussage bedeutungsloser Unsinn, wenn es keine Möglichkeit gibt nachzuweisen, dass sie zutrifft, also wahr ist, oder nicht zutrifft und also falsch ist – und es gibt bloß zwei Möglichkeiten, wie sich das Wahr- oder Falschsein einer Aussage nachweisen oder verifizieren lässt. Logik ist die eine, empirische Evidenz die andere. Humes Gabel ist eine ausgesprochen zweizinkige Angelegenheit. Eine Aussage wie »Ein Vater ist ein männliches Elternteil« ist logisch wahr. Denn das Wort »Vater« bedeutet »männliches Elternteil«. Hume bezeichnete solche Aussagen als Aussagen über Beziehungen von Begriffen, heute heißen sie analytische Sätze. Eine Aussage wie »Der Himmel ist blau« ist auf der Grundlage der Evidenz der Sinne wahr oder nicht wahr. Hume bezeichnete solche Aussagen als Aussagen über Tatsachen, heute nennt man sie synthetische Sätze. Nach Hume lassen sich metaphysische Aussagen über ein höchstes Wesen oder über den Sinnen für immer verschlossene Welten und dergleichen weder logisch noch durch Beobachtung verifizieren, und daher sind sie unter keinen Umständen wahr oder falsch, sondern haben schlichtweg keinen Sinn. Die beiden scharfen Zinken der humeschen Gabel bestechen die logischen Positivisten am meisten. Kernbestandteil ihrer Philosophie ist das Verifikationsprinzip. Worum es sich dabei handelt, geht aus den obigen Erläuterungen bereits mehr oder weniger hervor. Kurz gefasst lautet das Prinzip: »Alle Aussagen sind wahr, falsch oder unsinnig.« Eine längere Fassung könnte so lauten: »Aussagen, die sich nicht durch reine Logik als Tautologien oder Kontradiktionen verifizieren lassen oder nicht durch empirische Evidenz als wahr oder falsch verifiziert werden können, sind unverifizierbar und damit unsinnig.« 36

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Logische Positivisten erkennen an, dass es eine Menge synthetischer Sätze gibt, deren Wahr- oder Falschsein – deren Wahrheitswert – noch nicht bestimmt worden ist. Zum Beispiel, »Auf dem Mars gab es einmal Leben«. Sie lassen solche Aussagen als sinnvolle gelten, sofern diese prinzipiell verifizierbar sind; das heißt, sofern es empirisch möglich ist, ihren Wahrheitswert zu bestimmen, auch wenn das noch niemand unternommen hat. Anhand des Verifikationsprinzips wollten die logischen Positivisten die Philosophie wieder auf Vordermann bringen, ja sie gedachten sogar, das ganze menschliche Denken mit ihm zu bereinigen. Logik und Mathematik sollten weiterhin die eine Seite oder Zinke bilden, die empirische Wissenschaft die andere. Das ganze übrige Denken, das weder reine Logik noch reine Wissenschaft war, wie Metaphysik, Ethik und Ästhetik, sei als Unsinn einzustufen und entsprechend zu verwerfen. Diese alten Diskursbereiche hätten keine große Zukunft mehr zu erwarten. Im besten Fall dürften sie mit der Dichtung auf eine Stufe gestellt oder als gesammelte Äußerungen, Imperative und Bekundungen behandelt werden, in denen Gefühle, Emotionen, Hoffnungen und Erwartungen zum Ausdruck kommen – aber nicht als sinnvolle Aussagen, die Tatsachen anführen und nachweisbar Falsches behaupten. Kommen wir zuletzt konkret auf unser Eingangszitat zu sprechen. Ayer redet hier sicher nicht der allgemeinen Selbstbedienung im örtlichen Supermarkt das Wort, sondern er trifft eine wichtige Feststellung über den epistemologischen Status von moralischen Aussagen wie »Geld zu stehlen ist nicht richtig.« Weil diese Aussage weder analytisch noch synthetisch ist, kann sie nur unsinnig sein, wie letztlich jede moralische Aussage bzw. der moralische Diskurs insgesamt nur unsinnig sein kann. Dieser von Ayer und anderen vertretenen Auffassung nach drücken Sätze der Moral keine Tatsachen aus und könnten dies auch gar nicht, und zwar aus dem einfachen Grund, dass es moralische Tatsachen nicht gibt. In der Moralphilosophie ist diese Sicht als moralischer Subjektivismus oder Nonkognitivismus bekannt. Diesem gegenüber geht der moralische Objektivismus oder Kognitivismus von der Existenz 37

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moralischer Tatsachen aus, deren Erkenntnis möglich ist (siehe Zitat 39, Warnock). Für die Vertreter des moralischen Subjektivismus, wie Ayer, sind moralische Behauptungen, die offenbar Anspruch auf eine tieferliegende moralische Wahrheit und prinzipielle moralische Geltung erheben, wie etwa »Wohltätigkeit ist gut« oder »Mord ist nicht richtig«, in Wirklichkeit lediglich Gefühlsäußerungen, emotional getönte Zustimmungs- oder Ablehnungsbekundungen. Bei Ayer heißt es im Anschluss an die zitierte Stelle weiter: »Das ist so, als ob ich ›Geld zu stehlen!!‹ geschrieben hätte – wobei die Ausrufezeichen, einer zweckmäßigen Konvention entsprechend, durch ihre Gestalt und Stärke anzeigen, dass hier eine konkret empfundene moralische Ablehnung ausgedrückt wird« (Sprache, Wahrheit und Logik, S. 142). Ein Zweig des moralischen Subjektivismus ist der Emotivismus. Emotivisten argumentieren beispielsweise, dass sich der Streit in der Abtreibungsfrage, bei aller realen Abneigung, die jede der beiden Seiten für die andere empfinde, nicht durch moralische Argumente lösen lasse: weil es hierbei keine moralischen Tatsachen gebe, die sich entdecken oder herausfinden ließen und auf deren Grundlage man jemals schließen könnte, dass eine Seite Unrecht hat und die andere Recht. Die Gegner der Abtreibung würden nun einmal so, ihre Befürworter eben anders empfinden. Emotivisten sehen in dem Satz »Abtreibung ist nicht richtig« lediglich eine artikuliertere Form des Buh-Rufens, während für sie der Satz »Abtreibung ist akzeptabel« nicht mehr als eine artikuliertere Form des Hurra-Rufens darstellt. Kein Wunder also, dass dem Emotivismus der alberne, aber doch ganz passende Spitzname »Buh-Hurra-Theorie der Ethik« verpasst wurde. Einige ziemlich beschränkte, reaktionäre Leute haben behauptet, es sei unmoralisch, so wie Ayer zu behaupten, dass die Moral jeder faktischen Grundlage entbehre. Denn damit würde den Menschen ein Freibrief ausgestellt, zu tun und zu lassen, was sie wollen. Es mag zwar durchaus sein, dass sich manche Menschen von der Behauptung, die Moral entbehre jeder faktischen Grundlage, zu einem Handeln frei von moralischen Rück38

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sichten ermutigt fühlen. Doch wenn man es Philosophen, für die die Moral jeder faktischen Grundlage entbehrt, zur moralischen Pflicht machen will zu behaupten, dass sie eine faktische Grundlage habe, dann ist das philosophisch gesehen zum Vergessen.

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Berkeley Denn die Rede von der absoluten Existenz nichtdenkender Dinge ohne alle Beziehung auf ihr Wahrgenommenwerden scheint schlechthin unverständlich. Ihr esse ist percipi, und es ist nicht möglich, daß ihnen irgendein Dasein außerhalb des Geistes oder der denkenden Wesen, die sie wahrnehmen, zukäme. (George Berkeley Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, Teil 1, § 3, S. 26. Erstveröffentlichung des engl. Originals 1710)

Bischof George Berkeley (1685–1753) ist Irlands größter Philosoph. Geboren in Dysart Castle im County Kilkenny, verbrachte er viele Jahre am Trinity College von Dublin, erst als Student, dann auch als Lehrer, und promovierte schließlich zum Doktor der Theologie. 1721 empfing er die Priesterweihe und 1734 wurde er Bischof von Cloyne. Seine wichtigsten philosophischen Schriften verfasste er in seinen Zwanzigern, allen voran seine Prinzipien der menschlichen Erkenntnis. Dasjenige Werk allerdings, das sich zu seinen Lebzeiten am besten verkaufte und das er weniger als zehn Jahre vor seinem Tod schrieb, war die großartig betitelte Abhandlung Siris: A Chain of Philosophical Reflexions and Inquiries Concerning the Virtues of Tar Water, And Divers Other Subjects Connected Together and Arising One from Another [Siris: Eine Reihe philosophischer Überlegungen und Untersuchungen zu den heilsamen Wirkungen des Teerwassers und verschiedenen anderen Themen, die miteinander zusammenhängen und auseinander hervorgehen]. Die kalifornische Stadt Berkeley und deren Universität sind nach ihm benannt. 39

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Berkeleys Philosophie, sein Immaterialismus oder Idealismus, wird oft in der berühmten lateinischen Wendung esse est percipi zusammengefasst (Sein ist Wahrgenommenwerden). Unser Eingangszitat verrät, dass Berkeley eigentlich »ihr esse ist percipi« schreibt und sich dabei auf »nichtdenkende Dinge« oder Gegenstände bezieht. Obwohl »ist« im Lateinischen est heißt, erlaubt es der Kontext dieser Wendung nicht, dass man sie einfach durch »Sein ist Wahrgenommenwerden« wiedergibt, auch wenn damit die von Berkeley intendierte allgemeine Bedeutung dieser Passage insgesamt erfasst wird. Zwar könnte man »Das Sein der Dinge ist Wahrgenommenwerden« als eine genauere Umschreibung des Kernsatzes gelten lassen, es ist aber trotzdem nur eine Umschreibung und keine wörtliche Wiedergabe. Berkeley schrieb »ihr esse ist percipi«, und erst dadurch, dass man »ihr« weglässt, das Übrige vollständig ins Lateinische überträgt und es etwas aus dem Zusammenhang reißt, gelangt man – über die Übertragung zurück ins Deutsche – letztlich zu der einprägsamen Formel »Sein ist Wahrgenommenwerden«! Doch halten wir uns nicht länger mit diesen Spitzfindigkeiten auf. Wir wissen, was bei Berkeley tatsächlich geschrieben steht; kümmern wir uns darum, was er damit meinte. Berkeleys Idealismus ist ein Echo auf das Problem des Solipsismus, dessen Name sich von den lateinischen Worten solus (»allein«) und ipse (»selbst«) herleitet. Der Solipsismus ist die philosophische Theorie, wonach außer dem eigenen Geist nichts sonst existiert, wonach die sogenannte Außenwelt, einschließlich des eigenen Körpers, eine bloße Täuschung ist (siehe auch Zitat 34, Russell). Nach Ansicht mancher Philosophen ist der Solipsismus grundsätzlich unwiderlegbar, weil sich nicht beweisen lässt, dass es eine Außenwelt gibt. Andere Philosophen wiederum, Descartes beispielsweise, haben sich an einer Widerlegung des Solipsismus versucht. Unter Berufung auf eine Version des ontologischen Arguments (siehe Zitat 2, Anselm, und Zitat 17, Kant) zum »Beweis« der Existenz Gottes argumentiert Descartes, die Außenwelt könne unmöglich nicht existieren, da Gott als vollkommenes Wesen uns 40

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nicht täuschen und glauben machen würde, dass es sie gäbe, wenn es sie nicht gibt. Descartes macht Gott zum Garanten der Außenwelt und lässt ihn ihre Existenz verbürgen. Dabei verkennt er, dass das ontologische Argument den Beweis von Gottes Existenz gar nicht erbringt, und infolgedessen ist Descartes zum Ausharren auf der Klippe des Solipsismus gezwungen (siehe auch Zitat 9). Zwischen Berkeleys Geburt und Descartes’ Tod liegen nur 35 Jahre, und sein Idealismus ist in mancherlei Hinsicht ein Versuch, die Probleme zu überwinden, die dem cartesischen Dualismus und seiner radikalen Trennung von Geist und Körper notwendig innewohnen (siehe Zitat 9). Descartes behauptet beharrlich, dass die Vorstellungen von der Welt, die Wahrnehmungen von der Welt, auch von der Welt herrühren – doch er hat keinen Beweis dafür. Er kann nicht beweisen, dass es eine Welt außerhalb des Geistes gibt. Statt sich nun an dem Beweis zu versuchen, der Descartes misslingt, lässt Berkeley einfach gelten, dass es keine materielle Außenwelt gibt, und denkt von da aus weiter. Nämlich wie folgt: Wenn der Geist keine unmittelbare Kenntnis von materiellen Dingen hat, sondern nur Vorstellungen oder Wahrnehmungen materieller Dinge, dann gibt es auch keinen Grund, ihre Existenz zu behaupten. Dann muss es sich bei den sogenannten materiellen Dingen, den nichtdenkenden Dingen, in Wahrheit jeweils um eine Reihe von Vorstellungen handeln. Diese Vorstellungen haben keine vom Geist unabhängige Existenz. Es gibt sie nur insofern, als sie von einem Geist wahrgenommen werden, und sie haben kein »Dasein außerhalb des Geistes oder der denkenden Wesen, die sie wahrnehmen«. Diese Auffassung steckt in dem Leitsatz esse est percipi (»Sein ist Wahrgenommenwerden«). Seinem Freund und Biografen James Boswell (1740–95) zufolge hat Samuel Johnson (1709–84) auf die Frage, was er von Berkeleys Idealismus halte, wuchtig gegen einen Stein getreten, sich dabei wie gewollt den Fuß wehgetan und gesagt: »So widerlege ich das« (Dr. Samuel Johnson. Leben und Meinungen, S. 173). Berkeley würde Johnsons Widerlegung natürlich zurückweisen und erwidern, dass dessen Fuß, die Schmerzen, die er darin hat41

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te, und der Stein allesamt bloß Vorstellungen in dessen Geist seien. Nun fragen Sie sich vielleicht, wodurch Berkeleys Theorie sich vom Solipsismus unterscheiden lässt. Hier nun ist die Gottesvorstellung entscheidend, durch die Berkeley seine Theorie davor zu bewahren suchte, mit dem Solipsismus in einen Topf geworfen zu werden. Gegenstände, als eine Reihe von Vorstellungen, hören seiner Argumentation nach nicht zu existieren auf, wenn sie von mir gerade nicht wahrgenommen werden, weil sie allezeit von einem allwissenden, allgegenwärtigen Gott wahrgenommen werden. Gott denke all jene diversen Vorstellungen, die ich als Dinge bezeichne, ununterbrochen und verhindere so, dass sie bloß subjektiv sind und dass sie ihre Existenz einbüßen, wenn ich sie gerade nicht wahrnehme. Gott mache jene Vorstellungen, die ich als Dinge bezeichne, objektiv. Er denke sie alle immerzu und verschaffe ihnen auf diese Weise die Unabhängigkeit von meinem Geist. Es gibt einen Limerick des englischen Theologen Ronald Knox (1888–1957), der die Philosophie Berkeleys treffend zusammenfasst. Darin sagt ein junger Mann, Gott müsste es doch merkwürdig vorkommen, wenn ein Baum weiterexistiere, obwohl kein Mensch in der Gegend sei. Daraufhin meldet sich Gott zu Wort und erwidert ihm, dass der Baum aus dem Grund weiterexistiere, »weil er immer im Blick behalten wird von Ihrem Sie hochachtungsvoll grüßenden GOTT«. Bei Berkeley selbst heißt es: [Dass] alle Körper, die das gewaltige Himmelsgewölbe bilden, nicht außerhalb eines Geistes bestehen können, daß ihr Sein ihr Wahrgenommen- oder Erkanntwerden ist, daß sie mithin, solange sie von mir nicht wahrgenommen werden oder nicht in meinem Geist oder dem eines anderen geistigen Geschöpfs existieren, entweder überhaupt nicht sind oder im Geist eines ewigen Wesens bestehen müssen. (Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, S. 28)

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Gott ist für Berkeleys Philosophie ebenso zentral wie für diejenige Descartes’. Ohne den Gottesgedanken müsste Berkeley mit seiner Philosophie ebenso auf der Klippe des Solipsismus ausharren wie Descartes mit der seinen. Tatsächlich entspricht Berkeleys Denken dem von Descartes insofern, als beide den im Wesentlichen gleichen Begriff des Geistes vertreten. Sie unterscheiden sich nur in der Annahme, was unabhängig von ihm besteht. Etliche der Erläuterungen zu den Zitaten in diesem Buch – Zitat 2, Anselm; Zitat 3, Thomas von Aquin; Zitat 15, Hume; Zitat 17, Kant und Zitat 28, Paley – geben Auskunft darüber, weshalb die verschiedenen Beweise für die Existenz Gottes fehlschlagen. Wenn es aber keinen zuverlässigen Gottesbeweis gibt, darf stark angezweifelt werden, dass es Berkeley mit seiner Philosophie wirklich gelingt, jene einsame Klippe des Solipsismus zu umschiffen. Dessen ungeachtet beschenkte er die Philosophie mit einer stimulierenden und äußerst einflussreichen neuen Sicht auf die Wirklichkeit und die Beziehung, in der der Geist zu ihr steht.

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Camus Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Sich entscheiden, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden, oder nicht, heißt auf die Grundfrage der Philosophie zu antworten. (Albert Camus Der Mythos des Sisyphos, S. 15. Erstveröffentlichung des französ. Originals 1942)

Geboren und aufgewachsen in Algerien bei seiner Mutter – sein Vater war im Ersten Weltkrieg gefallen –, überwand Albert Camus (1913–60) die Hindernisse der Armut und erlangte einen Platz an der Universität von Algier. Anders als vielfach kolportiert, hütete er nie das Tor der algerischen Nationalmannschaft, doch er war Torwart seines Universitätsteams, bis ihn eine Tuberkulose zwang, mit dem Sport aufzuhören. Kurz vor Abschluss seines Phi43

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losophiestudiums 1936 schloss er sich der Kommunistischen Partei an und im Jahr darauf wurde sein erstes Buch veröffentlicht. Nachdem er sich in Algerien einen Namen gemacht hatte, ging Camus 1938 nach Paris, wo er zunächst für die antikolonialistische Zeitung Alger-Republicain arbeitete und später dann für Paris-Soir. Im Zweiten Weltkrieg gehörte Camus der französischen Widerstandbewegung an. Sein bekanntestes Werk, Der Fremde (alternativer Titel Der Außenseiter), erschien 1942. Ähnlich wie Sartres Roman Der Ekel von 1938, der Camus nachhaltig beeinflusste, erkundet Der Fremde die Sinnlosigkeit und Absurdität des menschlichen Daseins aus der Perspektive einer verzweifelten, entfremdeten und nihilistischen Hauptfigur. 1942 war auch das Jahr, in dem Der Mythos des Sisyphos erschien. In diesem philosophischen Essay vergleicht Camus die menschliche Existenz mit der Zwangslage des mythischen Königs Sisyphos, der durch göttliche Strafe für seine Gerissenheit auf ewig dazu verurteilt ist, einen riesenhaften Stein auf den Gipfel eines Berges zu wälzen, nur um ihn immer wieder hinabrollen zu sehen. Über die Jahre festigte Camus seinen Ruf als einer der großen französischen existenzialistischen Denker des 20. Jahrhunderts neben seinen Zeitgenossen Sartre und de Beauvoir. 1957 erhielt er den Literaturnobelpreis. Bis zu seinem plötzlichen Tod am 4. Januar 1960 schrieb er weiter Romane und setzte seine Arbeit als Journalist fort. Camus kam bei einem Autounfall in Villeblevin in Frankreich ums Leben. Sein enorm gutes Aussehen, sein fußballerisches Können, die Tatsache, dass er gewaltsam und frühzeitig aus dem Leben gerissen wurde, seine außerordentliche Begabung als Essayist und Romanautor, der sich mit dem Individualismus und dem Absurden befasste, all das hat zu dem modernen Camus-Kult beigetragen. Das Unternehmen »Philosophy Football« verkauft jedes Jahr über 5000 Camus-Trikots. Ob er nun der größte unter den Existenzialisten war oder nicht, der coolste war er allemal. Camus’ berühmte Bemerkung über den Selbstmord bildet den Auftakt seines Sisyphos. Ihn interessiert die Frage, warum manche Menschen Selbstmord begehen, während die meisten dies 44

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durchaus nicht tun. Ihn interessiert, was das Phänomen des Selbstmords über die menschliche Existenz und über die Beziehung sagt, in der wir Menschen zur Wirklichkeit stehen. Camus will an den Selbstmord anders herangehen, als es in der Regel geschieht. In der Regel wird er als ein soziales Phänomen aufgefasst. So hört man oft, jemand habe aufgrund eines schweren Verlusts Selbstmord begangen oder weil er oder sie verzweifelt gewesen sei, als ob Kummer und Leid Kräfte wären, die den Selbstmord einfach auslösen könnten. Camus sieht eine tiefer liegende menschliche Notwendigkeit darin, sich über den wahren Wert der Existenz Klarheit zu verschaffen. »Sich umbringen heißt, in einem gewissen Sinn und wie im Melodram, ein Geständnis ablegen. Es heißt gestehen, dass man mit dem Leben nicht fertig wird oder es nicht versteht« (Mythos …, S. 16 f.). Es ist das Geständnis, so Camus weiter, dass das Leben die Mühe »nicht lohnt«. Zwar sei das Leben, wie er einräumt, nie leicht, doch dass wir mit ihm weitermachen, geschehe in der Hauptsache aus Gewohnheit. Freiwillig aus dem Leben zu gehen setzt seiner Ansicht nach voraus, »dass man, und sei es nur instinktiv, das Lächerliche dieser Gewohnheit erkannt hat, das Fehlen jedes tieferen Grundes, zu leben, die Sinnlosigkeit dieser täglichen Betriebsamkeit, die Nutzlosigkeit des Leidens« (Mythos des …, S. 18 f.). Camus zufolge findet die Erkenntnis, dass das Leben des Menschen absurd ist, im Selbstmord ihre endgültige Bestätigung. Die Absurdität der menschlichen Existenz ist das zentrale Thema des Mythos des Sisyphos – zusammen mit der Frage, was man angesichts der grundsätzlichen Vergeblichkeit und grundlegenden Bedeutungslosigkeit des Lebens tun könne. Der Selbstmord ist nur eine Lösung für das Absurde. Es gibt noch zwei weitere. Einmal kann man versuchen, sich selbst davon zu überzeugen – auch wenn nichts dafür spricht oder sogar manches dagegen –, dass das Leben einen Sinn hat, der auch irgendwann in der Zukunft zutage treten wird. Sei es, wenn man in diesem Leben »zu sich selbst findet«, oder in dem Moment, da man in irgendein ewiges Leben nach dem Tod eintritt. Oder man 45

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erkennt an, dass das Leben eine ebenso absurde und letztlich vergebliche Anstrengung ist wie die des mythischen Sisyphos, entscheidet sich aber dennoch dafür, weiterzuleben und das Leben voll auszuschöpfen. Entscheidet sich ein Mensch dafür zu leben und die immer gegenwärtige Möglichkeit des Selbstmords zurückzuweisen, verleiht er einem Leben Sinn und Bedeutung, das an sich weder Sinn noch Bedeutung hat. Außerdem übernimmt er Verantwortung für sein Leben, dadurch dass er sich entschließt, es zu leben, statt ihm ein Ende zu machen. Camus’ scheinbar pessimistische Darstellung der unentrinnbaren existenziellen Wahrheit der conditio humana kommt zu einem optimistischen Schluss: Auch wenn der Lebenskampf keine Bestimmung hat und zum immer gleichen Resultat führt, kann der Mensch über den Kampf selbst und durch die Art, wie er das Spiel des Lebens spielt, dennoch Erfüllung finden. Das Ja zum Leben, das aus dem Nein zum Selbstmord folgt, ist das zentrale Element der camusschen Lehre vom wahrhaftigen Leben. Weil es nichts gibt, wodurch sich dem Leben von außen Bedeutung geben lässt, kann das Dasein eines Menschen nur die Bedeutung haben, die er selbst ihm zu geben sich entschließt. Wie Camus festhält, kennt auch Sisyphos eine regelmäßige Erholung von seinen nutzlosen Strapazen: dann nämlich, wenn der Stein in die Ebene hinabdonnert und er ihm dorthin folgt. Manchmal während dieses Verschnaufens, wenn er am freiesten ist, um nachzudenken, beschäftigt diesen »Proletarier der Götter« (Mythos des …, S. 143) das Elend seiner Lage. Mag der Abstieg, so sagt es Camus, »an manchem Tag von Schmerz, so kann er doch auch von Freude begleitet sein« (Mythos des …, S. 143). Sisyphos’ Freude kommt aus dem Wissen, dass »er seinem Schicksal überlegen ist«. Weil er ihn wieder und wieder bezwinge, sei er »stärker als sein Fels« (Mythos des …, S. 143). Sisyphos’ Leiden ist Leidensbewusstsein. Dieses Bewusstsein aber eröffnet ihm eine Perspektive auf sein Leiden, aus der heraus er es immer wieder verachten kann. »Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann« (Mythos des …, S. 143). 46

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Dies scheint Camus uns sagen zu wollen: dass wir, statt Selbstmord zu begehen oder zu wünschen, wir wären tot, oder so zu leben, als wären wir tot, der Absurdität des Lebens ins Gesicht lachen und Freude aus der Überwindung seiner Härten ziehen sollten. Genau wie Sisyphos entschlossen auf seinen Felsen zustrebt, um ihn aufs Neue den Berg emporzuwuchten, sollten wir uns tatkräftig bemühen, die Härten des Lebens zu überwinden.

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de Beauvoir Der Widerstand des Dings trägt das Handeln des Menschen wie die Luft den Flug der Taube. (Simone de Beauvoir, Pour une morale de l’ambiguïté, S. 151. Erstveröffentlichung 1947)

Wie die gebürtige Pariserin Simone de Beauvoir (1908–86) in ihrer umfangreichen und auf mehrere Werke verteilten Autobiografie berichtet, stammte sie aus einer kleinbürgerlichen Familie, die bis an ihre finanziellen Grenzen ging, um sie auf eine erstklassige katholische Schule schicken zu können. Als Kind war sie tief religiös und überlegte sogar, Nonne zu werden. In ihrer frühen Jugend machte sie jedoch eine Glaubenskrise durch, aus der sie als bekennende Atheistin hervorging. Brillant in ihren Leistungen, studierte sie sowohl an der Sorbonne als auch der École normale supérieure, wo sie 1929 ihren lebenslangen Freund und intellektuellen Sparringspartner JeanPaul Sartre kennenlernte. Beide sind sie, immer noch vereint, in einer gemeinsamen Ruhestätte auf dem Friedhof von Montparnasse in Paris begraben, wohin viele grundfreie, angstgetriebene Existenzialisten pilgern, nicht zuletzt deshalb, weil er auch das Grab des früheren Skandaldichters Charles Baudelaire (1821–67) und dasjenige des Avantgarde-Dramatikers und -Romanschriftstellers Samuel Beckett (1906–89) beherbergt. Genau wie Sartre war auch de Beauvoir mehrere Jahre als 47

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Lehrerin tätig und bekleidete verschiedene Stellen in der französischen Provinz. Währenddessen entwickelte sie Ideen und Themen, von denen mit der Zeit eine enorme und nachhaltige Wirkung auf die Philosophie des Existenzialismus im Speziellen und auf die Geistesgeschichte im Allgemeinen ausging. Sie machte sich zunächst einen Namen als Romanautorin, dann auch als Dramatikerin, Philosophin und Biografin. Ihre beiden wichtigsten philosophischen Werke sind Das andere Geschlecht (1949) und Pour une morale de l’ambiguïté (1947; Für eine Ethik der Uneindeutigkeit). Im Anderen Geschlecht, ihrem wohl bekanntesten Werk, untersucht sie die untergeordnete Rolle, die der Frau durch die Gesellschaft zugewiesen wird, aus zahlreichen Blickwinkeln – dem existenzialistischen, marxistischen, historischen, anthropologischen, biologischen, psychoanalytischen und literarischen. Der Mann, so de Beauvoir, wird als Subjekt bestimmt im Verhältnis zur Frau, die nur sein bloß Anderes abgeben soll. De Beauvoir verlangt, diese langandauernde Unterdrückung zu beenden, und fordert, dass die für die Emanzipation der Frau und die Wiederherstellung ihres Selbstseins notwendigen soziopolitischen Bedingungen geschaffen werden. Das andere Geschlecht war der Vorbote einer feministischen Revolution, die bis heute im Gang ist. In der Ethik der Uneindeutigkeit vertritt de Beauvoir mit Philosophen wie Hegel und Kierkegaard die Auffassung, dass das Selbst unbestimmt oder uneindeutig sei. Von diesem Ausgangspunkt aus macht sie sich an die Begründung einer existenzialistischen Ethik. Ethik ist ihr zufolge überhaupt nur deshalb möglich, weil das Selbst uneindeutig ist. Wenn der Mensch von Natur aus eindeutig definiert oder festgelegt wäre, wenn er etwas Vorgegebenes wäre, dann wäre unmöglich daran zu denken, dass er irgendetwas Bestimmtes sein müsse. Dann könnte von seinem freien Streben nach einem bestimmten Zustand, sei es ein moralischer oder sonst irgendein anderer, keine Rede sein. De Beauvoir teilt Sartres Ansicht, dass »der Mensch eine nutzlose Passion ist« (Das Sein und das Nichts, S. 1052), dass es ihm nicht gegeben ist, mit sich selbst als restlos zufriedenes und 48

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erfülltes Wesen übereinzustimmen. Dennoch aber bewertet sie diese »Nutzlosigkeit« positiv. Ein Mensch erreiche zwar nie die Übereinstimmung mit sich selbst, doch genau diese Unmöglichkeit sei es, die ihn als Mensch existieren lasse, die ihm eine echte Wahl ermögliche und wirkliche Freiheit gebe. De Beauvoir zufolge kann er das Sein, kann er die Welt entdecken und enthüllen, weil er kein Sein ist. Er kann sich selbst genau deshalb auf den Weg machen und herausfordern, weiterentwickeln und überwinden, weil er von Natur aus nicht festgelegt ist. Sein Wesen, so sagt sie oft, besteht darin, dass er keines hat. Ein Mensch ist vor allen Dingen aufgrund seiner Uneindeutigkeit imstande, authentisch zu leben und seine unveräußerliche Freiheit als letzten Wert zu bejahen, statt sie zurückzuweisen und zu bedauern. Unser Eingangszitat berührt speziell de Beauvoirs Sicht auf die menschliche Freiheit. Auch in dem Punkt weiß sie sich mit Sartre einig. Beide nämlich werden nicht müde zu betonen, dass ein Mensch seine Freiheit unter keinen Umständen aufgeben kann. Er kann sich unter keinen Umständen zu einem bloßen, von der materiellen Welt kausal bestimmten Objekt machen, weil schon der Versuch dazu eine freie Wahl darstellt. Ein Mensch kann sich unter keinen Umständen zu einem bloßen Objekt machen, weil er, wie auch immer er dies anzustellen versucht, eine Wahl treffen und sich entschließen muss, einen solchen Versuch zu unternehmen. Der Mensch könne unmöglich nicht wählen, weil auch das Nichtwählen eine Wahl sei, oder wie Sartre sagt: »Nicht wählen heißt ja wählen, nicht zu wählen« (Das Sein und das Nichts, S. 832, siehe Zitat 37, Sartre). Der Versuch, die eigene Freiheit aufzugeben, indem man sich so verhält, als habe man keine Wahl, ist im Übrigen ein Hauptmerkmal dessen, was Existenzphilosophen Unwahrhaftigkeit nennen (siehe Zitat 11, Heidegger und Zitat 19, Kierkegaard). Freiheit meint folglich nicht, von allen Zwängen vollständig enthoben und zu nichts gezwungen zu sein – nicht die Art von Freiheit, mit der ein Mensch sich selbst vormachen könnte, sie sei 49

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der eigentliche Preis, wenn er in einer Lotterie einen Millionengewinn machen würde. Freiheit meint vielmehr, sich ständig selbst wählen zu müssen durch die Handlungen, zu deren Ausführung man sich in der Auseinandersetzung mit den Widrigkeiten und Widerständen der eigenen Situation entschließt. Ohne eine Situation, ohne die konkreten Umstände, in denen ein Mensch ständig die Entscheidungen trifft, die ihn zu dem machen, der er ist, könnte er ebenso wenig frei sein, könnte er ebenso wenig existieren, wie de Beauvoirs Taube ohne die Luft fliegen könnte, die ihrem Flügelschlag einen Widerstand entgegensetzt. Existenzialistische Philosophen bezeichnen die unabdingbare Widrigkeit und Widerständigkeit der Dinge und Situationen mit dem Ausdruck Faktizität. Faktizität ist das, nach deren Überwindung die Freiheit strebt, wenngleich diese freilich stets auf jene angewiesen ist, um ihre Überwindung sein zu können. Sartre bezieht sich auf die Faktizität als den »Widrigkeitskoeffizienten der Dinge« (Das Sein und das Nichts, S. 833). Faktizität, das ist die umgebende Welt, dadurch dass sie den eigenen Handlungen und Vorhaben einen dauernden Widerstand entgegensetzt. Faktizität, das sind die Schwierigkeiten und Hürden, die Verwicklungen, Hindernisse und Entfernungen, das ist die Schwere und Unbeständigkeit, die Zerbrechlichkeit und Komplexität, der Luftwiderstand und so weiter. Diese ständigen Widrigkeiten und Widerstände unterschiedlicher Art aber machen Handlungen eigentlich erst möglich, weil nämlich Handlungen in allen Fällen Versuche zur Faktizitätsüberwindung sind. In meinen früheren Ausführungen zur Faktizität – etwa in dem Buch Wie werde ich Philosoph? – habe ich mir im Zusammenhang meiner ausdrücklichen Würdigung von de Beauvoirs ausgezeichneter Taubenanalogie erlaubt, sie wie folgt zu ergänzen: »Der Widerstand des Dings [Faktizität] trägt das Handeln des Menschen [Freiheit] wie die Luft den Flug der Taube« (Pour une morale de l’ambiguïté, S. 151). De Beauvoir geht so weit zu behaupten – sehr überzeugend, wie ich finde –, dass menschliches Bewusstsein ohne die nach Überwindung verlangende Faktizität ein Ding der Unmöglichkeit 50

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wäre. Wie ein anhaltender freier Flug oder die ständige Transzendenz auf die eigene Zukunft hin, sei das Bewusstsein auf etwas angewiesen, das es transzendieren könne. Was es fortwährend transzendiere, sei die Faktizität. Das Bewusstsein strebe fortwährend danach, dem Gefängnis der Faktizität zu entfliehen, ohne dass es dazu je in der Lage wäre. Das fortwährende Entfliehen vor der Faktizität sei Bewusstsein und umgekehrt.

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Descartes Ich denke, also bin ich. (Descartes Entwurf der Methode, S. 30. Erstveröffentlichung des franz. Originals 1637)

Zu der Zeit, als René Descartes (1596–1650) in der kleinen französischen Stadt La Haye en Touraine (die heute La Haye Descartes heißt) geboren wurde, stand es schlecht um die Philosophie. Diese war überwiegend längst nicht mehr von dem skeptischen Geist der alten Griechen und ihrem freien Forscherblick beseelt. Stattdessen dominierte ein Verfahren, bei dem Argumente zum Wesen und zur Existenz Gottes durch einen fast schon schablonenhaften Rückgriff auf die Autorität des Aristoteles untermauert wurden. Alles das änderte sich mit Descartes. Indem er die Skepsis und den methodischen Zweifel erneut ins Zentrum der Philosophie rückte, indem er sämtliche Annahmen zurückwies und wieder ganz von vorne anfing, hauchte er ihr neues Leben ein, gab ihr frischen Schwung und verdiente sich den Namen »Vater der modernen Philosophie«. Weil er ein kränkliches Kind war, durfte Descartes morgens aufstehen, wann er mochte, und so entwickelte er die von ihm zeitlebens beibehaltene Gewohnheit, zum Lesen und Schreiben bis um elf im Bett zu bleiben. Als er sich schließlich durch Königin Christina von Schweden (1626–89) gezwungen sah, mit dieser Gewohnheit zu brechen, weil die Monarchin sich von ihm Nach51

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hilfestunden in Philosophie geben ließ und den Unterricht auf fünf Uhr morgens ansetzte, war dies sein baldiger Tod. Trotz seiner von Natur aus schwachen Gesundheit verfügte Descartes über außerordentliche geistige Kräfte. Er war ein hervorragender Mathematiker, dessen Theorien nach wie vor im Schulunterricht behandelt werden, und er war der Autor von mindestens einem philosophischen Meisterwerk, das den Lauf der Geschichte veränderte. Seine Meditationen über die Erste Philosophie vervollständigte er zum Ende seines Lebens, als er, wie er sagt, genug Muße, Einsamkeit und Reife hatte, um die philosophischen Reflexionen eines ganzen Lebens zusammenzutragen und endgültig mit »viel Falschem« aufzuräumen (Meditationen, S. 19). Descartes unternimmt es mit seinen Meditationen, jeder Ansicht die Zustimmung zu verweigern, bei der er sich nicht völlig sicher ist, dass sie zutreffen muss. Auf diesem Wege hofft er auf etwas Unbestreitbares zu stoßen, etwas, das der strengsten Skepsis standzuhalten vermag. Sein systematisches Vorgehen ist als methodischer Zweifel bekannt geworden. Mit ihm betreibt Descartes eine Form wissenschaftlicher Skepsis, bei der er versucht, jede Überzeugung anzuzweifeln und zurückzuweisen, um dahinter eine zu entdecken, die nicht in Zweifel gezogen werden könne. Falls sich ein solches Juwel absoluter, unbezweifelbarer Gewissheit finden lasse, soll es als Grundstein dienen und das im Zuge des Zweifelsverfahrens abgetragene Erkenntnisgebäude auf dessen Basis wiedererrichtet werden. Wenn der Grundstein bzw. das Fundament als solide und wahr gelten darf, so der Gedanke Descartes’, wird das darauf zu errichtende Gebäude von Dauer sein und vertrauenswürdig, sofern der Bauherr die gebührende Sorgfalt walten lässt. Es überrascht daher nicht, dass Descartes, den man auch als Rationalisten und Skeptiker bezeichnet, vielfach als erkenntnistheoretischer Fundamentalist geführt wird und seine Philosophie als erkenntnistheoretischer Fundamentalismus. Descartes beginnt seinen methodischen Zweifel damit, die Verlässlichkeit der Sinne infrage zu stellen. »Ich habe entdeckt, 52

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daß die Sinne zuweilen täuschen«, sagt er und bezeichnet es als ein Gebot der Klugheit, »sich niemals blind auf jene zu verlassen, die uns auch nur einmal betrogen haben« (Meditationen, S. 20). Wir wissen alle aus eigener Erfahrung, dass man Dinge aus der Ferne oder im Dunkeln verwechseln und von optischen Täuschungen genarrt werden kann usw., und darum können wir Descartes ohne Weiteres zugeben, dass die Sinne trügerisch sind und wir uns somit nicht darauf verlassen können, dass sie uns zuverlässige Gewissheit liefern. Descartes räumt ein, dass manche Sinneseindrücke klarer und verlässlicher zu sein scheinen als andere. Ohne Frage kann ich mich bei guten Lichtverhältnissen, wenn ich hellwach und nüchtern bin, eher und besser auf meine Sinne verlassen als bei Nacht, wenn ich müde und betrunken bin. Bald allerdings entzieht er dieser Einschränkung das Fundament, indem er einwendet, dass alles nur ein Traum sein könnte. Egal, wie verlässlich oder unverlässlich seine Sinne sein mögen, vorstellbar sei, dass keine seiner Erfahrungen überhaupt aus Sinneswahrnehmungen resultiere. Möglicherweise sei alles eine Illusion, vielleicht träume er die Außenwelt bloß, die Existenz seines eigenen Körpers eingerechnet. Aber auch wenn alles ein Traum ist, setzt Descartes an dieser Stelle einschränkend hinzu, so stehen die grundlegenden Elemente des Traums doch in Einklang mit der elementaren Logik. Rot ist auch in einem Traum rot und 2 + 2 ergibt genauso immer 4. Nun könnte man vielleicht glauben, dass Descartes in seiner Eigenschaft als Mathematiker den elementaren und selbst in den Träumen bestehenden logischen Zusammenhang als die sichere Gewissheit anerkennt, nach der es sucht. Das tut er jedoch nicht. Stattdessen geht er einen entschieden skeptischen Schritt weiter und unterstellt einen »boshaften Genius, ebenso allmächtig wie verschlagen«, der ihn jedes Mal, wenn er sich über irgendeine Sache ein Urteil bildet, Mathematik und Logik nicht ausgenommen, mit aller »Hartnäckigkeit […] zu täuschen« versucht (Meditationen, S. 24). 53

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Descartes steckt jetzt tief im Zweifel. Er fragt: »Was wird demnach noch wahr sein? Vielleicht nur dieses eine, daß nichts sicher ist« (Meditationen, S. 27). Auf einmal aber, gerade als er bereit scheint, den philosophischen Verzweiflungstod zu sterben, zieht er den Hals aus der Schlinge oder vielmehr Gewissheit aus dem äußersten Zweifel. Um sein eigenes Dasein in Zweifel ziehen zu können, argumentiert er, muss er zumindest als denkendes Ding existieren. Je mehr er sich selbst bezweifelt, desto mehr bekräftigt er sein Dasein als ein denkendes Ding eben dadurch, dass er zweifelt. Warum? Weil zweifeln denken heißt. Descartes führt aus: Zweifelsohne bin ich selbst also, wenn er [der boshafte Genius] mich täuscht; und er möge mich täuschen, soviel er kann, niemals wird er bewirken, daß ich nichts bin, solange ich denken werde, daß ich etwas bin; so daß schließlich, nachdem ich es zur Genüge überlegt habe, festgestellt werden muß, daß dieser Grundsatz Ich bin, ich existiere sooft er von mir ausgesprochen oder durch den Geist begriffen wird, notwendig wahr ist. (Meditationen, S. 28)

Diese Argumentation ist in unserem Eingangszitat, der berühmtesten Devise der ganzen Philosophiegeschichte, auf den Punkt gebracht: »Ich denke, also bin ich« (Entwurf der Methode, S. 30). Berühmt ist selbst noch ihre lateinische Übersetzung, Cogito ergo sum. Interessanterweise findet sich dieser berühmteste unter den philosophischen Slogans nicht in Descartes’ berühmtestem und wichtigstem Werk, den Meditationen, sondern in dem weniger bekannten und untersuchten Entwurf über die Methode. Mit der Gewissheit, ein denkendes Ding zu sein, macht Descartes sich daran, das Erkenntnisgebäude wiederzuerrichten, das er im Zuge seines methodischen Zweifelns abgetragen hat, und nimmt diesen Grundstein dabei zum festen Ausgangspunkt. Er prüft seine Gedanken und stößt auf die Idee von einem unendlichen und vollkommenen Gott. Weil er als Mensch aber endlich und unvollkommen ist, überlegt er, kann er diese Idee unmöglich 54

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selbst hervorgebracht haben. Folglich müsse sie von Gott stammen, den es demnach geben muss. Indem Descartes die Idee von Gott übernimmt, um dessen Existenz zu unterstellen, macht er von einer Version des ontologischen Arguments Gebrauch (siehe Zitat 2, Anselm), für die im angelsächsischen Raum die Bezeichnung trademark argument üblich geworden ist. Der Name rührt daher, dass es sich bei Descartes’ Vorstellung von Gott dem Argument nach um die Trademark, also das Warenzeichen des Schöpfers, handelt. Descartes sucht nach einem Beweisweg, der vom Dasein Gottes zur Existenz der Außenwelt führt, und wird vermeintlich fündig. Seiner Argumentation zufolge würde Gott, das vollkommene Wesen, ihn niemals täuschen und an die Existenz der Außenwelt glauben lassen, wenn es sie nicht gäbe. Descartes macht Gott zum Garanten der Außenwelt. Dass sein Beweis der Außenwelt scheitert, liegt daran, dass das ontologische Argument zum Beweis Gottes scheitert. Seine Philosophie hängt auf der Klippe des Solipsismus fest, das heißt, sie bleibt auf der Auffassung sitzen, wonach der eigene Geist alles ist, was existiert (siehe Zitat 6, Berkeley und Zitat 34, Russell). Descartes wirft viel mehr Fragen auf, als er Antworten liefert, und die Philosophie des Geistes nach ihm war hauptsächlich ein Versuch, die fundamentalen Mängel zu überwinden, die seinem Dualismus durch die radikale Trennung von Geist und Körper, Geist und Welt anhaften (siehe Zitat 35, Ryle). Dessen ungeachtet ist es ihm durch die Rückbesinnung auf das Wesentliche, durch seine akademische Skepsis und die von ihm aufgeworfenen Fragen über das Wesen des Geistes und dessen Verhältnis zur Welt gelungen, die Philosophie auf einen neuen und fruchtbaren Weg zu führen, den sie sonst vielleicht nicht eingeschlagen hätte. Descartes ist wegen der Dinge, die er nicht richtig begriffen hat, viel wichtiger als andere Denker aufgrund der von ihnen richtig begriffenen Dinge.

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Hegel Aber auch indem wir die Geschichte als diese Schlachtbank betrachten, auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht worden, so entsteht dem Gedanken notwendig auch die Frage, wem, welchem Endzwecke diese ungeheuersten Opfer gebracht worden sind. (Georg W. F. Hegel Vorlesungen über die Geschichte, S. 35. Vorlesungsmanuskripte und -mitschriften verfasst zwischen 1822 und 1831, erstveröffentlicht 1837)

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) ist das erste von mehreren deutschen Schwergewichten in unserer Philosophenriege.Was Tiefe, Schwierigkeit und Tiefgründigkeit anbelangt, gilt er weithin als das größte Schwergewicht unter allen Philosophen. Hegels Nachfolger Marx, der selbst ein großer Geist war und auch nicht immer leicht zu lesen ist, soll gesagt haben, Hegel zu lesen sei wie trockene Steine zu essen. Immerhin aber hat Marx an seiner harten, trockenen Hegelkost genug Geschmack gefunden, dass er sich bei der Zubereitung seines eigenen beeindruckenden Menüs an ihre Rezeptur gehalten hat (siehe Zitat 23, Marx), und er ist bestimmt nicht der einzige bedeutende Philosoph, der Hegel als reiche Nahrung für das Denken schätzte. Geboren in Stuttgart als Sohn eines höheren Steuerbeamten, trat Hegel mit 18 Jahren in das Tübinger evangelische Stift ein, wo seine Mitstudenten Friedrich Hölderlin (1770–1843) und Friedrich Schelling (1775–1854) bald enge Freunde von ihm wurden. Vereint in ihrem Hass auf die restriktive Stiftsordnung fieberten die drei Freunde einer neuen, befreiten Epoche der Menschheit entgegen, die sich mit der Französischen Revolution und Kants bahnbrechenden philosophischen Ideen ankündigte. Als Hegel 1793 das Stift verließ, war seine zukünftige Philosophie in ihren Grundzügen bereits vorgezeichnet: ein umfassendes Interesse an den Ideen Kants, eine Faszination für historische Prozesse und ein quasi-religiöser Idealismus. 56

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1801 unterstützte Schelling seinen Freund dabei, eine Stelle an der Universität von Jena zu bekommen, wo dieser mit der Phänomenologie des Geistes sein erstes Hauptwerk verfasste. Als Hegel an dessen Fertigstellung arbeitete, war er Zeuge, wie der »Weltgeist« in Gestalt von Napoleon Bonaparte (1769–1821) auf einem Pferd in Jena Einzug hielt – ein Ereignis, das ihn außerordentlich bewegte und inspirierte. Mit der Weiterentwicklung seiner fundierten Philosophie des Geistes und der Geschichte in Werken wie der Wissenschaft der Logik (1812–16) und den Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) gewann er an Ansehen und erhielt prestigeträchtigere Universitätsstellen. Von Jena ging es für ihn weiter nach Heidelberg und schließlich nach Berlin, wo seine Vorlesungen zu einem Ereignis wurden, das Studenten aus ganz Europa anzog. Unser Eingangszitat ist den postum veröffentlichten Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte entnommen. Hegel starb 61-jährig in Berlin und liegt auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof begraben. Kein anderer Philosoph beeinflusste Hegel so stark wie Kant, bei dessen Tod er 33 Jahre alt war. Hegel war nach Kant der nächste große deutsche Philosoph in einer langen Reihe wirklich großer deutscher Philosophen. Hegel baute auf Kants Theorie über das Verhältnis von Bewusstsein und Welt, seiner Philosophie des Geistes, auf und setzte sie auf eigene Art fort. Kant zufolge ist der Geist nicht passiv im Erfassen der Welt, sondern hat aktiven Anteil daran. Er organisiert den rohen Stoff der sinnlichen Eindrücke, verleiht ihm Struktur und verhilft uns so zu einer kohärenten täglichen Welterfahrung. Die Welt, die wir erfahren, ist demnach eine Synthese aus dem, was uns über die Sinne erreicht, und den unterschiedlichen Arten, auf die es der Geist strukturiert. Zwei der Hauptordnungsprinzipien oder -kategorien, die der Geist auf die Sinneseindrücke anwendet, sind Raum und Zeit. Kants grundlegende Behauptung ist die, dass wir Raum und Zeit als solche nicht wahrnehmen. Sie sind nicht, was wir wahrnehmen, sie sind die Wahrnehmungsweise. Sie sind das, wodurch wir 57

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der Welt Struktur geben, so dass sie eine für uns sinnvolle, kohärente raumzeitliche Welt darstellt. Eine der beeindruckendsten Eigenschaften dieser Theorie besteht in der klaren Trennung zwischen der Welt, wie wir sie wahrnehmen, und der Welt, wie sie unabhängig von unserer Erfahrung an sich ist. Zwar können wir die Welt nicht anders als raumzeitlich wahrnehmen, das heißt aber nicht, dass die Welt an sich raumzeitlich ist. Wie also ist die Welt an sich beschaffen? Das wissen wir nicht, ja das können wir gar nicht wissen.Wir können unmöglich wissen, wie die Welt an sich beschaffen ist, weil sie uns verschlossen ist und immer bleiben wird, weil wir in einer Welt der Erscheinungen, die unser Geist für uns strukturiert, eingeschlossen sind. Hegel stimmt all dem zu: dass der Geist die Welt aus den rohen Sinnesdaten konstruiere, dass Erfahrung eine Synthese sei aus dem Bewusstsein und dem, was dem Bewusstsein dargeboten wird. Dagegen widerspricht er Kants Annahme, wonach die Art, wie das Bewusstsein der Welt Struktur verleiht, die Kategorien, die es anwendet, um eine kohärente Erfahrung hervorzubringen, immer und überall dieselben sind. Hegel ergänzt Kants Philosophie des Geistes in entscheidender Hinsicht um eine geschichtliche, soziale und kulturelle Dimension und behauptet, dass die menschliche Vernunft mit der Zeit einen Wandel durchlaufen und sich im Zuge der Geschichte entwickelt habe. Hegels Auffassung nach ist die Geschichte selbst die fortschreitende Entwicklung der menschlichen Vernunft. Ideen, so Hegel, entwickeln sich dialektisch. Einer These – einer Idee oder Auffassung von der Welt – steht eine Antithese gegenüber – eine gegensätzliche Idee oder Auffassung von der Welt –, und zusammen münden sie schließlich in eine Synthese – eine neue, höhere, ausgefeiltere Idee oder Auffassung –, was häufig mit viel Schmerz und Blutvergießen verbunden ist. Die Vernunft entwickele die Institutionen, die die menschliche Welt umfasst – die Systeme der Bildung, der Technologie, des Rechts, der Politik und so weiter –, während die Vernunft selbst von diesen Institutionen entwickelt werde. Für Hegel sind Geist und Welt, 58

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die bei ihm subjektiver und objektiver Geist heißen, nichts voneinander Verschiedenes, sondern innerlich zusammengehörige, ganz und gar künstlich gebildete Aspekte eines Ganzen, die sich gegenseitig spiegeln. Im Hinblick auf unser Eingangszitat besteht die wichtigste Folgerung dieses ganzen aufregenden hegelschen Idealismus darin, dass die Geschichte einen Zweck habe. Hegel war ein erstrangiger Historiker, der in aufgewühlten Zeiten lebte, und er wusste nur allzu gut, dass die Geschichte eine regelrechte Schlachtbank ist – eine viele tausend Jahre alte Schlachtbank, auf der immer noch Abermillionen geopfert und vernichtet werden, weil die Menschen von gegensätzlichen Beweggründen und Ideen getrieben sind. Man braucht bloß den Fernseher einzuschalten, um zu sehen, dass die Geschichte sich durch Waffengebrauch entfaltet und durch das Blutvergießen derer, die sich im Kampf gegenüberstehen. Der Punkt, um den es Hegel geht, ist jedoch der, dass die Geschichte nicht nur eine Schlachtbank, dass sie nicht nur die Abfolge von lauter Scheußlichkeiten ist. In Wahrheit habe der scheinbare Wahnsinn System, gebe es ein Prinzip darin, einen »Endzweck«, für das die enormen Opfer der Geschichte gebracht würden. Bei diesem Prinzip handelt es sich um die fortschreitende Entwicklung der menschlichen Vernunft zur vollkommenen Rationalität, zu einem vollkommen rationalen Staatswesen, in dem sich jeder Einzelne in vollkommener Harmonie mit dem Staat als Ganzem befindet (siehe auch Zitat 32, Platon). Hegels Idealismus ist wie erwähnt quasi-religiös. Er sieht in der Geschichte den von Martern begleiteten Prozess des absoluten Geistes oder Gottes, der sich durch die Vervollkommnung der menschlichen Vernunft schließlich selbst erkennt. Indem sie den absoluten Geist schließlich in seinem Wesen begreift, enthüllt die zur Vollkommenheit gelangte menschliche Vernunft den absoluten Geist oder Gott und bringt ihn zur vollen Wirklichkeit. Anders gesagt wird der göttliche Geist als absoluter Geist Wirklichkeit, wenn und sobald der menschliche Geist in einzelnen Individuen zugleich die Vollkommenheit erreicht. 59

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Dieser Idealzustand, das letzte, vielleicht in unendlich weiter Ferne liegende Ziel des dialektischen Geschichtsverlaufs, erlaubt einen gewissen Vergleich mit Kants Reich der Zwecke, bei dem es sich um einen zukünftigen Idealzustand der Moral handelt, in dem die Menschen sich gegenseitig nicht länger als bloße Mittel behandeln und einander stets als freie rationale Zwecke achten (siehe Zitat 16, Kant). Der Existenzphilosoph Kierkegaard, der auf die zwanzig zuging, als Hegel starb, stößt sich an dessen Idealismus. Er vertritt die Auffassung, dass Hegel, indem er aus dem menschlichen Denken und letztlich aus der Beziehung des Menschen mit Gott das Ergebnis eines grandiosen Geschichtsprozesses macht, den Einzelnen überhaupt nicht berücksichtige, ja Generationen von Einzelnen übergehe, da er jedes Individuum zu nichts weiter reduziere als zu einem winzigen Opfer auf dem langen Weg zu irgendeinem in der Zukunft liegenden vollkommenen Menschheitszustand. Aus Kierkegaards Sicht erfährt sich der Einzelne nicht vorrangig, wenn überhaupt, als Teil der Geschichte, als kleinen Schritt hin zu etwas viel Größerem als er selbst, sondern als ein freies, angstvolles, verzweifeltes sterbliches Wesen, das von moralischen Nöten geplagt ist und sein Dasein ohne irgendeinen Zweck fristet, den die Vernunft zu erkennen vermag. Wie auch immer der Mensch sich erfährt, Hegel könnte Recht haben. Die Geschichte hat womöglich ein Ziel und bewegt sich möglicherweise tatsächlich auf einen Vollkommenheitszustand zu. Da aber die Vervollkommnung der Menschheit durch die Vervollkommnung des Staatswesens ohne Frage noch weit entfernt ist, scheint es viel wahrscheinlicher, dass die Menschheit lange vor dem Erreichen der Vollkommenheit vernichtet sein oder sich selbst vernichtet haben wird. Vielleicht würden Sie gerne erleben, wie die Geschichte ihr telos erreicht – ihr Ende, ihr Ziel oder ihren Zweck –, es ist jedoch äußerst zweifelhaft, dass Sie es erleben werden. Warum also sollte es Sie wirklich kümmern, ob sie ein Ziel hat oder nicht? Schließlich kümmert es Sie und uns ja auch nicht, dass sich die Sonne in Millionen von Jahren ausdehnen und den Schlachthof, den wir 60

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Erde nennen, schlucken wird. Keines von beiden hat irgendwelche Auswirkungen auf Ihr und unser Alltagsleben. Andererseits bewahrt Hegel Ihre Existenz zumindest vor der blanken Sinnlosigkeit, indem er aus Ihnen samt allen anderen Menschen eine Art Märtyrer macht: Märtyrer und Vollstrecker ihres langfristigen Ziels der menschlichen Vervollkommnung durch soziale und politische Entwicklung.

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Heidegger Der Tod ist eigenste Möglichkeit des Daseins. (Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 263. Erstveröffentlichung 1927)

Martin Heidegger (1889–1976) war der letzte in einer langen Reihe wahrhaft großer deutscher Philosophen, die bis zu Leibniz zurückreicht und zu der unter anderen Husserl (1859–1938), Nietzsche, Marx, Hegel und Kant gehören. Im bayerischen Meßkirch geboren, wurde Heidegger eine katholische Erziehung zuteil und 1909 nahm er an der Freiburger Universität ein Theologiestudium auf. Er war ein ausgezeichneter Student, wurde 1913 zum Doktor der Philosophie promoviert und erlangte 1915 mit einer Arbeit über den mittelalterlichen Philosophen und Theologen Duns Scotus (um 1266–1308) höhere akademische Weihen. Heidegger diente im letzten Jahr des Ersten Weltkriegs in der Armee, nahm allerdings aufgrund seiner Untauglichkeit nicht an Kampfeinsätzen teil. Nach dem Krieg war er Assistent Edmund Husserls, der in Freiburg Philosophie lehrte, bevor er 1923 in Marburg selbst eine Professur in Philosophie übernahm. Nach Husserls Emeritierung 1927 kehrte Heidegger nach Freiburg zurück, wo er trotz zahlreicher verlockender Rufe anderer Universitäten für den Rest seiner Laufbahn blieb. 1927 war auch das Erscheinungsjahr von Heideggers großem 61

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Werk Sein und Zeit, bei dem wir es mit einem der komplexesten, bedeutendsten und einflussreichsten Texte nicht allein des 20. Jahrhunderts zu tun haben. Sein und Zeit ist ein erschöpfend detailliertes ontologisches Werk, eine philosophische Erkundung der Grundzüge der Existenz oder des Seins – einschließlich des Seins dessen, was im Verhältnis zum Sein als ein wesentlich »verzeitlichtes« Phänomen besteht, nämlich der Lebenswirklichkeit des Menschen, oder, wie Heidegger sagt: des Daseins. Sein und Zeit ist eine tragende Säule der Phänomenologie – der Philosophie hinter dem Existenzialismus. Zusammen mit Husserls Werken beeinflusste es Sartre immens bei der Abfassung seines eigenen Meisterwerks, Das Sein und das Nichts (1943), das häufig als die Bibel des Existenzialismus bezeichnet wird. 1933 trat Heidegger der NSDAP bei und wurde zum Rektor der Freiburger Universität ernannt. Als ihr höchster Repräsentant hielt er Reden, in denen er sich für eine deutsche Revolution aussprach und Hitler rühmte. Im Folgejahr trat er als Rektor zurück. Wenngleich er zu Husserl, der Jude war, auf Distanz gegangen sein soll, half er auch einer jüdischen Studentin von sich, Elisabeth Blochmann (1892–1972), im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs zu emigrieren. Er hatte eine außereheliche Beziehung mit Blochmann und ebenso mit seiner berühmtesten Schülerin Hannah Arendt (1906–75), die gleichfalls Jüdin war. Arendt äußerte sich bei der Anhörung vor dem Entnazifizierungsausschuss nach dem Krieg zu seinen Gunsten. Sein früherer Freund, der Existenzphilosoph Karl Jaspers (1883–1969), reichte der Kommission ein belastendes Urteil ein. Den Nationalsozialismus haben neben Heidegger noch Millionen andere Deutsche begrüßt, die von der Massenhysterie der Bewegung ergriffen wurden. Stärker anzulasten ist ihm, dass er sich nach 1945 nicht öffentlich von seinen 1933/34 geäußerten nazifreundlichen Ansichten distanzierte, wenn er sein politisches Auftreten auch im Privaten bedauert und von einer Dummheit gesprochen haben soll. Inwieweit er Nazi war, ist eine vielschichtige und umstrittene Frage, die von zahlreichen Wissenschaftlern 62

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detailliert verfolgt und dokumentiert wurde. Doch weil er ohne Zweifel gewisse Verbindungen mit dem Nationalsozialismus hatte, wirft die Geschichte einen Schatten auf Heidegger, und dieser Schatten wird – völlig zu Recht – immer auf dem persönlichen Ansehen dieses Philosophen liegen, dessen Denken trotz alledem originell und tiefgründig ist. Wie die von ihm beeinflussten Existenzialisten, allen voran Sartre und de Beauvoir, war auch Heidegger stark von der Frage umgetrieben, was wahrhaftiges Sein heißt. Wie Sartre und de Beauvoir vertritt er die Auffassung, dass zu dem Bemühen um ein wahrhaftiges Leben gehört, die unentrinnbaren existenziellen Wahrheiten des Menschseins anzunehmen und durch die eigene Haltung und das eigene Verhalten zu bejahen: Freiheit, Verantwortlichkeit, Begehren, Uneindeutigkeit (siehe Zitat 8, de Beauvoir), Angst (siehe Zitat 19, Kierkegaard), Sein-für-Andere (siehe Zitat 36, Sartre), Sterblichkeit usw. Während Sartre und de Beauvoir in ihren Darstellungen der Wahrhaftigkeit den Nachdruck auf das Ja zur Freiheit legen, betont Heidegger in diesem Zusammenhang die Sterblichkeit und ihre Bejahung. Wahrhaftigkeit heißt für ihn in erster Linie »eigentliches Sein zum Tode« (Sein und Zeit, S. 260). »Dasein«, der überaus wichtige Begriff im Zentrum von Heideggers Philosophie, bezieht sich auf die einzigartige räumliche und zeitliche Verortung eines Menschen in der Welt, auf sein Inder-Welt-Sein und darauf, wie er in der Welt ist. Mit dem Satz »Der Tod ist eigenste Möglichkeit des Daseins« (Sein und Zeit, S. 263) – die Möglichkeit, die den meisten daseienden Geschöpfen eigen ist – gibt Heidegger zu verstehen, dass die ständige Möglichkeit des Todes in der Gegenwart, die Unausweichlichkeit des Todes in der Zukunft, zum eigentlichen Dasein gehört. Die Gegenwart des Menschen ist, was sie ist, aufgrund ihrer Endlichkeit – einer Endlichkeit, die aus dem Versprechen des Todes kommt, das die Gegenwart ununterbrochen heimsucht. Das eigentliche Sein zum Tode verlangt nach einem Menschen, der sein Leben im vollen Bewusstsein der Endlichkeit und aus der vollen Anerkennung der Unentrinnbarkeit des Todes heraus lebt. 63

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Indem ein Mensch einsieht und begreift, dass er selber sterben muss, statt einfach nur, dass Menschen sterben, hört er auf, sich auf uneigentliche Weise lediglich als einen weiteren Anderen zu betrachten, und wird sich darüber klar, dass er als die einmalige Möglichkeit seines eigenen Todes existiert. »Die im Vorlaufen verstandene Unbezüglichkeit des Todes vereinzelt das Dasein auf es selbst« (Sein und Zeit, S. 263). Nur indem er sich darüber klar wird, dass er die einmalige Möglichkeit seines eigenen Todes ist, hört ein Mensch auf, sich so zu behandeln, als wäre er eine Kopie seiner Mitmenschen und aller Menschen. Darin besteht für Heidegger wahrhaftiges Sein. Der wahrhaftige, eigentliche Mensch ist – genau wie das eigentliche Artefakt – die echte, die authentische Sache, keine Nachbildung oder Replik. Ähnelt sein Leben auch dem vieler anderer, so ist er dennoch unverwechselbar, und was ihn unverwechselbar macht, besteht vor allem anderen darin, dass nur er den eigenen Tod sterben kann und sterben wird. In Charles Dickens’ Geschichte aus zwei Städten geht Sidney Carton für Charles Darnay heldenmütig auf die Guillotine, dessen Tod aber stirbt er dadurch nicht. Ein Leibwächter wirft sich in die Schusslinie und fängt die für den Präsidenten gedachte tödliche Kugel ab. Der Leibwächter ist »für den Präsidenten gestorben«, doch er ist nicht dessen Tod gestorben. Allein der Präsident kann irgendwann in der Zukunft den Tod des Präsidenten sterben. »Keiner kann dem Anderen sein Sterben abnehmen. […] Das Sterben muß jedes Dasein jeweilig selbst auf sich nehmen. Der Tod ist, sofern er ›ist‹, wesensmäßig je der meine« (Sein und Zeit, S. 240). Heideggers Auffassung zufolge fängt ein Mensch erst dann wirklich zu existieren und aus eigener Kraft zu leben an, wenn er sich völlig klar darüber wird, dass er sterben muss, und nach dieser Einsicht handelt. Indem er die Verantwortung für seinen Tod übernimmt, übernimmt er die Verantwortung für sein Leben und dafür, wie er es zu leben wählt. Im völligen Klarwerden über die Sterblichkeit und in ihrer uneingeschränkten Bejahung erkennt Heidegger die Überwindung von Unwahrhaftigkeit und Uneigentlichkeit. Diese Auffassung deckt sich mit der Behaup64

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tung Nietzsches (siehe Zitat 26) und anderer Existenzphilosophen, wonach in einem wahrhaftigen Leben kein Platz für Bedauern oder Reue sei. Weil der Mensch die Summe der von ihm getroffenen und in seiner Verantwortung liegenden freien Entscheidungen ist, verlangt die entschiedene Bejahung der Freiheit, dass er sein Leben insgesamt ohne Bedauern lebt. Dazu muss er auch seine Sterblichkeit bejahen und begreifen, dass der Tod dessen eigenste Möglichkeit darstellt. Das heißt nicht, dass er der Aussicht auf den Tod etwas abgewinnen muss – »Der Gedanke an den Selbstmord ist ein starkes Trostmittel: mit ihm kommt man gut über manche böse Nacht hinweg« (Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 157, S. 67) –, doch es bedeutet, dass er die Endlichkeit seines Lebens und die Folgen davon für sein Leben, für sein Sein zum Tode, anerkennen muss.

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Heraklit Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. (Heraklit, zitiert in Platon Kratylos, 402a, Platon Sämtliche Dialoge, Bd. IV, S. 68)

Es ist bekannt, dass Heraklit um 500 v. Chr. als Philosoph wirkte, und da er antiken Quellen zufolge im Alter von 60 Jahren starb, ergibt sich als beste Schätzung seiner Lebensdaten ca. 535–475 v. Chr. In jedem Fall ist er der früheste Philosoph in unserer Reihe. Über sein Leben weiß man immerhin so viel, dass er aus adeligem Geschlecht stammte und in der griechischen Stadt Ephesos an der ionischen Küste lebte, die heute zur Türkei gehört. Heraklit scheint von seinen Mitmenschen keine sonderlich hohe Meinung gehabt zu haben und Bertrand Russell macht ihm gar den Vorwurf, er sei der »Geringschätzung verfallen« gewesen (Philosophie des Abendlandes, S. 52). Voller Stolz äußert Heraklit sich abschätzig über andere Philosophen, die zwar gelehrig seien, 65

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aber doch nichts verstünden. Das Gleiche legt er auch Pythagoras (um 570–495 v. Chr.) zur Last, von dem er gleichwohl beeinflusst war. Auf Raffaels Fresko Die Schule von Athen sieht man Heraklit, wie er abseits der anderen Philosophen sitzt. Die Fragmente seiner Schriften, die nur als Zitate anderer Autoren überliefert wurden, sind in ihrer Art dunkel und unzugänglich. Und das sollten sie wohl auch sein, weil ihr Autor, von den fähigsten abgesehen, alle Denker abschrecken wollte. Platon und Hegel, zwei der fähigsten Denker in der Geschichte, waren mit Sicherheit von Heraklits Ideen beeinflusst. Für Pythagoras und seine Anhänger ist die Wirklichkeit in ihrem innersten Kern mathematisch. Alle Dinge seien nach vollkommenen, überzeitlichen und unveränderlichen mathematischen Beziehungen geordnet. Demgegenüber vertritt Heraklit die Ansicht, dass es nichts Gleichbleibendes gibt, alles im Fluss ist und sich ständig wandelt. Für Heraklit ist der Wandel das einzig Beständige. Es gebe nichts Unveränderliches, nichts Beständiges und Gleichbleibendes, das einem Wandel unterliegt, kein Sein, das sich im Werden in unterschiedlichen Erscheinungen manifestiere. Es gebe nur Werden, nichts sonst. Nach Hegel, dessen Ontologie den starken Einfluss Heraklits erkennen lässt, gibt es weder Sein noch Nichtsein, sondern ausschließlich Werden. Wie Hegel anführt, sagte Heraklit: »das Seyn ist so wenig als das Nichts, oder auch: Alles fließt, das heißt, Alles ist Werden« (Wissenschaft der Logik, S. 80). Indem sie den Nachdruck auf das Werden legen, statt auf das Sein, rücken Heraklit und Hegel die Zeit oder den zeitlichen Fluss ins Zentrum der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit sei wie ein Fluss, immer fließend und in Veränderung. In jedem nächsten Augenblick sei sie wieder eine andere. Allerdings gebe es Augenblicke als solche gar nicht. Die Annahme, dass es Augenblicke gebe, ziehe die Vorstellung nach sich, dass die Wirklichkeit zumindest einen Augenblick lang das ist, was sie ist, dass die Zeit durch eine Reihe diskreter Augenblicke voranschreitet, während sie doch in Wahrheit ein fortlaufendes 66

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Kontinuum bilde. Im Grunde genommen gebe es kein Jetzt, keine Gegenwart, nur das kontinuierliche Vergangenheitwerden der Zukunft. Wenn alles im Fluss ist, wenn alle Dinge in ständigem Werden begriffen sind, trifft Heraklits berühmte Feststellung zu und »man kann nicht zweimal in den denselben Fluss steigen«. Der Fluss hat sich seit dem letzten Mal, da man in ihn gestiegen ist, verändert und somit ist er nicht mehr derselbe. Das Wasser ist weitergeflossen und darum ist es ein anderes Wasser. Unser Eingangszitat ist Platons Kratylos entnommen. Russell zitiert Heraklits berühmten Leitsatz in einer etwas anderen Formulierung, die bemerkenswert ist, weil sie den entscheidenden Punkt bekräftigt: »Du kannst nicht zweimal in denselben Fluss steigen; denn frische Wasser fließen immer auf dich zu« (Philosophie des Abendlandes, S. 55). Russell zitiert an dieser Stelle Fragment 12 von Heraklit, ein Fragment innerhalb von Fragmenten des Werks von Areios Didymos (bl. 1. Jhdt. v. Chr.), in der von Eusebius (ca. 263–ca. 339) bewahrten und überlieferten Form. Russell verweist jedoch nicht auf das Fragment, sondern betrachtet es einfach als eine allgemeine Zusammenfassung der Lehre des Heraklit, wie sie in Platons Theätet umrissen ist. Man könnte Heraklits Leitsatz noch zuspitzen und argumentieren, dass man auch nicht ein Mal in denselben Fluss steigen kann, weil er, wenn man gerade in ihn hineingestiegen ist, und sogar wenn man gerade in ihn hineinsteigt, schon nicht mehr der Fluss ist, der er war, als man in ihn hineinzusteigen begann. Dies bringt die unerbittliche Endlosigkeit des Fließens mit sich. Richtig ist auch, dass der ausführende Fuß vom Beginn des Hineinsteigens bis zu seinem Ende nicht derselbe ist. Er verändert sich, altert, sein Verfall schreitet ein kleines Stück voran. Und wenn wir gelten lassen, dass es nichts Unveränderliches im Universum gebe, etwa auch keine unveränderliche menschliche Seele, dann hat sich auch der Mensch, der in den Fluss steigt, verändert. Er ist älter, weiser, um eine Erfahrung und eine Erinnerung reicher, wodurch er zu einem etwas anderen Menschen ge67

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worden ist als der, der er war, bevor er sich in den Fluss hineinzubewegen begann. Die vorsokratischen Philosophen beschäftigte die Frage, welches der Naturelemente allen anderen zugrunde liege. Für Thales (um 624–um 546 v. Chr.) ist es das Wasser, für Anaximander (um 585–um 528 v. Chr.) ist es die Luft. Empedokles (um 495–435 v. Chr.) betrachtet alle vier Elemente – Erde, Luft, Feuer und Wasser – als gleichermaßen grundlegend. Trotz Heraklits Vorliebe für das Wasser als Mittel zur Veranschaulichung, dass alles fließt, erkennt er im Feuer die Grundsubstanz oder das Urelement. In gewissem Sinne treiben die Physiker von heute noch das gleiche Spiel wie diese antiken Naturphilosophen. Lange hatten die Atome als grundlegend gegolten, dann waren es die subatomaren Teilchen. Der Favorit derzeit ist Energie, was uns gewissermaßen zu Heraklit zurückführen scheint. Er favorisierte das Feuer als das zugrunde liegende Element, weil er in der Unruhe und Veränderlichkeit der Flamme, die immer im Werden ist und nie stillsteht, ein Sinnbild der Unruhe und Veränderlichkeit des Universums sah. Darum müsse das Feuer den Grundstoff des Universums bilden. Überdies hielt Heraklit die Wirklichkeit für ein einheitliches Ganzes aus vielen Gegensätzen oder Dualitäten, die untereinander ständig um die Vorherrschaft kämpfen, um einen umfassenden und dauerhaften Seinszustand, der für sie aber unerreichbar bleibt – Licht und Wasser, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Freude und Schmerz, und dergleichen mehr. Nicht wenige große Geister haben eine ähnliche Sicht auf die Dinge und zahlreiche östliche Philosophen betrachten die Welt als eine aus dem endlosen Kampf gegensätzlicher Kräfte hervorgehende Einheit oder Harmonie. Denken wir an das Yin-undYang-Symbol der chinesischen taoistischen Philosophie ☯, das die Wirklichkeit als einen einzelnen Kreis aus den Gegensätzen Licht und Dunkelheit darstellt, die sich umfangen und in dem Kreis, den sie bilden, unaufhörlich zu bewegen und zu umkreisen scheinen. Neben Sokrates (469–399 v. Chr.) und Pythagoras ging von 68

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Heraklit ein wesentlicher Einfluss auf Platon aus, der dessen philosophische Positionen als Ansichten über die natürliche Welt teilte. Weil die natürliche Welt unaufhörlich fließe und sich unablässig wandle, habe sie Platon zufolge nichts Unveränderliches an sich, das unsere Sinne erfassen könnten. Darum könnten sie, die Sinne, unmöglich eine Quelle des Wissens sein, sondern lediglich eine des Glaubens. Unter dem Einfluss von Pythagoras sagt Platon allerdings auch, dass die natürliche Welt nur eine Erscheinung ist, ein Schattenwurf der wahren Wirklichkeit eines vollkommenen, überzeitlichen, unveränderlichen Formen- oder Ideenreichs. Diese höhere Wirklichkeit sei dem Geist ohne Vermittlung durch die Sinne unmittelbar zugänglich, und so sei es möglich, dass wir echte Erkenntnis von ihr haben können (siehe Zitat 31, Platon). Es ist nicht schwer zu verstehen, was der springende Punkt an der Sache mit dem Fluss ist. Heraklit sagt sicher zu Recht, dass er fortgesetzt nicht derselbe Fluss ist, der er zuvor war, »denn frische Wasser fließen immer auf dich zu«. Andererseits ist es sicher auch richtig zu sagen, dass, wenn ich in diesem Jahr an der gleichen Stelle mit den Füßen in die Themse bin, an der ich das im letzten Jahr getan habe, ich zweimal in denselben Fluss gegangen bin. David Hume, wie immer das Sprachrohr des gesunden Menschenverstandes, hat eine saubere Lösung für das Problem. Hume sagt, es sei offensichtlich, dass wir die Vorstellung eines Gegenstandes haben, der im Verlauf der Zeit derselbe bleibt, und das, obwohl, wie Heraklit betont, nichts auch nur einen Augenblick lang völlig unverändert bleibt. Einverstanden damit, dass unsere Vorstellung der Gleichheit unmöglich aus wirklicher Gleichheit herrühren kann, weil es keine wirkliche Gleichheit gibt, fragt Hume, wo die Gleichheitsvorstellung tatsächlich herrührt. Seine einfache Antwort lautet, dass wir einem Gegenstand Identität beilegen – das heißt, ihn als denselben Gegenstand betrachten, obwohl er sich verändert hat –, weil die Sinneseindrücke (siehe Zitat 14, Hume), die wir jetzt von ihm haben, sehr stark den Sinneseindrücken ähneln, die wir vor einem Augenblick von ihm hatten. 69

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Es bestehe eine Kontinuität der Eindrücke, die aus der Ähnlichkeit zeitlich nah beieinander liegender Eindrücke resultiere und die uns veranlasse, einem Gegenstand Identität beizulegen, obwohl er in Wirklichkeit keine besitze. Hume schreibt: Der gedankliche Übergang von dem Gegenstand vor der Veränderung zu dem Gegenstand nach der Veränderung vollzieht sich so ungehindert und leicht, daß wir den Wechsel kaum bemerken und geneigt sind zu denken, wir hätten dauernd nur denselben Gegenstand betrachtet. (Ein Traktat über die menschliche Natur, S. 313)

Daher können die Teile eines Schiffs im Laufe der Zeit sukzessive komplett ersetzt werden, und dennoch werden wir es praktisch als dasselbe Schiff ansehen, zumal wenn es weiter denselben Namen trägt. Es sei nur eine geistige Gewohnheit, Gegenständen Identität beizulegen, doch diese geistige Gewohnheit mache es uns möglich, der Welt Sinn abzugewinnen, sie als kohärent wahrzunehmen, indem sie die Vorstellung der Gleichheit trotz gewisser Veränderung entstehen lässt. Die verrückte, unmögliche Alternative bestehe darin zu denken, wir hätten es jedes Mal mit einem völlig neuen Gegenstand zu tun, wenn wir die geringste Veränderung an ihm wahrnehmen. Demnach ist der Fluss, in den ich zum zweiten Mal steige, nicht derselbe und dennoch derselbe.

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Hobbes Und das Leben des Menschen ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz. (Thomas Hobbes Leviathan, S. 123. Erstveröffentlichung 1651)

Weil seine Mutter wegen der bevorstehenden Invasion der spanischen Armada große Ängste ausstand, wurde Thomas Hobbes of Malmesbury (1588–1679) zu früh geboren. Der Sohn eines Landpfarrers glänzte in der örtlichen Schule, bevor er 1603 nach Oxford an die Universität ging. Am Magdalen College studierte er scholastische Philosophie. Offiziell zumindest, denn weil er das Fach ziemlich trocken fand, belegte er noch einige mehr, wodurch er für seinen Abschluss fünf Jahre brauchte. Durch eine Empfehlung seines Lehrers am College kam Hobbes zu einer Anstellung als Hauslehrer des Sohnes von Lord Cavendish, des späteren zweiten Earls von Devonshire (1590– 1628). Er hielt die Verbindung mit der hochberühmten Familie zeitlebens aufrecht. Hobbes, der über herausragende Kenntnisse des Griechischen und Lateinischen verfügte, war der Erste, der Thukydides’ Geschichte des Peloponnesischen Krieges ins Englische übertrug (1628). Ausgedehnte Reisen in Europa beflügelten sein Interesse an Wissenschaft und Politik. Er begann mit der Ausarbeitung einer Wissenschaft der Politik, die aufbaut auf einem Verständnis der menschlichen Natur und der Bedürfnisse und Ansprüche, aus denen heraus Menschen sich zur Bildung einer Zivilgesellschaft entschließen. Frühe Versionen seiner Theorie ließ Hobbes im privaten, aber durchaus großen Kreis zirkulieren, zu einer Zeit, als im englischen Parlament heftig über die Macht des Königs debattiert wurde. Wer 1640, als England auf den Bürgerkrieg zusteuerte (der 1642 ausbrach und bis 1651 andauerte), einen klaren politischen Standpunkt vertrat, brauchte sich um Feinde nicht zu sorgen. Hobbes sah sich aufgrund seiner Gegner gezwungen, die Flucht zu ergreifen und nach Paris zu gehen, wo er die nächsten elf Jahre 71

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lebte. Obwohl er den gesamten Bürgerkrieg über außerhalb von England zubrachte, wirkten sich dessen Ereignisse, die ihm häufig von Exilroyalisten berichtet wurden, sehr stark auf die Entwicklung seines politischen Denkens aus. Hobbes’ Hauptwerk, der Leviathan, eine der großen und bleibenden Stützen der politischen Philosophie, erschien 1651. Obwohl es für die absolute Monarchie eintritt, begründete es auch einige zentrale Vorstellungen von Liberalität wie die natürliche Gleichheit aller Menschen und bestimmte Rechte des einzelnen Menschen. Dieses grundlegende und bahnbrechende Buch löste umgehend eine große Kontroverse aus und brachte Hobbes auf allen Seiten Freunde und Feinde ein. Weil er das göttliche Herrschaftsrecht der Könige ablehnte, wendeten sich viele Exilroyalisten gegen ihn, und seine materialistischen, säkularen, gar atheistischen Neigungen erzürnten die französischen Katholiken. Der große Verfechter der absoluten Monarchie musste bei der englischen Revolutionsregierung um Schutz ersuchen und floh nach London. Hobbes lebte für den Rest seines langen Lebens still in England. Ärger ging er aus dem Weg, indem er sich weitgehend aus der Politik heraushielt. Als er bereits jenseits der achtzig war, übersetzte er die Werke Homers und verfasste seine Autobiographie in lateinischen Versen. Bei unserem Eingangszitat handelt es sich um den berühmten Schluss eines Abschnitts, in dem Hobbes die vielen Übel auflistet, von denen die menschliche Existenz außerhalb der zivilisierten Gesellschaft geplagt wird – in »Kriegszeiten […], in denen jeder eines jeden Feind ist« (Leviathan, S. 122); in denen es keine nennenswerte Industrie, Landwirtschaft und Schifffahrt gibt, wie Hobbes sagt, keine bedeutende Kunst, Architektur und Literatur usw.; und in denen die Mittel zur Schaffung von nennenswertem Wohlstand fehlen und wo sogar die Wohlhabendsten arm und bedürftig seien im Vergleich zu dem Wohlstand einer zivilisierten Gesellschaft. Dieser schreckliche Zustand der Anarchie, auf den sich Hobbes als Naturzustand bezieht, müsse unbedingt vermieden 72

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werden, damit die Menschen sich einigen könnten, einen Sozialvertrag über gegenseitige Zusammenarbeit zu schließen und eine gemeinsame Macht über sich zu akzeptieren, die so unumschränkt sei, dass sie sie davon abhalte, ständig miteinander im Kampf zu liegen – »eine Macht, die […] sie alle einzuschüchtern« vermag (Leviathan, S. 121). Diese Macht ist für Hobbes der Leviathan. Ursprünglich ein biblischer Ausdruck für ein riesiges Meeresungeheuer, meint der Leviathan hier eine wirksame Zentralgewalt, die über die nötige Stärke verfügt, um einen totalen Bürgerkrieg mit all seinen Übeln zu verhindern, einen mächtigen Herrscher, dem sich die Menschen aus Furcht und aus eigenem Interesse unterwerfen. Eigeninteresse meint hier größtenteils die Furcht vor den drohenden Konsequenzen, wenn es keine solche Macht im Lande gibt, die Furcht vor einem Naturzustand, in dem jeder des anderen Wolf ist und nur noch das Faustrecht herrscht. Hobbes zufolge gründet die absolute Souveränität des Leviathans in keinem göttlichen Recht. Dieser sei, anders als die Monarchen seinerzeit gern von sich glaubten, kein Halbgott mit einem gottgegebenen Herrschaftsrecht. Sein Recht auf Herrschaft gründe darin, dass er die Macht und die Stärke habe, die Menschen an den Sozialvertrag zu binden, genug Furcht vor Strafe zu verbreiten, genug Sicherheit zu geben, um ein Absinken in den Naturzustand zu verhindern. Seine Macht müsse unangreifbar sein, weil andere sonst Mittel und Wege finden würden, sie ihm zu nehmen. Mit der Folge, dass es zu einem Bürgerkrieg komme, d. h. zu einer politischen Situation, in der Sektierertum und Gewalt immer weiter um sich greifen und die totale Anarchie ein großes Stück näher rücken würde. Hobbes’ Auffassung nach werden alle Menschen grundsätzlich von ihrem Eigeninteresse geleitet. Bei den meisten bleibe dies auf den Wunsch beschränkt, ein in bescheidenen Grenzen angenehmes und würdevolles Leben zu führen. Manche jedoch ließen sich übermäßig stark von ihren Interessen leiten, seien übertrieben gierig in ihrem Verlangen nach Aneignung und Besitz, nach Freude, Ruhm und Ehre. Das Leben außerhalb der Zivilgesellschaft ist 73

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nicht deshalb ekelhaft und tierisch, so Hobbes weiter, weil die meisten Menschen besonders ekelhaft und tierisch wären, sondern weil die Natur des Menschen innerhalb des Naturzustands zwangsläufig eine Situation entstehen lasse, in der ekelhaftes, tierisches Verhalten die einzige Chance zum Überleben biete. In einer Situation, wo nicht genug für alle da sei, könnten Menschen nicht durch Teilen überleben. Die Umstände zwängen sie vielmehr in einen ekelhaften, tierischen Konkurrenzkampf, indem sie um ihr eigenes Überleben kämpfen müssten oder im allerbesten Fall um das ihrer engsten Familie, mit der ihre eigenen Interessen am stärksten verbunden seien. Bei Hobbes heißt es: »Und wenn daher zwei Menschen nach demselben Gegenstand streben, den sie dennoch nicht zusammen genießen können, so werden sie Feinde« (Leviathan, S. 120). Im Naturzustand würden die Menschen auch durch den Argwohn, d. h. durch Misstrauen oder mangelndes Selbstwertgefühl, in einen ekelhaften, tierischen Umgang miteinander gezogen. Der Argwohn bringe Menschen dazu, sich gegenseitig anzugreifen, weil sie fürchten müssten, selbst angegriffen zu werden. Hierbei gelte: Was du fürchtest, dass man dir tun wird, das füge vorher andern zu. Argwohn veranlasse die Menschen, um ihrer eigenen Sicherheit willen aufeinander loszugehen. Weil sie sich »an ihrer Macht weiden, wenn sie auf Eroberungen ausgehen« (Leviathan, S. 121), würden übermäßig stark von ihren eigenen Interessen geleitete Menschen heftiger gegen andere losschlagen, als dies zu ihrer eigenen Sicherheit nötig wäre. Dadurch müssten diejenigen, die sich ansonsten bereitwillig mit einem bescheidenen Leben begnügen würden, notgedrungen versuchen, es ihnen gleichzutun, nur um der eigenen Verknechtung oder Vernichtung zu entgehen. Hobbes zufolge ist ein jeder darauf bedacht, »daß ihn sein Nebenmann ebenso schätzt wie er sich selbst« (Leviathan, S. 121). Gäbe es keine Machtinstanz, die die Ordnung aufrechterhalte und Unruhen verhindere, würden die Menschen aufgrund ihrer natürlichen Selbstliebe und ihres natürlichen Stolzes alles daransetzen, jene nach Möglichkeit zu vernichten, die ihnen gegenüber die 74

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kleinste Missachtung oder Geringschätzung zeigen, nicht zuletzt als Warnung an die, die sich sonst vielleicht genauso verhalten würden. In einer Welt des brutalen Konkurrenzkampfes, so Hobbes weiter, in der ängstliches Misstrauen herrscht und Rache an der Tagesordnung ist, werden die Menschen vergleichsweise einsam und auf sich gestellt sein und der dauernden Bedrohung durch die anderen möglichst zu entgehen suchen. Und schließlich sei eine gewalttätige Welt, wo es selbst am Lebensnotwendigsten fehle, eine Welt, in der die durchschnittliche Lebenserwartung äußerst gering und ein hohes Alter eine große Seltenheit sein werde. Hobbes ist einer der Gründerväter der modernen Politikwissenschaft, wobei seine Ansichten sicher ebenso viele Fragen aufwerfen, wie sie Antworten liefern. Betrachtet er zum Beispiel den verrohten Naturzustand als einen wirklichen historischen oder prähistorischen Zeitabschnitt vor der Entstehung von Zivilgesellschaften, oder gibt er eher eine ernüchternde Beschreibung davon, wie das Leben wäre, gäbe es die Zivilgesellschaft nicht – beispielsweise in einer von Bürgerkrieg zerstörten Gesellschaft? Hat Hobbes eine zu negative Sicht auf die menschliche Natur? Sind die Menschen tatsächlich so eigennützig, dass nur die Zivilgesellschaft ihre Natur zu zügeln und für das Gute und Nützliche einzuspannen vermag? Was, wenn die Menschen von Natur aus eigentlich altruistisch sind und die Gesellschaft es ist, die sie zum Schlechten verleitet und nur an sich denken lässt? Muss der Souverän ein Leviathan sein, eine absolute Macht? Sollte die höchste politische Macht stattdessen nicht bei einer Wählerschaft liegen, die auf die Gewalt, von der sie regiert wird, Einfluss nehmen und sie verändern kann? Wie soll die höchste Macht in die Hände der Menschen gelegt werden, ohne ein Absinken in die Anarchie zu riskieren? Ist die Demokratie eine gute oder eine schlechte Sache? Für eine entschiedene Antwort auf diese letzte Frage verweise ich Sie auf die Ausführungen zu Zitat 32 und Platon. Es ist hier nicht der Raum, um diese Fragen anzugehen. Ihre adäquate Behandlung, die die Geschichte der politischen Philoso75

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phie seit Hobbes angemessen berücksichtigt, würde viele Bände füllen. So viel aber sei gesagt, dass die ganze politische Philosophie seit Hobbes zu einem nicht geringen Teil eine Weiterentwicklung seines Denkens und eine Reaktion darauf darstellt.

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Hume Die Perzeptionen [Wahrnehmungen] zerfallen in zwei Arten, die ich Eindrücke und Vorstellungen nenne. (David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, Buch I, S. 11. Erstveröffentlichung des engl. Originals 1739/40)

David Hume (1711–76) ist unzweifelhaft der größte Philosoph, den Großbritannien hervorgebracht hat. Die Kraft und die Gültigkeit seiner Ideen sowie sein enormer und anhaltender Einfluss machen aus ihm eine Gestalt von echtem Weltformat. Der schlaueste der schlauen Schotten, das Sprachrohr des gesunden Menschenverstandes und der Vernunft, studierte Rechtswissenschaften in Edinburgh, der Stadt, in der er den Großteil seines Lebens verbringen wird. Im Gegensatz zu den religiösen Ansichten seiner Familie, die er gar nicht erst übernahm, hatten die Ideen John Lockes einen prägenden Einfluss auf ihn. Durch sie inspiriert, startete er ein großes Projekt zur Reformierung der Philosophie, um sie von den letztlich vergeblichen metaphysischen Spekulationen und theologischen Vorurteilen zu befreien und stattdessen in den verlässlichen Prinzipien des Empirismus zu verankern. Humes Traktat über die menschliche Natur, sein Hauptwerk und die »Bibel« der philosophischen Schule des Empirismus, stieß bei seiner Erstveröffentlichung auf wenig Resonanz. Hume sah sich zur Überarbeitung seiner Schlüsselargumente gezwungen; das Resultat davon bildet seine Untersuchung über den menschlichen Verstand (1748). Im Laufe der Jahre verschaffte er sich einen gewissen Wohlstand und gewann auch an Ansehen, was 76

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allerdings mehr mit der großen Beliebtheit seiner Geschichte Großbritanniens (1754–61) zu tun hatte als mit seinen philosophischen Schriften. Der Widerstand, den Hume der Religion zeit seines Lebens entgegenbrachte, war nach heutigen Maßstäben vergleichsweise gemäßigt und höflich. Dennoch machte er aus ihm einen Außenseiter des Establishments, der weder in Edinburgh noch in Glasgow auf einen Universitätslehrstuhl zugelassen wurde. Entsprechend lange dauerte es, bis seine Philosophie Bekanntheit erlangte. Er selbst erlebte das nicht mehr. Einige Jahre nach seinem Tod setzten sich seine Ideen schließlich durch und wurden zum Gegenstand umfangreicher Untersuchungen und ausgiebiger Diskussionen. Dass dabei Fehler nicht ausblieben, zeigt das Beispiel von Paley, einem jungen Zeitgenossen Humes. Wie ich im Zusammenhang mit Zitat 28 erläutern werde, hätte Paley sich seine Irrtümer ersparen können, wäre er Humes Ideen in vollem Umfang gerecht geworden. Unser Eingangszitat ist die erste Zeile von Humes Traktat und eine klare Feststellung der empiristischen Position. Der Geist habe es mit Eindrücken und Vorstellungen zu tun, darüber hinaus kenne und wisse er nichts.Wie Locke vertritt auch Hume die Ansicht, dass der Geist bei der Geburt eine tabula rasa ist, eine leere Schiefertafel, die darauf wartet, von den Sinnen beschrieben zu werden. Eindrücke sind ihm zufolge sowohl all das, was sich unseren fünf Sinnen einprägt, als auch körperliche Empfindungen wie Freude, Schmerz und andere Gemütszustände. Vorstellungen betrachtet Hume als blasse Abbilder der Eindrücke, etwa die Vorstellung des Eiffelturms im Unterschied zum realen Anblick dieser gewaltigen Trägerkonstruktion. In der Regel seien unsere Eindrücke viel stärker und viel lebendiger als unsere Vorstellungen, und es sei ihr Grad an Lebendigkeit, durch den wir sie überwiegend auseinanderhalten würden. Hume fordert uns wie so oft dazu auf, das von ihm Gesagte einfach an unseren eigenen Erfahrungen zu überprüfen, um zu erkennen, dass seine Ausführungen gar nicht anders als richtig sein können. Eindrücke sind komplex, so Hume, da es sich bei ihnen um 77

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Kombinationen aus einfachen Eindrücken handelt. Eine Farbe wie etwa Rot sei ein einfacher Eindruck, wir würden jedoch nie Rot an sich, sondern immer eine rote Sache sehen, einen roten Apfel beispielsweise, einen Komplex von Eindrücken empfangen, zu dem neben der Form und Beschaffenheit auch der Geruch und selbst das Geräusch gehöre, das der Apfel mache, wenn wir ihn schneiden oder in ihn hineinbeißen. Auch Vorstellungen sind, so Hume weiter, in einfache und komplexe zu unterteilen. Die Vorstellung von Rot sei eine einfache Vorstellung, die auf dem einfachen Eindruck von Rot basiere. Und weil all unsere Vorstellungen auf einem entsprechenden Eindruck basieren müssen, wie Hume behauptet, könne ein Mensch, der nie zuvor Rot gesehen hat, keine Vorstellung von Rot haben. Die Vorstellung eines Apfels sei eine komplexe Vorstellung, die auf dem komplexen Eindruck eines Apfels basiere. Der Geist verfügt Hume zufolge über die Fähigkeit, Vorstellungen zu zerlegen und die Teile wieder zu neuen komplexen Vorstellungen von Dingen zusammenzufügen, die er nie zuvor wahrgenommen hat. So können Sie sich beispielsweise einen Zentaur vorstellen, weil Ihr Geist imstande ist, die Vorstellung eines Menschen und die eines Pferdes miteinander zu verbinden. Auf diese Weise erklärt sich Hume die Vorstellungskraft, während er an seinem Kernprinzip festhält, wonach all unsere Vorstellungen letztlich auf Sinneseindrücken beruhen und in keinem Fall aus irgendeiner anderen Quelle entspringen könnten. Die Folgerungen aus dieser Reihe scheinbar ganz profaner Behauptungen darüber, was wir wissen können und wodurch wir es wissen, haben es in sich. So argumentiert Hume beispielsweise, dass Verursachung, wie etwa bei einer notwendigen Verbindung zwischen Ereignissen, kein Eindruck ist, den wir haben.Wir sähen ein Geschehen und dann ein anderes, und wenn diese Geschehnisse ein paarmal in Verbindung miteinander aufträten, erwarteten wir schließlich, dass das eine auf das andere folge. Das eine müsse jedoch nicht unbedingt auf das andere folgen, möglicherweise tue es das nicht. Demnach sei unsere Vorstellung von einer notwendigen Kausalverbindung zwischen Ereignissen in Wahr78

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heit lediglich eine Erfahrung einer regelmäßigen Verknüpfung, die zu einer Erwartung führe. Diese Theorie trägt nach wie vor enorm zur Entwicklung der Wissenschaft bei, weil sie verdeutlicht, dass es sich bei dieser um ein durch und durch induktives Unternehmen handelt. Die Wissenschaft trifft ihre Voraussagen immer nur auf Grundlage einer prinzipiell endlichen Zahl von Beobachtungen. Sie kann unmöglich beweisen, dass A notwendigerweise B verursacht, da sie nie mit absoluter Sicherheit wissen kann, dass B beim nächsten Mal auf A folgt. Hume argumentiert ferner, dass die Identität von Gegenständen, die über die Zeit hinweg dieselben bleiben, kein Eindruck sein kann, den wir haben, weil alle Dinge permanent in Veränderung begriffen sind. Wie wir Hume zufolge zur Vorstellung von Gleichheit kommen, lässt sich den Ausführungen zu Zitat 12 und Heraklit entnehmen. Humes Überlegungen zur Kausalität wirkten bei Immanuel Kant besonders stark nach. Kant stimmt mit Hume darin überein, dass zwischen Ereignissen keine notwendige Verbindung bestehe, dafür aber widerspricht er ihm in der Frage, wo die Vorstellung ihren wirklichen Ursprung habe. Hume führt sie auf die Erfahrung regelmäßiger Verknüpfungen zurück, Kant hingegen betrachtet sie als ein angeborenes Vermögen des Geistes zur Strukturierung der Erfahrung nach Ursache und Wirkung. Es heißt, Kant habe sich so sehr in eine Ausgabe von Humes Traktat vertieft, die ihm gerade per Schiff zugegangen war, dass er darüber seinen obligatorischen Nachmittagsspaziergang in Königsberg versäumte, zu dem er sonst immer zur gleichen Minute aufbrach. Solange es auch dauerte, bis Humes Ideen in Großbritannien bekannt wurden – Kant im fernen Preußen brauchte nicht lange, um ihre Brillanz zu erkennen. Wenn man die philosophische Riesengestalt Kant hinter sich weiß, lässt es sich verkraften, dass einem fast die gesamte britische Bevölkerung die Gefolgschaft verweigert. In seinen nur sieben Jahre nach Humes Tod veröffentlichten Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (1783) schreibt Kant, dass es Humes Ideen gewesen waren, die seinen »dogma79

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tischen Schlummer unterbrach[en]« (Prolegomena, S. 9). Besonderen Eindruck hinterließ bei ihm der Angriff auf die traditionelle Metaphysik, den Hume mit seinem Empirismus führte. »Seit dem Entstehen der Metaphysik«, so Kant, »soweit die Geschichte derselben reicht, hat sich keine Begebenheit zugetragen, die in Ansehung des Schicksals dieser Wissenschaft hätte entscheidender werden können, als der Angriff, den David Hume auf dieselbe machte« (Prolegomena, S. 5). Indem er argumentiert, dass all unser Wissen letztlich auf Sinneseindrücken beruht, dass es keine andere Quelle der Erkenntnis gebe als Beobachtung und Erfahrung und das aus ihnen zulässig Ableitbare, erkennt Hume den Naturwissenschaften die führende Rolle im menschlichen Wahrheitsstreben zu. Die Metaphysik hingegen, die in der Geschichte der Philosophie großen Raum einnimmt, rangiert er kurzerhand aus und wirft sie zum alten Eisen oder gibt sie vielmehr zur Verfeuerung frei (siehe Zitat 15, Hume). Diese Aufwertung der Naturwissenschaften, von empirischen Verfahren ganz allgemein, ist zusammen mit der gleichzeitigen Aussonderung des spekulativen metaphysischen Denkens der wichtigste Faktor im Entwicklungsprozess der modernen Welt. Weil sich die Metaphysik nicht auf Beobachtung und Erfahrung stütze, sondern stattdessen auf das von der Welt der Sinne geschiedene reine Denken, sei sie nichts weiter als eine nutzlose Spekulation darüber, was jenseits der empirischen Welt liegen könnte oder nicht liegen könnte; nichts weiter als eine realitätsferne Mutmaßung, mit der sich unter keinen Umständen irgendeine Art von Gewissheit erreichen oder irgendeine Art von Wahrheit oder Unwahrheit begründen lasse. Für Hume ist die Metaphysik nicht einmal falsch, sondern schlichtweg sinnlos! Damit will ich es an dieser Stelle bewenden lassen, weil Humes Dauerangriff auf die Metaphysik Gegenstand unseres nächsten fantastischen Zitats ist.

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Hume Nehmen wir irgendein Buch zur Hand, z. B. über Theologie oder Schulmetaphysik, so laßt uns fragen: Enthält es eine abstrakte Erörterung über Größe und Zahl? Nein. Enthält es eine auf Erfahrung beruhende Erörterung über Tatsachen und Existenz? Nein. So übergebe man es den Flammen, denn es kann nichts als Sophisterei und Blendwerk enthalten. (David Hume Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 207. Erstveröffentlichung des engl. Originals 1748)

Da er ein Ehrenmann, Gelehrter und liberal gesinnter Freigeist war, dürfen wir wohl davon ausgehen, dass Hume der Gedanke an Bücherverbrennungen nach Art der Nazis fern lag und er nichts dergleichen empfehlen wollte. Dennoch stellte er sich ganz unmissverständlich auf den Standpunkt, dass das meiste von dem, was theologische und metaphysische Bände enthalten – scheint es auch noch so plausibel – gegenstandslos und unvertretbar und das leicht entflammbare Papier nicht wert ist, auf dem es geschrieben steht. Weil die Philosophie – und zwar sicherlich die vor ihm – im Kern größtenteils metaphysisch gewesen sei, hätten, so Hume, Tausende von Jahren des Philosophierens nahezu nichts bewirkt, sei fast nichts erreicht worden, außer vielleicht, dass sie als anschauliches Beispiel für unproduktives Denken dienen könnten. Zu »Sophisterei und Blendwerk« ist anzumerken, dass es sich bei den Sophisten um vorsokratische Philosophen handelte, die die oft mit irreführenden Mitteln arbeitende Überredungskunst bis zur Meisterschaft entwickelt hatten; eine moderne Bedeutung des Worts »sophisticated« ist »anmaßend sowie oberflächlich geistreich«. Erinnern Sie sich daran, wenn Sie das nächste Mal hören, wie jemand als »sophisticated« gerühmt wird. Für den Fall, dass Sie mehr zu den Sophisten und auch einiges zu ihrer Verteidigung erfahren wollen, verweise ich auf die Ausführungen zu Zitat 33 und Protagoras. Für Hume ist die Metaphysik durch eine anstößige Dunkel81

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heit gekennzeichnet, die nicht nur »beschwerlich und ermüdend«, sondern auch »die unvermeidliche Quelle von Ungewißheit und Irrtum« ist (Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 9). Trotz all ihrer Tiefe, Vielschichtigkeit und Tradition sei sie bloß ein Durcheinander von verworrenen, sinnlosen und vergeblichen Spekulationen, die zu müßigen Schlussfolgerungen führten, die sich unmöglich als wahr oder falsch verifizieren ließen. Bei ihm heißt es: Hierin liegt allerdings der gerechteste und einleuchtendste Vorwurf gegen einen beträchtlichen Teil der Metaphysik: daß sie nicht eigentlich eine Wissenschaft ist, sondern entweder das Ergebnis fruchtloser Anstrengungen der menschlichen Eitelkeit, welche in Gegenstände eindringen möchte, die dem Verstand durchaus unzugänglich sind, oder aber das listige Werk des Volksaberglaubens, welcher auf offenem Plan sich nicht verteidigen kann und hinter diesem verstrickenden Gestrüpp Schutz und Deckung für seine Schwäche sucht. Verjagt vom freien Felde, flieht dieser Räuber in den Wald und liegt auf der Lauer, um in jeden unbewachten Zugang des Geistes einzubrechen und ihn durch religiöse Ängste und Vorurteile zu überwältigen. (Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, S. 10 f.)

Die Grundprinzipien des empiristischen Standpunkts, die Hume zu solch einem vernichtenden Angriff auf das metaphysische Denken veranlassten, sind in den Ausführungen zum vorherigen Eingangszitat Humes dargelegt. Im Kern vertritt er die Ansicht, dass alle unsere Erkenntnis auf empirischer Erfahrung, auf Eindrücken, beruht und daher auf empirische Erfahrung beschränkt ist. Wir haben keine Vorstellungen, die nicht letztlich auf Eindrücke zurückgehen. Wir können nur das wissen, was unsere Sinne uns wissen lassen. Mit welchen Theorien und Hypothesen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit wir auch aufwarten, sie können unmöglich anders als durch unsere empirische Erfahrung bestätigt oder entkräftet werden. Von der Bücherverbrennung einmal abgesehen, umreißt un82

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ser obiges Zitat ein Kernprinzip des Empirismus, das als Humes Gabel bekannt wurde.Wenn man dieses Prinzip versteht, versteht man den Empirismus nicht mehr nur oberflächlich und kann richtig einschätzen, warum Hume das metaphysische Denken so rückhaltlos ablehnte. Hume zufolge gibt es lediglich zwei Typen von Sätzen oder Aussagen, die sich als wahr oder unwahr bestätigen lassen, und folglich auch nur zwei Typen von Aussagen, die sinnvoll sind. Er bezieht sich auf diese beiden Aussagetypen als Beziehungen von Begriffen und Tatsachen. Und auf eben diese beiden bezieht er sich, wenn er wie in unserem Eingangszitat fragt: »Enthält es eine abstrakte Erörterung über Größe und Zahl? Nein. Enthält es eine auf Erfahrung beruhende Erörterung über Tatsachen und Existenz? Nein.« Wenn die Antwort tatsächlich »Nein« lautet, wie das bei allen metaphysischen Werken der Fall ist, dann folgt daraus, dass das Werk nichts Sinnvolles sagt, nichts, das sich als wahr oder falsch beurteilen lässt. Beziehungen von Begriffen sind alle rein logischen Verhältnisse, die beispielsweise in der Mathematik bestehen. Die Aussage »Ein Vater ist ein männliches Elternteil« drückt eine Beziehung von Begriffen aus. Sobald man gelernt hat, was die Ausdrücke »Vater« und »männliches Elternteil« bedeuten, ist die Wahrheit der Aussage »Ein Vater ist ein männliches Elternteil« zwingend. Humes Begriffsbeziehungen nennt man heute analytische Sätze. Solche Sätze legen logische Verhältnisse dar und nicht metaphysische Erkenntnisse irgendwelcher Art. Sie sagen uns nichts über die Welt und mit Sicherheit nichts über metaphysische Welten jenseits der Sinne. Sie sind vollkommen selbstbezüglich, aber sie sind insofern sinnvoll, als sie entweder wahr oder falsch sein können. Tatsachen sind all jene Sätze oder Aussagen, die auf der Grundlage der Evidenz aktueller oder zurückliegender Sinneserfahrung als wahr oder falsch betrachtet werden können. »Bäume haben Blätter«, »Die Sonne ist rund«, »Madrid ist die Hauptstadt von Spanien«, und so weiter. Humes Aussagen über Tatsachen nennt man heute synthetische Sätze. Der Großteil dessen, was wir sagen und denken, besteht aus synthetischen Sätzen. 83

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Hume war der Urvater der philosophischen Bewegung des 20. Jahrhunderts, die man als logischen Positivismus bezeichnet. Den logischen Positivisten hatte es speziell das Prinzip von Humes Gabel angetan. Es brachte sie dazu, ihr eigenes sehr einfaches Prinzip aufzustellen, das als Verifikationsprinzip bekannt ist. Beiden Prinzipien zufolge sind Aussagen nur dann sinnvoll, wenn sie sich als wahr oder falsch verifizieren lassen. Aussagen, die unter keinen Umständen als wahr oder falsch verifiziert werden können, sind logisch gesehen sinnlos, selbst wenn sie oberflächlich betrachtet auf der grammatischen Ebene sinnvoll sind. Der logische Positivismus hatte gravierende Auswirkungen auf viele Bereiche der Philosophie. Er beeinflusste beispielsweise die Moralphilosophie von Ayer (siehe Zitat 5) und fand seinen Niederschlag in den Ideen des frühen Wittgenstein (siehe Zitat 42). In dem Abschnitt zu Thomas von Aquin (Zitat 3) haben wir uns mit dem kosmologischen Argument für die Existenz Gottes befasst und zumindest die Auffassung skizziert, nach der das Problem mit diesem Argument in der Hauptsache darin besteht, dass es sich auf metaphysisches Denken stützt. Diese noch recht allgemeine Feststellung können wir jetzt genauer fassen. Demnach ist das kosmologische Argument sinnlos, weil die metaphysischen Aussagen, aus denen es sich zum großen Teil zusammensetzt – Aussagen zu einem unbewegten Beweger, einer ersten Ursache, einem notwendig bestehenden Sein oder Wesen usw. –, weder Beziehungen von Begriffen noch Tatsachen, weder rein logisch noch rein wissenschaftlich sind. Das kosmologische Argument ist kein rein logisches Argument, weil es immerhin von der Beobachtung und Erfahrung des Universums ausgeht, wenn es auch nicht innerhalb der Grenzen von Beobachtung und Erfahrung bleibt. Und der Umstand, dass es nicht innerhalb dieser Grenzen bleibt, sondern sich stattdessen von ihrer empirischen Startrampe aus in die schwindelnden Höhen metaphysischer Spekulation erhebt, zeigt deutlich, dass wir es bei ihm mit keinem rein wissenschaftlichen Argument zu tun haben. Nach den Maßstäben der humeschen Gabel und des Verifikationsprinzips ist das kosmologische Argument, genau wie alle 84

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metaphysischen Argumente, also weder wahr noch falsch, weder richtig noch unrichtig, sondern schlichtweg sinn- und bedeutungslos. Weil es weder ein rein logisches noch ein rein empirisches Argument ist, lassen sich seine metaphysischen kosmologischen Behauptungen auf keinem der beiden einzigen Wege als wahr oder falsch verifizieren, auf denen etwas als wahr oder falsch verifiziert werden kann, nämlich Logik und Wissenschaft. Hume will sagen: Metaphysische Argumente sind weniger wert als das Papier, auf dem sie geschrieben stehen, das wenigstens noch als Wärmequelle zu gebrauchen ist.Vielleicht gibt auch die Metaphysik insofern eine gute Wärmequelle ab, als sie doch nur eine Menge heißer Luft ist.

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Kant Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde. (Immanuel Kant Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 42, Erstveröffentlichung 1785)

Jeder in diesem Buch behandelte Philosoph verdient das Lob und die Anerkennung, die ich ihnen gezollt habe, Immanuel Kant (1724–1804) aber verdient sie in besonderem Maße. Es gibt keine offizielle Rangliste der »größten Philosophen«, doch wenn es eine gäbe, müsste Platon durch sein überragendes Genie und seinen riesigen Einfluss an der Spitze stehen. Er dürfte der Einzige sein, den man vor Kant platzieren könnte, ohne damit eine Kontroverse auszulösen. Kant lebte ein friedliches, vergleichsweise ereignisarmes Leben als Lehrer, Gelehrter und eingefleischter Junggeselle. Hätte er seine Zeit dafür verwendet, Frauen hinterherzulaufen und in den Krieg zu ziehen, wären die Resultate seines philosophischen Schaffens mit Sicherheit längst nicht so außergewöhnlich geworden. 85

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Vier Dinge sind es, für die Kant am berühmtesten ist: dafür, dass er den Raum um seine ostpreußische Heimatstadt Königsberg in Ostpreußen nie verlassen hat; dafür, dass er jeden Nachmittag genau zur gleichen Zeit einen Spaziergang unternahm, außer an dem Tag, als ihm eine Ausgabe von Humes Traktat zugestellt wurde und er so tief darin versank, dass er es versäumte, sich auf den Weg zu machen (siehe Zitat 14, Hume); dafür, dass er eine Reihe von großen Kritiken verfasste, die durch Kombination der großen Traditionen des Rationalismus und des Empirismus die Philosophie neu begründeten; und dafür, dass er eine Sittenlehre entwarf, die als kantische, deontologische oder Pflicht-Ethik bekannt ist. Im Zentrum der kantischen Ethik steht mit dem kategorischen Imperativ ein überaus wichtiges Prinzip, das ich kurz erläutern möchte. Bei unserem Eingangszitat handelt es sich um eine von mehreren Formulierungen dieses Kernprinzips, das Kant in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten vorlegt. Nach Kant und den Deontologen, die an ihn anschließen, sind bestimmte menschliche Handlungen in sich falsch, gleichgültig, wie sie sich auswirken. Es gibt, sagen sie, feststehende moralische Wahrheiten oder Prinzipien, die für jedermann gelten, gleichgültig, in welchen Umständen sich der oder die Betreffende befindet. Sie argumentieren, dass sich diese unveränderlichen moralischen Wahrheiten oder Prinzipien durch reines Denken entdecken oder herausarbeiten lassen; dass die Ethik eine Sache der Erkenntnis a priori ist. Andere Moralphilosophen, die als Konsequentialisten bezeichnet werden, vertreten hingegen die Ansicht, dass keine menschliche Handlung in sich wahr oder falsch ist. Die Richtigkeit oder Falschheit einer Handlung müsse nach den Konsequenzen beurteilt werden, die sie hat (siehe Zitat 24, Mill). Vereinfacht gesagt sind sowohl die Deontologen als auch die Konsequentialisten moralische Objektivisten. Das heißt, sie gehen von der Existenz objektiver moralischer Tatsachen aus oder zumindest davon, dass sich die Richtigkeit oder Falschheit einer Handlung objektiv feststellen lässt. Sie sind lediglich uneins über das Wie. 86

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Das hebt sie von denjenigen Philosophen ab, die Zweifel daran haben, dass es wirklich möglich ist, richtig von falsch zu unterscheiden. Diese Philosophen, die unter der Sammelbezeichnung moralische Subjektivisten gefasst werden, vertreten die Auffassung, dass es keine moralischen Wahrheiten oder Prinzipien gebe, dass ethische Aussagen weder wahr noch falsch, sondern eigentlich unsinnig seien (siehe Zitat 5, Ayer). Das Zentrum von Kants Sittenlehre bildet, wie schon gesagt, das Prinzip des kategorischen Imperativs: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.« Auf den ersten Blick scheint das Prinzip zu verlangen, dass man andere so behandelt, wie man von ihnen behandelt werden möchte. Genauer besehen aber verlangt es, dass man sich stets, bevor man zum Handeln übergeht, die Frage vorlegt: »Was wäre, wenn das jeder tun würde?«. Wenn es sich dabei um etwas handelt, von dem niemand wollen kann, dass es um sich greift, hat man die moralische Pflicht, es nicht zu tun. Nehmen wir das Beispiel falscher Versprechungen. Das heißt von Versprechungen, die in der Absicht gegeben werden, sie nicht zu halten. Kant zufolge kann es »öfters stattfinden«, dass jemand sich um des eigenen Vorteils willen überlegt, »ein falsches Versprechen zu tun« (Grundlegung, S. 22). Er könnte sich beispielsweise aus finanziellen Verlegenheiten befreien wollen, indem er sich Geld leiht, ohne die Absicht zu haben, es zurückzuzahlen. Wenn er klug ist, wird er jedoch erkennen, dass er sich damit keinen Gefallen tut. Es wird sich bald herumgesprochen haben, dass er nicht vertrauenswürdig ist, und so dürfte es ihm künftig schwerfallen, neuen Kredit zu bekommen. Am Ende könnten die Folgen dieser Geldleihe ohne Rückzahlungsabsicht für den Betreffenden schlimmer sein als die finanzielle Klemme, aus der er sich zu befreien suchte. Ob es klug oder nicht klug ist, ein falsches Versprechen abzugeben, hat nun Kant zufolge rein gar nichts damit zu tun, ob dies moralisch richtig oder nicht richtig ist. Wie Kant sagt, »ist es doch etwas ganz anderes, aus [moralischer] Pflicht wahrhaft zu sein, als aus Besorgnis der nachteiligen Folgen« (Grundlegung, 87

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S. 22). Um zu entscheiden, ob es moralisch richtig ist, ein falsches Versprechen abzugeben, muss ich lediglich überlegen, ob die Maxime, sich durch falsche Versprechen aus Schwierigkeiten zu befreien, als ein allgemeines Gesetz gelten könne. Wenn ich entscheide, dass ich ausschließlich falsche Versprechungen machen werde, um Schwierigkeiten zu entgehen, denen ich nicht anders entgehen könnte, dann begründe ich das als eine Maxime nicht nur für mich, sondern für alle und jeden. Faktisch erkläre ich damit, dass jeder zu falschen Versprechungen greifen kann, sooft es ihm passt. Das Problem dabei ist, wie Kant klarmacht, dass »ich zwar die Lüge, aber ein allgemeines Gesetz zu lügen gar nicht wollen könne; denn nach einem solchen würde es eigentlich gar kein Versprechen geben« (Grundlegung, S. 22). Durch ein solches Gesetz könnte ich keinem Menschen je ein Versprechen geben, weil keiner meinen Versicherungen Glauben schenken würde, und kein Mensch könnte mir je ein Versprechen geben, weil ich seinen Versicherungen unmöglich Glauben schenken könnte. Eine Maxime, sich durch falsche Versprechungen aus der Affäre zu ziehen, kann nicht als ein allgemeines Gesetz gelten, kann unmöglich als ein allgemeines Gesetz gewollt werden, denn sobald es allgemeines Gesetz wäre, würde es sich zwangsläufig selbst abschaffen, dadurch dass es die Praxis des Versprechens insgesamt abschaffen würde. Daher sind falsche Versprechungen unmoralisch. Fassen wir zusammen: Kant zufolge soll man ausschließlich nach Maximen handeln – eine Maxime ist ein allgemeines Prinzip, das die eigenen Handlungen begründet –, von denen man wollen kann, dass sie allgemeines Gesetz werden. So kann etwa eine Maxime, sich durch falsche Versprechen aus der Affäre zu ziehen, nicht ebenso als ein allgemeines Gesetz gewollt sein, wie etwa eine Maxime, sich an Versprechungen zu halten, als ein allgemeines Gesetz gewollt sein kann. Dass jeder jederzeit die Wahrheit sagen kann, ist möglich, nicht hingegen, dass jeder jederzeit lügen kann. Es gibt noch einen anderen Aspekt an Kants Sittenlehre, der sich wie folgt darstellen lässt: Wenn ich einen anderen Menschen 88

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belüge oder ihm ein falsches Versprechen gebe, wenn ich ihn bestehle, ihm Gewalt zufüge oder ihn ermorde, dann benutze ich ihn, mache ihn zum Werkzeug meiner eigenen Ziele und Zwecke, statt ihn als ein freies Wesen zu achten, das seine eigenen Ziele und Zwecke hat. Kantisch gesprochen behandle ich ihn als bloßes Mittel, statt als Zweck an sich selbst. Halte ich mich im Umgang mit anderen Menschen an den kategorischen Imperativ, d. h., handle ich ausschließlich nach verallgemeinerungsfähigen Maximen, so ist gesichert, dass ich andere immer als Selbstzweck achte und sie unter keinen Umständen als bloße Mittel zu meinen eigenen Zwecken gebrauche. Natürlich benutzen wir uns alle gegenseitig als Mittel. Ich benutze den Busfahrer als Mittel, um zu den Läden in der Stadt zu kommen, und er benutzt mich, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, diese Abmachung aber beruht auf beiderseitigem Einverständnis. Beide Parteien haben aus freien Stücken in sie eingewilligt oder sollten es freiwillig getan haben. Ich habe den Busfahrer als Mittel benutzt, jedoch nicht als ein bloßes Mittel. Ich habe nicht seine Freiheit oder sein Selbstbestimmungsrecht missachtet, was dann der Fall wäre, wenn ich einfach keinen Fahrschein lösen oder ihn vor dem Aussteigen überfallen würde. Kant sah ein Reich der Zwecke voraus, eine Welt, in der sich die Menschen gegenseitig niemals als bloße Mittel benutzen und sich untereinander stets als freie und rationale Selbstzwecke achten würden. Aus Kants Sicht wäre dies der moralische Idealzustand. Wenn man bedenkt, wie die meisten Menschen sind oder immer gewesen sind – habgierig, eigennützig, betrügerisch –, scheint dieser Zustand auf ewig unerreichbar. Dennoch ist er logisch möglich, ein ferner Traum, nach dessen Erfüllung wir gleichwohl trachten sollten. In gewisser Weise tun wir dies jedes Mal, wenn wir uns im Umgang mit anderen Menschen an das oberste moralische Prinzip des kategorischen Imperativs halten. Moralisch handeln heißt für Kant, in logischer Übereinstimmung mit dem rationalen Prinzip des kategorischen Imperativs zu handeln. Interessanterweise hört der Mensch für Kant nur und erst dann auf, der Naturkausalität vollständig zu unterliegen und 89

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ein bloßer Spielball seiner Begierden zu sein, wenn er in Übereinstimmung mit diesem rationalen Prinzip, diesem Grundsatz handelt. Allein durch pflichtbewusstes Handeln nach dem kategorischen Imperativ könne er sich über die Kausalordnung der Natur erheben und über das eigene Tun bestimmen. Für Kant heißt Freiheit nicht, zu tun und zu lassen, was man will, sondern das zu tun, was moralisch richtig ist – das heißt, nach dem kategorischen Imperativ zu handeln. Freiheit könne unmöglich darin bestehen, dass man tue, wozu man Lust habe, weil man dann der Sklave seiner eigenen Begierden wäre. Freiheit sei rationale Selbstbestimmung. Kants großer Nachfolger Hegel erkennt in der Geschichte die fortschreitende Entwicklung der menschlichen Vernunft zur vollkommenen Rationalität. Wie zuvor bereits ausgeführt (siehe Zitat 10, Hegel), hat Hegels künftiger Menschheitszustand der Vollkommenheit gewisse Parallelen mit Kants Reich der Zwecke, wo ein jeder und eine jede immer in völliger Übereinstimmung mit allgemeinen moralischen Prinzipien vollkommen rational handelt.

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Kant Die unbedingte Notwendigkeit der Urteile aber ist nicht eine absolute Notwendigkeit der Sachen. (Immanuel Kant Kritik der reinen Vernunft, S. 568. Erstveröffentlichung 1781)

Um den Sinn dieses kleinen Juwels aus der Feder Kants vollständig erfassen zu können, müssen sie unbedingt die Ausführungen zu Zitat 2 und Anselm gelesen haben. Anselm wartet mit dem ontologischen Argument für die Existenz Gottes auf, und was Kant hier sagt, ist eine Zusammenfassung seiner klassischen Widerlegung dieses Arguments. Erinnern wir uns: Dem ontologischen Argument zufolge muss Gott, weil er dasjenige ist, über das hinaus nichts Größeres ge90

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dacht werden kann, wirklich existieren, da ein Gott, den es wirklich gibt, größer ist als ein Gott, der nur als Idee oder Begriff besteht. Als ein Wesen, das seiner Definition nach über sämtliche positive Eigenschaften verfügt, muss Gott auch die Eigenschaft der Existenz zukommen. Kurz gesagt schließt die eigentliche Idee von Gott seine Existenz ein. Kant war der größte in einer langen Reihe von Philosophen, die das ontologische Argument zu Fall brachten. Der erste war der französische Benediktinermönch Gaunilo von Marmoutiers (11. Jahrhundert n. Chr.), ein Zeitgenosse Anselms. Zur Vorbereitung von Kants Widerlegung und um sie historisch einordnen zu können, lohnt ein Blick auf das, was Gaunilo sagte. In seiner kurzen Abhandlung Was ein Namenloser anstelle des Toren darauf erwidern könnte sucht Gaunilo das ontologische Argument durch den Nachweis ad absurdum zu führen, dass es zu lächerlichen Ergebnissen führt, wenn man es in anderen Zusammenhängen anwendet. Er demonstriert das am Beispiel der vollkommenen Insel. Eine in Wirklichkeit existierende vollkommene Insel sei vollkommener als eine lediglich als Vorstellung oder Begriff existierende Insel, denn sie besitze zusätzlich die positive Eigenschaft der Existenz. Darum müsse es die vollkommenste Insel – die per definitionem eine Insel sei, die sich aller Vollkommenheiten erfreue – wirklich geben. Das Absurde an dieser Argumentation besteht Gaunilo zufolge darin, dass sie die Möglichkeit unterstellt, die Existenz jeder nur denkbaren Sache zu beweisen, sofern sie nur als vollkommen angenommen wird – oder in der Tat die Unmöglichkeit, sich irgendetwas Vollkommenes als nichtseiend zu denken. Natürlich aber sei es möglich, sich die vollkommene Insel als nichtseiend zu denken, und die Verneinung ihrer Existenz bedeute auch keineswegs einen Widerspruch. Die Existenz oder Nichtexistenz der vollkommenen Insel könne allein empirisch ermittelt werden, nicht auf logischem Wege. Gaunilo sandte Anselm seine Kritik zu, der auch gebührend darauf eingegangen ist. In seiner Erwiderung stimmt Anselm zu, dass es absurd sei, das ontologische Argument zum Beweis der 91

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Existenz einer vollkommenen Insel oder irgendeiner anderen irdischen Sache verwenden zu wollen. Das ontologische Argument trifft seiner entschiedenen Auffassung nach ausschließlich auf die Vorstellung oder den Begriff von Gott zu und funktioniere nur als Beweis von dessen Existenz. Denn Gott allein sei ein per definitionem notwendiges Seiendes, ein ewiges Wesen, das in seiner Existenz von keinem anderen Seienden abhänge, ein Wesen, dessen Quintessenz darin bestehe, zu sein. Alles andere sei bloß kontingentes Sein, das nicht existieren müsse und das sich widerspruchsfrei als nichtseiend denken lasse. Gaunilo hat Anselm nie wirklich zu fassen bekommen, dennoch war er auf der richtigen Spur.Viele Jahrhunderte vergingen, ehe Kant und andere in vollem Umfang aufdecken konnten, was mit dem ontologischen Argument nicht stimmt, und klar darzulegen vermochten – was Sie wahrscheinlich schon vermuten, aber vielleicht nicht ganz genau benennen könnten –, dass Anselm die Existenz dessen, was er eigentlich beweisen will, auf die eine oder andere Weise bereits voraussetzt und beharrlich behauptet. In unserem Eingangszitat aus der Kritik der reinen Vernunft, das einem Abschnitt über die Unmöglichkeit eines ontologischen Gottesbeweises entnommen ist, gibt Kant zu verstehen, dass logische Notwendigkeit als die Notwendigkeit im Bereich der logischen Urteile nicht das Gleiche ist wie die Notwendigkeit in der Realität. Nur weil in einer logischen Aussage eine Sache eine andere Sache logisch impliziert, heißt das nicht, dass die implizierte Sache in Wirklichkeit existieren muss. Nehmen wir die Aussage: »Die vollkommene Insel hat eine vollkommene Küste.« Das ist notwendig wahr in dem Sinne, dass ein Widerspruch besteht, wenn man sagt: »Die vollkommene Insel hat keine vollkommene Küste.« Wie könnte die vollkommene Insel vollkommen sein, wenn sie eine Küste hätte, die nicht vollkommen wäre? Es gehört ohne Frage zum eigentlichen Begriff der vollkommenen Insel, dass sie eine vollkommene Küste hat. Nichts davon lässt jedoch zwingend darauf schließen, dass es irgendwo im Universum tatsächlich eine vollkommene Insel gäbe. Auch wenn der Satz: »Die vollkommene Insel hat eine vollkommene Küste« 92

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notwendigerweise wahr ist und ebenso zwingend zutrifft, wie der Satz: »Die vollkommene Insel hat keine vollkommene Küste« einen Widerspruch darstellt, besteht kein Widerspruch, wenn wir den gesamten Satz verwerfen. Dass die vollkommene Insel logisch betrachtet eine vollkommene Küste haben muss, heißt nicht, dass es die vollkommene Insel auch tatsächlich gibt. Der Ausdruck »Gott« bedeutet: »ein Wesen, das über sämtliche positive Eigenschaften verfügt«. »Gott« bedeutet per definitionem: »ein Wesen, das allmächtig, allwissend, allgegenwärtig usw. ist«. Darum besteht ein Widerspruch, wenn man sagt: »Gott ist ein Wesen, das nicht über sämtliche positiven Eigenschaften verfügt.« Wie könnte ein Gottesbegriff ein Gottesbegriff sein, wenn es sich dabei um den Begriff eines Wesens handelte, dem in irgendeiner Form etwas fehlte? Es gehört zum eigentlichen Begriff von Gott, dass er über sämtliche positive Eigenschaften verfügt, eingeschlossen die der Existenz. Die Existenz ist ein wesentliches Merkmal des Gottesbegriffs. Nichts davon lässt jedoch zwingend darauf schließen, dass Gott auch in Wirklichkeit existiert. Die Existenz gehört so eng zum Begriff Gottes, dass die Aussage: »Gott gibt es nicht« einen Widerspruch darstellt. Doch, wie Kant argumentiert, besteht kein Widerspruch, wenn wir die gesamte Aussage verwerfen, genau wie kein Widerspruch mehr bestand, als wir die gesamte widersprüchliche Aussage über die vollkommene Insel verwarfen, die keine vollkommene Küste habe. Kants zentraler Punkt ist der, dass das ontologische Argument von der ganz richtigen Aussage, dass manche Begriffe andere Begriffe logisch implizieren – wie der Begriff der vollkommenen Insel den einer vollkommenen Küste –, in einem unzulässigen Schritt zu der ganz falschen Aussage gelangt, dass es zumindest einen Begriff gibt, der die Existenz einer bestimmten Sache logisch impliziert. Dass es möglich ist, von einem Begriff auf einen anderen zu schließen, heißt nicht, dass es je möglich ist, von dem Begriff einer Sache auf deren Existenz zu schließen. Die Existenz von etwas muss in allen Fällen empirisch festgestellt werden. 93

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In der Wissenschaft ist es mitunter so, dass die Existenz und das Verhalten bekannter Dinge deutliche Hinweise auf die Existenz von etwas bislang Unbekannten liefern, noch bevor man weiß, dass es existiert. Seine Existenz wird hypothetisch angenommen und als solches bezeichnet man es als hypothetische Entität. So wurde etwa die Existenz des Planeten Neptun aufgrund von »Unregelmäßigkeiten« in der Bahn des Uranus vorhergesagt, bevor man Neptun wirklich beobachtete. Oder nehmen wir das Beispiel des Higgs-Bosons. Hier lieferten die Existenz und das Verhalten anderer Elementarteilchen Hinweise auf die Existenz dieses masseverleihenden Gottesteilchens, noch bevor es tatsächlich gefunden wurde. Anders als man vielleicht denken könnte, haben wir es hier nicht mit Fällen zu tun, in denen von der Vorstellung oder dem Begriff einer Sache auf ihre Existenz geschlossen wird, sondern vielmehr mit Fällen des Schließens von der Existenz gewisser Dinge auf die Existenz von etwas anderem, ohne das sich deren Verhalten nicht erklären lässt. Das Entscheidende ist: Kein Physiker behauptete zu wissen, dass es das Higgs-Boson gibt, bis es mit empirischen Mitteln gefunden wurde, durch den Bau eines Teilchenbeschleunigers, des Large Hadron Collider, in einem 27 km langen Tunnel in der Nähe von Genf, der 7,5 Milliarden Euro verschlang. Wenn statt Physikern Metaphysiker oder Theologen die Leitung am CERN innehätten, würden sie sich all die Kosten und Mühen sparen. Sie würden einfach allein aufgrund der Logik behaupten, dass es das HiggsBoson gebe. Doch die Logik allein kann mit dieser Art von Erkenntnis selbstverständlich nicht dienen.

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Keats Denn flieht nicht aller Zauber vor der Tücke Philosophischer Denkungsart? Da war einmal Ein Regenbogen hehr am Himmelssaal: Jetzt kennt man sein Gewebe, seinen Bau, Die Wissenschaft erklärte ihn genau Und rubrizierte ihn wie andre Dinge. Philosophie wirft ihre kecke Schlinge Um Engelsschwingen und um Zauberpracht In Luft und Bergesschoß und Meeresnacht, Zerreißt die Wunder, zerlegt den Regenbogen … (John Keats Lamia, Zweiter Teil, in John Keats Gedichte, übers. von Gisela Etzel (1910), S. 117–127. Gedicht verfasst 1819).

Es gibt eine ganze Menge Philosophie in diesen wundervollen und philosophiekritischen Zeilen des gefeierten englischen Dichters der Romantik, John Keats (1795–1821). Darum entschuldige ich mich nicht für ihre Aufnahme in dieses Buch, für die Tollkühnheit, einen Dichter aufzunehmen. John Keats wurde im Londoner Moorgate als ältestes der überlebenden Kinder eines Stallmeisters geboren. Seine Familie war zwar nicht arm, verfügte allerdings über keine größeren Mittel – es gab etwas Geld auf der Seite seiner Mutter –, die dennoch reichten, um ihn auf die John Clark’s School in Enfield schicken zu können. Clark’s war eine kleine Schule mit freundlicher Atmosphäre und einem fortschrittlichen Lehrplan. Keats spezialisierte sich dort auf klassische Literatur und Geschichte, die später seine Dichtung prägten. Mit vierzehn hatte er bereits beide Eltern verloren, seine Mutter durch Tuberkulose, die bei ihnen in der Familie lag. Sie hinterließ ihm eine ansehnliche Summe zur treuhänderischen Verwaltung bis zu seinem 21. Lebensjahr, von der er nichts wusste und die er nie erhielt. Andernfalls hätte sie ihn von den finanziellen Sorgen befreit, von denen er dauernd geplagt war und die zu seinem frühen Tod beitrugen. Unter großen Kosten ließ Keats sich zum Arzt ausbilden, 95

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fühlte sich jedoch immer stärker von der Medizin weg zur Dichtung hingezogen. Sein erstes Gedicht veröffentlichte er 1816, und zu Beginn des folgenden Jahres gab er seine medizinische Laufbahn auf. Sein erster Gedichtband, der im selben Jahr herauskam, fiel zwar beim Publikum durch, gefiel aber einigen einflussreichen Leuten des literarischen Establishments. Diese erkannten sein Genie und beschlossen, ihn zu fördern und zu unterstützen. Keats verkehrte fortan in einem Kreis von Schriftstellern und Dichtern, zu dem auch William Hazlitt (1778–1830), Samuel Taylor Coleridge (1772–1834) und Percy Bysshe Shelley (1792–1822) gehörten. Trotz oder vielleicht gerade wegen seiner sich verschlechternden Gesundheit erlebte er noch außerordentlich kreative Jahre, mit dem Höhepunkt des annus mirabilis von 1819, in dem Keats mehrere seiner größten Gedichte verfasste, darunter die Ode An den Herbst und Lamia. Dazu angehalten, sich ein wärmeres, trockeneres Klima für seine schlimmer werdende Tuberkulose zu suchen, machte er sich Mitte September 1820 nach Italien auf. Durch eine Reihe unglücklicher Umstände erreichte er seinen eigentlichen Zielort Rom erst Mitte November. Am 23. Februar 1821 ging sein kurzes, aber bemerkenswert ausgefülltes Leben zu Ende. Zusammen mit Lord Byron (1788–1824) und Shelley bildete Keats das Dreigestirn der zweiten Generation der romantischen englischen Dichtung. Der Nachwelt gilt er bis heute als einer der ganz Großen der englischen Literatur und zugleich als die urbildliche Verkörperung der romantischen Dichterpersönlichkeit: nachdenklich und feinfühlig, leidenschaftlich und tragisch, und ewig jung. Keats ist eine Zentralgestalt der Romantik, einer breiten Bewegung von Schriftstellern, Dichtern, Künstlern und Philosophen, die ihre Hochzeit im ausgehenden 18. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte und enorm auf die westliche Zivilisation ausstrahlte. Dieser Wirkung und der Genialität ihrer unterschiedlichen künstlerischen und geistigen Schöpfungen verdankt sie es, dass sie kulturell immer noch sehr einflussreich ist. Wie ihr Name schon vermuten lässt, setzt sie auf 96

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Subjektivität, Gefühl und Leidenschaft statt auf Objektivität, Denken und Vernunft, betont den besonderen Wert von Kunst, Vorstellungskraft und Ästhetik gegenüber Logik, Mathematik, Wissenschaft und dem Geist der Sachlichkeit. Die Romantik feierte die Individualität, sie pries die Freiheit und den persönlichen Ausdruck, während sie dem Kollektiven und allen Formen gesellschaftlicher Hierarchie und Anpassung misstrauisch und kritisch gegenüberstand. Menschlichen Fortschritt setzte sie nicht mit technischer Entwicklung oder industriellem Wachstum gleich, sondern mit künstlerischer und ästhetischer Verfeinerung, mit kultureller und moralischer Weiterentwicklung. Als eine weitgehend radikale und revolutionäre künstlerische Bewegung fasziniert und inspiriert sie immer noch viele Menschen, von Hippies bis zu Existenzialisten, von Goths bis zu Umweltschützern. Die Romantiker gaben der hehren Anerkennung der erhabenen, ungezähmten und furchterregenden Natur den Vorzug vor allen Werken des Menschen. Sie erkannten freilich, dass Erhabenheit – die Eigenschaft, großartig zu sein – auch mit künstlerischen Mitteln zu verwirklichen sei – idealerweise in der Form eines erhabenen Gedichts oder Gemäldes, das die Erhabenheit der Natur selbst noch unterstreicht. Das archetypische Beispiel für das romantische Gedicht ist die von Samuel Taylor Coleridge 1789 unter Opiumeinfluss verfasste Ballade Der alte Seemann, die durch die bewusste Untergrabung des formalen und maßvollen Klassizismus solcher Dichter wie John Dryden (1631–1700) und Alexander Pope (1688–1744) den Beginn der britischen romantischen Literatur markiert. Das archetypische Beispiel für ein romantisches Gemälde ist Der Wanderer über dem Nebelmeer (1818) von Caspar David Friedrich (1774–1840). Es zeigt einen einsamen jungen Mann auf der Spitze eines schroffen Felsens, der über eine erhabene, bergige und nebelverhangene Landschaft blickt. Er beherrscht die Szenerie, doch er wird von ihr auch in den Schatten gestellt – für die Romantik besteht darin das grundlegende Dilemma des Menschen. 97

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Die Romantik war in vielerlei Hinsicht eine Reaktion auf die vermehrte Reglementierung und Mechanisierung der menschlichen Welt im Zuge der industriellen Revolution, die Mitte des 18. Jahrhunderts begonnen hatte. Die Romantiker sahen in der Industrierevolution nicht nur eine Kraft, die die Natur – allemal in ästhetischer Hinsicht – zu vernichten drohte, sondern auch eine Kraft, die den Menschen von der Natur entfernte. Daher romantisierten sie das bäuerliche Landleben, sogar das mittelalterliche, und machten daraus etwas Idyllisches und Edles, statt es als das zu sehen, was es zumindest für den durchschnittlichen Bauern war, ein beengtes Dasein in bedrückender Armut. Es herrschte auch die Vorstellung, dass sich der wissenschaftliche und technische Eingriff des Menschen in die Natur und seine allgemeine Respektlosigkeit ihr gegenüber verheerend auswirken würden. Ihren berühmtesten Niederschlag fand diese Ahnung in Mary Shelleys (1797–1851) Schauerroman Frankenstein oder der moderne Prometheus von 1818, in dem ein Mensch einen künstlichen Menschen erschafft und die Folgen davon erleiden muss, Gott gespielt zu haben. Gott spielende Wissenschaftler haben uns seitdem atomkriegstaugliche Nuklearwaffen und Umweltkatastrophen beschert, folglich lagen die Romantiker mit ihren Kassandrarufen in vieler Hinsicht richtig. Auf der anderen Seite hat uns die Wissenschaft außerordentliche medizinische Fortschritte und einen beispiellosen Komfort beschert; vorläufig zumindest. Die Wissenschaft ist eine zweischneidige Sache. Die Romantik ist Teil der Reaktion der westlichen Welt auf den »Tod Gottes« (siehe Zitat 25, Nietzsche), auf den Verlust der voraufklärerischen Vorstellung, nach der sich der Mensch im Zentrum eines Universums befindet, das von einem höchsten moralischen Wesen geschaffen wurde und gelenkt wird. Die Romantik ist der geistige und künstlerische Ausdruck der Erregung wie der Sorge, die diese Reaktion kennzeichnen. Einerseits warnt sie vor den Gefahren, die von Menschen ausgehen, die es Gott gleichtun wollen und die Natur zu beherrschen versuchen usw. Auf der anderen Seite betrachtet sie den Tod Gottes als riesige Befreiung. Die Menschen dürften nun nach ihren Vorstellungen 98

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handeln, dürften ihren Willen geltend machen, ihre eigenen Werte schaffen, um selber Götter zu werden, wofür der Philosoph Friedrich Nietzsche plädiert. Die Zeilen, die unser Eingangszitat umfasst, zählen zu den bekanntesten im ganzen Werk von Keats und bestimmt in seinem Erzählendgedicht Lamia. Lamia ist ein mythisches Mischwesen, oberhalb der Hüfte Frau, unterhalb davon Schlange. Der griechische Gott Hermes begegnet Lamia auf seiner Suche nach der schönsten Nymphe, die es auf der Welt gibt. Lamia hilft Hermes, sie zu finden, und zur Belohnung macht er sie äußerlich ganz zur Frau und verleiht ihr eine schöne Gestalt. Sie verlobt sich mit einem jungen Korinther namens Lycius, auf ihrer Hochzeitsfeier jedoch löst sie sich in nichts auf, als der Philosoph Apollonius dahinterkommt, was sie wirklich ist. Das Gedicht ist zweifellos reich an Fantasie und voll der Mythen, die die romantischen Dichter mit ihren überhitzten Empfindungen und Vorstellungen lieben, und die die Philosophen mit ihrer kühlen Vernunft und strengen Logik angeblich verachten. Das muss nicht bedeuten, dass Philosophen generell im Leben auf das Gefühl und die Imagination herabsehen. In ihrer Eigenschaft als Philosophen aber begreifen sie, dass diese Dinge sich mit einer kompromisslosen und nüchternen, hellsichtigen und leidenschaftslosen Wahrheitssuche schlecht vertragen. Ein wahrer Philosoph sollte sich immer davor hüten, irgendwelchen Dingen Glauben zu schenken, die seiner Vorstellung und Sentimentalität entspringen, nur weil sie seine Ängste beschwichtigen und seine Wünsche befriedigen. Um Philosoph zu sein, muss man immer nach der Wahrheit suchen: kompromisslos und um ihrer selbst willen, egal, was sie kostet und wie sie aussehen mag, sei sie auch noch so hart und unsentimental. Darum sagt Keats ganz zu Recht, dass die Philosophie Regenbögen zerlegt, und bei »Philosophie« denkt er an alle rationalen Bestrebungen, insbesondere an die Wissenschaft. Der einst »hehr am Himmelssaal« (Lamia, 123) stehende Regenbogen ist wissenschaftlich betrachtet weißes Sonnenlicht, das in feinen Regentropfen reflektiert und gebrochen wird und so ein Spektrum ent99

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stehen lässt. Aus Keats Sicht holt dieses wissenschaftliche Zerlegen und Analysieren den Regenbogen vom Himmel und macht aus ihm etwas Gewöhnliches, das keine Ehrfurcht mehr einzuflößen vermag. Wissenschaftler und Philosophen erkennen zwar an, nicht alles zu wissen, dennoch wissen sie genug, um sagen zu können, dass es weder Engel noch Geister oder Gnome gibt und dass dergleichen mit einem kohärenten, rationalen und wissenschaftlichen Weltverständnis vollkommen unvereinbar ist. Sie sich vorzustellen mag reizvoll und spannend sein, doch jenseits der Vorstellung sind sie nichts, weil es, womöglich zu unserem Bedauern, empirisch auszuschließen ist, dass es sie in der physikalischen Wirklichkeit gibt. Und so »flieht aller Zauber vor der Tücke philosophischer Denkungsart« (Lamia, 123). In dem Gedicht flieht Lamias Zauber, als der Philosoph Apollonius sie unbarmherzig mustert – »mit Brauenrunzeln blickte er sie an, / zwang ihren süßen Stolz in seinen Bann« (Lamia, 124) – und dabei entdeckt, dass sie in Wirklichkeit keine wunderschöne Frau, sondern eine Schlange in Frauengestalt ist: »Und nicht mehr schön und jung und liebereich / saß Lamia da – erstarrt und totenbleich« (Lamia, 125) Die Botschaft ist unmissverständlich: »Der Philosoph und Kahlkopf« (Lamia, 124) mit seinem »Blick […] wie scharfes Eisen« (Lamia, 125) trägt die Schuld am Zerbrechen einer herrlichen Illusion. Er ist verantwortlich dafür, dass Lycius und die Hochzeitsgäste die nackte Wahrheit über Lamia erfahren haben. Der Philosoph ist es, der die Liebesgeschichte zerstört, der die Party sprengt mit seiner Enthüllung einer unangenehmen und unliebsamen Wahrheit. Doch wie die meisten unliebsamen Wahrheiten, ist auch diese wichtig. Apollonius deckt sie auf, weil er Lycius vor einem Geschöpf retten will, bei dem es sich im Grunde um einen Räuber handelt: »Vor allem Übel schützt’ ich dich bis heute – / Und ließe einer Schlange dich zur Beute?« (Lamia, 125). Unglücklicherweise stirbt Lycius bald nach Lamias Verschwinden an gebrochenem Herzen. 100

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Außerhalb von Romantikgedichten, im richtigen Leben, wo es keine Schlangenfrauen gibt, könnte nur das Umgekehrte geschehen. Ein Philosoph oder Wissenschaftler könnte einen Mann, der in einer Frau eine Schlangenfrau erkennen will, davon zu überzeugen versuchen, dass dieser bloß eine Halluzination hat, die womöglich auf eine Krankheit schließen lässt oder auf den Konsum von Drogen. Interessanterweise würde die Existenz von Schlangenfrauen gegen kein Gesetz der Logik verstoßen. Folglich kann man sagen, dass Schlangenfrauen logisch möglich sind. Das ist freilich kein irgendwie gearteter Hinweis darauf, dass es sie wirklich gibt. Es spricht wissenschaftlich nichts dafür, dass es sie wirklich gibt, und innerhalb der natürlichen Lebensordnung, die sich auf der Erde herausgebildet hat, sind sie allem Anschein nach empirisch unmöglich. In den Weiten des Weltraums aber gibt es vielleicht einen Planeten, wo sich solche Kreaturen entwickelt haben oder von superintelligenten verrückten Wissenschaftlern gentechnisch entwickelt worden sind. Als Dichter mit entsprechendem Hang zur Übertreibung übertreibt Keats wohl auch das Ausmaß, in dem die nüchterne Philosophie das Leben zurechtstutzt, dadurch dass sie ihm das Ehrfurchtgebietende und Geheimnisvolle entreißt. Keats’ Kritiker, allen voran Richard Dawkins (geboren 1941) in seinem Buch Der entzauberte Regenbogen (1998), vertreten die Auffassung, dass Philosophie und Wissenschaft den Menschen genauso gut, wenn nicht besser, mit Ehrfurcht und Staunen über die erhabene Schönheit und großartige Komplexität des Universums zu erfüllen vermögen, wie die Dichtung es kann. Philosophie und Wissenschaft würden die wahre Schönheit der Natur nicht zerstören, sondern überhaupt erst zum Vorschein bringen. Dasselbe gelte für die Schönheit und Erhabenheit der Abläufe in der Natur und den frappierenden Zusammenhang aller Phänomene untereinander, der physischen und der gedanklichen. Wie ein Philosoph, der die Romantiker inspirierte und nicht minder kränkte, 1788 schrieb:

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Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir. (Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 215)

Gleichwohl muss man natürlich sagen, dass Keats einen wichtigen Punkt trifft. Und das nicht zuletzt deshalb, weil die nüchterne Philosophie allen Geheimnissen dadurch auf den Grund zu gehen sucht, dass sie sie auflöst. Sie will uns unsere Hirngespinste austreiben, uns von unseren Verwirrungen befreien und sie will all jene lächerlichen Gnome aus der Höhle der Unwissenheit hinauf in das klare Licht der Vernunft jagen (was die originale Höhle der Unwissenheit angeht, die ohne Gnome, verweise ich Sie auf die Ausführungen zu Zitat 31 und Platon). In dem grellen Licht dann will sie diese winzigen Erdgeister aus Magie und Alchemie unromantisch in tausend kleine Stücke schlagen – mit dem mächtigsten Werkzeug, das es gibt: dem Vorschlaghammer der eiskalten, knallharten Logik.

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Kierkegaard So ist die Angst der Schwindel der Freiheit. (Søren Kierkegaard, Der Begriff Angst, S. 64. Erstveröffentlichung des dän. Originals 1844)

Søren Aabye Kierkegaard (1813–55) wurde als eines von sieben Kindern in eine wohlhabende Familie in Kopenhagen geboren. Er studierte Theologie an der hiesigen Universität, wo er seine radikalen Ansichten zum Christentum und zur Lage des Menschen auszubilden begann. 1841 löste Kierkegaard bekanntlich seine Verlobung mit Regine Olsen, um sich ganz der Philosophie zuzuwenden, und in den verbleibenden Jahren seines bewegten, vergleichsweise kurzen Lebens verfasste er eine große Zahl phi102

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losophischer und theologischer Schriften, die er häufig unter Pseudonym herausbrachte und die im Laufe der Zeit sowohl den Existenzialismus als auch die moderne protestantische Theologie inspirierten. Zu den bedeutendsten Werken zählen Entweder–Oder (1843), Furcht und Zittern (1843), Der Begriff Angst (1844) und Die Krankheit zum Tode (1849).Viele der zentralen Themen und Begriffe des Existenzialismus – Freiheit, Entscheidung, Verantwortung, Angst, Verzweiflung, Absurdität – haben ihren Ursprung in den Schriften Kierkegaards, und es trifft sicher zu, dass der Existenzialismus genauso stark in Kierkegaards Christentum verwurzelt ist wie in dem »Gott ist tot«-Atheismus Arthur Schopenhauers (1788–1860) und Friedrich Nietzsches (siehe Zitat 25, Nietzsche). Wenngleich er Christ war, war Kierkegaard alles andere als ein gehorsames Glied der christlichen Herde, das ihr bereitwillig überall hin folgte. Er war in höchstem Grade ein Eigenbrötler und Sonderling, der sich ständig im Widerspruch zu den orthodoxen christlichen Ansichten im Allgemeinen und speziell zur dänischen Staatskirche befand. Die Radikalität, die er dem Christentum gegenüber an den Tag legte, seine Ansichten über den Glauben und die religiöse Verpflichtung und seine Ablehnung einer rationalistischen Sicht auf das religiöse Leben machen ihn zu einem wahren Existenzialisten. Kierkegaard (dessen Name in der dänischen Umgangssprache Kirchhof bzw. Friedhof bedeutet) starb mit gerade einmal 42 Jahren im Kopenhagener Frederiks-Krankenhaus, möglicherweise an einem Wirbelsäulenleiden, das er sich in seiner Jugend bei einem Sturz von einem Baum zugezogen hatte. Seine Beerdigung fand unter großer Anteilnahme seiner Anhänger statt, die gegen die Staatskirche Protest erhoben, weil sie ihr das Recht absprachen, sich des Körpers eines Mannes zu bemächtigen oder über ihm Reden zu führen, der so vehement Stellung gegen sie bezogen hatte. Kierkegaard wandte sich gegen Hegels Idealismus, dessen Hauptaugenmerk auf große, abstrakte Geschichtsprozesse gerichtet war und nicht auf den einzelnen, konkreten Menschen (siehe 103

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Zitat 10). In Abgrenzung zu Hegel entwickelte Kierkegaard eine Philosophie des Einzelnen, der sich selbst nicht in erster Linie als Teil der Geschichte erfährt, sondern als einen freien angstvollen Sterblichen, der in seinem Dasein keinen Zweck zu entdecken vermag. Kierkegaard erkannte, dass Angst und Grauen zentrale Bestandteile des menschlichen Daseins sind, wie es von jedem mit Bewusstsein begabten Wesen über die Jahre gelebt und erlitten wird. Darum könne man sehr viel von der Lage des Menschen und seinem existenziellen In-der-Welt-Sein verstehen, wenn man die Angst verstehe und begreife, was es eigentlich mit ihr auf sich habe. Zunächst müsse die Angst klar von der Furcht unterschieden werden, wenn sie mit ihr auch auf verschiedene Weise zusammenhänge. In Der Begriff Angst vertritt Kierkegaard die Auffassung, dass Furcht Beunruhigung ist über das von außen Bedrohende, über die unzähligen Bedrohungen für Leib und Leben, für das Auskommen und das Glück. Angst hingegen sei Beunruhigung über das gleichsam von innen Bedrohende. Ein Mensch, der sich ängstigt, sei darüber beunruhigt, was er tun, wozu er sich entscheiden werde, angesichts seiner grenzenlosen Freiheit, sich tatsächlich dazu entscheiden zu können. Er sei beunruhigt von seiner Freiheit und Spontaneität, von dem Bewusstsein, dass ihn gar nichts davon abhalten könne, sich zur Ausführung einer närrischen, schädlichen oder schäbigen Tat zu entschließen, außer seinem Entschluss, seiner Freiheit, sie nicht auszuführen. Sich ängstigen heißt nach Kierkegaard, von seiner eigenen Freiheit bestürzt und schwindelig werden, mit Sorge und Unruhe zu erkennen, dass man eigentlich immer und in jeder Situation viele Optionen hat und sich für die eine oder die andere davon entscheiden muss (siehe auch Zitat 8, de Beauvoir, und Zitat 37, Sartre). Diesem Schwindel der Freiheit kommt man mit dem als Vertigo bezeichneten Schwindelgefühl am nächsten – nah genug jedenfalls, dass uns das richtige Verständnis dieses Schwindelgefühls den Sinn unseres Eingangszitats vollständig erfassen lässt. 104

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In Der Begriff Angst wählt Kierkegaard das Beispiel eines Mannes, der an der Kante eines hohen Gebäudes oder am Rand einer Klippe steht. Der Mann fürchtet, er könnte über den Rand fallen, das Sicherheitsgeländer oder der Boden könnte nachgeben, jemand könnte ihn hinunterstoßen usw. Doch größer als seine Furcht zu fallen sei seine Angst, dass er sich zum Springen entschließen könnte, dass es in seiner Freiheit liege zu springen, wenn er sich dafür entscheide, dass sein Nichtspringen ein Entschluss sei, nicht zu springen, zu dessen Aufgabe er sich in jedem Moment entschließen könnte, um schließlich doch zu springen. Kierkegaard zufolge erfährt er seine Angst, die Bedrohung durch seine eigene Freiheit, als Schwindelgefühl, als überwältigenden Taumel. Der Sturz verfolgt ihn, das Nichts lockt ihn nach unten, so Kierkegaard weiter. In Wahrheit aber sei es seine eigene Freiheit, die ihn nach unten locke, eben die Tatsache, dass er sich jederzeit dazu entschließen könne, den schnellsten Weg nach unten zu nehmen. Das Schwindelgefühl ist die große Angst vor dieser erschreckenden und permanenten Möglichkeit, und alle unsere erschreckenden Möglichkeiten versetzen uns in einen psychischen Zustand, der dem Schwindelgefühl verwandt ist. Kein Wunder also, dass Sartre, der stark von Kierkegaard beeinflusst war, die Angst, die uns immer dann befällt, wenn wir uns auf etwas Gefährliches einlassen, »Schwindel der Möglichkeiten« nennt (Die Transzendenz des Ego, S. 87). Was jemanden ängstigt, der einem senkrechten Sturz ins Auge sieht, sei nicht das Nichts, das sich gleich nach dem Schutzgeländer unter ihm auftut, sondern dass ihm letzendlich ein inneres psychisches Schutzgeländer fehle, das ihn vor dem Entschluss bewahren könnte, über das physische Schutzgeländer zu klettern und in den Tod zu springen. Wenn es von außen betrachtet scheine, als gelte seine Angst dem Nichts selbst, so liege das daran, dass sein lebendiges Bewusstsein des Nichts ihn zwinge, seinen furchtbaren Möglichkeiten, seiner furchtbaren Freiheit, im Zusammenhang mit ihm ins Angesicht zu blicken. Das Nichts, so Sartre, ist der Anlass seiner Angst, nicht ihr Ursprung. 105

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Wenn der Mann nun aber glaube, er habe ein innerlich fest verankertes psychisches Schutzgeländer, das ihn von dem Entschluss zu springen abhalten würde, so täusche er sich. Denn egal, über welche psychische Schranke er auch verfüge, sie sei bloß eine schwache Konstruktion seiner Freiheit. Sartre zufolge besteht sie aus nichts weiter als dem Entschluss, nicht zu springen – ein Entschluss, den er nach Belieben aufgeben und jederzeit durch einen selbstzerstörerischen Entschluss ersetzen könne. Seine Angst sei eben sein Bewusstsein davon, wie einfach und leicht er die von ihm getroffenen Selbstbestimmungen, von denen er sich wünschen würde, dass sie ihn permanent binden, umgrenzen, erhalten und schützen, kippen könne. Wenn Ihnen all das abwegig erscheint, sollten Sie daran denken, dass sich Menschen immer wieder entschlossen und auf unterschiedliche Weise selbst zerstören! Die schwachen psychischen Schutzgeländer, die wir aus unserer Freiheit heraus ständig in unserem Innern errichten, helfen uns tatsächlich, auf dem rechten Weg zu bleiben. Wir bemühen uns nach Kräften, uns selbst zu überzeugen, dass diese Schutzgeländer wirklich sind und für sich bestehen, dass wir es bei ihnen mit Eigenschaften unserer umsichtigen Persönlichkeit oder unseres von Natur aus vorsichtigen Wesens zu tun haben. Sie dienen als Schutzgeländer gegen die Angst im Allgemeinen, als beruhigender Schein, den die Freiheit erzeugt, um sich selbst nicht so schonungslos betrachten zu müssen, wie sie es sonst vielleicht müsste. Wenn ein Mann am Rande einer Klippe sich auf seinen natürlichen Überlebenswillen verlässt – oder das, was er gern dafür halten möchte –, dann verdrängt er dabei den Gedanken, dass es in seiner eigenen Freiheit liegt, zu springen, und weicht damit der Angst aus, die diesen Gedanken begleitet. All diese Ablenkungsund Ausweichmanöver, all dieses Vertrauen auf innere Schutzgeländer, freiheitsbegrenzende Faktoren und unveränderliche Persönlichkeitseigenschaften, bezeichnen die Existenzphilosophen als Unwahrhaftigkeit (siehe Zitat 8, de Beauvoir, und Zitat 11, Heidegger). Obwohl sie die Unwahrhaftigkeit in aller Regel 106

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verachten, nämlich als Verleugnung unserer wahren, freien Natur, so scheint doch ein gewisses Maß an Unwahrhaftigkeit unerlässlich zu sein, wenn man sich in seiner Haut weiter wohlfühlen will, und auch, um geistig gesund zu bleiben. Das Beispiel der sich ängstigenden Person auf dem hohen Gebäude bzw. der Klippe ist in existenzialistischen Kreisen sehr bekannt geworden, nicht zuletzt deshalb, weil verschiedene Existenzphilosophen, die nach Kierkegaard kamen, es aufgegriffen und neu formuliert haben, allen voran Sartre. Dieser gibt dem Beispiel Kierkegaards dadurch eine spezielle Note, dass er sich vorstellt, wie er selbst einen schmalen Pfad an einem Abhang entlanggeht, wo es kein Schutzgeländer gibt (Das Sein und das Nichts, S. 93 ff.). Sartre zufolge ist sein Schwindelgefühl zwar keine Furcht vor dem Fallen, kündige sich aber dennoch unmittelbar durch Furcht an – darin nämlich, dass er sich alle die Umstände vergegenwärtigt, die seinen Sturz über den Rand zur Folge haben könnten. Er beginnt mit Ausweichmanövern. Er bleibt so weit wie möglich weg vom Rand und passt auf, wo er seine Füße hinsetzt. Er richtet sein Verhalten danz darauf aus, zu überleben. Indem er dies tut, wird ihm beim Weitergehen allerdings immer klarer, dass er es immer aufs Neue tun muss, ohne sicher davon ausgehen zu können, dass er auch weiterhin so handeln wird. Schnell steigt in ihm die Angst auf, Angst vor dem, was er tun wird, vor dem, der er sein wird. Was, wenn er die Konzentration verliert oder zu laufen anfängt? Was, wenn sein künftiges Selbst dem Überleben plötzlich keine Bedeutung mehr beimisst und stattdessen entscheidet, den Schritt ins Nichts zu tun? Dies, so Sartre, ist möglich, und es ist sein Grauen vor dieser Möglichkeit, das Grauen vor seinem künftigen Selbst und seiner eigenen Unfähigkeit, über dessen Entscheidungen zu bestimmen, das ihn schaudern lässt, in Angst versetzt, in einen Schwindel der Freiheit stürzt.

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Leibniz Gott hat von allen möglichen Welten die beste ausgewählt. Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Theodizee: Abhandlung über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels, 2. Teil, 168, S. 233. Erstveröffentlichung 1710.

Noch als Junge verschlang der in Leipzig geborene Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), was die umfangreiche Bibliothek zu bieten hatte, die von seinem Vater, einem Professor für Moralphilosophie an der Leipziger Universität, als Erbe auf ihn übergegangen war. Noch als Jugendlicher machte er an der gleichen Universität einen Abschluss in Philosophie. Er erlangte eine Zulassung, als Anwalt zu praktizieren, wurde stattdessen aber Alchimist und studierte in Paris unter Anleitung von Christiaan Huygens (1629–95) Physik und Mathematik. Dann hatte er eine Reihe von Gerichtsämtern inne, und die ganze Zeit über pflegte er Umgang mit den seinerzeit bedeutendsten Philosophen, Mathematikern und Wissenschaftlern. Leibniz wurde ein großer Universalgelehrter, ein Fachmann in allen zur damaligen Zeit wichtigen Wissenszweigen. Heute kennt man ihn in erster Linie als Philosophen, aber auch als jemanden, der über Themengebiete wie Geschichte, Politik und Medizin schrieb, dazu war er ein herausragender Mathematiker und Naturwissenschaftler. Er erfand den formalen Kalkül, eine zentrale Teildisziplin der Mathematik, etwa zur selben Zeit wie Isaac Newton (1643–1727), und bis heute ist heftig umstritten, wer von beiden tatsächlich als Erster darauf kam. Man nannte ihn den »Aristoteles der modernen Zeit«, und er ist sicherlich einer von ganz wenigen Philosophen in der Geschichte, die es mit dem griechischen Meister an Bedeutung annähernd aufnehmen konnten. Leibniz’ Auffassung, Gott habe »von allen möglichen Welten die beste ausgewählt«, ist seine kühne Antwort auf das Problem des Übels; ein Problem, das im Zusammenhang mit Mackie (Zitat 22) eingehend erörtert wird. Grundsätzlich geht es bei dem Problem des Übels um die Frage, wie sich die Existenz eines all108

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mächtigen und allguten Gottes mit der Existenz des Bösen und dem Leiden in der Welt vereinbaren lässt. Aus welchem Grund würde ein solcher Gott Böses zulassen? Theodizee ist der Name, den Leibniz allen Bemühungen um eine befriedigende Klärung dieser Frage – jedem Versuch, die Wege Gottes zum Menschen zu rechtfertigen – gegeben hat. Leibniz’ berühmter Leitsatz steht fraglos in völligem Widerspruch zum vollkommen Offensichtlichen. Diese Welt ist voller Übel und Leid und ist mit Sicherheit nicht die beste, die man sich vorstellen kann. Ein Unglück jagt das andere und das Leben ist voller Schmerz, Grausamkeit und Enttäuschung. Gerade erst hat ein Taifun die Philippinen verwüstet und dabei Tausende von Menschen in den Tod gerissen und Millionen obdachlos gemacht. Wie ich sagte, war Leibniz kein Narr, und keineswegs blind gegenüber den Weltläufen. Dessen ungeachtet wagte er die Behauptung, dass es aus unserer beschränkten Perspektive nur so scheint, als gäbe es Übel auf der Welt. Wenn wir die Welt sehen könnten, wie Gott sie sieht, aus dem Blickwinkel der Ewigkeit, wenn wir Gottes geheimnisvolle Wege verstehen könnten, dann würden wir verstehen, dass ausnahmslos alles, was auf der Welt geschieht, wie schrecklich es uns auch vorkommen mag, aus einem guten Grund geschieht. Leibniz bietet zwei Hauptargumente für die Existenz eines allmächtigen, ganz und gar guten Gottes. Erstens argumentiert er, dass es für alles grundsätzlich eine Erklärung gibt, sei sie bekannt oder nicht. Dies ist sein Prinzip des zureichenden Grundes. Diesem zufolge muss der Grund für die Existenz des Universums, weil er sich innerhalb seiner nicht finden lässt, außerhalb von ihm liegen. Es müsse irgendein Wesen geben, das der Grund für die Existenz des Universums sei, ein Wesen, das, um existieren zu können, keinen weiteren Grund nötig habe. Dieses vollkommen zureichende Wesen sei Gott. Zweitens argumentiert er, dass das Universum kontingent ist, d. h. keine notwendige Existenz hat. Darum müsse der Grund für seine Existenz in irgendetwas außerhalb von ihm liegen, das nicht kontingent, sondern notwendig sei. Dies ist sein Argument aus 109

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der Kontingenz des Universums. Diese beiden eng zusammenhängenden kosmologischen Argumente für die Existenz Gottes ähneln denen von Thomas von Aquin (siehe Zitat 3). Leibniz’ Auffassung nach muss ein eigenständiges notwendiges Wesen, das zur Erschaffung des Universums imstande war, maximal groß sein. Es müsse das größte Wesen sein, das es überhaupt geben könne und alle Vollkommenheiten umfassen, einschließlich vollkommener Macht und vollkommener Güte. Folglich habe und würde es keine Welt erschaffen, die nur mehr oder weniger vollkommen sei und zu der es auch nur eine bessere gäbe. Wer dem nicht folgen wolle und Gott die Erschaffung einer nicht vollkommenen Welt zutraue, der urteile aus einer beschränkten Perspektive und dessen Verständnis bleibe begrenzt. In Bekräftigung seiner Ansicht, dass es sich bei dieser Welt um die beste aller möglichen Welten handelt, argumentiert Leibniz, dass alles, was auf ihr geschieht, von Gott am Beginn der Zeit geplant worden sei. Im Zentrum von Leibniz’ ausgefallener Metaphysik stehen Entitäten, die er Monaden nennt. Diese seien von Gott am Beginn der Zeit geschaffen worden. Bei ihnen haben wir es nicht mit physischen, als vielmehr mit logischen Atomen zu tun, aus denen heraus sich die gesamte Wirklichkeit entfalten würde. Sie sind gewissermaßen die Grundelemente, die Bits und Bytes von Gottes großem Computerprogramm, und das Universum ist das laufende Resultat davon. Dieses Programm – um in dem Bild zu bleiben – ist so vollkommen, dass Gott sich nie mehr darum zu kümmern braucht. Leibniz zufolge funktioniert jede Monade perfekt nach der durch Gott prästabilierten Harmonie, jede tue, was sie zur Entfaltung ihrer Facette der Wirklichkeit tun müsse, ohne mit einer anderen Monade in Berührung zu kommen. Monaden kommunizieren nicht miteinander und sie wirken auch nicht aufeinander ein. Sie sind, wie Leibniz in seiner Monadologie (1714) sagt, fensterlos. Die Kausalität ist seiner Auffassung nach also nur Schein, da nichts im Universum wirklich auf irgendetwas anderes einwirkt. So ist es beispielsweise nicht mein Gedanke, den Arm zu heben, der ihn sich heben lässt. Dass diese 110

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beiden Ereignisse zusammen auftreten bzw. eines unmittelbar vor dem anderen, geht Leibniz zufolge vollständig auf die prästabilierte Harmonie zurück. Diese Harmonisierung von Geistigem und Physischem, die keinen Platz lässt für irgendein Element von Kausalität, ist als psychophysischer Parallelismus bekannt, und sie ist Leibniz’ Methode, das cartesianische Problem des Zusammenspiels von Geist und Körper zu bewältigen bzw. zu umgehen (siehe auch Zitat 9, Descartes, und Zitat 35, Ryle). Was immer auch geschieht, wie zufällig, unerwünscht und gegenstandslos es uns auch scheinen mag, in Wahrheit sei es von Gott am Beginn der Zeit vorherbestimmt worden und ein notwendiger Bestandteil seines großes Plans und seiner Absichten. Wie ich sagte, ist das Universum für Leibniz insofern kontingent, als es zwar die Schöpfung eines notwendigen Wesens, an sich aber keine Notwendigkeit darstelle. Dennoch sei alles, was im Universum geschehe, ein notwendiges und zwangsläufiges Resultat des großartigen und vollkommenen Designs seines Schöpfers, ein Ergebnis der Tatsache, dass Gott die beste aller möglichen Welten ausgewählt habe. Könnten wir Gottes unendlichen Geist und Willen kennen, was wir nicht können, wüssten wir, dass alles zum Besten geschieht. Die Implikationen von Leibniz’ wunderbarer und ausgefallener Metaphysik sind enorm. Dass diese unsere Welt die beste aller möglichen Welten sei, ist bloß eine davon, das Fehlen von Kausalität eine andere. Eine weitere besteht darin, dass wir keinen wirklich freien Willen besitzen. Wenn jede Einzelheit des Universums, einschließlich meiner eigenen Handlungen, das laufende Resultat von Gottes ausgeklügeltem großen Plan darstellt, dann ist es undenkbar, dass ich eine andere Entscheidung hätte treffen können als die, die ich angeblich selbst getroffen habe. Leibniz’ Ideen hatten einen immensen Einfluss auf alle Denker, die nach ihm kamen, selbst auf jene, die seine Ansichten ganz und gar nicht teilten. Die tiefgreifenden Implikationen seiner Metaphysik werden auch weiterhin noch viel diskutiert und regen zu wichtigen Fragen und Reaktionen an im Umkreis der Debatten über Wirklichkeit, Kausalität und den freien Willen. 111

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Ein Denker, der Leibniz’ These von »der besten aller möglichen Welten« ganz und gar nicht teilen konnte, ist Voltaire (siehe Zitat 38). Wenngleich Voltaire an Gott glaubte, hielt er es für völlig absurd zu behaupten, dass sich zu dieser keine bessere Welt denken lasse. Genauso absurd fand er sicher auch die Vorstellung, dass die angeblich beste Welt wenig oder keinen Trost bereithalten soll angesichts der sehr realen Härten und Nöte des Lebens. Bekanntlich hat Voltaire in seiner philosophischen Novelle Candide oder der Optimismus (1759) Leibniz’ These satirisch verspottet. Während Candide durch das schreckliche Leid, das er miterlebt und selbst erleidet, zunehmend desillusioniert ist, wird sein Mentor, der absurde, idealistische und immer optimistische Anhänger der leibnizschen Philosophie, Dr. Pangloß, nicht müde ihn daran zu erinnern, »dass alles zum Besten steht«, in der besten aller möglichen Welten (Candide, S. 10).

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Locke Die Ideen der primären Qualitäten der Körper [Gegenstände] sind Ebenbilder der letzteren und ihre Urbilder existieren in den Körpern selbst real, während die durch die sekundären Qualitäten in uns erzeugten Ideen mit den Körpern überhaupt keine Ähnlichkeit aufweisen. In den Körpern selbst existiert nichts, was unsern Ideen gliche. (John Locke Versuch über den menschlichen Verstand, Zweites Buch, Kap.VIII, § 15, S. 150. Erstveröffentlichung des engl. Originals 1690)

Bei John Locke (1632–1704) haben wir es nicht nur mit dem größten aller englischen Philosophen zu tun, sondern auch mit einer der wichtigsten Gestalten in der Geschichte des Denkens. Als eine Hauptfigur der Aufklärung leiteten seine Ideen die Entstehung eines neuen philosophischen, wissenschaftlichen und politischen Zeitalters maßgeblich mit ein. 112

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Geboren in Wrington in der Grafschaft Somerset, ging Locke auf Kosten eines wohlhabenden Freundes seines Vaters auf die renommierte Westminster School, später besuchte er das Church College in Oxford. Der Lehrplan dort war von der klassischen Philosophie dominiert, Lockes unbändige Neugier veranlasste ihn jedoch bald, sich im Selbststudium zudem noch die modernen Philosophen anzueignen, z. B. Descartes. Obwohl Locke einer der Gründungsväter des Empirismus wurde, einer entschieden gegen den metaphysischen Rationalismus gerichteten Philosophie, der im Kern des Cartesianismus liegt, eröffnete ihm Descartes den großen Nutzen der wissenschaftlichen Skepsis, alles anzuzweifeln und in Frage zu stellen und sich nichts sicher zu sein (siehe Zitat 9, Descartes). Locke interessierte sich zunehmend für die Medizin und die »experimentelle Philosophie«, die dabei war, sie zu revolutionieren. Als bereits hochqualifizierter Philosoph erwarb er 1674 den Grad eines Bakkalaureus der Medizin. Er verkehrte mit den großen Begründern der modernen Wissenschaft rund um die 1660 gegründete Royal Society, Personen wie Robert Boyle (1627–91) und Robert Hocke (1635–1703). 1668 trat er der Königlichen Gesellschaft selbst bei. Seine gründlichen Kenntnisse nicht nur der Philosophie, sondern auch der seinerzeit rasch aufkommenden Wissenschaften und der für sie grundlegenden empirischen Methode, ermöglichten ihm die Abfassung seines bahnbrechenden philosophischen Traktats Versuch über den menschlichen Verstand. Als vehementer Vertreter der Aufklärung musste Locke überall seine Hände im Spiel haben. Es genügte ihm nicht, die Entwicklung der Philosophie und der Wissenschaft maßgeblich mit voranzutreiben, er verfasste auch wichtige Beiträge zu Politik, Ökonomie und Pädagogik. Sein Interesse an diesen Bereichen wuchs durch seine Verbindung mit Anthony Ashley Cooper, dem ersten Earl of Shaftesbury, einem prominenten Politiker des Interregnums und Gründer der Whig-Partei. Locke wurde Shaftesburys Leibarzt und trug seinen Teil dazu bei, dass der Earl von einer lebensbedrohlichen Leberinfektion geheilt wurde – 113

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eine gute Tat, für die ihm dieser immer dankbar blieb. 1689 veröffentlichte Locke seine Zwei Abhandlungen über die Regierung, welche die Ausgestaltung der Verfassung der Vereinigten Staaten entscheidend mitprägten. Wir alle leben in interessanten Zeiten, Locke aber stand im Zentrum eines äußerst bemerkenswerten Zeitalters. Er erlebte nicht nur den englischen Bürgerkrieg, das Interregnum, die Stuart-Restauration, die große Pest und das große Feuer von London, er war auch ein würdiger Zeitgenosse anderer großer Engländer wie Isaac Newton und Thomas Hobbes – den führenden Köpfen der vielleicht größten geistigen, wissenschaftlichen und politischen Revolution in der Geschichte. Den Mittelpunkt von Lockes Empirismus bildet seine Absage an die Vorstellung von angeborenen Ideen. Im Widerspruch zum kontinentalen Rationalismus eines Leibniz oder Descartes behauptet Locke, bei der Geburt sei der Geist eine tabula rasa, eine leere Tafel, die erst von der empirischen Sinneserfahrung beschrieben werde. Dieses Prinzip steht auch im Mittelpunkt der Philosophie von Lockes berühmtem Anhänger David Hume (siehe Zitat 14). Locke zufolge wissen wir nichts, was wir uns nicht durch unsere Sinneserfahrung der Außenwelt angeeignet haben. Unsere Erfahrung der Welt sei allerdings keine passive Erfahrung. Wir nehmen die Welt nicht einfach wahr, wie sie ist, so als wären etwa unsere Augen bloß Fenster zur Welt. Locke weist die Auffassung, die schließlich als direkter oder naiver Realismus bekannt wurde und nach der die Welt an sich genau so ist, wie sie uns erscheint, zugunsten derjenigen Ansicht zurück, die schließlich als indirekter oder repräsentationaler Realismus bekannt wurde und nach der das, was wir wahrnehmen, eine Repräsentation oder Version des Draußen ist (siehe auch Zitat 33, Protagoras). Durch Hume und dann durch Kant hat diese grundlegende Theorie der Wahrnehmung – der Locke in Form seiner berühmten Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärqualitäten Ausdruck gibt – unser Verständnis der Beziehung zwischen Geist und Welt weiter erschüttert. 114

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Anders als noch ein weiterer seiner Zeitgenossen, nämlich George Berkeley, sagt Locke nicht, dass es sich bei unserer Erfahrung der Welt um ein ganz und gar geistiges Konstrukt handelt (siehe Zitat 5, Berkeley). Locke ist Realist, kein Idealist. Er glaubt, dass es da draußen eine physisch-materielle, von unserem Geist unabhängige Welt gibt. Die Primärqualitäten oder -eigenschaften der Gegenstände, wie Ausdehnung, Gestalt, Festigkeit, Zahl und Bewegung, müssen in etwas gründen, das sie trägt, einer substantia, einer Basis oder Substanz, »was dem eigentlichen Wortsinn nach […] das Darunterstehende oder das Emporhaltende bedeutet« (Versuch über den menschlichen Verstand, Zweites Buch, Kap. XXIII, § 2, S. 367). Verschiedentlich setzt Locke die Substanz mit winzigen Partikeln gleich, die er Korpuskel nennt. Hier kommen augenscheinlich seine wissenschaftlichen Interessen ins Spiel. Diverse Verbesserungen der Mikroskope – die Antonie van Leeuwenhoek (1632–1723), einem weiteren von Lockes Zeitgenossen zu verdanken sind – brachten die Partikelstruktur der Dinge ans Licht. Lockes Korpuskeln lassen sich als ein theoretischer Vorläufer der Atome betrachten. Die Primäreigenschaften gehören unabhängig von uns zu den Gegenständen selbst. Wie Locke in unserem Eingangszitat sagt, »existieren sie in [ihnen] selbst real«. Die Sekundäreigenschaften Farbe, Geschmack, Geruch und Klang hingegen existieren nicht in den Gegenständen selbst. Sie sind in uns, so Locke, oder genauer gesagt in unserer Beziehung zum Gegenstand. Sekundäreigenschaften gehören zu unserer Wahrnehmung der Gegenstände und nicht zu diesen selbst. Etwas an der Atomstruktur des Blutes sorge dafür, dass ich es bei normalen Lichtverhältnissen als rot sehe, es sei jedoch nicht an sich rot. Bei vollständiger Dunkelheit oder wenn es von niemandem wahrgenommen würde, sei es nicht rot. Die Behauptung, dass sekundäre Eigenschaften solche der Wahrnehmung sind, deckt sich völlig mit der Theorie, wonach das, was wir wahrnehmen, was wir Augenblick für Augenblick erfahren, also unsere Alltagswelt, eine Erscheinung oder Reprä115

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sentation der Wirklichkeit ist, und eben nicht die Wirklichkeit selbst. In einem anderen Sinne kann man sagen, dass die Erscheinung oder Repräsentation für uns die Wirklichkeit ist, schließlich können wir die Außenwelt nicht anders wahrnehmen denn als eine Repräsentation. Es ist die Repräsentation, mit der wir ständig umgehen müssen, und mit der allein wir auf der praktischen Ebene überhaupt umgehen können. Kant, der erst zwanzig Jahre nach Lockes Tod geboren wurde, vertritt die Auffassung, dass der Geist die Sinneswahrnehmungen strukturiert und so eine Welt »konstruiert«, in der die Dinge für uns Bedeutung haben und in der wir handeln können. Dank Lockes Primär/sekundär-Unterscheidung können wir eine entschlossene Antwort auf die altehrwürdige Baum-Frage geben: »Wenn in einem Wald ein Baum umfällt und niemand in der Nähe ist, macht er dann ein Geräusch?« Lockes Antwort darauf wäre ein unmissverständliches Nein. Etwas an der Atomstruktur des Baumes und seiner Umgebung sorgt dafür, dass ein Mensch mit intaktem Hörvermögen, der sich in der Nähe befindet, ein krachendes, splitterndes Geräusch hört, wenn der Baum umfällt. Ein fallender Baum aber macht kein eigentliches Geräusch. Er gibt kein Geräusch ab, wenn niemand da ist, um es wahrnehmen zu können. Sein Fallen ruft Vibrationen in der Luft hervor, Vibrationen allein machen jedoch noch kein Geräusch. Dafür braucht es ein Ensemble von Vibrationen, funktionstüchtige Ohren und Bewusstsein. Warum? Weil Klang eine Sekundärqualität ist, eine Eigenschaft unserer Beziehung mit der Außenwelt, keine Primäreigenschaft der Außenwelt an sich.

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Mackie Wenn es keine logische Unmöglichkeit darstellt, dass der Mensch sich bei einer oder bei vielen Gelegenheiten aus freiem Willen für das Gute entscheidet, kann es nicht logisch unmöglich sein, dass er sich bei jeder Gelegenheit aus freiem Willen für das Gute entscheidet. Gott stand folglich nicht vor der Entscheidung, entweder unschuldige Automaten zu erschaffen oder Wesen, die in ihrer Handlungsfreiheit hin und wieder etwas falsch machen: Ihm stand die deutlich bessere Möglichkeit offen, Wesen zu erschaffen, die nicht nur aus Freiheit handeln, sondern sich dabei auch immer für den richtigen Weg entscheiden würden. Dass er es versäumt hat, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, verträgt sich mit seiner Allmacht natürlich ebenso wenig wie mit seiner vollkommenen Güte. (J. L. Mackie, »Evil and Omnipotence« in Mind 1955, S. 209)

John Lesley Mackie (1917–81) oder J. L., wie er genannt wurde, ist der einzige australische Philosoph in unserer Reihe – aber bitte, keine Monty-Python-Witze. Geboren in Sydney, nahm Mackie an der dortigen Universität ein Philosophiestudium auf, das er 1938 abschloss. Aufgrund seiner Leistungen bekam er ein Stipendium für das Oriel College in Oxford, wo er in den Greats (römische und griechische Geschichte und Philosophie) seinen Abschluss machte. Nach seinem Kriegsdienst im Zweiten Weltkrieg hatte er eine Reihe von Dozentenstellen und angesehenen Philosophie-Professuren inne, zunächst in Australien und Neuseeland, dann in England. An der Universität von York lehrte er von 1963 bis zu seinem Wechsel ans University College nach Oxford im Jahre 1967. Mackie ist zur bekanntesten Gestalt der australischen analytischen Schule geworden, einer Schule, die sich der Gewinnung von Klarheit und Genauigkeit im philosophischen Diskurs verschrieben hatte und daher besonders an der Philosophie der Sprache interessiert war. Wie die meisten Philosophen der analytischen Tradition des 20. Jahrhunderts hat sich auch Mackie eingehend 117

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mit Sprachphilosophie befasst und viel darüber geschrieben. Sehr oft aber verwendete er seine analytischen Fähigkeiten auch auf Themen der Moral- und Religionsphilosophie. Sein bekanntestes Werk Ethik. Die Erfindung des moralisch Richtigen und Falschen (1977) ist Pflichtlektüre für alle Studierenden, die sich mit moralphilosophischen Fragen auseinandersetzen wollen. Unser Eingangszitat, das Mackies einflussreichem Beitrag »Evil and Omnipotence« entnommen ist, demonstriert seine brillant einfache Zerstörung der Verteidigung der Willensfreiheit, einer uralten Antwort auf das Problem des Übels. Vermutlich sind Sie dem Problem des Übels selbst schon mal begegnet.Wenn Menschen davon hören, dass unschuldige Kinder bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind, oder wenn sie Bilder von Kriegsgräueln und Völkermord sehen, dann fragen sie oft, warum Gott das nicht verhindert habe, wenn er doch allmächtig und vollkommen gut sei, wie es immer heiße. Manchen Menschen liefert die Existenz des Bösen und des Leids auf der Welt den schlichten Beweis, dass es einen solchen Gott unmöglich geben könne. Andere sind bemüht, die Existenz eines solchen Gottes und die Existenz von Bösem und Leid miteinander in Einklang zu bringen. Für eine äußerst interessante Erwiderung auf das Problem des Übels verweise ich Sie auf Leibniz und die Ausführungen zu Zitat 20. Das Problem des Übels wird häufig so abgesteckt: 1. Gott ist allmächtig. 2. Gott ist allgut. 3. Es gibt Böses und Leid auf der Welt. In dieser Form stellt sich das Problem als ein logisches dar. Es scheint logisch unmöglich zu sein, dass alle drei Aussagen gleichzeitig zutreffen. Die Aussagen 1 und 2 werden aufgrund des Glaubens, der Bibel, aufgrund von Indoktrination oder Argumentation als wahr betrachtet und stehen für Theisten außer Zweifel. Von Aussage 3 weiß man aufgrund empirischer Beobachtung, dass sie wahr ist. Ihre Unvereinbarkeit lässt sich wie folgt klarmachen: Wenn 1 118

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und 3 wahr sind, kann 2 unmöglich wahr sein. Ein allmächtiger Gott verfügt über die Fähigkeit, Schlimmes zu verhindern. Dass er es nicht verhindert, muss seinen Grund darin haben, dass er nicht vollkommen gut ist und es folglich auch nicht sein will. Wenn 2 und 3 wahr sind, kann 1 unmöglich wahr sein. Ein durch und durch guter Gott würde Schlimmes verhindern wollen. Dass er es nicht verhindert, muss seinen Grund darin haben, dass ihm die Macht dazu fehlt. Diese beiden Alternativen sind für Theisten unannehmbar, weil für sie die Existenz eines allmächtigen, allguten Gottes etwas Unumstößliches darstellt, an dem sich nicht rütteln lässt. Aus ihrer Sicht muss eine Möglichkeit gefunden werden, wie alle drei Aussagen als wahr gelten können. Aussage 3 müsse mit 1 und 2 in Einklang gebracht werden, ohne diese in irgendeiner Form abzuschwächen. Aussage 3 müsse vor dem Hintergrund von 1 und 2 gerechtfertigt werden. Jede solche Rechtfertigung oder versuchte Rechtfertigung nennt man Theodizee. Bevor wir die als Verteidigung der Willensfreiheit bekannte Theodizee betrachten sowie Mackies Gegenargument, müssen wir zwei Typen von Übeln voneinander abgrenzen: natürliche und moralische. Natürliche Übel schließen alles das Leid ein, das von natürlichen Phänomenen verursacht ist, für die Menschen keine Verantwortung tragen: Vulkane, Erdbeben, Tsunamis, Krankheiten, hohes Alter und der natürliche Tod. Moralische Übel schließen alles das Leid ein, das von menschlichen Handlungen verursacht ist, für die Menschen die Verantwortung tragen. Darunter fällt also jedes Übel, das von den sieben Todsünden herrührt, und all die hässlichen, boshaften und egoistischen Dinge, die Menschen einander antun. Die Unterscheidung zwischen natürlichen und moralischen Übeln macht ganz sicher irgendwie Sinn und wir können uns alle etwas darunter vorstellen. Dennoch ist sie nicht vollkommen trennscharf. Natürliche Übel, die so genannten Naturkatastrophen, können in vielen Fällen von moralischen Übeln verursacht sein oder von ihnen zumindest verschärft werden. So mag beispielsweise eine bestimmte Hungersnot wie eine totale Natur119

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katastrophe wirken, hervorgerufen von Dürre und Seuchen, bei näherem Hinsehen aber stellt sich heraus, dass die Auswirkungen von Krieg und Korruption bei der Nahrungsmittelverteilung hauptverantwortlich dafür sind. Die Unterscheidung ist nützlich, doch jeder Fall von Übel und Leid muss für sich beurteilt werden, um entscheiden zu können, ob es sich bei ihm um einen Fall von natürlichem oder von moralischem Übel handelt. Oft ist es eine Mischung aus beidem. Die Verteidigung der Willensfreiheit betrifft das Problem des moralischen Übels. Es gibt noch eine andere, das Problem des natürlichen Übels behandelnde Theodizee, die irenäische Theodizee, die ich hier aber nicht erörtern will. Die Verteidigung des freien Willens reicht bis auf den 354 n. Chr. geborenen heiligen Augustinus zurück. Moderne Christen sagen gern, das Böse sei ein Mangel an Gott. Hinter dieser Behauptung stecken augustinische Gedanken. Für Augustinus ist das Böse keine Substanz, nichts Gottgeschaffenes, sondern vielmehr eine Entbehrung oder ein Mangel in einer Substanz. Krankheit zum Beispiel sei nichts aus eigener Kraft Existierendes, sondern vielmehr ein Mangel an Gesundheit. Indem sie mit Augustinus behaupten, dass das Böse nicht von Gott, sondern vielmehr von seiner Schöpfung ausgehe, versuchen die modernen Theisten, Gott grundlegend von dem Bösen zu trennen und zu zeigen, wie beides gleichzeitig »sein« könne. Um nicht länger auf der Unmöglichkeit ihrer Koexistenz bestehen zu müssen, wird statuiert, dass Gott auf eine ganz und gar positive Weise sei, das Böse hingegen auf eine gänzlich negative, verneinende Weise »existiere« als ein Mangel an Sein. Die Frage bleibt allerdings, warum Gott als der Allmächtige die Schöpfung nicht insgesamt gegen das Verderben gesichert habe. Dazu sagt Augustinus, dass Gott das Universum ex nihilo erschaffen habe und nicht ex deo – aus dem Nichts und nicht aus Gott. Hätte Gott das Universum aus sich selbst erschaffen, würde es sich nicht ernsthaft von ihm unterscheiden. Als Teil von ihm würde es seine Vollkommenheit bewahren, allerdings würde ihm auch jede echte Gegenständlichkeit oder Autonomie fehlen. 120

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Indem er das Universum ex nihilo erschuf, habe Gott ein wirklich unabhängiges Universum hervorgebracht. Ein Universum, das zwar von einem vollkommenen Wesen nach einem Ideal der Vollkommenheit erschaffen, aber andererseits auch eines sei, in dem jedes einzelne Wesen auf verderbliche Abwege geraten könne. Für Augustinus sind Engel und Menschen – die höchsten empfindungsfähigen Wesen – aufgrund ihres freien Willens verdorbene Geschöpfe. Obwohl sie von einem vollkommenen Wesen erschaffen seien, könnten sie sich gegen ihren Schöpfer entscheiden, weil der ihnen einen freien Willen mitgegeben habe. Dennoch seien sie wegen ihres freien Willens viel großartigere Geschöpfe, ein viel großartigerer Ausdruck von Gottes schöpferischem Genie, als wenn sie bloße Marionetten wären, die sich dem Willen Gottes nicht widersetzen könnten. Der Grund, aus dem Adam und Eva aus dem Garten Eden in die Leidenswelt vertrieben wurden (Genesis 3,15–19), war ihre Ursünde: dass sie aus freien Stücken der Versuchung nachgegeben und das getan haben, was ihnen von Gott verboten worden war, nämlich vom Baum der Erkenntnis zu essen. Der EdenMythos soll zeigen, dass all das Übel, das die Menschheit plagt, das natürliche genauso wie das moralische, vom Menschen und seiner Wahl herrührt, nicht von Gott. Wie die Bibel betont, ist die Sünde ganz allein Folge der menschlichen Willensfreiheit. Wenn wir der Versuchung nachgeben und Böses tun, dann weil wir uns dazu entschlossen haben. Aus christlicher Sicht tragen wir allein die Schuld, sind nur wir verantwortlich. Wenn Gott eingreifen würde, um uns vor dem Sündigen zu bewahren, wozu er, falls er seiner Definition entsprechend existiert, mit Sicherheit die Macht hätte, könnte er das nur dadurch tun, dass er uns den freien Willen nimmt und uns zu vollkommen gesitteten Automaten reduziert. Er könnte es nur dadurch tun, dass er uns viel geringer macht, als wir sind, nur dadurch, dass er den freien Willen, der uns wesensmäßig ausmacht, aus der Welt schafft. Mackies brillant einfacher Einwand gegen die Verteidigung 121

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des freien Willens ist der, dass wirklich freie Wesen, die sich immer für das Gute entscheiden, logisch möglich sind. Dass sich Menschen immer für das Gleiche entscheiden, heiße nicht, dass sie nicht frei seien. Ihre Freiheit bestehe nicht darin, dass sie sich manchmal für das Gegenteil entscheiden, sondern darin, dass sie sich für das Gegenteil hätten entscheiden können, auch wenn sie sich entschlossen haben, es nicht zu tun. Um frei zu sein, müsse der Mensch nicht notwendig manchmal das Gute und manchmal wieder das Böse wählen. Er könnte frei sein und immer nur das Gute wählen, genauso wie er frei sein und immer nur das Böse wählen könnte. Demnach hätte Gott also Menschen erschaffen können, die immer das Gute wählen. Das habe er aber nicht. Dass er es nicht getan habe, passe nicht mit der Behauptung zusammen, wonach er allgut und allmächtig sei. Mackies scheinbar harmloses kleines Argument reißt ein fraglos großes Loch in die renommierte und uralte Verteidigung des freien Willens. Die modernen Theisten haben in ihrer Verzweiflung bestimmt nichts unversucht gelassen, um dieses Loch durch ausgeklügelte Argumente zu verstopfen. Ob allerdings erfolgreich, sei dahingestellt.

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Marx Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks. (Karl Marx Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. MEW, 1, S. 378. Erstveröffentlichung 1843)

Lange bevor sie großartige Autos produzierten, produzierten die Deutschen großartige Philosophie. Karl Marx (1818–83), unverkennbar durch seinen großen Vollbart, kam sozusagen von einem Fließband, von dem in weniger als 200 Jahren bereits Leibniz, Kant, Hegel und Schopenhauer gelaufen waren. 122

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Marx, der Ahnherr so vieler politischer Revolutionen, wurde in eine wohlhabende und achtbare jüdische Familie der Mittelschicht in Trier geboren. Er studierte in Bonn und Berlin, wo er eine ausgesprochene Faszination für die Ideen Hegels entwickelte, insbesondere für Hegels Geschichtstheorie (siehe Zitat 10). Hegel zufolge wird die Geschichte von Ideen vorangetrieben und nähert sich mit ihrer Entwicklung dem Zustand vollkommener Rationalität. Marx, wie es oft heißt, stellte Hegel auf den Kopf. Er verwarf dessen Idealismus zugunsten eines dialektischen Materialismus, nach dem die Geschichte von der Entwicklung der Materie durch den Menschen und des Menschen durch die Materie vorangetrieben wird. Einfach ausgedrückt: Der Mensch wirkt mit den ihm verfügbaren Mitteln – die er sich in der Vergangenheit verschafft hat – auf die materielle Welt ein, um neue Gegenstände, Werkzeuge und Technologien hervorzubringen. Diese neuen Hervorbringungen verändern ihn dadurch, dass sie die Art und Weise verändern, wie er mit der Welt und mit seinesgleichen interagiert. Jede technische Revolution, jede Veränderung »der Produktionsmittel«, führt zu einem gesellschaftlichen Umbruch, zu Veränderungen »der Produktionsverhältnisse« und der effektiven Macht- und Kontrollverhältnisse. Marx’ Interesse galt speziell den Machtverhältnissen, die unter den Bedingungen des Kapitalismus zwischen ungleichen sozialen Klassen bestanden. Ihn beschäftigte, weshalb diese Verhältnisse so unausgewogen und ungerecht waren, wodurch sie aufrechterhalten wurden und wie sie sich überwinden ließen. Damit war der Revolutionär geboren. Marx wurde Journalist und politischer Aktivist, er lebte und arbeitete in verschiedenen europäischen Städten, wo er radikale Zeitungen herausbrachte und mit anderen Sozialisten in Verbindung trat. In Paris begegnete er Friedrich Engels (1820–95), in dem er einen lebenslangen Freund, Mitstreiter und Unterstützer fand. Marx ließ sich schließlich in London nieder, wo er viele Jahre im Lesesaal des British Museum damit verbrachte, sein gewaltiges, drei Bände umfassendes magnum opus zu schreiben, Das Kapital 123

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(1867–94, Engels gab den zweiten und dritten Band postum heraus). Marx liegt auf dem dortigen Highgate-Friedhof begraben. Marx ist eine der einflussreichten Gestalten in der Geschichte – ein Mann, der den Gang der Geschichte mit einer gewaltigen philosophischen, soziologischen und ökonomischen Geschichtstheorie veränderte, die auf der ganzen Welt politische Revolutionen beflügelte und ihnen die Orientierung gab, vor allem in der UdSSR und in China. Seine Werke erschienen nur schleppend, und es dauerte lange, bis sie vollständig vorlagen. Einige von seinen heute wichtigsten Schriften kamen sogar erst viele Jahre nach seinem Tod heraus. Die schleppende Veröffentlichung seiner Ideen trug dazu bei, dass sich Marxisten untereinander endlos in den Haaren darüber lagen, worin der Marxismus eigentlich bestand. Wobei der Hauptgrund für den Streit vielleicht eher darin zu suchen ist, dass die meisten der so genannten kommunistischen Länder, die einigen seiner Ideen zur Ausbreitung verhalfen, Marx entschlossen auf ihre im Wesentlichen korrupten, totalitären Ziele hin auslegten. Wenn wir mit Blick auf unser Eingangszitat verstehen wollen, warum Marx die Religion als ein süchtig machendes Betäubungsmittel und die Kirche als dessen Dealer betrachtet, müssen wir uns näher mit seinen Ansichten zur sozialen Ungleichheit und zu der Frage befassen, wodurch sie aufrechterhalten werde. Marx zufolge ist Religion sowohl ein Symptom der sozialen Ungleichheit als auch ein Mittel zu ihrer Verschleierung. Religion sei ein Druckventil, eines der Mittel zur Verringerung der von der sozialen Ungleichheit ausgelösten Spannungen. Marx untersuchte verschiedene ungerechte sozio-ökonomische Gesellschaftsformationen, die historisch bestanden haben, etwa den Feudalismus; sein Hauptaugenmerk aber galt dem Kapitalismus. In einer kapitalistischen Gesellschaft gibt es Marx zufolge eine verhältnismäßig kleine Gruppe von Kapitalisten, denen die Produktionsmittel – Land, Rohstoffe, Fabriken, Maschinen, Banken usw. – und dazu Unmengen von Arbeitern gehören, die kaum mehr besitzen als ihre Arbeitskraft, oder häufig genug nichts als 124

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sie. Der Arbeiter sei genötigt, dem Kapitalisten seine Arbeitskraft zu unfairen Bedingungen zu verkaufen. Der Kapitalist bezahle den Arbeiter nicht nach dem wahren Wert seiner Arbeit, weil der Kapitalismus eine beträchtliche Wertabschöpfung verlange, damit er unaufhörlich wachsen und Güter, Dienstleistungen und Investitionsmöglichkeiten in immer größerem Umfang hervorbringen könne – und damit die Kapitalisten auch weiterhin ein Leben in übermäßigem Reichtum und Luxus führen könnten. Den von den Anstrengungen der Arbeiter abgeschöpften Wert bezeichnet Marx als Mehrwert. Für Marx ist der große Reichtum, den die Kapitalisten als ihren rechtmäßigen Besitz betrachten und auf den sie so stolz sind, nichts weiter und nichts anderes als der durch die massenhafte Ausbeutung der Arbeiterschaft angehäufte Mehrwert. Marx sagt, der Kapitalismus entfremde die Arbeiter. Er schneide ihnen nicht nur die Möglichkeit ab, in den vollen Genuss ihrer Hände Arbeit zu kommen, er verhindere auch, dass sie sich voll verwirklichen und schöpferische Menschen aus sich machen können, die über ihr Handeln selbst bestimmen. Was den Kapitalismus am stärksten begünstige und ihm in den meisten Situationen am meisten entgegenkomme, sei die Arbeitsteilung: die Aufspaltung einer komplexen Aufgabe in eine Reihe von stumpfsinnigen, eng begrenzten Aufgaben, die von einem oder mehreren Menschen wieder und wieder ausgeführt werden. Die Arbeitsteilung – das Fließband – sei sehr effizient zur Produktionssteigerung und Gewinnmaximierung, gleichzeitig aber führe sie zu einer enormen Entfremdung von Millionen von Menschen, die sie auf Rädchen im Getriebe reduziere. Marx zufolge lässt sich ein entfremdendes, ausbeuterisches und ungerechtes System dieser Art nur aufrechterhalten, wenn die Menschen dazu gebracht werden können, so über sich, die Gesellschaft und die Machtverhältnisse, das Leben und sogar den Tod zu denken, wie es der Erhaltung des Status quo diene; wenn Vorstellungen bestärkt, Geschichten und Mythen in Umlauf gebracht und Vorurteile geschürt würden, die die Akzeptanz und 125

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Zustimmung der Menschen gegenüber dem bestehenden System fördern und dafür sorgen, dass es nicht infrage gestellt werde. Marx bezeichnet diese wirkungsvollen Vorstellungen, Mythen und Vorurteile, welche die Überzeugungen, Einstellungen und Meinungen der Menschen prägen, als Ideologie. Eine solche liefere eine fertige Erklärung der Welt und des Platzes, den der Mensch in der sogenannten großen Ordnung der Dinge einnimmt. Die Religion, so Marx, ist von zentraler Wichtigkeit für die Ideologie, die maßgeblich zur Aufrechterhaltung unserer ungerechten Gesellschaftsordnung beitrage. Die Ideologie der Religion helfe das bestehende sozio-ökonomische System – die bestehende Herrschaftsstruktur – zu rechtfertigen und zu legitimieren, nicht zuletzt dadurch, dass sie die in ihr angelegten Ungleichheiten und Ausbeutungsmethoden verschleiere. Marx zufolge entstand die Religion aus den Ungleichheitsspannungen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und sollte diese Spannungen abmildern und verschleiern helfen, das tieferliegende Ungleichheitsproblem aber unangetastet lassen. Die Religion sei grundsätzlich ein Schutz für die herrschende Klasse. Sie schütze ihre von der Ungleichheit abhängige privilegierte Stellung, indem sie die Ausgebeuteten betäube und ruhigstelle. Die Religion bewege die Menschen dazu, der weltlichen Ungleichheit keine Bedeutung beizumessen, da in den Augen Gottes ohnehin alle Menschen gleich seien. Sie sage ihnen, dass sie auf Erden nicht nach Gleichheit streben sollen, weil sie das ihnen Zustehende in Gestalt des ewigen Paradieses bekämen, wenn sie sterben. Tatsächlich werde sogar ihre Armut selbst als Wert ausgegeben und damit zu einem Schlüssel zum Himmel. Die Religion sage den Menschen, dass die Gesellschaft Gottes Schöpfung sei und jeder Mensch sich mit seinem gottgegebenen Platz in ihrer Hierarchie zufriedengeben solle. Wenn der Glaube herrsche, die soziale Stellung sei von Gott vorherbestimmt, entlaste dies die Wohlhabenden und Mächtigen von jeder Scham oder Verlegenheit, die sie bei dem Gedanken an ihre Position empfinden könnten, während es die Armen und Machtlosen von gefährlicher Missgunst befreie. 126

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Die Religion halte die Menschen dazu an, sich auf die moralische Gesundheit ihrer Seele zu fixieren und sich wegen Sünden schuldig zu fühlen, die die Religion für sie festlege und deren Verfehlung sie kleinlich sanktioniert. Auf diese Weise lenke sie die Menschen ab von der Suche nach irdischer Gerechtigkeit und zähme ihr Verlangen nach Auflehnung gegen ihre Unterdrücker. Ja, sie lasse sie gar nicht erst erkennen, wer ihre eigentlichen Unterdrücker seien. Wenngleich sie aus der Armut einen Wert mache, lehre die Religion – die mit Widersprüchen nie ein Problem hat –, dass die Menschen ihr Elend dem Teufel zu verdanken hätten oder den Grund dafür eher bei sich und ihrer eigenen sündigen Natur suchen sollten als bei der systematischen Unterdrückung durch eine herrschende Elite. Für Marx bietet die Religion einen schwachen Trost, eine trügerische Gerechtigkeit in einer ungerechten Welt und eine trügerische Sicherheit in einer grausamen. Sie beschwichtige die Menschen mit Worten und lenke ihre Erwartung auf das Ende eines elenden und unschöpferischen, unerfüllten und entfremdeten Lebens der Schinderei und der Ausbeutung. Die unterdrückte Kreatur werde glauben gemacht, die Welt sei gar nicht so herzlos und seelenlos, und so richte sie ihre Hoffnung seufzend auf das, was ihr die Religion in Aussicht stelle. Wenn die soziale Ungleichheit und Entfremdung durch die revolutionären Veränderungen in der Wirtschaftsordnung schließlich beseitigt sein wird, so Marx, werde die Religion als eine ideologische Stütze zum Aushalten und Erträglichmachen dieser Ungleichheit nicht länger gebraucht. Bei ihm heißt es: »Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen« (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. MEW, 1, S. 378).Wenn er seinen Platz im Universum gefunden habe, innerhalb einer von ihm selbst errichteten gerechten und harmonischen Gesellschaftsordnung, werde es weder Bedarf noch Verlangen geben, eine Religion aufzustellen, die uns mit Trugbildern des Glücks versorge und trügerischen Trost spende wie eine Droge.

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Mill Die Auffassung, für die die Nützlichkeit oder das Prinzip des größten Glücks die Grundlage der Moral ist, besagt, daß Handlungen insoweit und in dem Maße moralisch richtig sind, als sie die Tendenz haben, Glück zu befördern, und insoweit moralisch falsch, als sie die Tendenz haben, das Gegenteil von Glück zu bewirken. (John Stuart Mill Utilitarismus, S. 13. Erstveröffentlichung des engl. Originals 1861)

Der in London im Stadtteil Pentonville geborene John Stuart Mill (1806–73) rangiert unter den größten englischen Philosophen an zweiter Stelle hinter John Locke. Fast von Geburt an wurde er zu einem Philosophen herangebildet von seinem Vater James Mill (1773–1836), einem Philosophen, und dem Philosophenfreund seines Vaters, Jeremy Bentham (1748–1832). Beide Männer waren liberal gesinnte Befürworter sozialer Reformen, und wie alle Sozialreformer betonten sie den Wert der Bildung besonders stark. Und so kam es, dass der kleine John Stuart zum Versuchskaninchen für ein intensives Lernprogramm wurde. Mill Senior und Bentham wollten nicht zuletzt einen großen Geist hervorbringen, der sich der Sache des Utilitarismus annehmen würde, wenn sie einmal nicht mehr wären. Zum Utilitarismus gleich mehr. Wie jeder Lehrer weiß, kann man ein Pferd oder ein Versuchskaninchen an die Tränke führen, trinken aber muss es allein. Glücklicherweise erwies sich John Stuart als vorzüglicher Schüler, der im Alter von drei Jahren Griechisch lernte und sich als Achtjähriger mit Platons Dialogen beschäftigte. Infolge der Strenge und Abgeschiedenheit seiner Erziehung aber wurde er so depressiv, dass er Anfang zwanzig Selbstmordgedanken hegte. Aus seiner Depression errettet wurde er von der Dichtung, speziell von den Gedichten William Wordsworths (1770–1850). Die Poesie ließ ihn emotional wachsen und weitete seinen geistigen Horizont. Dies ermöglichte ihm, seine großen Kenntnisse und 128

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auch die ziemlich eng gefassten, schlichten Grundsätze des Benthamismus neu zu gewichten. Das Ergebnis war ein subtilerer, weniger dogmatischer und mathematischer Utilitarismus, der anerkannte, dass in dem Drang nach Reformen die individuellen Freiheiten nicht beiseite gewischt werden durften. Als der vollendete Logiker, der er war, verfasste Mill ein System der deduktiven und induktiven Logik (1843), bevor er sich der politischen Philosophie zuwendete. Seine Abhandlung Über die Freiheit ist wohl die brillanteste und am besten formulierte Verteidigung liberaler und demokratischer Grundsätze, die je geschrieben wurde. Beileibe kein Elfenbeinturmphilosoph, setzte Mill in die Tat um, was er propagierte. Er kämpfte an vielen Fronten für soziale Reformen, unter anderem als Mitglied des Westminsterparlaments für das Frauenwahlrecht. Mill ist ein Empirist in der britischen Tradition von Locke und Hume. Seiner Auffassung nach sollten wir uns in unserem Nachdenken über die Welt, auch in unserem moralischen, von Beobachtung und Erfahrung leiten lassen, statt von abstrakten, apriorischen und metaphysischen Urteilen. Deontologen wie Kant (siehe Zitat 16) widersprach er vor allem darin, dass die Ethik Sache eines Wissens a priori sei. Die Erfahrung lehre uns vielmehr, dass kein menschliches Handeln in sich richtig oder falsch sei. Die Richtigkeit oder Falschheit einer Handlung könne ausschließlich empirisch nach den Folgen beurteilt werden, die sie habe. Diese Auffassung ist als Konsequentialismus bekannt. Die bei weitem bekannteste konsequentialistische Morallehre ist der Utilitarismus. Utilitaristen wie Mill vertreten die Ansicht, dass eine Handlung, wenn sie etwas zum menschlichen Glück beisteuert und es mehrt, eine moralisch gute Handlung ist. Wenn sie zum Gegenteil des Glücks beiträgt, also das menschliche Leiden vermehrt, ist sie eine moralisch falsche Handlung. Genau das besagt unser Eingangszitat aus Mills großartiger Abhandlung Utilitarismus. Mills »Prinzip des größten Glücks« bildet das eigentliche Zentrum seines Utilitarismus. Für Mill und seine Anhänger ist die Ethik also ein bodenstän129

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diges und weltliches, auf dem gesunden Menschenverstand beruhendes und weitgehend wissenschaftliches Unternehmen, das die praktische, empirische Bewertung der Folgen menschlichen Handelns in der realen Welt zum Gegenstand hat. Keine Handlung sei an sich richtig oder falsch. Jede einzelne müsse nach dem Nutzen [utility] ihrer Auswirkungen bewertet werden. Utilitaristen gilt als echtes Maß des moralisch Guten bloß das, was halbwegs normale Menschen in aller Regel glücklich macht: Schmerzfreiheit, körperliche und geistige Freuden, auskömmliche Nahrung, sanitäre Anlagen, ein Heim, Respekt von anderen, Freunde, eine sinnvolle Beschäftigung usw. Utilitaristen vertreten die ganz vernünftige Ansicht, dass man sich einfach nur umzusehen braucht, was die über der Welt verteilten Menschen wollen und immer schon gewollt haben, um sagen zu können, was Menschen zufrieden macht und für sie Glück bedeutet. Niemand möchte mit Schmerzen leben, sein Dasein im Elend fristen oder von anderen misshandelt werden; und wem doch der Sinn danach steht, der ist ziemlich daneben. Man könnte sagen, dass solche Menschen nicht mehr wissen, was sie wollen. Wie bereits angedeutet, haben wir es bei Bentham, gemessen an John Stuart Mill, mit einem etwas weniger differenzierten Utilitaristen zu tun. Bentham neigt beispielsweise dazu, Glück mit leiblichen Genüssen gleichzusetzen. Mill wirft ihm vor, sämtliche Freuden und Genüsse auf derselben Skala anzusiedeln und etwa das triviale Kinderspiel pushpin mit der Dichtung in einen Topf zu werfen. Nach Auffassung des subtileren Denkers Mill unterscheiden sich Freuden nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ. Es sei notwendig, höhere und niedere Freuden voneinander abzugrenzen. Wer höhere als auch niedere Freuden aus dem eigenen Erleben kennt, der weiß, so Mill, dass die höheren höher zu bewerten und lohnender sind als die niederen, dass sie ihnen qualitativ überlegen sind. Demnach wäre der Genuss aus dem Hören eines Beethovenstücks von weit größerer Qualität als der, der sich aus dem Verspeisen eines Donuts ziehen ließe, auch wenn man natürlich gleichzeitig Beethoven hören und einen Donut essen könne. 130

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Der Utilitarismus ist vielleicht deshalb leichter zugänglich als die Ethik Kants, weil wir es bei ihm mit einer bodenständigeren, stärker anwendungsorientierten Theorie zu tun haben. Dennoch kann es sein, dass es ihr an Präzision mangelt. Während Kant sehr klar in Bezug darauf ist, was man tun soll und was nicht, sehen sich Mill und die anderen Vertreter seiner Richtung ständig der ziemlich mühsamen Aufgabe gegenüber, die Folgen von Handlungen und Handlungstypen daraufhin zu bewerten, ob sie das menschliche Glück in seiner Gesamtheit mehren oder vermindern. Manchmal ist leicht ersichtlich, dass eine Tat, etwa eine Vergewaltigung, sehr viel Leid und Unheil angerichtet und dem Dreckskerl, der sie beging, nur einen kranken kurzzeitigen Genuss verschafft hat. Oft aber lässt sich nicht ohne weiteres entscheiden, ob eine Handlung unter dem Strich mehr Glück als Unglück zur Folge hatte. Der Kauf teurer Medikamente zur Unterstützung eines Krebspatienten ist offensichtlich ein Glück für den Patienten und seine Familie, was aber, wenn mit dem gleichen Geld zwanzig Babys vor dem Tod hätten gerettet werden können? Um zumindest einige dieser Schwierigkeiten bewältigen zu können, führte Mill in Weiterentwicklung der Theorie die wichtige Unterscheidung zwischen Handlungs- und Regelutilitarismus ein. Dem Handlungsutilitarismus zufolge sollte jede Handlung einzeln betrachtet und nach ihren tatsächlichen Folgen bewertet werden. Das Problem mit dem Handlungsutilitarismus besteht darin, dass sich oftmals schwer und häufig überhaupt nicht abschätzen lässt, welche Folgen eine Handlung haben wird. Außerdem erlaubt er zu viel Spielraum, nämlich insofern als er jede beliebige Handlung rechtfertigen könnte, falls sich behaupten ließe, dass sie irgendwie zum größten Glück beiträgt. Dies wäre sogar für so derart schreckliche Handlungen möglich, wie etwa Kinder zu ermorden. Der Regelutilitarismus will die Mängel des Handlungsutilitarismus überwinden. Statt auf den Nutzen einzelner Handlungen legt er den Schwerpunkt auf den Nutzen von Regeln, die Handlungstypen vorschreiben. Eine Regel ist von Nutzen, wenn ihre Befolgung das größte Glück tendenziell eher befördert als 131

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ihre Nichtbefolgung; wenn es aufgrund bisheriger Erfahrungen als wahrscheinlicher und nicht als unwahrscheinlicher gilt, dass ihre Befolgung das größte Glück befördern wird. Für Regelutilitaristen sind moralisch richtige Handlungen solche, die mit dieser Regel in Einklang stehen. Kinder nicht hinzuschlachten zum Beispiel befördert gemeinhin das größte Glück. Darum besteht das moralisch richtige Tun selbst in dem seltenen Fall, da das Hinschlachten von Kindern irgendwie signifikant positive Folgen haben könnte, im Befolgen der Regel und Verschonen der Kinder. Der Regelutilitarismus ist eine viel bessere Richtschnur für das Handeln als der Handlungsutilitarismus, weil er es ausdrücklich erlaubt, bisherige Erfahrungswerte bezüglich wahrscheinlicher Folgen in die Betrachtung einzubeziehen, während der Handlungsutilitarismus das nicht vorsieht. Außerdem bietet er den gefährdeten Einzelnen und Minderheiten, die von den Forderungen der Mehrheit bedroht sind, Schutz. Wie immer macht Mill sich zum Anwalt des Einzelnen und vertritt dessen Sache.

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Nietzsche Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! (Friedrich Nietzsche Die fröhliche Wissenschaft, 125, S. 135. Erstveröffentlichung 1882)

Friedrich Nietzsche (1844–1900) ist fraglos einer der zitierbarsten und am meisten zitierten Philosophen der westlichen Tradition und verdient mit Sicherheit zwei unserer 42 Zitate. Seine Zitierbarkeit liegt nicht zuletzt darin begründet, dass er vorzugsweise in Aphorismen schrieb: in klugen und kernigen Einzeilern von erstaunlicher philosophischer und psychologischer Durchschlagskraft. »Denn ich halte es mit tiefen Problemen, wie mit einem kalten Bade – schnell hinein, schnell hinaus« (Die fröhliche Wissenschaft, 381, S. 282). Und selbst da, wo er nicht in Aphorismen schreibt, ist sein Ausdruck bündig und provokativ, was ihn für 132

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Tischredner, T-Shirt-Produzenten und Tassengestalter gleichermaßen unwiderstehlich macht. Der in Röcken, nahe dem seinerzeit preußischen Leipzig geborene Nietzsche erhielt eine vielseitige Ausbildung, den größten Teil davon in der renommierten Landesschule Pforta bei Naumburg. Musik und Sprachen waren seine Schwerpunkte, dazu las er ausgiebig und verfasste Gedichte. 1864 begann er an der Bonner Universität Theologie und klassische Philologie zu studieren. Das Theologiestudium brach er jedoch bald schon wieder ab. Vernunft, Wissenschaft und die historische Forschung hätten das Christentum diskreditiert, begründete er seinen Schritt, und er habe seinen Glauben verloren. Er konzentrierte seine beträchtlichen Talente fortan auf die Philologie, die er bald darauf in Leipzig weiterstudierte, wo er mit der Philosophie Arthur Schopenhauers in Berührung kam und vor allem dessen Meisterwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1818) für sich entdeckte. Schopenhauers Ideen hatten eine tiefgreifende Wirkung auf Nietzsche, der – auch unter dem Einfluss von Darwin und der laufenden wissenschaftlichen Revolution – seine eigene, nach-schopenhauersche Philosophie auszuformulieren begann. 1869, im Alter von erst 24 Jahren, wurde Nietzsche als Professor für Philologie an die Baseler Universität berufen. Vor Antritt der Stelle legte er seine preußische Staatsbürgerschaft ab und blieb für den Rest seines Lebens staatenlos. Dennoch diente er während des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 als Sanitätssoldat in der preußischen Armee. Während seiner Zeit in Basel brachte Nietzsche sein erstes Hauptwerk heraus, Die Geburt der Tragödie, und freundete sich eng mit dem Komponisten Richard Wagner (1813–83) an, mit dem es Jahre später bekanntlich zum Bruch kam. Von 1879 an lebte Nietzsche mit einer Pension aus Basel als freier Philosoph. Er schrieb und arbeitete an verschiedenen europäischen Orten, die seiner sich rapide verschlechternden Gesundheit am zuträglichsten waren. Trotz seiner schlechten gesundheitlichen Verfassung, oder vielleicht gerade wegen ihr war er 133

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bemerkenswert produktiv und verfasste eine Reihe vollendeter philosophischer Werke, darunter Also sprach Zarathustra (1883– 5), Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zur Genealogie der Moral (1887). Nietzsches genialer Geist zeigte zunehmend Anzeichen von Labilität. Die Syphilis, die er sich möglicherweise während seiner Zeit als Sanitätssoldat zugezogen hatte, trug maßgeblich zu seinem geistigen Niedergang bei, bis er 1889 in geistige Umnachtung fiel. Er erlitt mehrere Schlaganfälle und starb schließlich an den Folgen einer Lungenentzündung und eines weiteren Schlaganfalls im Alter von nur 55 Jahren. Sein Genie und seine Originalität, die von ihm vertretenen radikalen Ansichten, sein Abgleiten in den Wahnsinn, die Tatsache, dass er verfrüht aus dem Leben schied, und sein unglaublicher Schnurrbart – das alles hat dazu beigetragen, aus Nietzsche einen der romantischsten, tragischsten und meistgefeierten Philosophen der Geschichte zu machen. Von Nietzsches radikalen und durchdringenden Ansichten über Religion, Moral und die Lage des Menschen haben sich ganz unterschiedliche Gestalten und Bewegungen beeinflussen und anregen lassen, von Sigmund Freud (1856–1939) bis zu Joseph Conrad (1857–1924), von den Existenzialisten bis zu den Nationalsozialisten. Nietzsches Schreiben ist poetisch und arkan, zweideutig, ironisch und gelegentlich selbstwidersprüchlich. Sein Spätwerk trägt, symptomatisch für seinen geistigen Verfall, deutliche Züge wachsenden Größenwahns. Seine Schriften halten dem Anschein nach für jeden etwas bereit, zumal wenn sie selektiv gelesen werden. Die Nazis haben Nietzsche selektiv gelesen und sie wurden dabei von Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche (1846–1935) unterstützt, die Adolf Hitler, mit dem sie bekannt war, eine Zusammenstellung entsprechend inspirierender Ausschnitte aus den Werken ihres Bruders übergab. Hitler nahm an ihrer Beerdigung teil. Zweifellos stehen gewisse Passagen aus Nietzsches riesigem Schaffen durchaus in Einklang mit der Ideologie des Dritten Reichs – seine Rede von der »blonden Bestie« 134

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etwa –, das aber rechtfertigt keineswegs, ihn ihm einen Nazi zu sehen oder auch nur einen Protofaschisten. Nietzsche verachtete den Antisemitismus des Ehemanns seiner Schwester, Bernhard Förster (1843–89), und er stand dem deutschen Nationalismus durchweg kritisch gegenüber. Nichts in seinem Werk deutet darauf hin, dass er den von den Nazis Jahre nach seinem Tod begangenen Völkermord befürwortet haben könnte, und vermutlich hätte er darin einen Akt besonderer Verderbtheit vonseiten einer Kultur gesehen, gegen die er so oft den Vorwurf der Dekadenz erhob. Beileibe kein Faschist, wird Nietzsche allgemein als Streiter für den Individualismus gefeiert, der für die Freiheit und Unabhängigkeit von Staat, Religion und »Herden«-Moral eingetreten sei. Nietzsche ist sich mit Schopenhauer einig darin, dass Gott tot sei, dass die Aufklärung die Idee von Gott erledigt habe und sie zumindest in den Augen der gebildeten Menschen keine glaubwürdige Daseinserklärung und Moralrechtfertigung mehr darstelle. Aus Schopenhauers Sicht hält der Tod Gottes nichts Gutes für die Menschen bereit. In einem Universum ohne Sinn sieht er sie zu nutzlosem Leiden und zur Verzweiflung verdammt. Nietzsche weiß um die von den Modernen empfundene Furcht und Verzweiflung, Reue und sogar Schuld, wenn sie darüber nachdenken, dass sie Gott auf dem Gewissen haben. Betrachten wir dazu unser Eingangszitat in seinem ganzen Kontext: Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet,– wer wischt diess Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? (Die fröhliche Wissenschaft, 125, S. 135)

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Der Schluss dieser berühmten Passage zeugt recht deutlich von Nietzsches mangelnder Bereitschaft, sich mit den Miseren des schopenhauerschen Pessimismus und Nihilismus abzufinden. So unternimmt er es denn auch, Schopenhauers Nihilismus zu seiner letzten Konsequenz zu treiben, den Glauben an religiös fundierte Werte so weit zu zertrümmern, dass der Weg für eine »Umwertung aller Werte« frei ist, einschließlich der moralischen. Nietzsche zufolge vernichtet der zu seinem Abschluss gebrachte Nihilismus sich schließlich selbst als Wert und schlägt in sein Gegenteil um, in Anti-Nihilismus. Um den Nihilismus zu überwinden, seien die Menschen gefordert, die Schuld und die Verzweiflung darüber zu überwinden, dass sie Gott getötet haben. Dazu wiederum müssen sie, wie oben zitiert, selber zu Göttern werden, die Verantwortung für sich übernehmen und ihre eigenen Werte schaffen. Wie die von ihm inspirierten Existenzphilosophen ist Nietzsche kein Atheist, der Gott einfach die Existenz abspricht und dann keinen Gedanken weiter daran verschwendet, sondern vielmehr einer, dem die tiefgreifenden Folgen aus der Nichtexistenz Gottes für das Leben und die Moral des Menschen nahegehen. Gibt es keinen Gott, so Nietzsche, ist alles Sein, das menschliche eingerechnet, ohne letzten tieferen Sinn oder höheren Zweck. Um sein Potenzial voll ausschöpfen zu können, müsse der Mensch die feige, wirklichkeitsfremde und lebensverleugnende Unaufrichtigkeit überwinden, die mit seinen zweifelhaften religiösen Überzeugungen verbunden sei und an die er sich in der vergeblichen Hoffnung hänge, einen letzten tieferen Sinn oder höheren Zweck zu finden. Jeder Mensch sei gefordert, den falschen Glauben aufzugeben, dass irgendeine höhere Macht alles für ihn entschieden habe, und müsse dafür einsehen, dass sein Dasein als Person nur den Sinn und den Zweck habe, den er ihr aus eigenem Entschluss gebe. Nietzsches Empfehlung nach soll der Mensch sich im Leben an die, wie er sie nennt, vornehmen Ideale halten. Er soll aufhören, nach fertigen gottgegebenen Bedeutungen und Werten zu verlangen, sondern sich stattdessen selbst zur Quelle werden und 136

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nach selbstgeschaffenen Werten leben. Dazu müsse er sich zur eigenen Freiheit und Verantwortung bekennen, statt sie durch die, wie er sie nennt, asketischen Ideale zu verleugnen – durch Selbstunterdrückung und Selbstverleugnung. Ein vornehmer Mensch sei jemand, der sich ausdrücklich als ein freies Wesen begreife. Es würde ihm nicht einfallen, seine Freiheit zu verleugnen und zu unterdrücken. Vielmehr bekenne er sich zu ihr, bekräftige sie durch entschlossenes Handeln, durch Überwindung und Selbstüberwindung, durch Annahme der Eigenverantwortung und Ablehnung der Reue, und vor allem durch die Wahl seiner eigenen Werte. Denjenigen, der das vornehme Ideal erreicht habe, nennt Nietzsche den Übermenschen. Dies sei der Mensch, der sich selbst überwunden habe, der Mensch, der den Tatsachen ins Auge sehe und alle Folgen aus dem Tod, dem Verlust Gottes, verwunden habe, um der Schöpfer seiner eigenen Werte und Herr über sein Schicksal zu werden. Bei Nietzsche heißt es: In der That, wir Philosophen und »freien Geister« fühlen uns bei der Nachricht, dass der »alte Gott todt« ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist, endlich dürfen unsere Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so »offnes Meer«. (Die fröhliche Wissenschaft, 343, S. 222)

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Nietzsche Meine Formel für die Grösse am Menschen ist amor fati [Liebe zum Schicksal]: dass man Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. (Friedrich Nietzsche Ecce Homo: Wie man wird, was man ist in Götzendämmerung, S. 335. Geschrieben 1888, erstveröffentlicht postum 1908)

Eben (siehe die Ausführungen zum vorigen Zitat) haben wir gesehen, dass zu der Vornehmheit und Wahrhaftigkeit von Nietzsches Übermenschen neben anderen Eigenschaften auch die Weigerung gehört, irgendetwas zu bereuen. Wer etwas bereut, wünscht, er hätte es nicht getan; wer bereut, hätte gern eine andere Vergangenheit. Weil der Mensch seine Vergangenheit ist, die Summe der von ihm gefassten Entschlüsse, entspricht das Bereuen seiner Vergangenheit dem Wunsch, nicht der zu sein, der er ist. Wahrhaftigkeit, als die ausdrückliche Bejahung der Freiheit, verlange die Übernahme der vollen Verantwortung für alle eigenen Entscheidungen – und zwar sowohl diejenigen, die man getroffen hat, als auch diejenigen, die man treffen wird. Indem man dies tut, übernehme man die volle Verantwortung für die eigene Person und die Situation, in der man sich wiederfindet. Man könnte argumentieren, dass jemand, der bereut, insofern die Verantwortung für seine Vergangenheit übernimmt, als das Bereuen vergangener Taten dem Bekenntnis zu ihnen entspricht. Bereuen sei jedoch ein gänzlich negatives und unmündiges Bekenntnis. Man bekenne nur, um abzuschwören und sich von den Geschehnissen zu distanzieren. Jemand, der bereut, sagt nicht: »Ja, ich habe das getan und es ist nun ein Teil von dem, was ich bin.« Er sagt: »Ich wünschte, ich hätte dies nicht getan, und ich wäre froh, würde es nun nicht Teil von dem sein, was ich bin.« Im herkömmlichen Verständnis heißt bereuen, sich nutzlos mit der Vergangenheit aufzuhalten und am liebsten eine andere haben zu wollen. Wer aufhört zu bereuen, der stelle seine Vergangenheit unter ein anderes Vorzeichen, indem er sie annimmt und bejaht. 138

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Der handelt jetzt und künftig so, dass er sein Tun in der Vergangenheit immer positiv besetzt. Wie man weiter handelt, entscheidet über Sinn und Wert der eigenen Vergangenheit. Jemand, der beispielsweise seine Stelle kündigt, kann dies bereuen oder seinen Entschluss durch sein künftiges Handeln als einen positiven Schritt festlegen. Wahrhaftig zu sein bedeutet für Nietzsche dem Bereuen abzusagen. Es bedeute, »die Vergangnen zu erlösen und alles ›Es war‹ umzuschaffen in ein ›So wollte ich es!‹« (Also sprach Zarathustra, S. 32). Der wahrhaftige Mensch – der Übermensch oder der Mensch, der sich selbst überwunden hat – wolle in seinem Leben nichts anders haben als es ist. Er liebe sein Schicksal, und zwar sowohl die Dinge, die ihm widerfahren werden, als auch diejenigen, die ihm widerfahren sind, sodass er dies alles noch einmal und noch unzählige Male genauso wieder haben möchte. Dies ist Nietzsches Formel für die Grösse am Menschen: das Verlangen nach ewiger Wiederkehr. Als kosmologische Hypothese besagt die ewige Wiederkehr, dass sich das Universum bis ins Kleinste unendlich oft wiederholt. dass man sein Leben bereits unzählige Male gelebt hat und es ohne die geringste Veränderung wieder und immer wieder leben wird. Nach dem Hauptargument für die ewige Wiederkehr, das auch von Nietzsche angeführt wird, folgt aus der endlichen Gesamtmenge an Energie im Universum, dass auch die Gesamtmenge an Energiezuständen endlich ist. Eine unendliche Zeit vorausgesetzt, müssen sich diese Energiezustände unendliche Male wiederholen. Dieses Argument ist äußerst voraussetzungsreich. Selbst wenn man gelten lässt, dass die Gesamtmenge an Energie im Universum endlich ist, folgt daraus nicht, dass auch die Gesamtmenge möglicher Energiezustände endlich ist. Tatsächlich scheint sich eine endliche Menge an Energie in unendlich vielen Zuständen und unendlich vielgestaltigen Konfigurationen manifestieren zu können. Der Philosoph Georg Simmel (1858–1918) beschreibt ein Modell eines nur drei Zustände umfassenden endlichen Universums, das, einmal in Gang gesetzt, seine Ausgangskonstellation nie wie139

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derholt. Sprich, wenn festgelegte Punkte auf drei Rädern eine Linie bilden und diese drei Räder sich zu drehen beginnen – das zweite doppelt so schnell wie das erste und das dritte mit einer Geschwindigkeit von 1/p des ersten Rades –, wird die ursprüngliche Ausrichtung auf einer Linie nie wiederkehren. Simmels Modell ist freilich sehr speziell, und es gibt keinen Grund anzunehmen, es würde dem Universum entsprechen und es in seiner Natur widerspiegeln. Allerdings beweist es, dass sich nicht alle endlichen Systeme notwendigerweise wiederholen müssen, und lässt somit die Möglichkeit offen, dass sich das Universum nicht wiederholt. Natürlich können aus endlich vielen Elementen unendlich viele Kombinationen entstehen. Nehmen wir etwa die englische Sprache. Durch unterschiedliche Kombinationen und Anordnungen von 26 Buchstaben lassen sich unendlich viele Sätze und Satzkombinationen bilden. Auch wenn sich Nietzsche mit Argumenten für die ewige Wiederkehr befasste, so darf doch bezweifelt werden, dass er wirklich glaubte, wir würden unser Leben unzählige Male von Neuem leben. Ob die ewige Wiederkehr ein Faktum darstellt oder nicht, war für ihn zweitrangig. Ihm ging es zuallererst und entscheidend um die moralische Bewährungsprobe, die schon der Gedanke an sie darstellt. Nietzsche ist entschieden der Meinung, wenn man sein Leben nicht genauso wieder leben will, lebt man es nicht richtig! Er richtet an uns die Frage: »Warum arbeitet ihr jetzt in dem Beruf, wenn ihr es doch in eurem nächsten Leben nicht wieder wollen würdet?« Es gibt fast niemanden, der sterben möchte. Die meisten von uns lieben das Leben oder wollen zumindest unbedingt die Möglichkeit haben, es weiterzuleben und zu Ende zu führen, egal, welche Zukunft uns noch bleibt. Doch wie viele von uns würden einen erheblichen Teil ihres bisherigen Lebens wirklich noch einmal erleben wollen – die ganze Langeweile und Enttäuschung, all die Beleidigungen, Schmerzen und Ängste? Ist es überhaupt realistisch, eine so wohlwollende Einstellung seinem Leben gegenüber zu entwickeln, dass man es bis ins Kleinste gar nicht oft genug wiedererleben könnte? 140

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Wenn wir beteuern, das Leben zu lieben, meinen wir dann nicht in erster Linie unsere Zukunft und das, was wir uns für unser Leben in der Zukunft erträumen? Liebt irgendjemand tatsächlich seine gesamte Vergangenheit oder zumindest weite Teile davon und nicht bloß die guten Zeiten, die man in Erinnerung behalten möchte? Und lässt sich überhaupt jemand antreffen, der mit seiner augenblicklichen Situation vollkommen glücklich ist, aufrichtig glücklich? Und wenn alle mit ihrer jetzigen Situation immerfort unglücklich sind, dann mögen sie ihr Leben oder die Person, die sie sind, nicht wirklich und würden wahrscheinlich nicht wieder alles von vorn durchmachen wollen … Wenn sie auch sonst nichts weiter leistet, so wirft die Vorstellung von der ewigen Wiederkehr doch immerhin eine Menge interessanter persönlicher und moralischer Fragen auf. In einer wunderbaren Passage, in der die Herausforderung zusammengefasst und verdichtet ist, die sich persönlich wie moralisch aus der ewigen Wiederkehr ergibt, heißt es bei Nietzsche: Das grösste Schwergewicht. – Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: »Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!« – Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: »du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres!« Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei Allem und Jedem »willst du diess noch 141

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einmal und noch unzählige Male?« würde als das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts mehr zu verlangen als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung? (Die fröhliche Wissenschaft, 341, S. 219)

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Ockham Eine Mehrheit darf nicht ohne Not zugrunde gelegt werden. (Wilhelm von Ockham in Beckmann Wilhelm von Ockham, S. 43)

Wilhelm von Ockham (um 1285–um 1349) ist nach Thomas von Aquin (siehe Zitat 3) der wichtigste Philosoph, der im 13. Jahrhundert geboren wurde. Er nahm den Namen des Dorfes an, aus dem er stammte, es ist jedoch etwas umstritten, ob es sich dabei um Ockham in der Grafschaft Surrey oder um Ockham in der Grafschaft Yorkshire handelte. Die meisten Historiker plädieren für Surrey. Bereits in jungen Jahren trat Ockham dem Franziskanerorden bei und studierte in Oxford, wenngleich ohne einen Abschluss zu machen. Vielleicht maß er formalen Qualifikationen, wie so viele der größten Denker, keine sonderlich große Bedeutung bei. Die Darstellungen weichen im Detail zwar voneinander ab, unstrittig ist aber, dass ihn seine theologischen Schriften und kirchenpolitischen Ansichten auf Konfrontationskurs mit dem Papsttum brachten. 1324 zitierte man ihn zu einem Verfahren an den päpstlichen Hof nach Avignon, wo eine Untersuchung seiner Schriften auf Ketzerei angestrengt wurde und er mehrere Jahre unter Hausarrest lebte. Ockham hatte Papst Johannes XXIII. (1249–1334) selber Ketzerei vorgeworfen für dessen Angriffe auf die von den Franziskanern verbreitete Armutslehre. In mittelalterlicher Zeit war die gegenseitige Bezichtigung der Ketzerei eine Lieblingsbeschäf142

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tigung großer Männer. 1328 wurde Ockham schließlich durch den Papst exkommuniziert, letztlich aber nicht wegen Ketzerei, sondern weil er Avignon unerlaubt verlassen hatte. Ockham suchte den Schutz Ludwigs IV., des Herzogs von Bayern und späteren Kaisers des Heiligen Römischen Reiches (1282–1347), der sich ebenfalls im Streit mit dem Papst befand. Den Rest seines Lebens verbrachte Ockham in München, wo er über eine ganze Reihe von Themen schrieb, vor allem aber über die Notwendigkeit einer Trennung von Staat und Kirche. Obwohl sein Todesjahr nicht gesichert ist – möglicherweise starb er 1349 auf dem Höhepunkt des Schwarzen Todes –, weiß man, dass er an einem 10. April starb, weshalb die Kirche von England seiner an diesem Datum gedenkt. 1359 wurde er von Papst Innozenz VI. (um 1285–1362) offiziell rehabilitiert, doch anders als Thomas von Aquin, der der Macht der Kirche im Allgemeinen oder dem Papsttum im Besonderen nie derart kritisch gegenüberstand, ist ihm die Heiligsprechung bislang versagt geblieben. Ockham gilt häufig als bedeutender Mittler zwischen dem mittelalterlichen Denken und der Philosophie und Wissenschaft der Renaissance und über die Renaissance hinaus. Dass er diese Mittler- oder Brückenfunktion innehatte, lag freilich hauptsächlich daran, dass er der Philosophie zu einem richtigen Verständnis des Aristoteles zurückverhelfen wollte. Genau wie für Thomas war die Philosophie auch für Ockham zu stark von einer augustinischen Lesart des Aristoteles dominiert, bei der logisches und wissenschaftliches Denken in allzu enger Verbindung mit Metaphysik und Theologie gestanden habe. Daher war Ockham der große Rivale des schottischen Philosophen Duns Scotus, der sich als unverbesserlicher Augustinianer an dem frommen Thomas versündigte, indem er dessen verdienstvolle Leistungen rückgängig zu machen suchte. Ockham bemühte sich zu zeigen, dass logisches und wissenschaftliches Denken unabhängig von der Metaphysik funktionieren kann und soll. Lasse man es selbstständig arbeiten, würde aus ihm, wie Aristoteles gezeigt habe, ein mächtiges Instrument zum Verständnis der natürlichen Welt (siehe auch Zitat 15, Hume). 143

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Ockham zählte zu den Nominalisten der ersten Stunde. Gegen Duns Scotus argumentierte er, dass es nur Einzeldinge gebe, keine metaphysischen Universalien, Wesenheiten oder Formen (siehe Zitat 31, Platon). Universalien oder Allgemeinheiten seien lediglich Abstraktionen des Geistes und existierten nicht außerhalb von ihm. Ein wissenschaftliches Verständnis der Welt lasse sich nicht durch ein Verständnis von Universalien erreichen. Eine solche Auffassung sei überflüssig und stifte bloß Verwirrung. Dies führt uns zu Ockhams berühmtestem Prinzip, seinem Rasiermesser, das wir in unserem Eingangszitat ausgedrückt finden. Dem Prinzip zufolge soll man bei der Suche nach der Erklärung von etwas nicht mehr annehmen oder postulieren, als zu ihrem Erfolg unbedingt nötig ist. Kurz gesagt, die einfachsten Erklärungen sind die besten. Durch den Rückgriff auf metaphysische Universalien beispielsweise würden mehr Dinge postuliert, als zu einer funktionierenden wissenschaftlichen Erklärung notwendig seien. Nicht selten liest man, Ockham habe seinem Prinzip auch in dem Leitsatz »Entitäten dürfen nicht ohne Notwendigkeit vermehrt werden« Ausdruck verliehen. Dabei handelt es sich allem Anschein nach jedoch um eine Fehlzuschreibung. Der oft von ihm verwendete lateinische Satz lautet »Pluralitas non est ponenda sine necessitate«, nicht »Entia non sunt multiplicanda sine necessitate«. Russell erläutert Ockhams Rasiermesser wie folgt: »Es ist unnütz, etwas mit mehr zu tun, was auch mit weniger getan werden kann.« Das heißt, wenn sich in irgendeiner Wissenschaft alles interpretieren läßt, ohne diese oder jene hypothetische Entität vorauszusetzen, dann soll man sie auch nicht voraussetzen. (Philosophie des Abendlandes, S. 391)

Russell, der große Logiker und Mitverfasser der Principia Mathematica, schwört auf das Rasiermesser Ockhams: »Ich für mein Teil habe festgestellt, daß dieses Prinzip bei der logischen Analyse äußerst fruchtbar ist« (Philosophie des Abendlandes, S. 391). 144

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Der Erfolg, den die moderne Wissenschaft dabei hat, die Welt zu verstehen und zu gestalten, ist zu einem nicht geringen Teil darauf zurückzuführen, dass sie nach dem Prinzip von Ockhams Rasiermesser funktioniert. So erklärt etwa die Theorie von der Entwicklung der Arten durch natürliche Auslese – das zentrale Paradigma der ganzen modernen Biologie –, warum Tiere die physischen Merkmale haben, die sie haben, ohne dass sie dabei auf unnötige und problematische Vorstellungen von zweckgerichteten überirdischen oder metaphysischen Kräften zurückgreifen würde – Kräfte, die sich empirisch nicht nachweisen lassen. Ja, die Theorie von der Entwicklung der Arten durch natürliche Auslese kann erklären, warum Tiere die physischen Merkmale haben, die sie haben, ohne dass sie dazu überhaupt auf irgendeine Zweck- oder Absichtsvorstellung zurückgreifen müsste oder würde. Elefanten beispielsweise haben nicht deshalb lange Rüssel, weil es ihr Wille war oder der von Gott, noch nicht einmal, weil es die Natur so wollte, sondern einfach weil Umweltfaktoren immer wieder Elefantenvorfahren mit längeren Nasen begünstigten. Eine etwas längere Nase als die anderen Angehörigen seiner Art – die das Resultat zufälliger Genmutationen darstellt – bot dem Elefantenvorfahren in seiner speziellen Umgebung besseren Zugang zu Nahrung, Trinken usw. Somit lebte er länger und vermehrte sich stärker als seine Artgenossen. Aus dem ganz einfachen Grund, dass lange Nasen bei dieser speziellen Spezies in ihrer speziellen Umgebung über Millionen von Jahren immer wieder einen Überlebensvorteil boten, wurde das Langnasen-Gen durch natürliche Selektion so oft zur Reproduktion ausgewählt, bis sich die Art, die wir Elefant nennen, herausgebildet hatte. Es mag einen metaphysischen Gott geben, doch um die physischen Merkmale von Tieren und die Vielfalt des Lebens auf der Erde hinreichend erklären zu können, braucht man ihn nicht. Religiöse Menschen, die die Evolutionstheorie mit Hilfe eines Evolutionskreationismus oder christlichen Darwinismus in ihrem religiösen Weltbild unterzubringen versuchen, sind zwar immer noch vernünftiger als solche Religiöse, die die Theorie rundweg be145

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streiten. Doch indem sie Dinge voraussetzen, die zu einer erfolgreichen Erklärung vollkommen unnötig sind, indem sie es also versäumen, Ockhams Rasiermesser zu benutzen, setzen sie sich gleichwohl dem doppelten Vorwurf aus, dass ihr Denken im Allgemeinen so sehr zu wünschen übrig lasse wie ihr Wissenschaftsverständnis im Speziellen. Moderne mathematische, wissenschaftliche und technische Theorien werden häufig nach dem Grad ihrer Eleganz beurteilt. Demnach ist eine Theorie mit umso größerer Wahrscheinlichkeit richtig und bewährt sich desto eher in der Praxis, je wunderbarer sie in ihrer Einfachheit ist, je mehr sie mit minimalen begrifflichen Mitteln zu erklären und zu erreichen vermag. Weniger elegante, überladene Theorien, die eine Reihe unterschiedlicher Begriffe voraussetzen, stellen sich in der Regel als lückenhaft, unzutreffend oder einfach als weniger praxistauglich heraus, sobald eine elegantere Theorie vorliegt. Das moderne Prinzip der Eleganz hat seine Wurzeln unzweifelhaft in dem mittelalterlichen Prinzip von Ockhams Rasiermesser. Im Alltag sind die einfachsten Erklärungen fast immer die besten. In der Wissenschaft sind sie es, wie ich zu behaupten wage, immer.

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Paley Setze ich aber den Fall, ich hätte eine Uhr auf dem Boden gefunden, und würde gefragt, wie die Uhr hierher komme, so würde ich mich sehr bedenken, die vorhin gegebene Antwort – ich wisse nicht anders, als daß sie von jeher da gelegen – nochmals zu geben. (William Paley Natürliche Theologie, S. 2. Erstveröffentlichung des engl. Originals 1802)

Im englischen Peterborough geboren, lehrte William Paley (1743– 1805) Philosophie in Cambridge, bevor er der Priesterschaft beitrat und Erzdiakon in Carlisle wurde. Paley war ein außergewöhn146

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licher Gelehrter und immer um das Verständnis der aktuellsten Entwicklungen in Philosophie und Wissenschaft bemüht. Er suchte die neuesten wissenschaftlichen Entdeckungen mit seinen eigenen traditionellen christlichen Ansichten in Einklang zu bringen und wurde darüber zu einem christlichen Apologeten. Paley wertete die wissenschaftlichen Entdeckungen seiner Tage, zumal die Fortschritte im Verständnis der Anatomie des Menschen, als eindeutiges Indiz für einen im höchsten Maße intelligenten Konstrukteur oder Designer, mit einem Wort: für Gott. Sein Buch Natürliche Theologie machte ihn zu dem vielleicht bekanntesten Verfechter der Philosophiegeschichte für das fehlerhafte teleologische Argument oder Konstruktionsargument für die Existenz Gottes. Paley betrachtet das Universum als einen riesigen durchgeplanten Mechanismus – und die Lebewesen als dessen unlösbare Bestandteile –, der die Feinheit und Komplexität des großen Ganzen anschaulich mache und auf einen klaren Plan und Willen hinter allem schließen lasse. Zur Verdeutlichung seiner Ansicht vergleicht Paley die Welt mit einer Uhr und Gott mit einem Uhrmacher. Der Vergleich war bereits vor ihm oft bemüht worden, Paley aber machte ihn fraglos zu seinem eigenen. Sein Name ist quasi zum Synonym dieser Analogie geworden. Paley stellt sich vor, dass er über eine Heide laufend mit seinem Fuß gegen einen Stein stößt und sich fragt, wie der Stein dahin komme. Darauf wüsste er nicht anders zu erwidern, sagt er, als dass der Stein von jeher da gelegen habe. Es versteht sich, dass Paley nicht wirklich denkt, der Stein habe immer schon da gelegen, denn er kannte sich aus mit der aufkommenden Wissenschaft der Geologie. Allerdings ließe sich die Absurdität der Behauptung, dass der Stein von jeher da gelegen habe, seiner Meinung nach nicht leicht zeigen. Wenn nun aber jemand eine Uhr auf der Heide fände, könnte er daraus unmöglich schließen, dass diese immer schon da gelegen habe. Er würde alsbald an ihr entdecken, was er an dem Stein nicht entdecken konnte: »daß ihre verschiedenen Theile um eines Zweckes willen so und nicht anders geformt und zusammen147

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gesetzt sind, daß sie so einander angepasst erscheinen, um Bewegung hervorzubringen, und daß diese Bewegung so geregelt ist, daß sie die Stunden des Tages anzeigt« (Natürliche Theologie, S. 2). Paley gestaltet sein Beispiel mit der Uhr sehr plastisch. Er spricht über die Triebfeder, die aus hinreichend elastischem Stahl gefertigt sei, die ineinandergreifenden Zahnräder indes aus rostbeständigem Messing. Diese Entdeckungen untermauerten seiner Ansicht nach, dass die Uhr in ihrem Aufbau das Resultat absichtsvoller Gestaltung und großer Kunstfertigkeit sei. Worauf Paley mit seiner Uhrenanalogie hinauswill, ist klar: Wenn ein Mensch, der in all die Feinheiten einer Uhr eindringt, zu dem Schluss gelangen muss, dass sie von einem intelligenten und geschickten Hersteller gefertigt wurde, dann ist ein Mensch, der in die belebte Natur eindringt – die in ihrer Form und Funktion so kompliziert erscheint, dass eine bloße Uhr daneben primitiv wirkt –, erst recht zu dem Schluss genötigt, dass diese einen in höchstem Maße intelligenten und geschickten Schöpfer haben muss, anders gesagt, einen göttlichen Uhrmacher. Das teleologische Argument ist ein vertretbares Argument, dem sich immer noch viele Menschen auf der ganzen Welt anschließen. Dennoch ist es mangelhaft, auch wenn seine Mängel vor der freilich nur scheinbaren Richtigkeit des Arguments selbst zurücktreten. Das teleologische Argument ist jedoch nicht nur in mehrerlei Hinsicht fehlerhaft, es gibt zu ihr auch eine überzeugende Alternative, wenn es um die Erklärung der Vielfalt und Komplexität des Lebens auf der Erde geht. Diese Alternative ist Charles Darwins Theorie der Entwicklung der Arten durch natürliche Auslese, die ohne die Vorstellung eines göttlichen, metaphysischen Uhrmachers oder überhaupt irgendeines Uhrmachers auskommt und die als solche ganz nach dem Prinzip von Ockhams Rasiermesser funktioniert (siehe Zitat 27). Die klassische Kritik an dem teleologischen Argument findet sich in Humes Dialogen über natürliche Religion (1779). Obwohl Paley dieses Buch kannte, das 23 Jahre vor der Natürlichen Theologie erschienen war, ließ er dessen Argumente unberücksichtigt. 148

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Humes Widerstand gegen die Religion, den er zeit seines Lebens aufrechterhielt, hatte ihn zu einem Außenseiter des Establishments gemacht, dessen Ansichten erst einige Jahre nach Paleys Tod weitgehende Anerkennung fanden. Ein Hauptkritikpunkt an dem teleologischen Argument besteht für Hume in dem Vergleich mit einer Maschine oder einem Artefakt. Diesen nennt er schwach und verworren, unabhängig davon, ob er auf Teile des Universums wie die lebenden Organismen oder auf das Universum als Ganzes angewendet werde. Lebende Organismen und Maschinen unterscheiden sich stark voneinander. Maschinen sind absichtsvoll konzipiert und ihrer jeweiligen Konzeption entsprechend aus einer Reihe von Komponenten zusammengefügt. Lebende Organismen hingegen sind durchaus keine Zusammenfügungen, sondern sie wachsen durch Zellteilung und sind grundsätzlich Teil des fortschreitenden Lebens einer Art. Maschinen und Artefakte wachsen und verändern sich nicht von selbst wie lebende Organismen. Sie können nur dadurch wachsen und sich verändern, dass ein Handwerker sie absichtsvoll erweitert oder modifiziert. Ein lebender Organismus ist ein einheitliches Ganzes, auch wenn es den Zielen der Wissenschaft entspricht, das Ganze als eine Zusammenfügung von Teilen zu behandeln. Ein lebender Organismus ist nicht wie eine Uhr gefertigt, und es wäre verfehlt, wollte man eine Form der organischen Fortpflanzung und des organischen Wachstums als Fertigung ansprechen. Lebewesen werden von ihren Eltern nicht gefertigt. Was die Analogie zwischen einer Maschine und dem Universum als Ganzem betrifft, so muss die Komplexität der Ersten als Resultat der absichtsvollen Zusammenfügung von Komponenten oder Bauteilen durch einen Ingenieur aufgefasst werden, die Komplexität des Zweiten hingegen als Resultat des Wirkens eines absichtslosen natürlichen Prozesses physikalischer, chemischer und biologischer Art, und darin besteht auch seine brauchbarste Erklärung. Mit Ausnahme der Hervorbringungen des Menschen und der einiger Tiere haben sich die Strukturen des Universums ent149

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wickelt, sie wurden keineswegs erschaffen oder errichtet. Außerdem sind Maschinen eben nicht organisch – sonst wären sie lebende Organismen und keine Maschinen –, während das Universum zum Teil organisch ist, in welchem Fall es sich vielleicht besser mit einer Kartoffel als mit einer Uhr vergleichen ließe. Die Verfechter des teleologischen Arguments vermeiden es jedoch tunlichst, das Universum mit einem Gemüse zu vergleichen. Ein solcher Vergleich nämlich würde ihr Argument untergraben. Denn ob Gemüse und andere Lebensformen designt sind und also einem Entwurf entsprechen, ist ja gerade die Frage, um die es geht. Der vielleicht größte Unterschied zwischen dem Universum und einer Maschine ist der, dass diese einen feststellbaren Zweck hat, wohingegen dies bei jenem nicht der Fall ist. Dass das Universum beispielsweise streng nach den Gesetzen der Schwerkraft funktioniert, heißt nicht, dass es sich bei ihm um eine gigantische Maschine handelt, die gewisse Operationen ausführt und irgendeinem Zweck entsprechend funktioniert. Zugegebenermaßen haben bestimmte Teile des Universums ihre eigenen Zwecke. Lebende Organismen führen Funktionen aus und sie haben Zwecke wie etwa Fortpflanzung und Nahrungsaufnahme. Es gibt aber keinen Grund anzunehmen, dass, nur weil ein paar kleine hochentwickelte Teile des Universums auf ihre eigenen Aufgaben und Ziele hinwirken, das Universum als Ganzes einen letzten höheren Zweck haben müsse. Hume führt gegen das teleologische Argument noch den Umstand an, dass das Universum gar nicht anders als konstruiert erscheinen könne, weil zur eigentlichen Möglichkeit seiner Existenz eine gewisse Ordnung und Kohärenz gehöre, ein innerer Zusammenschluss seiner Teile. Die Verfechter des teleologischen Arguments sehen in der Ordnung und Kohärenz dieses Universums ein besonderes und eigentümliches Merkmal, so als ließe es sich mit anderen Universen vergleichen, denen Ordnung und Kohärenz gänzlich abginge. Zum einen aber kennen wir keine anderen Universen, zum anderen muss jedes Universum, das es geben kann oder das es tatsächlich gibt, eine gewisse innere Ordnung und Kohärenz aufweisen. 150

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Das Universum erscheint umso mehr wie ein Entwurf, wenn und sobald wir uns zu der Ansicht entschließen, dass es praktischerweise zu unserem Nutzen geplant und eingerichtet wurde; wenn und sobald wir die enorm große Rolle, die der Zufall bei unserer Entstehung spielte, bewusst übergehen und die Tatsache gleich mit, dass das Universum keineswegs uns angepasst ist, sondern vielmehr wir dem Universum. Wenn etwa jemand auftritt und verkündet, es sei ein Zeichen intelligenten Designs, dass die Erde sich in der sogenannten Goldlöckchen-Zone befindet, also in genau der richtigen Entfernung von der Sonne, um Leben gedeihen zu lassen, so vergisst er, dass es Millionen von Planeten im Universum gibt, die sich nicht in der richtigen Entfernung von ihrem Stern befinden, in der Leben entstehen kann. Dennoch könnte man speziell auf das Leben selbst bezogen fragen, was es denn sei, das den lebenden Dingen ihre Regelmäßigkeit und Kohärenz verleihe. Hume zufolge wird dergleichen nicht verliehen. Ordnung, Kohärenz und Organisation sind für ihn einfach wesentlich zum Universum gehörende Merkmale, oder jedenfalls Merkmale, die im Laufe der Zeit zwangsläufig hervortreten. Er wartet mit der epikureischen Hypothese auf und argumentiert, dass endlich viele von sich wahllos bewegenden Partikeln mit der Zeit jede mögliche Kombination durchlaufen. Am Ende werde eine stabile Ordnung erreicht, die sich selbst kohärent erhalte und deren Komplexität immer weiter zunehme. In mancher Hinsicht ist diese grundlegende Hypothese ein Vorbote von Darwins Evolutionstheorie, die den einfachen und vollkommen blinden Prozess erkennt und beschreibt, durch den Zufallsmutationen zu all den hochgradig entwickelten, komplexen, scheinbar einem Entwurf folgenden Lebensformen führen, von denen die Erde bevölkert ist. Die Evolution wird im Zusammenhang mit den Ausführungen zu Zitat 27 und Ockham kurz erläutert. Wenn Sie jedoch genauer wissen möchten, wie die Evolution das hervorbringt, was Richard Dawkins die »Illusion von Design und Planung« nennt (Der blinde Uhrmacher, S. 1), dann lesen Sie sein Buch. Dawkins’ Verwen151

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dung des Ausdrucks »blinder Uhrmacher« ist selbstverständlich ein Kommentar zu Paleys göttlichem Uhrmacher.

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Parmenides (um 515–um 445 v. Chr.) ist ein altgriechischer, vorsokratischer Philosoph, der in Elea an der Südküste des heutigen Italien geboren wurde. Er war der Begründer der eleatischen Philosophenschule. Für das obige Zitat gibt es allem Anschein nach keine genaue Quellenangabe, und wenn es jemals eine gab, hat sie sich längst im Nebel der Zeit verloren. Dennoch ist der kurze Satz von späteren Denkern immer Parmenides zugeschrieben worden, und es ist mit Sicherheit so, dass er einen wesentlichen Aspekt von dem, was über seine Philosophie bekannt ist, auf den Punkt bringt. Von Parmenides’ Ideen weiß man eine ganze Menge durch die erhaltenen Fragmente seines zweiteiligen philosophischen Gedichts Über die Natur (1. Teil: »Der Weg der Wahrheit«, 2. Teil: »Der Weg der Meinungen«) und durch das Werk späterer altgriechischer Philosophen, speziell das von Platon und Aristoteles. Platon schrieb einen Dialog mit dem Titel Parmenides, in dem der junge Sokrates mit Parmenides und mit Zenon (um 495–um 430 v. Chr.), einem anderen großen Philosophen der eleatischen Schule, diskutiert. Ob es dieses Zusammentreffen großer Geister wirklich gegeben hat, weiß man nicht, unzweifelhaft ist aber, dass Platon für die Ideen von Parmenides Hochachtung empfand und enorm von ihnen beeinflusst war. Parmenides selbst mag eine durch den Schleier der Zeit schwer fassbare Gestalt sein, doch sein berühmter Satz: »Aus nichts wird nichts« hat zumindest auf einer Ebene eine ziemlich offensichtliche Bedeutung, allemal im Vergleich zu einigen der 152

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anderen in diesem Buch behandelten Zitate. Ganz einfach ausgedrückt besagt er, dass es nicht möglich ist, etwas aus nichts zu erhalten. Etwas oder Seiendes kann unmöglich aus nichts oder Nichtseiendem entspringen. Ohne Zutaten kann man keine Kuchen backen, eine Milliarde Mal nichts ist gleichwohl nichts. Sie verstehen bestimmt. Der Satz wird oft in Verbindung mit dem kosmologischen Argument für die Existenz Gottes zitiert. Ich habe ihn in meinen Ausführungen zu Thomas von Aquins Gottesbeweisen angeführt (siehe Zitat 3). Im Kern besagt das Argument, dass das Universum nicht aus nichts hervorgegangen sein könne, weshalb es etwas geben müsse, das es erschaffen habe, nämlich Gott. Interessanterweise vertreten viele moderne Physiker, darunter auch Stephen Hawking (geb. 1942), weitgehend anti-parmenidisch geprägte Ansichten, sagen sie doch, dass vor dem Urknall absolut nichts gewesen sei – ja sogar, dass es kein vor dem Urknall gegeben habe, weil selbst die Zeit nicht existierte. Andere Physiker stehen Parmenides’ allgemeiner Ansicht wohlwollender gegenüber, da sie sagen, dass es vor dem Urknall irgendetwas gegeben haben müsse, reine Energie oder mathematische Prinzipien, oder dass das jetzige Universum aus einem früheren hervorgegangen sei und so weiter ad infinitum. Beide Vorstellungen sind gleichermaßen spektakulär. Entweder ist etwas aus nichts hervorgegangen, der Kuchen aus keinen Zutaten gebacken worden, oder es gibt, wie Parmenides annimmt, ein allem zugrundeliegendes Sein oder Wesen, das es von jeher gegeben hat und immer geben wird. Im Rahmen von Parmenides’ eigener Philosophie hat der Satz: »Aus nichts wird nichts« eine etwas andere Bedeutung als in seiner üblichen Verwendung. Parmenides zufolge gibt es allem Anschein zum Trotz keinen Wandel und kein Werden. Russell sagt in seiner Philosophie des Abendlandes: »Heraklit hat behauptet, dass alles sich wandelt, Parmenides hingegen erklärte, dass nichts sich verändert« (Philosophie des Abendlandes, S. 58). Für eine Erklärung von Heraklits Auffassung verweise ich Sie auf die Ausführungen zu Zitat 12. 153

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Parmenides’ Behauptung, Veränderung sei unmöglich, ist eine metaphysische Behauptung, die auf Logik beruht – und auch beruhen muss, denn sie widerspricht dem, was die physische Welt uns ständig vor Augen zu führen scheint: dass die Wirklichkeit sich dauernd verändert und dass permanente Veränderung ein Grundzug von ihr ist. Parmenides war nicht der erste Denker, der mit einer metaphysischen Erklärung des Wesens der Wirklichkeit aufwartete. Er war jedoch der Erste, der eine solche Erklärung auf Logik gründete und nicht auf Mystik oder Religion. Russell sieht darin Parmenides’ wesentlichen Beitrag zur Philosophie, denjenigen, der ihn »historisch bedeutend« mache (Philosophie des Abendlandes, S. 58). Sein – das, was wirklich ist – ist für Parmenides ewig, unendlich und unsichtbar. Es ist kein fortlaufender Prozess des Werdens, wie Heraklit annimmt, keine fortwährende Vereinigung von Gegensätzen, da es Gegensätze nicht gebe und nicht geben könne. Sein sei »das Eine«, wenngleich Parmenides dabei nicht das vorschwebt, was wir als Gott bezeichnen würden. Sein sei unveränderlich, und als solches habe es weder Anfang noch Ende. Es könne keiner Veränderung unterliegen, weil Veränderung Nichtsein erfordern würde, in dem Sinne, dass etwas nicht mehr ist, was es war, und noch nicht ist, was es sein wird, usw. Das vollkommene und unendliche Sein kann Parmenides zufolge kein Nichtsein in sich tragen, kann in keinem noch so geringen Umfang dem Nichtsein Platz machen, kann kein Nichtsein entstehen lassen und es kann gewiss nicht aus Nichtsein hervorgehen, denn – um es zu wiederholen – »aus nichts wird nichts«, sprich, aus nichts kann unmöglich etwas hervorgehen. Aus dem Nichtsein des Nichtseins folgt nach Parmenides, dass alle Veränderung (Dinge sind nicht mehr, was sie waren, und werden, was sie noch nicht waren) und alle Vielfalt (dieses Ding ist nicht jenes) nur Schein und Täuschung sind. Unsere Sinne würden uns nur glauben machen, dass es Veränderung und Vielfalt gebe und sie erkennbar seien. Aber sie seien nicht erkennbar, weil es sie nicht wirklich gebe und sie folglich nicht Gegenstand von Erkenntnis sein können. Der einzig wahre Erkenntnisgegen154

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stand sei das ewige und unveränderliche Sein, und das lasse sich allein durch Vernunft und Logik erkennen und niemals durch die Sinne. Diese Gedanken hatten wie gesagt enormen Einfluss auf Platon, für den die wahre Wirklichkeit, das wahre Sein, eine überzeitliche metaphysische Sphäre von vollkommenen, unveränderlichen und universellen Formen oder Ideen ist (siehe Zitat 31). Ein Beispiel für eine solche Form bilde die unabhängig vom Geist bestehende Idee einer vollkommenen Kreisform, im Unterschied zur unvollkommenen Gestalt der einzelnen physischen Kreise. Diese seien aufgrund ihrer unvollkommenen Kreisform nicht vollkommen rund und insofern nicht wirklich. Für Platon ist die physische Welt der Sinne, die Welt der annähernd kreisrunden Dinge und alles dessen, was sie sonst noch beherbergt, eine bloße Täuschung – ein bloßer Schatten der wahren Wirklichkeit der Formen. Der Welt der Sinne gegenüber besteht ihm zufolge nur die Möglichkeit des Glaubens. Sie lasse sich nicht erkennen und wissen, weil sie ständigem Wandel unterliege und kein eigentliches Sein habe. Die Möglichkeit von Erkenntnis und Wissen bestehe nur gegenüber den Formen, wobei rein rationales Wissen zunächst durch die Mathematik erworben werde und schließlich durch die Dialektik, durch strukturierte philosophische Erörterungen. Parmenides stand mit seinen Ansichten zum wahren Wesen der Wirklichkeit weit jenseits der Physik und Naturphilosophie seiner Tage, wenn er argumentierte, dass die wahre Wirklichkeit nicht das sei, was uns erscheine, und dass sie sogar ganz anders sei als das, was uns erscheint. Seine kühne Behauptung, nach der wir zur Entdeckung des wahren Wesens der Wirklichkeit das Zeugnis unserer Sinne vernachlässigen müssen, um uns stattdessen auf metaphysisches Denken zu verlassen, war Ausdruck eines wirklich radikalen Schritts, der auf viele der nachfolgenden Denker einen enormen Einfluss hatte, unter anderem auch auf Platon, Hegel und Heidegger. Parmenides’ Einfluss über die Jahrhunderte hinweg zeigt sich auch an den vielen anderen, eher empiristisch gesinnten Philoso155

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phen, die genau diese Art der Zurückweisung von Sinneswahrnehmung und Beobachtung, diese Art von Nabelschau und metaphysischem Nachdenken über die wahre Wirklichkeit, ablehnten, deren Wegbereiter er war. Für den vielleicht berühmtesten Angriff auf das metaphysische Denken in der ganzen Geschichte verweise ich Sie auf Zitat 15 und die Ausführungen zu Hume.

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Pascal Wägen wir Gewinn und Verlust, wenn wir uns für Bild [Kopf] entscheiden, daß Gott ist. Schätzen wir diese beiden Fälle ein: Wenn Ihr gewinnt, so gewinnt Ihr alles, und wenn Ihr verliert, so verliert Ihr nichts: Wettet also ohne zu zögern, daß er ist. (Blaise Pascal Gedanken, S. 227. Postum veröffentlicht 1669).

Der im zentralfranzösischen Clermont-Ferrand geborene Blaise Pascal (1623–62) erwies sich schon in jungen Jahren als außerordentliche mathematische und wissenschaftliche Begabung. Sein Vater, der ebenfalls einschlägige Interessen hatte, unterrichtete den Jungen selbst, und 1631 zogen sie nach Paris. Mit 16 Jahren bereits verfasste Pascal eine Schrift, die einen wichtigen mathematischen Beweis enthielt, der heute als Satz von Pascal bekannt ist. Wie es scheint, zog er mit seiner Frühreife den Neid des anderen großen französischen Mathematikers und Philosophen der Zeit auf sich, den von Descartes (siehe Zitat 9), der sich ziemlich gehässig und abschätzig über die bemerkenswerte Leistung des Jungen äußerte. Zweifellos davon angespornt, dass sich selbst der große Descartes von ihm aus dem Konzept bringen ließ, wartete Pascal gleich mit einer Reihe weiterer außergewöhnlicher Leistungen auf, wobei hier vor allem die Erfindung der weltweit ersten mechanischen Rechenmaschine zu nennen ist, der Pascaline. Mit Anfang 30 erlebte Pascal im Anschluss an eine starke mystische Erfahrung der Macht Gottes – die er zu nächtlicher Stunde hatte und die wohl auch zu einem nicht geringen Teil mit 156

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seiner schlechter werdenden Gesundheit zusammenhing – eine Bekehrung. Er schloss sich den Jansenisten an, einer katholischen Bewegung, die in Gegnerschaft zu den Jesuiten stand, und zog sich häufig in das bei Paris gelegene Kloster Port-Royal des Camps zurück, einem Zentrum großer Gelehrtheit, das seinerzeit viele bekannte Denker anlockte und von wo die Philosophenschule von Port Royal ihren Ausgang nahm. Pascal wendete sich von Mathematik, Wissenschaft und Mechanik ab, um sich fortan der Philosophie und der Theologie zu widmen, verfasste verschiedene wichtige Abhandlungen in diesen Gebieten, bevor er mit gerade einmal 39 Jahren aus dem Leben schied. Wenn jemand die Regel bestätigen kann, dass die hellsten Sterne am kürzesten leuchten, dann ist es Pascal, der selbst nach den hohen Maßstäben der Aufklärung als überragendes Genie galt. Pascals bekanntestes philosophisches Werk, die Pensées (Gedanken), wurde postum veröffentlicht. Dessen Kernstück bildet eine Idee, die schließlich als Pascals Wette bekannt wurde und die zusammen mit dem Satz von Pascal, dem Pascal’schen Dreieck sowie seiner Rechenmaschine große geschichtliche Wirkung entfaltete. In philosophischer Hinsicht war Pascal Agnostiker, weil er der Vernunft das Vermögen absprach, die Existenz Gottes zu beweisen oder zu widerlegen. Er gelangte jedoch zu der Ansicht, weil es Gott geben könnte, müssten die Menschen sich zu ihrem eigenen Besten so zu leben verpflichten, als ob es ihn tatsächlich gäbe. Auch wenn der Agnostizismus die philosophisch einzig vernünftige Position darstellt – als Agnostiker zu leben heißt, sein Urteil über etwas, das man zumindest für möglich erachtet, zurückzuhalten und die Vermeidung eines philosophischen Irrtums höher zu schätzen als alles, was der Entschluss zum Glauben einem an Sinn und Zweck im Leben, an Gnade und Erlösung zu geben vermöchte. Bei der Darlegung seiner berühmten Wette macht Pascal seinem Ruf als herausragender Mathematiker und Wahrscheinlichkeitstheoretiker alle Ehre. Er argumentiert, dass wir, die wir nicht 157

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wissen können, ob es Gott gibt oder nicht, vor der unvermeidlichen Aufgabe stehen, unsere Entscheidung, wie wir leben sollen, auf der Grundlage einer Risikoberechnung zu treffen. Seiner Auffassung nach wird jeder kluge Mensch darauf setzen, so zu leben, als ob es Gott gibt. Denn wenn es Gott gibt, erlange er das ewige Seelenheil, während es ihn, gibt es Gott nicht, lediglich ein paar irdische Freuden koste. Nur ein Narr würde darauf setzen, so zu leben, als ob es Gott nicht gibt, denn falls er Unrecht hat und es gibt Gott, verspiele er das ewige Seelenheil und komme lediglich in den Genuss von ein paar irdischen Freuden. Der amerikanische Philosoph und Pragmatist William James (1842–1910) vertritt in seiner einflussreichen Schrift »Der Wille zum Glauben« (1896) eine ähnliche Position. Für James geht es jedoch nicht einfach um mögliche postume Gewinne oder Verluste, sondern um die Auswirkungen des Glaubens oder des mangelnden Glaubens auf die Person im Hier und Jetzt, falls es Gott gibt. Wenn es Gott gibt und der Mensch glaubt, erlange er auf der Stelle »ein […] wichtiges Gut« (»Der Wille zum Glauben« in Pragmatismus, S. 153). Darum sollte man sich unverzüglich zum Glauben überreden, statt sein ganzes Leben skeptisch zu bleiben mit der Begründung, ein Gottesbeweis sei unmöglich zu führen. Wer sich dauerhaft der Skepsis verschreibe, werde mit Sicherheit schlecht wegkommen, während wer sich zum Glauben verpflichte, ein großartiges Gut erlangen könne. James warnt, dass man sich durch das Festhalten an der Skepsis um der Vermeidung eines Irrtums willen in vielen Lebensbereichen, nicht zuletzt im seelisch-geistigen, der Chance beraubt, zu den Siegern zu gehören. Er sagt: Wir können uns dem Streit nicht entziehen, indem wir skeptisch bleiben und auf bessere Erleuchtung warten, weil wir, ob wir schon auf diese Weise den Irrtum vermeiden, falls die Religion nicht der Wahrheit entspricht, doch das Gut, wenn sie der Wahrheit entspricht, ebenso sicher verlieren, als wenn wir uns entschieden zum Nicht-Glauben entschließen. (»Der Wille zum Glauben« in Pragmatismus, S. 153)

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Für einen Agnostiker ist der eigentliche Knackpunkt an der Selbstüberredung bzw. der Entscheidung zum Glauben an Gott, wie er sich selbst glauben machen kann, wenn er doch keine Sicherheit hat. Glauben ist ja keine Frage der Entscheidung, sondern vielmehr eine der Evidenz und ihrer vorschreibenden Kraft. Wie bringt man sich dazu zu glauben, dass es draußen schneit, wenn man im Inneren eingeschlossen ist und darum nicht weiß, ob es draußen schneit oder nicht? Alles was man glauben kann, ist doch, dass man es nicht weiß. Es gibt freilich Anlässe, wo der Glaube tatsächlich eine Frage der Entscheidung ist. Ein Mensch kann sich zum Glauben an sich selbst entschließen, oder daran, dass er die Kraft hat, eine Aufgabe zu Ende zu bringen, usw. Aus dem Glauben an die eigene Selbstsicherheit folgt in hohem Maße tatsächliche Selbstsicherheit. Genau das macht Selbstsicherheit aus. Oder jemand entschließt sich, einer andern Person zu vertrauen, dieses Vertrauen durch das eigene Verhalten ihr gegenüber zu zeigen, wenn es keine Hinweise darauf gibt, ob diese andere Person vertrauenswürdig ist oder nicht. Mitunter lässt sich nur dadurch herausfinden, ob jemand vertrauenswürdig ist, dass man ihm oder ihr Vertrauen entgegenbringt. Nicht anders als die Kirche behauptet auch Pascal, wenn man lebe, als sei man gläubig, werde man den Glauben schließlich erlangen. Ein mit religiösen Gewohnheiten und Ritualen angefülltes Leben werde den bohrenden Zweifel schließlich zum Schweigen bringen. Und wenn Zweifel bleiben, so werde man Gott, falls es ihn gibt, immerhin dadurch erfreuen, dass man sie zu zerstreuen suche. Pascal sagt, und er spricht eindeutig wie jemand, der den Weg eingeschlagen hat, auf den er verweist: Ihr wollt zum Glauben gelangen, und Ihr wißt den Weg zu ihm nicht. Ihr wollt Euch vom Unglauben heilen, und Ihr fragt nach den Mittel dafür: Lernt von denjenigen usw., die wie Ihr gebunden waren und die nun ihr ganzes Gut einsetzen. Es sind Leute, die diesen Weg kennen, dem Ihr folgen möchtet, und sie sind von einem Übel geheilt, von dem auch Ihr genesen wollt; 159

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befolgt die Art, in der sie begonnen haben. Das heißt, sie handelten in allem so, als glaubten sie, sie gebrauchten Weihwasser, ließen Messen lesen usw. Ganz natürlich wird Euch eben das gleiche zum Glauben führen und Euren Verstand demütigen. (Gedanken, S. 229 f.)

James erkennt eine gehörige Portion Zynismus darin, dass Pascal ein Verhalten empfiehlt, das nicht aufrichtig sei und eine berechnende, kaltherzige Reaktion auf eine klinische Bewertung von Risiken darstelle. Das ist vielleicht ungerecht, bedenkt man, welch tiefgreifende Wirkung Pascals Bekehrung auf seine Persönlichkeit hatte und mit welcher Aufrichtigkeit und welchem Ernst er sich in den letzten Jahren seines kurzen Lebens fest dem Glauben an Gott verschrieb. James treibt dennoch seinen Spott mit Pascal: Wir fühlen, daß der Glaube an Messen und Weihwasser, der bewusst auf Grund einer solchen mechanischen Berechnung angenommen wäre, die innere Seele wirklichen Glaubens entbehren würde; und wenn wir an der Stelle der Gottheit ständen, so würde es uns wohl besonderes Vergnügen machen, Gläubige dieser Art um ihren unendlichen Lohn zu bringen. (»Der Wille zum Glauben« in Pragmatismus, S. 133)

Demgegenüber scheint James ein subtileres Konzept zu befürworten, nämlich dasjenige des Einzelnen, der sich entschließt und dazu bestimmt, die Welt aus einem spirituellen oder religiösen Blickwinkel zu sehen, seine Skepsis aufzugeben und stattdessen Liebe, Moral, Schönheit und vergleichbare Phänomene bewusst als heilig zu interpretieren, als hätten sie einen religiösen Stellenwert. Dies ist jedoch letztlich eine ganz gute Beschreibung der Sicht auf das Leben, die Pascal nach seiner Bekehrung selbst vertrat, auch wenn der Schwerpunkt seiner berühmten Wette auf einer Abwägung von ewiger Belohnung und Bestrafung liegt.

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Platon Mache dir nun an folgendem Gleichnis den Unterschied des Zustandes klar, in dem sich unsere Natur befindet, wenn sie im Besitze der vollen Bildung ist und anderseits wenn sie derselben ermangelt. Stelle dir Menschen vor in einer unterirdischen Wohnstätte mit lang nach aufwärts gestrecktem Eingang, entsprechend der Ausdehnung einer Höhle; von Kind auf sind sie in dieser Höhle festgebannt mit Fesseln an Schenkeln und Hals; sie bleiben also immer an der nämliche Stelle und sehen nur geradeaus vor sich hin, durch die Fesseln gehindert, ihren Kopf herumzubewegen. (Platon Der Staat, 514a, in Platon Sämtliche Dialoge, Bd.V, S. 269.Verfasst um 375 v. Chr.)

Die sagenhafte Weite seines philosophischen Blicks und die schiere Unermesslichkeit seines anhaltenden Einflusses machen Platon (427–347 v. Chr.) zu dem größten Philosophen der westlichen Tradition (siehe auch Zitat 40, Whitehead). Der in eine wohlhabende und einflussreiche Familie geborene Platon sollte in die Politik gehen und wurde von Kindesbeinen an darauf vorbereitet. Politische Ereignisse selbst waren es, die ihn sich in seinen späten Zwanzigern von der Politik abwenden ließen und zur Philosophie führten. Die Aushöhlung des athenischen Reichs im Zuge des Peloponnesischen Kriegs mit Sparta (431–404 v. Chr.) erzeugte in Athen ein von Aufruhr und Verrat geprägtes politisches Klima, dem schließlich Platons Freund und Lehrer Sokrates durch Hinrichtung zum Opfer fiel (399 v. Chr.), nachdem ihm wegen angeblich verderblichen Einflusses auf die Jugend und Gotteslästerung der Prozess gemacht worden war. »Eine ganz ruchlose Anklage […], die auf niemand weniger als auf Sokrates passte« (Platon Der siebente Brief, 325, S. 5). Die Hinrichtung des Sokrates öffnete Platon die Augen über die Politik, »so daß ich, der ich doch ursprünglich voll Eifer war, mich mit dem Staate abzugeben, wenn ich darauf achtete und sah, wie alles drunter und drüber 161

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ging, schließlich ganz schwindlig wurde« (Der siebente Brief, 325, S. 6). Platon kehrte den Athener Angelegenheiten weitgehend den Rücken, wendete sich der Dichtung zu und dann der Philosophie. Außerdem studierte er Geometrie, Astronomie und Religion. Er unternahm ausgedehnte Reisen im Mittelmeerraum, auf denen er die Philosophen und großen Geister seiner Zeit aufsuchte. Allmählich gelangte er zu der Überzeugung, dass nur noch die radikalsten, philosophisch begründeten politischen Reformen die Menschheit vor sich selbst retten könnten. »So sah ich mich gezwungen, nur noch die wahre Philosophie anzuerkennen und festzustellen, daß man allein von ihr ausgehend vollständig erkennen könne, worin Gerechtigkeit im Staate und im Privatleben bestehe« (Der siebente Brief, 326, S. 6). Platon schrieb schließlich etwa 30 klassische Dialoge zu ganz unterschiedlichen philosophischen Themen. Zusammen bilden sie das erste große und umfassende philosophische System im westlichen Denken. Seine Werke werden »Dialoge« genannt, weil sie in der Form von Gesprächen zwischen Sokrates und verschiedenen Gesprächspartnern geschrieben sind. Die Idee, dass sich die Politik von der philosophischen Einsicht leiten lassen muss, dass Philosophen die Regentschaft übernehmen oder sich zu Philosophenherrschern aufschwingen müssen, ist eines der zentralen Themen in Der Staat, Platons größtem Dialog. Darin entwirft er das ideale Staatsgebilde anhand einer gründlichen Untersuchung des Unterschieds zwischen Wissen und Glauben; der Wirklichkeit in ihrem wahren Wesen; des Menschen in seiner Natur; von Bildung und Erziehung; Herrschaft; unvollkommenen Gesellschaften; von Zensur und Gerechtigkeit. Um 387 v. Chr. gründete Platon die Akademie, eine für das Studium der Philosophie bestimmte Schule. Ihr berühmtester Schüler war Aristoteles, der dort 18 Jahre lang lernte und lehrte. Die Akademie hatte über neun Jahrzehnte Bestand und bildet auch weiterhin das Vorbild für alle westlichen Universitäten. Nach Beendigung seiner Reisen verbrachte Platon die letzten Jahre seines Lebens an der Akademie mit Schreiben und gelehrten 162

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Gesprächen. Er starb im stattlichen Alter von 80 Jahren, das zur damaligen Zeit kaum jemand erreichte. Es gibt verschiedene Darstellungen seines Todes. Nach einer verstarb er im Schlaf, nach einer anderen ereilte ihn der Tod auf einem Hochzeitsfest. Der romantischsten Darstellung nach starb er auf seinem Bett, während ihm ein thrakisches Mädchen auf der Flöte vorspielte – ein ironisches Ende für einen Denker, der dazu riet, die Flötenmusik aus seinem Idealstaat zu verbannen (Der Staat, 399d, S. 106), weil sie störende Leidenschaften und Gefühle wecke, die sich schwächend auf die Selbstbeherrschung und Disziplin auswirken würden. Unser Eingangszitat ist dem Beginn von Platons berühmtem Höhlengleichnis entnommen, einer von mehreren geistreich erweiterten Metaphern, mit denen er im Staat eine Reihe eng zusammenhängender philosophischer Punkte zu veranschaulichen sucht. Hinter den Gefangenen, von denen im Zitat die Rede ist, verläuft ein Weg, den eine Mauer abschirmt, und jenseits des Weges brennt ein Feuer. Menschen tragen alle möglichen Gegenstände den Weg entlang, Tierfiguren usw., die über die Mauer hinausragen. Das Feuer wirft die Schatten dieser Figuren auf die Höhlenwand vor den Gefangenen. Diese haben, weil sie festgebunden sind, seit ihren Kindertagen nichts anderes gesehen als diese Schatten und daher halten sie sie für die Wirklichkeit. »Durchweg also würden diese Gefangenen nichts anderes für wahr gelten lassen als die Schatten der künstlichen Gegenstände« (Der Staat, 515c, S. 270). Ein Gefangener wird freigelassen und wendet mühsam seinen Kopf. Geblendet vom Feuer, kann er die Gegenstände, auf deren Schatten er sein ganzes Leben lang geblickt hat, nicht richtig sehen. Weil ihm die Schatten vertrauter sind, verschließt er sich der Wahrheit und verneint, dass sie weniger wirklich seien als die Gegenstände, die sie geworfen haben. Von dem Licht geblendet und gequält, will er in die Vertrautheit der Schatten zurückkehren, doch er wird gewaltsam aus der Höhle verschleppt und an die Oberfläche gebracht. Wegen des 163

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gleißenden Lichts kann er zunächst nichts sehen, nach und nach aber gewöhnt er sich an das Tageslicht. Er kann auf die Spiegelbilder der Dinge im Wasser blicken und dann die Dinge selbst sehen. Schließlich kann er direkt in die Sonne schauen. Langsam begreift er, dass die Sonne den Wechsel der Jahreszeiten bewirkt und alles beherrscht, was er in der sichtbaren Welt sehen kann. Er empfindet Bedauern für die, die nach wie vor in der Höhle eingesperrt sind und den Schein für die Wirklichkeit halten, Glauben mit Wissen verwechseln. Es gibt nichts, was ihn in die alte Gefangenschaft und Unwissenheit zurückzieht. Würde er in die Höhle zurückkehren, wäre er nun von der Dunkelheit geblendet und den anderen Gefangenen erschiene er lächerlich. »Würde es nicht von ihm heißen, sein Aufstieg nach oben sei schuld daran, daß er mit verdorbenen Augen wiedergekehrt sei […]?« (Der Staat, 517a, S. 272). Würde er versuchen, die Gefangenen zu befreien und an die Oberfläche zu führen, würden sie ihn töten. Platon zufolge ist die physische Welt, die Welt, mit der wir durch unsere Sinne in Berührung sind, eine bloße Erscheinung, ein bloßer Schatten der höheren Wirklichkeit der vollkommenen, ewigen und metaphysischen Formen. Diese Formen bleiben den Sinnen verschlossen, nur der Geist könne sie erreichen. Die Form des Quadratischen beispielsweise sei die Idee des vollkommenen Quadrats. Nur diese universelle Idee sei im eigentlichen Sinne wirklich, im Unterschied zu den einzelnen quadratischen Dingen in der Welt der Materie, die nicht vollkommen quadratisch seien und die nur als mehr oder weniger quadratisch erkannt würden, je nachdem, wie nah sie der vollkommenen Quadratform kämen. Weil die physische Welt eine bloße Erscheinung sei, die ständigem Wechsel und Wandel unterliege (siehe Zitat 12, Heraklit), und weil auf die Sinne, durch die wir mit ihr in Verbindung stehen, kein Verlass sei und sie uns leicht täuschen können, könne es in Bezug auf sie nur Meinungen und Glaubensvorstellungen geben. Wissen bleibt Platon zufolge auf die Formen beschränkt, von denen allein wir wirkliche Erkenntnis erlangen können, weil sie vollkommen und unveränderlich und dem geschulten Geist ohne die Mitwirkung der fehlbaren Sinne unmittelbar zugänglich seien. 164

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Platons Höhle ist die Höhle der Unkenntnis. Die meisten Menschen seien wie die Gefangenen darin eingeschlossen und würden Schatten und Erscheinungen – den wirren Unsinn des täglichen Lebens – mit der Wirklichkeit verwechseln, und ihre bloßen Überzeugungen und Meinungen von jenen Schatten mit Wissen. Nur die Schulung in abstrakten Fächern wie Mathematik und Geometrie, gefolgt von der gründlichen Ausbildung in kritischem Denken und Philosophie, ermögliche den Menschen ein Entkommen aus der Höhle der Unkenntnis in das klare Licht von Vernunft und Wahrheit. Die zahlreichen Stationen auf dem Weg der Gefangenen von der ersten Befreiung bis zum Anblick der Sonne entsprechen den zahlreichen Stationen dieses langen und schwierigen Aufklärungsprozesses. Die meisten Menschen, die sich auf den langen Weg zur Erkenntnis machen, überfordere und ängstige das Licht der Wahrheit bald. Sie wollen nichts mehr, als zurück in die Dunkelheit kriechen, zurück in die Höhle ihres Nichtwissens, und ihren Glauben einmal mehr in die unwirklichen Schatten setzen; sich wieder Belanglosigkeiten, Ablenkungen und ihrem ausschweifenden Materialismus überlassen. Einige wenige würden sich an das Licht gewöhnen. Sie würden lernen, Vernunft und Wahrheit über alles andere und um ihrer selbst willen zu lieben. Schließlich haben sie für die Schatten, die sie einst für die Wirklichkeit hielten, nur noch Verachtung übrig, aber auch Mitleid mit den Nichtwissenden und Willensschwachen, die sich von den Schatten weiterhin narren lassen. Das Ansichtigwerden der Sonne außerhalb der Höhle gilt dem Philosophen als Inbegriff der Aufklärung. Es ist seine geistige Vision der höchsten Idee – der Idee des Guten –, des höchsten Ursprungs von allem, des Ideellen ebenso wie des Materiellen. Genau wie die Sonne der erste und oberste Gegenstand in unserem physisch-materiellen Reich sei, so sei die Idee des Guten die erste und oberste Wirklichkeit im Reich der Ideen. Genau wie die Sonne die Quelle der Sichtbarkeit und aller Erhellung bilde, so bilde die Idee des Guten die Quelle aller geistigen Erhellung und des 165

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Verstehens. Platon vergleicht die Idee des Guten auch an früherer Stelle des Staates mit der Sonne, namentlich in seinem Höhlengleichnis (Der Staat, 507b–509c, S. 262 ff.). Platons Überzeugung nach sollten nur Menschen, die der Höhle der Unkenntnis entkommen und zum Verständnis der wahren Wirklichkeit aufgestiegen seien, nur wahre Philosophen also, die politischen Geschicke leiten und sogenannte Philosophenkönige werden (siehe auch Zitat 32). Nur Philosophen seien imstande, zwischen der wahren Wirklichkeit und bloßer Erscheinung zu unterscheiden, nur sie könnten das, was ist, von dem abgrenzen, was nur scheint. Nur Philosophen würden ihre Regentschaft an der Vernunft ausrichten. Alle anderen, alle, die sich noch in der Höhle befinden, würden sich beim Regieren von ihren Begierden leiten lassen. Bestenfalls würden sie ihr Handeln an dem ausrichten, von dem sie glauben, dass es das Richtige sei, statt an der Erkenntnis des Richtigen. Schlimmstenfalls würden sie ihre Stellung zum eigenen Vorteil missbrauchen. Philosophen ziehe es nicht in die Verantwortung, sie würden lieber friedlich auf einem Berg sitzen und über die vollkommenen ewigen Formen sinnieren, dennoch erklären sie sich zu ihrer Übernahme bereit, weil sie sich gegenüber ihren Mitmenschen dazu moralisch verpflichtet fühlen und aus der Befürchtung heraus, dass sich sonst weniger Befähigte der Sache annähmen. Platon vertritt die äußerst vernünftige Auffassung, dass jedem die politische Macht verwehrt bleiben sollte, den es explizit nach ihr verlangt, weil er statt von der Vernunft von seinen Begierden angetrieben sei. Wenn sie die Geschicke leiten wollen, müssen die Philosophen wieder hinab in die Dunkelheit der Höhle, zurück in die Niederungen der Alltagswelt, wo ihre Mitmenschen sich aufhalten. Dabei laufen sie Gefahr, dass sie denen, die nicht in den Genuss ihrer Bildungsvorteile gekommen sind und die darum über kein besseres Wissen verfügen, wie selbstgefällige, verblendete oder geschwätzige Narren erscheinen. In ihrem Bemühen, die Vernunft unter das unwissende Volk zu bringen und den Leuten ihre Irrtümer aufzuzeigen, würden die 166

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Philosophen wahrscheinlich Ärgernis erregen und genau wie Sokrates ihr Leben verlieren. Mit dem Verweis darauf, dass der Philosoph sein Leben riskiert, wenn er versucht, die Menschen von den Fesseln ihrer Unkenntnis zu befreien (Der Staat, 517a, S. 273), nimmt Platon unmittelbar Bezug auf die Hinrichtung des Sokrates durch eine Meute boshafter Narren, die unfähig waren, Meinung von Wissen zu unterscheiden, Schein und Wirklichkeit auseinanderzuhalten.

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Platon Wenn eine jede Klasse im Staat [Erwerbstätige, Hilfstruppen und die Wächter] das Ihrige tut, so würde diese Berufstreue das Gegenteil von jener Erscheinung, nämlich Gerechtigkeit sein und die Stadt gerecht machen. (Platon Der Staat, 434c, in: Platon Sämtliche Dialoge, Bd.V, S. 156.Verfasst um 375 v. Chr.)

Platon ging es mit seinem Staat, dem größten seiner Dialoge, in erster Linie um die ideale Gesellschaft, deren Bild er zeichnen wollte. Diese Gesellschaft ist jedoch kein Paradies, wo die Bürger unendlich viel Muße haben, um endlosen Vergnügungen nachzugehen, sondern eine Schadensbegrenzungsgesellschaft, ein politisches Gemeinwesen, das zu dem Endzweck hin konstruiert werden soll, die schlimmsten Auswüchse der Menschennatur zu verhindern. Platon, der die schädlichen Folgen politischer Verderbtheit aus eigener Erfahrung kannte (siehe Zitat 31), denkt darüber nach, wie eine politisch unverdorbene Gesellschaft aussehen müsste – eine Gesellschaft, in der die regierenden Führer (die Wächter) weise sind und den Menschen dienen statt sich selbst, eine Gesellschaft, in der Polizei und Armee (die Hilfstruppen) sich nicht gegen das Volk wenden, zu dessen Schutz sie da sind, und eine Gesellschaft, in der die einfachen Menschen, die Arbeiter (die Er167

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werbstätigen), keine Pöbelherrschaft anstreben. Platon beschäftigt sich also mit einer Reihe von grundlegenden politischen Themen, die bis heute nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt haben. Seine ideale Gesellschaft ist in dem Sinne ideal, als es sich bei ihr um die vollkommene metaphysische Form einer Gesellschaft handelt. Unvollkommene Gesellschaften in der materiellen Welt sind ihm zufolge mehr oder weniger vollkommen, sie seien bloß mehr oder weniger Gesellschaften, je nachdem, in welchem Umfang sie diesem Ideal der Vollkommenheit bzw. dem Entwurf von ihr entsprechen. In diesem Sinne ist Platons ideale Gesellschaft dem vollkommenen metaphysischen Quadrat vergleichbar, um das es in den Ausführungen zum vorhergehenden Zitat ging, also dem idealen Muster oder der idealen Form, der quadratische Dinge in der materiellen Welt annähernd entsprechen. Je besser wir verstehen, so Platon, worin die vollkommene Form einer Gesellschaft besteht, desto eher können wir unsere irdischen Gesellschaften nach diesem Ideal gestalten. Je weiter eine Gesellschaft von dem Ideal entfernt sei, desto weniger vollkommen sei sie, desto weniger habe sie von einer Gesellschaft an sich und umso furchtbarer sei es für die Menschen, darin zu leben. Platon führt vier zunehmend unvollkommen gestaltete Gesellschaftsordnungen auf: 1 Timokratie sei die Herrschaft einer aristokratischen Elite, in der Regel einer militärischen, wie im Stadtstaat von Sparta, für die Platon große Bewunderung hegte. Viele Menschen mit ihren modernen Vorstellungen von dem unbestreitbaren Wert der Demokratie schockiert es, dass Platon in dieser Gesellschaftsform offenbar die am wenigsten schlechte erkennt. Es ist jedoch wichtig festzuhalten, dass die aristokratische Elite der Timokratie Pflicht, Ehre und Selbstdisziplin höher ansiedelt als Luxus und persönlichen Gewinn. 2 Oligarchie nennt Platon die Herrschaft einiger weniger Wohlhabender. Sie sei schlechter als die Timokratie – dem Verlangen nach Wohlstand haftet ihm zufolge etwas Dekadentes 168

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an –, dennoch aber der Demokratie vorzuziehen, da die Oligarchen ein ureigenes Interesse an der Aufrechterhaltung einer geordneten und produktiven Gesellschaft hätten. 3 Demokratie sei die Herrschaft des Volkes, des demos. Platon verachtet sie. Sie bringe Menschen in die Verantwortung, die nichts von der Kunst des Regierens verstehen, und ermutige sie, in die Politik einzugreifen, wozu sie nicht befähigt seien. Dabei wäre es für die Gesellschaft insgesamt weitaus besser, wenn sie sich als Handwerker, Händler usw. um das Ihrige kümmern würden. In einer Demokratie würden die Führenden den Menschen nachgeben, damit sie für sie stimmen, und ihnen versprechen, was sie haben wollen, und nicht, was gut für sie sei. Daher würden die Menschen in einer Demokratie undiszipliniert und gierig. In der Regel wählen sie den raffiniertesten, redegewandtesten Schwindler, den Erzverbrecher, der am überzeugendsten materiellen Wohlstand versprechen könne. Im Schiffsgleichnis vergleicht Platon die Demokratie mit einer Lustfahrt – »so segeln sie denn zechend und schmausend« (Der Staat, 488c, S. 232) –, bei welcher der wahre Steuermann, der Philosoph, der die Kunst des Regierens studiert habe, an den Rand gedrängt und geringschätzig behandelt werde. Gegen Platon wurde eingewendet, dass die Demokratie nicht so zu sein brauche, wie er sie betrachte. In modernen Demokratien, so der Einwand, könnten und konnten viele Schutzmaßnahmen ergriffen werden, um die von ihm bezeichneten schlimmsten Auswüchse zu verhindern. Dessen ungeachtet warnt uns Platon mit seiner eindringlichen Darstellung vor den Gefahren, die eine Demokratie stets birgt. Jene, die Platon als einen antidemokratischen Faschisten hinstellen wollen und die sich gern der Illusion hingeben, die Demokratie sei das Allheilmittel für die Miseren des Menschen, wären gut beraten, seine Warnungen zu beherzigen. 4 Tyrannis sei die Herrschaft des Erzverbrechers. Platon zufolge bricht die Demokratie an irgendeinem Punkt zusammen und schlägt in Tyrannis um. Die Menschen nämlich würden früher oder später ohne nachzudenken jemanden wählen, der seine Stellung missbrauche, um ihnen alle ihre Macht und ihren sämtlichen 169

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Wohlstand zu rauben. Die Tyrannis sei die schlimmste, die am wenigsten wirkliche Ordnung der Gesellschaft. Eine Nichtgesellschaft nutze allein dem Tyrannen. Für Hobbes wiederum (siehe Zitat 13) ist die Tyrannei aber immer noch besser als die Anarchie oder der totale Bürgerkrieg, »wo jeder eines jeden Feind ist« (Leviathan, S. 105). Platons Auffassung nach hat eine Gesellschaft, je vollkommener sie ist, desto mehr Anteil an der Gerechtigkeit. Diese gilt ihm als das vorrangige Kennzeichen oder als die Tugend einer vollkommenen Gesellschaft. Den roten Faden des Staats bilden die Versuche von Sokrates und anderen, Gerechtigkeit zu definieren. Der Dialog beginnt damit, dass Sokrates’ Gesprächspartner verschiedene Auffassungen von Gerechtigkeit vorbringen, die dieser geschickt als unzulänglich entlarvt und zurückweist. Frustriert von Sokrates’ dauernden Zurückweisungen, fordern seine Zuhörer ihn heraus, es besser zu machen und selbst zu sagen, was Gerechtigkeit denn sei. Seine Bemühungen darum bilden den umfangreichen Rest des Dialogs. Er könne, sagt er, die Gerechtigkeit nur durch nähere Erläuterung einer gerechten Gesellschaft bestimmen. Eine gerechte Gesellschaft, behauptet Platon durch sein Sprachrohr Sokrates, ist eine, in der jeder Bürger mit dem ihm zu Gebote stehenden Geschick seine Arbeit erledigt und sich um seine ureigenen Angelegenheiten kümmert. Dass darin die Gerechtigkeit bestehen soll, scheint eine ziemlich profane Bestimmung für solch einen großen Begriff, doch im Kontext all dessen, was im Staat gesagt wird, ist sie vollkommen plausibel und einleuchtend. Platons Überzeugung nach ist Führen eine Fertigkeit, eine techné, die sich lernen lässt. Wie im Zusammenhang mit dem vorigen Zitat ausgeführt, sollte sie am besten von wahren Philosophen praktiziert werden, die, weil sie durch ihre philosophische Ausbildung »der Höhle der Unkenntnis entronnen« seien, nun Wirklichkeit und bloße Erscheinung auseinanderzuhalten vermögen und die Geschicke nach Maßgabe der Vernunft lenken können, statt sich von ihren Begierden leiten zu lassen. 170

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Führen sei nun mal keine Aufgabe, die denen überlassen sein sollte, die sich dazu nicht eignen, die nicht wissen, worauf es dabei wirklich ankomme – wie etwa jene Menschen, die einfach nur an die Spitze der Macht kommen wollen und über genug Zeit, den nötigen Charme und ausreichende Mittel verfügen, um sich dahin zu bringen. Entsprechend sollten auch wichtige politische Entscheidung darüber, wem man die Lenkung der Geschicke übertrage, nicht in die Hände von Menschen gelegt werden, die sich mit der Kunst der Politik nicht sonderlich gut auskennen und die ihre Stärken auf anderen Gebieten haben, etwa in der Landwirtschaft, dem Zimmerhandwerk, im Maschinenbau, im Handel, in der Medizin usw. Ihr Klempner darf an Ihnen keine Hirnoperationen vornehmen, auch wenn er noch so gut Rohre verlegen kann, warum also darf er politisch über Sie bestimmen? Dies sei die Sache derer, die wissen, wie man die Geschicke lenkt, und wie man das nicht zum eigenen Vorteil, sondern zum wahren Nutzen aller tut. In einer gerechten Gesellschaft führe jeder Mensch die Aufgabe aus, auf die er sich am besten verstehe, und mische sich nicht in die Aufgaben anderer ein, besonders nicht in die Führung einer Gesellschaft und damit in den praktischen Bereich, wo Kompetenzmangel die fatalsten Folgen für jeden habe. Platon ist sich vollkommen bewusst, dass eine verderbte und inkompetente Führung das schlimmste Übel sei, das eine Gesellschaft befallen könne. Und wer wollte ihm da widersprechen? Das müsste schon ein schlechter Geschichtskenner sein und noch dazu einer, der die aktuellen Nachrichten nicht so genau verfolgt. Eine gerechte Gesellschaft verkörpert Platon zufolge die Kardinaltugenden Weisheit, Mut und Disziplin. Diese Tugenden stehen ihm zufolge in jedem einzelnen Bürger im Einklang miteinander und darum ebenso im Staat als Ganzem, weil es sich bei diesem um die harmonische Einzelseele im Großen handle. Staat und Individuum seien ebenfalls in Harmonie miteinander. Platon begreift, was vielen modernen Demokraten immer entgangen zu sein scheint, dass nämlich ein gerechter und harmonischer Staat aus mehrheitlich schwachen, undisziplinierten Narren eine Unmöglichkeit darstellt. 171

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Auf der Ebene des Staates werde Weisheit vor allem von den Wächtern, den Philosophenkönigen, beigesteuert. Mut hingegen sei vor allem der Beitrag der Hilfstruppen, der Klasse der Soldaten. Jeder zeige Disziplin, erst recht Selbstdisziplin, nicht zuletzt die Erwerbstätigen, die Arbeiter, die bei dem bleiben, was sie können, und sich der Autorität ihrer unzweifelhaft weisen und unerschrockenen Führungsriege fügen würden. Zwischen den Klassen bestehe Einvernehmen darüber, wer was tue. Die Hilfstruppen beispielsweise würden die Autorität ihrer weisen Führer respektieren, statt ihre überlegene physische Kraft und militärische Stärke einzusetzen, um sie zu stürzen und gegen das Volk loszuschlagen. In jedem Einzelnen und folglich im Staat als Ganzem führe die Vernunft das Zepter und halte Leidenschaft und Begehren fest im Griff. All dies zusammengenommen ist Platon zufolge »Gerechtigkeit und [macht] die Stadt gerecht« (Der Staat, 434c, S. 156). Platon verspricht mit seinem Dialog Der Staat, die politischen Krankheiten eines griechischen Stadtstaats zu heilen. Er gibt allgemeine Ratschläge, die für die moderne Politik noch genauso gelten, wie sie für die antike gegolten haben, und die ihre Gültigkeit behalten werden, solange es den Menschen, das soziale Tier, gibt. Platon hat das erste Wort in der politischen Philosophie, nicht das letzte, und bis heute wird über viele seiner Äußerungen heftig debattiert. Sieht er die Demokratie zu negativ? Wo kehrt sein totalitärer Staat sich von der Idee individueller Freiheiten ab? Würde ein solcher durchdisziplinierter Staat Einzelinitiative hemmen und damit Innovation verhindern? Ist der Genuss weiser Philosophenherrschaft zu teuer erkauft? Woher sollen vollkommene Führungspersonen kommen, wenn nicht bereits ein idealer Staat existiert, der sie hervorbringt? Generationen von Denkern werden auch weiterhin immer noch ein bisschen mehr Ernsthaftigkeit und Realitätssinn, Vernunft und Klugheit an den Tag legen, wenn sie versuchen, diese und viele andere zeitlose philosophische Fragen zu beantworten, die Platon aufwirft.

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Protagoras Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nicht seienden, daß sie nicht sind. (Protagoras, zitiert in Platon Theätet, 152a, in Platon Sämtliche Dialoge, Bd. IV, S. 45)

Protagoras (um 485–415 v. Chr.) wurde in der in Thrakien gelegenen griechischen Stadt Abdera geboren. Manchen Darstellungen nach war er der Schüler des Philosophen Demokrit (um 460–371 v. Chr.), der aus derselben Stadt stammte. Seine lange Laufbahn als Philosoph und die Tatsache, dass er mindestens 25 Jahre älter war als Demokrit, sprechen jedoch eher dagegen. Wie bei all den vorsokratischen Philosophen macht es das Dunkel der Geschichte auch im Falle von Protagoras schwierig, die Fakten von den in Jahrtausenden angesammelten Gerüchten zu unterscheiden. Protagoras war in Athen gut bekannt und er war ein Freund des führenden Athener Staatsmanns Perikles (495–429 v. Chr.). Platon liefert in seinem Dialog Protagoras eine satirische Darstellung von einem von Protagoras’ Besuchen in der Stadt. Im Theätet, dem Dialog, dem unser Eingangszitat entnommen ist, behandelt er ihn mit mehr Respekt. Protagoras verfasste selber mehrere Schriften, allen voran Wahrheit, die auch unter der Bezeichnung Widerlegungen bekannt ist. Leider haben sich von seinen Abhandlungen nur Fragmente erhalten, und was wir von seiner Philosophie wissen, muss aus anderen Quellen bezogen werden, speziell von Platon, der kein großer Verehrer war. Protagoras zählte zu den führenden Sophisten und »lebte, nachdem er herangewachsen war, gleichsam ständig auf Vortragsreisen durch die griechischen Städte«, wie Russell berichtet (Philosophie des Abendlandes, S. 82). Die Sophisten unterrichteten junge Männer, die sich das leisten konnten, in Rhetorik und Recht. Weil die Bürger im antiken Griechenland sich häufig vor Gericht verteidigen mussten, war die Fähigkeit, erfolgreich zu argumentieren und sich ein Publikum gewogen zu machen, sehr 173

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hoch geschätzt. Darum hatten die Sophisten viel Geld und Einfluss. Aus Protagoras’ Rechtsunterricht ging das geistreiche Paradoxon hervor, das seinen Namen trägt. Der Legende nach vereinbarte Protagoras mit Euathlos, dass dieser erst dann für den Rechtsunterricht würde bezahlen müssen, wenn er seinen ersten Fall gewonnen habe. Euathlos aber nahm keine Fälle an und so verklagte ihn Protagoras schließlich auf die Zahlung seines Honorars. Protagoras argumentierte: Gewinne ich, muss er mich bezahlen, und wenn ich verliere, muss er mich bezahlen, weil er zugestimmt hatte, mich zu bezahlen, wenn er seinen ersten Prozess gewinnt. Euathlos argumentierte: Gewinne ich, muss ich nicht zahlen, weil seine Klage keinen Erfolg hatte, und wenn ich verliere, muss ich nicht zahlen, weil ich meinen ersten Prozess nicht gewonnen habe! Platon mochte die Sophisten genau deshalb nicht, weil sie solche gerissenen Spielchen mit dem Denken trieben. Es sei ihnen mehr um den Sieg in einer Auseinandersetzung gegangen, auf welche krumme Tour auch immer, als um die Erkenntnis der Wahrheit. Er mochte sie auch deshalb nicht, weil sie Honorar für Leistungen verlangten, die – wie beispielsweise die Dienste vieler fähiger Anwälte – es korrupten Menschen erlaubten, sich an die politische Macht zu bringen und dort zu halten. Kritiker Platons verteidigten die Sophisten mit dem Argument, die Besten von ihnen hätten ein echtes Interesse an der Philosophie und an der Erkenntnis der Wahrheit gehabt. Außerdem gebe es keine bessere Methode, eine Auseinandersetzung für sich zu entscheiden, als die klare Feststellung der Tatsachen. Dass Platon über die Sophisten klagte, sie hätten sich für ihre Dienste bezahlen lassen und die Reinheit der Philosophie beschmutzt, indem sie damit Geld verdienten, hält Russell ihm als Snobismus vor. Als vermögendem Aristokraten sei ihm offenbar entgangen, dass sich die meisten Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen müssten. An einer amüsanten Stelle berichtet Russell von Philosophieprofessoren aus seinem Umfeld, die, obwohl selbstverständliche Gehaltsbezieher, beim Thema Bezahlung für Platon ge174

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gen die Sophisten Partei ergriffen (Philosophie des Abendlandes, S. 82). Dazu würde Platon wohl sagen, dass die Sophisten ihren Lebensunterhalt mit etwas anderem bestreiten sollten und dass sie sich in seinem Idealstaat nur dann mit Rechtssachen und der Politik befassen dürften, wenn sie wahrhafte Philosophenkönige geworden wären (siehe Zitat 32). Protagoras’ »Der Mensch ist das Maß aller Dinge« ist zuerst und vor allem eine Bestätigung des Relativismus. Jeder Mensch ist das Maß seiner Wahrnehmung der Dinge. Diese sind so oder anders, je nachdem, wie der Einzelne sie wahrnimmt. Als er Protagoras’ Leitsatz im Theätet diskutiert, sagt Sokrates zu Theätet: »Meint er es also nicht so, daß für mich alles so ist, wie es mir erscheint, und für dich wiederum so, wie es dir erscheint? Mensch aber bin ich ebenso wie du?« (Theätet, 152a, S. 45). Hier würde manch einer spontan einwenden, dass die Dinge und Ereignisse nicht so sind, wie sie mir erscheinen, sondern so, wie sie sind. Sokrates jedoch bekräftigt seinen oder Protagoras’ Punkt mit einem alltäglichen, aber überzeugenden Beispiel: »Kommt es nicht öfters vor, daß beim Wehen des gleichen Windes der eine von uns friert, der andere nicht, oder der eine nur unmerklich, der andere heftig?« (Theätet, 152b, S. 45). Der Punkt ist, dass der Wind per se weder kalt noch nicht kalt ist. Er ist kalt für den, der ihn als kalt empfindet, und nicht kalt für den, der ihn nicht als kalt empfindet. Jeder Mensch ist ein subjektives Maß der Kälte oder der Nicht-Kälte des Windes. Natürlich haben wir objektive Maßeinheiten entwickelt, anhand derer sich die Temperatur des Windes genau bestimmen lässt. Wir können mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass dieser Wind eine Temperatur hat, die von den meisten oder allen Menschen als kalt empfunden würde. Aber deswegen können wir noch nicht sagen, dass dieser Wind auch kalt ist. Heiß und kalt sind relative Begriffe, und selbst ein angeblich sehr kalter Wind kann im Vergleich zu anderen Dingen wie etwa flüssigem Stickstoff sehr warm sein. 175

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Allem Anschein nach ist es tatsächlich so, dass jeder von uns das Maß dafür darstellt, ob der Wind kalt ist oder nicht, die Mahlzeit sättigend oder nicht, der Anzug bequem oder nicht, der oder die andere attraktiv oder nicht, usw. Doch wie weit kann und darf dieser protagoreische Subjektivismus gehen? Wenn jemand sagt, dass eine bestimmte Schraubkappe auf eine bestimmte Flasche passt, und jemand anderes behauptet das Gegenteil, wird das subjektive »Maß« von einem der beiden sich als falsch herausstellen, sobald die Kappe auf die Flasche gesetzt wird. Die objektive Realität wird sich Geltung verschaffen, denn manche Dinge sind so, wie sie sind, unabhängig von dem persönlichen »Maß«, das Menschen von ihnen haben, unabhängig von ihren Überzeugungen, Empfindungen, Wünschen und Erwartungen. Vielleicht hätte Protagoras seinen Leitsatz einschränken und stattdessen feststellen sollen, »der Mensch ist das Maß vieler Dinge«. Dies hätte seinem Relativismus wirklich besser entsprochen als seine gewagte allgemeine Behauptung. Aber würden wir uns an solch eine verhältnismäßig langweilige und zurückhaltende Feststellung noch erinnern und sie feiern? Das Wichtigste bei Protagoras ist vielleicht die von ihm in die Philosophie eingebrachte Idee, dass wir an unserer Welterfahrung aktiven Anteil haben. Wir haben es kontinuierlich mit einer Welt zu tun, die auf alle mögliche Weise gefärbt ist von unseren Bewertungen, Erwartungen und Neigungen. Andere vorsokratische Philosophen waren bestrebt zu sagen, was die Welt in ihrem Grunde ist, und behaupteten, sie sei Wasser oder auch Feuer (siehe Zitat 12, Heraklit) oder bestehe aus mathematischen Beziehungen. Protagoras zufolge können wir nichts darüber sagen, wie die Wirklichkeit, wie die Außenwelt an sich ist, sondern nur etwas darüber, wie wir sie wahrnehmen, weil wir auf unsere Wahrnehmungen beschränkt seien. Es sei uns schlichtweg nicht möglich, die Welt völlig losgelöst von uns in ihrer Objektivität zu betrachten. Wir können sie stets nur durch unsere individuelle Beziehung mit ihr hindurch betrachten. Diese allgemeine Ansicht hatte einen so immensen Einfluss in Philosophie und Psychologie, dass heute kein ernstzunehmender 176

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Philosoph oder Psychologe mehr behaupten würde, wir hätten keinerlei aktiven Anteil an unserer Welterfahrung, würden sie rein passiv wahrnehmen und schlechthin so, wie sie an sich sei. Diese als direkter Realismus oder naiver Realismus bekannte Auffassung ist diversen Formen des indirekten Realismus oder repräsentationalen Realismus gewichen. Danach ist unsere Erfahrung der Welt auf verschiedene und so weitgehende Weise durch den Geist strukturiert, dass es sich bei unserer Wirklichkeit um eine Repräsentation oder Konstruktion handelt. Locke beispielsweise vertritt die Ansicht, dass Sekundäreigenschaften wie etwa Farbe nicht zu den Gegenständen selbst gehören, sondern Teil unserer Wahrnehmung der Dinge sind (siehe Zitat 21). Nach Kants Auffassung wiederum strukturiert der Geist die rohen Sinnesdaten, die ihn von der Welt erreichen, zu einer sinnvollen Erfahrung. Ihm zufolge ist die Welt eine Synthese aus Sinneseindrücken und den Begriffen, die der Geist auf sie anwendet. Ähnliche Ansichten finden sich bei Hume, Hegel, Sartre, de Beauvoir usw. Indem er den Menschen zum Maß aller Dinge erklärt, löst Protagoras ihn aus der Natur heraus, macht ihn zum Richter über sie, statt zu einem Teil von ihr. Protagoras zufolge unterliegt der Mensch nicht der Natur wie die Dinge und niederen Tiere, sondern bestimmt sich selbst durch seine Entscheidungen und Wertungen. Er sei ein freies Wesen, der Herr über sein eigenes Schicksal und daher selbst für das verantwortlich, was er aus sich mache. Der Mensch, nicht Gott oder Götter, sei das Maß aller Dinge. Folglich sei er der Schöpfer aller Werte, der moralischen genauso wie der ästhetischen. Diese Ansichten finden ihren Widerhall in der Philosophie des Existenzialismus. Zudem hatte Protagoras’ Humanismus mit Sicherheit großen Einfluss auf Denker wie Nietzsche und Sartre, für die der Mensch ein verlassenes Wesen in einer gottlosen und sinnlosen Welt ist, auf dem die Verantwortung laste, sich selbst in Bezug auf seine Welt bestimmen und ein Leben leben zu müssen, das nur die Bedeutung habe, die er ihr zu geben sich entschließe (siehe die Zitate 25 und 26, Nietzsche, und Zitat 37, Sartre). 177

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Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass wir es bei Protagoras im weiteren Sinne mit dem ersten Existenzphilosophen zu tun haben, einem eigentlich postmodernen Philosophen, der seiner Zeit mehr als zwei Jahrtausende voraus war.

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Russell Gegen den Solipsismus aber ist in erster Linie zu sagen, daß es psychologisch unmöglich ist, an ihn zu glauben, und daß er tatsächlich auch von denen verworfen wird, die glauben, daß sie ihn vertreten. Ich erhielt einmal einen Brief von einer hervorragenden Logikerin, Mrs. Ladd Franklin, in dem sie schrieb, daß sie Solipsistin sei und sich wundere, daß es keine anderen Solipsisten gäbe. Als Bekenntnis einer Logikerin verwunderte mich ihre Verwunderung. (Bertrand Russell Das menschliche Wissen, S. 181. Erstveröffentlichung des engl. Originals 1948)

Bertrand Arthur William, 3. Earl Russell (1872–1970), wurde zum bekanntesten englischen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Die Tatsache, dass sein Stern schon früh erstrahlte, seine Begabung, die Menschen für die Philosophie zu interessieren, sein extravaganter und zuweilen umstrittener Lebensstil, das hohe Alter, das er erreichte, sein bemerkenswerter Elan und sein außerordentliches Arbeitsvermögen – alles das machte ihn zum beinahe einzigen Philosophen, von dem die meisten Briten überhaupt je gehört haben. Russell, der am Trinity College in Cambridge Student, Fellow und Lehrer war, wurde 1916 aufgrund seiner pazifistischen Haltung gekündigt, später aber wieder eingestellt. Von seiner Schaffenskraft zeugen zahlreiche Bücher zu ganz unterschiedlichen philosophischen Themen. Seine Werke reichen von den zusammen mit Alfred North Whitehead verfassten Principia Mathematica (1910–13) – einem gewaltigen, dreibändigen Monstrum über 178

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die logischen Grundlagen der Mathematik – bis hin zu Bestsellern, die Laien die Philosophie erklären, wie etwa Probleme der Philosophie (1912) und die Philosophie des Abendlandes (1946). Dazu verfasste er seine »Schundromane«, wie er bestimmte Bücher von sich nannte, etwa Warum ich kein Christ bin (1927) und Lob des Müßiggangs (1935). Seine Produktivität brachte ihm den Nobelpreis für Literatur ein. Russell, der Atheist, Sozialreformer und Freigeist, gründete eine Reformschule und kandidierte erfolglos für das Parlament. Er galt als notorischer womanizer, war vier Mal verheiratet und hatte diverse Affären, womit bewiesen sein dürfte, dass sich sein Liberalismus auch auf sein persönliches Leben erstreckte. Hinsichtlich unseres Eingangszitats aus Russells Buch Das menschliche Wissen (1948) sei auf die Ausführungen über den Solipsismus zu Zitat 6 und Berkeley verwiesen. Der Solipsismus ist die Position, nach der es außer dem eigenen Geist nichts gibt: Ihm zufolge ist die Außenwelt, einschließlich der anderen Menschen, der anderen Geisteswesen, nur eine Täuschung. So lächerlich und extrem das Problem des Solipsismus auch scheinen mag, er selbst ist prinzipiell unwiderlegbar. Das heißt nicht, dass er zweifellos zutrifft, sondern lediglich, dass er sich als eine Möglichkeit nicht zweifelsfrei von der Hand weisen lässt. Ganz einfach gesagt: Wenn ich über Geist verfügen muss, damit ich Eindrücke von der Welt haben kann, und wenn meine Eindrücke von der Welt Eindrücke in meinem Geist sind, kann ich offenbar unmöglich beweisen, dass es eine Welt gibt, die meine Eindrücke hervorruft. Offenbar bleibt die Möglichkeit bestehen, dass diesen vorgeblichen Eindrücken überhaupt nichts entspricht und sie vollständig selbsterzeugt sind. Nun liefert Russell in unserem Eingangszitat keinen Gegenbeweis des Solipsismus. Wenn er sagt, es sei »psychologisch unmöglich, an ihn zu glauben«, bestreitet er, dass man ein Solipsist sein kann, dass man so handeln könnte, als wäre der Solipsismus zutreffend. Angenommen, ich würde als Philosoph beschließen, dass der Solipsismus wahr ist. Wie würde ich nach dieser Ansicht dann 179

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leben? Was würde ich mit mir anstellen? Wie würde ich mich verhalten und meine Beziehungen mit anderen Menschen gestalten? Wenn ich mir sicher wäre, dass es keine anderen Menschen gibt, hätte es beispielsweise keinen Sinn Bücher zu schreiben, um sie von der Wahrheit des Solipsismus zu überzeugen. Auch das Buch selbst wäre, soweit es mich betrifft, nichts von mir Unabhängiges, sondern bloß eine Vorstellung oder eine Reihe von Vorstellungen in meinem Geist. Russells Anekdote über die zwangsläufige Absurdität der Verteidigung des Solipsismus ist eine von mehreren ähnlichen Anekdoten, die in den philosophischen Abteilungen der Universitäten Jahr für Jahr die Runde machen. Möglicherweise aber handelt es sich bei ihr tatsächlich um die Mutter von ihnen allen. Da gibt es beispielsweise die von dem eingeschworenen Solipsisten, der philosophische Tagungen auf der ganzen Welt besuchte, um mit anderen Solipsisten zusammenzukommen und sich mit ihnen auszutauschen. Außerdem gibt es diesen schrecklichen Witz: »Aus welchem Grund war der Solipsist unglücklich? Weil niemand seine Argumente als gültig akzeptieren wollte.« Um Russells Punkt deutlich zu machen, könnte ich mich zwar auf die philosophische Position stellen, dass der Solipsismus zutreffend ist, und ich könnte auf jeden Fall ziemlich starke philosophische Gründe dafür ins Feld führen, dass er eine unabweisbare Möglichkeit darstellt. Dennoch aber würde ich mit fast allem, was ich sage oder tue, den Solipsismus vollständig verwerfen und zu erkennen geben, dass ich faktisch an die Existenz der Außenwelt und anderer Menschen glaube. Russells einstiger Schüler Ludwig Wittgenstein argumentiert ganz ähnlich, wenn er schreibt, »Meine Einstellung zu ihm [einem anderen Menschen] ist eine Einstellung zur Seele. Ich habe nicht die Meinung, dass er eine Seele hat« (Philosophische Untersuchungen, iv, S. 495). Wie es scheint, schleichen sich Zweifel an der Existenz anderer Menschen ironischerweise nur dann ein, wenn Philosophen sich anschicken, sie zu beweisen. In unserem normalen, alltäglichen Umgang mit ihnen fragen wir uns vielleicht, was sie wohl denken usw., wir haben jedoch nie Zweifel daran, dass sie 180

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denken und dass wir uns in der Gegenwart eines anderen Geisteswesens befinden. Bei Jean-Paul Sartre heißt es: »Aber ich nehme ja die Existenz des Andern gerade nicht an: ich behaupte sie« (Das Sein und das Nichts, S. 454). Was nun Russells Zielscheibe in seiner amüsanten Anekdote angeht, Mrs. Ladd-Franklin (1847–1930), so ist er entschieden der Ansicht, dass eine ausgezeichnete Logikerin, eine Expertin auf dem Gebiet der Logik, einen solchen logischen Fehlgriff eigentlich hätte bemerken müssen. Es gibt keinen Grund, an Russells Wort zu zweifeln – dem Wort eines Gentlemans –, dass es den Brief gab. Sein Kommentar wäre eine gemeine Rufschädigung ihrer Person, hätte er ihn erfunden. Gleichwohl gibt es, soweit ich feststellen kann, keinen handfesten Beleg für seine Existenz.Vielleicht war Ladd-Franklin auch ein gewisser trockener solipsistischer Humor eigen, und Russell, obwohl eigentlich ein Sprachgenie, ist der Witz entgangen. Ladd-Franklin war 18 Jahre, bevor Russell seinen Kommentar abgab, gestorben und konnte sich also nicht verteidigen. Ihren Verdiensten nach zu urteilen, hätte sie es verdient, für mehr in Erinnerung geblieben zu sein als einfach nur dafür, dass sie die Zielscheibe Bertrand Russells in einer berühmten Anekdote war. Leider aber ist sie eben dafür am bekanntesten.

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Ryle Ich werde oft mit absichtlicher Geringschätzung von ihr [der offiziellen Lehre] als dem »Dogma vom Gespenst in der Maschine« sprechen. (Gilbert Ryle Der Begriff des Geistes, S. 13. Erstveröffentlichung des engl. Originals 1949)

Neben Denkern wie Russell, Ayer und Whitehead war Gilbert Ryle (1900–76) einer der großen englischen Gentleman-Philosophen des 20. Jahrhunderts aus der Oxbridge-Schmiede. Seine 181

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elegante »alltagssprachliche« Prosa offenbart an jeder Stelle die Brillanz seines von Pfeifenrauch beflügelten Verstandes. In Brighton geboren, schaffte er es nach Oxford, wo er klassische Philologie zu studieren begann, jedoch bald zur Philosophie wechselte. Er lehrte Philosophie am Oxforder Christ Church College in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, arbeitete während des Krieges als Sprachexperte für den britischen Geheimdienst und übernahm im Anschluss an ihn die Waynflete-Professur für metaphysische Philosophie. Von 1947 bis 1972 war er der Herausgeber der renommiertesten philosophischen Zeitschrift der Welt, Mind. Obwohl er von der englischen analytischen Tradition durchdrungen war, erkannte Ryle den Wert der kontinentalen Philosophie des Geistes, speziell der Phänomenologie von Brentano (1837–1917), Husserl und Heidegger. Er war außerdem ein Verehrer, persönlicher Freund und Wanderpartner von Wittgenstein und einer der wenigen Philosophen, die dieser zumindest eine Zeitlang ernst nahm. Diese Philosophen beeinflussten Ryle immens bei der Abfassung seines Hauptwerks Der Begriff des Geistes, mit dessen Einordnung sich die englische Philosophie nach wie vor schwertut. Und das sie oft verkennt, was nicht zuletzt daran liegt, dass es eine, noch dazu außerordentlich gelungene, Mischung aus analytischen, phänomenologischen und wittgensteinschen Elementen in verständlicher Sprache darstellt. Wenden wir uns unserem Eingangszitat zu, das aus dem ersten Kapitel von Ryles Hauptwerk stammt, und kommen wir auf das Dogma zu sprechen, um das es geht. Ein Dogma ist bekanntermaßen eine starre Lehre oder eine Reihe starrer Überzeugungen, häufig religiöser Art, die aufgrund von Autorität geltend gemacht werden, statt auf der Grundlage von Vernunft und Beobachtung. Beim Dogma vom Gespenst in der Maschine, von dem Ryle mit Geringschätzung sprechen werde, wie er sagt, haben wir es mit der dogmatischen Vorstellung zu tun, dass Geist und Körper als zwei gänzlich voneinander verschiedene Substanztypen bestehen. Es ist das Dogma vom Geist als einem gespensterhaften, nichtmateriellen Ding, das zwar aus sich heraus bestehe und un182

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abhängig vom Körper existieren könne, gleichwohl aber im Körper herumspuke und irgendwie mit ihm interagiere. Es ist das Dogma, dass der Körper öffentlich, räumlich und außen wahrnehmbar, während der Geist privat, nichträumlich und innen wahrnehmbar sei. Diese »offizielle Lehre« (Der Begriff des Geistes, S. 17) wird von den meisten Menschen noch immer für wahr gehalten. Sie reicht zu den alten Griechen zurück und hat sich durch die jüdisch-christliche Tradition und ihre strikte Unterscheidung zwischen Körper und Seele über Jahrhunderte hinweg verfestigt. Die bekannteste Fassung dieser Doktrin ist der cartesianische Dualismus (siehe Zitat 9), und es steht außer Frage, dass Ryles Angriffe in erster Linie dieser Position gelten, speziell im ersten Kapitel unter der Überschrift »Descartes’ Mythos«. Der Begriff des Geistes soll mit diesem Mythos aufräumen. Ryle will zeigen, dass das Dogma vom Geist in der Maschine eine grundfalsche Auffassung des Geistes oder der Geistigkeit ist, die sich nicht reparieren lasse und vollständig ersetzt werden müsse. Ganz ähnlich wie Wittgenstein (siehe Zitat 41) argumentiert Ryle, wir hätten uns von der Sprache selbst irreführen und verleiten lassen, den Begriff des Geistes falsch zuzuordnen. Wir hätten, ihn betreffend, einen schweren »Kategorienfehler« begangen (Der Begriff des Geistes, S. 13). Bei Ryle heißt es: »Sie [die dogmatische Lehre] stellt die Tatsachen des Geisteslebens so dar, als gehörten sie zu einem logischen Typ oder einer Kategorie (oder zu einer Reihe von Typen oder Kategorien), während sie in Wirklichkeit zu einer andern gehören« (Der Begriff des Geistes, S. 13 f.). Ryle geht es mit seinem Buch in der Hauptsache um die richtige Einordnung oder Kategorisierung des Geistesbegriffs. Er will den lange bestehenden Kategorienfehler beheben und untersuchen, was zu diesem Begriff wirklich gehört. Anhand einiger einprägsamer und anschaulicher Beispiele macht Ryle deutlich, worin der den cartesianischen Dualismus prägende Kategorienfehler besteht. Ein Mann wird in Oxford oder Cambridge University herumgeführt. Er sieht Colleges, Bibliotheken, Spielfelder, Museen, In183

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stitute und Büros. »Nach einiger Zeit fragt er, ›Aber wo ist denn nun die Universität?‹« (Der Begriff des Geistes, S. 14). Man muss ihm erklären, dass die Universität »nicht noch eine weitere Einrichtung ist, kein anderweitiges Gegenstück« (Der Begriff des Geistes, S. 14), das neben den einzelnen Gebäuden, Standorten und Anlagen existiert, aus denen sie sich zusammensetzt. »Er reihte die Universität irrtümlich in dieselbe Kategorie ein, zu der diese anderen Einrichtungen gehören« (Der Begriff des Geistes, S. 14 f.). Ein Kind schaut sich eine Parade von Bataillonen, Batterien und Staffeln an und will dann wissen, wann denn die Division komme. Es hat sich nicht klargemacht, dass es sich um eine Parade der Einheiten von einer Division handelte, nicht um eine Parade dieser Sachen und einer Division. Ein Mann schaut sich ein Cricketspiel an und dann sagt er, es sei niemand mehr übrig, der für den Mannschaftsgeist sorgen könnte. Er hat sich nicht klargemacht, dass der Mannschaftsgeist kein zusätzliches Element beim Cricket ist neben dem Schlagen, Werfen und Fangen des Balls, sondern etwas vollkommen anderes: nämlich einfach die Einstellung und die Leidenschaft, mit der die Mannschaft spielt. Wie Ryle gewitzt anmerkt, tue man nicht zweierlei, wenn man eine Sache mit Begeisterung tut (vgl. Der Begriff des Geistes, S. 15). Der übliche Irrtum besteht in diesen Fällen darin, dass die Person nicht weiß, wie sie einen zentralen Begriff richtig benutzt, und ihn daher falsch verwendet. Jede der Personen geht fälschlicherweise davon aus, dass ein Ausdruck, der ein Bündel von Dingen bezeichnet bzw. die Art und Weise, wie etwas ausgeführt wird, noch etwas Weiteres bezeichnet. Ryles Punkt ist der, dass es sich beim Geist nicht um eine Sache handelt, und ganz sicher um keine, die neben unseren Einstellungen, Überzeugungen, Veranlagungen, Handlungen und Reaktionen existiert. Der Geist sei kein Ding, keine gespensterhafte Entität im Innern des Kopfes, sondern ein »Oberbegriff« (Der Begriff des Geistes, S. 268), der das ganze Spektrum der Dispositionen abdecke oder erfasse, aus denen sich unsere sogenannte Geistigkeit zusammensetzt. 184

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Die moderne Philosophie des Geistes hat im englischen Sprachraum den Ausdruck mindedness [»Geistigkeit«] anstelle von the mind [»der Geist«] übernommen, um eben den Eindruck zu vermeiden, es sei irgendwo eine geheimnisvolle gespensterhafte Entität im Spiel. Der Geist bestehe ebenso wenig als ein eigenständiges Ding wie der Mannschaftsgeist neben der Art, auf die eine Mannschaft spielt. Ryles Zurückweisung des gespensterhaften cartesianischen Geistes erscheint uns auf den ersten Blick drastisch, da wir alle, ungeachtet unserer religiösen Ansichten, zutiefst von der Tradition des jüdisch-christlichen Leib-Seele- oder Körper-Geist-Dualismus geprägt sind.Wir behaupten, nicht an Gespenster zu glauben, doch wir glauben an das eine Gespenst, das angeblich in unseren Körpern umgeht. Ryle liefert zahllose Illustrationen und Beispiele, die seine Sicht immer plausibler machen und uns mehr und mehr für sie einnehmen. Er will beispielsweise die Auffassung entkräften, nach der es sich bei Überzeugungen und Erwartungen um Geisteszustände handelt, die in unseren Köpfen vorkommen. Ich kann selbstverständlich denken: »Es wird regnen«, warum aber soll sich das grundlegend davon unterscheiden, wenn ich das Gleiche laut ausspreche oder zu mir selbst sage? Muss ich dies überhaupt denken oder sagen, um davon überzeugt zu sein, dass es regnen wird? Für Ryle ist meine Überzeugung oder Erwartung, dass es regnen wird, kein geistiger Zustand, sondern bildet sich in dem ab, was ich tue. Der Gärtner, der in diesem Sinn Regen erwartet, braucht nicht fortwährend seine Aufmerksamkeit von der Gartenarbeit auf stille oder laute Regenprognosen zu lenken; er lässt eben bloß seine Gießkanne im Geräteschuppen, hat seinen Regenmantel bei der Hand, pflanzt mehr Setzlinge und so weiter. Er erwartet den Regen, nicht indem er gelegentlich oder permanent Weissagungen abgibt, sondern indem er entsprechende Gartenarbeit verrichtet. (Der Begriff des Geistes, S. 236 f.)

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Manche Kommentatoren haben Ryles Philosophie als philosophischen Behaviorismus oder analytischen Behaviorismus eingeordnet – das ist die Auffassung, nach der sich geistige Zustände als Verhaltenstendenzen oder Verhaltensdispositionen beschreiben und analysieren lassen. Wenn man in Ryle jedoch bloß einen seichten Behavioristen sieht, entgeht einem die ganze Subtilität seiner Darstellungen. Wobei man diese vielleicht ohnehin nur in vollem Umfang würdigen kann, wenn man sich in den phänomenologischen Theorien auskennt, von denen sein Denken geprägt ist – der Theorie der Intentionalität zum Beispiel. Dieser von so einflussreichen Philosophen wie Brentano, Husserl und Sartre vertretenen Theorie zufolge besteht der Geist nur als Beziehung zur Welt, darüber hinaus oder zusätzlich dazu sei er nichts, kein Ding an sich. Es ist im Rahmen dieser kurzen Erörterung unmöglich, in die umfangreiche Diskussion darüber einzusteigen, inwieweit Ryle als Behaviorist zu gelten habe. Darum überlasse ich es Ihnen, sich selbst eine Meinung zu bilden, indem Sie Der Begriff des Geistes lesen. Es erwartet Sie ein hervorragend lesbares Buch, zu welchem Ergebnis Sie auch kommen. Damit möchte ich meine Ausführungen beschließen, kann Ihnen aber noch sagen, dass Ryles berühmte Wendung »Gespenst in der Maschine« verschiedentlich wieder aufgegriffen wurde: von Arthur Koestler (1905–83) als Titel seines 1967 erschienenen Buches, von einer Post-Punkrockband, The Police, als Titel ihres 1981er Albums, und von der 20th Century Fox, als Titel ihres Horror-Science-Fiction-Films.

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Wie Jean-Paul Sartre (1905–80) in seiner Autobiografie Die Wörter darlegt, habe er sich – noch keine fünfzehn Monate alt, als sein 186

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Vater starb – frei von der Unterdrückung durch einen väterlichen Willen entwickeln können. Großgezogen wurde er von seiner in ihn vernarrten Mutter und ihrem Vater, dessen imposante Bibliothek der Spielplatz des jungen Sartre wurde. Das kleine, schielende und altkluge Kind mit wenigen Freunden, das Sartre war, brachte sich frühzeitig selbst das Lesen bei und erkor sich große tote Schriftsteller zu seinen Spielkameraden. Sartre schrieb auch sehr viel in seinen jungen Jahren, verfasste zahlreiche kitschige Abenteuergeschichten, ohne dass er sie jemals gelesen hätte. In der Schule tat er sich weder durch außerordentliche Leistungen noch durch gutes Betragen hervor, dennoch schaffte er es an die renommierte École normale supérieure, wo sich seine außerordentlichen Talente zu zeigen begannen. Hier begründete er 1929 während seines Philosophiestudiums auch seine große Freundschaft mit Simone de Beauvoir, die beide bis zu seinem Tod verband. Nach dem Abschluss wurde er ebenso wie de Beauvoir zum Unterrichten in die französische Provinz geschickt. Die relativ abgeschiedenen Jahre in Le Havre brachten ihn persönlich und philosophisch weiter. In Le Havre begann er auch an einem Roman zu schreiben, der schließlich als existenzialistisches Meisterwerk Kultstatus erlangen wird, Der Ekel (1938). Mit der erfolgreichen Veröffentlichung eines Erzählungsbandes, Die Mauer (1939), galt Sartre schnell als der kommende Mann in der französischen Literatur, doch dann brach der Zweite Weltkrieg aus. Sartre wurde am 1. September 1939, am Tag des Überfalls Deutschlands auf Polen, mobilisiert und einer meteorologischen Einheit im Norden Frankreichs unterstellt. Sein Revierdienst ließ ihm genug Zeit zum Schreiben seiner immensen Kriegstagebücher von 1939/40 und er konnte auch sein magnum opus beginnen, Das Sein und das Nichts, ein Buch, das oft und treffend als »die Bibel des Existenzialismus« bezeichnet wird. Nach Festsetzung durch die Deutschen 1940 fristete er seine Zeit als Kriegsgefangener. Er schrieb Stücke und unterrichtete Heideggers Philosophie, bis er 1941 aufgrund medizinisch attestierter Wehrdienstunfähigkeit wieder freikam. 187

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Nach seiner Rückkehr ins besetzte Paris gründete er die Widerstandsbewegung »Sozialismus und Freiheit« und schrieb unausgesetzt weiter. Neben Das Sein und das Nichts ist das Stück Geschlossene Gesellschaft (1944), aus dem unser Eingangszitat stammt, seine bedeutendste Arbeit zu Kriegszeiten. Nach dem Krieg erzielte Sartre mit seinen Veröffentlichungen immer größere Erfolge. Eine Romantrilogie, Die Wege der Freiheit (1945–9), sowie zahlreiche Stücke, Biographien und philosophische Werke bescherten ihm 1964 den Nobelpreis für Literatur, den er jedoch ablehnte. Zunehmend politisch engagiert, setzte er sich für die Unabhängigkeit Algeriens ein und reiste zur Unterstützung diverser marxistischer Anliegen mit de Beauvoir um die Welt. Dabei traf er mit umstrittenen Figuren wie Fidel Castro (geb. 1926) und Andreas Baader (1943–77) zusammen. 1973 setzte Sartres Sehkraft aus, so dass er nicht mehr in der Lage war zu schreiben. Der archetypische französische Intellektuelle des 20. Jahrhunderts – brillant, produktiv, leidenschaftlich, politisch, subversiv und umstritten –, er starb 1980 in Paris und wurde auf dem Friedhof von Montparnasse begraben. Nur sechs Jahre später gesellte seine Seelenverwandte Simone de Beauvoir sich zu ihm. Geschlossene Gesellschaft – es könnte auch Kein Ausgang oder Hinter verschlossenen Türen heißen – ist Sartres bekanntestes und kultigstes Stück. Einfach aufgebaut – ein Akt, eine Szene – und gedanklich zugänglich, gibt es eine gute Vorstellung von der Absurdität, Angst und Hoffnungslosigkeit, für die der Existenzialismus im allgemeinen Bewusstsein steht. Drei Fremde, die miteinander nichts gemeinsam haben – Garcin, der Trunkenbold und feige Ehebrecher, Inés, die »Verdammte«, wie sie selbst bekennt (Geschlossene Gesellschaft, S. 36), und Estelle, die Kindsmörderin –, finden sich in einem Raum wieder, aus dem es kein Entkommen gibt. Sie sind gestorben und der Raum ist Sartres Vision der Hölle: ein Ort ohne Schlaf und Träume, ohne Dunkelheit, Zwinkern, Bücher und Fenster; ein Ort ohne irgendwelche Ablenkungen, die das Leben erträglich machen könnten. Wie Garcin sagt: »Ich werde nicht mehr schlafen können 188

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… Aber wie kann ich mich dann ertragen?« (Geschlossene Gesellschaft, S. 14). Es gibt keine Spiegel, die den Figuren helfen würden, sich selbst so zu sehen, wie die anderen sie sehen. Es gibt keine Teufel, die sie quälen würden. Stattdessen quälen sie sich selber mit Selbstanklagen und ihren Versuchen, sich vor dem Hintergrund des Lebens, das sie gelebt haben, selbst zu rechtfertigen, und sie quälen sich gegenseitig mit endloser Kritik aneinander, ausgehend von dem, was sie bald über ihre gegenseitigen Schwächen und Fehler erfahren. Alle drei erleiden sie ihr Sein-für-andere, während sie zugleich versuchen, die Meinungen zu beeinflussen, die die anderen sich über sie bilden. Gegen Ende des Stücks fasst Garcin dessen Kernbotschaft mit der bekanntesten Maxime aus Sartres riesigem Gesamtwerk zusammen: »Die Hölle, das sind die andern« (Geschlossene Gesellschaft, S. 59). Sartre geht es mit seiner Geschlossenen Gesellschaft nicht etwa darum, irgendein unmögliches, übersinnliches Albtraumszenario zu untersuchen. Sein Interesse gilt vielmehr einem zentral wichtigen Aspekt unseres Erdenlebens, nämlich dem Dasein anderer Menschen und dessen tiefgreifenden und häufig störenden Einfluss auf unsere eigene persönliche Existenz und ihren Wert. In Das Sein und das Nichts, das im Jahr vor der Erstaufführung der Geschlossenen Gesellschaft herauskam, betrachtet Sartre das Phänomen des Seins-für-sich. Jeder von uns sei ein Sein-fürsich, weil wir alle jeweils für uns selbst existieren: als ein Sein, das, so Sartre, im Zentrum seiner eigenen Welt steht, während es die Gegenwart aus freien Stücken auf die Zukunft hin überschreitet, Hindernisse überwindet, Ziele erreicht, sich selbst definiert und seine Lage aus der eigenen Sicht bewertet. Entscheidend dabei ist allerdings, dass jeder Mensch genauso wie für sich selbst auch für andere existiere; jeder Mensch habe ein Sein-für-andere. Ein Mensch, so Sartre weiter, ist sein Sein-für-andere, dies aber sei er auf der anderen Seite, für den anderen. Der andere brauche ihn nur anschauen und schon ergreife er mindestens teilweise von seiner Person Besitz. Unter dem Blick des anderen sei er mit einem Mal zuständig für das, was der andere sehe. Er un189

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terliege dem Urteil des anderen über ihn, und auch wenn er auf dessen Urteil Einfluss nehmen könne, so sei er doch niemals in der Lage, es vollständig zu kontrollieren. Dadurch, dass er dem Urteil des anderen unterliege, sei er dessen Freiheit ausgeliefert. Durch sie ist der Mensch, wie Sartre sagt, »in Knechtschaft« (Das Sein und das Nichts, S. 482). Die Freiheit des anderen transzendiere seine Transzendenz und reduziere ihn auf das, was er für diesen ist. Diese Situation ist in der Beziehung zwischen Garcin und Inés anschaulich gemacht. Garcin kann sich selbst nicht davon überzeugen, kein Feigling zu sein, daher ist er verzweifelt darauf angewiesen, dass Inés ihm versichert, dass er kein Feigling ist. Inés aber ist ein freies Wesen, und er kann nicht über ihre Meinung entscheiden. Selbst wenn er dazu imstande wäre, würde ihn das Ergebnis nicht zufriedenstellen, weil ihn ihre Meinung nur dann überzeugen könnte, wenn sie sie frei äußert. Garcin leidet Höllenqualen, weil er Inés’ Freiheit unterworfen ist. Sie kann ihn zu dem Feigling machen, der er unter gar keinen Umständen sein will, bloß dadurch, dass sie denkt, er sei einer. Weil er tot ist, kann er nicht irgendetwas Heldenhaftes tun, um sie in ihrer Meinung zu beeinflussen, aber selbst wenn er den Helden spielen könnte, hätte er keine Garantie, dass sie sich die von ihm gewünschte Sicht auch tatsächlich zu eigen machen würde. Sie würde ihn vielleicht einfach als unbesonnen oder töricht abtun, als einen Feigling trotz alledem. Garcin hat keine Wahl, er muss weiterexistieren und Inés’ abschätzige Meinung von ihm ertragen. Er kann nicht aufhören, darüber nachzudenken. Wäre er am Leben, könnte er etwas tun, um zu versuchen, sich selbst oder andere neben Inés davon zu überzeugen, dass er kein Feigling ist. Er könnte Inés meiden und sie mit der Zeit als eine andere abtun, die keine Bedeutung hat, wie Menschen das in der Regel mit denen tun, die eine sehr niedrige Meinung von ihnen haben. In Sartres Höllenszenario aber kann Garcin nichts mehr unternehmen: Er kann sich nicht mehr selbst überschreiten und zu dem Helden machen, der er gerne wäre. Er kann seinem jetzigen, unbefriedigenden Sein nicht mehr 190

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in die Zukunft entfliehen, noch sich dem Menschen entziehen, der über ihn urteilt. Er ist aufgeschmissen, festgenagelt auf das scheußliche feige Ding, als das Inés ihn in ihrer grausamen Freiheit haben will. Philosophisch verwirft Sartre die Möglichkeit irgendeiner Form des Jenseits, weil der Tod aus seiner Sicht keine für einen selbst erfahrbare Möglichkeit darstellt. Der Tod sei das Ende aller Möglichkeiten; er sei die vollständige Vernichtung. Daher ist die Geschlossene Gesellschaft auch keine Prophezeiung eines möglichen Jenseits. Sartre vertritt mit seinem Stück lediglich die Behauptung, dass es die Hölle wäre, müsste man das Leben nach dem Tode, wenn es denn eines gäbe, in der Gesellschaft anderer Menschen verbringen. Das wäre sogar so schrecklich, dass die Vernichtung unendlich vorzuziehen sei. In Das Sein und das Nichts war Sartre bei der Analyse des Phänomens des Seins-für-andere zu dem niederschmetternden Schluss gelangt, dass »das Wesen der Beziehungen zwischen Bewusstseinen nicht das Mitsein [ist], sondern der Konflikt« (S. 747). Eben um dies zu untermauern und noch einmal zu bekräftigen, dass allen menschlichen Beziehungen ein höllischer Konflikt zugrunde liege, hat Sartre Geschlossene Gesellschaft verfasst. Sartre erlebte die Schrecken zweier Weltkriege, darum kann man verstehen, dass er den Konflikt für universell hielt. Recht geben muss man ihm deshalb nicht. Der Konflikt zwischen Menschen ist ohne Frage etwas Alltägliches, doch er bildet nicht den universellen Kern der Welt. Der Blick des andern droht nicht grundsätzlich, meine Freiheit zu transzendieren und mich darin zu knechten. Eine Mutter und ihr Kind beispielsweise können zuzeiten einen Blick austauschen, der reine Zuneigung und absolutes Vertrauen ausdrückt, wenn die Mutter-Kind-Beziehung auch nie frei von Konflikten ist, während das Kind heranwächst. Es ist nun einmal so, dass die meisten Menschen die meiste Zeit über viel besser miteinander auskommen, als Sartre behauptet, und er dürfte ihnen wie jemand vorkommen, der einen As191

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pekt des Menschseins um des Effekts willen dramatisch überbetont. Wenn wir sie kaum mehr ertragen können, wenn sie unseren Stolz verletzen oder Paranoia bei uns auslösen, dann sind andere Menschen die Hölle, aber natürlich sind die anderen nicht grundsätzlich die Hölle. Angesichts der Tatsache, dass für die meisten Menschen die größte Freude im Leben zweifellos die ist, mit anderen zusammen zu sein – Sartre war genauso gern mit Menschen zusammen wie jeder andere auch –, könnte man Sartres Diktum gleichsam umkehren und sagen: »Der Himmel, das sind die andern«. Die Hölle dagegen, das sind in Wahrheit Einsamkeit und Isolation.

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Sartre Ich kann nicht verkrüppelt sein, ohne mich als verkrüppelt zu wählen. (Jean-Paul Sartre Das Sein und das Nichts, S. 581. Erstveröffentlichung 1943)

Dieses provokante Zitat sagt viel darüber aus, wie unempfindlich Sartre gegenüber politischer Inkorrektheit war, aber es sagt auch viel über seine radikale Sicht auf die menschliche Freiheit aus. Die in jüngerer Zeit immer weiter um sich greifende politische Korrektheit – die es mit der Annehmbarkeit eines Ausdruck offenbar nie lange aushält – hat aus »verkrüppelt« einen veralteten, ja abwertenden Ausdruck zur Bezeichnung eines Menschen gemacht, der gehandicapt oder körperlich beeinträchtigt ist. Ich wollte sagen, »eines behinderten Menschen«, allerdings fällt auch der Ausdruck »behindert« langsam in Ungnade, da die Bezeichnung »Mensch mit Behinderungen« (MMB) immer mehr in Mode kommt und zumindest auf vorläufige Zustimmung stößt. Ich habe sogar erlebt, dass jemand den Ausdruck »ein MMB« benutzte! Was könnte schlimmer sein als mit dieser lächerlichen, 192

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sterilen, außerordentlich gutgemeinten Buchstabenverbindung bezeichnet zu werden, die nicht sehr weit weg ist von »MVW« oder »WD40«? 2 Wo ist das Gericht, das all dies letztinstanzlich entscheiden würde? Es gibt keins – es kann keins geben, wenn es in der Frage, ob ein Ausdruck abwertend ist oder nicht, letztlich darauf ankommt, wer ihn wem gegenüber oder in Bezug auf wen und in welchem Zusammenhang benutzt. Es hat viel für sich, wenn man sagt, dass es zu einer Beleidigung jemanden braucht, der sich beleidigt fühlt. Es ist ebenso verlockend wie leicht und auch notwendig, die Political Correctness zu verspotten, wenngleich sich zumindest größtenteils nachvollziehen lässt, was damit generell bezweckt werden soll. Es geht darum – und das gilt ganz sicher für das Feld der Behinderung –, Bezeichnungen zu vermeiden, die Menschen auf ihren körperlichen Zustand reduzieren und ihnen so ihre Individualität rauben. Daher ist es, meine ich, nicht abwertend und politisch inkorrekt, wenn man eine Person als verkrüppelt bezeichnet. Abwertend und politisch inkorrekt ist es hingegen, jemanden als Krüppel zu bezeichnen. Denn damit wird tendenziell impliziert, dass dieser Jemand mit seinem Zustand zusammenfällt, dass er oder sie nichts weiter als ein gebrochenes Ding ist, dass er oder sie dem Typ von gebrochenem Ding entspricht, den wir abschätzig als Krüppel bezeichnen. Die Bezeichnung Krüppel presst einen Menschen in eine Schablone. Einen Menschen in eine Schablone pressen heißt bestreiten, dass er die Freiheit hat, über Definitionen hinauszugehen, und dies immer auch tut; es heißt bestreiten, dass er Individuum genug ist, um mehr zu sein als ein bloßer Angehöriger einer bestimmten Bevölkerung, Klasse, Gruppe, Minderheit usw. Zu unserem Eingangszitat: Alles andere als politisch inkorrekt ist der Nachdruck, mit dem Sartre insistiert, dass ein behinderter, verkrüppelter, körperlich beeinträchtigter Mensch nach existen2

»MVW« steht für Massenvernichtungswaffen, »WD40« für ein in Großbritannien bekanntes Rostlöseröl.

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zialistischen Maßstäben gleichwohl im Vollbesitz einer durch nichts begrenzten Freiheit ist. Für Sartre und andere Existenzialisten, wie etwa Simone de Beauvoir, ist die menschliche Freiheit unbegrenzt und grenzenlos. Das heißt freilich nicht, dass man alles tun, ewig leben oder ohne Hilfe fliegen könnte, sondern damit ist gemeint, dass die Nötigung zur Freiheit – also dass ich in jeder Situation genötigt bin zu wählen, wie ich auf sie reagiere – uneingeschränkt und unablässig besteht. Der Mensch kann schlichtweg nicht nicht wählen, weil nicht wählen in Wahrheit auch eine Wahl ist, nämlich die der Nichtwahl (siehe Zitat 8, de Beauvoir, und Zitat 19, Kierkegaard). Selbst wenn ein Mensch behindert sei und etwa nicht laufen könne, sei seine Freiheit ungemindert und bestehe uneingeschränkt. Er ist, so Sartre, nicht frei im Sinne der Freiheit zu laufen, doch in entscheidender Hinsicht sei er frei: Er sei frei, den Sinn seiner Behinderung zu wählen, und daher verantwortlich dafür, wie er auf sie reagiere. Für die Kritik an Elementen der Sartre’schen These von der radikalen Freiheit verweise ich Sie auf die Ausführungen zu Zitat 39 und Warnock. Im unmittelbaren Anschluss an seinen berühmten strittigen Grundsatz führt Sartre weiter aus: »Das heißt, dass ich die Art wähle, in der ich meine Behinderung konstituiere (als ›unerträglich‹, ›demütigend‹, ›zu verheimlichen‹, ›allen zu offenbaren‹, ›Gegenstand des Stolzes‹, ›Rechtfertigung meiner Misserfolge‹« (Das Sein und das Nichts, S. 581). Damit sagt Sartre, dass ein behinderter Mensch, der seine Behinderungen als den Ruin seines Lebens betrachtet, eine Wahl getroffen hat, für die er allein verantwortlich ist und nicht seine Behinderungen. Angesichts der Tatsache, dass er seine Behinderungen hat und gezwungen ist, mit ihnen als körperliche Voraussetzung eines beliebigen von ihm gewählten Zieles zu leben, kann er ihren Sinn freilich nicht wählen: Behinderungen sind Behinderungen und bleiben es. Seine Freiheit besteht darin, sie in einem positiven, bejahenden Sinne zu wählen, indem er beispielsweise danach strebt, ein erfolgreicher Behindertensportler zu werden, oder sich 194

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bemüht, die Zeit, die er zum Fußballspielen verwendete, dafür zu nutzen, um ein Buch zu schreiben, zu malen oder Spenden zu sammeln. Interessanterweise gibt es viele Menschen mit Behinderungen, die ganz besonders aktiv sind, viel Sport treiben und allen möglichen körperlichen Aktivitäten nachgehen, die sich selbst herausfordern, Hindernisse zu überwinden und das Beste aus ihrem körperlichen Zustand zu machen. Solche Menschen sind eigentlich nicht behindert, sondern haben andere Fähigkeiten. Andererseits gibt es zunehmend mehr sogenannte körperlich leistungsfähige Menschen, die sich selbst übergewichtig und krank gemacht haben durch Gier, Faulheit und Selbstverwahrlosung, durch bloße Völlerei und die bewusste Vermeidung von Sport und körperlicher Aktivität, die ihrer Gesundheit und inneren Einstellung so guttun würden. Da stellt sich die Frage, wer hier wirklich behindert ist: der »Krüppel«, der sich jedes Mal aufs Neue dazu entschließt, selbst aktiv zu werden, oder der faule, übergewichtige Mensch, der immer den Weg des geringsten Widerstandes wählt? Die einzigen Menschen, die auf dieser Welt wirklich behindert sind, sind offenbar doch die mit einer behindernden Einstellung. Es ist eine fraglos harte und kompromisslose Ansicht, nach der ein behinderter Mensch, existenzialistisch ausgedrückt, verantwortlich sei für seine Behinderungen. Rigoros und politisch inkorrekt erscheint sie gerade in unserer gegenwärtigen Entschuldigungskultur, wo der individuellen Verantwortlichkeit beständig zu wenig Bedeutung gegeben wird und dem Schuldsuchen bei den Umständen beständig zu viel. Gleichwohl sollten wir Sartres Sicht als eine politisch äußerst richtige Ermächtigung begreifen, angesichts des Respekts, den er behinderten Menschen mit ihr erweist. Wenn man zu einem Menschen mit Behinderungen sagt, er sei, existenzialistisch ausgedrückt, für sie verantwortlich, beleidigt man ihn weder, noch zeigt man sich ihm gegenüber gefühloder rücksichtslos. Man spornt ihn vielmehr an und bietet ihm, sofern seine Behinderungen unheilbar sind, die einzig greifbare reale Hoffnung. 195

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Jeder Mensch mit Behinderungen, der sich nicht in Selbstmitleid ergeht – wählt, sich in Selbstmitleid zu ergehen, wie Sartre es ausgedrückt hätte –, würde sich Sartres Darstellung dieser Lage sicher zu eigen machen. Kein Mensch mit Behinderungen will auf seine Behinderungen reduziert werden; dass es von ihm heißt, er sei »nun einmal ein Gelähmter im Rollstuhl« oder »nur ein Spastiker auf Krücken«. Eben das sagt Sartre: dass ein Mensch mit Behinderungen nicht seine Behinderungen ist, sondern seine freigewählte Antwort auf sie und seine freie Überschreitung von ihnen.

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Voltaire Gäbe es Gott nicht, so müsste man ihn erfinden. (François-Marie Arouet de Voltaire »Epistel an den Verfasser des Buches von den drei Betrügern«, 10. November 1770)

Der in Paris als Kind eines Juristen und einer Frau von Adel geborene François-Marie Arouet (1694–1778) nahm mit etwa Mitte zwanzig den Schriftstellernamen Voltaire an. Als junger Mann entsprach Voltaire nach außen dem Wunsch seines Vaters, der einen Juristen aus ihm machen wollte, doch verbrachte er seine Zeit unterdessen mit Dichten. Sein Vater schickte ihn von Stelle zu Stelle, um seine juristische Laufbahn voranzutreiben, während Voltaire sich auf die Abfassung von Essays und historischen Studien konzentrierte, um seine literarische Laufbahn voranzutreiben. Voltaire war ein bemerkenswerter Kenner der Sprachen, von denen er mehrere fließend beherrschte, und ein außerordentlich witziger und provokativer Satiriker und Polemiker, den die Flut an radikal neuen Ideen in Wissenschaft und Politik faszinierte. Kein Wunder also, dass es ihn mit Macht zum Schreiben drängte und er jeden Aspekt seiner Zeit kommentieren oder kritisieren musste, sei es in seiner Prosa oder Dichtung, in seinen Dramen oder Briefen. Voltaire ließ den Wunsch seines Vaters bald hinter 196

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sich und wurde schließlich einer der produktivsten und einflussreichsten Autoren der Geschichte. Voltaires Leben war von Streit und Auseinandersetzungen geprägt. Arouet Senior musste eine skandalöse Flucht vereiteln, die sein Sohn mit einem Landsmann und protestantischen Flüchtling geplant hatte, als der junge Mann in den Niederlanden ansässig war, und selbst mit seinen frühen Schriften brachte Voltaire es fertig, in den höheren Kreisen Irritation und Ärgernis zu erregen – das nämlich konnte er wie kaum ein Zweiter: andere mit seinem scharfen Verstand an ihren empfindlichsten Stellen treffen. Wie man sich denken kann, brachte ihm diese Fähigkeit auch mächtige Freunde und Verehrer unter dem Adel und der Intelligenz Europas ein. Voltaire, dessen Name heute ein Synonym für »unverblümt« ist, war gleichsam für die Bastille bestimmt und 1726 dort tatsächlich eine Weile lang inhaftiert. Er ließ sich auf einen Handel ein und ging nach England ins Exil. Er sollte noch häufig zur Flucht vor seinen politischen Feinden gezwungen sein, und immer wird es knapp zugehen. Seine drei in England verbrachten Jahre prägten ihn stark. Er beschäftigte sich intensiv mit Shakespeare, mit Locke und auch mit Newton, der 1727 starb und dessen Beerdigung er sogar beiwohnte. Wieder in Paris, veröffentlichte er seine Ansichten über die englische Literatur, Regierung und Religion in seinen Philosophischen Briefen (1733). Sein Lob für den relativ freiheitlichen und toleranten Geist der englischen konstitutionellen Monarchie, im Vergleich zu der intoleranten absoluten Monarchie Frankreichs, erzürnte die Obrigkeiten. Um ihrem Zugriff zu entkommen, zog er sich auf das Schloss Cirey in der französischen Provinz zurück, wo er Gast und Liebhaber der Marquise Émilie du Chatelet (1706–49) wurde, die eine große Wissenschaftlerin und eigenständige Intellektuelle war. Neben ihren zahlreichen anderen wissenschaftlichen Unternehmungen befassten Voltaire und Émilie sich intensiv mit der Naturphilosophie Newtons und machten sie bekannt, indem sie zusammen darüber schrieben. Nach Émilies Tod 1749 fuhr Voltaire damit fort, an verschie197

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denen Orten Europas Könige und Kontroversen herauszufordern, und er blieb ein Vielschreiber über alle möglichen Themen. Zu den bemerkenswertesten seiner vielen Werke zählen Candide (1759), eine Novelle, die die Philosophie von Leibniz satirisch aufs Korn nimmt (siehe Zitat 20), und sein Philosophisches Wörterbuch (1764), in dem er immer wieder Kritik übt an mächtigen Institutionen wie der katholischen Kirche, gegen die er mit Vorliebe den Satz richtete, »Écrasez l’infâme« (Vernichtet die Schändliche). Voltaire starb in Paris, elf Jahre vor Beginn der Französischen Revolution, doch seine Schriften und Ideen, seine eloquente und kontinuierliche Kritik an religiöser Intoleranz und politischer Verderbtheit dienten zweifellos dazu, den Druck in dem politischen Kessel weiter zu erhöhen, der schließlich in jenem folgenschweren und die Welt verändernden Ereignis explodierte. Unser Voltaire-Zitat vom Anfang, bei weitem sein berühmtestes, ist zu so etwas wie einem Leitspruch für Atheisten geworden und wird von ihnen gern zur Argumentation herangezogen, dass die Idee von Gott lediglich eine menschliche Erfindung sei.Voltaire allerdings, obwohl er die Kirche sein Leben lang kritisierte, war kein Atheist. Er glaubte an Gott, und in Wirklichkeit attackierte er eine Gruppe von atheistischen Philosophen, als er die Bemerkung machte. Sich selbst zitierend, schrieb Voltaire in einem Brief im November 1770 an Friedrich den Großen (1712–86): »Gäbe es Gott nicht, so müsste man ihn erfinden.« Die ganze Natur aber schreit es heraus, dass es ihn gibt: dass es eine höchste Intelligenz gibt, eine ungeheure Macht, eine bewundernswerte Ordnung, und alles lehrt uns unsere Abhängigkeit von ihr. (Voltaire in His Letters, S. 231)

Voltaire befürwortet nicht den Atheismus, vielmehr betont er, worin in seinen Augen die tiefe Bedeutung der Gottesidee für die Erhaltung der Welt besteht. Dass Voltaire an die Existenz Gottes glaubte, gibt seine Rede von der »bewundernswerten Ordnung« der Natur zu erkennen (siehe auch Zitat 28, Paley). Doch 198

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selbst wenn es Gott nicht gäbe, wäre es seiner Argumentation nach unbedingt erforderlich, ihn als wirklich existierend auszugeben. Andernfalls würden die seelische Unversehrtheit, die Hoffnung, das Sinnempfinden und die Moral ausgehöhlt, und damit all das, was es dem Menschen ermöglicht, als Individuum wie auch als soziales Wesen zu funktionieren. Es gebe sehr gute Gründe, weshalb jede Gesellschaft, die jemals bestand, irgendeinen Glauben an Gott oder Götter gehabt habe. Viele Menschen würden aus tiefer Seele danach verlangen, von der Furcht und der Angst entlastet zu werden, die jeder angesichts eines feindlichen Universums und unseres grausamen Schicksals kenne. Nur der Glaube an einen äußerst mächtigen Gott, der uns nach seinem Bilde geschaffen habe, sich um unser Wohlbefinden sorge und sich lebhaft um unsere persönlichen Interessen kümmere, könne den Trost und die Beruhigung bieten, nach denen sich viele Menschen sehnten. Voltaire zufolge haben die Menschen generell ein tiefes Verlangen nach einem äußerst mächtigen übernatürlichen Beschützer, und dieses Verlangen wolle befriedigt sein, in der Wirklichkeit oder in der Vorstellung. Außerdem sei die Religion, mit der Gottesidee in ihrem Zentrum, ein sozialer Klebstoff, der für innergemeinschaftliche Verbundenheit sorge. Die Religion halte über den gesamten Lebensweg hinweg Rituale bereit, die das familiäre und gemeinschaftliche Miteinander stärken. Überdies würden Furcht und Ehrfurcht, welche die Religion erwecke, dafür sorgen, dass der Moralkodex, für den sie zur Regulierung der sozialen Beziehungen und Interaktionen eintrete, weitgehend eingehalten werde. Wie es bei Voltaire an einer Stelle heißt: Ich will, daß mein Sachwalter, mein Schneider, meine Knechte, sogar meine Frau an Gott glauben; bilde mir ein, daß ich alsdann werde weniger bestohlen werden, und weniger Hahnrei sein. (A B C oder Dialoge zwischen A B C in Voltaire’s sämtliche Schriften, Bd. 2, S. 501, Berlin, 1786)

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Nicht zuletzt gebe der Glaube an Gott dem Leben ein Gefühl der Hoffnung und der Sinnhaftigkeit, das ihm sonst fehlen würde – und darin erkennt Voltaire den eigentlichen Sinn und Zweck des Strebens nach dem ewigen Lohn eines von Gott geschenkten Lebens nach dem Tode. Seelische Unversehrtheit, Hoffnung, Sinn und Moral sind Voltaire zufolge jeweils unverzichtbar für den sozialen Zusammenhalt und somit für das Überleben der Menschen. Er betrachtet den Glauben an einen wirklichen oder erfundenen Gott als eine notwendige Voraussetzung, um beide Ziele zu erreichen. Ob ein solcher Glaube wirklich notwendig ist, um beides erreichen zu können, gestaltete sich von Voltaire an zu einer nicht unwesentlichen philosophischen Streitfrage.

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Warnock Doch ohne irgendein Element von Objektivität, ohne jedes Kriterium, mit dem sich ein Wertesystem einem anderen vorziehen lässt, bis auf das Kriterium dessen, was für einen selbst am besten und günstigsten zu sein scheint, kann es in Wahrheit überhaupt keine Moral geben und muss die ganze Moraltheorie bloß aus der einzigen Behauptung bestehen, dass es keine Moral gibt. (Mary Warnock Existentialist Ethics, S. 58. Erstveröffentlichung 1967)

Baroness Mary Warnock wurde 1924 als Mary Wilson in Winchester als das jüngste von sieben Kindern geboren. Ihr Vater war vor ihrer Geburt an Diphtherie gestorben und für ihre Ausbildung kam ihr Großvater auf, der Financier Felix Schuster (1854–1936). Nach dem Besuch der St Swithun’s School in Winchester ging sie nach Oxford, um am ersten Frauencollege, Lady Margaret Hall, Philosophie zu studieren. 1949 wurde sie Tutor und wissenschaftliche Mitarbeiterin am St Hugh’s College in Ox200

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ford. Das blieb sie bis 1966, ehe sie bis 1972 die Oxford High School für Mädchen leitete. Sie erwarb sich den Ruf als »Englands Hauptschiedsrichterin der Moral« (The Observer, 12. Juni 2005) und war als Honorary Research Fellow und Gastprofessorin an verschiedenen englischen Colleges und Universitäten tätig. Warnock schrieb viel und umfassend über Ethik, Erziehung, die Philosophie des Geistes und den Existenzialismus. Zu ihren bedeutendsten Arbeiten zählen Ethics since 1900 (1960), Existentialist Ethics (1967), Existentialism (1970), Memory (1987) und Dishonest to God: On Keeping Religion Out of Politics (2010). Sie wollte ihr berufliches Leben nicht bloß im Elfenbeinturm der Philosophie zubringen und entsprechend ausgeprägt war das Interesse, das sie im Laufe ihrer Karriere an den öffentlichen Angelegenheiten zeigte. Sie hat immer versucht, ihre von gesundem Menschenverstand geprägte moralische und philosophische Klugheit öffentlich einzusetzen und positiven Einfluss auf die Gesellschaftspolitik zu nehmen, insbesondere in den Bereichen Bildung und Erziehung, Medizinethik und bei den Tierrechten. Vor allem leitete sie zwei Untersuchungsausschüsse, die zu zwei äußerst einflussreichen Berichten führten: dem Warnock-Report (1978) zu speziellen Ausbildungserfordernissen und dem Warnock-Report (1984) über menschliche Befruchtung und Embryologie. Die Mutter von fünf Kindern mit dem Philosophen und ehemaligen Vize-Kanzler der Universität von Oxford Geoffrey Warnock (1923–95) wurde 1985 in den Adelsstand erhoben und nimmt weiterhin aktiv am öffentlichen Leben teil, wie ihr hohes Alter es erlaubt. Mary Warnock zählt zu den wichtigsten Moralphilosophen des 20. Jahrhunderts und ist in praktischer Hinsicht wohl die wichtigste von ihnen. Zusammen mit ihrer Zeitgenossin, der Philosophin und Romanautorin Iris Murdoch (1919–99), gehörte Warnock zu den ersten Philosophen, die sich mit dem Existenzialismus, der eine sehr stark auf dem europäischen Kontinent verankerte philosophische Bewegung war, ernsthaft befassten. Wie es der Titel nahelegt, unternimmt Warnock mit ihrer Existentialist Ethics eine 201

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Erkundung und Bewertung der philosophischen Folgerungen – oder der Folgerungen für die Ethik –, die sich aus der Existenzphilosophie ergeben, wie sie von Kierkegaard, Heidegger und vor allem Sartre entwickelt und dargelegt wurde. Sartre und anderen ebenso kompromisslosen Existenzialisten zufolge ist die menschliche Freiheit in dem Sinne grenzenlos, dass wir unablässig genötigt seien, auf die Situation, in der wir uns befinden, eine Antwort zu geben (siehe Zitat 37, Sartre). Sartre vertritt zudem die Auffassung, dass moralische Ansichten und Überzeugungen von der bestmöglichen Handlungsoption, die sich in einer bestimmten Situation ergreifen lasse, keinen Grund liefern können, warum man sie wählen sollte, weil sie Ausdruck von Werten seien, die selbst das Resultat einer grundlosen Wahl darstellen würden. Bei ihm heißt es: »Meine Freiheit ist die einzige Grundlage der Werte, und nichts, absolut nichts rechtfertigt mich, diesen oder jenen Wert, diese oder jene Werteskala zu übernehmen« (Das Sein und das Nichts, S. 106). In seiner Abhandlung Ist der Existentialismus ein Humanismus? veranschaulicht Sartre die radikale Freiheit – die radikale Wahl – am Beispiel eines seiner Schüler, der vor dem Dilemma steht, von zu Hause fortzugehen und sich der Widerstandsbewegung anzuschließen oder sein Zuhause nicht zu verlassen und sich um seine unglückliche und seelisch leidende Mutter zu kümmern (Ist der Existentialismus ein Humanismus? in Sartre Drei Essays, S. 17 ff.). Es steht außer Frage, dass der Schüler eine Entscheidung fällen muss, Sartre zufolge aber lässt sich nicht nach Gründen entscheiden, welche Handlung man ergreifen soll. »Ich kann weder in mir selber den authentischen Zustand suchen, der mich zum Handeln treibt, noch einer Moral die Begriffe entlehnen, die mir erlauben zu handeln« (Ist der … ?, S. 19). Der Student sei in einem »Zustand der Verlassenheit« (Ist der … ?, S. 17), »zur Freiheit verurteilt« (Das Sein …, S. 253, S. 838 und Ist der … ?, S. 16) und daher gezwungen, eine willkürliche Entscheidung zu treffen. Er müsse sich ohne Grund oder Rechtfertigung in die eine oder die andere Handlung stürzen. 202

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Sartres allgemeine Behauptung ist die, dass Wählen letztlich immer und unvermeidlicherweise auf vollkommen willkürlichen Entscheidungen beruht. »Sie sind frei, wählen Sie, das heißt erfinden Sie« (Ist der … ?, S. 19). Außerdem vertritt er die Meinung, dass eine Wahl, bei der man sich in irgendeiner Weise von Ansichten, Überzeugungen und Werten leiten und beeinflussen lassen könnte, ein kausales Phänomen sei und eben keine wirklich freie Wahl. Sartre zieht die Auffassung, dass jede Wahl letztlich grundlos sei, zum Teil auch deshalb vor, weil sich darin, wie er meint, die ganze existenzielle Tiefe der menschlichen Freiheit offenbart. Die Entschiedenheit und Kompromisslosigkeit seiner Freiheitstheorie ist weitgehend auf die historischen Umstände ihrer Entstehung zurückzuführen. Sartre, der sich in seinem Denken zunehmend von politischen Erwägungen leiten ließ, wollte der steigenden Flut des Faschismus, die im Zweiten Weltkrieg den Höhepunkt erreichte, dadurch entgegenwirken, dass er sich für die Freiheit und unveräußerliche Verantwortung des Einzelnen aussprach. Weil er sich jedoch, wie Warnock ausführt, dem Gedanken verweigert, dass eine Wahl in gewisser Weise verursacht oder zumindest von Überlegungen geleitet sein kann und dennoch eine Wahl bleibt, leiste seine radikale Freiheitsposition einer so weitgehenden Entwertung der Funktion von Beweggründen Vorschub, dass aus der Wahl ein Mysterium werde. Und nicht nur das: Konkret resultiere Sartres eigenwillige Art, die persönliche Verantwortung der Menschen für ihr Tun herauszustellen, in der Verwerfung der Vorstellung, dass moralische Erwägungen ihr Handeln mit anleiten könnten! Er verkürze die Rolle moralischer Erwägungen so drastisch, dass die Möglichkeit moralischen Handelns vollständig untergraben und die Moraltheorie – wie eingangs zitiert – »auf die Behauptung, dass es keine Moral gibt« reduziert werde. Warnock schreibt: Wenn die freie, für sich selbst zu treffende Wahl den höchsten Wert darstellt, ist die freie Wahl, rote Socken zu tragen, gleich203

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wertig mit der, den eigenen Vater zu ermorden oder sich selbst für einen Freund zu opfern. Eine solche Ansicht ist lächerlich. (Existentialist Ethics, S. 54)

Die Wahl, wie Sartre sie versteht, ist Warnock zufolge ein mysteriöses Phänomen, weil er keine Erklärung dafür biete, wieso ein Mensch, der vor die Wahl zwischen Handlungsmöglichkeiten gestellt sei, die ausschließlich den Wert haben, den er ihnen aus eigenem Entschluss gebe, sich für eine Option entscheide und nicht für eine andere. Selbst im Falle, dass jemand über jede einzelne seiner Wahlen eine Münze entscheiden ließe, wäre damit immer noch nichts erklärt. Es bräuchte nämlich immer noch eine Erklärung dafür, warum er sich entschließt, der »Entscheidung« einer Münze Wert beizumessen und sich daran zu halten. Es wäre als Erklärung seines Entschlusses, sich an ihre »Entscheidung« zu halten, völlig unzureichend, würde er lediglich sagen, er habe sich einfach dazu entschlossen. Was Warnocks Behauptung angeht, Sartres Auffassung einer Wahl untergrabe vollständig die Möglichkeit moralischen Handelns, ja die Möglichkeit der Moral an sich, so ist schlicht festzuhalten, dass ein Mensch unmöglich auf eine als moralisch zu bezeichnende Weise handeln kann, wenn sich ein moralisches Dilemma genauso gut durch Münzwurf lösen lässt wie durch irgendetwas anderes. Wenn man sich nach dem Zufallsprinzip in eine bestimmte Handlung stürzt, kann von Moral keine Rede sein, denn eine Moral, die jedwede Handlung erlaubt, ist keine Moral. Wenn es sich ein Mensch zum »moralischen Prinzip« machen würde, moralische Dilemmas durch Münzwurf zu lösen, wäre er kein moralischer Mensch, sondern jemand, der es aufgegeben hätte, moralische Erwägungen anzustellen, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Wenn moralische Werte grundlos sind und ihnen im Prozess der Entscheidungsfindung nicht mehr Bedeutung zukommt als einem Münzwurf, dann ist die Unterscheidung zwischen moralisch, amoralisch und unmoralisch hinfällig. Moralische Entscheidungen müssen Warnock zufolge nach 204

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objektiven Grundsätzen getroffen werden, die allgemein verständlich und nachvollziehbar sind (siehe auch Zitat 16, Kant, und Zitat 24, Mill). Eine private Moral, bei der moralische Unterscheidungen nach persönlichen Launen getroffen würden, sei als eine Moral unverständlich, weil ihre »Grundsätze«, da sie willkürlich und inkonsistent seien, sich nicht als Grundsätze erkennen lassen. Natürlich ist von moralischen Subjektivisten oder Nonkognitivisten gegen moralische Objektivisten wie Warnock eingewendet worden, dass es keine objektiven moralischen Tatsachen oder Werte gibt, dass wirkliches moralisches Handeln unmöglich ist, da es sich bei allen moralischen Werten um Täuschungen handelt. Die vorgeblich moralischen Behauptungen, die eine tiefere moralische Wahrheit und tiefere moralische Prinzipien beanspruchen, seien in Wirklichkeit Gefühlsäußerungen bzw. emotional getönte Zustimmungs- oder Ablehnungsbekundungen (siehe Zitat 5, Ayer). Mit seiner radikalen Freiheitsthese stellte Sartre sich auf seine Weise in eine Reihe mit moralischen Subjektivisten wie Ayer, auch wenn er im weiteren Sinne ein sehr moralischer Philosoph war, den es intensiv beschäftigte, wie die Menschen leben sollten. Wenn – wie Warnock zustimmen würde – der Existenzialismus die im eigentlichen Sinne moralische Dimension haben soll, die Sartre ihr sicherlich zuerkennen möchte, so darf er nicht dem moralischen Subjektivismus in einer seiner nihilistischen Spielarten anheimfallen, sondern muss zu einer besseren Position finden. Und wenn man sich in Sartres riesigem Werk umschaut – abseits seiner doch recht oberflächlichen Abhandlung Ist der Existenzialismus ein Humanismus?, die er für ein schickes literarisches Ereignis auf die Schnelle geschrieben hatte und dessen Veröffentlichung er später bedauerte –, so kann man wohl sagen, dass er tatsächlich Besseres zu bieten hat. Sartres Existenzialismus bietet nämlich die Möglichkeit zu einer objektiven Ethik, die ihren Grund in Freiheit und Wahrhaftigkeit hat. Wahrhaftig sein heißt für ihn, die unausweichlichen existenziellen Wahrheiten des Menschseins anzunehmen und zu bejahen: Freiheit, Sterblichkeit (siehe Zitat 11, Heidegger), Seinfür-andere (siehe Zitat 36, Sartre), das Sein der anderen usw. Man 205

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darf wohl behaupten, dass wahrhaftig sein nicht nur heißt, die eigene Freiheit anzunehmen und zu bejahen, sondern auch die der anderen. Man darf wohl behaupten, dass eine im echten Sinne existenzialistische Ethik sich in einem Wahrhaftigkeitsbegriff verankern lässt, der das Wahrhaftig- und Aufrichtigsein anderen gegenüber einschließt. Sartres ethische Welt hat fraglos große Ähnlichkeit mit Kants Reich der Zwecke (siehe Zitat 16), das eine Welt darstellt, in der jeder Mensch jeden anderen Menschen als einen sich selbst bestimmenden Zweck an sich selber ansieht, und nicht als ein bloßes Mittel, dem es an Freiheit fehlt, oder als ein Ding, über das man nach Belieben verfügen kann. Dadurch, dass er sie für etwas eintreten lässt, das Kants Reich der Zwecke ähnelt, trägt Sartres Ethik gewisse kantische Züge. Dadurch, dass er seine Ethik zu einer Sache wahrhaftiger Antworten auf konkrete Situationen macht, statt universelle moralische Prinzipien zu behaupten, an die man sich halten solle, ist Sartre kein Deontologist kantischer Prägung, sondern eher der Verfechter einer Form der Tugendethik. Genau wie die Tugendlehre des Aristoteles (siehe Zitat 4) dreht sich auch Sartres existenzialistische Ethik nicht um abstrakte moralische Grundsätze, die es zu befolgen gelte, sondern darum, wie es dem Menschen gelingen kann, sein Potenzial auszuschöpfen und als freies Wesen an der Seite anderer freier Wesen voranzukommen. Warnock ist eine Objektivistin in Moralfragen, die immer wieder dagegenhält, dass die menschliche Vernunft zur Begründung vielfältiger Kriterien imstande sei, die das menschliche Verhalten in eine moralische und tugendhafte Richtung lenken können. Sie ist auch eine beständige Kritikerin des moralischen Subjektivismus und all solcher – wie sie es sieht – analytischer, sprachwissenschaftlicher, positivistischer, weltfremder Bagatellisierung wirklicher moralischer Sorgen und Belange. Als solche würde sie an dieser anderen Sicht auf Sartre bestimmt viel weniger finden, das philosophisch zu kritisieren ist, und viel mehr, das zu wirklicher moralischer Entwicklung beiträgt. 206

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Whitehead Die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas lautet, daß sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht. (Alfred North Whitehead Prozess und Realität, S. 91. Erstveröffentlichung des engl. Originals 1929)

Dass der Philosoph Alfred North Whitehead (1861–1947) heutzutage unter Wert gehandelt wird, liegt zu einem Teil daran, dass er im Schatten seines ehemaligen berühmten Schülers Bertrand Russell steht, mit dem zusammen er die bahnbrechenden Principia Mathematica verfasste. Es liegt aber auch daran, dass seine Familie seinem Wunsch entsprochen und nach seinem Tod all seine Papiere vernichtet hat. Zu Whiteheads Ehre muss allerdings gesagt werden, dass er einer der ganz großen Geister des 20. Jahrhunderts war, ein Mann, der viele dessen wichtigster Denker auf subtile Weise geprägt hat, nicht zuletzt Russell selbst. Geboren in Ramsgate in der Grafschaft Kent, besuchte er die Sherborne School, ehe er nach Cambridge ans Trinity College ging, wo er die nächsten 30 Jahre Studium und Lehre der Mathematik und der Logik widmete. Von 1903 an Mitglied der Royal Society und einer der führenden Mathematiker weltweit, ließ er Cambridge 1910 hinter sich, um an mehreren Londoner Universitäten zu lehren und Physik zu studieren. Durch sein ausgesprochen philosophisches Interesse an der Physik zog es ihn immer mehr zur Ontologie – einem Zweig der Philosophie zur Wesenserkundung von Sein, Werden und Zeit. Er begann die Prozessphilosophie zu entwickeln, eine umfassende Theorie der Existenz, nach der die Wirklichkeit in ihrem Grunde ein fortwährender Prozess ist, ein Werden und kein unveränderliches und zeitenthobenes Sein, als was sie etwa Platon in seiner Formenlehre begreift. Charles Malik (1906–87), der über Whitehead promovierte und Präsident der UN-Generalversammlung wurde, vergleicht 207

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Whiteheads Ontologie der Zeit mit derjenigen Martin Heideggers (siehe Zitat 11). 1924 nahm Whitehead mit 63 Jahren einen Ruf nach Harvard an und übernahm einen Lehrstuhl für Philosophie. Hier stellte er seine beiden wichtigsten philosophischen Werke fertig, Wissenschaft und moderne Welt (1925) sowie Prozess und Realität (1929). Bis zu seinem endgültigen Ausscheiden hielt er in Harvard tiefsinnige und beliebte Vorlesungen, in denen er die großen Dichter ebenso selbstverständlich zu Wort kommen ließ wie die großen Philosophen. Sonntags lud er bei sich zu lockeren Gesprächsrunden ein, die von vielen einflussreichen Denkern besucht wurden, darunter dem Verhaltensforscher B. F. Skinner (1904–90) und dem analytischen Philosophen W.V. Quine (1908–2000), dessen Doktorarbeit Whitehead betreute. Von all den tiefsinnigen Dingen, die Whitehead gesagt oder geschrieben hat, ist seine leicht nachvollziehbare Bemerkung über den gewaltigen Einfluss Platons auf die Geschichte der westlichen Philosophie am bekanntesten geworden. Oft wird sie abgewandelt zu: »Die Philosophie besteht nur aus Fußnoten zu Platon.« Ihre Berühmtheit verdankt die Bemerkung nicht zuletzt der Tatsache, dass sie sich in philosophischen Anfängerkursen so gut an den Mann bringen lässt. Welcher Dozent hat nicht wiederholt auf sie zurückgegriffen, wenn er die Philosophiegeschichte zu charakterisieren suchte oder eine Vorstellung von der monumentalen Bedeutung Platons geben wollte. Natürlich sind die Fußnoten, auf die Whitehead sich bezieht, unwahrscheinlich ausführlich und viel mehr als das, was man sich normalerweise unter Fußnoten vorstellt. Zudem stehen viele dieser sogenannten Fußnoten in starkem Widerspruch zu Platon, was auch für viele von Whiteheads eigenen Fußnoten gilt. Nichtsdestoweniger bleibt es richtig, dass Platon all die wesentlichen Fragen formulierte, mit denen die westliche Philosophie bis heute völlig in Anspruch genommen ist, und genau darauf zielt Whitehead mit seiner Bemerkung ab. Platon schrieb rund 30 Dialoge, das heißt Bücher, die die 208

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Form von philosophischen Gesprächen haben zwischen einem halberfundenen Sokrates und einer ganzen Reihe von Gesprächspartnern, die durch die Bank in großen Schwierigkeiten stecken. Der bedeutendste und bekannteste von Platons Dialogen ist Der Staat. Dieses Werk, in dem Platon die wichtigsten Fäden seiner Philosophie auf brillante Art zusammenlaufen lässt, gilt weithin als das vielleicht größte je geschriebene Werk der Philosophie, das auch nach beinahe 2500 Jahren in seiner Brillanz unübertroffen sei (siehe die Zitate 31 und 32, die beide aus dem Staat stammen). Der Staat und die anderen Dialoge werfen so ziemlich alle zentralen philosophischen Fragen auf, mit denen die Philosophie noch heute intensiv beschäftigt ist. Was nicht heißt, dass Platon alle Antworten wüsste, weit gefehlt. Kein Philosoph kennt all die Antworten, und wie an allen Philosophen, wurde auch an Platon viel Kritik geübt. Das wirklich Großartige an ihm ist jedoch, dass er all die richtigen Fragen stellt – Fragen, die den philosophischen Stein unaufhörlich ins Rollen bringen und in sehr produktive Richtungen lenken. Platons Einfluss ist so immens, dass er oft als »Vater der westlichen Philosophie« bezeichnet wird. Die zentralen philosophischen Fragen, die Platon aufwirft, sind: 1. Worin besteht das wahre Wesen der Wirklichkeit? 2. Wie lässt sich diese Wirklichkeit erkennen? 3. Wie sollen wir angesichts des wahren Wesens der Wirklichkeit leben? Diese drei Fragen finden ihre Entsprechung in den drei Hauptzweigen der Philosophie, die bis heute in der einen oder anderen Form Bestand haben: 1. Metaphysik oder Ontologie 2. Epistemologie oder Erkenntnistheorie 3. Ethik oder Moralphilosophie. Bei der Metaphysik handelt es sich um ein Teilgebiet der Philosophie zur Untersuchung des grundlegenden Wesens und der Urgründe von Wirklichkeit, Existenz bzw. Sein. »Warum ist etwas und nicht nichts?« ist eine zentrale metaphysische Frage. »Gibt 209

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es Gott?« eine andere. Philosophie und Metaphysik waren einmal so eng miteinander verbunden, dass »Metaphysik« praktisch nur ein anderes Wort für »Philosophie« war und Philosophen häufig »Metaphysiker« genannt wurden. »Meta« bedeutet »überschreitend« oder »darüber hinausgehend«, demnach ist mit dem Ausdruck »Metaphysik« die Untersuchung des über das Physische hinaus Bestehenden gemeint. Viele moderne Philosophen bestreiten die Möglichkeit einer Metaphysik, weil sie Platon und anderen nicht darin zustimmen, dass es über das Physische hinaus oder jenseits davon tatsächlich irgendetwas gibt; dass es jenseits der Welt, die wir täglich durch unsere Sinne erfahren, irgendwelche höheren Mächte oder andere Dimensionen gibt. Der Ausdruck »Metaphysik« ist zunehmend durch den neutraleren Ausdruck »Ontologie« ersetzt worden, obwohl die Grunddefinition von »Ontologie« ziemlich die gleiche ist wie die von »Metaphysik«. Abgeleitet vom griechischen Wort für Wissen, epistēme, ist Epistemologie die technische Bezeichnung für Erkenntnistheorie. Bei dieser handelt es sich um ein Teilgebiet der Philosophie zur Untersuchung der Natur des Wissens und der Möglichkeit von Erkenntnis. Zu den Hauptfragen der Erkenntnistheorie zählen: »Was ist Wissen?«, »Was heißt, etwas wissen?«, »Welches sind die Grenzen der Erkenntnis« und »Ist Erkenntnis möglich?«. Viele Philosophen, darunter auch Platon, haben Wissen zu definieren versucht, indem sie strenge Standards für den Erkenntnisfall aufstellten. Philosophen liegen sich über diese Standards endlos in den Haaren und werfen sich gegenseitig vor, nicht zu erkennen, dass ihr Erkenntnisstandard so sicher und verlässlich sei, wie sie behaupten. Platon definierte Wissen als begründete, wahre Überzeugung. Dies ist auch weiterhin die klassische Definition davon, was Wissen sei, und auch wenn sie über die Jahrhunderte viel kritisiert wurde, hat sie sich ganz gut bewährt. Platon zufolge haben wir nur dann Wissen, wenn das, was wir zu wissen behaupten, wahr ist, wir davon überzeugt sind und es durch hinreichende Belege oder logischen Nachweis begründen 210

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können. Die Begründungs- oder Rechtfertigungsbedingung bleibt die umstrittenste von Platons drei Bedingungen. Die fast 2500 Jahre nach Platons Tod immer noch tobende Debatte dreht sich um die Frage, worin hinreichende Belege auf der empirischen Seite der Dinge und ein ausreichender Nachweis auf ihrer logischen, rein rationalen Seite bestehen. Den als Rationalisten bezeichneten Philosophen zufolge – Platon war Rationalist – ist empirische Evidenz viel zu unverlässlich, als dass sie uns jemals Wissen liefern könnte. Dies sei hauptsächlich deshalb so, weil unsere Sinne keine zuverlässigen Lieferanten vollkommen verlässlicher Informationen über die Welt darstellen würden. Andere, als Empiristen bezeichnete Philosophen beharren gegen Platon und seine rationalistischen Nachfolger darauf, dass wir aus dem, was unsere Sinne uns liefern, das Beste machen müssen, weil es sich bei ihnen um die einzig mögliche Quelle all unserer Gedanken und Vorstellungen handle. Mittlerweile gibt es noch andere, als globale Skeptiker bezeichnete Philosophen, die sowohl den Rationalisten als auch den Empiristen widersprechen und gegen sie darauf beharren, dass sicheres Wissen überhaupt eine Unmöglichkeit darstelle, sei es empirisches oder rationales … und so geht die im Wesentlichen von Platon angestoßene Debatte weiter. Das Teilgebiet der Philosophie zur Untersuchung des moralischen Werts des menschlichen Tuns und der Grundsätze und Prinzipien, die es leiten sollten, wird als Ethik bezeichnet. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die großen Philosophen letztlich alle an einer Ethik interessiert sind. Im Beantworten ethischer Fragen besteht das oberste Ziel allen Philosophierens. Das gilt sicher für Platon und auch für die meisten, wenn nicht alle in diesem Buch behandelte Philosophen. Wahre Philosophen wie Platon suchen nach Antworten auf metaphysische und erkenntnistheoretische Fragen darüber, was ist und wie wir es erkennen können, um Antworten zu finden auf moralische Fragen darüber, wie wir, angesichts unseres Wissens über das, was ist, leben sollten. Die Letzte Frage für alle 211

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wahren Philosophen ist Platons Letzte Frage: »Wie sollen wir angesichts des wahren Wesens der Wirklichkeit leben?« Platon ist ein ständiger Bezugspunkt in der Philosophie. Philosophen haben sich von jeher Platon zugewendet, um sich Ideen und Inspiration zu holen, und sie werden immer wieder auf ihn zurückkommen und ihre Vorstellungen damit vergleichen wollen, wie er die Dinge sah, und das zu nahezu jedem philosophischen Thema, das sich denken lässt. Die Häufigkeit, mit der der Name Platon in diesem Buch fällt, ist ein weiterer Beleg dafür, falls es überhaupt noch eines bedurfte, wie Recht Whitehead mit seiner Bemerkung hatte.

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Wittgenstein Das Wort »Sprachspiel« soll hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform. (Ludwig Wittgenstein Philosophische Untersuchungen, 23, S. 26. Erstveröffentlichung 1953)

Ludwig Wittgenstein (1889–1951) wurde in Wien geboren, als das jüngste Kind einer äußerst wohlhabenden und kultivierten jüdischen Familie, die sich als Mäzene von Komponisten und Künstlern engagierte, zu denen auch Johannes Brahms (1833–97) und Gustav Klimt (1862–1918) gehörten. Ein begabter Schüler, dem eine umfassende, geistes- wie naturwissenschaftliche Bildung zuteilwurde, begann Wittgenstein sich für konstruktionstechnische Fragen zu interessieren und ging als Achtzehnjähriger nach Manchester, um Flugtechnik zu studieren. Er war ein guter Ingenieur, doch sein wachsendes Interesse an der Philosophie drängte die technischen Ambitionen bald in den Hintergrund. 1911 reiste Wittgenstein nach Jena, um seine Ideen mit dem Sprachphilosophen und Logiker Gottlob Frege (1848–1926) zu diskutieren. Dieser empfahl ihm, bei Bertrand Russell in Cam212

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bridge Philosophie zu studieren. Russell erkannte in Wittgenstein einen außerordentlich fähigen Geist und nahm ihn unter seine Fittiche. Wittgenstein saugte Russells mathematische und logische Anschauungen rasch auf, und nicht lange, und sie gerieten über grundlegende Dinge in Streit miteinander. Ihre persönliche Beziehung war zunehmend von Spannungen belastet und daran sollte sich nichts mehr ändern. Gut möglich, dass Russell, der von Ruhm, Reichtum und Sex zunehmend in Anspruch genommen war, Wittgenstein nie richtig verstanden hat. Der Schüler war jedenfalls zum Meister geworden, wie das eigentlich für alle guten Schüler gelten sollte. Wittgenstein wurde von seinen philosophischen Ideen mehr und mehr gefangen genommen. Er verließ Cambridge, um in einer kleinen abgelegenen Hütte an einem norwegischen Fjord zu leben, und arbeitete dort bis zur Erschöpfung an der Lösung logischer Probleme. Als er seine Familie in Wien besuchte, brach der Erste Weltkrieg aus. Wittgenstein kämpfte für die österreichische Armee und erwarb sich Tapferkeitsmedaillen. In den Schützengräben setzte er seine philosophische Arbeit fort, aus der später sein erstes Buch hervorging, der Tractatus logico-philosophicus, der 1922 erschien und zugleich das einzige von ihm zu Lebzeiten veröffentlichte Buch ist. In dem Glauben, all die Probleme der Philosophie und der Logik gelöst zu haben, wurde er Volksschullehrer auf dem österreichischen Land. Er war ein guter Lehrer, doch auch streng und leicht aufzubringen. Seine Lehrerlaufbahn fand ein jähes Ende, als er einem Jungen auf den Kopf schlug und dieser ohnmächtig zusammenbrach. Als ihm mit der Polizei gedroht wurde, ergriff er die Flucht aus dem Dorf. 1929 schließlich kehrte er nach Cambridge zurück, wo er zunächst auf Stipendien angewiesen war, da er sein riesiges Erbe weggegeben hatte, bevor er Anfang der 30er Jahre einen Lehrauftrag erhielt. Der Tractatus war bereits berühmt und einflussreich, und Wittgensteins Rückkehr nach Cambridge wurde als Wiederkunft angekündigt. So schrieb etwa der Ökonom John Maynard Keynes 213

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(1883–1981) in einem Brief an seine Frau, die Balletttänzerin Lydia Lopokowa (1892–1981): »Gott ist angekommen. Ich traf ihn im Fünf-Uhr-Fünfzehn-Zug« (Ray Monk Wittgenstein: Das Handwerk des Genies, S. 275). Damit begann die Laufbahn des späten Wittgenstein, in der dieser viele seiner früheren Anschauungen auf glänzende Weise umgestaltete und verbesserte. Das Hauptwerk dieses Zeitabschnitts sind die Philosophischen Untersuchungen, die 1953 postum erschienen. Wittgenstein veröffentlichte sehr wenig zu Lebzeiten, weil ihn die Weiterentwicklung seiner Ideen nicht losließ und er seine Texte wieder und wieder überarbeitete. Dies verdeutlicht ihre außergewöhnliche Präzision und Geschliffenheit und erklärt den Eindruck, dass jedes Wort geradezu dichterisches Gewicht hat. Andererseits aber brauchte Wittgenstein auch gar nicht zu veröffentlichen. Cambridge nämlich befand sich im Zentrum der philosophischen Welt, und er musste seine Manuskripte bloß unter den Kollegen kursieren lassen und erzielte auch so schon die größtmögliche Wirkung. Nachdem er 1939 zum Philosophieprofessor in Cambridge berufen worden war und die britische Staatsbürgerschaft erworben hatte, arbeitete Wittgenstein während des Zweiten Weltkriegs als Pfleger in einem Londoner Krankenhaus. 1947 gab er seinen Lehrstuhl auf, um sich ganz dem Schreiben zu widmen, häufig in stiller Zurückgezogenheit in Irland auf dem Lande. Die letzten beiden Jahre seines Lebens lebte er gemeinsam mit verschiedenen Freunden in London, New York, Oxford und Cambridge, diskutierte mit ihnen über Philosophie und schrieb weiter darüber bis zu seinem Tod, der ihn 1951 im Haus seines Arztes ereilte. Seine letzten Worte waren: »Sagen Sie ihnen, dass ich ein wundervolles Leben hatte« (Wittgenstein: Das Handwerk des Genies, S. 612). Wittgenstein gilt weithin als der wichtigste Philosoph des 20. Jahrhunderts. Sein luzides, durchdringendes und originelles Denken gibt der westlichen Philosophie zu großen Teilen weiter die Richtung vor. So sind Philosophie, Logik und Sprachwissenschaft heute in weiten Bereichen darauf gerichtet, den vielen 214

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Folgerungen aus Wittgensteins Ideen nachzugehen und sie geistig zu verarbeiten. Seine Genialität wirkt auch weiterhin stark in andere Wissenschaftsdisziplinen hinein, unter anderem in die Theologie, Soziologie, Psychologie, Kulturwissenschaften und Literaturtheorie. Wittgenstein eilt der überwiegend unverdiente Ruf voraus, kompliziert und dunkel zu sein. Was daran liegen könnte, dass er gern von anmaßenden Menschen zitiert wird, die ihn nicht wirklich verstehen, sich aber den Anschein von Intelligenz und Rätselhaftigkeit geben wollen. Dabei zeichnet sich Wittgensteins Werk, allemal der spätere Wittgenstein, durch ein Herangehen aus, das absolut nichts Abgehobenes hat und dezidiert darauf abzielt, die Philosophie von Dunkelheiten zu befreien und aus ihren Verirrungen herauszuführen. »Was ist dein Ziel in der Philosophie? – Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen« (Philosophische Untersuchungen, 309, S. 168). Wittgenstein will vor allen Dingen eines: den sprachphilosophischen Nachweis erbringen, dass es sich bei der großen Menge an Problemen und Positionen, aus denen sich die westliche Philosophie zusammensetzt, in der Hauptsache um falsche Abzweigungen, Irrwege und Sackgassen handelt, die von grundlegenden Verwirrungen bezüglich der Sprache und ihrem dadurch bedingten wiederholten Missbrauch herrühren. »Denn die philosophischen Probleme entstehen, wenn die Sprache feiert« (Philosophische Untersuchungen, 38, S. 38). Wittgenstein zufolge lassen sich Philosophen von der Sprache zu allerlei irreführenden Annahmen über die Wirklichkeit verleiten. Diese veranlassten sie in der Folge, hartnäckige philosophische Probleme zu sehen, wo es gar keine gebe. Dafür könne jedoch die Sprache nichts. Es sei vielmehr das Verschulden der Philosophen, die nicht richtig verstehen würden, was die Sprache sei und wie sie funktioniere. Wittgenstein sah seine philosophische Aufgabe im Beschildern jener Stellen der Sprache, wo die Gefahr bestehe, philosophisch in die Irre zu geraten, damit andere sie umgehen könnten. »Ich sollte also an allen Kreuzungen, wo es falsche Abzweige gibt, 215

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Wegweiser aufstellen, damit die Menschen an den gefährlichen Stellen vorbeikommen« (Culture and Value, S. 25). Die Praxis des Definierens bildet eine solche Gefahrenstelle. Seit der Zeit der alten Griechen sind Philosophen auf der Suche nach genauen Definitionen, mit denen sich die wesentlichen Eigenschaften der Dinge erfassen lassen. Aristoteles etwa suchte nach der Definition des »Menschen« und definierte ihn schließlich als »vernunftbegabtes Lebewesen«, weil es sich bei den Menschen um die einzigen Dinge auf der Welt handle, die sowohl Lebewesen seien als auch über Vernunft verfügen. Definitionen leisten sicher einen nützlichen Beitrag für unser Verständnis der Welt, ebenso gut aber können wir durch Definitionen, durch die Praxis des Definierens, durch die Art, wie wir Wörter verwenden, zu der Annahme verleitet werden, dass es eine wesentliche Eigenschaft geben müsse, die all den Dingen zukommt, für die eine spezielle Definition gilt. Platon beispielsweise sei von der Sprache zu der Annahme verleitet worden, die wesentlichen Eigenschaften der einzelnen Dinge müssten als vollkommene, universelle und metaphysische Formen existieren (siehe die Zitate 31 und 32, Platon). So sei etwa das Stuhlhafte die allen Stühlen gemeinsame Form, die aus ihnen Stühle mache. Es müsse beispielsweise auch die Form aller Spiele geben, die alle Spiele gemeinsam hätten. Wittgenstein kritisiert all solchen, wie er meint, sprachbedingten metaphysischen Unsinn und behauptet, dass es nichts gebe, das allen Spielen gemeinsam sei und notwendig zu ihnen gehöre. Zwar würden die Menschen dem unmittelbar widersprechen und darauf beharren wollen, dass alle Spiele etwas gemeinsam haben müssen, weil sie sonst nicht »Spiele« hießen. Daran aber könne man sehen, wie leicht wir uns von der Sprache verführen ließen, wie leicht wir versucht seien, einen falschen Abzweig zu nehmen. Wittgenstein schreibt: Betrachte z. B. einmal die Vorgänge, die wir »Spiele« nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiel, Kampfspiele usw. Was ist all diesen gemeinsam? – Sag nicht: »Es muss ihnen etwas 216

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gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ›Spiele‹« – sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. – Denn wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. Wie gesagt: denk nicht, sondern schau! (Philosophische Untersuchungen, 66, S. 56 f.)

Die Vorgänge, die wir »Spiele« nennen, würden nicht aufgrund irgendeines ihnen allen als gemeinsam erkannten Wesenskerns zu einer Gruppe zusammengefasst, sondern aufgrund von »Familienähnlichkeiten« (Philosophische Untersuchungen, S. 57). Was sich durch das ganze Spektrum der Dinge, die wir »Spiele« nennen, hindurchziehe, sei nicht etwas, das allen gemeinsam wäre, sondern das »lückenlose Übergreifen […] vieler Fasern« (Philosophische Untersuchungen, S. 58). Wenn wir versuchen, das Wort »Spiel« zu verstehen, sollten wir nicht darüber nachdenken, was es bedeutet, sondern vielmehr schauen, wie es verwendet wird. Wittgenstein zufolge verwenden wir das Wort »Spiel« ganz unterschiedlich und manche seiner Verwendungen hätten nichts mit Sport oder Zeitvertreib zu tun. Ihm zufolge benutzen wir das Wort in unterschiedlichen Sprachspielen, je nachdem, was wir tun wollen. Der Begriff des Sprachspiels ist von zentraler Bedeutung für Wittgensteins gesamte Sprachphilosophie. Seiner Auffassung nach gibt es nichts dergleichen wie Sprache mit einem einzigen gemeinsamen Regelwerk, es gebe bloß unterschiedliche Sprachspiele mit unterschiedlichen Konventionen, die von Menschen gespielt würden, die in unterschiedlichen Zusammenhängen unterschiedliche Tätigkeiten zu unterschiedlichen Zwecken ausführten. Französisch sei nicht etwa ein Sprachspiel und Englisch ein anderes, denn die gleichen Sprachspiele könnten in verschiedenen Nationalsprachen gespielt werden. Kennzeichnend für ein Sprachspiel sei der Zweck, dem es diene. Die ältesten und einfachsten Sprachspiele seien in der Regel jene, die zu den grundlegendsten menschlichen Tätigkeiten ge217

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hörten: Herstellen von Dingen, Kampf und Auseinandersetzung, Existenzsicherung, Handel. Andere Sprachspiele enthielten sehr viele Ausdrücke, Wendungen und Metaphern, die diesen Zusammenhängen entlehnt seien. Um sich die Mannigfaltigkeit der Sprachspiele vor Augen zu führen, gibt Wittgenstein u. a. die folgenden Beispiele: Befehlen und nach Befehlen handeln, Beschreiben eines Gegenstands nach dem Ansehen, Herstellen eines Gegenstands nach einer Beschreibung, Berichten eines Hergangs, über den Hergang Vermutungen anstellen, eine Hypothese aufstellen und prüfen, eine Geschichte erfinden, Theater spielen, Reigen singen usw. (Philosophische Untersuchungen, 23, S. 26). Wittgenstein vergleicht die Sprache bzw. die Sprachspiele, aus denen sie besteht, mit »einer alten Stadt« (Philosophische Untersuchungen, 18, S. 21), einem Gewirr von Gassen mit alten und neuen Häusern und solchen mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten. Umgeben sei sie von den gleichförmigeren Vororten mit geraden Straßen und einheitlichen Gebäuden, von Gegenden für eine Vielzahl spezieller Zwecke, die sich parallel zum Wandel der Gesellschaft und ihrer Gepflogenheiten verändern, wachsen oder aufgegeben werden. Sogar die Philosophie selbst ist Wittgenstein zufolge ein Sprachspiel. Sie sei ein sehr arrangiertes und künstliches Sprachspiel, das mit einer Menge von Ausdrücken gespielt werde, die anderen Sprachspielen entlehnt seien, die sich zu praktischen, alltäglichen, nichtphilosophischen Zwecken herausgebildet hätten – mit Ausdrücken, die außerhalb der alltäglichen Sprachspiele zum Teil keine Bedeutung, d. h. keine wirkliche Funktion haben würden. Der Auffassung des frühen Wittgenstein nach ist es ihre inhärente logische Form, die der Sprache Bedeutung gibt. Der Auffassung des späten Wittgenstein nach erhält die Sprache vielmehr durch die Lebensform Bedeutung. Eine Sprache verstehen heiße, verstehen, wie sie gebraucht werde. Es sei notwendig, die Tätigkeiten zu verstehen, zu denen sie gehöre, und die Zwecke, denen sie innerhalb der Lebensform, der Lebenspraxis, einer bestimmten Kultur diene. 218

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Wir könnten die Sprache einer von der unseren verschiedenen Kultur unmöglich auch nur im Ansatz verstehen, wenn wir nicht in der Lage wären, uns mit den wichtigsten Sprachspielen zu identifizieren, die in der anderen Kultur gespielt würden. Wittgenstein zufolge können wir die Sprachen anderer Kulturen nur in dem Maße richtig verstehen, in dem wir auf dem gemeinsamen Boden einer Lebensform stehen und universelle menschliche Gewohnheiten wie Essen, Schlafen, Träumen, Bauen miteinander teilen. »Wenn ein Löwe sprechen könnte«, so Wittgenstein, »wir könnten ihn nicht verstehen« (Philosophische Untersuchungen, xi, S. 568). Das heißt, selbst wenn er sprechen könnte, könnten wir uns niemals sinnvoll mit ihm austauschen, weil wir seine Lebensform nicht teilen, die zufälligerweise keinen verbalen Austausch verlangt. Wale kommunizieren fraglos auf komplexe Weise untereinander; die Schranke aber, vor der wir stehen, wenn wir auf der beinah elementarsten Stufe mit ihnen kommunizieren (sie füttern usw.), ist womöglich eine ebenso »kulturelle« wie sprachliche Schranke. Das Gleiche könnte durchaus auch für intelligente Außerirdische gelten, die allerdings, wenn es sich bei ihnen um Aliens handelt, die über die Technologie verfügen, um der Erde ein Zeichen zu senden und sie sogar zu besuchen, immerhin das Sprachspiel der Mathematik spielen müssten. Doch wenn man die Mathematik gemeinsam hat, teilt man dann schon eine Lebensform miteinander?

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Wittgenstein Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. (Ludwig Wittgenstein Tractatus logico-philosophicus, 7. Erstveröffentlichung 1922)

Es trifft sich gut, dass der einflussreichste Philosoph der jüngeren Zeit (siehe die Ausführungen zu Zitat 41) das letzte Wort in diesem Buch hat, zumal wenn es sich dabei um eine Äußerung zu den Grenzen des im philosophischen Diskurs sinnvoll Sagbaren handelt. Manche Leute sind der Meinung, in der Philosophie gehe es darum, unbeantwortbare Fragen zu stellen. Genauer gesagt aber geht es in ihr darum, zu verstehen, weshalb unbeantwortbare Fragen in der Tat Fragen sind, auf die es keine Antwort gibt, also weshalb »Ich weiß es nicht« oder im Idealfall Schweigen die einzig vernünftigen Antworten auf bestimmte philosophische Fragen sind. In der Philosophie geht es darum, die Grenzen der Erkenntnis weiter hinauszuschieben, allerdings entdeckt sie in diesem Hinausschieben auch, wo sich die Grenzen befinden und bis wohin die Erkenntnis reicht. Oder, wie Wittgenstein sagt, es geht in der Philosophie um die Frage, wo das, was sich sagen lässt – Wissen und Erkenntnis –, endet und wo das, was sich nicht sagen lässt, beginnt. Bei unserem Eingangszitat handelt es sich um die allerletzte Zeile von Wittgensteins großartigem Tractatus logico-philosophicus, dem einzigen Buch, das er zu Lebzeiten veröffentlichte, so sehr hatte er sich der Weiterentwicklung und Vervollkommnung seiner Ideen verschrieben. In diesem kurzen Buch, das weniger als 100 Seiten umfasst, einschließlich der von Bertrand Russell verfassten Einführung, verpflichtet sich Wittgenstein zur Lösung all der Probleme der Philosophie in nur sieben erweiterten Thesen. Das Buch ist so aufgebaut, dass auf eine Hauptthese eine Reihe von Unterthesen folgt, die sich erläuternd auf die Hauptthese beziehen und sie entwickeln. Auf These 1 beispielsweise folgen die Unterthesen 1.1, 1.11, 1.12 usw. Bei unserem Eingangszitat 220

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handelt es sich um Wittgensteins berühmte These 7: einen rätselhaften für sich stehenden Abschlusssatz, der nicht näher bestimmt ist durch Unterpunkte. Genau wie Hamlet an seinem Ende ist sich auch Wittgenstein sicher: »Der Rest ist Schweigen« (Hamlet, V, ii). Wittgensteins Ehrgeiz, sämtliche Probleme der Philosophie in ein paar Thesen zu lösen, rührt von seiner Auffassung her, dass es sich bei fast allem, worüber Philosophen durch die Jahrtausende hindurch gesprochen haben, um Dinge handelt, über die man eigentlich nicht sprechen kann, oder über die, wenn sich auch auf einer grammatischen Ebene über sie sprechen lässt, man nichts wirklich Sicheres, Sinnvolles, Vernünftiges oder Nützliches sagen könne. Die meisten philosophischen Theorien seien Versuche zur Beantwortung von Fragen, bei denen es sich eigentlich nicht um Fragen handle, da sie keinen eigentlichen Sinn hätten. Dass sie oberflächlichen, grammatischen Sinn haben, würde nur die Tatsache verschleiern, dass sie im logischen Sinne keinen Sinn haben. Ohne diesen aber könnten sie nicht sinnvoll gestellt, geschweige denn beantwortet werden. Die meisten Sätze und Fragen, welche über philosophische Dinge geschrieben worden sind, sind nicht falsch, sondern unsinnig. Wir können daher Fragen dieser Art überhaupt nicht beantworten, sondern nur ihre Unsinnigkeit feststellen. Die meisten Fragen und Sätze der Philosophen beruhen darauf, daß wir unsere Sprachlogik nicht verstehen. (Tractatus logico-philosophicus, 4.003)

Im Tractatus unternimmt Wittgenstein eine Bestimmung dessen, was Logik, Sprache und Philosophie ausmache, und entwirft ein Bild von dem Verhältnis, in dem sie zur Wirklichkeit stehen. Sein Ziel ist es, Logik und Sprache – die Mittel des Philosophierens – so darzulegen und nachvollziehbar zu machen, dass die Dauerprobleme der Philosophie verschwinden, doch nicht so sehr als gelöste, denn vielmehr als aufgelöste. Er will zeigen, inwiefern 221

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die meisten philosophischen Probleme – und sicherlich die meisten derjenigen, aus denen die Philosophiegeschichte besteht – aus Missverständnissen geboren seien, welche die Natur und die Grenzen von Logik und Sprache betreffen. Wie unter Zitat 41 gesehen, resultiert die Philosophie für Wittgenstein zum größten Teil aus dem Missbrauch der Sprache. Dieser Missbrauch ende, sobald die richtigen Grenzen – die auch die Grenzen unserer Fähigkeit seien, unsere Wirklichkeit bzw. unsere Welt philosophisch zu begreifen – erkannt würden. »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt« (Tractatus logico-philosophicus, 5.6). Auch wenn er dessen Positionen nicht völlig teilte und zumeist nur am Rande beteiligt war, hat Wittgenstein den logischen Positivismus des Wiener Kreises beeinflusst und wurde umgekehrt von ihm beeinflusst. Zwar lehnte er es ab, an ihren größeren Treffen teilzunehmen, doch mit ausgesuchten Mitgliedern des Kreises kam er hin und wieder zusammen, wobei er ihnen manchmal den Rücken zukehrte, um Gedichte vorzulesen. So bezeugte er ihnen seine Missachtung dafür, dass sie es versäumten, die mystischen Elemente seines Tractatus – dem sie große Bewunderung entgegenbrachten – angemessen zu würdigen. Der logische Positivismus wird im Zusammenhang mit den Ausführungen zu Ayer (Zitat 5) und Hume (Zitat 15) ausführlich dargestellt. Darum soll hier der Hinweis genügen, dass sowohl nach dem logisch-positivistischen Verifikationsprinzip als auch nach dessen Vorgänger, Humes Gabel, nur denjenigen Aussagen Sinn und Bedeutung zukomme, die sich als wahr oder als unwahr verifizieren lassen. Die einzigen Aussagen, auf die das zutreffe, seien einerseits logische oder analytische Aussagen vom Typ: »Ein Vater ist ein männliches Elternteil«, andererseits empirische oder synthetische Aussagen vom Typ: »Die Sonne ist rund«. Einfach gesagt haben wir Mittel, um entscheiden zu können, dass analytische oder synthetische Aussagen wahr oder unwahr sind, nämlich Logik und Wissenschaft. Dagegen haben wir nicht die Mittel, um entscheiden zu können, dass Aussagen irgendeines anderen Typs wahr oder unwahr sind, einschließlich der ästheti222

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schen, ethischen und vor allen Dingen der metaphysischen Aussagen, die seit der Zeit der alten Griechen den größten Teil der Philosophie ausmachen, und die Aussagen über die Existenz Gottes, ein Leben nach dem Tod usw. umfassen. Die Philosophie des späten Wittgenstein, die unter Zitat 41 dargelegt wird, stellt fraglos eine Abkehr vom Positivismus dar. Doch inwieweit der frühe Wittgenstein des Tractatus grob gesagt ein Positivist war, sogar ein Humeaner, macht eine Passage deutlich, die sich unmittelbar vor These 7 findet und aus der sehr schön hervorgeht, was Wittgenstein in seinem mystischen Finale wirklich sagt: Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen lässt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat –, und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, daß er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. Diese Methode wäre für den anderen unbefriedigend – er hätte nicht das Gefühl, daß wir ihn Philosophie lehrten – aber sie wäre die einzig streng richtige. (Tractatus logico-philosophicus, 6.53)

Eine Zeitlang glaubte Wittgenstein, all die Probleme der Philosophie mit seinem Tractatus sauber gelöst zu haben. Er wendete sich nach Fertigstellung des Buches von der Philosophie ab, um auf dem österreichischen Land Volksschullehrer zu werden, was seiner Meinung nach einen viel größeren praktischeren Nutzen hatte als die Philosophie. Obwohl er sich glänzend auf die Philosophie verstand und ihr die meiste Zeit seines Lebens widmete, vertrat er die Auffassung, dass fast alles einen viel größeren praktischen Nutzen und Wert habe als sie. Er riet seinen Philosophiestudenten sogar, die Universität zu verlassen und etwas Sinnvolleres mit ihrem Leben anzufangen – sehr zum Ärger von Bertrand Russell, der wusste, dass viele von ihnen große Opfer gebracht hatten, um es nach Cambridge zu schaffen. 223

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Zur Zeit seiner triumphalen Rückkehr nach Cambridge (1929) hatte Wittgenstein seine Ansichten über die Sprache zu ändern begonnen. Er gelangte zunehmend zu der Überzeugung, dass es nicht die logische Form ist, die der Sprache Bedeutung gibt, sondern vielmehr die Lebensform (siehe Zitat 41). Er vertrat gleichwohl auch weiterhin die Auffassung, dass die angeblichen philosophischen Probleme aus dem Missbrauch und der Zweckentfremdung der Sprache herrühren und sich einfach verflüchtigen, wenn die Philosophen sich nicht länger von ihr in die Irre führen lassen. Für manche von Wittgensteins Anhängern bedeutete seine Philosophie das Ende der westlichen Philosophie, ja sogar deren Tod: »Die Philosophie ist tot, lang lebe die Analyse der Sprache.« Doch, genau wie ihre Kollegen in Adams’ Per Anhalter durch die Galaxis, werden auch die westlichen Philosophen in den kommenden Jahrhunderten gut dotierte Stellen besetzen und mit Begeisterung darüber diskutieren, was sich aus Wittgensteins faszinierender Aussage für die Philosophie und die Philosophen ergibt. Wenn eines über die Zukunft der Philosophie sicher ist, dann, dass Philosophen nie etwas schweigend übergehen werden, worüber sie auch nur ansatzweise sprechen könnten.

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Bibliographie

Sartre, Jean-Paul, Tagebücher: November 1939 – März 1940, Reinbek bei Hamburg, 1984. Sartre, Jean-Paul, Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essays, Reinbek bei Hamburg, 1982. Sartre, Jean-Paul, Die Wörter. Autobiographische Schriften, Reinbek bei Hamburg, 1968. Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung, München, 1998. Shelley, Mary, Frankenstein oder der neue Prometheus, Frankfurt am Main, 1988. Thomas von Aquin Die Gottesbeweise in der »Summe gegen die Heiden« und der »Summe der Theologie«, Hamburg, 1982. Voltaire, François-Marie Arouet, Candide oder der Optimismus, München, 2005. Voltaire, François-Marie Arouet, »Epistel an den Verfasser des Buches von den drei Betrügern« in Briefwechsel. Voltaire–Friedrich der Große, München, 2004. Voltaire, François-Marie Arouet, Philosophische Briefe, Frankfurt am Main, 1992. Voltaire, François-Marie Arouet, Philosophisches Wörterbuch, Frankfurt am Main, 1985. Warnock, Mary, Dishonest to God: On Keeping Religion out of Politics, London und New York, 2011. Warnock, Mary, Ethics Since 1900, Edinburgh, 2007. Warnock, Mary, Existentialism, Oxford, 1992. Warnock, Mary, Existentialist Ethics, London, 1967. Warnock, Mary, Memory, London, 1989. Whitehead, Alfred North, Principia Mathematica, siehe Russell, Bertrand. Whitehead, Alfred North, Prozeß und Realität: Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt am Main, 1987. Whitehead, Alfred North, Wissenschaft und moderne Welt, Frankfurt am Main, 1988. Wittgenstein, Ludwig, Culture and Value, Oxford, 2004. Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main, 2003. Wittgenstein, Ludwig, Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914– 1916. Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1984.

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Über den Autor Gary Cox ist promovierter Philosoph an der Universität von Birmingham. Zahlreiche Publikationen zum Existentialismus, zu Sartre, zur Religionsphilosophie und anderen Fachgebieten. Bei THEISS erschien zuletzt „Wie werde ich Philosoph?“ Folgen Sie Gary Cox auf Twitter: @garycox01.

Über den Inhalt Anhand 42 der wichtigsten, provokantesten, falsch zitierten und falsch verstandenen Gedanken gibt Gary Cox einen kompakten Überblick über die Lehren der größten Denker und erläutert in leicht verständlicher und anregender Sprache, was mit den Zitaten eigentlich gemeint war. Von Aristoteles bis Wittgenstein, von Platon bis Hegel – Cox nimmt seine Leserinnen und Leser mit auf eine spannende und einzigartige Reise durch die Geschichte der Philosophie und zeigt, warum es nicht nur eine Antwort auf das Leben, das Universum und den ganzen Rest geben kann.