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German Pages 371 Year 1984
KARL· LUDWIG KUNZ
Das strafrechtliche Bagatellprinzip
Schriften zum Strafrecht
Band 57
Das strafrechtliche Bagatellprinzip Eine strafrechtsdogmatische und kriminalpolitische Untersuchung
Von
Prof. Dr. Karl- Ludwig Kunz
DUNCKER &
HUMBLOT
/
BERLIN
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität des Saarlandes gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kunz, Karl-Ludwig: Das strafrechtliche Bagatellprinzip: e. strafrechtsdogmat. u. kriminalpolit. Unters. / von Karl-Ludwig Kunz. Berlin: Duncker und Humblot, 1984. (Schriften zum Strafrecht; Bd. 57) ISBN 3-428-05675-2 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlln 41 Gedruckt 1984 bel Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlln 61 Prlnted In Germany
© 1984 Duncker
ISBN 3-428-05675-2
Vorwort Die Arbeit hat der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität des Saarlandes im Wintersemester 1982/83 als Habilitationsschrilt vorgelegen. Zur Drucklegung wurde neueres Schrifttum berücksichtigt, soweit dieses einen unmittelbaren Bezug zur ThemensteIlung aufweist. Auf eine grundlegende inhaltliche Überarbeitung wurde mit Bedacht verzichtet, wiewohl rückblickend vielerlei zu ergänzen und manches zu revidieren wäre. Änderungen der Sichtweise im Detail bei Kontinuität der Beurteilung im Grundsätzlichen geben bloß der Selbstverständlichkeit Ausdruck, daß die Bewältigung eines Themas mit dem Abschluß des Manuskripts nicht beendet ist. Die Auseinandersetzung mit einem pointiert vertretenen Standpunkt scheint mir - auch für meine persönliche Einsicht - wichtiger als die Bereitung eines "zweiten Aufgusses", der womöglich schal ausfiele. Eine Auflistung all derer, denen die Arbeit ihr Zustande kommen verdankt, ist nicht möglich. Stellvertretend für viele seien die Saarbrücker Strafrechtslehrer Heike Jung, Gerhard Kielwein und Heinz Müller-Dietz genannt. Otto Backes bin ich in einem Maße verpflichtet, das meine Ausdruckskraft übersteigt. Dank schulde ich vor allem meiner Familie, die nicht selten unter meiner "Problemgeladenheit" zu leiden hatte. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft schließlich hat durch großzügige Unterstützung eine Drucklegung ermöglicht. Saarbrücken / Bern, im Juli 1984 Karl-Ludwig Kunz
Inhaltsverzeichnis
Einführung
o.
Die Begrenzung des Strafremts durm das Bagatellprinzip als strafreclJ.tsimmanente Aufgabe ..........................................
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0.1 Die kriminalpolitische Diskussion um die Verwirklichung des Bagatellprinzips in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 32 0.2 Das Ungenügen der Alternative: "Bestrafung oder Sanktionslosigkeit" im Bagatellbereich ........................................ 38
1. Die Konzeption des EGStGB ............... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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1.1 Einwände gegen die geltende gesetzliche Regelung ..............
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1.2 Verfassungsmäßigkeit des geltenden Bagatellisierungsverfahrens 70 1.21 Verletzung der Unschuldsvermutung bzw. des Schuldprinzips durch die Einstellung wegen Geringfügigkeit? .............. 71 1.22 Verletzung der Unschuldsvermutung durch die auslagenmäßige Behandlung? ...................................... 76 1.23 Verfassungswidrige Verlagerung richterlicher Kompetenzen auf den Staatsanwalt? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 80 1.24 Verletzung des Bestimmtheitsgebots der Deliktsfolgenanordnung durch die Einstellung wegen Geringfügigkeit? ........ 89 1.25 Verfassungswidrige Vorbestimmung des richterlichen Aufgabenbereichs :durch den Staatsanwalt? ...................... 103
2. Gesetzestemnisme Möglichkeiten der Sonderbehandlung von Bagatelldelikten ............................... _. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 116
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Inhaltsverzeichnis
3. Das Bagatellunrecht als Interpretationsgrundlage und Maßprinzip für die Sonderbehandlung von Bagatelldelikten ........................ 124 3.1 Herleitung des Bagatellunrechts aus der Divergenz zwischen formellem und materiellem Straftatbegriff ........................ 125
3.2 Der materielle Unrechtsbegriff des Strafrechts in der Lehre vom Rechtsgut ...................................................... 136 3.3 Der materielle Unrechtsbegriff des Strafrechts in der Lehre vom Ordnungsunrecht .............................................. 148
3.4 Die mangelnde Strafwürdigkeit des Ordnungsunrechts .......... 156 3.41 Identität der Anwendungsbereiche von Bagatellunrecht und Ordnungsunrecht? ........ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 156
3.42 Zurückstufung von Bagatelldelikten in Ordnungswidrigkeiten? ...................................................... 166 3.43 Zivilrechtliche Sanktionsverfahren für Bagatelldelikte? .... 174 3.5 Die mangelnde Strafbedürftigkeit des Bagatellunrechts .......... 187
4. Kriterien mangelnder Strafbedürftigkeit wegen Geringfügigkeit im Rahmen der Bildung des Rechtswidrigkeitsurteils und der Rechtsfolgenentscheidung .................................................... 194 4.1 Die Bedeutung der Schuld für die Bestimmung von Bagatelldelikten ............................................................ 194
4.2 Bagatelldelikte in den Funktionszusammenhängen des Straftatsystems und der Strafzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 198
5. Die Geringfügigkeitsbestimmung nacll Unrechtsgesichtspunkten ...... 202 5.1 Negative Eingrenzung der Vergleichsbasis: bagatellfreie Tatbestände ........................................................ 206 5.2 Der Vergleichsmaßstab: die typische Verwirklichung des Unrechtsgehalts von Deliktstatbeständen ................................ 211
Inhaltsverzeichnis
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5.21 Die wirtschaftliche Geringwertigkeit des deliktischen Objekts bzw. Schadens bei den Eigentums- und Vermögensdelikten .. 215 5.22 Die Geringfügigkeitsbestimmung zahlenmäßig nicht graduierbarer Merkmale ...................................... 229 6. Die Geringfügigkeitsbestimmung nach Zumessungsgesichtspunkten .. 250 6.1 Die strukturelle Identität von Bagatellisierungsgründen und Strafzumessungsgründen ............................................ 252 6.2 Das Verbot einer "doppelten Buchführung" in der Geringfügigkeitsbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 264 6.3 Bewertungsgesichtspunkte der Bagatellbestimmung . . . . . . . . . . . . .. 266 6.31 Der Verschuldensmaßstab .................................. 266 6.32 Der Präventionsmaßstab .................................. 277 6.33 Die Schutzbedürftigkeit des Verletzten .................... 285 6.4 Unwägbarkeiten beim Nachweis der Geringfügigkeit im Einzelfall 295 6.41 Die beschränkte Kategorisierbarkeit entlastender Umstände 265 6.42 Die beschränkte Rekonstruierbarkeit des Geringfügigkeitsurteils .................................................... 249 7. Zusammenfassende Thesen zur strafrechtsdogmatischen Realisierung des Bagatellprinzips ................................................ 308
8. Der rechtspolitische Reformvorschlag ......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 319 8.1 Die Unzulänglichkeit einer modifizierten prozessualen Bagatellbestimmung ...................................................... 322 8.2 Die materiellrechtliche allgemeine Bagatellbestimmung und ihre Anwendung in einem vereinfachten einzelrichterlichen Verfahren 336 Literaturverzeichnis
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 347
Einführung Das Bagatellproblem zum Gegenstand strafrechtsdogmatischer Betrachtung zu machen, ist nicht unmittelbar einsichtig. Der Begriff der Bagatelle legt die Annahme nahe, daß eine Thematisierung nicht lohnt, weil es sich eben um eine Belanglosigkeit handelt. Die Brisanz des Bagatellproblems für das Strafrecht rührt denn auch daher, daß es Bagatellen im Strafrecht eigentlich nicht geben dürfte: die These, das Strafrecht dürfe sich nicht mit Lappalien befassen, ist ein fundamentaler Programmsatz der Strafrechtslehre, welcher - ins Positive gewendet - die Selbstbeschränkung des Strafrechts auf strafwürdige Vorgänge fordert. Dieser Programmsatz ist trotz der einschneidenden Strafrechtsreformen der jüngeren Vergangenheit nicht einmal annähernd eingelöst. Die Reformpolitik zentrierte ihre Anstrengungen auf eine Anpassung des Strafrechts an den sich abzeichnenden Wandel der sozialen Wertanschauung, die ganze Deliktsbereiche als "antiquiert" empfand, und leitete daraus die Berechtigung zur Rücknahme der Strafzone etwa bei Staatsschutzdelikten, Sexualstraftaten und Straftaten gegen die Familie her. Während auf diese Neuorientierung der strafrechtlichen Rechtsgüterpolitik viel Scharfsinn verwendet wurde, blieb die Frage der Einschränkung des Strafschutzes bei unbedeutender Verletzung im Grundsatz als schutzwürdig anerkannter Güter in der Reformdiskussion ausgespart; aus der Einsicht, daß das Strafrecht sich nicht nur auf rechtsgutsbeeinträchtigendes Verhalten beziehen muß, sondern daß darüber hinaus sein Einsatz nur dort am Platz ist, wo der Rechtsgüterschutz zwingend eine Bestrafung verlangt, sind bei der Gesetzgebungsreform keine Konsequenzen gezogen worden. Dabei ist die Befreiung des Strafrechts von Belanglosigkeiten - zumindest was die Zahl der Fälle angeht - weit dringlicher als seine Durchforstung nach antiquierten Bestimmungen. Die Massenhaftigkeit strafrechtlicher Bagatellverstöße steht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Einschätzung nach Schweregesichtspunkten. Leichtere Strafrechtsverstöße, die man mit dem Schlagwort "Bagatellkriminalität" zu umreißen pflegt, haben ein Ausmaß erreicht, das die Kapazitäten der Strafjustiz über das Maß des Erträglichen belastet. Das auf den typischen Fall schwerwiegender Kriminalität zugeschnittene Strafverfahren
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Einführung
ist für Massendelikte zu schwerfällig und zu aufwendig; Staatsanwaltschaften und Strafgerichte leiden unter einer chronischen "BagatellfallVerstopfung"t, die ihnen die Kraft nimmt für die Bekämpfung gravierender sozialschädlicher Verhaltensweisen, und die damit die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege gefährdet. Da ungeachtet der Anstrengungen der Strafrechtsinstanzen eine Zurückdrängung der Bagatellkriminalität nicht in Sicht ist, erheben sich prinzipielle Bedenken gegen die Eignung des Strafrechts als Kontrollinstrument dieses Kriminalitätsbereichs. Während auf eine strafrechtliche Ahndung gravierender Delikte schwerlich verzichtet werden kann und sich dort bloß die Frage stellt, wie die unzweifelhaft vorhandene Strafberechtigung zu begründen ist, steht bei leichteren Delikten schon das Ob des Einsatzes von Strafrecht zur Disposition. Mangels unbedingter Strafbedürftigkeit ist das Strafrecht hier nicht das einzige in Betracht kommende Reaktionssystem, sondern eines unter mehreren Systemen sozialer Kontrolle, die allesamt auf die Eindämmung abweichenden Verhaltens abzielen und die insofern funktional äquivalent und austauschbar sind!. Wegen seiner größeren Eingriffsintensität hat das Strafrecht zurückzutreten, wenn weniger einschneidende Maßnahmen sich gleichermaßen als präventiv geeignet erweisen. Die normative Begründung der Strafberechtigung läßt sich bei leichteren Delikten deshalb nicht rein strafrechtsimmanent aus wiederum normativen Prämissen herleiten, sondern bedarf der vergleichenden Beurteilung strafrechtlicher und alternativer sozialer Kontrollmechanismen unter dem Gesichtspunkt der faktischen Eignung zur Eindämmung abweichenden Verhaltens und zur Stabilisierung des Rechtsvertrauens der Bevölkerung. Weil die Mobilisierung des Strafrechts gegen kleinere Rechtsbrüche unter dem Vorbehalt des empirischen Nachweises seiner präventiven Eignung steht, bedroht die Massenhaftigkeit kleinerer Delikte die empirische Basis der Straflegitimation3 • Soweit die Durchbrechung bei Strafe verbotener Verhaltensregeln faktisch zur Regel wird, wird die kleinere Alltagskriminalität zur Alltäglichkeit und erscheint in der sozialen Anschauung nicht mehr als abweichend; weil der Strafrechtsnorm dann keine entsprechende soziale Verbotsnorm (mehr) korrespondiert, gewinnt die Forderung nach Aufhebung der Strafrechtsnorm an PlausibiIität4 • 1 So der Hamburger OLG-Präsident Stiebeller nach: Die Zeit Nr.15/1981 vom 3.4. 1981, S.2. Ähnlich für die Polizei der BKA-Präsident Boge laut F AZ vom 12. 11. 1981. 2 VgI. dazu etwa Kaiser, Kriminologie, S.6. 3 Zur generalpräventiven Wirksamkeit als Legitimationsbasis des Strafrechts Neumann/Schroth, Neuere Theorien, S. 2; Volk, Wahrheit, S.I1. 4 Neumann/Schroth, Neuere Theorien, S.45.
Einführung
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Wie weit das Strafrecht sich in den Bereich abweichenden Verhaltens erstrecken darf und soll, läßt sich freilich auch dann nicht nach rein empirischen Kriterien entscheiden, wenn man an dem empirischen Erfordernis präventiver Wirksamkeit des Strafrechts festhält. Nur in der unteren Strafbarkeitszone der leichteren Delikte kommt bei gleicher präventiver Eignung eine Ersetzung des Strafrechts durch alternative Kontrollsysteme in Betracht; bei gravierenden Delikten mit massiver Bedrohungsintensität ist eine Befriedigung des unbedingten gesellschaftlichen Strafverlangens womöglich selbst dort unumgänglich, wo allein unter präventiven Gesichtspunkten eine Bestrafung nicht erforderlich wäre 5 • Die Vorfrage, wann die Schwelle zu gravierender, nach Strafe verlangender Delinquenz erreicht oder überschritten ist, läßt sich nicht empirisch-destriktiv beantworten, sondern erfordert eine normative, an kriminalpolitischen Bedürfnissen ausgerichtete Wertentscheidung. Die kriminalpolitische Festlegung des Bagatellbereichs, in dem eine Rücknahme des Strafschutzes zugunsten alternativer Mechanismen sozialer Kontrolle in Betracht kommt, kann sich nicht explizit auf die in der Massenhaftigkeit der übertretungen zutage tretende faktische Geringschätzung von Strafnomen berufen, weil faktisch weithin üblich gewordene Verhaltensweisen keineswegs normativ duldenswert oder gar anerkennungswürdig sein müssen. Faktischen Normdurchbrechungen kann auch durch Bestärkung kontrafaktischer Verhaltenserwartungen begegnet werden, indem die Präventivwirkung durch Verschärfung strafrechtlicher Repression erhöht wird. Der Satz, das Strafrecht dürfe sich nicht auf Bagatellen erstrecken, kann kriminalpolitisch zu diametral entgegengesetzten Anstrengungen Anlaß geben: Zur Auslagerung von Bagatellen aus dem Strafbarkeitsbereich oder zur Aufwertung vermeintlicher Bagatellen zu echtem Kriminalunrecht. Spätestens hier wird einsichtig, daß es sich beim strafrechtlichen Bagatellbegriff um einen normativen Begriff der kriminalpolitischen Folgendiskussion handelt, der den empirischen Befund der Geringschätzung von Strafrechtsnormen durch massenhafte übertretungen zum Anlaß nimmt, nach strafrechtsdogmatischen Lösungen auf Rechtsetzungs- und Rechtsanwendungsebene zu suchen. Die interdisziplinäre Verbindung kriminalsoziologischer, kriminalpolitischer und strafrechtsdogmatischer Bemühungen unter dem leitenden Interesse der Befreiung des Strafrechts von Bagatellen ist eine strafrechtssystematische Aufgabe, deren Bewältigung noch aussteht. Die vorliegende Arbeit nimmt sich dieser Aufgabe an. Sie sucht die Forderung nach Selbstbeschränkung des Strafrechts an einem einheit6 Wie zu zeigen sein wird, muß das Strafrecht auch einem irrationalen gesellschaftlichen Strafverlangen Rechnung tragen; vgI. dazu vorab Hassemer, Theorie, S. 242 ff.
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lichen, für Gesetzgebung und Gesetzesanwendung gleichermaßen verbindlichen Bagatellprinzip festzumachen und geht der Frage nach, in welchen Deliktsbereichen und auf welche Weise diesem Prinzip Rechnung zu tragen ist. Mit dieser strafrechtssystematischen Aufarbeitung des Bagatellprinzips meldet die Arbeit ein Patent an. Bislang wurde die Bagatelldiskussion nahezu ausnahmslos unter kriminalpolitischen und justizökonomischen Vorzeichen geführt5a • Die kriminalpolitische Debatte zentriert sich auf die Entkriminalisierung des Begatelldiebstahls namentlich in Selbstbedienungskaufhäusern, ohne den Geringfügigkeitsaspekt als Regulativ für die Begrenzung des Strafrechts insgesamt zur Kenntnis zu nehmen. Justizökonomische Erörterungen kranken an der Leerformelhaftigkeit eines gleichermaßen unreflektiert verwandten Bagatellbegriffs, der durch die propagierte Notwendigkeit zu unkomplizierter Behandlung bzw. abgeschwächter Reaktion keine inhaltlichen Konturen gewinnt. Mangels strafrechtsdogmatischer Kriterien dafür, welche Delikte wann und auf welche Weise bagatellisierungswürdig sind, bleiben die Voraussetzungen und die Arten bagatell arischer Behandlung ungewiß5b. Immerhin existiert zumindest ansatzweise ein Problembewußtsein dahingehend, daß die Rechtfertigung einer - wie immer zu spezifizierenden - milderen und summarischen Behandlung in dem gegenüber strafbedürftigen Taten verminderten deliktischen Gehalt der Bagatelltat zu suchen ist5c ; dementsprechend wollen wir - im Sinne einer vorläufigen Begriffsbestimmung - Bagatelldelikte als solche vom Strafgesetz erfaßten Verhaltensweisen verstehen, die wegen ihres geringen deliktischen Gehalts typischerweise keine kriminalrechtliche Sanktion oder jedenfalls keine Bestrafung verdienen und deshalb einen gegenüber strafbedürftigen Delikten verminderten Aufklärungsaufwand rechtfertigen. Was die Eigentümlichkeit von Bagatelldelikten inhaltlich ausmacht, ist mit einer derartigen definitorischen Vorgabe noch nicht entschieden. Offen bleibt namentlich, welche Kriterien bei der Geringfügigkeitsbestimmung heranzuziehen sind, in welcher graduellen Intensität diese Kriterien einzeln oder in Verbindung miteinander erfüllt sein müssen, damit die Schwelle zur Strafbedürftigkeit unterschritten wird, sowie ob 5a So auch Müller-Dietz, Das Bagatellprinzip, S. 519, der am Beispiel der österreichischen Bagatellisierungsregelung die Notwendigkeit einer dogmatischen Fundierung belegt. Sb Exemplarisch Driendl, Wege, S. 1021: "Diejenigen Delikte werden als Bagatelldelikte definiert, die in verfahrensrechtlicher Sicht bagatellmäßig behandelt werden und auf die bagatellartig reagiert wird." Vgl. auch Kaiser, Möglichkeiten, S. 899. 5C Vgl. etwa Hirsch, Zur Behandlung, S.218; Müller-Dietz, Das Bagatellprinzip, S. 30.
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und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen welche rechtsförmlichen Reaktionen auf nicht strafbedürftige Deliktsverwirklichungen angezeigt sind. Das Rüstzeug zur Beantwortung dieser Fragen liefert primär, wenngleich nicht ausschließlich, die allgemeine Verbrechenslehre des materiellen Strafrechts. Die Entwicklung des Bagatellgedankens aus übergreifenden dogmatischen Kategorien, die diesen Gedanken erst zu einem methodisch konsistenten Prinzip verdichten, bedeutet keine Abschottung gegenüber kriminologischen Befunden und kriminalpolitischer FolgenorientierunglSd • Die Begrenzung des Strafrechts nach Maßgabe inhaltlicher Kriterien zum Ausschluß strafunwürdiger Vorgänge erfordert vielmehr einen Bruckenschlag zwischen dogmatischen Ableitungszusammenhängen und den jeweiligen gesellschaftlichen Bedürfnissen und Interessen. Bereits ein summarischer überblick zeigt, wie differenziert und komplex die Gesichtspunkte sind, die in das Geringfügigkeitsprinzip einfließen. Die Fäden, die im strafrechtlichen Bagatellprinzip netzartig verknüpft sind, laufen aus allen Sparten der Gesamten Strafrechtswissenschaft zusammen. So ist etwa von der empirischen Kriminologie und Kriminalsoziologie Aufschluß über die Erscheinungsformen der Bagatellkriminalität und das tatsächliche Reaktionsverhalten auf diese zu gewinnen. Die Rechtsvergleichung schärft das Bewußtsein für die Unterschiedlichkeit, ja Gegensätzlichkeit möglicher gesetzestechnischer Ausgestaltung der Reaktion auf Bagatellkriminalität und ihre Abhängigkeit von jeweiligen kulturhistorischen und rechtssystematischen Kontexten. Die Einbindung des strafrechtlichen Reaktionsverhaltens in die gerade im Bagatellbereich unumgängliche konzertierte Aktion vielfältiger rechtlicher und sozialer Kontrollmechanismen ist ein Anliegen der Kriminalpolitik; desgleichen die Befreiung des Strafrechts von Bagatellen zur Bewirkung einer kapazitätsnotwendigen Entlastung der Strafjustiz und zur Ermöglichung einer kriminalpädagogisch und sozialtherapeutisch wirksamen Verbrechenskontrolle. Der Sparte der Gesetzgebungslehre entstammen die Fragen der Möglichkeit einer begrifflich-abstrakten Abgrenzung geringfügiger und erheblicher Taten sowie der Zulässigkeit der Verlagerung der generellen - und daher an sich legislatorisch gebotenen - Bestimmung geringfügiger Delikte auf die einzelfallbezogene Ebene der Rechtsanwendung. Prozeßrechtlich verdienen das Opportunitätsprinzip und die Verhältnismäßigkeit des Ermittlungs- und Verfahrens aufwands Beachtung. Aus dem Problembereich des materiellen Rechts sind der materielle Straftat- und Un5d Ein Rückzug des Strafrechts auf einen rein dogmatischen Orientierungsrahmen ist gerade im Hinblick auf die im Bagatellprinzip angesprochene Beschränkung auf strafwürdige Vorgänge von vornherein ausgeschlossen, vgl. Hassemer, Einführung, S. 22 ff.
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rechtsbegriff, die Rechtsguts- und Sozialschadenslehre, die Lehre von der Sozialadäquanz sowie die Lehre vom Ordnungsunrecht erkenntnisleitend. Die Leitlinien der sachgerechten Bagatellisierung im Einzelfall schließlich spiegeln sich in den allgemeinen Strafbemessungsgrundsätzen der Strafzumessungslehre. All diese Gesichtspunkte zu einer Synthese zu bringen, fällt um so schwerer, als das strafrechtliche Bagatellprinzip bislang nur unter je partikularen Aspekten, nicht aber in seiner vollen Bandbreite angegangen wurde. Die verdienstvolle strafrechtsdogmatische Studie von Krümpelmann' hat als einzige das Bagatellprinzip im Strafrecht methodisch verankert; ungeachtet dessen, daß sie bereits im Jahre 1966 erschienen ist und deshalb neuere Bagatellisierungsstrategien wie die sanktionierende, durch die Erfüllung von Auflagen und Weisungen bedingte Bagatellisierung nicht berücksichtigt, ist sie nach wie vor wegweisend. Die methodische Argumentation vorliegender Arbeit wird sich eingehend - und meist kritisch - mit der Position Krümpel manns auseinandersetzen. Zentraler Einwand gegen Krümpelmann wird sein, daß er die Eigentümlichkeit der Bagatelldelikte ausschließlich aus dem Funktionszusammenhang des Straftatsystems herleitet und damit die weit häufigere und praktisch bedeutsamere Bagatellisierung im Funktionszusammenhang. von Zumessungserwägungen zu einer Angelegenheit des Beliebens macht. Ausgangsbasis und Bezugspunkt der Argumentation sind die 1975 neu gefaßten Einstellungsvorschriften wegen Geringfügigkeit, die auf ihre verfassungsrechtliche Zulässigkeit und kriminalpolitische Angemessenheit zu befragen sind. Die Verfassungsmäßigkeit des geltenden Bagatellisierungsverfahrens wird insbesondere unter BerüCksichtigung der neueren, gleichermaßen scharfsinnigen. wie dezidiert kritischen Thesen von Kausch7 zu prüfen sein; die Arbeit wird gegen Kausch für die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit der geltenden prozessualen Einstellungsermächtigung wegen Geringfügigkeit votieren. Die vielseits vorgebrachten kriminalpolitischen Einwände gegen die prozessuale Einstellungslösung des geltenden Rechts im Allgemeinen und gegen die staatsanwaltliche Ahndungsbefugnis von Bagatelldelinquenz im Besonderen macht sich die Arbeit weitgehend zu eigen. Was hingegen die scheinbar auf der Hand liegenden Alternativlösungen anbetrifft, ist Zurückhaltung und Skepsis am Platz. Baumann8 etwa schlägt vor, materiellrechtliche Sondertatbestände für Bagatelldelikte zu schaffen, die aus dem Strafrecht ausgelagert und zu Ordnungswidrigkeiten zu, Krümpelmann, Die Bagatelldelikte. Kausch, Der Staatsanwalt. 8 Vgl. vorerst nur Baumann, Strafrecht AT, § 4 1.2. a). 7
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rückgestuft werden. Die vom Alternativkreis vorgelegten Gesetzentwürfe zum Ladendiebstahl und zur Betriebsjustiz' sehen in diesen Kriminalitätsbereichen ein zivilrechtliches Sanktionsverfahren vor. Rössner1n plädiert beim Bagatelldiebstahl für einen innerstrafrechtlichen, als "Verfehlung" zu qualifizierenden Sondertatbestand mit anderen Rechtsfolgen als die der Kriminalstrafe, dem ein summarisches Verfahren vor einem eigenständigen staatlichen Bagatellgericht entsprechen soll. Hirsch ll fordert für den Gesamtbereich des nicht kriminalstrafbedürftigen Unrechts die Einführung einer dritten Deliktskategorie der "Verfehlung", deren Anwendungsbereich vom Gesetz nicht durch deliktspezifische Sondertatbestände, sondern durch einen in § 12 StGB aufzunehmenden allgemeinen, in der richterlichen Einzelfallentscheidung zu konkretisierenden Schlüssel abgesteckt werden soll. Naucke 12 propagiert die übernahme der Bagatellrechtsfolgen der §§ 153, 153 a StPO in die allgemeine Rechtsfolgenregelung des materiellen Rechts und die Erarbeitung eines Katalogs deliktspezifischer Bagatelltatbestände bei gleichzeitiger Einführung eines darauf zugeschnittenen vereinfachten mündlichen Strafbescheidverfahrens. Zipj1a schlägt unter grundsätzlicher Beibehaltung der prozessualen Einstellungslösung des geltenden Rechts eine Präzisierung und Ausgestaltung der Einstellungsgründe zu echten, voll justiziablen Verfahrensvoraussetzungen vor. Ein vorläufiges Fazit ergibt, daß alles außer einer bedingungslosen Bestrafung und einer unbedingt folgenlosen Hinnahme bagatellarischer Rechtsbrüche in der Diskussion ist. Die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der hier nicht einmal erschöpfend skizzierten Regelungsvorschläge14 macht deren Beurteilung unsicher. Im Vordergrund der Bemühung um eine sachgerechte gesetzliche Verankerung des strafrechtlichen Bagatellprinzips muß die kriminalpolitische und - noch akzentuierter - die juristisch-dogmatische Argumentation stehen. Wie in der Folge deutlich werden wird, kann der kriminalpolitische Diskurs um die Angemessenheit und Praktikabilität konkreter Regelungsvorschläge im Bagatellbereich nur fundiert geführt werden, wenn man sich der strafrechtsdogmatischen Prämissen und Konsequenzen der zur Debatte stehenden Regelungsalternativen vergewissert. Ein wohldurchdachtes kriminalpolitisches Konzept zur Reaktion auf Bagatelldelinquenz setzt als Grundlegung eine strafrechtliche Dogmatik des Bagatelldelikts voraus. 9 Arzt u. a., Entwurf eines Gesetzes gegen Ladendiebstahl; Arzt u. a., Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Betriebsjustiz. In Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 214 f., 225. 11 Hirsch, Zur Behandlung, S. 247. 12 Naucke, Gutachten, D 112 ff. 13 Zipf, Kriminalpolitische überlegungen, S. 500 ff. 14 Auf andere Regelungsmöglichkeiten wird später einzugehen sein.
2 Kunz
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Erst die Ausarbeitung des Bagatelldelikts als einer selbständigen strafrechtsdogmatischen Kategorie im Rahmen der allgemeinen Straftatund Straffolgenlehre und die Einbindung des diese Deliktskategorie regierenden Bagatellprinzips in das Gefüge anerkannter strafrechtsdogmatischer Grundsätze verleiht dem kriminalpolitischen Diskurs die notwendige begriffliche Präzision und systematische Stimmigkeit, die erforderlich ist, um die Bandbreite mehr oder weniger einleuchtender und "intuitiv" zu favorisierender Regelungsvorschläge nach rationalen Kriterien einzugrenzen. Um die zu Gebote stehenden Regelungsmöglichkeiten umfassend in den Blick zu nehmen, ist am Beispiel in- und ausländischer Reaktionsmodelle die Variationsbreite gesetzestechnischer Ausgestaltung der Sonderbehandlung von Bagatelldelinquenz zu ermitteln. In der Folge kann dann der gesetzgeberische Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum im Bagatellbereich nach strafrechtssystematischen Gesichtspunkten der allgemeinen Straftat- und Strafzumessungslehren eingeengt werden. Dabei ist zwischen der mangelnden Strafbedürftigkeit wegen Geringfügigkeit auf der Tatbestandsebene der Unrechtsbetrachtung und auf der Rechtsfolgenebene der Zumessungsentscheidung zu differenzieren. Auf der Tatbestandsebene läßt sich die Eigentümlichkeit des Bagatellunrechts aus der Divergenz zwischen formellem und materiellem Straftatbegriff herleiten und gegenüber dem Ordnungsunrecht abgrenzen; der Beleg des strukturellen Unterschiedes zwischen Bagatellunrecht und Ordnungsunrecht wird es erlauben, Möglichkeiten und Grenzen der Ersetzung strafrechtlicher durch ordnungs rechtliche bzw. zivilrechtliche Sanktionsverfahren aufzuzeigen. Dabei wird der Nachweis geführt, daß eine tatbestandliche Auslagerung von Bagatelldelikten aus dem Strafrecht und ihre überführung in das Ordnungswidrigkeitenrecht bzw. das Zivilrecht der sozialen Integrationsfunktion des Rechts zuwiderläuft und einer Befriedung des durch die Tat gestörten zwischenmenschlichen Verhältnisses abträglich ist. Eine gesetzliche Abschichtung von Bagatelldelikten durch Einführung deliktspezifischer Sondertatbestände ist im übrigen auch innerstrafrechtlich nur bei Deliktstatbeständen mit zahlenmäßig graduierbaren Merkmalen wie dem wirtschaftlichen Wert des mit einem Eigentums- oder Vermögensdelikt erstrebten deliktischen Erfolges möglich; aber auch innerhalb der strafrechtlichen Verbots materie empfiehlt sich die sondertatbestandliche Privilegierung geringwertiger Begehungsformen schon deshalb nicht, weil eine zahlenmäßig eindeutige Fixierung der Schwelle zum erheblichen Unrecht die prinzipielle Unschärfe der Geringfügigkeitsbestimmung nicht zum Ausdruck bringt, die Rechtsanwendung eine gesetzlich vorgegebene Wertgrenze darum flexibel auslegen müßte und somit das mit der sonder-
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tatbestandlichen Privilegierung erstrebte Anliegen einer allgemein vorhersehbaren exakten Ausgrenzung geringfügigen Unrechts preisgegeben würde. Nicht die Inhalte von Bagatellunrecht, nur die Kriterien seiner Gewinnung sind generell angebbar und gesetzlich fixierbar: welches strafrechtswidrige Verhalten Bagatellunrecht beinhaltet, zeigt sich erst bei der einzelfallbezogenen Auslegung der Rechtswidrigkeitsmerkmale und ist vorher nicht gewußt; die Annahme von Bagatellunrecht stellt sich als Grenzfall der Bejahung der Strafrechtswidrigkeit im Rahmen der typologischen, auf gesellschaftliche Werterfahrungen zurückgreifenden Rechtswidrigkeitsprüfung dar. Darin offenbart sich die Nähe der Lehre vom Bagatellunrecht zu derjenigen von der sozialen Adäquanz: wie die methodische Funktion der Sozialadäquanz darin besteht, bei der Auslegung unrechtsbegründender Merkmale das formal dem Wortlaut eines Unrechtstatbestandes zuzuordnende verkehrskonforme Verhalten als nicht strafrechtswidrig auszuweisen, besteht die methodische Funktion des Bagatellunrechts darin, das formal den Rechtswidrigkeitsmerkmalen eines Deliktstatbestandes unterfallende verkehrsunerhebliche Verhalten als nicht strafbedürftig auszuweisen. Auf der Zumessungsebene rechtfertigt sich eine bagatell arische Behandlung daraus, daß allgemeine Zumessungsgesichtspunkte eine einzelfallgerechte Rechtsfolgenbemessung innerhalb des Strafrahmens nicht gestatten, weil schon das Mindestmaß der angedrohten Strafe sich im Einzelfall als übermaß darstellt. Wann dies der Fall ist, entzieht sich der inhaltlichen Vorbestimmung; wie im Unrechtszusammenhang können auch im Zumessungszusammenhang nicht die geringfügigen Fälle, sondern nur die Komponenten der Geringfügigkeitsbeurteilung im Vorhinein festgelegt und durch begrifflich-abstrakte Gesetzesmerkmale umschrieben werden. Die Einführung selbständiger Bagatelltatbestände scheitert keineswegs bloß an der - nur bei zahlenmäßig graduierbaren Merkmalen überwindbaren - Schwierigkeit einer begrifflich-abstrakten Umschreibung geringfügiger Fälle, sondern an der Unmöglichkeit, überhaupt bestimmte Fälle unabhängig von dem notwendig einzelfall bezogenen Bewertungsakt als bagatellisierungswürdig auszuweisen. Es verhält sich nicht so, daß geringfügige Fälle an sich existieren und lediglich in der vom Gesetz nicht vollständig determinierbaren Einzelfallentscheidung als solche erkannt werden können; es gibt schlechterdings keine Fälle, denen per se das Gütezeichen der Bagatellisierungswürdigkeit anhaftet. Bagatelldelikte sind prinzipiell unselbständigl5 , das heißt sie besitzen keine apriorisch vorhandene Besonderheit, die sich in materiellen 15 Zu der analytischen Unterscheidung unselbständiger und selbständiger Bagatelldelikte vgl. vorab Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S.37.
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außer- oder innerstrafrechtlichen - Sondertatbeständen einfangen ließe; nicht wesensmäßig, sondern wertungsmäßig besteht ein Unterschied zu strafbedürftigen Kriminaldelikten. Ein strafrechtswidriges Verhalten ist nicht im Rechtssinne geringfügig, es wird es erst, wenn ihm dieses Attribut rechtsverbindlich zugeschrieben wird. Weil die Zuschreibung auf einer rechtsschöpferischen, letztlich eigenverantwortlichen Einzelfallbewertung beruht, lassen sich nur die Regeln der Zuschreibung, nicht aber deren Inhalte durch das Gesetz fixieren. Die rechtsschöpferische Einzelfallbewertung erfüllt eine notwendige Kontroll- und Korrekturfunktion gegenüber dem Strafgesetz, die von der zu kontrollierenden Instanz selbst nicht wahrgenommen oder auch nur mehr als durch Vorgabe der Beurteilungsschritte und -maßstäbe gesteuert werden kann und darf. So erstrebenswert es um der generellen Vorhersehbarkeit von Bagatellisierungsentscheidungen willen wäre, den abstrakten Deliktstatbeständen gleichermaßen abstrakt gefaßte Bagatelltatbestände entgegenzustellen, so wenig läßt sich dies sachgerecht verwirklichen. Mag der Gesetzgeber sich noch so mühen, die Kasuistik als geringfügig einzuschätzender Verhaltensweisen bis in die feinsten Verästelungen nachzuzeichnen und in Sondertatbeständen auf den Begriff zu bringen eine Gewähr, daß das Gesetz nur solche Fälle und diese im Anwendungsbereich der Norm erschöpfend als bagatellisierungswürdig einstuft, die nach Maßgabe strafrechts dogmatischer Gesichtspunkte eine bagatellarische Behandlung verdienen, kann es nicht geben. Die definitorische Verselbständigung von Bagatellverstößen in Sondertatbeständen beinhaltet den uneinlösbaren Anspruch, im Vorhinein erschöpfend anzugeben, welche Fälle sich als bagatellisierungswürdig erweisen. Das Vertrauen darauf, daß das Regelungsbedürftige gesetzlich geregelt und das Nichtgeregelte nicht regelungsbedürftig sei, gründet auf bloßer Spekulation. Die Variationsbreite der zu Gebote stehenden Alternativen zu der kriminalpolitisch unbefriedigenden Einstellungslösung des geltenden Rechts verengt sich damit auf eine "offene" Regelung, die die Kriterien der Bagatellisierungswürdigkeitsbeurteilung im Unrechts- und im Zumessungszusammenhang sowie die Gesichtspunkte der bagatellarischen Rechtsfolgenbemessung vorgibt, ohne den Anspruch zu erheben, die Inhalte von Bagatellisierungsentscheidungen umfassend und abschließend auf den Begriff zu bringen. Eine solche Regelung läßt sich gleichermaßen im Prozeßrecht durch Präzisierung und Ausgestaltung der Einstellungsgründe zu echten, voll justiziablen Verfahrensvoraussetzungen wie im materiellen Recht durch Vorgabe eines allgemeinen, in der Einzelfallentscheidung zu konkretisierenden Schlüssels verwirklichen.
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Wie zu zeigen sein wird, ist die Einbindung der Bagatellisierungsregelung in den Allgemeinen Teil des StGB vorzugswürdig. Die Ausgrenzung der Bagatelldelikte aus dem bisherigen Vergehensbereich ist ein materiellrechtliches Problem, das nach materiellrechtlicher Lösung verlangt. Bagatelldelikte besitzen einen durch die mangelnde Strafbedürftigkeit gekennzeichneten selbständigen Stellenwert im strafrechtlichen Bewertungssystem, der durch ihre definitorische Abschichtung gegenüber strafbedürftigen Kriminaldelikten ausgefüllt werden muß. Durch Verzicht auf eine Bagatellisierungsregelung im materiellen Strafrecht den unzutreffenden Eindruck zu erwecken, als würden alle strafbaren Handlungen grundsätzlich mit Strafe geahndet, und prozessual diese vom materiellen Recht gestützte Einschätzung durch entgegengesetzte Bewertung zurechtzurücken, wäre purer EtikettenschwindeL Generalpräventiv besteht zu einem Verstecken der Bagatellisierungsregelung im Prozeßrecht kein Anlaß, werden doch die plakathaften Grundsatzverbote der besonderen Deliktstatbestände durch eine im Allgemeinen Teil des StGB zu verankernde Regelung nicht berührt. Parallel zu dieser materiellrechtlichen Regelung wird vorgeschlagen, Bagatellisierungsentscheidungen dem Richter vorzubehalten und neben dem aus Kapazitätsgründen unverzichtbaren, aber begrenzungsbedürftigen schriftlichen Bagatellisierungsverfahren verstärkt eine Entscheidung auf Grund mündlicher Verhandlung vorzusehen. Das mündliche Bagatellisierungsverfahren ist einzubetten in einen neu zu schaffenden, auf einfach gelagerte Fälle minderer Kriminalität zugeschnittenen nichtöffentlichen Verfahrenstyp vor dem Einzelrichter. Dieser dem ordentlichen Hauptverfahren vorgeschaltete vereinfachte Verfahrenstyp ist so auszugestalten, daß eine effiziente, der Massenhaftigkeit minderer Alltagskriminalität Rechnung tragende Entscheidungspraxis gewährleistet ist.
O. Die Begrenzung des Strafrechts durch das Bagatellprinzip als strafrechtsimmanente Aufgabe Die Notwendigkeit der Begrenzung des Strafrechts ist ein zentrales Anliegen des Strafrechts selbst: sie ist nicht nur Themenbeschränkung, sondern zugleich Programm. Die Einsicht, daß das scharfe Schwert der Strafe stumpf wird, wenn es zu oft Verwendung findet, verbietet es, das Strafrecht mit Lappalien zu belasten; das auf das Strafrecht gemünzte Wort Goldschmidts, mit Schwertern köpfe man keine Disteln, kennzeichnet dies treffend. Die hochdifferenzierten Rechtsordnungen unserer Zeit haben ein subtiles Instrumentarium entwickelt, um anstandswidrigen, belästigenden, unerfreulichen, anrüchigen oder störenden Vorgängen auf andere Weise als mit Strafe zu begegnen. Das Bekenntnis zum fragmentarischen, exemplifikativen Charakter des Strafrechts, zur Subsidiarität seiner Mittel, zur Strafökonomie und zum Satz "minima non curat praetor" ist verpflichtend. Würde mit jenem Bekenntnis Ernst gemacht, gäbe es das Bagatellproblem im Strafrecht nicht. Die Wirklichkeit sieht freilich anders aus: wir haben uns allzu sehr damit vertraut gemacht, daß Strafe ein geeignetes Mittel ist, um die Ordnung und Sicherheit im alltäglichen Ablauf zu gewährleisten und herzustellen1 • Der einschneidende Zwangscharakter der Strafe verleitet dazu, sie als probates Instrument zur staatlichen Autoritätsbewährung auch bei bloßen Unbotmäßigkeiten einzusetzen. Der Gedanke des Fragmentarischen und Exemplifikativen kontrastiert faktisch mit einem Pönalisierungsprogramm, das tendenziell eher auf Lückenlosigkeit des Rechtsgüterschutzes setzt; anstatt den Einsatz des Strafrechts auf die Fälle zu beschränken, wo eine Bestrafung zur Wahrung der elementaren Belange menschlichen Zusammenlebens unumgänglich ist, wird vorschnell das Strafrecht aktiviert, um unliebsamem, aber nicht ernstlich sozialschädlichem Verhalten entgegenzuwirken. Dabei kann sich gerade eine Rechtsordnung unserer Zeit die Überdehnung des Strafrechts am wenigsten leisten. Was früher durch nicht1 Peters, Die Begrenzung, S. 492. Gegen die vielbeklagte "Hypertrophie des Strafrechts" hat es schon zu Anfang des 19. Jahrhunderts an warnenden Stimmen nicht gefehlt, vgl. dazu die Nachweise bei Vogler, Möglichkeiten, S. 134. Die Dauer und Nachhaltigkeit der Forderung nach Begrenzung des Strafrechts steht freilich noch immer in keinem Verhältnis zu dem bescheidenen Maß ihrer Realisierung, so Vogler, Möglichkeiten, S. 135.
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institutionelle Schlichtung in den sozialen Nahräumen des Familienverbandes oder der örtlichen Gemeinschaft solidarisch beigelegt wurde, wird heute - schon um der leichteren Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche oder der Inanspruchnahme- von Versicherungsleistungen2 willen - zur Strafanzeige gebracht; die zunehmende Verrechtlichung sozialer Beziehungen in der modernen Massengesellschaft3 bewirkt im Strafrecht ein massenhaftes Anwachsen der Anzeigebereitschaft4 • Angesichts der Vielzahl angezeigter oder sonstwie bekanntgewordener Straftaten, die allesamt aktenmäßig erfaßt und bürokratisch bearbeitet werden müssen, ist der Strafverfolgungsapparat längst an den Grenzen seiner Belastbarkeit angelangt; die weitgehend stagnierende Personalund Sachmittelsituation läßt eine wirksame Abhilfe nicht erhoffen. Und doch werden den Ermittlungsorganen und Gerichten ständig neue - und gewiß dringliche - Aufgaben der Verbrechensbekämpfung überantwortet, die diese schwerpunktmäßig wahrnehmen sollen: man denke nur an die Bereiche des Umweltstrafrechts, der Wirtschaftskriminalität und der Terroristenbekämpfung. Die Belastung mit einer Unzahl unbedeutender Vorgänge nimmt so viel Personal, Kraft, Zeit, Mittel und Geld in Anspruch, daß an diesen wirklich notwendigen Stellen Lücken entstehen5 • Infolge Überbeanspruchung der Strafverfolgungsorgane wird es zunehmend schwieriger, bei der Strafverfolgung der Sozialschädlichkeit entsprechend Akzente zu setzen und das Strafrecht gegen eminent sozialschädliche Aktivitäten zu mobilisieren. Die minutiöse Aufklärung komplizierter Vorgänge mit mannigfaltigen Beweisschwierigkeiten und Verdunkelungsmöglichkeiten erfordert einen Aufwand, der bei Streuung der Ermittlungsarbeit auf das breite Feld der Alltags- und Kleinkriminalität kaum mehr erbracht werden kann. Die Überdehnung des Strafrechts führt so zwangsläufig zu oberflächlichen Ermittlungen, die es gerade den Schwerkriminellen erleichtern, durch die Maschen des Gesetzes zu schlüpfen. Darüber hinaus bewirkt sie im Bereich der kleineren und mittleren Kriminalität eine nicht weniger bedenkliche Beschränkung des Tätigkeitsbereichs der Strafverfolgungsorgane auf die rein rechtsfolgenorientierte Aufbereitung des Akteninhalts. Die Sachverhaltserforschung bleibt aus Kapazitätsgründen nahezu ausnahmslos der Polizei überlassen; das böse Wort von dem als "Aktenumwälzungsanlage" fungierenden Schreibtischstaatsanwalt entspricht hier eher der Realität als das Bild, welches der Gesetzgeber dereinst vom Herrn des Ermittlungs2
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Vgl. Blankenburg/Fiedler, Die Rechtsschutzversicherung. Dazu grundlegend Ellscheid, Die Verrechtlichung; Christie, Konflikte. Vgl. hierzu Heinz, Bestimmungsgründe. Peters, Die Begrenzung, S. 488 f.
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verfahrens gezeichnet hatte. Die überlastete Justiz muß ihre Aufgabe mit möglichst geringem Aufwand zu bewältigen suchen; die unaufwendige Nachweisbarkeit überlagert und verdrängt das Gebot der strafprozessualen Wahrheitserforschung als Handlungsmaxime. Das Tatgeschehen wird im forensischen Zusammenhang weitgehend so übernommen und festgeschrieben, wie es sich nach der polizeilichen Ermittlungslage darstellt: geständnisbereite Beschuldigte werden eher zur Rechenschaft gezogen als andere, deren überführung umfangreiche weitere Ermittlungen notwendig machte; die Verurteilungswahrscheinlichkeit bei einfach aufzuklärenden Taten mit geringem Unwertgehalt ist höher als bei beweisschwierigen Delikten mit hoher Sozialschädlichkeit8 • Daß dies unter den allgemeinen Rechtsprinzipien der Gleichbehandlung - die bekanntlich die Ungleichbehandlung ungleichwertiger Sachverhalte fordert7 - und der Unverhältnismäßigkeit der Mittel bedenklich ist, liegt auf der Hand. Neben den unliebsamen organisationsspezifischen Auswirkungen einer Belastung der Strafjustiz mit "dem Wust des Kleinkrams"8 führt der verschwenderische Einsatz strafrechtlicher Mittel damit zu einer Kollision mit Gerechtigkeitsvorstellungen, aber auch mit präventiven Zweckmäßigkeitsüberlegungen. Unter spezialpräventiven Gesichtspunkten ist zu berücksichtigen, daß eine dauerhafte Verhaltens änderung beim Adressaten nur durch eine situationsgerechte Reaktion zu erzielen ist, die nicht übermäßig sein darf, weil sie sonst den "Rechtfertigungsgrund" für weitere Taten gleich mitliefert'. Auch aus generalpräventiven Gesichtspunkten darf der Bogen kriminalrechtlicher Sanktionen nicht überspanntlO werden. Zur Abschreckung potentieller Täter muß eine intensive und gleichmäßige Durchsetzung einer angemessenen Rechtsfolge möglichst bald nach Tatbegehung11 gewährleistet sein. Abschreckung läßt sich nicht erzielen durch harte Strafdrohungen, die eine rechtsstaatlich aufwendige Verfahrensgestaltung erfordern und deren Durchsetzung darum wegen der kapazitätsbedingt beschränkten Entdeckungs- und Verfolgungsmöglichkeiten exemplarisch bleiben muß, sondern nur durch tatschweregemäße Rechtsfolgen, die bei leichten Delikten eine vereinfachte Verfahrensgestaltung mit konsequenter Vgl. dazu Blankenburg u. a., Die staatsanwaltschaft, S.315. Der dem öffentlichen Recht entlehnte Grundsatz "keine Gleichheit im Unrecht" gilt im Strafrecht nicht: Strafe kann dem Bestraften gegenüber nur gerechtfertigt werden, wenn so gerecht wie möglich bestraft und dabei jede Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes vermieden wird, so: Schmidhäuser, Freikaufverfahren, S. 536. S Faller, Verfassungsrechtliche Grenzen, S.82. , Vgl. Calliess, Theorie, S. 116 f. m. w. N. 10 So Göppinger, Strafe, S. 22. 11 Kissel, Rationalisierung, S. 338. 8
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Durchsetzung der Sanktionsdrohung erlauben12• Die strenge Kriminalstrafe als kategorische Antwort auch auf gering erachtete Verfehlungen könnte im Rechtsbewußtsein der Bevölkerung "gegenproduktiv"18 wirken, weil sie geeignet ist, Sympathien für den übermäßig gemaßregelten Täter zu wecken oder gar die Legitimität staatlicher Strafgewalt überhaupt anzuzweüeln. Zumindest führt der verschwenderische Gebrauch der Kriminalstrafe zu einer ständig laxer werdenden Einstellung der Bevölkerung zu strafrechtlich geschützten Gütern: eine übermäßige Kriminalisierung läßt das Kriminelle schon fast als normal erscheinen; die Überzeugung, nach der eine Übeltat zur Bedeutungslosigkeit verkümmert, wenn sie vielen vorgeworfen wird, beeinträchtigt die generalpräventive Signalwirkung des Strafrechtsl4 . Ein Bericht aus dem Hamburger "Milljöh"14a mag dies verdeutlichen. Zwei Männer aus dem Kneipenmilieu um St. Georg waren angeklagt, in einer Gastwirtschaft um Geld gewürfelt zu haben. "Ob er denn jeden Gast, der sich dieses harmlose Feierabendvergnügen gönne, festnehmen lassen wolle, fragten sie den Richter mit gut gespielter Naivität, sogar das Wort ,Gewohnheitsrecht' fiel. Als Amtsrichter Sörensen konterte, daß die Sache, weil sie alle tun, nicht schon erlaubt sei, da hatte er sich selbst schon dorthin geredet, wo die Angeklagten ihn haben wollten. Hiermit nämlich gab er den Angeklagten das Stichwort zu dem Kernsatz, der den staatlichen Strafanspruch endgültig zum Kippen brachte: ,Aber dann ist es doch auch ein schlechtes Gesetz', erwiderten sie gekonnt treuherzig und hatten nicht nur die Lacher auf der Zuhörerbank endgültig auf ihrer Seite. Wenn der Richter jetzt noch auf Strafe bestehen wollte, hätte er sich selbst lebensfremd vorkommen müssen, und wer will sich das - zumal als Richter - von Leuten aus dem ,Milljöh' sagen lassen. Weil auch die Staatsanwaltschaft nicht länger auf einer Verurteilung bestehen wollte, wurde die Sache eingestellt wegen geringen Verschuldens gegen Zahlung einer Geldbuße von je 500 Mark. Da ließen sich die plietschen Angeklagten nicht lumpen. Sie legten freiwillig für die Erdbebenopfer und die Seenotrettungsgesellschaft noch einen Hunderter drauf. Sie wußten wofür, denn die 3000 Mark, die die Polizei beschlagnahmt hatte, wurden - zurückerstattet." 12 Vgl. Müller-Dietz, Strafbegriff, S.94; Middendorff, The effectiveness, S. 78; Rössner, Bagatelldiebstahl, S.207. 18 Ehrenzweig, Psychoanalytische Rechtswissenschaft, S. 258. 14 Plastisch Popitz, über die Präventivwirkung, S.17: "Wenn auch der Nachbar zur Rechten und zur Linken bestraft wird, verliert die Strafe ihr moralisches Gewicht. Etwas, das beinahe jedem reihum passiert, gilt nicht mehr als diskriminierend." 14a v. Westernhagen, Richter wurde ausgemaxt, in: Die Zeit Nr. 5 vom 23. 1. 81, S. 15.
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Zudem zeitigt das staatliche Reaktionsverhalten auf mehr oder weniger unbedeutende Strafrechtsverstöße sozialpsychologische Fernwirkungen, die kaum unterschätzt werden können. Angesichts der Häufigkeit und Streuungsbreite leichterer Delikte gerät der loyale Bürger wenn schon dann hier mit der staatlichen Sanktionsgewalt in Berührung und formt sich - je nachdem, wie dabei mit ihm verfahren wird - sein Bild von diesem Staat. überhaupt ist die Art, wie der Staat mit Verkehrssündern, Kleindieben und Gelegenheitsschmugglern umgeht, für Struktur und Atmosphäre des Gemeinwesens nicht weniger aufschlußreich als die Art, in der er Mördern, Räubern und Großbetrügern Herr zu werden sucht. Denn während wohl in jedem Land der Welt auf den "groben Klotz" des Schwerkriminellen ein "grober Keil" gesetzt wird, erweist sich die Behandlung des Kleinkriminellen als weitaus feinfühligeres Barometer dafür, mit welchem Grad von Pedanterie oder Toleranz, helfendem Entgegenkommen oder selbstgerechter Gleichgültigkeit man den "kleinen Versager" in der Gesellschaft in die Bahnen der Normkonformität zu lenken oder gar zu dulden bereit ist15 • Auch aus diesem Grunde ist eine feinfühlige, wohldosierte Reaktion auf unbedeutende Rechtsbrüche unerläßlich. Das Instrument der Kriminalstrafe ist meist zu scharfkantig und zu plump, um bei geringfügigen Verfehlungen tat- und tätergerecht eingesetzt zu werden. Schon ihr Mindestmaß stellt sich hier in der Regel als übermaß dar, weil die Kriminalstrafe nachhaltig Diskriminierungswirkung zeitigt und den Täter mit dem Stigma des Vorbestraften belastet. Wegen der übermäßigkeit der Kriminalstrafe und aus der erwähnten prozeß-ökonomischen Einsicht, daß der Einsatz des schwerfälligen Justizapparats bei der Fülle der unbedeutenden Rechtsbrüche gar nicht erbringbar ist oder sich zumindest der Aufwand nicht lohnt, gilt es, das Strafrecht von strafunwürdigen Vorgängen zu befreien. Die Aufgabe der Begrenzung des Strafrechts mit dem notwendigen Nachdruck in Angriff zu nehmen, ist darum dringlicher denn je. Seit die Strafrechtsdogmatik jenes Problems gewahr wurde, existieren Bemühungen, die notwendigen und hinreichenden Bedingungen der Kriminalisierung mit Hilfe von Rechtsguts- bzw. Sozialschadenslehren aufzuweisen18 • In der jüngeren Vergangenheit hat sich die Einsicht durchgesetzt, daß solch globale Konzeptionen mit hohem Abstraktionsniveau zwar grundsätzlich geeignet sind, das Bewußtsein für einen So Eser, Gesellschaftsgerichte, S. 6. Vgl. neuerdings insbesondere Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 330 ff.; 367 f., 385 f.; Calliess, Theorie, S. 143 ff.; Hassemer, Theorie, S. 57 ff.; 87 ff.; 221 ff. Zu Rechtsgüterschutz und Subsidiaritätsgedanke vgl. Artur Kaufmann, Subsidiaritätsprinzip. 15
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umsichtigen und zurückhaltenden Einsatz des Strafrechts zu schärfen, jedoch die konkreten Anforderungen an die Pönalisierung nicht hinlänglich präzise angeben können; diese Lehren haben zur Aufstellung allgemeiner Orientierungsmaßstäbe für die Verbrechenstheorie und die Kriminalpolitik geführt, ohne das entscheidende Problem zu lösen, wie jene Maßstäbe unmittelbar rechtspraktisch umzusetzen sind17• Rechtsguts- und Sozialschadenslehren verharren in einer abstrakten Begrifflichkeit, die sich den konkreten Gestaltungsbedürfnissen unserer heutigen Gesellschaft zunehmend entfremdet. Die Komplexität moderner Sozialordnungen mit ihren vielfältig verflochtenen Wirkungszusammenhängen macht es immer schwieriger, individuell zurechenbare Ursachen für Rechtsgutsbeeinträchtigungen zu finden. Die technologische und ökonomische Entwicklung produziert stereotype Gefahrensituationen, die potentiell weit bedrohlicher als individuelle Verletzungshandlungen sind und dennoch sich, im Ergebnis womöglich zu recht, der Zuordnung zu einem auch nur einigermaßen anschaulichen und konkretisierbaren Rechtsgutskonzept sperren. Die Einsicht in die Schutzwürdigkeit so wenig handgreiflicher Belange wie die demokratische Willensbildung oder gar die störungsfreie gesellschaftliche Interaktion insgesamt18 verwischt die Konturen des Rechtsgutsbegriffs völlig. Für die Abgrenzung zwischen notwendigen und unerträglichen Risiken, für die Bestimmung des Grades an Gefährlichkeit, der eine Pönalisierung rechtfertigt, für die Beurteilung der Wirksamkeit alternativer nicht-strafrechtlicher Präventions- oder Sanktionsmaßnahmen, für die Prognose über mögliche oder wahrscheinliche Auswirkungen eines Pönalisierungsprogramms, kurz: für die Ausformulierung präziser Regeln über die Verhaltenspönalisierung geben die Rechtsguts- und Sozialschadenslehren nichts her 9 • überhaupt scheinen Rechtsguts- und Sozialschadenskonzepte ihre Funktion, die Grenzen fragmentarischer Strafgesetzgebung sichtbar zu machen, verloren zu haben und stattdessen die Legitimationsgrundlage 17 Müller-Dietz, Grundfragen, S. 36 ff.; ders., Strafe und Staat, S. 47 ff.; Hasserner, Theorie, S. 214 ff., 194 ff.; Vogler, Möglichkeiten, S. 138 ff.; Hirsch, Einwilligung, S. 785. 18 Amelung, Besprechung, S. 145. 19 Müller-Dietz, Grundfragen, S.37. Vgl. auch Hasserner, Theorie, S. 13 f.: "Es gibt keine wirksame Rückkoppelung zwischen der wissenschaftlichen Bestimmung des Rechtsguts und dem Umgang der Gesetzgebungs- und Entscheidungspraxis mit dem, was die Wissenschaft als Rechtsgut bezeichnet. Die Wissenschaft vom Rechtsgut kann sich nicht an der Praxis ,erweisen', sie bekommt von daher keine Kritik, keinen Widerstand, keine Möglichkeit der Falsifizierung ... Wenn sich der Strafgesetzgeber auf die Rechtsgutslehre bezieht, ... wenn die Rechtsprechung das geschützte Rechtsgut zur Auslegung eines Tatbestandes heranzieht - immer geschieht das, ohne daß die Rechtsgutsdiskussion wirklich aufgenommen wird."
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für eine strafrechtliche Rundum-Verteidigung zu liefernlDa • Eine Begrenzungsfunktion des Strafrechts konnten die Rechtsguts- und Sozialschadenslehren nur solange wahrnehmen, wie sich ihre Konzepte auf die Verletzung rein individueller Belange wie Leben, Gesundheit und Eigentum des Einzelnen beschränkten, deren Reichweite durch homogene Wertvorstellungen über die Bedeutung dieser Begriffe unmißverständlich vorgezeichnet war. In dem Maße, wie festgefügte Wertvorstellungen sich in eine Pluralität divergierender Vorstellungsbilder auflösen, verlieren auch so scheinbar eindeutige Begriffe wie "Leben" und "töten" ihre Plastizität und damit ihre Begrenzungsfunktion; die Debatte um die Ausgestaltung des Schutzes werdenden Lebens und die Auseinandersetzung um die Sterbehilfe sind hierfür Beispiele1Gb • Die Untauglichkeit der Sicherung des fragmentarischen Charakters des Strafrechts durch Rechtsguts- und Sozialschadenslehren zeigt sich vollends in der Notwendigkeit, auch überindividuelle Belange des Gemeinwohls strafrechtlich zu schützen. Individuelle Interessen und Freiheitsräume lassen sich in der modernen Gesellschaft nur wahren, wenn die übergreifenden gesellschaftlichen Bedingungen gesichert sind, die individuellen Belange in ihrem Bestand erst garantieren. Der wirksame Schutz von Leben und Gesundheit des Einzelnen setzt heute etwa den Schutz der ökologischen Ressourcen, der Lebensmittelversorgung und der Energieversorgung voraus; der Schutz persönlichen Eigentums und Vermögens bleibt ineffektiv, solange nicht zugleich die Stabilität der Währung, die Offenheit des Wettbewerbs und die Sicherung des Arbeitsplatzes gewährleistet sind. Wie immer erhaltenswert natürliche Lebensbedingungen im Umweltbereich oder ökonomische Produktionsbedingungen im volkswirtschaftlichen Bereich sein mögen - sobald das Strafrecht von konkreten Individualinteressen abstrahiert und sich solch überindividuellen Belangen verschreibt, verliert es seine plastischen Konturen und wird in seinem Anwendungsbereich buchstäblich uferlos. Wegen der großen Komplexität dieser Bereiche, deren vielseitige Verflochtenheit unausweichlich hohe Störanfälligkeit impliziert, sind die potentiellen Verletzungs- und Gefährdungshandlungen gegenüber solchen "sozialen" Rechtsgütern nahezu unübersehbarlDc • Da es zudem unklar bleibt, welche sozialen Bereiche als überindividuelle Bedingungen der Möglichkeit individueller Existenz strafrechtlichen Schutzes bedürfen, kann sich jede gesellschaftspolitische Kampagne zur Bestärkung ihrer Forderungen auf die strafrechtliche Schutzwürdigkeit ihres Anliegens berufenlGd • lBa
1Gb lBC lBd
Volk, Wahrheit, S. 29. Dazu eingehend Backes, Strafrechtswissenschaft, S. 187 ff. Backes, Strafrechtswissenschaft, S. 180 f. m. w. N. Volk, Wahrheit, S.29 erwähnt das Beispiel einer schweizerischen Um-
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Wenn es aber trotz der jedenfalls in Grenzen unvermeidlichen Ausweitung des Strafschutzes über reine Individualinteressen hinaus dabei bleiben soll, daß die Strafsanktion als schärfste Waffe der Sozialkontrolle zuletzt einzusetzen ist, müssen die Bedingungen der Rechtsfolgenanordnung Kriminalstrafe um so sorgfältiger erarbeitet und um so umsichtiger gehandhabt werden1ue• Weil der gesellschaftspolitische Trend auf eine tendenzielle Ausweitung der Strafzone hinausläuft, ist die Gefahr der Ausuferung des Strafrechts nicht durch Restriktion des Strafbarkeitsbereichs, sondern nur durch Restriktion der Anwendungsbedingungen der Kriminalstrafe durchgängig zu bannen. Die bloß akademische Bedeutung der Rechtsguts- und Sozialschadenslehren rührt vor allem davon, daß sie sich nur mit der Begrenzung der strafrechtlichen Verbotsmaterie, nicht aber mit dem ungleich drängenderen, für die Rechtsanwendungspraxis primären Problem der Begrenzung des Einsatzes der Kriminalstrafe befassen. Die Praxis muß sich notgedrungen mit dem noch viel zu breiten Feld strafrechtlicher Verbotsmaterie abfinden und versuchen, die auf der Ebene der Gesetzgebung nicht durchgängig geleistete Befreiung des Strafrechts von strafunwürdigen Vorgängen auf der Ebene der Rechtsanwendung durch restriktiven Einsatz der Kriminalstrafe nachzuholen. Bei weitem nicht alle bekanntgewordenen Vorgänge, die das Gesetz unter Strafe stellt, werden tatsächlich mit Strafe geahndet. Bei der sekundären Kriminalisierung durch das auf Strafe erkennende Urteil erfolgt eine nachträgliche Auslese nach Strafwürdigkeitsgesichtspunkten, die eigentlich schon bei der primären Kriminalisierung durch Begrenzung des Strafbarkeitsbereichs hätte erbracht werden müssen. Denn der Anwendungsbereich des Strafrechts ist von der Gebotenheit der Straffolge her zu bestimmen; es gilt die Maxime, daß nur wirklich strafbedürftige Fallgestaltungen dem Strafrecht unterstellt werden dürfen20 • Bei vollkommener Verwirklichung dieser Maxime sind die Bereiche strafbedrohter und zu betrafender Verhaltensweisen deckungsgleich: unter der Prämisse, daß nur strafbedürftiges Verhalten vom Gesetz unter Strafe gestellt wird, ist die Verhängung der Strafe gegen den schuldigen Täter die logisch zwingende Konsequenz aus ihrer Androhung 21 • weltschutzkampagne unter dem Slogan "Luft ist nicht Nichts" und meint, auch aus dieser doppelten Verneinung lasse sich unschwer die Positivierung eines Rechtsguts herleiten. lUe Vgl. Volk, Wahrheit, S. 29. 20 Dazu später ausführlich. 21 Diese Konsequenz wurde in der Tat nach traditioneller, von Feuerbach stammender Auffassung als zwingend angesehen; vgl. dazu Müller-Dietz, Grundfragen, S. 39; Naucke, Kant, S. 51 ff. Neuerdings wieder Rieß, Die Zukunft, S. 5: "Nimmt der Gesetzgeber seine Aufgabe ernst, Strafrecht als ultima ratio auf Rechtsgüterschutz zu beschränken, so handelt er nur dann
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Wie zu zeigen sein wird, kann aber die Maxime, nur wirklich strafbedürftige Verhaltensweisen dem Strafrecht zu unterstellen, gar nicht durchgängig verwirklicht werden: wegen der Unschärfe der auf begrifflich-abstrakter Ebene definierten Deliktstatbestände gehen in den Anwendungsbereich des Strafrechts notwendig auch solche Fallgestaltungen ein, die in ihrem konkreten Unrechts- oder Schuldbild den tatbestandlich vertypten Unrechts- und Schuldgehalt nicht erreichen, und die in Anbetracht der relativen Geringfügigkeit des verschuldeten Unrechts einer Ahndung durch Kriminalstrafe nicht bedürfen; das Raster der begrifflich-abstrakten Tatbestandsumschreibung ist zu grob, als daß alle strafunwürdigen Vorgänge darin aufgefangen werden könnten. Verhaltensweisen, die generell pönalisierungswürdigen Verhaltenstypisierungen unterfallen, brauchen deshalb im Einzelfall nicht unbedingt pönalisierungsbedürftig zu sein22 • Weil die Bereiche legitimerweise strafbedrohter und legitimerweise zu bestrafender Verhaltensweisen nicht völlig zur Deckung zu bringen sind, unterliegen Verhaltenspönalisierungen einem prinzipiell zweiphasigen Begründungszwang: nach der Gebotenheit strafrechtlicher Normaufstellung und nach der Gebotenheit der Normdurchsetzung mit Mitteln der Kriminalstrafe. Mit der Entscheidung für die strafrechtliche Schutzwürdigkeit eines gesellschaftlich anerkannten Gutes sind Art und Umfang der Gestaltung des Strafrechtsschutzes noch nicht ausgemacht 23 • Die Kriminalstrafe ist nur die typische, nicht die einzige Schutzmodalität des Strafrechts; bei atypisch gemindertem Unrechts- oder Schuldbild ist es angezeigt, strafrechtlichen Rechtsgüterschutz - wenn er hier überhaupt am Platze ist - jedenfalls nicht durch Bestrafung zu realisieren. Es heißt darum keineswegs das Pferd von hinten aufzuzäumen, wenn versucht wird, der den Bedingungen der Kriminalisierung spiegelbildlichen Frage nach den notwendigen und hinreichenden Bedingungen einer Nicht- bzw. Entkriminalisierung nachzugehen. Die Bedingungen der Nicht- bzw. Entkriminalisierung von Verhaltensmodalitäten, deren Pönalisierungsbedürftigkeit in Frage steht, lassen sich dem Sammelbegriff der Bagatelldelikte zuordnen. Das Bagatelldelikt ist ein in der Strafrechtsdogmatik noch nicht fest verankerter Begriff, der die Begrenzung des Strafrechts durch negative Auslese strafunwürdiger Vorgänge nach Geringfügigkeitsgesichtspunkten ermöglichen soll. Die Thematisierung des Bagatellproblems im Strafrecht zielt darauf ab, die widerspruchsfrei, wenn er zugleich anordnet, daß in den Fällen, die er als strafwürdig definiert, regelmäßig auch Strafe eintreten soll." %2 Auf die Unterscheidung zwischen genereller Strafwürdigkeit und konkreter Strafbedürftigkeit und ihren Konsequenzen für die Bagatellproblematik wird noch ausführlich einzugehen sein. 23 Dazu grundlegend Hassemer, Theorie, S. 194 ff.
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positiv nicht hinlänglich konkretisierbaren Anforderungen an die Pönalisierung negativ einzugrenzen, und somit die ursprünglich den Rechtsguts- bzw. Sozialschadenslehren zugewiesene Aufgabe mit anderen Mitteln einer Lösung näherzubringen. Nicht zufällig rückt das Bagatellproblem zu einer Zeit ins strafrechtsdogmatische Blickfeld, in der die wachsenden Zweifel an der Leistungsfähigkeit von Rechtsguts- und Sozialschadenslehren einen Kulminationspunkt erreicht haben24 : die Einsicht in die Ungangbarkeit des einen Weges zur Begrenzung des Strafrechts macht es erforderlich, jenes Ziel auf einem anderen Wege anzusteuern. Die Identität der Zielvorgaben erhellt, daß es auch bei der Ausgrenzung von Bagatellen aus dem Strafrecht letztlich darum geht, Kriterien für die Gebotenheit der Kriminalisierung zu erarbeiten. Die Befreiung des Strafrechts von dem "Wust des Kleinkrams" setzt eine inhaltliche Bestimmung dessen voraus, was als "Kleinkram" zu gelten hat und impliziert somit vice versa ein Konzept darüber, welche Vorgänge strafrechtlich beachtlich und strafbedürftig sind. Die negativ formulierte These, das Strafrecht dürfe sich nicht auf Belanglosigkeiten erstrecken, bleibt unverbindlich, solange nicht zugleich positiv gesagt wird, welche Verhaltensweisen unter Strafe gestellt und bestraft werden sollen. Die Lehre vom strafrechtlichen Bagatellprinzip bietet gegenüber den Rechtsguts- und Sozialschadenslehren den entscheidenden Vorzug, auf die Divergenz der Frage nach den legitimen Bedingungen des Einsatzes von Strafrecht von der Frage nach den legitimen Bedingungen einer Bestrafung aufmerksam zu machen und beide Fragen unter dem erkenntnisleitenden Aspekt der Auslese strafunwürdiger Vorgänge einer Beantwortung zuzuführen. Das Bagatellprinzip erhellt, daß eine Feinkorrektur nach Strafwürdigkeitsgesichtspunkten noch möglich und notwendig ist, wenn der nach eben diesen Gesichtspunkten ausgegrenzte Bereich der strafrechtlichen Verbotsmaterie schon abgesteckt ist. Damit liefert es das theoretische Rüstzeug für eine differenzierte Gestaltung der strafrechtlichen Schutztechnik und stellt einen Praxisbezug her, der den Rechtsguts- und Sozialschadenslehren versagt bleibt. Das Bagatellprinzip wird - wie immer bruchstückhaft und unreflektiert - von der Praxis in Anspruch genommen, sei es, daß der Gesetzgeber typischerweise strafunwürdiges Verhalten von der Strafbarkeit ausnimmt, sei es, daß die Rechtsanwendung den Bereich generell pönalisierungs24 Diese Entwicklung bahnt sich seit Mitte der sechziger Jahre an und hat gegenwärtig ihren Höhepunkt erreicht. Angeregt durch die 1966 erschienene, bislang einzige grundlegende Monographie zum Bagatellproblem (Krümpelmann, Die Bagatelldelikte) und die Beiträge auf der Strafrechtslehrertagung von 1970 (vgl. Meyer, Tagungsbericht) wurde die Bagatellproblematik in dieser generellen Bedeutung erkannt.
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würdiger Verhaltenskomplexe in atypischen Fällen einschränkt: ob Verhaltensweisen durch restriktive Auslegung von Tatbestandsmerkmalen für straffrei erklärt werden, ob vom Gedanken der Sozialadäquanz Gebrauch gemacht wird oder der GeringfügigkeitsgesichtspWlkt durch Einstellung nach §§ 153, 153 a StPO ausdrücklich zum Tragen kommt - immer geschieht dies mit Blick auf ein generelles Bagatellprinzip, das den gesetzlichen Bestimmungen, auf die sich die EinzelfallentscheidWlgen stützen, implizit zugrundegelegt wird. Während Rechtsguts- und Sozialschadenslehren in theoretischen Programmsätzen verharren Wld empirische Bedingungen der praktischen UmsetzWlg ihrer Konzepte gar nicht erst thematisieren, setzt die angemessene Behandlung des Bagatellproblems im Strafrecht eine praktische Konkordanz dogmatisch-systematischer Bemühungen mit gesellschaftspolitischen Kriminalisierungsbedürfnissen Wld einer ökonomisch gestalteten VerfolgWlgswirklichkeit voraus. Die theoretische Analyse des Bagatellproblems wird heute explizit verstanden als Vorgriff auf eine als sachrichtig empfundene und den nötigen Freiraum für die Befassung mit schwerwiegender Kriminalität schaffende Bagatellisierungspraxis, in der maximenorientierte, pragmatische Wld gesellschaftspolitische Überlegungen eine FWlktionseinheit eingehen. Dies läßt sich an der EntwicklWlg der kriminalpolitischen Diskussion um die Behandlung der Bagatelldelinquenz in Deutschland einsichtig machen.
0.1 Die kriminalpolitische Diskussion um die Verwirklichung des Bagatellprinzips in Deutschland Die erste Phase jener um das zweite Drittel des vergangenen JahrhWlderts einsetzenden Diskussion ist gekennzeichnet durch das Bemühen um HerstellWlg materieller Einzelfallgerechtigkeit für geringfügige Taten auf prozessualem Wege. Die die nachhegelianische Strafrechtsdogmatik prägenden Straftheorien von Kant und Regel, welche Strafe als sittlich werthafte ÜbelzufügWlg durch Vergeltung verstanden25 , hatten sich nur auf die gravierende Kriminalität und nicht auf das sogenannte Polizeiunrecht bezogen, Wlter das etwa auch die einfachen Diebstähle fielen 28 ; Wlter dem Einfluß dieser Theorien widmeten die Gesetzeskodifikationen jener Zeit ihre Aufmerksamkeit ausschließlich schweren und mittelschweren Straftaten. Die Regelungen der RStPO von 1877 waren konzipiert für das aufwendige rechtsstaatliche Normal25 Vgl. dazu insbes. Hart, Prolegomena, S.65, der bemerkt, daß nach diesen Vergeltungstheorien "die Zufügung von Leid gegenüber einem sittlich schuldigen Rechtsbrecher in sich von Wert sei". 28 Neumann/Schroth, Neuere Theorien, S.12.
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verfahren 27 • Das strikte Legalitätsprinzip repräsentiert jenen Verfahrenstyp. Dieses Prinzip, welches die Staatsanwaltschaft zur unbedingten Verfolgung und Anklage aller anklagefähigen Straftaten zwingt, hatte sich im deutschen Strafprozeß trotz zahlreicher Einwände 28 durchgesetzt; es schien der Garant einer willkürfreien Strafjustiz, der es oblag, Vergeltung für Straftaten streng nach dem Gesetz mit zeremonieller Würde und Stetigkeit zu üben. Das Vergeltungsstrafrecht, verstanden als Negation der Negation des Rechts, hatte einen keiner Ausnahme zugänglichen Anklage- und Verurteilungszwang zur Folge2o, der prinzipiell in einem aufwendigen und strengen Regeln unterworfenen Verfahren zu verwirklichen war. Dem Vergeltungsgedanken im materiellen Recht entsprach prozessual die umfassende Sicherung der Wahrheitsfindung in der Beweisaufnahme, die Umständlichkeit der Entscheidungsbegründung und die von vornherein akzeptierte lange Dauer des mündlichen öffentlichen Verfahrens 30 • Auch das materielle Recht des RStGB von 1871 hatte alle früher bestehenden Privilegien für geringfügige Straffälle mit Ausnahme des Mundraubs abgeschafft31 • Dieser Rechtszustand, der materiell wie prozessual den Unterschied zwischen leichten und normal schweren Straftaten einebnete, wurde mit Blick auf die leichten Delikte als untragbar, weil mit materiellen Gerechtigkeitsvorstellungen unvereinbar, empfunden 32 • Der bislang als objektive Abspiegelung der Tat durch die Strafe verstandene Vergeltungsgedanke wurde nunmehr individualisierend im Sinne von Ver27 Ausnahmen waren nur im Strafbefehlsverfahren und im Strafverfügungverfahren vorgesehen. Die Privatklage war ursprünglich beschränkt auf Beleidigungen und Körperverletzungen, soweit die Verfolgung nur auf Antrag eintrat (§§ 414 ff. RStPO). 28 Vgl. den kontroversen Meinungsstand in den Verhandlungen des 2. Deutschen Juristentages 1861. Die der RStPO zeitlich vorgängigen Partikulargesetze hatten teils ausdrücklich, teils stillschweigend nach dem französischen Vorbild ZweckmäBigkeitserwägungen bei der Anklageerhebung Raum gelassen. Die Rechtsordnung Frankreichs sieht seit Einführung der Staatsanwaltschaft im Zuge des Gedankenguts der Revolution von 1789 die Möglichkeit des Verfolgungsverzichts aus ZweckmäBigkeitsgründen vor. Vgl. dazu etwa Heinitz, Zweifelsfragen, S. 329 ff.; einen ausführlichen überblick bieten Weigend, Anklagepflicht, Kapahnke, Opportunität, S. 3 ff. sowie Marquardt, Die Entwicklung, insbes. S. 37 ff. 29 RieB, Die Zukunft, S. 4. 30 Naucke, Gutachten, D 21. 31 Erst ein Gesetz von 1912 führte besondere Vorschriften für den Notdiebstahl und den Notbetrug ein (RGBl. I, 1912, S.395). Auf die mangelnde Privilegierung geringfügiger Fälle durch das RStGB wird später ausführlich einzugehen sein. 82 Zur Kritik an der "überspannung der staatlichen Strafgewalt" und der "Vielstraferei" unter Gerechtigkeitsaspekten vgl. Frank, Die überspannung, S. 733 ff.; Mittermaier, Legalitätsprinzip, S.148, 158; Schmidt-Ernsthausen, Legalitätsprinzip, S. 162, 197.
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geltung individueller Täterschuld interpretiert33 • Dadurch verlor der Satz Feuerbachs, die Verhängung der Strafe gegen den (schuldigen) Täter stelle lediglich die (logisch) zwingende Konsequenz aus ihrer Androhung darM, bei geringem Verschulden seine Gültigkeit. Strafbares Verhalten wurde bei geringer Schuld als nicht vergeltungswürdig und damit als schlechthin nicht sanktionsbedürftig angesehen. Aus der Vorstellung, Art und Ausmaß der Strafe müßten nach Vergeltungsgrundsätzen zur individuellen Täterschuld in Entsprechung gebracht werden, wurde die Forderung des völligen Verzichts auf den staatlichen Strafanspruch bei geringem Verschulden abgeleitet. Die Einlösung dieser Forderung schien nicht materiellrechtlich, sondern nur prozessual möglich, weil es sich bei der Verwirklichung des Gebots einer einzelfallgerechten Entscheidung um ein Problem individualisierender Strafzumessung zu handeln schien35• Die Gewährleistung materieller Einzelfallgerechtigkeit bei geringfügigem Verschulden machte deshalb prozessual eine Auflockerung des bis dahin uneingeschränkt geltenden Verfolgungszwangs erforderdich; dem strikten Legalitätsprinzip wurde um der Einzelfallgerechtigkeit willen das Opportunitätsprinzip entgegengestellt und dadurch entsprechend dem aus dem römischen Recht überlieferten Grundsatz "minima non curat praetor"3G die Möglichkeit des Verfolgungsverzichts wegen geringfügigen Verschuldens trotz an sich bestehender Verfolgungsvoraussetzungen vorgeschlagen37 • Etwa mit Ende des Ersten Weltkrieges bahnt sich eine Entwicklung an, die dem Verfolgungsverzicht wegen Geringfügigkeit zu einer neuen 33 So namentlich Wahlberg, Das Prinzip, S.55, 166; Fischl, Der Einfluß, S. 243. Zur Individualisierung in der Sanktionenpolitik als kriminalpolitische Leitidee vgI. Würtenberger, Die geistige Situation, S.8, 88 ff., 97 ff. In Anlehnung an die von Kant in der Metaphysik der Sitten und von Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts entwickelte philosophische Rechtfertigung des staatlichen Strafanspruchs wurde Schuld als Vorwerfbarkeit der individuellen Willens bildung gedeutet, vgI. hierzu Achenbach, Historische und domatische Grundlagen, S.19 ff.; Beling, Die Lehre, S. 287 ff.; v. Liszt, Lehrbuch, S. 28 ff.; Müller-Dietz, Strafbegriff, S. 22 ff.; Schmidhäuser, Vom Sinn, S. 19 ff.; Eb. Schmidt, Einführung, S. 225 ff.; 229 ff. 34 VgI. dazu Naucke, Kant, S. 51 ff. 35 Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 28. Zur Fragwürdigkeit dieser Annahme später ausführlich. 38 In diesem Sinne meint Binding, die Nichtbeachtung dieses Grundsatzes vermöge "des Staates Ansehen zu schädigen, die Strafe zu diskreditieren und das Volk zu verbittern", so Binding, Die Strafprozeßprinzipien, S.185. VgI. auch Binding, Die Normen, Band IV, S. 307 f. Zu diesem Grundsatz generell vgI. Baumann, Minima, S. 3 ff. 37 So etwa im Entwurf der Strafprozeßreform von 1909. VgI. hierzu Weigend, Anklagepflicht, S.30, 90; Jung, Straffreiheit, S. 44 ff.; Marquardt, Die Entwicklung, S. 70 ff. Einen überblick über die Reformvorschläge bietet ferner Meyer-Goldau, Der Begriff, S. 113 ff.
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Dimension verhilft. Dieser zweite Abschnitt ist gekennzeichnet durch das Aufgreifen der bis dahin programmatisch und konzeptionell geführten Diskussion unter sozialen und verfolgungsökonomischen Aspekten. Allgemeine Armut und Arbeitslosigkeit haben ein Anwachsen der Kriminalitätsrate speziell im Bagatellbereich zur Folge. Nicht die Geringfügigkeit individuellen Verschuldens, vielmehr die Massenhaftigkeit des Vorkommens wird nunmehr für Bagatelldelikte kennzeichnend. Das am Vergeltungsprinzip ausgerichtete Strafrecht erweist sich zur wirksamen Eindämmung von Taschendiebstählen, Zechbetrügereien und ähnlicher Kleinkriminalität als ungeeignet; die aus materieller Not geborene Delinquenz derer, die infolge Kriegswirren und Inflation arbeitslos, obdachlos oder ihrer Habe beraubt wurden, wird zum sozialen Phänomen, dessen Bekämpfung nicht mit Mitteln des Strafrechts, sondern nur durch Beseitigung der Ursache des Phänomens im Wege gesellschaftspolitischer Reformen möglich scheint. Angeregt durch die soziologische Strafrechtsschule v. Liszts setzt sich die Einsicht durch, daß im Bagatellbereich Sozialpolitik nicht nur die beste, vielmehr die einzig legitime Kriminalpolitik sei. Gleichzeitig zwingt die gewandelte gesellschaftliche Situation die Justiz dazu, bei der Strafverfolgung Präferenzen zu setzen38 • Die mit Kriegsfolgen und Reparationsverpflichtungen belastete volkswirtschaftliche Lage erfordert drastische Einsparungsmaßnahmen auch im Justizbereich; eine unbedingte Verfolgung der Bagatellkriminalität erscheint weder gesellschaftspolitisch opportun noch angesichts der beschränkten Mittel realisierbar. So ist es nur folgerichtig, wenn der Gedanke des Verfolgungsverzichts wegen Geringfügigkeit unter diesen veränderten Vorzeichen wieder aufgegriffen und nunmehr in der nach dem damaligen Reichsjustizminister Emminger benannten Notverordnung im Jahre 192438 gesetzlich verankert wird. Die Rechtsvorschrift, die dem heutigen § 153 StPO weitgehend entspricht, macht die "Geringfügigkeit der Täterschuld" zur zentralen Anwendungsvoraussetzung. Wenngleich der Gesetzeswortlaut damit immer noch auf die Vorstellung einer individuell schuldangemessenen strafrechtlichen Reaktion als Begründung für den Verfolgungsverzicht verweist, sind die Motive für die Einführung der Vorschrift gesellschaftspolitischer und vor allem verfolgungsökonomischer Art40 • Da es der Kleinkriminalität ohnehin mit anderen als strafrechtlichen Maßnahmen entgegenzuwirken gilt, scheint die EinschränVgl. dazu Weigend, Anklagepflicht, S. 31 m. w. N. in Fußnote 89. RGBl. I, S. 15. 40 Nachweise etwa bei Schürer, Die Entwicklung, S. 33 ff.; Wagner, Zum Legalitätsprinzip, S. 167 f.; Gerland, Der Deutsche Strafprozeß, S.159. Vgl. auch Rössner, Bagatelldiebstahl, S.98; Marquardt, Die Entwicklung, S. 90 ff. 38
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kung der strafrechtlichen Verfolgung dieses Kriminalitätsbereichs unproblematisch, zumal sich so die Möglichkeit einer Konzentration der Ermittlungsaktivitäten auf sozialschädlichere Straftaten eröffnet. In dem Maße, wie das Gesamtvolumen der registrierten Straftaten in der Folgezeit anschwillt, tritt das Bedürfnis nach summarischer und routinemäßiger Behandlung von Bagatellsachen immer mehr in den Vordergrund; damit erfährt die Funktionsbestimmung der Einstellung wegen Geringfügigkeit eine entscheidende Umdeutung. Die Forderung, das Ausmaß der Täterschuld im einzelnen auszuloten, macht dem "Sachzwang" der raschen Erledigung von Bagatellsachen im Interesse der um so intensiveren Verfolgung der "eigentlichen" Kriminalität Platz; statt als Mittel zur Bewirkung zur Einzelfallgerechtigkeit fungiert die unaufwendige Einstellung wegen Geringfügigkeit jetzt als probates Mittel zur Bewältigung des steigenden Arbeitsanfalles. Dieser Funktionswandel der Einstellung wegen Geringfügigkeit ist nicht nur angesichts des wachsenden Geschäftsanfalls und der gebotenen Konzentration auf die Verfolgung und Ahndung schwerwiegender Rechtsbrüche kriminalpolitisch zwingend; er ist auch juristisch legitim, insofern er zumindest tendenziell darauf ausgerichtet ist, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz prozessual zum Durchbruch zu verhelfen. So problematisch aus noch zu erörternden Gründen eine einseitige Ausrichtung des Bagatellisierungskonzepts am Justizentlastungsinteresse auch sein mag: es geht nicht an, diesem Interesse schon deshalb seine juristische Dignität abzusprechen, weil es verfolgungsökonomisch begründet ist41 • Die dritte und letzte Phase der Diskussion um die Behandlung der Bagatelldelinquenz setzt um die Mitte der sechziger Jahre an. Sozialpolitische Reformen und allgemeiner Wohlstand haben dem Verständnis für die weiterhin offenbar42 ständig wachsende Bagatellkriminalität die Grundlage entzogen. Angesichts des, vorhandenen Netzes sozialer Sicherungen und des erreichten allgemeinen Einkommensstandards scheinen einsichtige oder gar billigenswerte Motive für delinquentes Verhalten nicht mehr auffindbar; die gesellschaftliche Einschätzung kleiner Körperverletzungen und Sachbeschädigungen läßt sich mit den 41 So aber Hirsch, Die Behandlung, S.226, vgl. auch S.222; ders., Gegenwart, S. 824 f.; auch Lange, Der Ladendiebstahl, S. 132 spricht von "sachfremden" prozeßökonomischen Erwägungen. 42 Ob die Bagatellkriminalität tatsächlich in dem Umfange zunimmt, wie die Kriminalstatistiken suggerieren, bleibt ungewiß, da nicht sicher ist, ob der Anstieg der statistisch ausgewiesenen Delikte auf eine erhöhte Delinquenz, eine erhöhte Kontrollintensität oder eine erhöhte Anzeigebereitschaft zurückzuführen ist, vgl. dazu Blankenburg u. a., Empirische Rechtssoziologie, S. 402 f.
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Stichworten Rowdytum und Vandalismus, die kleiner Eigentumsund Vermögensdelikte mit dem Begriffspaar überflußgesellschaft und Wohlstandskriminalität umreißenU. Mit dem überhandnehmen im einzelnen unbedeutender, in der Masse jedoch unerträglicher Rechtsbrüche erweist sich das bisherige System staatlicher Verbrechenskontrolle zunehmend als hilflos; das gehäufte Auftreten von Bagatelldelikten wird verstanden als Ausdruck der allgemeinen Orientierungslosigkeit in einer Massengesellschaft, welche ihre gemeinsamen Grundwerte verloren hat oder diese zumindest nicht mehr überzeugend zu artikulieren und gegenüber Normbrüchen durchzusetzen vermag". Einerseits gilt nach wie vor der Satz, daß mit Kanonen nicht nach Spatzen geschossen werden soll; andererseits haben sich - um im Bilde zu bleiben - die Scharen der Spatzen zu einer Plage entwickelt, die nicht länger tatenlos hingenommen werden kann. Das Strafrecht läuft angesichts des Massenphänomens Bagatellkriminalität Gefahr, seine Abschreckungswirkung und seine motivierende Kraft für die Rechtstreue der Bürger vollends einzubüßen; die Bevölkerung spaltet sich in eine Mehrheit derjenigen, die durch die augenscheinliche Ohnmacht der Straf justiz verunsichert und in ihrem Rechtsgehorsam enttäuo;cht werden, und in eine Minderheit, die eben diese Ohnmacht als Freibrief und Einladung zu Rechtsbrüchen mißversteht. Zudem greifen Warenhäuser und Selbstbedienungsläden bei Kaufhausdiebstählen, Verkehrsbetriebe bei Beförderungserschleichung durch Schwarzfahren und größere Unternehmen bei Betriebsdelinquenz verstärkt zu Selbsthilfepraktiken. Eine derartige "stellvertretende Strafrechtspflege" durch Selbstjustiz der Opfer erscheint prinzipie1l45 wie im Detail48 rechts43 In dieser Pauschalität ist jene Einschätzung sicher überzogen; so läßt sich etwa nachweisen, daß Kaufhausdiebstahl entgegen verbreiteter Ansicht kein Wohlstands-, sondern ein Notstandsdelikt ist, durch das der regelmäßig unteren Einkommensschichten entstammende Täter den für ihn auf legalem Wege nicht erreichbaren "normalen" Konsumstandard erstrebt, vgl. hierzu ausführlich Wagner, Ladendiebstahl, S. 108 ff. mit eingehenden Belegen. 44 Vgl. dazu und zu den sich hieraus ergebenden Gefahren durch eine radikale law-and-order-Bewegung Arzt, Der Ruf, S. 19 ff., 143 ff, 45 Unter den Gesichtspunkten der übernahme von konstitutiven Elementen der Privat justiz und der Gesellschaftsgerichtsbarkeit in unser Rechtssystem. Damit werden wir uns bei der Erörterung zivilrechtlicher Sanktionen für Bagatelldelikte auseinanderzusetzen haben. 48 Bedenklich sind Art und Höhe der an den mutmaßlichen Täter gestellten Forderungen, mehr aber noch die Art und Weise, wie sie durchgesetzt werden, und das private Ermittlungsverhalten. Auch darauf wird bei der Erörterung zivilrechtlicher Sanktionen für Bagatelldelikte einzugehen sein. über besonders rüde Praktiken der Warenhausjustiz berichtet Der Spiegel, Nr. 15 vom 10.4. 1978, S. 109. Die Unsicherheit der Rechtsprechung bei der Beurteilung der Zulässigkeit von Bearbeitungsgebühren und Fangprämien Meurer, Die Bekämpfung, S. 25, 115 ff. zitiert 41 zusprechende und 46 klageabweisende Urteile - ist durch die Grundsatzentscheidung BGH NJW 1980,
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staatlich bedenklich, aber angesichts der durch derartige Massendelikte verursachten volkswirtschaftlichen Schäden in Milliardenhöhe 47 solange unumgänglich, wie die staatliche Rechtspflege keine wirksamen Abhilfe möglichkeiten bereitstellt. Dies alles macht ein neuerliches überdenken der Grundsätze sachgerechter Bagatellisierungspolitik erforderlich. 0.2 Das Ungenügen der Alternative: "Bestrafung oder Sanktionslosigkeit" im Bagatellbereich übereinstimmung besteht darüber, daß die kriminalpolitische Ineffektivität des Strafrechts im Bagatellbereich auf der Unzulänglichkeit der gesetzlichen Regelungen und nicht etwa auf einer Unzulänglichkeit der Handhabung dieser Regelungen durch die Rechtsanwendungspraxis beruht. Eine prinzipielle Ursache ist für die diagnostizierte Unzulänglichkeit des Gesetzes maßgeblich: die bisherige Beschränkung strafrechtlicher Reaktionsmöglichkeiten auf die Alternative Bestrafung oder völlige Sanktionslosigkeit. Das bis zum 31. 12. 1974 geltende Recht sieht verschiedene Möglichkeiten eines gänzlichen Sanktionsverzichts für Bagatelldelinquenz vor. Das Strafantragserfordernis und die Verweisung auf den Privatklage119 beseitigt worden; danach ist die Geltendmachung von Bearbeitungskosten unzulässig, die Erhebung einer Fangprämie in angemessenem Umfang (in der Regel bis zu DM 50,-) zulässig. 47 Vgl. die prägnante Kennzeichnung der Problemlage bei Dreher, Die Behandlung, S.921: "Was isoliert gesehen als Bagatelle erscheint, mit der man sich nicht lange abquälen möchte, wird in der großen Addition zu einer die Volkswirtschaft belastenden Lawine." Nach einem Bericht von Wassermann in der Tagespresse (Frankfurter Rundschau vom 28. 12. 1972) soll die Verlustsumme allein durch Ladendiebstähle in der Bundesrepublik für 1968 100 Millionen DM betragen haben; die Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels nennt für 1971 den Betrag von 1 Milliarde. Nach Geerds, über mögliche Reaktionen, S. 227 beläuft sich der durch Kaufhausdiebstähle verursachte Schaden im Jahre 1974 auf einen Betrag zwischen 60 Millionen und 2,5 Milliarden DM. Weitere Nachweise bei Naucke, Gutachten, D 50. Derartige Schätzungen sind wegen der zahlreichen Unsicherheitsfaktoren freilich mit Vorbehalt aufzunehmen, so Kaiser, Möglichkeiten, S. 879; zurückhaltend auch Berckhauer, Soziale Kontrolle, S. 233 f. Die Unsicherheiten der Schadensermittlung beruhen darauf, daß Einigkeit über den Stellenwert der Dunkelziffer (90 bis 95 %) nicht zu erreichen ist und die Berechnung auch Warenschwund aus anderen Gründen wie Bruch, Verderb und Mitarbeiterdiebstähle umfaßt, vgl. dazu Meurer, Die Bekämpfung, S. 8 f. Nach Mitteilung des Bundesverbandes der Selbstbedienungswarenhäuser (BDSW) erreicht die deliktische Schadens summe fast den Gesamtgewinn des Einzelhandels, wobei Kunden, Personal und Anlieferer zu nahezu gleichen Teilen an den Diebstählen beteiligt seien, der durchschnittliche Warenwert pro Delikt bei Personal und Anlieferern jedoch weit höher als bei Kunden liege (Bericht in FAZ vom 17.3.1983).
0.2 Sanktionsbedürfnis ohne Strafbedürfnis
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weg ermöglichen es der Justiz, sich mit bestimmten leichteren Straftaten gar nicht erst zu befassen, soweit ein Strafantrag nicht gestellt bzw. der Privatklageweg nicht beschritten wird. Daneben können eine übertretung oder ein Vergehen, die wegen der Geringfügigkeit des Verschuldens den Aufwand eines Strafverfahrens nicht lohnen, durch Einstellung wegen Geringfügigkeit nach § 153 StPO sanktionslos bleiben. Es liegt auf der Hand, daß völlige Sanktionslosigkeit nicht für sämtliche Delikte mit geminderten Unrechts- oder Schuldgehalt in Betracht kommt; neben der schlechthin überhaupt nicht sanktionsbedürftigen Kleinstkriminalität gibt es einen weiten Bereich der Kleinkriminalität 48 , die schon sanktionsbedürftig ist, ohne daß die volle Härte des Strafgesetzes angemessen wäre. Die gesetzliche Regelung in der bis zum 31. 12. 1974 geltenden Fassung sucht der geminderten Sanktionsbedürftigkeit der Kleinkriminalität Rechnung zu tragen, indem sie materiellrechtlich privilegierte Vergehenstatbestände und die mit einem verringerten Strafrahmen versehene Deliktskategorie der übertretungen (§ 1 Abs.2 StGB a. F.) sowie prozeßrechtlich die vereinfachten Verfahrensweisen des auf übertretungen beschränkten Strafverfügungsverfahrens (§§ 413 ff. StPO a. F.), des beschleunigten Verfahrens (§§ 212 ff. StPO), des Privatklageverfahrens (§§ 374 ff. StPO) und des Strafbefehlsverfahrens (§§ 407 ff. StPO) vorsieht. Diese Regelung erweist sich im Hinblick auf die bislang mit dem Bagatellprinzip verbundenen Zielvorstellungen der Herstellung materieller Einzelfallgerechtigkeit und der Justizentlastung als wenig befriedigend.
Da die sanktionslose Einstellung wegen Geringfügigkeit nur für den begrenzten Bereich der Kleinstkriminalität in Betracht kommt, ist ihr Anwendungsrahmen und damit der erzielbare Entlastungseffekt beschränkt49 • Auch die Deliktskategorie der übertretungen trägt zur Entlastung der Justiz nicht viel bei; mangels eines zwingend vorgeschriebenen vereinfachten Verfahrens für Übertretungen kann sich deren prozessuale Behandlung ebenso aufwendig gestalten wie bei schwerwiegenden Taten50• Der eigentliche Entlastungseffekt wird erzielt durch das sich auch auf den Vergehensbereich erstreckende Strafbefehlsverfahren; seine praktische Bedeutung erhellt etwa daraus, daß in den Jahren 1971 bis 1973 über die Hälfte der bei den Amtsgerichten anhängig gewordenen Strafverfahren Fälle eines Antrags auf Strafbe48 Nauck:e, Gutachten, D 13 bezeichnet den Bereich der Kleinkriminalität als schon strafwürdig; diese Kennzeichnung ist mißverständlich, insofern sie den Schluß nahelegt, daß Strafe die einzig angemessene Sanktion auf Kleinkriminalität sei. 49 Kausch, Der Staatsanwalt, S. 26; Sessar, Legalitätsprinzip, S.159. 50 Kausch, Der Staatsanwalt, S.27.
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fehlserlaß sind, von denen fast vier Fünftel zu rechtskräftigen Strafbefehlen führen51 • Damit ist man für die Kleinkriminalität nur unter dem Gesichtspunkt der unaufwendigen Erledigung einer angemessenen Behandlung des Bagatellproblems nähergekommen; was die Angemessenheit der Rechtsfolge anbelangt, ist man von einer sachgerechten, nicht übermäßigen Reaktion auf verringerte Sanktionsbedürftigkeit weit entfernt. Die Diskriminierungswirkung der Kriminalstrafe bleibt dem KleinkriminelIen weder durch die Deliktskategorie der übertretungen noch durch die vereinfachten Verfahrensweisen erspart. Auch die Rechtsfolge der übertretungstatbestände ist Kriminalstrafe; sie trägt zudem den Makel der inzwischen allseits verpönten kurzzeitigen Freiheitsstrafe. Durch die vereinfachten Verfahrensweisen erlangt der Täter lediglich den Vorteil einer schnellen und kostengünstigen Aburteilung, die beim Strafbefehl und der Strafverfügung zudem diskret, weil im schriftlichen Verfahren, erfolgt; diesem Vorteil stehen die Nachteile der kursorischen, oft oberflächlichen Beweiswürdigung und der beschränkten Anhörung des Beschuldigten gegenüber5!. Weil die Reaktionsweisen auf Kleinkriminalität sich nach bisherigem Recht in einer Strafmilderung erschöpfen, die Diskriminierungswirkung der Kriminalstrafe aber uneingeschränkt beinhalten, sind sie unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten fragwürdig. Relative Bagatellen, deren völlige Sanktionslosigkeit nicht mehr vertretbar ist, die aber dennoch eine deutlich verminderte Sanktionsbedürftigkeit aufweisen, werden damit qualitativ auf dieselbe Stufe gestellt wie echtes Kriminalunrecht, das der nachdrücklichen Ahndung durch Strafe bedarf. Die Alternative Bestrafung oder völlige Sanktionslosigkeit erweist sich für die Kleinkriminalität als nicht sachgerecht: die bisherige gesetzliche Regelung versetzt die Strafjustiz in die Lage des Arztes, der sich vor die Wahl gestellt sieht, den Patienten entweder ohne medikamentöse Hilfe seinem Leiden zu überlassen oder ihm eine Arznei zu verabreichen, die sich als überdosis darstellt; zwischen Sanktionsverzicht auf der einen und Kriminalstrafe auf der anderen Seite klafft eine breite Lücke, innerhalb derer eine sachgerechte Reaktion auf Kleinkriminalität anzusiedeln ist. Freilich darf nicht übersehen werden, daß das Bedürfnis nach Erweiterung des strafrechtlichen Reaktionenkatalogs auf Kleinkriminali51 Hünerfeld, Kleinkriminalität, S.923 m. w. N. Nach Blankenburg, NichtKriminalisierung, S. 180 wird von den staatsanwaltschaften im Bundesdurchschnitt ebenso häufig Strafbefehlsantrag gestellt wie Anklage erhoben. Vgl. auch die neueren Angaben bei Rieß, Statistische Beiträge, S. 300. 5! Vgl. hierzu Eser, Das rechtliche Gehör, S. 660 ff.; R. Schmitt, Das Strafverfahren, S. 643; Hünerfeld, Kleinkriminalität, S. 923 ff.
0.2 Sanktions bedürfnis ohne Strafbedürfnis
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tät aus Einzelfallgerechtigkeitserwägungen resultiert. Justizökonomisch betrachtet hat sich jedenfalls die Erledigung im Strafbefehlswege eindeutig bewährt. Der Strafbefehl ist die adäquate "Normalfigur" bei häufig vorkommenden, bürokratisch zu erledigenden Delikten; Normalfigur deshalb, weil er routinisiertes und damit zeitsparendes Entscheiden ermöglicht und wegen der einfachen Handhabbarkeit keine rechtlichen Schwierigkeiten bereitet53 • Seine schematische und formularmäßige Fassung erlaubt - etwa durch die Verwendung von Textautomaten - eine Entpersonalisierung, ja Automatisierung des routinemäßigen Subsumtionsvorgangs5'. Die Effektivität des Strafbefehlsverfahrens wird durch die damit verbundene Rechtsfolge der Kriminalstrafe nicht in Frage gestellt, im Gegenteil: der Strafbefehl ermöglicht die unaufwendige Behandlung der Kleinkriminalität gerade dadurch, daß er unter Inkaufnahme einer unangemessenen Reaktion im Einzelfall das eingefahrene Instrument der Kriminalstrafe - namentlich der taxenmäßig gehandhabten Geldstrafe55 - als die bei einer Verurteilung allein zulässige Rechtsfolge vorsieht. Zudem hat die seit Mitte der sechziger Jahre konstatierte kriminalpolitische Ineffektivität des Strafrechts im Bagatellbereich die Einsicht bestärkt, daß die bislang mit dem Bagatellprinzip verknüpften Zielvorstellungen der Herstellung materieller Einzelfallgerechtigkeit und der Justizentlastung ergänzungsbedürftig sind durch eine weitere Aufgabenbestimmung: Generalprävention durch Steigerung der Abschreckungswirkung und Bestätigung von Normkonformität. In dem Maße, wie Bagatelldelinquenz nicht mehr motivational aus wirtschaftlichen Notlagen nachvollziehbar ist, sondern sich als Ausdruck allgemeiner Orientierungslosigkeit in einer zunehmend permissiver werdenden Gesellschaft darstellt, macht die Suche nach individuellen Erklärungen für geringfügige Deliktsverwirklichungen der generellen Deutung dieser Rechtsbrüche als einer symbolischen Aufkündigung von Vertrauen und Gehorsam gegenüber dem Staat Platz. Es gilt, dem Schwinden grundlegender gesellschaftlicher Wertvorstellungen Einhalt zu gebieten und Geltungskraft wie Durchsetzungsfähigkeit der Rechtsordnung unter Beweis zu stellen; damit wächst das Bedürfnis, den strafrechtlichen Schutz anerkannter Güter gerade im Bagatellbereich mit durchgreifenden Maßnahmen zu verstärken, auch wenn diese im Einzelfall womöglich überzogen sind. Das wirksamste Mittel hierfür stellt nach wie vor die KriTreiber, Die Macht, S. 451 unter Berufung auf Lautmann. Treiber, Die Macht, S. 452. 55 Inzwischen ist die Verhängung von Freiheitsstrafe im Strafbefehlsverfahren überhaupt nicht mehr zulässig. Zur taxenmäßigen Handhabung der Geldstrafe vgl. Albrecht, Strafzumessung, S. 97 ff., 207 ff. 53
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minalstrafe dar; gerade weil sie nachhaltig diskriminierend wirkt, ist ihre Androhung und konsequente Durchsetzung am besten geeignet, potentielle Täter abzuschrecken und die Allgemeinheit in Rechtstreue zu bestärken. So findet sich die kriminalpolitische Diskussion in einem Dilemma: einerseits erscheint Strafe als Antwort auf Kleinkriminalität als Überreaktion, andererseits ist Generalprävention geboten, wie sie am wirksamsten gerade durch Strafe zu erzielen ist. Dennoch steht ein verstärktes Gebrauchmachen von Strafe zur Eindämmung der Kleinkriminalität nicht ernsthaft zur Debatte. Die Nachdrücklichkeit der Strafe verlangt auch im Bagatellbereich den Aufwand des peniblen rechtsstaatlichen Prozesses, der hier weder aus Kapazitätsgründen erbringbar noch überhaupt zweckmäßig erscheint; das Idealbild der gravitätischen Distanziertheit des rechtsstaatlichen Strafrechts nach dem puristischen Modell des vergangenen Jahrhunderts ist unwiederbringlich einer den "Sachzwängen" moderner Verbrechensbekämpfung unterworfenen strafrechtlichen Pragmatik gewichen, die unmittelbare Effizienz verspricht, ohne an rechtsstaatlichen Einwänden deutlich zu scheitern5ft • Zudem stehen die Zeichen der Zeit eindeutig auf Rücknahme der Strafzone und Einschränkung der Kriminalisierung. Aus der Einsicht, daß der Kranke um so sicherer stirbt, je mehr Arznei er bekommt, sind die Gerichte zunehmend bedacht auf die Vermeidung der Freiheitsstrafe durch vermehrte Verhängung von Geldstrafen und Gewährung von Strafaussetzung zur Bewährung. Gleichzeitig durchforstet der Gesetzgeber das Strafrecht nach obsolet gewordenen Strafvorschriften, schafft die kurze Freiheitsstrafe ab, stuft vormals strafbewehrte Tatbestände zu Ordnungswidrigkeiten herab und verzichtet auf die Kategorie der Übertretung im Strafrecht. In diesem kriminalpolitischen Klima läßt sich die Forderung nach kategorischer Bestrafung der Bagatellkriminalität, durch die das Rad der Rechtsgeschichte auf den Zustand vor 1924 zurückgedreht würde, nicht ernsthaft erheben67 • Als ebenso ungangbar wie der Weg der Bestrafung erweist sich der andere extreme Lösungsweg: der Verzicht auf jegliche Ahndung von Bagatellkriminalität. Solange der Blick an der Geringfügigkeit des Einzelfalls verhaftet blieb und der verfolgungsökonomische Entlastungseffekt den Ausschlag gab, ließ sich ein genereller Ahndungsverzicht mit guten Gründen vertreten. Diese Voraussetzungen sind inzwischen entfallen und haben der Einsicht Platz gemacht, daß auf eine Sanktionierung der Bagatellkriminalität nicht völlig verzichtet werden kann, 6ft
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Naucke, Gutachten, D 82 f. Naucke, Gutachten, D 83.
0.2 Sanktionsbedürfnis ohne Strafbedürfnis
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um die Einübung der Gesellschaft in Rechtstreue anzuleiten und volkswirtschaftliche Schäden abzuwenden58 • Die Forderung nach genereller Sanktionslosigkeit im Bagatellbereich wird neuerdings genährt durch kriminologische Untersuchungen in den USA, wonach jedwede aus Anlaß einer Straftat gegenüber dem Täter getroffene Maßnahme als präventiv ungeeignet eingeschätzt und allein eine vorbeugend-gesellschafts bezogene Kriminalitätsverhütung befürwortet wird. Das daraus abgeleitete kriminalpolitische Konzept einer "radikalen Nonintervention"5a stützt sich bislang freilich eher auf ein demagogisches Potential denn auf sachlich abgesicherte Argumente. Daß die Kriminalitätsprophylaxe mit den derzeit zu Gebote stehenden Möglichkeiten reaktive Interventionen nicht entbehrlich macht, ist augenscheinlich; die Entwicklung der Bagatellkriminalität allein vorbeugend steuern zu wollen und völlig ohne Reaktion gegenüber dem Rechtsbrecher auf ein Schrumpfen oder zumindest Stagnieren der Kriminalitätsrate zu hoffen, wäre Illusion. Die berechtigte Skepsis gegenüber der präventiven Wirksamkeit reaktiver Intervention impliziert die Forderung nach weiterem Ausbau der vorbeugenden Verbrechensverhütung, rechtfertigt aber nicht, auf Reaktionen ersatzlos zu verzichten. Der generelle Interventionsverzicht im Bagatellbereich läßt sich nur von einem radikalen Gesellschaftsbild aus formulieren, welches die Kriminalitätsursachen allein in den ökonomischen Produktionsbedingungen der kapitalistisch strukturierten Gesellschaft sucht und deshalb einzig auf Kriminalitätsverhütung durch Veränderung der Gesellschaftsstruktur setzt; diese von der "radikalen" und "kritischen" Kriminologie80 propagierte Forderung einer Kriminalitätsprophylaxe durch staatliche Reglementierung "kriminogener" Wirtschaftsbereiche - etwa die Einschränkung der Vertriebsform Selbstbedienung - hat in der Diskussion um die Behandlung der Bagatellkriminalität wenig Widerhall gefunden61 • Damit ist freilich die Notwendigkeit spezifisch repressiver Verhaltenssteuerung mittels Sanktionen noch nicht ausgemacht; die präven58 In diesem Sinne Dreher, Die Behandlung, S. 920 f.; Naucke, Gutachten, D84f. 59 Das Wort stammt vom gleichnamigen Titel eines Buchs des Kriminalsoziologen Edwin M. Schur (Radical Nonintervention. Rethinking the Deliquency Problem, 1973). Eine deutschsprachige übersicht über dieses Konzept findet sich bei Jescheck, Strafrecht AT, § 70 H. 80 Vgl. die Beiträge in: Critical Criminology sowie Baratta, Strafrechtsdogmatik, S. 119 ff. 81 Soweit ersichtlich, wird diese Position nur von Schoreit mit Einschränkungen vertreten, vgl. Schoreit, Der im Zusammenhang, S. 49 ff.; ders., Strafrechtlicher Eigentumsschutz. Dagegen Naucke, Gutachten, D 106 ff.; Meurer, Die Bekämpfung, S. 35 ff. Einen völligen Sanktionsverzicht im gesamten Bereich der Vermögensdelinquenz propagiert Plack, Plädoyer, S. 323 ff.
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O. Bagatellprinzip und Strafrechtsbegrenzung
tive Wirksamkeit von Sanktionen wird zunehmend in Zweifel gezogen61a und statt dessen neben prophylaktischen Maßnahmen ein Ausbau repressionsfreier helfender Intervention gefordert. Auf weitestgehend repressionsfreie Motivationsanreize zu Normkonformität setzt das Konzept der "Diversion"Ub. Danach soll die Austragung der aus Straftaten erwachsenden sozialen Konflikte "umgeleitet" werden in die Kanäle privater Schlichtung, leistungsgewährender Hilfen und freiwilliger Therapieangebote. Das Potential informeller Konfliktlösung, die an die Stelle justizieller Konfliktentscheidung treten soll, ist hier und heute längst nicht ausgeschöpft. Alternativen zu einer justizförmigen Konfliktregelung werden namentlich in den USA mit beeindruckendem Erfolg praktiziert. In Neighborhoud Justice Centers61e wird der Gemeinschaftsgedanke zum Abbau sozialer Spannungen im persönlichen Nahraum genutzt. Victim Assistance Programs61d offerieren Opfern von Straftaten Hilfen vielfältiger Art - von materieller Unterstützung über Gesprächstherapien bis zur Rechtsberatung. Speziell zur informellen Bewältigung kleinerer und mittlerer Kriminalität ist das außergerichtliche Vermittlungsverfahren in Citizen Dispute Settlements61e bestimmt. Diese Institutionen, deren Inanspruchnahme vom Einverständnis des Beschuldigten und des Opfers abhängt, bieten ein Forum zur gegenseitigen Aussprache und privaten Streitbeilegung. Gegenstand des Vermittlungsprogramms ist nicht unmittelbar die Tat, sondern die aus Anlaß der Tat eingetretene Störung des zwischenmenschlichen Verhältnisses. Ziel des Programms ist die Aufarbeitung von Konfliktursachen aus dem reziproken Selbstverständnis der Beteiligten. Die Aufgabe des Vermittlers beschränkt sich auf die Ingangsetzung des Dialogs nach dem Muster einer "Familienkonferenz"81 f . Die Möglichkeiten und Grenzen der übertragbarkeit solcher Diversionsstrategien auf unseren Rechtskreis sind bislang weder kriminologisch noch rechtsstaatlich hinlänglich geklärt61g • Sicher ist indes, daß Dazu nunmehr grundlegend Hassemer, Einführung, S. 287 ff. Zur Diversion generell vgl. Christie, Konflikte; Jescheck, Strafrecht AT, § 70 1I.2.; RöhllRöhl, Alternativen. Zu den diesbezüglichen amerikanischen Erfahrungen Palmer, The Evaluation sowie Herriger, Gemeindebezogene Konzepte. Zur übertragbarkeit auf unser Rechtssystem vgl. die Beiträge in: Diversion sowie die Berichte über internationale Fachtagungen zu diesem Thema in Dortmund (Kury /Lerchenmüller, RdJ 1980, S. 488 ff.) und in Tutzing (Kühnert, Die Zeit Nr. 13 v. 20.3. 1981, S. 16). Sie Dazu McGillis/Mullen, Neighborhoud Justice Centers. 61d Dazu Weigend, Assisting the Victim. Sie Dazu RöhllRöhl, Alternativen, S. 35 ff. mit Nachweis der erstaunlichen Erfolgsquoten. 61f Vgl. RöhllRöhl, Alternativen, S. 35 ff. Gig Müller-Dietz, Grundfragen, S. 53. 61a
81b
0.2 Sanktionsbedürfnis ohne Strafbedürfnis
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aufgrund der Einschränkung der Verfolgungspflicht durch das Opportunitätsprinzip auch bei uns ein Freiraum zur nichtjustiziellen Schlichtung aus Straftaten erwachsender sozialer Konflikte besteht, und daß auch das justizförmige Verfahren übergänge zu einer informellen Streitbeilegung eröffnet81h• Namentlich auf die Möglichkeit, durch Auferlegung einer Wiedergutmachungsverpflichtung anstelle einer (sonstigen) Sanktion einen Ausgleich zwischen Beschuldigtem und Opfer zu bewirken, wird später zurückzukommen sein. Für die Annahme, daß eine Aufarbeitung der Ursachen aus Straftaten erwachsender sozialer Konflikte spezialpräventiv ungleich wirkungsvoller als eine Sanktionierung ist, spricht vieles. Wie weit freilich die Beseitigung sozialer Konflikte durch Sozialisierung des Bagatelltäters gehen darf, ist eine offene Frage; Sozialisierungsprogramme jedenfalls halten darauf keine Antwort bereit. Der Umfang therapeutischer Maßnahmen bemißt sich nach der Therapiebedürftigkeit und nicht nach dem Ausmaß der Rechtsverletzung; was therapeutisch geboten erscheint, stellt sich in Anbetracht eines geringen Unrechts- und Schuldgehalts der Tat regelmäßig als übermaß dar. Die Eingriffsintensität therapeutischer Interventionen, die auf eine umfassende Verhaltenssteuerung - auch im nichtkriminellen Bereich - abzielen, ist keineswegs notwendig geringer als diejenige der vom Ausmaß der Tatschuld abhängenden SanktionenUi ; gerade im Bagatellbereich stellt sich mit Nachdruck die Frage, wer den Rechtsbrecher vor den wohlmeinenden Therapeuten schützt. Womöglich ist für den Bagatelltäter die tatangemessene Sanktionierung oder zumindest der förmliche Schuldspruch die beste Therapie. Wenn überhaupt die das strafrechtliche Schuldprinzip bestimmende Annahme individueller Zurechenbarkeit von Tatverantwortung61j spezialpräventive Wirkungen im Sinne eines Appells an das Verantwortungsbewußtsein des Täters zeitigt, dann hier; anders als der Gewohnheitstäter oder der Schwerkriminelle ist der kleine Gelegenheitstäter ungleich eher fähig, aus (negativen) Erfahrungen zu lernen. Psychoanalytische Untersuchungen stützen die Annahme, daß Freiheit trotz 61h Man denke nur an das der Privatklage regelmäßig vorgeschaltete Sühneverfahren vor dem Schiedsmann, den gerichtlichen Vergleich im Privatklageverfahren, die Einstellung wegen Geringfügigkeit aus dem Gesichtspunkt fehlenden Verfolgungs interesses des Opfers und die Möglichkeit der Auferlegung immaterieller Wiedergutmachungsweisungen nach dem JGG. Zur individuell friedenstiftenden Funktion speziell des Privatklageverfahrens neuerdings Schauf, Entkriminalisierungsdiskussion. 811 Darauf wird später zurückzukommen sein. 61j Hierauf wird im Rahmen der Erörterung der Schuldzurechnung einzugehen sein; zu der vom Schuldprinzip beanspruchten spezialpräventiven Wirkung vgl. vorab Krauß, Das Prinzip, S. 85 ff.; Lüderssen, Das Unbewußte.
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o. Bagatellprinzip und Strafrechtsbegrenzung
unterschiedlicher soziostruktureller Ausgangsbedingungen erlernbar ist, und daß gerade die Zuschreibung von Verantwortung für Fehlverhalten das geeignete Mittel ist, um diesen Lernprozeß anzuleiten61k • Die Einsicht in die Gesellschaftsbedingtheit krimineller Auffälligkeit rechtfertigt darum nicht, das Prinzip der subjektiven Zurechnung ausgerechnet im Bagatellbereich über Bord zu werfen. Auch und insbesondere in generalpräventiver Hinsicht ist ein völliger Sanktionsverzicht derzeit nicht akzeptabel. Daß informelle Schlichtungs- und Behandlungsstrategien als alleinige Antwort auf Bagatellkriminalität von der Gesellschaft für zureichend angesehen würden, muß bezweüelt werden. Die Kriminalitätsangst der Bevölkerung und das korrespondierende Sanktionsbedürfnis nähren sich keineswegs bloß aus der durch die Medien vermittelten Darstellung der Schwerkriminalität, sondern gerade aus dem tagtäglichen Erleben kleinerer Rechtsbrüche aus persönlicher Anschauung&ll. Ein Verzicht auf jegliche Sanktionierungsmöglichkeit im Bagatellbereich hätte auf Rechtsbewußtsein und Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung unabsehbare Auswirkungen, die nicht ohne weiteres in Kauf genommen werden können61m ; dies wird in der Folge eingehend zu belegen sein. Ob und gegebenenfalls welche Sanktionen tatsächlich geeignet sind, Bagatellkriminalität einzudämmen, steht auf einem anderen Blatt. Gewiß spricht nicht jede rechtmäßige Sanktionierung das Rechtsbewußtsein der Allgemeinheit positiv an81n ; und gewiß funktioniert der Abschreckungsmechanismus einer Sanktionsdrohung nicht im Sinne eines simplen Verhaltensstimulus wie das Heben des Stockes gegenüber dem Hund61o • Dennoch kann schwerlich geleugnet werden, daß die Randbedingungen, unter denen Sanktionen verhaltenssteuernd wirken, im Bagatellbereich vergleichsweise günstig sind. Die Verbotswidrigkeit der Bagatelldelinquenz, die sich auf vom Alltagswissen umfaßte Kriminalitätsbereiche konzentriert, ist im Rechtsbewußtsein der Bevölkerung fest verankert: daß man in Selbstbedienungskaufhäusern nicht stehlen, am Arbeitsplatz nichts entwenden, im Wirtshaus keine tätliche Auseinandersetzung anzetteln darf, weiß man, auch wenn man sich nicht unbedingt danach verhält. Auch ist die Annahme nicht von der Hand 61k Vgl. Lüderssen, Das Unbewußte, der daraus die Möglichkeit der Arrangierung der Psychoanalyse mit dem strafrechtlichen Zurechnungsprinzip ableitet. 811 Vgl. Arzt, Probleme, S. 121. 61m Tendenziell ebenso Müller-Dietz, Das Bagatellprinzip, S.540 mit Nachweisen zu gleichlautenden Stellungnahmen im österreichischen Schrifttum in Fußnote 102. GIn So Pallin, Generalprävention, S. 122. 810 Vgl. Hassemer, Einführung, S. 291 f.
0.2 Sanktions bedürfnis ohne Strafbedürfnis
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zu weisen, daß im strafrechtlichen Bagatellbereich ähnlich wie im Ordnungswidrigkeitenbereich eine verhaltenssteuernde Einwirkung auf Psyche und Bewußtsein allenfalls durch Sanktionen möglich ist. Anders als im Kernbereich des Strafrechts haben im Bagatellbereich soziale und ethische Motivationen zu normgemäßem Verhalten ihre Verpflichtungskraft weitgehend eingebüßt; weil die Tabuschranke, deretwegen man üblicherweise strafbewehrte Verhaltensweisen unterläßt, bei der bagatellarischen Massenkriminalität abgebaut ist, bedarf es anderer Verhaltensregulative, um die brüchig gewordene Verpflichtungskraft sozialethischer Normen flankierend zu untermauern. Wieso die Sanktionsfurcht als Verhaltens regulativ hier nicht wirken soll, wo sie doch bei Ordnungswidrigkeiten unbestreitbar im Vordergrund steht (das Falschparken unterläßt man typischerweise nicht aus Rechtstreue oder aus Rücksichtnahme, sondern allein wegen der zu gegenwärtigenden Buße)6lP ist nicht einzusehen. Sicher wird die Sanktionsfurcht wegen der hohen Dunkelziffer massenhafter Kleinkriminalität durch die geringe Entdeckungswahrscheinlichkeit relativiert; insofern wird es nicht auf einschneidende Sanktionsdrohungen, sondern auf die Bereitstellung von Möglichkeiten zu deren intensiver und gleichmäßiger Durchsetzung ankommen6lQ . In dem Maße, wie dies gewährleistet wird, ist der Sanktionsdrohung im strafrechtlichen Bagatellbereich eine motivierende Kraft nicht abzusprechen. Weil die - nur in ihrer Radikalität konsequenten - Lösungsvorschläge einer kategorischen Bestrafung bzw. einer unbedingten Sanktionslosigkeit seit Mitte der sechziger Jahre nicht mehr zur Disposition stehen, hat sich der Regelungsspielraum für Bagatelldelinquenz reduziert und zugleich die Regelungsmaterie verkompliziert. Gefragt ist nunmehr ein Reaktionsmodell, das gleichzeitig nachhaltig Abschrekkungswirkung entfaltet, organisationsspezifische Kapazitätsprobleme löst und Einzelfallgerechtigkeit in einem rechtsstaatlich organisierten Verfahren herstellt. Das Modell soll um der Einzelfallgerechtigkeit und der geringeren Sanktionsbedürftigkeit willen Bagatelldelikte von einer Bestrafung ausnehmen - und dennoch um der Verhaltenssteuerung willen nicht grundsätzlich auf eine Ahndung verzichten; es soll einfach und zügig zu handhaben sein - und doch rechtsstaatlichen Anforderungen Genüge tun. Die Antinomie dieser Zielsetzungen - ihre je vollständige Verwirklichung führt zu je unterschiedlichen Regelungen - erhellt, daß jeglicher konkrete Lösungsvorschlag scheitern muß, 8lp Auf Unterschiede in der sozialpsychologischen Einschätzung von strafrechtlichem Bagatellunrecht und Ordnungsunrecht wird später einzugehen sein. 6lQ So bereits oben Kap. 0., S. 24 f.
O. Bagatellprinzip und Strafrechtsbegrenzung
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wenn nicht Präferenzen gesetzt und dementsprechend Abstriche an den Zielsetzungen hingenommen werden. Der aktuelle Stand der Diskussion ist gekennzeichnet durch die Frage, wo diese notwendig,en Präferenzen zu setzen sind. Niemand will ernstlich ein streng rechtsstaatliches Verfahren für Bagatelldelikte, welches in seiner Aufwendigkeit an Kapazitätsproblemen scheitern muß; ebensowenig will niemand die volle Konsequenz aus einem rein an optimaler Effizienz ausgerichteten Reaktionsmodell, das auf Billigkeitserwägungen und Rechtsstaatlichkeitsgrundsätze keinen Wert legt 62 • So einig man sich darüber ist, daß nach einer pragmatischen Lösung gesucht werden muß, die keinen der erörterten Aspekte des Bagatellproblems über Gebühr vernachlässigt, so uneinig ist man sich über die Inhalte dieser Lösung. Eines jedenfalls ist augenfällig: einen goldenen Mittelweg, der alle bislang erarbeiteten Maximen zur Reaktion auf Bagatelldelinquenz aufgreift und gleichermaßen berücksichtigt, kann es nicht geben.
82
Ebenso Naucke, Gutachten, D 82 f.
1. Die Konzeption des EGStG B 1 In diesem Zustande wissenschaftlicher Ratlosigkeit gerät der Gesetzgeber unter Zugzwang: eine Vertagung der Neugestaltung der Bagatellvorschriften, die bis dahin nur die als unzureichend erkannte Alternative Bestrafung oder Sanktionslosigkeit vorsehen, erscheint nicht länger vertretbar. Es bedarf einer Regelung, die es gestattet, Bagatelldelikte nicht zu bestrafen, ohne damit gänzlich auf eine Reaktion zu verzichten; Steigerung der Abschreckungswirkung durch grundsätzliche Ahndungsmöglichkeit im Bagatellbereich bei gleichzeitiger Entkriminalisierung geringfügiger Taten ist das Gebot der Stunde. Da die Wissenschaft hierfür eine überzeugende und praktikable Gesamtkonzeption nicht vorweisen kann, liegt es nahe, keine völlig neuen, theoretisch unabgesicherten Reaktionsinstrumente zu schaffen, sondern eine Änderung des bisherigen Rechts nur dort ins Auge zu fassen, wo dies den gewandelten kriminalpolitischen Bedürfnissen entsprechend unumgänglich ist. Der Gesetzgeber unternimmt aufs Neue den Versuch, die Forderung nach Konzentration des Strafrechts auf die Bekämpfung schwerwiegender Rechtsbrüche zumindest annäherungsweise einzulösen. Die ersatzlose Abschaffung der Deliktskategorie der übertretungen2 stellt den wichtigsten Schritt hierzu dar. Soweit auf die Ahndung von übertretungen nicht völlig verzichtet werden kann, wird diese durch überführung der ehemaligen übertretungstatbestände ins Ordnungswidrigkeitenrecht erreicht. Das Ordnungswidrigkeitenrecht hat sich zum bevorzugten Mittel zur generell nichtstrafrechtlichen Ahndung abweichenden Verhaltens entwickelt; es verbindet die Vorzüge der Entkriminalisierung und der weitgehenden Justizentlastung3 mit der AbschrekEGStGB vom 2. 3. 1974 (BGBl. I, 469), in Kraft getreten am 1. 1. 1975. Mit der Aufhebung der Kategorie übertretungen verliert das auf diese Deliktskategorie beschränkte Strafverfügungsverfahren seine Daseinsberechtigung und wird ebenfalls aufgehoben; kritisch dazu Naucke, Gutachten, D 26. 3 Freilich wird die Entlastung der Justiz erkauft durch eine Belastung der Bußgeldbehörden. Auch entfaltet der Justizentlastungseffekt durch das Ordnungswidrigkeitenrecht nicht die ursprünglich erhoffte Wirksamkeit: im Zeitraum von 1971 bis 1978 stieg die Zahl der gerichtlichen Bußgeldverfahren bei den Amtsgerichten (ohne Erzwingungshaftanträge) von 186000 auf 482000, die der Rechtsbeschwerden und Zulassungsanträge bei den Oberlandesgerichten von 3390 auf 10 737, so Rieß, Die Zukunft, S.2, Fußnote 12. Nachweise auch bei Krüger, Probleme, S. 1642. 1 2
4 Kunz
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1.
Konzeption des EGStGB
kungswirkung zum Teil drastischer Geldbußen. Damit entspricht die Umwandlung ehedem strafbewehrter übertretungen in Ordnungswidrigkeiten vollkommen den kriminalpolitischen Zielvorstellungen im Bagatellbereich. Zudem ist sie Ausdruck einer kontinuierlichen rechtspolitischen Entwicklung. Seit Inkrafttreten des OwiGs im Jahre 1952 hatte der Gesetzgeber keine neuen übertretungstatbestände mehr geschaffen. Mit der Neufassung des OwiGs im Jahre 1968 wurden die Verkehrsübertretungen zu Ordnungswidrigkeiten herabgestuft. Das 2. StRG von 1969 und schließlich das EGStGB markieren die Endpunkte dieser Entwicklung. Das Ordnungswidrigkeitenrecht ermöglicht in seiner bisherigen Konzeption freilich nur eine partielle Entlastung des Strafrechts im Bagatell bereich. Nach überlieferter Auffassung ist das Ordnungswidrigkeitenrecht im Gegensatz zum Strafrecht sozialethisch indifferent und auf den Schutz von Verwaltungsinteressen zugeschnitten'. Eindeutig einen Bruch in der erwähnten rechtspolitischen Kontinuität würde es darum bedeuten, auch solche Straftatbestände ins Ordnungswidrigkeitenrecht zu überführen, die sozialethisch anerkannte Individualrechtsgüter schützens. Der Gesetzgeber kann sich deshalb nicht dazu entschließen, die Bagatellkriminalität etwa im Eigentums- und Vermögensbereich dem Ordnungswidrigkeitenrecht zu unterstellen6 • Da ihm weder eine Auslagerung aus dem Strafrecht noch ein völliger Sanktionsverzicht vertretbar erscheinen, führt der Wegfall der übertretungen und weiterer Vergehensprivilegierungen dazu, daß die ehemaligen Privilegierungstatbestände Mundraub, Notentwendung und Notbetrug oder auch Feld- und Forstdiebstahl, der qua Landesrecht als übertretung galt, nunmehr den Grundtatbeständen des Diebstahls, der Unterschlagung und des Betruges unterworfen werden. Mit dieser uneingeschränkten und pauschalen Eingliederung in den Kernbereich strafrechtlichen Unrechts ist der Unterschied zwischen leichten und normal schweren Eigentums- und Vermögens delikten vollends eingeebnet und der Restbestand einer quantitativ abgestuften Bewertung der Bagatelldelikte im materiellen Recht beseitigt7 • Hier rächt sich der Formalismus, der eine Konzentration des Strafrechts auf schwerwiegende Rechtsbrüche durch ersatzlose Streichung von Privilegierungstatbeständen zu erreichen sucht. Weil man auf eine 4 Ob diese noch heute verbreitete Auffassung zutrifft, wird später ausführlich zu prüfen sein. S Dennoch wird dies in Teilen der Literatur gefordert; auch dazu später ausführlich. 6 Zu den Gründen hierfür vgl. Naucke, Gutachten, D 32 f. 7 Vgl. Ahrens, Die Einstellung, S. 14 ff.; Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 55 f.
1. Konzeption des EGStGB
51
strafrechtliche Ahndung der leichten Eigentums- und Vermögensdelinquenz nicht verzichten zu können glaubt, zwingt die Abschaffung der auf Bagatelldelikte gemünzten Sonderbestimmungen zu einer materiellrechtlichen Gleichbehandlung dieser Delikte mit gravierenden Straftaten. Das Entkriminalisierungsanliegen verkehrt sich damit in sein Gegenteil: der unter dem Stichwort Konzentration des Strafrechts auf schwerwiegende Rechtsbrüche betriebene Fortfall genereller gesetzlicher Milderungen führt zu der paradoxen Konsequenz, daß bagatell arische Strafrechtsverstöße materiellrechtlich als schwerwiegend eingestuft und behandelt werden müssen. Die Rettungsleine, die einen Fluchtweg aus dem überquellenden Straftatenarsenal eröffnen sollte, ist unversehens zur Schlinge geworden, in der sich die Entkriminalisierungspolitik verfängt. Dennoch ist es das erklärte Anliegen des Gesetzgebers, die Bagatelldelikte im Ergebnis nicht den gleichen Rechtsfolgen zu unterwerfen wie die gravierenden Straftaten8 • Als geeignetes Mittel, die entgegengesetzte materielle Entscheidung zu überspielenD und zu kompensieren, wird vom Gesetzgeber das Verfahrensrecht angesehen. So werden nunmehr nach der Bestimmung des § 248 a StGB der Diebstahl und die Unterschlagung geringwertiger Sachen nur mehr auf Antrag verfolgt, es sei denn, daß die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Verfolgungsinteresses ein Einschreiten von Amts wegen für geboten erachtet; entsprechend verhält es sich bei der Begünstigung (§ 257 Abs. 4 Satz 2 StGB), der Hehlerei (§ 259 Abs. 2 StGB), dem Betrug (§ 263 Abs. 4 StGB) , dem Erschleichen von Leistungen (§ 265 a Abs. 3 StGB) und der Untreue (§ 266 Abs. 3 StGB). Die in diesen Vorschriften mit dem Strafantrags erfordernis anvisierte
Siebwirkung, durch die geringfügige Straftaten von den Verfolgungs-
behörden ferngehalten werden sollen, dürfte kaum eine praktische Bedeutung erlangen10• Die meisten der in Frage kommenden Straftaten gelangen den Verfolgungsinstanzen erst durch Anzeige des Geschädigten zur Kenntnis; wer aber die Unannehmlichkeit der Anzeigeerstattung auf sich nimmt, wird bei dieser Gelegenheit regelmäßig auch Strafantrag stellenl1 , zumal die Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen wegen aus Diebstahl resultierender Schäden einen Strafantrag voraussetzt12 • Insofern erschöpft sich die Bedeutung dieser Vorschriften vornehmlich darin, daß sie durch ihre Existenz auf das ProBT-Drucksache 7/1261, S.2, 17; BR-Drucksache S.111/73, S.201, 247. So Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 57. 10 Ebenso Kausch, Der Staatsanwalt, S. 28. 11 Dreher, Die Behandlung, S. 924. 12 Kaiser, Strategien, S.83.
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blem der kleinen Eigentums- und Vermögensdelikte besonders aufmerksam machen l3 • Den Schwerpunkt der verfahrens rechtlichen Sonderbehandlung der Bagatelldelikte machen darum die überarbeitete Bestimmung des § 153 StPO und die neu eingeführte Vorschrift des § 153 a StPO aus.
Die sanktionslose Einstellungsmöglichkeit wegen Geringfügigkeit ist im neuen § 153 StPO gegenüber der früheren Fassung zur Verstärkung des verfolgungsökonomischen Entlastungseffekts in zweierlei Hinsicht erleichtert. Eine raschere und unaufwendigere Behandlung von Bagatellsachen wird zum einen dadurch gewährleistet, daß bei Einstellungen nicht mehr bis zur Anklagereife durchermittelt werden muß; der geänderte Gesetzeswortlaut in Abs.1 Satz 1 ("wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre") fordert als Einstellungsvoraussetzung nicht den sicheren, sondern nur noch einen wahrscheinlichen Tatnachweis und ermöglicht so im Interesse der Prozeßökonomie eine frühzeitige Entscheidung in solchen Fällen, wo abzusehen ist, daß die zur sicheren Überführung des Beschuldigten notwendigen weiteren Ermittlungen weder eine höhere Schuld des Beschuldigten noch ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung erbringen werden14 • Zum anderen ist bei der staatsanwaltlichen Einstellung des Ermittlungsverfahrens eine Zustimmung des Gerichts nicht mehr notwendig bei Vergehen, die gegen fremdes Vermögen gerichtet und nicht mit einer im Mindestmaß erhöhten Strafe bedroht sind, sofern der durch die Tat verursachte Schaden gering ist (§ 153 Abs. 1 Satz 2 StPO). Erfaßt wird damit vornehmlich der Anwendungsbereich des § 248 a StGB und der auf ihn verweisenden Vorschriften. Sinn der Bestimmung ist es, die mit der Zustimmung verbundene Mehrbelastung der Gerichte bei der Masse der im Bereich der Kleinstkriminalität liegenden Vermögensdelikte zu vermeiden15. Den eigentlichen Neuansatz für die Einlösung der mit dem Bagatellprinzip verbundenen Zielsetzungen bildet die Vorschrift des § 153 a StPO. Während § 153 StPO auf Kleinstkriminalität gemünzt ist, soll § 153 a StPO den Bereich der Kleinkriminalität abdecken, bei der zwar auf eine Ahndung nicht verzichtet werden kann, eine Kriminalstrafe jedoch als Überreaktion erscheint und der Aufwand eines Strafverfahrens nicht angebracht ist; die Bestimmung trägt der Einsicht Rechnung, "daß es zahlreiche Fälle im Bereich der kleineren Kriminalität gibt, bei denen eine Einstellung nach § 153 nur deshalb nicht in BeSo Naucke, Gutachten, D 25. BT-Drucksache 7/550, S.298. Kritisch dazu etwa Dencker, Die Bagatelldelikte, S. 148. 15 BT-Drucksache 7/550, S. 298. 13
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tracht kommt, weil es nicht verantwortet werden kann, den Täter ohne jede Sanktion von einer Bestrafung freizustellen"16. Die Vorschrift des § 153 a StPO schafft der Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des Gerichts und des Beschuldigten und subsidiär - nach Anklageerhebung dem Gericht mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeschuldigten die Möglichkeit, durch die Verhängung abschließend näher bestimmter Auflagen und Weisungen das Verfahren ohne Urteil zu beendigen; das Zustimmungserfordernis des Gerichts zu staatsanwaltlichen Einstellungen ist unter den gleichen Voraussetzungen wie bei § 153 StPO entbehrlich (§ 153 a Abs. 1 Satz 6 StPO). Die Einstellung gegen Auflagen bzw. Weisungen knüpft inhaltlich an die sanktionslose Einstellung des § 153 StPO an, indem sie wie dort die Anwendung auf Vergehen beschränkt und das Vorliegen geringer Schuld des Täters voraussetzt, die hier freilich positiv festgestellt werden muß 17, erweitert § 153 StPO aber durch die Möglichkeit, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung, das hier im Gegensatz zu § 153 StPO besteht, durch die Erfüllung der angeordneten Auflagen bzw. Weisungen zu beseitigen. Die Begriffe "geringe Schuld" und "öffentliches Interesse" sind in beiden Vorschriften deckungsgleich. Wie diese Begriffe inhaltlich auszulegen sind, ist bis heute weitgehend ungeklärt18 . Einigkeit besteht nur darüber, daß es sich beim öffentlichen Verfolgungsinteresse im Gegensatz zur geringen Schuld nicht um einen unbestimmten Rechtsbegriff, sondern um einen Ermessensbegriff handelt, der die Einstellung wegen Geringfügigkeit insgesamt zu einer Ermessensentscheidung werden läßt18a - wobei offen bleibt, ob das Ermessen hier die freie Wahl unter mehreren gleich richtigen Entscheidungsmöglichkeiten eröffnet oder nur ein Ausdruck der mangelnden generellen Vorbestimmbarkeit der einen sachangemessenen Einzelfallentscheidung ist18b . Neben der Vagheit dieser zentralen begrifflichen Anwendungsvoraussetzungen ist die Einstellung nach § 153 a StPO mit der weiteren Ungewißheit belastet, wann eine Beseitigung des öffentlichen Interesses möglich ist und welche Auflagen bzw. Weisungen im 16 BR-Drucksache 111/73, S. 298. 17 Anders als bei § 153 StPO muß hier feststehen, daß die Schuld des Täters gering ist; dies ergibt sich daraus, daß Art und Maß der zu wählenden Auflagen und Weisungen vom Ausmaß des Verschuldens abhängen, das notwendigerweise als bestehend erachtet werden muß, vgl. Meyer-Goßner, in: Löwel Rosenberg, Strafprozeßordnung, 23. Aufl., Rdnr. 16 zu § 153 a. 18 Zu den unterschiedlichen Auslegungsversuchen vgl. Kunz, Die Einstellung, S. 37 ff. 18a Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 210 m. w. N. 18b Auf diese zentrale Frage wird bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Bagatellisierungsverfahrens nach geltendem Recht ausführlich einzugehen sein.
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Einzelfall geeignet sind, das bestehende öffentliche Interesse an der Strafverfolgung auszuräumen; die Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) in der seit 1. 1. 1977 geltenden Fassung schweigen sich dazu wie überhaupt zur Anwendung der Begriffe geringe Schuld und öffentliches Interesse im Einstellungsverfahren wegen Geringfügigkeit aus. Immerhin ist mit § 153 a StPO den für die Lösung der Bagatellproblematik aufgestellten Forderungen weitestgehend Rechnung getragen. Die mit der Einstellung gegen Auflagen bzw. Weisungen verbundene Erweiterung der strafrechtlichen Reaktionspalette ermöglicht besser als bisher ein abgewogenes, wohldosiertes und darum einzelfallgerechtes Reaktionsverhalten der Strafrechtsinstanzen. Die übermäßige Kriminalstrafe wird vermieden durch eine qualitativ andere, nicht diskriminierende Rechtsfolge, welche in ihrer Eingriffsintensität auf leichtere Verfehlungen zugeschnitten und in ihrer Variationsbreite geeignet ist, den gesamten Bereich der Kleinkriminalität abzudecken. Zugleich kann durch die nonpänale Ahndung einer weiteren Ausuferung massenhafter Rechtsbrüche Einhalt geboten und der Entwertung strafrechtlich geschützter Güter vorgebeugt werden; obschon milder als die Vergehensstrafe, sind die Auflagen und Weisungen für die angestrebte Verstärkung des Rechtsgüterschutzes ausreichend. Auch unter generalpräventivem Gesichtspunkt sind die vorgesehenen Reaktionsmöglichkeiten damit zweckentsprechend, weil situationsgerecht. Die neue Erledigungsart sorgt mit der in § 153 a Abs. 2 StPO vorgesehenen gerichtlichen Einstellungsmöglichkeit für eine Abkürzung des Zwischen- und Hauptverfahrens. Vor allem aber wird eine Entlastung der Gerichte in dem Maße erzielt, wie es der Staatsanwaltschaft gelingt, das Verfahren bereits im Ermittlungsstadium nach Abs.1 zu beendigen. Das anfänglich vorgebrachte Bedenken, die Einstellung gegen Auflagen bzw. Weisungen biete keine Gewähr für eine spürbare Arbeitsersparnis bei der Staatsanwaltschaft1U , hat sich nach einer gewissen Erprobungsphase als nicht durchgreifend erwiesen. Zwar kann sich die vorgeschriebene Verfahrensprozedur mitunter aufwendig gestalten: so muß vor Ergehen einer vorläufigen Einstellungsverfügung der Sachverhalt wie bei einer beabsichtigten Anklageerhebung gründlich aufgeklärt20 und die Zustimmung der Verfahrensbeteiligten ein19 Herrmann, Die Strafprozeßreform, S.417; Kramer, Willkürliche oder kontrollierte Warenhausjustiz, S. 1610 f.; Naucke, Gutachten, D 79; MeyerGoßner, in: Löwe-Rosenberg, Strafprozeßordnung, 23. Aufl., Rdnr.112 zu § 153 a; Ahrens, Die Einstellung, S. 76 ff. 20 Im Gegensatz zu § 153 StPO ist bei § 153 a StPO ein Durchermitteln bis zur Anklagereife notwendig, vgl. oben Fußnote 17. Dennoch bringt § 153 a StPO im Verhältnis zur Anklageerhebung faktisch insoweit eine Arbeitsersparnis, als der Staatsanwalt sich in Anbetracht der für den Beschuldigten
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geholt werden; mancherorts ist der Staatsanwalt zudem durch administrative Weisungen gehalten, vorab die Billigung seines Dienstvorgesetzten zu der ins Auge ge faßten Maßnahme zu erwirken21 • Im weiteren Verfahrensverlauf kann Anlaß bestehen, die Erfüllungsfrist zu verlängern oder nach erneuter Zustimmung des Beschuldigten die Auflagen bzw. Weisungen abzuändern (§ 153 a Abs.1 Satz 3 StPO). Erfüllt der Beschuldigte die Auflagen bzw. Weisungen nicht oder unzureichend, ist er unter Fristsetzung zu mahnen; fruchtet auch dies nichts, ist das Verfahren mit dem Ziel der Anklageerhebung bzw. des Strafbefehlsantrags weiterzubetreiben. Da jedoch in aller Regel der Beschuldigte, der einer Einstellung zustimmt, schon im eigenen Interesse die damit verbundenen Auflagen und Weisungen auch pünktlich und vollständig erfüllen wird, gestaltet sich das Verfahren normalerweise weit weniger arbeitsintensiv; zudem wird es dem Staatsanwalt mit wachsender Routine wie beim Strafbefehls antrag möglich, die einzelnen Verfahrensgänge gewissermaßen im Zeitraffer zu durchlaufen. In dem Maße, wie sich in der Entscheidungspraxis standardisierte Merkmale für einstellungsgeeignete Fälle ausbilden, wird auch das Verfahren nach § 153 a StPO einer unaufwendigen Erledigung zugänglich und kann unter verfolgungsökonomischem Aspekt mit der Normalfigur routinemäßiger Erledigung durch Strafbefehl konkurrieren22 • Die jährlich sprunghaft wachsenden Erledigungsquoten nach § 153 a StP023 belegen, daß die Staatsanwaltschaft die neue Einstellungsart nach anfänglich zögerndem Gebrauch nunmehr zügig zu handhaben und umfänglich einzusetzen versteht. Mit der Einstellungsmöglichkeit gegen Auflagen bzw. Weisungen als Auffanginstitution für Kleinkriminalität scheint es damit nicht nur gelungen, die an ein modernes Bagatellisierungsprogramm zu stellenden divergierenden kriminalpolitischen Anforderungen unter einen Hut weniger einschneidenden Rechtsfolgen des § 153 a StPO schneller dazu durchringen wird, den Sachverhalt als hinreichend aufgeklärt zu betrachten. 21 So etwa im Saarland und früher in Niedersachsen. Zur Kritik jener Weisungen vgl. Treiber, Die Macht, S. 456; "Diese Regel schützte schon immer das Standardprogramm Strafbefehl vor Abweichungen durch Neulinge, nunmehr verhindert diese Regel die Etablierung eines innovativen Alternativprogramms. Denn jeder, der das Alternativprogramm (nach § 153 aStPO) wählt, rückt sich damit selbst in den Aufmerksamkeitsbereich des Abteilungsleiters. " 22 Ähnlich Treiber, Die Macht, S. 459 f.; Hirsch, Die Behandlung, S.226 zweifelt daran, wobei er offenbar von der noch verhältnismäßig niedrigen Einstellungsquote des Jahres 1977 ausgeht (S.220). 23 Nachweise bei Kausch, Der Staatsanwalt, S. 117 ff.; danach wurden etwa in Bayern im Jahre 1977 bereits nahezu 60 % aller von der Staatsanwaltschaft erledigten Fälle nach § 153 a StPO eingestellt. Neuerdings auch Rieß, Statistische Beiträge, S.263, 281 ff.; Rieß, Entwicklung, S.94; Heinz, Strafrechtsreform, S. 644 f. sowie im einzelnen Hertwig, Die Einstellung, S. 43 ff., 252.
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zu bringen. Darüber hinaus vermeidet es der Gesetzgeber geschickt, den scheinbar gesicherten Boden der prozessualen Einstellungslösung zu verlassen und sich gesetzestechnisch auf Neuland zu begeben. Statt dessen versucht er, den gewandelten kriminalpolitischen Bedürfnissen durch behutsamen Ausbau und Erweiterung des erprobten Regelungsmodells Rechnung zu tragen. Mit der Anlehnung der tatbestandlichen Fassung des § 153 a StPO an diejenige des § 153 StPO präsentiert sich die Einstellung gegen Auflagen bzw. Weisungen nicht als Fremdkörper im überkommenen Reaktionsgefüge, sondern als eine bloß graduelle Steigerung der sanktionslosen Einstellung wegen Geringfügigkeit24 • Zudem legalisiert der Gesetzgeber mit § 153 a StPO ein seit langem durch die Praxis geübtes Verfahren. Schon bald nach Einführung des § 153 StPO hatte sich die Praxis praeter legern eine zusätzliche, unterhalb der Kriminalstrafe einsetzende Ahndungsmöglichkeit für leichtere Delikte geschaffen, indem sie dem Beschuldigten eine Einstellung in Aussicht stellte, sofern dieser einen Geldbetrag an eine gemeinnützige Einrichtung zahlte oder den angerichteten Schaden wiedergutmachte. Dieses durch seine ausdrückliche gesetzliche Gestattung in der NS-Zeit 25 und durch die sogenannte Hamburger Bußgeldaffäre26 in Mißkredit geratene Vorgehen war vornehmlich in norddeutschen Bundesländern weitgehend üblich geworden 27 • Indem der Gesetzgeber mit § 153 a StPO an jene Praxis anknüpft, kann er ein hohes Maß an Zustimmung zu der Gesetzesnovellierung erwarten, insofern diese ja nur eine Entwicklung nachvollzieht, die sich ohnehin bereits informell durchgesetzt hatte. Vor allem aber bietet die neue Erledigungsart den entscheidenden Vorzug, daß sie die nach wie vor ungeklärte Frage, welcher der konfligierenden kriminalpolitischen Zielvorstellungen im Bagatellbereich der Vorrang einzuräumen ist, nicht präjudiziert und damit offen bleibt für theoretisch fundierte Präferenzsetzungen und deren praktische Umsetzung. Mit der neuen Regelung hat das Ermessen der Gerichte und 24 Ob sie in Wirklichkeit nicht doch einen Fremdkörper darstellt, wird später zu prüfen sein. 25 4. Verordnung zur Vereinfachung der Strafrechtsfolgen vom 13.12.1944 (RGBl. I, 339), aufgehoben durch Art. 8 Abs. 2 Nr.40 des Vereinheitlichungsgesetzes vom 12.9. 1950 (BGBl. I, 455). 28 Es handelt sich dabei um Einstellungen gegen Bußzahlungen, bei denen es zumindest mittelbar zu Bereicherungen der mit der Sache befaßten Staatsanwälte und Richter gekommen war, weil diese die Zahlungen an Organisationen lenkten, von denen sie selbst Entschädigungen für ehrenamtliche Tätigkeiten oder Vortragshonorare in außergewöhnlicher Höhe erhielten. Durch die bundeseinheitliche Regelung über das Verfahren bei der Zuweisung von Geldbeträgen in Strafverfahren sind derartige Mißbrauchsmöglichkeiten nunmehr ausgeschlossen, vgl. hierzu Kleinknecht, Strafprozeßordnung, Rdnr. 20 zu § 153 a m. w. N. 27 Zu dieser Praxis insgesamt eingehend Kausch, Der Staatsanwalt, S. 31 ff.
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vor allem der Staatsanwaltschaften über Verfolgung und Bestrafung der leichteren D€likte beträchtlich zugenommen. Welche strafrechtliche Behandlung der leichteren Delikte erfolgt, ist im Gesetz nur noch vage bestimmt. Ob etwa ein Ladendiebstahl in das Einstellungs- oder das StrafbefehLsverfahren oder in das Verfahren vor dem Strafrichter, dem Schöffengericht oder dem Landgericht gegeben wird, ob das Verfahren mit KriminaLstrafe, sanktionsloser Einstellung oder Ahndung nach § 153 a StPO endigt, läßt sich auf Grund der gesetzlichen Vorschriften, die diese Entscheidungen steuern, kaum mehr allgemein vorhersagen. Das gesetzliche Programm im Bereich des Bagatellstrafrechts ist so vielseitig und unbestimmt, daß es alle Zweckmäßigkeitsüberlegungen aufnehmen kann, die zum Bagatellproblem vorstellbar sind 28 • Welches kriminalpolitische Konzept auch immer im Bagatellbereich verwirklicht werden mag - es ist prinzipiell ausgeschlossen, daß dieses Konzept zu den gesetzlichen Vorgaben in Widerspruch gerät. Damit ist sichergestellt, daß neue Erkenntnisse über die Harmonisierung der konfligierenden kriminalpolitischen Leitvorstellungen im Bagatellbereich zwanglos in das bestehende Recht eingepaßt und mit diesem umgesetzt werden können. Nicht zu Unrecht hat man daher die neue Regelung aus der Sicht des Gesetzgebers als die "Ei-desKolumbus-Lösung" bezeichnet29 • Die in dieser These anklingende Einschränkung, daß damit nur unter dem spezifischen Eigeninteresse des Gesetzgebers die optimale Lösung gefunden sei, läßt Zweifel aufkommen, ob man mit der Reform einer angemessenen Einlösung des Bagatellprinzips im Strafrecht nähergekommen ist. Jedenfalls ist mit der gesetzlichen Neuregelung nur die erste Runde der Auseinandersetzung um die adäquate strafrechtliche Reaktion auf Bagatellkriminalität zum Ende gelangt; die Gesetzesänderung hat die Diskussion nicht nur nicht verstummen lassen, sondern sie im Gegenteil erst recht beflügeWo. Die Suche nach neuen Lösungen entzündet sich durchweg an einer zum Teil vehementen, in ihrer Härte ungewohnten Kritik des geltenden Rechts. 1.1 Einwände gegen die geltende gesetzliche Regelung
Obschon um weitestgehende Anlehnung an den bisherigen Rechtszustand bemüht, hat der Gesetzgeber mit §§ 153, 153 a StPO eine neue, Naucke, Gutachten, D 35. So Treiber, Die Macht, S. 448 unter Berufung auf Dreher. 30 So übereinstimmend Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 13; Ahrens, Die Einstellung, S.2 jeweils m. w. N.; Kausch, Der Staatsanwalt, S.39 meint gar, die eigentliche wissenschaftliche Diskussion habe überhaupt erst mit dem Bekanntwerden der gesetzgeberischen Absicht eingesetzt. 28
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dem deutschen Strafprozeß bislang fremde Verfahrensform geschaffen. Das Einstellungsverfahren läßt sich zureichend weder als ein vorzeitig abgebrochenes Normalverfahren noch als eine bloße weitere partikulare Einschränkung des Legalitätsprinzips begreifen. Die Novellierung kreiert einen selbständigen Verfahrenstyp 3t, der nicht dem Legalitätsprinzip verpflichtet ist und anderen Regeln als den vom Opportunitätsprinzip regierten bisherigen Verfahrens arten folgt. Konnte der Verfolgungsverzicht wegen Geringfügigkeit früher als Ausnahme von dem nach § 152 Abs.2 StPO grundsätzlich geltenden Anklage- und Verfolgungszwang begriffen werden, so macht die Gesetzesnovellierung die Ausnahme zur Regel, indem sie für sämtliche Vergehen - und damit den gesamten Kriminalitätsbereich außer Kapitalsachen - eine nonpönale Ahndungsmöglichkeit schafft, deren Anwendung sich allein an Opportunitätserwägungen ausrichtet. Das mit den §§ 153, 153 a StPO ins Leben gerufene "Strafverfahren zweiter Klasse"3! ist dem Normalverfahren vorgeschaltet, insofern die Durchführung des aufwendigen Normalverfahrens zur Voraussetzung hat, daß ein bagatellisierungsgeeigneter Sachverhalt nicht vorliegt 33 • Damit wird der verbleibende Anwendungsbereich des Normalverfahrens durch das Einstellungsverfahren vorgegeben und die Vorentscheidung über die Anwendung des Legalitätsprinzips im Normalverfahren Opportunitätserwägungen unterstellt M • Die Priorität des Legalitätsgrundsatzes im Strafverfahren ist ungeachtet seiner formalen Festschreibung in § 152 Abs. 2 StPO inhaltlich aufgegeben33 zugunsten eines zweispurigen Verfahrensprogramms, das ein vom Opportunitätsgedanken beherrschtes Einstellungsverfahren gleichrangig neben das Normalverfahren stellt und Opportunitätsgesichtspunkte über die Einleitung des Normalverfahrens 31 So Naucke, Gutachten, D 28; vgl. auch Eckl, Neue Verfahrensweisen, S. 99; Jung, Straffreiheit, S. 50. 3! So Rudolf Schmitt, Das Strafverfahren zweiter Klasse. 33 Dementsprechend ist die Entscheidungssituation von Strafrichtern und Staatsanwälten durchgängig von dem latenten Bewußtsein geprägt, daß in geeigneten Fällen von §§ 153, 153 a StPO Gebrauch gemacht werden kann; auch wenn der Rechtsanwender schlußendlich andere Reaktionen für angemessen erachtet, nimmt er zuvor - meist routinemäßig und oft unbewußt eine überprüfung der Bagatellisierungsgeeignetheit des zu entscheidenden Sachverhalts vor. 34 Vgl. Geerds, über mögliche Reaktionen, S.239; Kunz, Die Einstellung, S.30; Schroeder, Legalitäts- und Opportunitätsprinzip, S. 424 ff.; Weigend, Anklagepflicht, S. 14, 19 ff.; Hanack, Das Legalitätsprinzip, S.347. 35 Demzufolge meint Weigend, Anklagepflicht, S. 172 f., diese Bestimmung könnte ohne weiteres ersetzt werden durch eine Vorschrift, die besagt, die Verfolgung von Vergehen stehe im Ermessen der Staatsanwaltschaft; Hirsch, Die Behandlung, S. 229 erblickt darin eine Verletzung des Legalitätsprinzips in seinem durch Art.3 GG geschützten Wesensgehalt; zur Gefahr einer Ungleichbehandlung durch §§ 153, 153 a StPO sogleich ausführlich.
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entscheiden läßt36 • Dies erklärt, warum Baumann mit Blick auf das Einstellungsverfahren wegen Geringfügigkeit von einem "Grabgesang auf das Legalitätsprinzip" spricht37 und Hanack weniger polemisch, aber nicht minder deutlich die Gesetzesnovellierung als den grundsätzlich bedeutsamsten Reformschritt der ersten hundert Jahre unserer StPO bezeichnet38 • Ein weiterer Gesichtspunkt verdeutlicht, wie weit der Schritt ist, der mit der Einstellungsmöglichkeit gegen Auflagen bzw. Weisungen getan wird. Dem früheren Recht war eine Einstellung nach dem Opportunitätsprinzip in Verbindung mit einer Sanktionierung unbekannt3D • Die Entscheidung, Einstellungen aus Ermessensgründen prinzipiell sanktionslos zu lassen, ergibt sich zwingend aus dem Verständnis des Opportunitätsprinzips als Ausnahme von der ansonsten stringent durchgehaltenen Verfolgungs- und Anklagepflicht; denn Ausnahmen von einer Rechtspflicht können nur dazu berechtigen, die Handlungen, die den Inhalt dieser Pflicht ausmachen, zu unterlassen, geben aber nicht selbst die Kompetenz zu weiteren Handlungen4o • Genau dies tut aber die Bestimmung des § 153 aStPO, indem sie durch die Auferlegung von Auflagen bzw. Weisungen eine Ahndungsmöglichkeit eröffnet, die dem Opportunitätsprinzip unterworfen ist; Einstellung bedeutet hier nicht das Unterlassen weiterer Strafverfolgung, sondern deren Beendigung durch Verhängung und Erfüllung von Auflagen und Weisungen. Das Absehen von der Strafverfolgung aus Opportunitätsgründen und die Ahndung durch pönalen Zwecken dienende Sanktionen sind nach bisherigem Rechtsverständnis echte, einander ausschließende Alternativen; wenn § 153 a StPO diese Alternativität auflöst und die Ahndungsmöglichkeit in einem dem Opportunitätsprinzip unterworfenen Verfahren eröffnet, handelt es sich dabei nicht eigentlich mehr um ein Einstellungsverfahren im herkömmlichen Sinne, vielmehr um ein Ahndungsverfahren qualitativ eigener Art, welches prozessual anderen Regeln 38 Zur Steuerungsmöglichkeit des zweispurigen Verfahrensprogramms durch Einstellungen wegen Geringfügigkeit eingehend Kunz, Die Einstellung, S. 27 ff. Zum dadurch eröffneten kriminalpolitischen Entscheidungsspielraum des Staatsanwalts neuerdings Kotz, Die Wahl, insbes. S. 188 ff. sowie Kunz, Die Verdrängung. 37 Baumann, Grabgesang. 38 Hanack, Das Legalitätsprinzip, S. 339. 39 §§ 45, 47 JGG bilden keine Ausnahme, da diese Vorschriften nicht dem Opportunitätsgedanken, sondern dem Erziehungsgedanken verpflichtet sind und den dort vorgesehenen Rechtsfolgen eine spezifisch jugendstrafrechtliche Erziehungsfunktion zukommt. 40 So Kausch, Der Staatsanwalt, S. 62. Vgl. auch Cramer, Ahndungsbedürfnis, S.490, der die Einstellung nach dem Opportunitätsprinzip treffend als "Verzicht auf eine Sanktion" bezeichnet.
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als das normale Ahndungsverfahren folgt und andere Rechtsfolgen als jenes vorsieht41 • Die in § 153 a StPO aufgeführten Auflagen und Weisungen tragen eindeutig Sanktionscharachter42 , auch wenn das Gesetz davon absieht, wie bei den Bewährungsauflagen eine Genugtuungsfunktion ausdrücklich zu erwähnen (§ 56 b Abs. 1 StGB). Der Umstand, daß Staatsanwaltschaft und Gericht den Beschuldigten weder zur Annahme noch zur Erfüllung der Auflagen bzw. Weisungen zwingen können, ändert nichts daran, daß es sich hierbei um einen tatbezogenen Ausgleich mit strafrechtlichem Ahndungsgehalt handelt43 ; insbesondere begründet das Zustimmungserfordernis des Beschuldigten keine "Freiwilligkeit" der auferlegten Leistung. Ob "Freiwilligkeit" überhaupt ein geeignetes Kriterium zur Ablehnung des Sanktionscharakters von Maßnahmen ist, scheint bereits zweifelhaft, da man etwa beim Strafbefehl das Nicht41 Ähnlich Kausch, Der Staatsanwalt, S. 64 f. Unrichtig ist es freilich, mit Kausch bereits daraus zu folgern, durch § 153 a StPO würden "die Grenzen des durch das Opportunitätsprinzip eröffneten Handlungsspielraums überschritten" (S. 65). Die von Kausch zur Begründung herangezogene Entscheidung BVerfGE 22, 125 ff. (133) stützt diese These nicht. Das Gericht stellt an der zitierten Stelle lediglich fest, daß es dem Gesetzgeber bei mindergewichtigen strafrechtlichen Unrechtstatbeständen unbenommen sei, diese in Ordnungswidrigkeiten umzuwandeln oder sie im Strafrecht zu belassen und statt des Legalitätsprinzips das Opportunitätsprinzip auf sie anzuwenden. Damit ist nicht gesagt, daß die Sanktionierung in einem dem Opportunitätsprinzip unterworfenen strafrechtlichen Verfahren unzulässig sei. Auch das Ordnungswidrigkeitenrecht eröffnet eine Sanktionsmöglichkeit in einem durchgängig vom Opportunitätsprinzip bestimmten Verfahren (§ 47 Abs.1 und 2 OwiG). Das Verbot einer sinngemäßen Anwendung von § 153 a StPO im Ordnungswidrigkeitsverfahren (§ 47 Abs. 3 OwiG) zielt darauf ab, eine Ungleichbehandlung gleichgelagerter Sachverhalte zu vermeiden, indem die Möglichkeit einer Bußzahlung ohne Eintritt der gesetzlich vorgesehenen Nebenwirkungen - insbesondere Eintragung ins Verkehrszentralregister ausgeschlossen wird, so Göhler, Ordnungswidrigkeitengesetz, § 47 Rdnr. 34. Für die Zulässigkeit der Sanktionierung in einem dem Opportunitätsprinzip unterworfenen Verfahren ist im Ordnungswidrigkeitenrecht wie im Strafrecht die entscheidende Frage, ob damit das Bestimmtheitsgebot von Rechtsnormen bzw. der Gleichbehandlungsgrundsatz in seinem Wesens gehalt verletzt wird; denn das durch das Verfahren nach § 153 a StPO tangierte Legalitätsprinzip hat nur mittelbar Verfassungs rang, insofern es Ausdruck der Gleichheit vor dem Gesetz ist. So BVerfGE 20, 162 (222); BGHSt 15, 155 (158); Hirsch, Zur Behandlung, S. 227 ff.; noch weiter einschränkend Weigend, Anklagepflicht, S. 14, 173, der meint, das Legalitätsprinzip sein ein zur Disposition des einfachen Gesetzgebers stehendes Instrument. 42 So Schmidhäuser, Freikaufverfahren, S. 533 f.; Jung, Straffreiheit, S.51; Hanack, Das Legalitätsprinzip, S.350; Kausch, Der Staatsanwalt, S. 51 ff.; Rieß, Vereinfachte Verfahrensarten, S.114; Blankenburg u. a., Die Staatsanwaltschaft, S. 7; Hirsch, Gegenwart, S. 824. 43 So aber Meyer-Goßner, in: Löwe/Rosenberg, Strafprozeßordnung, 23. Aufl. Rdnr. 7 zu § 153 a, der darin den entscheidenden Unterschied zu einer Sanktion erblickt. Vgl. auch Dreher, Die Behandlung, S. 938 f.; Hünerfeld, Kleinkriminalität, S. 920. Einschränkend Kleinknecht, Strafprozeßordnung, Rdnr. 19, 35 zu § 153 a.
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erheben des Einspruchs als Zeichen der Freiwilligkeit werten kann und es sich doch bei den durch Strafbefehl verhängten Strafen eindeutig um Sanktionen handelt44 • Jedenfalls kann von Freiwilligkeit nur gesprochen werden, wenn der Beschuldigte nach bedingungsloser Einstellung eine Leistung erbringt45 • Die Verknüpfung der Verfahrenseinstellung mit einer Rechtsfolge, der der Beschuldigte zustimmen muß, um der weiteren Strafverfolgung zu entgehen, stellt ihn vor die Wahl, entweder die vorgeschlagene Rechtsfolge zu akzeptieren und damit eine sichere Verfahrensbeendigung zu erreichen46 oder sich der Unbill des gegen ihn gerichteten Strafverfahrens weiterhin zu unterziehen und das Risiko auf sich zu nehmen, am Ende doch noch - womöglich zu Unrecht - zu Strafe verurteilt zu werden. Was diese Entscheidung für den Beschuldigten so schwierig macht, ist nicht nur die objektive Unwägbarkeit, in einem frühen Verfahrensstadium ohne volle Klärung des Sachverhalts und seiner rechtlichen Würdigung das Verurteilungsrisiko zu kalkulieren; mehr noch ist es die subjektive Drucksituation, der sich der juristisch meist ungebildete Beschuldigte ausgesetzt sieht, der Einstellung auch gegen seine Überzeugung zuzustimmen, um größere Nachteile von sich abzuwenden. So leistet der Beschuldigte zumindest nach seinem subjektiven Erleben nicht freiwillig, sondern unterwirft sich unter dem Druck eines in Aussicht gestellten größeren Übels 47 • Die Drucksituation ähnelt derjenigen des inzwischen für verfassungswidrig erklärten48 Kausch, Der Staatsanwalt, S. 56 Fußnote 50. Schmidhäuser, Freikaufverfahren, S. 534. 48 Die Erfüllung der Pflichten begründet ein endgültiges Verfahrenshindernis, soweit sich die Tat nicht nachträglich als Verbrechen darstellt (§ 153 a Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 Satz 2 StPO). 47 Schmidhäuser, Freikaufverfahren, S. 533 f.; Hirsch, Gegenwart, S.824; Fezer, Zur Rechtsgutsverletzung, S. 98 f.; Roxin, Strafverfahrensrecht, S.66. Im Ergebnis ebenso Kausch, Der Staatsanwalt, S.56. Plastisch veranschaulicht wird die Drucksituation des Beschuldigten durch den von G\inther, Staatsanwaltschaft, S.91 in anderem Zusammenhang zitierten Satz von Anatole France: "Wenn mir einer vorwerfen würde, die Glocken von Notre Dame gestohlen zu haben, obgleich ihr liebliches Geläut, durch den friedlichen Abend zu mir herüberklingend, mich soeben noch erfreute - ich würde fliehen." Polemisch überzogen sind freilich die Vergleiche, die Dencker, Die Bagatelldelikte, S.149 zur Veranschaulichung der Pression auf den Beschuldigten heranzieht; er meint, die Situation sei im Prinzip nicht anders als beim Androhen von Ohrfeigen zur Förderung der Geständnisbereitschaft oder bei der Zusage von Strafrabatt für ein Geständnis. Ins andere Extrem verfällt Bartelt, Leserbrief in:ZRP 1977, S.24, der § 153 a StPO für unproblematisch hält, weil der unschuldige Beschuldigte ja schließlich seine Zustimmung zur Einstellung versagen könne; abgesehen davon, daß auch der unschuldige Beschuldigte dies eben in der Regel nicht tun wird, möchte man nicht in der Haut dieses Ratgebers stecken, wenn der unschuldige Beschuldigte dem Rat folgend am Ende gleichwohl verurteilt wird! 48 BVerfGE 22, 49 (81 f.). 44
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steuerrechtlichen Unterwerfungsverfahrens nach § 445 AO; der Unterschied besteht nur darin, daß die Unterwerfung in § 445 AO unter eine ausdrücklich als Strafe bezeichnete Sanktion geschah, während sie hier unter eine als Auflage bzw. Weisung bezeichnete mindere strafrechtliche Sanktion erfolgt4g. Die Drucksituation des Beschuldigten wird noch verstärkt durch die gegenüber dem Normalverfahren verschobene Interessenlage der professionellen Verfahrensbeteiligten im Einstellungsverfahren. Das gemeinsame Interesse von Richter, Staatsanwalt und Verteidiger, ohne großen Zeitaufwand das Verfahren zu beendigen, kann sich im Einstellungsverfahren ungehindert entfalten und verleitet zu einem allseitigen Einwirken auf den Beschuldigten zur Annahme und Erfüllung der auferlegten Pflichten. Richter und Staatsanwalt brauchen sich nicht zu einer detaillierten Begründung des Schuldvorwurfs durchzuringen, die vor dem Verteidiger und der Rechtsmittelinstanz bestehen kann; zugleich sehen sie sich in der vorteilhaften Lage, ihre Arbeitsersparnis gegenüber dem Beschuldigten als Großzügigkeit darzustellen und damit das beruhigende Gefühl zu verbinden, diesem vielleicht auch noch einen Dienst erwiesen zu haben. Der Verteidiger erlangt neben dem persönlichen Vorzug der Arbeitsersparnis einen Teilerfolg, insofern der Beschuldigte nicht bestraft wird, und kann sich damit in das Licht eines besonders erfolgreichen Helfers rücken50• Nicht selten wird der Beschuldigte den Eindruck gewinnen, er werde durch das einmütig an ihn herangetragene Ansinnen zur Einstellung gegen Auflagen oder Weisungen überfahren - und sich doch in seiner von den übrigen Verfahrensbeteiligten verstärkten Verunsicherung zu der ihm nahegelegten Zustimmung bereitfinden. Auch ist das Einstellungsverfahren gegen Auflagen bzw. Weisungen geeignet, die Glaubwürdigkeit der Strafrechtspflege in der Öffentlichkeit zu diskreditieren. Soweit in der öffentlichen Hauptverhandlung um die Bedingungen einer Einstellung gerungen wird, vermittelt sich dem Publikum das Bild eines unwürdigen Feilschens um die Straffreiheit51 • Es entsteht der Eindruck, als könne wie im anglo-amerikanischen plea bargaining-Verfahren52 um den staatlichen Strafanspruch mit dem Ziele einer vergleichsähnlichen Verfahrensbeendigung gehandelt werden 53; damit erleidet der Respekt vor der Autorität der Strafjustiz und der Gültigkeit unbedingter Strafdrohungen Einbußen. Soweit die Moda49 Hirsch, Die Behandlung, S. 231 f. Auch Kaiser, Strategien, S.82 spricht bei § 153 a StPO von einem Unterwerfungsverfahren. 50 Schmidhäuser, Freikaufverfahren, S. 531. 61 Schmidhäuser, Freikaufverfahren, S. 534. 52 Vgl. dazu Schumann, Der Handel. 53 Denck:er, Die Bagatelldelikte, S. 149.
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litäten der Einstellung im Vor- bzw. Zwischenverfahren oder durch Unterbrechung der Hauptverhandlung nichtöffentlich abgeklärt werden, setzt sich die Prozedur dem Vorwurf eines "Tuschelverfahrens" aus, in dem hinter verschlossenen Türen etwas manipuliert wird, das im Lichte der Öffentlichkeit ausgetragen gehört54 • Überhaupt scheint die durch § 153 a StPO beträchtlich erweiterte Möglichkeit der Sanktionsverhängung unter Ausschluß der Öffentlichkeit fragwürdig, ist doch der Öffentlichkeitsgrundsatz eine wesentliche Bedingung der Kontrolle von und des Vertrauens in strafrechtliche Entscheidungen55 • Das Ermessen der Strafrechtsinstanzen bei der Wahl des Einstellungsverfahrens, bei der Entscheidung über eine unbedingte Einstellung nach § 153 StPO oder eine Ahndung nach § 153 aStPO, bei der Bestimmung von Art und Ausmaß der Ahndung, der Festsetzung der Erfüllungsfristen und bei der nachträglichen Abänderung einmal auferlegter Pflichten ist im Hinblick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz und das Rechtssicherheitsgebot bedenklich. Einer willkürlichen oder gar mißbräuchlichen Handhabung ist Tür und Tor geöffnet: die an sich gebotene Durchführung des Normalverfahrens kann durch Bagatellisierung umgangen werden, etwa um mühsame Beweiserhebungen zu vermeiden oder um Pressionen und Kritik von außen zu entgehen56 ; umgekehrt kann in Fällen fehlenden Tatnachweises eine Ahndung nach § 153 a StPO erfolgen, um dem im Normalverfahren nicht überführbaren Beschuldigten wenigstens einen Denkzettel zu verpassen und ihn dadurch zu disziplinieren57 • Aber auch bei noch so lauterer Ermessensausübung ist angesichts des derart weit gespannten Ermessensbereichs die Gefahr einer Ungleichbehandlung und einer prinzipiellen Unvorhersehbarkeit der Entscheidungsinhalte nicht zu bannen58 • Eine gleichmäßige Ermessensausübung setzt das Vorhandensein allgemeiner und zugleich auf den Einzelfall konkretisierbarer Beurteilungsmaßstäbe voraus. Davon kann beim Einstellungsverfahren auch Schmidhäuser, Freikaufverfahren, S. 535. Hanack, Das Legalitätsprinzip, S.351. 58 Hirsch, Zur Behandlung, S. 229; Heinitz, Zweifelsfragen, S. 331 Fußnote 33 erwähnt exemplarisch den in der Presse veröffentlichten Fall eines einflußreichen Politikers, der ohne Führerschein mit einem Kraftwagen am öffentlichen Verkehr teilnahm und dessen Verfahren mit Rücksicht auf seine politische Stellung nach § 153 StPO eingestellt wurde. 57 Dies kommt insbesondere in Betracht, wenn der Beschuldigte einschlägig vorbelastet ist; zur Triftigkeit dieser Annahme vgl. Kunz, Die Einstellung, S.63, 77; vgl. auch Blankenburg u. a., Die Staatsanwaltschaft, S. 315, die in diesem Zusammenhang die Einstellung wegen Geringfügigkeit als eine verkappte Einstellung mangels Nachweises bezeichnen. 58 Vgl. Hirsch, Zur Behandlung, S.227; Roxin, Strafverfahrensrecht, S.66; Zipf, Kriminalpolitische überlegungen, S. 498 f. 54
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nicht annähernd die Rede sein. Das Gesetz liefert derartige Orientierungsmaßstäbe nicht, bieten die §§ 153, 153 a StPO doch keinerlei Anhalt dafür, wie das dem Rechtsanwender eingeräumte Ermessen im konkreten Einzelfall auszuüben ist. Auch die Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) in der bis 31. 12. 1976 geltenden Fassung, die sich in den Nm. 82, 83 mit der Einstellung wegen Geringfügigkeit beschäftigten, verblieben derart im Allgemeinen, daß von ihnen nur wenig Hilfestellung für die Einzelfallentscheidung zu erwarten war; treffend kennzeichnet Hanack die früheren Richtlinien als "ein Gedankengewirr, das alles und nichts erlaubt"58. Die Neufassung der RiStBV beschäftigt sich mit der Einstellung wegen Geringfügigkeit nur noch unter dem Sonderaspekt der Beteiligung einer öffentlichen Behörde oder Körperschaft (Nr.93); zur geringen Schuld wird überhaupt keine und zum öffentlichen Interesse nur in bezug auf Privatklagesachen eine umschreibende Spezifizierung gegeben (Nr.86 Abs. 2). Die verschiedentlich auf regionaler Ebene erlassenen ministeriellen und behördlichen Anweisungen zur Handhabung der Einstellungsermächtigung weichen in Inhalt und Abstraktionsniveau derart stark voneinander ab, daß sie eher als Ausdruck jeweiliger regionaler ordnungspolitischer Vorstellungen denn als Leitfaden für die Gesetzesanwendung verstanden werden müssen 60 . Eine richtungweisende Judikatur zum Einstellungsverfahren wegen Geringfügigkeit ist ebensowenig vorhanden. Wegen des Ausschlusses einer inhaltlichen Überprüfung staatsanwaltlicher Bagatellisierungen im Wege des Klageerzwingungsverfahrens (§ 172 Abs. 2 Satz 3 StPO)61 und der Nichtanfechtbarkeit gerichtlicher Bagatellisierungen (§§ 153 Abs. 2 Satz 3, 153 a Abs. 2 59 Hanack, Das Legalitätsprinzip, S. 348; zustimmend Boxdorfer, Das öffentliche Interesse, S. 318. 60 Vgl. die eingehende Darstellung und Kritik bei Kausch, Der Staatsanwalt. S. 194 ff. 61 H. Mayer, Klageerzwingungsverfahren, S. 604 erachtet dies als rechtsstaats- und verfassungswidrig; dagegen Kleinknecht, in: Löwe/Rosenberg, Strafprozeßordnung, 22. Aufl., Anm.15 zu § 153; H. Müller, in: Müller/Sax, Kommentar, Anm.6 zu § 172. Nach verbreiteter Ansicht umfaßt § 172 Abs.2 Satz 3 StPO zwar nur die vorläufige Einstellung gegen Auflagen bzw. Weisungen, weil nur auf § 153 a Abs. 1 und 6 StPO verwiesen wird, so daß gegen die endgültige Einstellung das Klageerzwingungsverfahren zulässig bleibt; jedenfalls aber kann der Verletzte im Wege des Klageerzwingungsverfahrens nur überprüfen lassen, ob die Tat sich als Vergehen darstellt bzw. die auferlegten Pflichten erfüllt sind und damit ein Verfahrens hindernis eingetreten ist, so Eckl, Neue Verfahrensweisen, S. 101; Kleinknecht, Strafprozeßordnung, Rdnr.3 zu § 172; Meyer-Goßner, in: Löwe/Rosenberg, Strafprozeßordnung, 23. Auflage, Rdnr.72 zu § 153 a. Ob diese Auffassung zutrifft, ist ohne praktische Bedeutung, da der Verletzte ohnehin nach ergangener Einstellung erneut Anzeige erstatten und damit von der Staatsanwaltschaft überprüfen lassen kann, ob ein Verfahrenshindernis eingetreten ist; bejaht sie dies und stellt das auf die Neuanzeige eingeleitete Verfahren gemäß § 170 Abs.2 StPO ein, ist dagegen das Klageerzwingungsverfahren zulässig.
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Satz 4 StPO) besteht allenfalls in anderem Zusammenhang die Möglichkeit einer obergerichtlichen Überprüfung des erstinstanzlichen Verfahrens. Die kaum je veröffentlichte Rechtsprechung der Untergerichte kann der Rechtsfortbildung nicht dienen, zumal deren Entscheidungen regelmäßig ohne Begründung erfolgen62 • Auch der Literatur ist es trotz umfänglicher und sorgfältiger Deutungsversuche bis heute nicht gelungen, den Zentralbegriffen "geringe Schuld" und "öffentliches Interesse" auch nur einigermaßen scharfe Konturen zu geben63 • Eine gefestigte und für Einzelfälle spezifizierbare Auslegung ist nicht vorhanden; nach wie vor gilt uneingeschränkt der Satz, daß die Auffassungen in der Lehre weit auseinandergehen und über meist blasse Umschreibungen widersprüchlichen Inhalts nicht hinauskommen64 • Insofern ist Naucke beizupflichten, wenn er feststellt, der Stand der Literatur führe folgerichtig dazu, daß Theorie und Praxis der Einstellung wegen geringer Schuld unklar blieben65 • Nicht zufällig wird in jüngerer Zeit von akribischen Auslegungsversuchen überhaupt Abstand genommen: zunehmend setzt sich die Einsicht durch, eine juristisch-dogmatische Rationalisierung von Bagatellisierungsentscheidungen durch Auslegung des Gesetzes sei gar nicht möglich, weil die Begriffe "geringe Schuld" und "öffentliches Interesse" keine hinlänglich präzisierbaren inhaltlichen Beurteilungsmaßstäbe für die Entscheidungsfindung setzten, sondern nur deklaratorisch auf allgemeine strafrechtliche bzw. prozessuale Grundsätze Bezug nähmen und diese rezipierten; da die tatbestandlichen Merkmale das Spezifikum der Voraussetzungen einer Einstellung wegen Geringfügigkeit überhaupt nicht auf den Begriff brächten, liefe der Versuch einer inhaltlichen Ausrich62 Eine bemerkenswerte Ausnahme für eine vorbildliche Begründung bietet der sogenannte "Contergan-Beschluß", vgl. LG Aachen JZ 1971, S. 507 ff. (518 ff.). es Zu den uneinheitlichen, teils widersprüchlichen Auslegungsversuchen eingehend Kunz, Die Einstellung, S. 35 ff. m. w. N. Eine zusammenfassende Darstellung bietet die verdienstvolle Arbeit Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, insbes. S. 207 ff. Vgl. neuerdings auch Hobe, "Geringe Schuld". Auf die grundsätzliche und folgenreiche Frage, ob das Merkmal "geringe Schuld" sich auf die normative Schuldzurechnung oder die individuelle Schuldbemessung bezieht, wird später ausführlich einzugehen sein. Im ersteren Sinne etwa Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S.61, 107 ff., 110, 212; Naucke, Der Begriff, S. 203 ff.; Hanack, Das Legalitätsprinzip, S.348, 354; in letzterem Sinne Meyer-Goldau, Der Begriff, S. 81 ff.; Meyer-Goßner, in: Löwe/Rosenberg, Strafprozeßordnung, 23. Aufl., Rdnr.13 zu § 153; Kleinknecht, Strafprozeßordnung, Rdnr.4 zu § 153; Heinitz, Zweifelsfragen, S.332; Kohlhaas, Unzulässige Durchbrechung, S.247; ders., in: Löwe/Rosenberg, Strafprozeßordnung, 22. Aufl., Anm.3 zu § 153; Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Rdnr.3 zu § 153; ders., Lehrkommentar Nachtragsband, Rdnr.4 zu § 153; Schulz/BerkeMüller, Strafprozeßordnung, Anm. B 1 zu § 153. 64 So Hanack, Das Legalitätsprinzip, S. 348. 65 Naucke, Der Begriff, S.208.
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1. Konzeption des EGStGB
tung der Einzelfallentscheidung an jenen Merkmalen sozusagen ins Leere 66 • Mit "geringe Schuld" werde letztlich nur auf den sozialen Sinn der Strafe verwiesene7, und die Zitierung des öffentlichen Interesses sei nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit: eine Mahnung zu besonderer Sorgfalt und Sachlichkeit bei der Ausübung des Ermessens 68 • Damit ist eine kontinuierliche und homogene Entscheidungspraxis in keiner Weise sichergestellt. Weil die Rechtsanwendung mangels genereller und doch auf Einzelfälle präzisierbarer Beurteilungsmaßstäbe sich selbst überlassen bleibt, muß die Ermessensentscheidung "intuitiv" nach dem jeweiligen durch die Berufserfahrung geformten individuellen Judiz getroffen werden. Umstände wie die Sozialisation des Rechtsanwenders, seine gesellschaftspolitische Einstellung und sein professionelles Rollenverständnis, regional tradierte Handlungsmuster, individuelle Arbeitsbelastung und organisationsspezifische Handlungsbedingungen innerhalb der Behörde bzw. des Gerichtes geben dem jeweiligen Entscheidungsverhalten sein Gepräge69 • Daß solche subjektiven Faktoren notwendig über das Vorverständnis des Rechtsanwenders in die Entscheidungsinhalte einfließen, ist unvermeidbar70 ; daß sie jedoch nicht durch generelle Beurteilungsmaßstäbe verbindlich in Schranken gehalten werden, ist schwer erträglich. Rechtsstaatliche Strafrechtspflege setzt ein hohes Maß an Gleichmäßigkeit und Prognostizierbarkeit strafrechtlicher Entscheidungen voraus; das Einstellungsverfahren verbürgt diese Zielbestimmungen formaler Rechtsstaatlichkeit nicht, sondern steht ihrer Verwirklichung tendenziell im Wege. Die bereits erwähnte Nichtanfechtbarkeit strafrechtlicher Bagatellisierungsentscheidungen bringt eine weitere Einbuße an formaler 66 Kunz, Die Einstellung, S. 34 ff., 39. Naucke, Der Begriff, S.205 stellt fest, daß angesichts der Vieldeutigkeit des Merkmals "geringe Schuld" eine Subsumtion ausgeschlossen ist. 87 So Rieß, Die Zukunft, S.7 m. w. N. in Fußnote 78. 68 So Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 221. Roxin, Recht, S. 20 bezeichnet den Begriff des "öffentlichen Interesses" als "beliebig ausfüllbare Leerformel". Zustimmend Rieß, Die Zukunft, S.7 Fußnote 76. Nach Bloy, Zur Systematik, S.174 stellt "öffentliches Interesse" nur eine Umschreibung des Ermessens dar. 69 Zum Einfluß derartiger Faktoren auf das Bagatellisierungsverhalten vgl. Ahrens, Die Einstellung, S. 145 ff.; Blankenburg u. a., Die Staatsanwaltschaft, S. 86 ff.; Kunz, Die Einstellung, S. 56 ff. Erhebliche regionale Abweichungen werden etwa belegt bei Heinz, Strafrechtsreform, S. 649 f.; Hertwig, Die Einstellung, S. 45, 49 f.; Rieß, Entwicklung, S. 98. Hertwig, Die Einstellung, S. 254 faßt das Ergebnis seiner sorgsamen Analyse dahin zusammen, es sei ihm nicht gelungen, tat- oder täterbezogene Einstellungskriterien eindeutig auszumachen. 70 Vgl. dazu die richtungsweisende Arbeit Esser, Vorverständnis, insbes. S. 15 f., 133 ff.
1.1 Einwände
67
Rechtsstaatlichkeit mit sich. Läßt sich das Fehlen eines Rechtsbehelfs des Beschuldigten gegen die Bagatellisierungsentscheidung noch mit dessen Zustimmungs erfordernis begründen, so gilt dies für die Ablehnung einer solchen Entscheidung nicht71 • Der Einwand, im Falle der Ablehnung einer Bagatellisierung und späterer Verurteilung könne der Beschuldigte durch deren Anfechtung in der zweiten Instanz eine neuerliche Überprüfung der Bagatellisierungsgeeignetheit erzwingen, überzeugt nicht, weil es dem Beschuldigten in solchen Fällen gerade um die Vermeidung der Unbill des weiteren Strafverfahrens und des Verurteilungsrisikos geht und dieses Interesse durch die Nichtanfechtbarkeit der Ablehnung einer Bagatellisierungsentscheidung tangiert wird. Auch aus der Sicht des Verletzten ist das Fehlen einer Rechtsmittelkontrolle im Bagatellisierungsverfahren wenig befriedigend. Die gesetzliche Regelung ist widersprüchlich, insofern sie einerseits dem Verfolgungsinteresse des Verletzten durch Strafantragserfordernisse Rechnung trägt, andererseits aber die Möglichkeit eröffnet, trotz gestellten Strafantrags das Verfahren einzustellen, ohne daß der Verletzte sich dagegen wehren oder auch nur den Privatklageweg beschreiten könnte72 . Der Verletzte hat bei staatsanwaltlichen Bagatellisierungen keine Handhabe, "seine" Sache bis zu der Sachentscheidung eines Gerichts zu treiben 73 ; bei gerichtlichen Bagatellisierungen braucht er der Einstellung nicht zuzustimmen74 und hat gegen sie auch dann keine Anfechtungsmöglichkeit, wenn er als Nebenkläger zugelassen ist (§ 397 Abs. 2 StPO)75. Neben diesen aus dem formellen Rechtsstaatsprinzip herzuleitenden Bedenken begegnet das Einstellungsverfahren dem Einwand, daß es möglicherweise gar materiell rechtsstaats- und sozialstaatswidrig ist, indem es durch die Bagatellisierung gegen Geldauflagen dem zahlungs71 Für ein Rechtsmittel des Beschuldigten zur Geltendmachung der Geringfügigkeit Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 232 f. 72 Auch bei privatklagefähigen Delikten kann das Verfahren von der Staatsanwaltschaft wegen Geringfügigkeit eingestellt werden mit der Folge, daß dem Verletzten der Privatklageweg versperrt bleibt. Bei geringwertigen Eigentums- und Vermögensverletzungen, deren Verfolgung einen Strafantrag oder die Bejahung des öffentlichen Interesses voraussetzen, ist die Privatklage von vornherein unzulässig. 73 Die Zustimmung des Gerichts zu einer staatsanwaltlichen Bagatellisierung ist keine Entscheidung, sondern nur eine Prozeßerklärung, vgl. Kleinknecht, Strafprozeßordnung, Rdnr. 11 zu § 153. 74 Vgl. Dencker, Die Bagatelldelikte, S.147 unter Berufung auf Beling, der es als besonders anstößig empfand, daß der Verletzte im Bagatellisierungsverfahren einfach an die Wand gedrückt werden könne. Ähnlich Hirsch, Gegenwart, S. 817,825 ff. 75 Die Zustimmung des Nebenklägers zur Verfahrenseinstellung ist nicht erforderlich, so Meyer-Goßner, in: Löwe/Rosenberg, Strafprozeßordnung, 23. Aufl., Rdnr. 70 zu § 153 m. w. N.
5"
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1. Konzeption des EGStGB
kräftigen Beschuldigten eine Umgehung der Bestrafung ermöglicht, die minderbemittelten Bevölkerungsgruppen versagt bleibt7 6 • Da der Katalog der Auflagen und Weisungen nur Pflichten vorsieht, die der Genugtuung oder der Schadenswiedergutmachung, nicht aber spezifisch der Resozialisierung dienen, die Erfüllungsfristen relativ kurz bemessen sind und die Geldauflage die bei weitem gängigste Reaktionsart darstellt77 , kommt § 153 a StPO dem sozial angepaßten und finanziell potenten Beschuldigten zugute, während die Bestimmung auf den armen, sozial gefährdeten oder labilen Täter kaum anwendbar ist78 • Zudem liegt gerade bei gravierenden Wirtschafts- und Umweltdelikten, für die typischerweise hohe Aufklärungsschwierigkeiten kennzeichnend sind, eine Anwendung von § 153 a StPO nahe, um der zur sicheren Überführung notwendigen aufwendigen Beweiserhebung zu entgehen, auch wenn es sich bei dem Sachverhalt um alles andere als eine Bagatelle handelt. Die Kompliziertheit der Sachlage erlaubt es den zumeist guten Verteidigern, die sich dieser Täterkreis leisten kann, durch geschicktes Taktieren die Unsicherheiten in der Schuld- und Straffrage zum Gegenstand von Verhandlungen über Art und Höhe der Auflagen zu machen79 ; die Einsicht in die Beweisnot, das auch durch Sachverständige nicht voll auszugleichende Wissensdefizit von Juristen auf ökonomischem und technologischem Gebiet und der Arbeitsanfall zwingen Gerichte und Staatsanwaltschaften nicht selten, nolens volens auf das Angebot zum Teil horrender Bußzahlungen einzugehen. Die Befürchtung, der zur Reaktion auf Kleinkriminalität bestimmte § 153 a StPO entpuppe sich als probates Instrument zur "Bereinigung" eminent sozialschädlicher, aber beweisschwieriger Vorgänge, läßt sich an76 So insbes. Hanack, Das Legalitätsprinzip, S. 349 f., 357 f., 361 f.; Schmidhäuser, Freikaufverfahren, S. 536. 77 Nach meiner Untersuchung zur Bagatellisierungspraxis der Staatsanwaltschaft wurde bei 83,14 % (N = 178) aller nach § 153 a Abs. 1 StPO eingestellter Verfahren eine Geldauflage verhängt, vgl. Kunz, Die Einstellung, S.74; bei gerichtlichen Einstellungen gemäß § 153 a Abs. 2 StPO beträgt die Quote der Geldauflagen nach einer anderen Untersuchung 74,1 % (N = 232), vgl. Ahrens, Die Einstellung, S. 90. 78 Hanack, Das Legalitätsprinzip, S. 357 f. Dies um so mehr, als die Initiative zur Einstellung im Vorverfahren in der Regel vom Staatsanwalt ausgeht, Belege bei Hertwig, Die Einstellung, S. 88 f.; der minder gebildete und nicht anwaltlich vertretene Beschuldigte wird deshalb häufig aus Unkenntnis gar nicht auf eine Einstellung hin wirken können. 79 Hanack, Das Legalitätsprinzip, S. 349 f.; Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 219; eindrücklich Schmidhäuser, Freikaufverfahren, S. 535: "Es ist die Gefahr, daß das Vorurteil zugunsten des Täters ,im weißen Kragen' hier von vornherein die Schuld geringer erscheinen läßt, da er in das Bild der sonst vor Gericht stehenden Straftäter für die übliche Sicht so wenig hineinpaßt, und wer will schon der Spielverderber sein, wenn der geschickt operierende Verteidiger im geeigneten Moment erkennen läßt, daß sein Mandant alles zugebe und zu einer ansehnlichen Bußzahlung bereit sei?"
1.1 Einwände
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gesichts jüngerer Presseveröffentlichungen über ergangene Bagatellisierungsentscheidungen80 nicht von der Hand weisen 8oa • Sicher ist es überzogen, von § 153 a StPO als einer "Oase des kapitalkräftigen Großkriminellen" zu sprechen8 1; aber ebenso sicher ist es blauäugig, zu erwarten, daß die Praxis den ihr in § 153 a StPO zugewiesenen Handlungsspielraum nicht voll ausschöpft und diese Bestimmung etwa bei Wirtschaftsstraftaten grundsätzlich nicht anwendet82 • Die Frage: Bestrafung oder Ahndung im Wege von § 153 aStPO? beurteilt sich in der konkreten prozessualen Entscheidungssituation eben nicht ausschließlich nach dem von der Sozialschädlichkeit der Tat abhängigen normativen Sanktionierungsbedürfnis, sondern zugleich nach den faktischen Entscheidungsbedingungen und dem Stand der jeweiligen Ermittlungslage. Strafanspruch und Beweisnot können in Widerspruch geraten mit der Folge, daß der Strafanspruch durch die Beweisnot relativiert oder gar gänzlich aufgehoben wird83 ; weil letzteres bei gravierenden Wirtschafts- und Umweltdelikten typischerweise der Fall ist, läßt sich in solchen Fällen eine Bagatellisierung mit oder gar ohne 84 Auflagen solange nicht umgehen, wie das Gesetz dies nicht ausdrücklich untersagt. 80 So wurde im Februar 1981 von der Staatsanwaltschaft Frankfurt ein Ermittlungsverfahren gegen Manager eines Chemiekonzerns wegen Verstoßes gegen das Abfallbeseitigungsgesetz gegen Zahlungsauflage von 1.45 Millionen DM eingestellt; ihnen wurde vorgeworfen, veranlaßt zu haben, daß insgesamt 13875 Tonnen starker und 18 175 Tonnen verdünnter Säuren, dazu 1500 Tonnen Natronlauge in den Main geleitet wurden (Berichte in: Die Zeit Nr.9 vom 20.2.81, FAZ vom 14.2.81). Karlhans Liedl vom MPI Freiburg berichtete in der Sendung "Die Dunkelmann-GmbH" des ZDF vom 11.11. 81 von einer bislang unveröffentlichten Untersuchung des MPI, aus der sich ergibt, daß Wirtschaftsstraftaten bis zu einer Schadenshöhe von 100 000 DM bagatellisiert wurden. 80a Hertwig, Die Einstellung, S. 255 gelangt zu dem eingehend belegten Befund, die §§ 153, 153 a StPO dienten in der gerichtlichen Praxis häufig als "Notbremse" zur Vermeidung von Freisprüchen. 81 So R. Müller, Begünstigung, S. 55. 82 So Meyer-Goßner, in: Löwe/Rosenberg, Strafprozeßordnung, 23. Aufl., Rdnr. 24 zu § 153 a. Unter den Landesjustizverwaltungen besteht nicht nur Einigkeit darüber, daß § 153 a StPO auch auf Wirtschaftsstraftaten Anwendung finden soll; darüber hinaus gehen die Landesjustizverwaltungen sogar davon aus, daß die Höhe des Schadens gerade bei Wirtschaftsdelikten einer Bagatellisierung nicht entgegensteht, sofern die Anwendungsvoraussetzungen von § 153 a StPO aus sonstigen Gründen bejaht werden können, vgl. hierzu den Nachweis bei Kramer, Willkürliche oder kontrollierte Warenhausjustiz, S. 1610, Fußnote 46. 83 Dazu eingehend Blankenburg u. a., Die Staatsanwaltschaft, S. 86 ff.; Kunz, Die Einstellung, S. 56 ff. 84 Die in meiner empirischen Untersuchung erfaßten Bagatellisierungen bei Wirtschaftsstraftaten ergingen sämtlich sanktionslos nach § 153 StPO, obgleich der durch diese Taten verursachte Schaden im Durchschnitt DM 1384,40, in einem Fall gar DM 50 000 betrug, vgl. Kunz, Die Einstellung, S. 76.
1. Konzeption des EGStGB
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Dies wird durch die umfängliche empirische Untersuchung von Berckhauer zur Verfolgung von Wirtschaftsdelikten84a eindrücklich belegt. Danach sind Schadenshöhen bis zu 20 000 DM einer staatsanwaltlichen Einstellung wegen Geringfügigkeit besonders förderlich84b ; im Jahre 1974 wurden rund 11 Ofo aller nicht zur Anklage gelangten Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts eines Wirtschaftsdelikts sanktionslos bagatellisiert84c • Noch augenscheinlicher wird die faktische Privilegierung von Wirtschaftstraftätern durch die Einstellung wegen Geringfügigkeit bei gerichtlichen Erledigungen. Hier überwiegen die Fälle der Bagatellisierung diejenigen des Freispruchs. In nahezu der Hälfte der nicht zu einer Verurteilung führenden Hauptverfahren erging eine Einstellung wegen Geringfügigkeit, wobei die sanktionslosen Einstellungen nach § 153 Abs. 2 StPO die Einstellungen gegen Auflagen nach § 153 a Abs. 2 StPO um mehr als das Doppelte übertrafen und die Geldbußenauflagen sich auf im Vergleich zur Schadenshöhe überaus mäßige Beträge - zwischen 500 und 9000 DM - beliefen84d • Die bislang vorgetragenen Argumente spiegeln ein von weiten Kreisen des Schrifttums geteiltes Unbehagen, das sich gegen diese fraglos revolutionierende Neugestaltung des Strafverfahrens breitrnacht. Sie lassen jedoch nicht erkennen, ob es sich bei den vorgebrachten Bedenken gegen das Einstellungsverfahren um mehr oder weniger unliebsame Folgewirkungen handelt, die mangels praktikabler alternativer Lösungen möglicherweise in Kauf genommen werden müssen oder ob damit Verfassungsverstöße moniert werden, die unter keinen Umständen hingenommen werden können. Zur Prüfung dieser Frage ist die Verfassungsmäßigkeit des Einstellungsverfahrens wegen Geringfügigkeit zu untersuchen. Dabei wird es darum gehen, die Gesichtspunkte, die zu einer verfassungsrechtlichen Beanstandung Anlaß geben können, unter dem spezifischen Blickwinkel ihrer Relevanz für die Verfassungsmäßigkeit der §§ 153, 153 a StPO auszuleuchten; eine umfassende Aufarbeitung der anzusprechenden Verfassungsgebote ist im Rahmen vorliegender Arbeit weder möglich noch notwendig. 1.2 Verfassungsmäßigkeit des geltenden Bagatellisierungsverfahrens Die geltende gesetzliche Regelung gibt in dreierlei Hinsicht zur verfassungs rechtlichen überprüfung Anlaß: erstens, indem sie möglicherBerckhauer, Die Strafverfolgung. Berckhauer, Die Strafverfolgung, S. 160. 84C Berckhauer, Die Strafverfolgung, S. 154. Zur staatsanwaltlichen Einstellung gegen Auflagen trägt die Untersuchung, die sich insoweit auf den Rechtszustand vor Einführung des § 153 a StPO bezieht, nichts bei. 84d Berckhauer, Die Strafverfolgung, S. 205 ff. 84a 84b
1.2 Verfassungsmäßigkeit
71
weise gegen die Unschuldsvermutung bzw. das Schuldprinzip verstößt; zweitens, indem sie dem Staatsanwalt im Bereich der Bagatelldelinquenz eine womöglich dem Richter vorbehaltene Entscheidungs- und Sanktionsgewalt zuweist; und drittens, indem sie die generelle, womöglich dem Gesetzgeber vorbehaltene Abschichtung zwischen geringfügigen und erheblichen Straftaten in das einzelfallbezogene Ermessen der Rechtsanwendungsorgane legt. 1.21 Verletzung der Unschuldsvermutung bzw. des Schuldprinzips durch die Einstellung wegen Geringfügigkeit?
Die in Art. 6 Abs. 2 MRK und in verschiedenen Länderverfassungen84e positivrechtlich normierte Unschuldsvermutung ist durch das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG konstitutionell garantiert: das Rechtsstaatsprinzip gewährleistet ein faires Verfahren, in dem niemand als schuldig behandelt werden darf, bevor der Nachweis seiner Schuld durch rechtskräftiges Urteil eines ordentlichen Gerichts erbracht ist85 • Eine Verletzung der Unschuldsvermutung kann im unbedingten Verfolgungsverzicht nach § 153 StPO nicht erblickt werden. Der unbedingte Verfolgungsverzicht wegen Geringfügigkeit fordert als Anwendungsvoraussetzung nur die überwiegend wahrscheinliche Nachweisbarkeit eines verschuldeten Vergehens86 • Da somit durch die Einstellung nach § 153 StPO keine definitive Schuldfeststellung getroffen, sondern nur konstatiert wird, daß nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen eine gewisse Wahrscheinlichkeit für ein Verschulden spricht, bleibt die Unschuldsvermutung uneingeschränkt gewahrt87 • Komplizierter liegen die Dinge bei der Einstellung gegen Auflagen bzw. Weisungen nach § 153 aStPO. Im Unterschied zur unbedingten Einstellung wegen Geringfügigkeit muß hier das Verschulden positiv festgestellt werden88 ; der positive Schuld nachweis ist unabdingbar, weil das Schuldprinzip eine strafrechtliche Ahndung, wie sie die Verhängung von Auflagen und Weisungen darstellt8U, nur bei verschuldeter Tatbegehung zuläßt90 • Damit scheint sich der Begründungsversuch einer 8 4e Berlin Art. 65 Abs. 2; Bremen Art. 3; Hessen Art. 20 Abs. 2 Satz 1; Rheinland-Pfalz Art. 6 Abs. 3 Satz 2; Saarland Art. 14 Abs. 2. 85 Vgl. BVerfGE 22, 254 (265). 86 Vgl. oben Kap. 1, S. 52. 87 So Dreher, Die Behandlung, S.938; Meyer-Goßner, in: Löwe/Rosenberg, Strafprozeßordnung, 23. Aufl., Rdnr. 12 zu § 153. 88 Vgl. oben Kap. 1, S.53. 89 Vgl oben Kap. 1.1, S. 60. 90 Der Satz "keine Strafe ohne Schuld" gilt nicht nur für die Kriminalstrafe im engeren Sinne, sondern für jede Maßnahme mit strafrechtlichem
72
1. Konzeption des EGStGB
Verfassungskonformität von § 153 a StPO in eine Aporie zu verstrikken: entweder wird dem verfassungs rechtlich garantierten91 Schuldprinzip folgend die Sanktionierung nach § 153 a StPO vom positiven Nachweis des Verschuldens abhängig gemacht - dann wird die verfassungsrechtlich gleichermaßen gewährleistete Unschuldsvermutung verletzt, da die Schuld nicht durch rechtskräftiges Urteil festgestellt ist; oder aber die Unschuldsvermutung bleibt aufrechterhalten - dann fehlt nach dem Schuldprinzip die verfassungsrechtliche Legitimation, im Wege des § 153 a StPO strafrechtliche Sanktionen zu verhängen92 • Die angedeutete Aporie ist jedoch nur eine scheinbare; dies wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Anforderungen an den Schuldnachweis bei staatsanwaltlichen Einstellungen nach § 153 a Abs.1 StPO nicht strenger sind als bei der Anklageerhebung 93 • Die Anklageerhebung, die auf einer prozessualen Prognose über die Wahrscheinlichkeit der Verurteilung beruht, setzt das Bestehen hinreichenden Tatverdachts voraus (§§ 170 Abs.1, 203 StPO). Der unbestimmte Rechtsbegriff "hinreichender Tatverdacht" läßt dem Staatsanwalt einen nicht unerheblichen Beurteilungsspielraum94 • Ob in tatsächlicher Hinsicht hinreichender Tatverdacht anzunehmen ist, hängt von der Intensität der durchgeführten Ermittlungen ab 95 • Der Staatsanwalt ist berechtigt und nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verpflichtet, das Ausmaß der Ermittlung an der Schwere des mutmaßlichen Tatvorwurfs auszurichten; bei weniger gravierenden Delikten kann von einer minutiösen Sachverhaltsaufklärung abgesehen und von einer vorläu-
Ahndungsgehalt, denn auch dadurch wird staatliche Mißbilligung ausgedrückt und übelszufügung bewirkt, die sich nur als Ausgleich für den schuldhaft durch die Tat angemaßten Eingriff in fremde Rechtsgüter legitimieren läßt; vgl. dazu etwa Leibholz/Rinck/Hesselberger, Grundgesetz, Rdnr. 286 zu Art. 20 sowie BVerfGE 20, 331, wonach die strafrechtliche oder strafrechtsähnliche Ahndung einer Tat ohne Schuld des Täters für rechtsstaatswidrig erklärt wird. 91 Vgl. BVerfGE 6, 389 ff. (439); 20, 323 ff. (331); BGHSt 13, 192. 92 Letztere Alternative wird von Hirsch vertreten, vgl. Hirsch, Zur Behandlung, S.233. Diese Aporie wird in der Literatur offenbar übersehen: die Befürworter einer Verfassungskonformität von § 153 a StPO begnügen sich insoweit mit dem Hinweis, daß bei erfolgter Einstellung gegen Auflagen bzw. Weisungen die Unschuldsvermutung auf den Beschuldigten uneingeschränkt Anwendung finde, so etwa Meyer-Goßner, in: Löwe/Rosenberg, Strafprozeßordnung, 23. Aufl., Rdnr. 8 zu § 153 a. 93 Kleinknecht, Strafprozeßordnung, Rdnr. 7 zu § 153 a. 94 Vgl. BGH JZ 1970, S. 729 f.; OLG Karlsruhe NJW 1974, 806 f. (807). 95 Kausch, Der Staatsanwalt, S. 221 spricht insoweit fälschlich von einem "Ermessen" der Staatsanwaltschaft über die Intensität der durchzuführenden Ermittlungen; in Wahrheit handelt es sich dabei um einen Beurteilungsspielraum.
1.2 Verfassungsmäßigkeit
73
figen Tatbewertung ausgegangen werden 96 • Da die Einstellung gegen Auflagen bzw. Weisungen sich auf Deliktsverwirklichungen bezieht, die gegenüber anklagewürdigen Fällen einen typischerweise geminderten Unrechts- und Schuldgehalt aufweisen, läßt sich erwägen, ob der Ermittlungsaufwand nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hier nicht noch geringer gehalten werden darf als bei der Anklageerhebung; die Anlegung eines strengeren Maßstabes an die Ermittlungsintensität verbietet sich jedenfalls. Die mißverständliche These, die beteiligten Justizorgane müßten bei der Einstellung unter Auflagen bzw. Weisungen von der Schuld des Täters überzeugt sein97 , steht dieser Einsicht nicht entgegen. Insbesondere läßt sich daraus kein höherer Verdachtsgrad als der des hinreichenden Tatverdachts ableiten 98 • Das Ausmaß des für die Einstellung nach § 153 a Abs. 1 StPO erforderlichen Tatverdachts ist eine nach Kriterien objektiver Wahrscheinlichkeit zu bestimmende Größe; das Erfordernis der subjektiven überzeugtheit besagt lediglich, daß man sich der verschuldeten Tatbegehung gewiß sein muß, ohne den objektiven Verdachtsgrad zu benennen, bei dem diese subjektive Annahme objektiv hinlänglich fundiert ist. Die scheindeskriptive Aussage, das Verschulden stehe zur überzeugung der Justizorgane fest, ist in Wahrheit eine normative Beurteilung, die begründungspflichtig dafür ist, wann die empirischen Voraussetzungen gegeben sind, daß dieses Urteil als gesichert gelten kann99 • Nichts hindert daran, den Begriff der subjektiven überzeugtheit so zu definieren, daß er bereits bei hinreichendem Verdacht als erfüllt anzusehen ist1 °O. Damit setzt die Einstellung nach § 153 a Abs. 1 StPO keineswegs voraus, daß ein Verschulden feststeht; vielmehr impliziert sie lediglich 96
BGHSt 23, 304 ff. (306). Unmißverständlich Rieß, Die Zukunft, S.4: Der
Aufklärungsaufwand wird nach antizipierten Erfolgseinschätzungen und nach der Deliktschwere dosiert."
97 So Hanack, Das Legalitätsprinzip, S.349; Meyer-Goßner, in: Löwe/ Rosenberg, Strafprozeßordnung, 23. Auflage, Rdnr.16 zu § 153 a; Rüth, Die ab 1. 1. 1975 verkehrsrechtlich bedeutsamen Änderungen, S. 6. 98 So aber Schuth, Die Einstellung, S. 163 ff., der annimmt, es sei die subjektive Verurteilungsgewißheit erforderlich, die sich bei durchermitteltem Sachverhalt aus der Aktenlage ergibt und daraus schließt, der Verdachtsgrad liege eher bei der Stufe des dringenden als der des hinreichenden Tatverdachts (S. 166). Die Unhaltbarkeit dieser Annahme zeigt sich bereits dar an, daß auch bei der lediglich hinreichenden Tatverdacht erfordernden Anklageerhebung der Staatsanwalt nach Aktenlage von der späteren Verurteilung überzeugt sein muß; andernfalls dürfte er keine Anklage erheben. 99 Zur Normativität der Schuldzurechnung später ausführlich. 100 Vgl. Volk, Wahrheit, S. 10, der hervorhebt, daß sogar die Unschuldsvermutung, verstanden als rein innerprozessuale Direktive, so ausgelegt werden könne, daß sie bereits bei hoher Wahrscheinlichkeit eines Tatnachweises als widerlegt anzusehen ist. Zum Zusammenhang zwischen Unschuldsvermutung und Tatverdacht grundlegend Krauß, Der Grundsatz, S. 170 f.
1. Konzeption des EGStGB
74
die Feststellung darüber, daß die Annahme eines Verschuldens aufgrund des durchgeführten Verfahrens hinreichend begründet ist101 • Die Anforderungen an den Schuldnachweis in § 153 a StPO sind demnach gegenüber den Anforderungen in § 153 StPO nur graduell gesteigert: während der unbedingte Verfolgungsverzicht wegen Geringfügigkeit eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer verschuldeten Tatbegehung genügen läßt, erfordert der durch Auflagen bzw. Weisungen bedingte Verfolgungsverzicht die hinreichend begründete Annahme des Vorliegens eines Verschuldens, deren Maßstab sich aus dem des hinreichenden Tatverdachts bei der Anklageerhebung ergibt102 • Die staatsanwaltliche Einstellung gegen Auflagen bzw. Weisungen verstößt deshalb ebensowenig gegen die Unschuldsvermutung wie die Anklageerhebung, weil hier wie dort mit der Entscheidung keine definitive Schuldfeststellung verbunden ist. Entsprechendes gilt bei gerichtlichen Einstellungen nach § 153 a Abs. 2 StPO; auch sie beinhalten - wie der gerichtliche Eröffnungsbeschluß nach § 203 StPO lediglich einen Ausspruch über den hinreichenden Verdacht einer schuldhaften Tatbegehung102a • Die sich hieraus scheinbar zwingend ergebende Konsequenz eines Verstoßes gegen das Schuldprinzip läßt sich ebenfalls nicht halten. Die Auferlegung der in § 153 a StPO vorgesehenen Pflichten ist keine unzulässige "Verdachtstrafe", denn die Sanktionierung knüpft hier nicht an das Bestehen eines "bloßen" Tatverdachts an, vielmehr an die Bereitschaft aller Beteiligten, das Verfahren einverständlich vorzeitig zu beendigen, obwohl hinreichender Tatverdacht besteht, der nach dem Erkenntnisstand im Zeitpunkt der Entscheidung eine Verurteilung erwarten läßt103 • Wenn der Beschuldigte sich der Maßnahme nach § 153 a StpO unterwirft und nur dadurch die Wahrscheinlichkeit einer ungleich härteren Sanktion von sich abwendet, trägt er - wenn auch oft widerwillig - die Entscheidung vollinhaltlich mit104 • Der hinreichende TatÄhnlich Kleinknecht, Strafprozeßordnung, Rdnr.7 zu § 153 a. Vgl. Kleinknecht, Strafprozeßordnung, Rdnr.7 zu § 153 a. 102a Einstellungsentscheidungen, die in ihrer Begründung den Eindruck erwecken, der Beschuldigte sei "für schuldig" befunden, sind demgemäß systemwidrig und verletzen die Unschuldsvermutung. Zu dieser neuerdings vom Eur. Ger.hof für Menschenrechte geteilten Auffassung Kühl, Unschuldsvermutung. 103 Unzutreffend Schuth, Die Einstellung, S. 164, der hinreichenden Tatverdacht für die Einstellung nach § 153 a StPO deshalb nicht für ausreichend erachtet, weil Sanktionen auf Verdacht dem rechtsstaatlichen Prozeß fremd seien. Wenn die Maßnahme nach § 153 a stPO eine "Sanktion auf Verdacht" darstellte, wäre sie auch bei dem von Schuth für Einstellungen gegen Auflagen vorgeschlagenen Verdachts grad des dringenden Tatverdachts (S. 166) unzulässig. 104 Selbstverständlich sind seine Zustimmung zu der in Aussicht gestellten Maßnahme und die Erfüllung der auferlegten Pflichten ebensowenig wie der 101
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1.2 Verfassungsmäßigkeit
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verdacht ist nur eine notwendige Voraussetzung des Verfolgungsverziehts gegen Auflagen bzw. Weisungen, die einverständliche Bereitschaft zur vorzeitigen Verfahrensbeendigung ist hingegen sein unmittelbarer Anlaß und seine Legitimationsgrundlage. Der Gesichtspunkt vorzeitiger Verfahrensbeendigung in einem Stadium, in dem weder Schuld noch Unschuld mit Gewißheit feststehen, läßt neuerlich Bedenken gegen die Wahrung der Unschuldsvermutung aufkommen, insofern der Verfahrens abbruch ja einen Verzicht auf weitere Ermittlungen mit dem Ziele der Feststellung der Unschuld beinhaltet. Aus der Unschuldsvermutung läßt sich jedoch nur negativ ein Anspruch des in ein Strafverfahren verwickelten Tatverdächtigen auf Behandlung als nicht-schuldig, nicht hingegen positiv ein Anspruch auf Feststellung seiner Unschuld herleiten. Im Strafverfahren geht es generell nicht um die Erweisbarkeit der Unschuld, vielmehr immer um die Erweisbarkeit oder Nichterweisbarkeit der Schuld; die Erweisbarkeit der Schuld oder die Bestätigung der Unschuldsvermutung, nicht die Bestätigung der Unschuld selbst steht im Prozeß zur Prüfung. Dies wird daraus deutlich, daß das freisprechende im Gegensatz zum verurteilenden Urteil keine Gestaltungswirkung zeitigtl05 und der Freispruch bzw. die Einstellung mangels Nachweisbarkeit dem Freispruch bzw. der Einstellung wegen erwiesener Unschuld gleichgestellt sindl08 • Auch beim Freispruch bzw. der Einstellung mangels Nachweisbarkeit wird der Beschuldigte nur negativ rehabilitiert, insofern festgestellt wird, daß er als nicht-schuldig zu gelten hat, ohne daß zur Frage der positiven Erweisbarkeit der Unschuld Stellung genommen wird. Nicht anders verhält es sich beim Verfolgungsverzicht wegen Geringfügigkeit.
Rechtsmittelverzicht gegen ein Urteil als Schuldeingeständnis zu werten, da hierbei taktische Erwägungen im Vordergrund stehen, vgl. Meyer-Goßner, in: Löwe/Rosenberg, Strafprozeßordnung, 23. Auflage, Rdnr.8 zu § 153 a. Nach Krauß, Der Grundsatz, S. 172 gibt die Unschuldsvermutung dem Gesetzgeber auf, die Stellung des Beschuldigten an der Möglichkeit späteren Freispruchs zu orientieren; diese Möglichkeit bleibt hier voll erhalten, da bei Nichterfüllung der Auflage und anschließender Fortsetzung des Verfahrens ein Freispruch ohne weiteres möglich ist. 105 Kleinknecht, Strafprozeßordnung, Einleitung, Rdnr. 3. 108 Streng genommen verbietet es sich daher überhaupt innerhalb der freisprechenden Rechtsfolgen danach zu differenzieren, ob die Unschuld positiv festgestellt wird: die Vorstellung eines "Freispruchs zweiter Klasse", der sich "nur" auf die mangelnde Erweisbarkeit des Verschuldens stützt, ist systemwidrig, weil es im Strafprozeß immer nur eben darum geht. Seit Einführung des EGOwiG vom 24. 5. 1968 (BGBI. I, 503) ist auch hinsichtlich der Kostentragungspflicht die frühere Differenzierung zwischen Freisprüchen wegen erwiesener Unschuld und mangels Nachweises (§ 467 StPO a. F.) aufgehoben.
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1. Konzeption des EGStGB
1.22 Verletzung der Unschuldsvermutung durch die auslagenmäßige Behandlung?
Freilich ist in Anbetracht der uneingeschränkt anwendbaren Unschuldsvermutung die auslagenmäßige Behandlung von Einstellungen wegen Geringfügigkeit nicht unbedenklich. Während die Verfahrenskosten von der Staatskasse übernommen werden, hat der Beschuldigte bei einer Einstellung nach § 153 a StPO seine notwendigen Auslagen zwingend selbst zu tragen (§§ 467 Abs.5, 467 a Abs. 1 Satz 2 StPO); bei unbedingtem gerichtlichem Verfolgungsverzicht nach § 153 Abs.2 StPO kommt eine Auslagenerstattung durch die Staatskasse fakultativ (§ 467 Abs.4 StPO) und bei unbedingtem staatsanwaltlichem Verfolgungsverzicht nach § 153 Abs. 1 StPO unter der zusätzlichen Voraussetzung in Betracht, daß das Verfahren nach einer ursprünglich erhobenen und inzwischen zurückgenommenen Anklage eingestellt wird (§ 467 a Abs. 1 Satz 1 StPO). Durch die Auslagenüberbürdung auf den Beschuldigten wird dieser bei einer Einstellung wegen Geringfügigkeit auslagenrechtlich wie ein Verurteilter behandelt. Mit der bei § 153 a StPO geltenden Unschuldsvermutung läßt es sich nicht vereinbaren, die Auslagentragungspflicht damit zu begründen, daß die dem Beschuldigten auferlegten Pflichten als eine einer Verurteilung ähnliche Sanktion zu werten sind l07 : wenn die Unschulds vermutung gilt, ist der Beschuldigte uneingeschränkt, also auch hinsichtlich der Erstattung seiner Auslagen als nicht verurteilt und damit unschuldig anzusehenl08 • In gleicher Weise verstößt es gegen die Unschuldsvermutung, bei unbedingtem Verfolgungsverzicht nach § 153 StPO die fakultative Auslagenerstattung von dem Ausmaß der Gewißheit oder Wahrscheinlichkeit der Schuld abhängig zu machen l09 : wenn die Unschuldsvermutung uneingeschränkt, also auch hinsichtlich der Auslagenerstattung gilt, ist die mehr oder weniger vorhandene Wahrscheinlichkeit des Verschuldens kein geeigneter Maßstab für die Auslagenentscheidung. Die Unschuldsvermutung verbietet es auch, bei der Auslagenentscheidung auf die Höhe des als wahrscheinlich erachteten Verschuldens abzustellen und von der Erstattung der notwendigen Aufwendungen in Fällen abzusehen, wo das 107 So aber Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, Strafprozeßordnung, 23. Aufl., Rdnr. 23 vor § 464. 108 Bedenklich daher BVerfGE 22, 254 ff. (265), wo in bezug auf § 467 StPO a. F. ohne nähere Begründung davon ausgegangen wird, daß die Unschuldsvermutung durch die früher bloß fakultativ vorgesehene Auslagenerstattung bei Freisprüchen mangels Nachweises nicht berührt werde. Vgl. dazu bereits oben Fußnote 106. 109 So aber OLG Celle MDR 1970, S.439; OLG Hamm NJW 1969, S.1448; LG Mannheim NJW 1971, S.2319; Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, Strafprozeßordnung, 23. Aufl., Rdnr.67 zu § 467.
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mutmaßliche Verschulden zwar noch geringfügig, aber nicht mehr völlig unbedeutend ist; die Höhe des Verschuldens ist - selbst wenn die Schuld feststünde - kein Kriterium für die Auslagenerstattung, weil sich die Höhe der Auslagen nicht nach dem Ausmaß des Verschuldens, sondern nach Beweisbedürftigkeit, -fähigkeit und -umfang bemißtllO • Eine Rechtfertigung für die Auslagentragung durch den Beschuldigten könnte sich indes aus dem als legitimierende Grundlage des gesamten Kostenrechts herangezogenen111 Veranlassungsgrundsatz ergeben, insofern der Beschuldigte mit der Zustimmung zu der in Aussicht genommenen Maßnahme nach §§ 153 Abs. 2, 153 a StPO und der Erfüllung der ihm nach § 153 a StPO auferlegten Pflichten die mit Auslagen verbundene Verfahrensbeendigung selbst "veranlaßt" hat112• Aber abgesehen davon, daß diese Begründung nicht zu erklären vermag, warum bei unbedingten Bagatellisierungen eine Auslagenerstattung durch die Staatskasse fakultativ in Betracht kommt (§§ 467 Abs. 4, 467 a Abs. 1 Satz 2 StPO), wo doch auch hier der Beschuldigte mit seiner Zustimmung die Einstellung "veranlaßt", kann bei den im Einvernehmen aller Verfahrensbeteiligten ergangenen Einstellungen wegen Geringfügigkeit im strengen Sinne nicht davon gesprochen werden, allein der Beschuldigte habe die Einstellung veranlaßt. Das Strafverfahren selbst, aus dem die Auslagen erwachsen, hat der Beschuldigte jedenfalls nicht veranlaßt, sondern mit seinem Tatverhalten nur eine von mehreren notwendigen Bedingungen gesetzt, die zu dem Verfahren führen. Die Veranlassung des Strafverfahrens ist nicht Sache des Beschuldigten, vielmehr Konsequenz der gesellschaftlichen Einwirkungsmöglichkeiten von Strafrecht überhaupt113 ; der Beschuldigte wird im Gegenteil gerade alles vermeiden, um einen Prozeß gegen sich zu veranlassen114 • Als Begründung für eine Auslagenüberbürdung auf den Beschuldigten können daher115 nur fiskalische Interessen angeführt werden. Wie bei 110 Hassemer, Dogmatische, kriminalpolitische und verfassungsrechtliche Bedenken, S. 669. 111 BVerfGE 18, 302 ff. (304); Kleinknecht, Strafprozeßordnung, Rdnr.2 vor § 464. 112 So für Einstellungen nach § 153 a stPO die Begründung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, vgl. BT-Drucksache 7, 1261 zu Art. 19 Nr.130. 113 Hassemer, Dogmatische, kriminalpolitische und verfassungsrechtliche Bedenken, S. 666; vgl. auch Göller, Reform, S.57. 1U Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Teil II, II vor § 464 Rdnr. 9. m Andere kostenrechtliche Prinzipien kommen als Rechtfertigung für eine Auslagentragung des Beschuldigten nicht in Betracht: der Verschuldensgrundsatz taugt hierfür nicht, weil er an ein Fehlverhalten im Zusammenhang mit dem Strafverfahren anknüpft und die Zustimmung des Beschuldigten zur Verfahrenseinstellung nicht als Fehlverhalten begriffen werden kann.
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staatsanwaltschaftlichen Einstellungen des Ermittlungsverfahrens ein Auslagenerstattungsanspruch abgesehen von den höchst seltenen Fällen des § 467 a Abs. 1 Satz 1 StPO generell ausgeschlossen ist, weil bei der großen Zahl eingestellter Ermittlungsverfahren eine allgemeine Erstattungspflicht namentlich in Zeiten schlechter Haushaltslage zu einer untragbaren Belastung der Staatskasse führen müßte116, rechnet das Gesetz aus fiskalischen Erwägungen die unbedingte gerichtliche Bagatellisierung fakultativ und die bedingte Bagatellisierung zwingend auslagenmäßig dem finanziellen Risikobereich des Betroffenen zu. Wie immer notwendig die Berücksichtigung fiskalischer Belange sein mag - eine Durchbrechung der Unschuldsvermutung durch auslagenmäßige Gleichbehandlung des Beschuldigten, dessen Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt wurde, mit einem Verurteilten läßt sich damit nicht rechtfertigen117 • Da der Verzicht auf Auslagenerstattung bei minderbemittelten Beschuldigten, die sich keinen Verteidiger leisten können, zu einer Erschwerung der Verteidigungsmöglichkeiten und zu einer Verminderung der Bagatellisierungschance118 führt, behindert das Ziel, die Staatskasse zu entlasten, zudem die Erreichung des höherwertigen Ziels der Gewährleistung von Gleichheit vor dem Gesetz119 • Die Auslagenregelung bei Einstellungen wegen Geringfügigkeit ist daher verfassungswidrig, insofern die verfassungsrechtlich garantierte Unschuldsvermutung und das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG bei Einstellungen wegen Geringfügigkeit zwingend eine Auslagenerstattung durch die Staatskasse verlangen. Ferner hat er mit den Auslagen des Verfahrens keinen Zusammenhang, weil sich diese nicht nach Schuld-, sondern nach ökonomischen Gesichtspunkten bemessen; im Übrigen legitimiert sich auch die Aufbürdung der Gerichtskosten nicht aus Verschulden, denn Gebühren hat der Kostenschuldner auch zu zahlen, wenn er schuldlos gehandelt hat. Der BiHigkeitsgrundsatz ist zur Begründung der Auslagentragungspflicht ebenfalls untauglich, weil er nur eine Grenzbestimmung der anderen Kostentragungsgrundsätze leistet und unerwünschte Konsequenzen aus der Anwendung dieser Begründungsprinzipien korrigiert. Vgl. hierzu Hasserner, Dogmatische, kriminalpolitische und verfassungsrechtliche Bedenken, S. 658 f. 118 So Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, Strafprozeßordnung, 23. Aufl., Rdnr.23 vor § 464. Ähnlich Rieß, Gesamtreform, S.77. 117 Die von mir früher vertretene Auffassung, die Auslagenregelung des geltenden Rechts sei (noch) rechtsstaatlich vertretbar (vgl. Kunz, Die Einstellung, S. 102) ist daher zu revidieren. Anderer Ansicht Kühl, Unschuldsvermutung, S.1267. 118 Zum Zusammenhang zwischen Bagatellisierungschance und Verteidigermitwirkung vgl. Kunz, Die Einstellung, S. 83 ff., 100. Zur Bedeutung des Verteidigers für die Einstellungsbereitschaft der Staatsanwaltschaft generell vgl. Blankenburg u. a., Die Staatsanwaltschaft, S. 138. 119 Vgl. Hassemer, Dogmatische, kriminalpolitische und verfassungsrechtliche Bedenken, S.670. Neuerdings ähnlich M. J. Schmid, Zur Kostenbelastung, S. 210 f.
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Verfassungsmäßigkeit
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Die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Auslagenregelung bei Bagatellisierungen lassen sich in ähnlicher Weise gegen den Verzicht auf Auslagenerstattung im Ermittlungsverfahren und gegen die Kostenund Auslagenbelastung des verurteilten Angeklagten erheben. Wenn die gesetzliche Kosten- und Auslagenverteilung sich nicht mit Rechtsprinzipien wie Veranlassungsgrundsatz, Verschuldensgrundsatz und Billigkeitsgrundsatz, sondern nur mit fiskalischen Interessen begründen läßt, kollidiert die finanzielle Belastung des in ein Strafverfahren Verstrickten durch die Benachteiligung Minderbemittelter generell mit dem Gleichheitsgrundsatz und zudem bei Einstellungen des Ermittlungsverfahrens mit der Unschuldsvermutung und bei Verurteilungen mit dem ResozialisierungszieP20. Die vorgetragenen Bedenken sind daher nicht peripherer Art, sie rütteln vielmehr am Fundament des strafprozessualen Kostenrechts insgesamt. Deshalb erscheint es vertretbar, von einer Änderung der verfassungswidrigen Auslagenregelung bei Einstellungen wegen Geringfügigkeit solange abzusehen, bis eine grundsätzliche Neugestaltung des Kostenrechts im Strafverfahren in Sicht istl2l • Ein einseitiges Vorpreschen des Gesetzgebers auf dem Gebiet der Auslagenregelung von Bagatellisierungen führte in der Praxis nur zu einer drastischen Verringerung der Zahl der Einstellungen wegen Geringfügigkeit und zu einer Erhöhung der Anklagequote - womit weder den berechtigten Belangen des Beschuldigten noch denjenigen einer geordneten Strafrechtspflege gedient wäre. Zu fordern ist daher einstweilen, daß die Gerichte die KannBestimmung des § 467 Abs. 4 StPO im Wege verfassungskonformer Auslegung als Muß-Bestimmung interpretieren und bei unbedingten gerichtlichen Bagatellisierungen wie bei unbedingten staatsanwaltlichen Bagatellisierungen unter den zusätzlichen Voraussetzungen des § 467 a Abs. 1 Satz 1 StPO zwingend eine Auslagenerstattung durch die Staatskasse anordnen. Zwischenzeitlich ist der Gesetzgeber aufgerufen, baldmöglichst durch eine grundlegende Revision des strafprozessualen Kostenrechts den verfassungsrechtlichen Postulaten Genüge zu tun122 . 120 So Hasserner, Dogmatische, kriminalpolitische und verfassungsrechtliche Bedenken, S. 670 f. Göller, Reform, S.58 meint freilich ohne nähere Begründung, der Beschuldigte handele bei der Verursachung von Auslagen generell auf eigenes Risiko und schließt daraus, die notwendigen Auslagen sollten grundsätzlich - selbst bei Freispruch - nicht der Staatskasse zur Last fallen. 121 Einen ersten Ansatz dazu bietet Die Verteidigung, Gesetzentwurf, § 3, wonach unabhängig vom Verfahrens ausgang die Staatskasse die Verteidigerkosten übernehmen soll. Zur Unumgänglichkeit einer grundlegenden Kostenreform vgl. auch Göller, Reform, S. 56 m. w. N. 122 Die vorübergehende Hinnahme eines an sich verfassungswidrigen Zustandes verbunden mit der Aufforderung an den Gesetzgeber, baldmöglichst eine verfassungskonforme Regelung zu treffen, ist unserem Verfassungsverständnis nicht fremd; das Bundesverfassungsgericht hat diese Lösung bei der
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1. Konzeption des EGStGB
1.23 Verfassungswidrige Verlagerung ricllterlicller Kompetenzen auf den Staatsanwalt?
Die Bestimmungen der §§ 153, 153 a StPO schaffen ein Entscheidungsverfahren eigener Art, das bei der Behandlung der Bagatelldelinquenz die richterlichen Kompetenzen beschneidet und dem Staatsanwalt einen justizinternen Machtzuwachs beschert. Dem Staatsanwalt obliegt es im Ermittlungsverfahren, in eigener Verantwortung das Ausmaß des Verschuldens zu taxieren und auf Grund eines von ihm als geringfügig eingestuften Verschuldens mit oder gar ohne Zustimmung des Gerichts nach Ermessen von der weiteren Verfolgung abzusehen oder den Verfolgungsverzicht von der Erfüllung von Auflagen bzw. Weisungen abhängig zu machen. Durch die Einstellungsbefugnis des Staatsanwalts nach § 153 Abs. 1 StPO und seine Sanktionsverhängungsbefugnis nach § 153 a Abs. 1 StPO könnte der einfache Gesetzgeber dem Staatsanwalt Kompetenzen übertragen haben, die von Verfassungs wegen dem Richter vorbehalten sind. Ob dies der Fall ist, bemißt sich nach den verfassungsrechtlich verbürgten Prinzipien der Gewaltentrennung und des Rechtsprechungsmonopols der Gerichte. Der in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG angesprochene Gewaltentrennungsgrundsatz wird durch Art. 92 GG, der die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut, konkretisiert und ergänzt: als die dort vorgeschriebenen besonderen Organe für die Rechtsprechung werden die Richter bezeichnet, denen Art. 92 GG ein Rechtsprechungsmonopol zuweist123 • Zum zentralen Bestand dieses Rechtsprechungsmonopols gehört die Rechtsprechung in Strafsachen124 • Der allgemeine Gewaltentrennungsgrundsatz, welcher zum Schutz des Einzelnen vor staatlicher Willkür auf eine gegenseitige Kontrolle der Gewalten und eine Mäßigung der Staatsmacht abzielt, erfährt im Strafverfahren eine besondere justizinterne Ausprägung, insofern hier neben dem Richter der Staatsanwalt als staatliches Organ der Strafrechtspflege 125 beteiligt ist. Obgleich der Staatsanwalt wie der Richter Aufgaben der strafrechtlichen Justizgewährung wahrnimmt128, gehört der Staatsanwalt nicht zur rechtsprechenden Gewalt im Sinne Einschränkung von Grundrechten der Strafgefangenen für angemessen erachtet, indem es das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage monierte und dem Gesetzgeber unter Fristsetzung aufgab, die gesetzliche Grundlage zu schaffen, so BVerfGE 33, 1 ff., vgl. auch BVerfGE 40, 276 ff. 123 Allgemeine Meinung, vgl. etwa W. Meyer, in: v. Münch, GrundgesetzKommentar, Rdnr. 3 zu Art. 91; Hamann/Lenz, Das Grundgesetz, Anm. A 1. zu Art. 92. 124 BVerfGE 22, 125 ff. (131 ff.); 22, 311 ff. (317). 125 BVerfGE 32, 199 ff. 126 BVerfGE 9, 223 ff.
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von Art. 92 GG127 • Weil der Staatsanwalt ein nichtrichterliches Organ der Strafrechtspflege ist, muß der allgemeine Gewaltentrennungsgrundsatz auch bei der strafprozessualen Zuständigkeitsverteilung richterlicher und staatsanwaltlicher Kompetenzen Beachtung finden; dies bedeutet, daß die Aufgabenbereiche von Richter und Staatsanwalt zu trennen sind und dem Staatsanwalt keine Aufgaben übertragen werden dürfen, die dem Richter vorbehalten sind. In bewußter Abkehr vom Inquisitionsverfahren ist im Anklageprozeß die Ermittlungs- und Anklagefunktion dem Staatsanwalt und die Entscheidungs- und Sanktionsverhängungsfunktion dem Richter zugewiesen, um eine weitgehende Unvoreingenommenheit und Objektivität bei der richterlichen Entscheidungsfindung zu ermöglichen; die institutionelle Trennung beider Funktionen zielt darauf ab, den beim Inquisitionsverfahren unumgänglichen psychologischen Konflikt zu vermeiden, daß ein und dieselbe Person einerseits vom Tatverdacht ausgehen und alles zu seiner Verstärkung prozessual Mögliche unternehmen muß, andererseits aber die Vermutung der Unschuld des Verdächtigen bis zum Eintritt zweüelsfreier Schuldüberzeugung voll durchhalten und prozessual bewähren muß128 • Insofern die rollenspezifische Aufgabentrennung zwischen Ankläger und Richter eine unabdingbare Mindestvoraussetzung für die Gewährleistung der Unschuldsvermutung darstellt, ist sie als Grundelement rechtsstaatlichen Verfahrens dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 GG immanent und realisiert dieses im Prozeß129 • Zweifelsohne ist die Vereinigung von Ermittlungs- und Entscheidungsfunktion in § 153 Abs. 1 StPO und - noch akzentuierter - von Ermittlungs- und Sanktionsverhängungsfunktion in § 153 a Abs. 1 StPO in der Person des Staatsanwalts mit einer konsequent durchgehaUenen justizinternen Gewaltenteilung unvereinbar. Für die staatsanwaltliche 127 BVerfGE 3, 377 ff.; 4, 331 ff.; die Forderung, den Staatsanwalt von Weisungen freizuzeichnen, kann deshalb nicht verfassungs rechtlich, sondern allenfalls justizpolitisch begründet werden, so: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Rdnr.97 zu Art. 92. Anders Vogel, Das öffentliche Interesse, S. 317 ff. m. w. N. 128 Vgl. Sax, Grundsätze, S. 988; Gössel, überlegungen, S.327. Zur Reformbewegung, die im vergangenen Jahrhundert diese Erwägung aufgriff und zur Einführung einer vom Gericht unabhängigen Anklagebehörde führte vgl. Günther, Staatsanwaltschaft, S. 11 ff., vgl. auch S. 51: "wer den Ankläger zum Richter hat, braucht Gott zum Advokaten." Kritisch zu der von Günther geteilten verbreiteten Annahme, die Einführung der Staatsanwaltschaft gehe auf einen liberalen reformatorischen Zeitgeist zurück Blankenburg/ Treiber, Die Einführung, insbes. S. 14 f. 129 Vgl. Kleinknecht, Strafprozeßordnung, Einleitung, Rdnr.3, 9, 10, 37. Insofern besteht eine inhaltliche Verbindung des Gewaltentrennungsgebots mit dem Rechtsstaatsprinzip, vgl. Hamann/Lenz, Das Grundgesetz, Anm. AL zu Art. 92.
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Einstellung ohne gerichtliche Mitwirkung (§§ 153 Abs. 1 Satz 2, 153 a Abs. 1 Satz 6 StPO) ist diese Feststellung evident; indes gilt sie auch für die staatsanwaltliche Einstellung mit gerichtlicher Zustimmung: auch hier ergeht eine staatsanwaltliche, keine gerichtliche Entscheidung; die Zustimmung ist keine Sachentscheidung, sondern nur Prozeßerklärung, der eine richterliche Sachverhaltsfeststellung nicht zugrundeliegtl30 • Die Frage ist freilich, ob die rigide Trennung der idealtypisch ausgegrenzten Ankläger- und Richterfunktionen, wie sie der Vorstellung vom rechtsstaatlichen Strafverfahren im 19. Jahrhundert entsprach, noch heute gültig und verfassungsrechtlich verbindlich ist. Die Entscheidungs- und Sanktionsbefugnis des Staatsanwalts im Bagatellisierungsverfahren an der Elle einer strikt durchgehaltenen justizinternen Gewaltentrennung zu messen und daraus zu folgern, es handele sich bei der Bagatellisierungskompetenz des Staatsanwalts um eine "Wiederkehr der Rollenvereinigung des Inquisitionsprozesses" und eine "Renaissance der seit dem vorigen Jahrhundert als überwunden geltenden poena extraordinaria"13t, verkennt die in weiten Bereichen des Strafprozesses vollzogene Durchbrechung des justizinternen Gewaltentrennungsgrundsatzes und unterstellt, das Rechtsstaatsprinzip garantiere diesen Grundsatz in dem unveränderten Bestand, den das 19. Jahrhundert ihm beimaß. Bei genauer Betrachtung zeigt sich, daß die Grundkonzeption unseres Strafverfahrens sich von einer theoretisch stringent formulierten justizinternen Gewaltentrennung weit entfernt. Das Gericht nimmt im Amtsprozeß keineswegs nur Entscheidungsfunktionen wahr, sondern verhandelt mit den Prozeßbeteiligten den Anklagefall unter eigener Entscheidung über Art und Umfang des zur Wahrheitsfindung Erforderlichen (§ 244 Abs. 2 StpO) und führt die Vernehmungen durch den Vorsitzenden als Verhandlungsleiter durch (§ 238 Abs. 1 StPO). Der Amtsprozeß begründet damit die Zuständigkeit des Gerichts für Prozeßhandlungen, die ihm nach dem streng verstandenen Gewaltentrennungsgrundsatz nicht gebühren; die ungetrübte Verwirklichung dieses Grundsatzes setzt einen Parteiprozeß voraus, bei dem wie im anglo-amerikanischen Recht Ankläger und Angeklagter als echte Parteien Beweis und Gegenbeweis vor dem mit der Beweisaufnahme nicht befaßten Richter produzieren, dessen Funktion darauf beschränkt ist, über die Einhaltung der prozessualen Spielregeln zu wachen und aus dem allein von den Parteien gestalteten Verfahren sein Urteil zu bilden132 • 130 Ähnlich Kausch, Der Staatsanwalt, S. 67 ff. 131 So Hirsch, Zur Behandlung, S.230, 233; vgl. auch Kausch, Der Staatsanwalt, S. 236; Rudolphi, Strafprozeß, S. 168. 132 Vgl. Sax, Grundsätze, S.989. Gegen die Übernahme des anglo-amerika-
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Auch die Rollenbestimmung des Staatsanwalts ist nicht die eines reinen Ermittlungsorgangs und Entscheidungsgehilfen für das Gericht1S3 • Anders wäre es nicht verständlich, daß das Gesetz im Gegensatz zum anglo-amerikanischen adversary-System Richter und Staatsanwalt gleichermaßen an Objektivität, überparteilichkeit und Gerechtigkeit bindet134 und den Staatsanwalt verpflichtet, auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu berücksichtigen (§ 160 Abs. 2 StpO). Die selbständige und eigenverantwortliche Tätigkeit des Staatsanwalts im Ermittlungsverfahren wird auch durch die Neufassung der §§ 161 a, 163 a StPO durch das Erste Strafverfahrensreformgesetz135 unterstrichen. Danach werden dem Staatsanwalt vordem dem Ermittlungsrichter zugewiesene Kompetenzen bei der Vernehmung von Zeugen, Sachverständigen und Beschuldigten übertragen und dem Staatsanwalt Zwangsbefugnisse bei schuldhaftem Nichterscheinen zum Vernehmungstermin zugestanden136 • Die Entscheidungsbefugnis des Staatsanwalts im Vorverfahren unterscheidet sich inhaltlich nicht von der des Richters im Hauptverfahren. Der Staatsanwalt bedient sich im Vorverfahren derselben Beurteilungskriterien, die für die richterliche Urteilsfindung nach durchgeführter Hauptverhandlung maßgeblich sind137• Aufgrund des schriftlich vorliegenden Ermittlungsbefundes trifft der Staatsanwalt eine eigenständige Prognose des Ergebnisses richterlicher Urteilsfindung und macht seine Entscheidung im Vorverfahren davon abhängig, wie bei der gegebenen Sachlage in der Hauptverhandlung zu entscheiden wäre. Ist eine Verurteilung des Beschuldigten mangels hinreichenden Tatverdachts in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht nicht zu erwarten, stellt der Staatsanwalt das Ermittlungsverfahren nach § 170 Abs. 2 StPO ein. Erscheint hingegen der Tatnachweis aussichtsreich, wird keineswegs notwendig Anklage erhoben. Vielmehr bemüht sich der Staatsanwalt dann um eine vorweggenommene Strafzumessung, indem er die Sanktionsbedürftigkeit der Tat nach Maßgabe richterlicher Strafzumessungserwägungen bestimmt. Besteht Grund zur Annahme, daß die Tat pönalisierunsbedürftig und darum eine Verurteilung zu Strafe wahrscheinlich ist, wird Anklage erhoben, andernfalls stellt der Staatsanwalt das nischen Modells insbesondere in seinen vereinfachten Formen des plea guilty und plea bargaining Herrmann, Die Reform, S. 163; Rieß, Prolegomena, S.188. 133 So aber Kausch, Der Staatsanwalt, S. 230, der allerdings einräumt, daß die Rechtswirklichkeit dem nur bedingt entspricht (S. 234). 134 Göbel, Anklagezwang, S. 857; Görcke, Weisungsgebundenheit, S. 578; vgl. auch Kommission, Der Staatsanwalt, S. 358, 361. 135 Vom 9. 12. 1974 (BGBl. I, S. 3393,3533; III, S. 312 8 - 1.). 138 Dazu näher van Eis/Hinkel, Kompetenzverteilung. 137 Spezifische Bewertungsmuster für Entscheidungen im Rahmen des Ermittlungsverfahrens existieren nicht, vgl. dazu Blankenburg u. a., Die Staatsanwaltschaft, S. 86; Kunz, Die Einstellung, S.57. 6·
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Ermittlungsverfahren nach § 153 ff. StPO ein l38 • Die richterliche Entscheidungsbefugnis im Hauptverfahren spiegelt sich damit weithin in der staatsanwaltlichen Entscheidungsbefugnis im Vorverfahren; wie der Richter verfügt der Staatsanwalt bei der das Ermittlungsverfahren abschließenden Entscheidung über eine breite Palette zueinander abgestufter Reaktionsmöglichkeiten, von denen er wie dieser unparteiisch Gebrauch zu machen hat. Diese partielle Durchbrechung des justizinternen Gewaltentrennungsprinzips im Amtsprozeß 13U ist verfassungsrechtlich unbedenklich140 • Das verfassungsmäßig garantierte Rechtsstaatsprinzip setzt neben der Gewährleistung der Unschuldsvermutung, wie sie durch eine strikte Gewaltentrennung fraglos am besten verbürgt wird, ein Höchstmaß an unparteiischer Sachaufklärung und schuldangemessener schonender Behandlung des Verdächtigen voraus. Strikte Durchführung der Gewaltentrennung und objektive Sachaufklärung in einem möglichst frühen Verfahrensstadium, um dem unschuldigen oder nicht strafbedürftigen Beschuldigten nach Möglichkeit die Unbill des öffentlichen gerichtlichen Hauptverfahrens zu ersparen, lassen sich nicht zugleich verwirklichen; ein Komprorniß ist daher unvermeidlich - und einen solch zulässigen und erforderlichen Komprorniß stellt das deutsche bzw. kontinentaleuropäische System des Amtsprozesses ebenso gut dar wie das angloamerikanische des Parteiprozesses141 • Vgl. das Schaubild bei Kunz, Die Einstellung, S.58. Auch außerhalb des Strafprozesses ist das Gewaltentrennungsprinzip "nirgends rein verwirklicht", so BVerfGE 3, 225 ff. (247); 7, 183 ff. (188); 34, 52 ff. (59). 140 So hat das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen, daß die rechtsprechende Gewalt zwar auf Entscheidungen hin angelegt sei, die Funktion der rechtsprechenden Gewalt sich aber nicht in der Entscheidungsfällung erschöpfe, sondern auch deren Vorbereitung durch richterliche Beweiserhebungen umfasse, vgl. BVerfGE 7, 183 ff. (188 f.); näher dazu Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Rdnr.64, 65 zu Art. 92. 141 Vgl. Sax, Grundsätze, S.991. Das anglo-amerikanische System schaltet dem Hauptverfahren das plea guilty-Verfahren vor und räumt den Polizeibehörden das Recht ein, nach Ermessen von einer Weiterleitung des Sachverhalts an die Staatsanwaltschaft abzusehen. In unseren Rechtskreis lassen sich derartige Regelungen nicht Übernehmen. Das plea-guilty-Verfahren dürfte gegen das Schuldprinzip verstoßen, weil es ein deklaratorisches Schuldeingeständnis zum Anlaß für den Verzicht auf eine objektive Überprüfung des tatsächlichen Verschuldens nimmt; darin besteht trotz sonstiger Ähnlichkeiten der entscheidende Unterschied des plea guilty zur Zustimmung des Beschuldigten bei Einstellungen wegen Geringfügigkeit. Den Polizeibeamten, die nach § 152 GVG Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft sind, ein eigenständiges Ermessen bei der Einleitung und Durchführung der Strafverfolgung einzuräumen, wird jüngst im Zusammenhang mit der Reaktion auf illegale Hausbesetzungen auf politischer Ebene kontrovers diskutiert; eine derartige Verlagerung staatsanwaltlicher Kompetenzen auf die Polizei dürfte mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht vereinbar sein. Vgl. zur rechtlichen Zulässigkeit Wagner, Die Polizei. 138
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Wo die Grenzen zulässiger Beschneidung richterlicher Aufgaben im Strafprozeß überschritten sind, sagt das Grundgesetz in Art. 104 Abs.2 Satz 1 und Art. 13 Abs.2: die Entscheidungen über Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsentziehung und über Durchsuchungen, für deren Durchführung keine Gefahr im Verzuge besteht, ist danach zwingend dem Richter vorbehalten. Insofern erscheint zweifelhaft, ob das Grundgesetz über diese ausdrücklich verfassungsrechtlich garantierten gerichtlichen Zuständigkeiten hinaus einen umfassenden materiellen Richtervorbehalt kennt; die Annahme liegt nahe, daß die aus Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG abzuleitende Aufgabentrennung zwischen Richter und Staatsanwalt und der Begriff der rechtsprechenden Gewalt im Sinne von Art. 92 GG in der Weise zu verstehen sind, daß damit keine Richterzuständigkeiten VOn Verfassungs wegen garantiert werden, sondern lediglich die in anderen Vorschriften des Verfassungs- und einfachen Gesetzesrechts angesprochenen Richterzuständigkeiten brennglas artig zusammengefaßt und dem Regime der verfassungsrechtlichen Vorschriften über den Richter unterstellt werden142 • Dieser Annahme zufolge ist die in §§ 153 Abs. 1, 153 a Abs. 1 StPO vorgenommene Kompetenzzuweisung für Bagatellisierungen an den Staatsanwalt unbedenklich; die verfassungsrechtlichen Prinzipien der Gewaltentrennung und des Rechtsprechungsmonopols der Gerichte bleiben danach unangetastet. Das Bundesverfassungsgericht ist dieser Auslegung nicht gefolgt; es geht davon aus, daß der Begriff der rechtsprechenden Gewalt in Art. 92 GG einen selbständigen materiellen Inhalt besitzt, der jedenfalls im Strafrecht über die ausdrücklich benannten Fälle hinaus einen umfassenden Richtervorbehalt begründet143 • Daraus folgt freilich nicht, daß alle bislang in der Strafrechtspflege den Richtern zugewiesenen Aufgaben ihnen von Verfassungs wegen übertragen bleiben müssen; unzweifelhaft garantiert Art. 92 GG auch bei einer selbständigen materiellen Auslegung nicht einen bestimmten empirisch-deskriptiv zu ermittelnden Katalog vorhandener richterlicher Zuständigkeitenl44 , sondern einen normativen, aus positiven und überpositiven Verfassungsprinzipien herzuleitenden Grundbestand richterlicher Kompetenzzuweisung: 142 So Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Rdnr.42 zu Art. 92; Hesse, Grundzüge, § 13 I 1; Schnapp, in: v. Münch, Grundgesetzkommentar, Rdnr.34 zu Art. 20. 143 BVerfGE 22, 49 ff. (73 ff.); 22, 125 ff. (131ff.); 22, 311 ff. (317). Ebenso Hamann/Lenz, Das Grundgesetz, Vorbem. zu Art. 92; W. Meyer, in: v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Rdnr. 7 zu Art. 92, vgl. aber auch Rdnr. 8 zu Art. 92; Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar, Rdnr. 2 zu Art. 92. Zur Kritik dieser Rechtsprechung vgl. Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Rdnr. 43 ff., 149 ff. zu Art. 92. 144 Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Rdnr. 33 zu Art. 92; W. Meyer, in: v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Rdnr. 7 zu Art. 92.
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Konzeption des EGStGB
nach dem Willen des Verfassungsgebers ist es dem Gesetzgeber nicht schlechthin, sondern nur im Kernbereich des Strafrechts versagt, über die Zuständigkeit der rechtsprechenden Gewalt nach Belieben zu bestimmen145• Die Frage, wie weit sich die verfassungsmäßig geschützte Funktionsgarantie der rechtsprechenden Gewalt im Strafrecht erstreckt, beantwortet das Bundesverfassungsgericht unmißverständlich dahin, daß die Garantie die Ausübung staatlicher Strafgewalt im Sinne der Befugnis, auf Kriminalstrafen zu erkennen, umfaßt146 • Das aus dem Grundgesetz abzuleitende Richtermonopol bezieht sich als Strafmonopol auf diejenigen Sanktionen, die das positive Strafrecht als Strafe bezeichnet147 ; für den Bereich der Strafgerichtsbarkeit gewährleistet Art. 92 GG einen richterlichen Sanktionsvorbehalt dergestalt, daß nur Richter Kriminalstrafe verhängen dürfen. Der für Freiheitsstrafen bereits aus Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG resultierende Richtervorbehalt wird damit auf die Kriminalstrafe schlechthin - also auch auf die Geldstrafe - ausgedehnt. Wie die Freiheitsstrafe dient die Geldstrafe der sühnenden Ahndung für verschuldetes Strafunrecht. Im Unterschied zu bloßen Geldbußen ist die Geldstrafe mit einem autoritativen sozialethischen Unwerturteil verknüpft, aus dem sich die Berechtigung ihrer Registrierung als Vorstrafe und bei Uneinbringlichkeit ihrer Umwandlung in eine Freiheitsstrafe ergibt. Dies macht das Charakteristikum der Geldstrafe aus, das sie von anderen obrigkeitlichen Eingriffen in das Vermögen des Bürgers unterscheidet und im Hinblick auf die Eingriffsschwere qualitativ mit der Freiheitsstrafe vergleichbar macht. Während eine nachträgliche richterliche überprüfung staatlicher Eingriffsmaßnahmen durch Rechtsweggarantien - etwa das formelle Hauptgrundrecht des Art. 19 Abs. 4 GG - ohnehin immer gewährleistet sein muß, ist bei der Kriminalstrafe wegen der in ihrer Diskriminierungswirkung zum Ausdruck kommenden besonderen Eingriffsschwere eine präventive Rechtskontrolle dergestalt geboten, daß bereits ihre Verhängung nur auf Grund richterlicher Entscheidung erfolgen darf148 • Weil andere obrigkeitliche Sanktionen im Gegensatz zur Kriminalstrafe nicht auf einem autoritativen sozialethischen Unwerturteil beruhen, ist es dem einfachen Gesetzgeber unbenommen, die Sanktionskompetenz für OrdnungswidrigkeiBVerfGE 22, 49 ff. (123 f.); 23, 126; 27, 28. BVerfGE 22, 49 ff. (80). Demgemäß hat das Gericht in dieser Entscheidung die Strafkompetenz der Finanzämter für unvereinbar mit Art. 92 GG erklärt. Vgl. dazu auch Bettermann, Der Schutz, S. 876 f. 147 Bettermann, Der Schutz, S. 877. 148 BVerfGE 22, 49 ff. (80). 145
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ten148 , gebührenpflichtige Verwarnungen150, Disziplinarstrafenl5l , ja ganz allgemein für sonstige Vorwürfe eines schuldhaft pflichtwidrigen Verhaltens152 auf nichtrichterliche Organe zu übertragen. Legt man diesen Maßstab an die Entscheidungsbefugnis des Staatsanwalts in §§ 153 Abs.1, 153 a Abs. 1 StPO an, so ergibt sich, daß ein Verstoß gegen das Gewaltentrennungsgebot und das Rechtsprechungsmonopol der Gerichte nicht vorliegt: die staatsanwaltliche Ahndungsbefugnis durch Verhängung von Weisungen und Auflagen und erst recht der bedingungslose Verfolgungsverzicht wegen Geringfügigkeit stehen nicht unter dem Richtervorbehalt des Art. 92 GG, weil damit keine staatsanwaltliche Kompetenz zur Verhängung von Kriminalstrafe, sondern lediglich die Kompetenz zur Verhängung einer nicht diskriminierenden, in ihrer Wirkung der Geldbuße vergleichbaren Sanktion begründet ist153• Gegen diese Argumentation läßt sich einwenden, sie sei formalistisch, da sie ausschließlich auf die Kennzeichnung der Sanktion als Kriminalstrafe abstelle und darum einer inhaltlichen Aushöhlung des Richtervorbehalts Vorschub leiste, indem sie eine nichtrichterliche Sanktionskompetenz gestatte, sofern der Gesetzgeber nur die Kriminalstrafe unter Beibehaltung ihrer Eingriffsintensität umetikettiere154 • Doch abgesehen davon, daß von einer bloß formalen Umetikettierung nicht gesprochen werden kann, wenn die Diskriminierungswirkung der Kriminalstrafe entfällt, sind dem Gesetzgeber bei der Ersetzung der Kriminalstrafe durch nichtdiskriminierende Sanktionen Grenzen gesetzt: die herausragende Sozialschädlichkeit der Schwerkriminalität begründet eine unbedingte Pönalisierungspflicht154a und damit eine unbedingte richterliche Sanktionskompetenz; von einem gewissen Schweregrad an ist die strafrechtliche Sanktionskompetenz zwingend den Gerichten anvertraut. Bei minder gewichtigen Strafrechtsverstößen ist hingegen dem Richtervorbehalt bereits Genüge getan, wenn die Gerichte BVerfGE 8, 197 ff. (207); 22, 49 ff. (81). BVerfGE 22, 125 ff. (131). 151 BVerfGE 22, 311 ff. (317). 152 BVerfGE 12, 264 ff. (274). 153 Anders soweit ersichtlich nur W. Meyer, in: v. Münch, GrundgesetzKommentar, Rdnr. 6 zu Art. 92 in bezug auf § 153 a Abs. 1 StPO. 154 So Cordier, Inhalt, S.2144: "Die vom BVerfG vertretene Ansicht, die rechtsprechende Gewalt beschränke sich auf die Verhängung sogenannter ,Kriminalstrafen', würde - dem klaren Wortlaut des GG widersprechend den Gesetzgeber ermächtigen, im Wege der Umetikettierung von Tatfolgen rechtsprechende Gewalt schlicht und einfach Polizeivollzugsorganen zu übertragen ... " 154a Die Crux dieser Formel besteht freilich darin, daß ihre Anwendung nach letztlich subjektiven Wertmaßstäben zu erfolgen hat, vgl. Müller-Dietz, Strafe, S. 18. 149 150
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zur Entscheidung berufen sind, soweit eine Ahndung durch Kriminalstrafe erfolgt155 • Die Zulässigkeit der staatsanwaltlichen Entscheidungs- und Ahndungsbefugnis bemißt sich deshalb allein danach, ob es überhaupt zulässig ist, in den von §§ 153 Abs. 1, 153 a Abs. 1 StPO umfaßten Fällen keine oder eine gegenüber der Kriminalstrafe mindere Sanktion vorzusehen. Wenn diese Bestimmungen sich auf Verhaltensqualitäten erstrecken, die nicht zwingend strafbedürftig sind, ist es unter den Gesichtspunkten der Gewaltentrennung und des Rechtsprechungsmonopols der Gerichte unbedenklich, dem Staatsanwalt in jenem Bereich die Entscheidungskompetenz zuzuweisen, soweit damit keine förmliche Strafbefugnis verbunden ist. Die Verfassung kennt kein Gebot, welches besagt, daß bei verschuldeter Tatbestandsverwirklichung immer auf Strafe erkannt werden müßte. Bereits aus dem Wesen der Grundrechte, namentlich des Rechts aus Art. 2 Abs. 1 GG, ergibt sich, daß diese als Ausdruck des allgemeinen Freiheitsanspruchs des Bürgers gegenüber dem Staat von der öffentlichen Gewalt jeweils nur so weit beschränkt werden dürfen, als es zum Schutz öffentlicher Interessen unerläßlich ist158 • Die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Obermaßverbotes besitzen als übergreifende Leitregeln staatlichen HandeIns Verfassungsrangl57; aus ihnen folgt nicht nur, daß die Strafe in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Täters stehen muß, sondern darüber hinaus, daß auf eine Bestrafung gänzlich zu verzichten ist, soweit diese nach Art und Maß der strafbedrohten Handlung schlechthin unangemessen wärel58 • In gleicher Weise ist das verfassungs rechtlich garantierte15D Schuldprinzip zu verstehen: es setzt Art und Höhe der kriminalrechtlichen Ahndung in Beziehung zum Ausmaß individuellen Täterverschuldens und verlangt bei geringfügigem, der Schwere der Kriminalstrafe nicht entsprechendem180 Verschulden einen Verzicht auf So BVerfGE 22, 49 ff. (81). BVerfGE 19, 348 f.; 35, 401. Vgl. auch BVerfGE 17, 313 ff. (314), wonach Art. 2 Abs. 1 GG den Grundsatz der RechtsstaatIichkeit mit der Freiheitsvermutung zugunsten des Bürgers verbindet und verlangt, "daß der Einzelne vor unnötigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt bewahrt bleibt". 157 BVerfGE 23, 133; 35, 400; 38, 368. 158 BVerfGE 34, 267 unter Hinweis auf BVerfGE 6, 439. Zum Erfordernis der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Strafrecht vgl. auch Leibholz/Rinck/Hesselberger, Grundgesetz, Rdnr. 27 zu Art. 20 GG. 158 BVerfGE 6, 439. 180 Ob die Strafe überhaupt im strengen Sinne der Schuld "entsprechen" kann, sei vorerst dahingestellt; jedenfalls ist eine Proportionalität des quantitativen Ausmaßes des Verschuldens zu der nach der Eingriffsintensität gestaffelten Reaktionsschwere möglich und notwendig, dazu vorab näher Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 23 f. m. w. N. 155
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diese. Aus Schuldprinzip, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und übermaßverbot ergibt sich daher nicht bloß die Berechtigung, sondern gar die Verpflichtung, auf Verhaltensweisen, die einen Deliktstatbestand formell erfüllen, ohne in ihrem konkreten Unrechts- bzw. Schuldbild die tatbestandlich anvisierte Erheblichkeit zu erreichen, nicht mit Kriminalstrafe zu reagieren. Der Anwendungsbereich der §§ 153 Abs. 1, 153 a Abs. 1 StPO hält sich in den Grenzen, in denen unter Beachtung dieser Verfassungsgebote ein Absehen von Bestrafung zulässig ist. Schon mit dem generellen Ausschluß der Bagatellisierung von Verbrechen ist weitestgehend dafür Sorge getragen, daß der der Schwerkriminalität zuzuordnende Bereich in jedem Falle strafbedürftiger Verhaltensweisen von der Einstellung wegen Geringfügigkeit ausgenommen bleibt. Mag man auch darüber streiten, ob die weitere Beschränkung der Bagatellisierungsmöglichkeiten auf geringfügige Verwirklichungsmodalitäten von Vergehenstatbeständen geeignet ist, das Anwendungsgebiet dieses Rechtsinstituts auf Bagatellfälle zu begrenzen; sicher ist indes, daß der gesetzliche Maßstab geringfügiger Vergehen Fälle unbedingt strafbedürftiger Verhaltensweisen begrifflich ausschließt und sich daher insoweit eine überschreitung des gesetzgeberischen Ermessensspielraums nicht begründen läßtl8l • Weil damit die Möglichkeit des Verfolgungsverzichts wegen Geringfügigkeit trotz Vorliegens der förmlichen Bestrafungsvoraussetzungen in dem von den Einstellungsvorschrüten abgesteckten Umfang verfassungsmäßig zulässig ist, ist es gleichermaßen zulässig, daß dieser Verzicht - ob mit oder ohne Auferlegung von Auflagen oder Weisungen durch den Staatsanwalt ausgesprochen wird. Auch bei selbständiger materieller Auslegung von Art. 92 GG im Sinne eines umfassenden Richtervorbehaltes ist die in §§ 153 Abs.1, 153 a Abs.1 StPO dem Staatsanwalt übertragene Bagatellisierungskompetenz im Hinblick auf die Prinzipien der Gewaltentrennung und des Rechtsprechungsmonopols der Gerichte nicht zu beanstanden. 1.24 Verletzung des Bestimmtheitsgebots der Deliktsfolgenanordnung durclt die Einstellung wegen Geringfügigkeit?
Indem die §§ 153, 153 a StPO für den unteren Anwendungsbereich der Vergehenstatbestände eine eigenständige Verfahrensart mit eigenständigen Reaktionsmöglichkeiten schaffen, könnte gegen das durch 181 Dies belegt freilich nur die Fragwürdigkeit des vom Bundesverfassungsgericht eingeschlagenen Weges der selbständigen materiellen Auslegung von Art. 92 GG im Sinne eines umfassenden Richtervorbehalts, welcher eine klare verfassungsrechtliche Fixierung nicht zuläßt.
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Art. 103 Abs. 2 GG im Strafrecht besonders akzentuierte Bestimmtheitsgebot von Rechtsnormen verstoßen werden. Nach Art. 103 Abs. 2 GG ist eine Bestrafung nur zulässig, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Dies bedeutet nicht nur, daß eine Bestrafung lediglich auf eine zur Tatzeit gültige gesetzliche Verbotsnorm gestützt werden darf, sondern stellt auch inhaltliche Anforderungen an Normklarheit und Justitiabilität. Ein Strafgesetz muß in seinen Voraussetzungen und seinem Inhalt so formuliert sein, daß Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen162 ; jedermann soll vorhersehen können, welches Handeln mit welcher Strafe bedroht ist, um sein Verhalten entsprechend einrichten zu können183• Durch die §§ 153, 153 a StPO wird weder präzise bestimmt, wann die Einleitung eines Bagatellisierungsverfahrens geboten ist noch welche Rechtsfolge auf bagatellisierungsgeeignete Sachverhalte Anwendung zu finden hat. Wegen der Allgemeinheit der Anwendungsvoraussetzungen "Geringfügigkeit der Täterschuld" und "Fehlen eines öffentlichen Verfolgungsinteresses" sowie wegen des aus dem Ermessensbegriff "öffentliches Interesse" resultierenden Ermessenscharakters der Einstellungsentscheidung insgesamt bleibt der damit umfaßte Regelungsbereich unklar; wegen der Ungewißheit, wann ein öffentliches Verfolgungsinteresse von vornherein nicht besteht und wann es erst durch Erfüllung von Auflagen bzw. Weisungen im Nachhinein beseitigt wird, bleibt ferner unklar, unter welchen Voraussetzungen der Bagatelltäter in den Vorzug der folgenlosen Einstellung nach § 153 StPO kommt bzw. mit einer sanktionierenden Einstellung nach § 153 a StPO zu rechnen hat. Verfassungsmäßige Bedenken gegen die mangelnde gesetzliche Bestimmtheit der Anwendungsvoraussetzungen des Bagatellierungsverfahrens und seiner unterschiedlichen Rechtsfolgeanordnungen lassen sich nicht einfach durch das Argument entkräften, das Bestimmtheitsgebot gelte nur für materielle Strafvorschriften, nicht für strafprozessuale Normen. Die Gesetzgebungsgeschichte zeigt, daß der Gesetzgeber die Einstellungsmöglichkeit wegen Geringfügigkeit als prozessuales Surrogat für eine materiellrechtliche Sonderbehandlung der Bagatelldelikte verstanden hatl64 • Die im Prozeßrecht angesiedelten Einstellungsvorschriften sind auch objektiv gesehen ein funktionales Äquivalent für BVerfGE 25, 269 ff. (285). BGHSt 23, 163 ff. (171); vgl. auch BVerfGE 21, 79; 21, 261; 27, 8; 31, 264. Zum aktuellen Verständnis des nullum-crimen-Satzes eingehend Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 183 ff.; Maiwald, Bestimmtheitsgebot, S. 140 ff. 184 So soll erklärtermaßen § 153 a stPO als Ausgleich für entfallene Privilegierungstatbestände und zu Vergehen aufgewertete übertretungen dienen, vgl. Bundestags-Drucksache VII3250, S. 236; VII/550, S. 247. 182
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materiellrechtliche Privilegierungstatbestände, insofern über sie die Aussonderung materiell-tatbestandlich nicht strafbedürftigen Unrechts erfolgt165 ; in der äußeren Form einer prozessualen Verfahrenseinstellung wird ein eigenständiges Reaktionssystem mit Ahndungsmöglichkeit für Bagatelltaten geschaffen, das wie das materielle Recht Rechtsfolgeentscheidungen vorsieht, im Unterschied zu diesem aber darauf verzichtet, die Voraussetzungen bagatellarischer Behandlung tatbestandlich zu benennen166 ; durch die scheinbar rein prozessualen Ermächtigungsnormen werden in Wahrheit Rechtsfolgeanordnungen getroffen, die gemeinhin an gesetzlich fixierte Tatbestände des materiellen Rechts geknüpft sind. Die mangelnde gesetzliche Bestimmtheit der Bagatellisierungsvoraussetzungen rührt gerade daher, daß der Gesetzgeber diese in die Form einer prozessualen Bagatellisierungsermächtigung gekleidet hat: weil hier nicht "ein für alle gleiches Gesetz", sondern "ein individuell verschiedenes Ermessen mannigfacher Persönlichkeiten"167 über die Sonderbehandlung von Bagatelldelikten entscheidet, ist diese nicht aus dem Gesetz erkennbar. Eine aus der Gesetzesnorm generell vorhersehbare, auch für den rechtsunkundigen Bürger prognostizierbare Sonderbehandlung von Bagatelldelikten läßt sich nur durch materiellrechtliche Bagatelltatbestände erzielen, die durch eine hinlänglich präzise sprachliche Fassung ihrer Merkmale die Bedingungen bagatellarischer Behandlung für den Rechtsunterworfenen einsichtig machen. Durch die prozessuale Bagatellisierungsermächtigung verliert die strafrechtliche Reaktion auf Bagatelldelinquenz ein wesentliches Qualitätsmerkmal strafrechtlicher Entscheidungen, nämlich ein hohes Maß an Berechenbarkeit16B : sie erscheint nicht als eine vom Gesetz generell vorhergesagte, aus diesem erwartbare Antwort, sondern als unkalkulierbare, überraschende Einzelmaßnahme. Hieraus erhellt, daß es nicht allein die Vagheit der Anwendungsvoraussetzungen des Bagatellisierungsverfahrens ist, die zu verfassungsrechtlichen Bedenken Anlaß gibt. Selbst wenn es gelänge, die Merkmale "Geringfügigkeit der Täterschuld" und "öffentliches Verfolgungsinteresse" zu präzisieren, wäre der Verdacht der Unbestimmtheit nicht ausgeräumt; die generell nicht absehbare prozessuale Ausübung einzelfall165 Peters, Die strafrechtsgestaltende Kraft, S. 18 ff.; ders., Die Parallelität, S. 374 ff., 394 ff.; ders., Sozialadäquanz, S. 417; vgl. auch Naucke, Der Begriff, S. 202, der feststellt, daß die Frage, ob die Schuld gering war, zum sachlichen Gehalt der Tat gehöre. 168 Hanack, Das Legalitätsprinzip, S. 363: "... im Grunde und in der Sache ... eine neuartige Form der strafrechtlichen Sanktion." Ähnlich Kausch, Der Staatsanwalt, S. 64 f.; Naucke, Gutachten, D 28. 167 Peters/Lang-Hinrichsen, Grundfragen, S.85. 16B Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 217; vgl. auch Hassemer, Theorie, S.196.
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bezogenen Ermessens bei einer Sachentscheidung, die womöglich materiell durch das Gesetz zwingend vorentschieden und dadurch erwartbar gemacht gehört - das ist es, was diesen Verdacht vor allem begründet. Eine Verletzung des Bestimmtheitsgebots durch die Bagatellisierungsvorschriften ist darum auch dann nicht von der Hand zu weisen, wenn man dieses Gebot auf materielle Strafnormen begrenzt. Die Deliktstatbestände des materiellen Strafrechts sehen bei überführung des schuldigen Täters außer im Falle des § 60 StGB die Kriminalstrafe als einzig mögliche Deliktsfolgeanordnung vor; weil dieser im materiellen Recht vorgezeichnete Zusammenhang zwischen versc..h.uldeter Tatbegehung und Bestrafung im unteren Bereich der Vergehenstatbestände durch alternative Deliktsfolgeanordnungen außer Kraft gesetzt ist, sind die Deliktsbeschreibungen des materiellen Rechts womöglich zu unbestimmt und bedürfen der Ergänzung durch materiellrechtliche Sonderbestimmungen. Der Gesetzgeber darf nicht - so ließe sich argumentieren im materiellen Recht die Bestrafung als zwangsläufige Folge der Straftat ausgeben und diese ins Allgemeinbewußtsein gerückte Wertentscheidung insgeheim dadurch unterlaufen, daß er für den gesamten Bereich der Bagatellkriminalität nicht-kriminalisierende Maßnahmen ins Auge faßt, die er - im Prozeßrecht als fakultative Ausnahmevorschriften versteckt - in die Form einzelfallbezogener Ermessensentscheidungen kleidet; wenn er sich dafür entscheidet, die kleinere Delinquenz regelmäßig nicht durch Kriminalstrafe zu ahnden, muß er zu dieser seiner Entscheidung stehen und sie durch zwingend anwendbare materielle Normen allgemein vorhersehbar und erwartbar machen160• Gegen diese Argumentation ist kriminalpolitisch 169a vorzubringen, daß der Gesetzgeber allen Anlaß hat, Absicht und Ausmaß der Nichtkriminalisierung kleinerer Straftaten vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Sozialpsychologisch gesehen ist es eine geschickte, generalpräventiv wirkungsvolle Strategie, die Öffentlichkeit über die generelle Nichtkriminalisierung von Bagatelldelinquenz uniformiert zu lassen und in den seltenen Fällen, wo eine Bagatellisierungsentscheidung einmal bekannt wird, diese aus dem Ausnahmecharakter des Einzelfalles zu erklären. Die öffentliche Meinung geht als selbstverständlich davon aus, daß auch geringfügige Verstöße gegen geltendes Strafrecht in jedem Falle unter Strafe gestellt sind und bestraft werden. Die tief im öffentlichen Bewußtsein verwurzelte Annahme, daß jede Straftat mit Strafe 169 Darauf läuft die in bezug auf § 153 a StPO entwickelte Argumentation bei Kausch, Der Staatsanwalt, S. 157 ff., hinaus. 169a Sofern der Bestimmtheitsgrundsatz in seinem vom GG geschützten Gehalt verletzt sein sollte, müßten freilich kriminalpolitische Erwägungen zurücktreten, insofern es sich verbietet, zwingende verfassungsrechtIiche Gebote nach ihrer Nützlichkeit zu befragen.
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geahndet wird, ist sozialpsychologisch von unschätzbarem Nutzen, insofern dadurch die Kriminalisierungserwartung der Rechtsgemeinschaft erfüllt, die Kriminalisierungsangst potentieller Täter geweckt und eine eindrückliche Hemmschwelle zur Begehung auch noch so unbedeutender Straftaten errichtet wird. Das geltende Recht stellt diese sozialpsychologische Wirkung in Rechnung und setzt auf sie170 ; es stützt und bestärkt deshalb jene Fehlinformation der Öffentlichkeit, indem es im materiellen Recht jeden Strafrechtsverstoß mit Strafe bedroht und im Prozeßrecht durch das Legalitätsprinzip einen Verfolgungs- und Anklagezwang statuiert. Zwingende materielle Strafdrohungen und deren scheinbar zwingende prozessuale Handhabung bestätigen die soziale Erwartung einer rigorosen Durchsetzung des Strafanspruchs auch bei noch so geringfügigen Taten; sie erfüllen im Bereich der Bagatellkriminalität die Funktion einer Fassade, die das Strafrecht zur Abschreckung potentieller Täter und zur Einübung der Allgemeinheit in Rechtstreue gegenüber der Öffentlichkeit aufrichtet, hinter der sich jedoch eine ganz anders beschaffene Wirklichkeit verbirgt171 . Die "Präventivwirkung des Nichtwissens"172 um den Kriminalisierungsverzicht geringfügiger Straftaten ermöglicht es, eine einzelfallgerechte, nicht übermäßige Reaktion auf Bagatelldelikte vorzusehen, ohne dadurch die sozialpsychologische Hemmschwelle zur Begehung solcher Delikte abzubauen173 • Bestehen damit schon gewichtige kriminalpolitische Einwände dagegen, die Nichtkriminalisierung von Bagatelldelikten durch materiellrechtliche Sondertatbestände transparent zu machen, so ist noch weit fragwürdiger, ob es überhaupt möglich ist, die Bedingungen einzelfallgerechter Bagatellisierung generell auf den Begriff zu bringen und tatbestandlich so zu präzisieren, daß sie für jedermann im Vorhinein einsichtig und erwartbar werden. Nicht zuletzt war es ja die Schwierigkeit einer solchen abstrakten Abgrenzung zwischen erheblichen und geringfügigen Taten, die den Gesetzgeber veranlaßte, auf die materiell-rechtliche Privilegierung von Bagatellunrecht zu verzichten und die Sonderbehandlung von Bagatelltaten ins Verfahrensrecht zu verlagern174 • In der Tat gibt es bis heute keinen konkreten Vorschlag für eine materiell-rechtliche Regelung, die die Behandlung der Bagatelldelikte umfassend vorbestimmt und deren tatbestandliche Merkmale zugleich Dazu bereits Kunz, Die Einstellung, S. 45 f. Vgl. Roxin, Recht, S. 16; Weigend, Anklagepflicht, S. 68 f. 172 Vgl. Popitz, über die Präventivwirkung. 173 Bei einer durch materielle Privilegierungsbestimmungen allgemein erwartbar gemachten Sonderbehandlung von Bagatellkriminalität wäre dies unvermeidlich der Fall; dazu später ausführlich. 174 Dazu bereits Kunz, Die Einstellung, S. 11. 170 171
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so bestimmt sind, daß die Bagatellisierungspraxis daraus absehbar und erwartbar wird. Entweder wird versucht, die notwendigen und hinreichenden Bedingungen sachgerechter Bagatellisierung in einer materiellen Norm generell für alle Deliktstatbestände zu umschreiben175 ; dann sind die tatbestandlichen Merkmale der Norm so vage gehalten, daß sich daraus auch durch Auslegung keine verläßliche Prognose über ein normkonformes Bagatellisierungsverhalten erstellen läßt. Oder aber es wird versucht, das Bagatellisierungsverhalten sektoral bei solchen Deliktstatbeständen prognostizierbar zu machen, die auf Grund eines eindeutig quantifizierbaren Merkmals eine problemlose begriffliche Abstufung zwischen geringfügigen und erheblichen Delikten gestatten178 ; dann setzt sich der Vorschlag dem Vorwurf aus, eine durchgängige, konsistente Sonderbehandlung von Bagatelldelikten zu verhindern und eine sachwidrige Ungleichbehandlung sowie eine Zersplitterung der Reaktion auf Bagatelldelinquenz zu bewirken. Das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot darf vom Gesetzgeber nichts Unmögliches verlangen; eine solche Unmöglichkeit stellt die Forderung dar, die Bagatellisierungsvoraussetzungen abschließend in eine begriffliche Form zu kleiden, aus der ihre Anwendung in konkreten Einzelfällen im Vorhinein unmißverständlich erkennbar wird: eine allgemeingültige sprachliche Fixierung der Bagatellisierungsvoraussetzungen, die zugleich eine verläßliche, für jedermann einsichtige Prognose für Einzelfallentscheidungen liefert, ist nicht zu leisten. Die Notwendigkeit, bei der Umschreibung der Voraussetzungen sachgerechter Bagatellisierung zu vagen gesetzlichen Formulierungen zu greifen, deren Auslegung im Vorhinein nicht klar absehbar ist, stellt keine Besonderheit der Bagatellproblematik dar, sondern spiegelt eine allgemeine und irreversible Tendenz zu immer unbestimmteren Rechtsbegriffen im Strafrecht. Von dem durch die Verfassung garantierten und auch an den Anfang des StGB gestellten Bestimmtheitsgebot als Strafgesetzgebungsregel hat sich der Gesetzgeber faktisch längst dispensiert. Schon im Bereich des "klassischen" Strafrechts verwendet das Gesetz vielfach normative und wertausfüllungsbedürftige Tatbestandsmerkmale, die neben einem einigermaßen kontuierbaren Begriffskern einen diffusen, nur schwer eingrenzbaren Begriffshof aufweisen177 • Auch umgangssprachlich mehr 175 Entsprechende Regelungen sehen das Strafrecht Österreichs und der DDR vor; dazu später ausführlich. 178 So der Vorschlag einer Ausgrenzung der Bagatelleigentums- und Vermögensdelikte mittels einer Wertgrenze; auch darauf ist später ausführlich zurückzukommen. 177 So etwa "Fremdheit" der Sache in § 242 StGB. Eine Aufstellung derartiger Tatbestandsmerkmale findet sich bei Lenckner, Wertausfüllungsbedürftige Begriffe, S. 249 f.
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oder weniger faßbare Begriffe wie "Gewalt" oder "beschädigen" haben durch die dogmatische Auslegung des Nötigungs- und des Sachbeschädigungstatbestandes ihre Plastizität längst verloren178 . Was eine Beleidigung ist, hat der Gesetzgeber erst gar nicht näher zu umreißen versucht, und wo er sich wegen der Unbestimmtheit von Tatbestandsmerkmalen um Definitionen müht, sind diese - wie bei der "sexuellen Handlung" (§ 184 c StGB) oder bei den "Verfassungsgrundsätzen" der freiheitlich demokratischen Grundordnung (§ 92 Abs. 2 StGB) - eher als Ausdruck gesetzgeberischer Verlegenheit denn als echte Auslegungshilfen zu verstehen. Unbestimmt sind indes nicht bloß einzelne Tatbestandsgruppen wie unechte Unterlassungsdelikte, deren Eigentümlichkeit in § 13 StGB nur vage umrissen ist, oder Fahrlässigkeitsdelikte, in denen vom Gesetz letztlich nur der mißbilligte Erfolg vorgegeben wird179 • Welches Ausmaß an Unbestimmtheit das Strafrecht inzwischen erreicht hat, zeigt sich vollends in den sogenannten strafrechtlichen Nebengesetzen, wo es fast schon die Ausnahme ist, daß ein Straftatbestand aus sich heraus verständlich ist und die Tat "bestimmt"180. überhaupt ist in der Strafrechtsreformgesetzgebung der letzten Jahre ein zunehmender Trend zur Verwendung ungenauer Begriffe zu verzeichnen. Die objektive Auslegungslehre, welche eine Lösung vom Gesetzeswortlaut und eine Anpassung der Rechtsanwendung an sich wandelnde soziale Verhältnisse erlaubt, hat dem Vordringen von Generalklauseln im Strafrecht den Weg bereitet181 ; das Bedürfnis nach flexiblen strafrechtlichen Regelungen, unterstützt und korrigiert durch das Bedürfnis nach größtmöglicher Gerechtigkeit für Täter und Opfer haben dazu geführt, daß das Strafrecht in allen seinen Teilen, von den Tat-
178 Die "Vergeistigung" des Gewaltbegriffes in § 240 StGB im Sinne körperkraftloser Einwirkung auf den Körper eines anderen, um diesen zum Widerstand körperlich unfähig zu machen, hat dazu geführt, auch den Sitzstreik, durch den eine Weiterfahrt anderer nur durch überfahren der Sitzstreikenden möglich wäre (BGHSt 23, 46; OLG Stuttgart NJW 1969, S.1543), oder dauerndes und lautstarkes Reden, um einen Hochschullehrer zum Abbruch einer Lehrveranstaltung zu zwingen (KG JR 1979, S.162) als Gewalt einzustufen. Der Begriff "beschädigen" in § 303 StGB wird ähnlich extensiv ausgelegt; ein Beschädigen soll etwa bereits vorliegen bei bloßem Beschmieren oder überkleben der in ihrer Substanz unberührt gelassenen Sache, wenn dadurch der Gestaltungswille des Eigentümers beeinträchtigt und ihm nicht unerheblicher Instandsetzungsaufwand verursacht wird (OLG Hamburg NJW 1979, S.1614; OLG Celle MDR 1978, S.504; OLG Oldenburg JZ 1978, S. 72; OLG Karlsruhe NJW 1978, S.1636; OLG Düsseldorf MDR 1979, S.74). 179 Stratenwerth, Strafrecht AT, Rdnr.74. 180 Backes, Strafrechtswissenschaft, S. 178 unter Berufung auf die eindrucksvolle Auflistung der GeneralklauseIn im Nebenstrafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht bei Petzold, Die Problematik, S. 25 ff. 181 Naucke, über Generalklauseln, S. 12.
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bestandsfassungen bis zu den Strafvollstreckungsregeln, immer ungenauer, unklarer wird182 • Bereits das in Art. 103 Abs.2 GG prIm ar angesprochene Gebot der Tatbestandsbestimmtheit ist durch diese unabweisbaren Regelungsbedürfnisse des modernen Strafrechts ausgehöhlt. Die Komplexität der strafrechtlich schützenswerten Belange im überindividuellen Bereich des Gemeinwohls, die Notwendigkeit einer Vorverlagerung des Strafschutzes auf abstrakte Gefährdungen, die Möglichkeit von raschen sich auf existentielle Bedrohungen zuspitzenden Störungen des ökonomischen und ökologischen Gleichgewichts lassen sich nicht in eine sprachliche Formel pressen, in der strafwürdige Fälle im Vorhinein begrifflich klar und präzise umschrieben sind; ein "hoffnungsloses Hinterherlaufen des Strafgesetzgebers hinter den zu bekämpfenden Gefahren für die Rechtsgüter" wäre bei strikter Anwendung des Bestimmtheitsgebots unvermeidlich183 • Nach einhelliger Auffassung dürfen deshalb die Anforderungen an die Tatbestandsbestimmtheit nicht übersteigert werden184 • Der Grundsatz der Tatbestandsbestimmtheit in Art. 103 Abs.2 GG ist vornehmlich als rechtlich nicht zwingend durchsetzbarer Appell an den Gesetzgeber und als politisches Bekenntnis des Grundgesetzes aufzufassen185 ; wenn ihm überhaupt verfassungs rechtliche Verbindlichkeit zukommt, zieht er jedenfalls eine äußere Grenze für extrem unbestimmte Tatbestandsmerkmale und verbietet nur völlig uferlose Tatbestände186 • Noch viel mehr gilt dies für die Bestimmtheit der Deliktsfolgenanordnung, die durch die Einstellung wegen Geringfügigkeit allein berührt wird. Fraglich ist bereits, ob das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG überhaupt auf Deliktsfolgen anwendbar ist187 • Selbst wenn man dies mit der Erwägung bejaht, daß der Gesetzgeber andernfalls das Gebot der Tatbestandsbestimmtheit unterlaufen könne, indem er auf uferlose Rechtsfolgen ausweicht l88 , bleibt zu fragen, ob der Be182 Vgl. Naucke, über Generalklauseln, S. 13, 16. Zur parallelen Entwicklung im Zivilrecht Diederichsen, Die Flucht. 183 Backes, Strafrechtswissenschaft, S. 182. Zur Möglichkeit, dem Bestimmtheitsgebot aus der sozialwissenschaftlichen Perspektive des symbolischen Interaktionismus wieder Geltung zu verschaffen, vgl. Backes, Strafrechtswissenschaft, S. 194 ff. 184 Etwa BVerfGE 4, 357; 11, 237; 14, 251; 28, 183; 32, 364; BGHSt 18, 359 ff. (362); Leibholz/Rinck/Hesselberger, Grundgesetz, Rdnr. 24 zu Art. 20; Schnapp, in: v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Rdnr. 25 zu Art. 20; Tröndle, in: Leipziger Kommentar, Rdnr. 13 zu § 1; Petzold, Die Problematik, S.89. 185 Kielwein, Grundgesetz, S. 135. 186 Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S.188; Noll, Zur Gesetzestechnik, S.298. 187 Dazu eingehend Stree, Deliktsfolgen, S. 22 f. m. w. N.; Geerds, Zur Problematik, S. 422. 188 So Kausch, Der Staatsanwalt, S. 161.
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stimmtheitsgrundsatz auch für Deliktsfolgen gilt, die den Beschuldigten begünstigen1s9 • Und selbst wenn man auch diese Frage bejaht, weil die den Beschuldigten begünstigende Einstellung wegen Geringfügigkeit zugleich andere Beschuldigte belastet, die nicht in den Vorzug der Bagatellisierung gelangen190 , bleibt offen, welche Anforderungen an die Bestimmtheit der Deliktsfolgeanordnung zu stellen sind. Die überwiegende Meinung ist sich einig darin, daß hier noch weniger strenge Maßstäbe anzulegen sind als bei der Tatbestandsbestimmtheitl9l • Einerlei ob man dem folgt oder nicht: die Anlegung eines strengeren Maßstabes an die Bestimmtheit der Deliktsfolgeanordnung als an diejenige des Deliktstatbestandes verbietet sich jedenfalls. Damit läßt sich aus der Vagheit der Anwendungsvoraussetzungen der §§ 153, 153 a StPO ein Verstoß gegen das verfassungsmäßig garantierte Bestimmtheitsgebot nicht herleiten192• Der Grad extremer Unbestimmtheit, der zu verfassungsrechtlichen Bedenken Anlaß gibt, läßt sich durch eine Vorschrift des provisorischen Zentralrats der Münchner Räteregierungen 1919 verdeutlichen; sie lautet: "Jeder Verstoß gegen revolutionäre Grundsätze wird bestraft. Die Art der Strafe steht im freien Ermessen des Richters. Berufung ist unzulässig. Das Urteil wird sofort vollstreckt193 ." Außer bei solchen den Begriff der "Rechts"-Norm pervertierenden Vorschriften, die reine richterliche Willkürherrschaft begründen, taugt das Bestimmtheitsgebot wegen seiner eigenen Unbestimmtheit nicht zur Begründung eines Verfassungsverstoßes. Weil der Bestimmtheitsgrundsatz selbst einen unbestimmten Gesetzesbegriff zum Maßstab für andere unbestimmte Begriffe nimmt194 , läßt sich damit abgesehen von derart eklatanten Extremfällen eine Grenze zwischen zulässiger und nicht mehr zulässiger Unbestimmtheit nicht ziehen. Evident wird dies aus der höchstrichterlichen Entscheidungspraxis: so hat der Bundesgerichtshof eine Bestimmung des Besatzungsrechts, die eine Bestrafung "mit jeder gesetzlich zulässigen Strafe" außer der Todesstrafe zuließ, noch für hinreichend bestimmt erachtet195 ; auf dieser Linie liegt auch eine Ablehnend Schröder, Gesetzliche und richterliche Strafzumessung, S.417. So Kausch, Der Staatsanwalt, S. 163 f. 191 Vgl. Geerds, Zur Problematik, S.422; Stree, Deliktsfolgen, S.23; Eser, in: Schönke/Schröder/Cramer, Strafgesetzbuch, Rdnr.25 zu § 1. Anders soweit ersichtlich nur Kausch, Der Staatsanwalt, S. 164. 192 Anders nur Kausch, Der Staatsanwalt, in bezug auf § 153 aStPO, der freilich eingestehen muß, daß "letzte Zweifel bestehen", ob sich daraus ein Verfassungsverstoß begründen läßt (S. 165). 193 Zitiert nach Naucke, über Generalklauseln, S. 11. 194 Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 187 ff. 195 BGHSt 13, 190 (191). Ausdrücklich zustimmend Stree, Deliktsfolgen, S.24. lS9
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neuere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das den extrem weiten Spielraum in der Strafrahmenwahl beim Totschlag, der von lebenslänglicher bis zur Freiheitsstrafe von sechs Monaten reicht und durch die Generalklauseln des minder schweren und des besonders schweren Totschlags (§§ 212 Abs. 2, 213 StGB) allenfalls verschwommene Konturen erhält, als verfassungsrechtlich zulässig erachtet196 • Dennoch kommt ein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot insofern in Betracht, als der Gesetzgeber die Einleitung des Bagatellisierungsverfahrens und die Wahl der bagatellarischen Rechtsfolgebestimmung von der generell nicht absehbaren Ausübung prozessualen Ermessens abhängig macht. Wenn schon die Verwendung unbestimmter Begriffe in deliktsübergreifenden Bagatellisierungsvorschriften verfassungsrechtlich unbedenklich, weil unvermeidlich ist, könnte aus dem Bestimmtheitsgrundsatz als Minimalforderung das Gebot resultieren, die Bagatellisierungsvorschriften dann wenigstens als zwingend anwendbare Normen auszugestalten. Die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe als Voraussetzung des Ob und des Wie einer Bagatellisierung ist von Verfassungs wegen hinzunehmen; die Verwendung von Ermessensbegriffen, die lediglich die Ermächtigung, nicht die Verpflichtung zur Bagatellisierung bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen liefern, ist es möglicherweise nicht. Dieser Gedanke gewinnt durch die im vorhergehenden Kapitel gewonnene Einsicht an Plausibilität, daß sich aus der Verfassung nicht bloß die Berechtigung, sondern die Verpflichtung ergibt, auf bagatellarische Straftaten nicht mit Kriminalstrafe zu reagieren. Die Frage ist freilich, ob der Gesetzgeber die Bedingungen bagatell arischer Behandlung wenn auch vage, so doch zumindest vollständig vorzubestimmen hat, oder ob er die Entscheidung über die Bagatellisierungstauglichkeit und die Wahl der bagatell arischen Rechtsfolge innerhalb einer gesetzlich vorgegebenen Bandbreite dem einzelfallbezogenen Ermessen der Rechtsanwendungsorgane überlassen kann und darf. Im Hinblick auf die allgemeine Strafzumessungsproblematik ergeben sich Zweifel an der Richtigkeit der These, das Gesetz müsse die Bagatellisierungsentscheidung durch zwingend anwendbare Richtlinien steuern und dürfe diese legislative Bestimmungsjunktion nicht durch eine Ermessensvorschrift an die Rechtsanwendungsorgane delegieren. Die Strafzumessung ist nichts anderes als eine besondere Art des Rechtsfolgeermessens197 • Abgesehen von den Fällen des Mordes und des Völkermordes, bei denen zwingend auf lebenslange Freiheitsstrafe zu BVerfG JR 1979, S. 28 m. Anm. Bruns. Eingehend Bruns, Strafzumessungsrecht, S.66 m. w. N.; vgl. auch Schröder, Gesetzliche und richterliche Strafzumessung, S. 416. 198
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erkennen ist, sehen die Deliktstatbestände des Strafrechts teilweise äußerst weit gefaßte, mitunter verschiedene Strafarten (Geld- und Freiheitsstrafe) umfassende Strafrahmen vor, innerhalb derer die einzelfallgerechte Strafe durch eine vom Gesetz nicht vollständig determinierbare, letztlich eigenständige Entschließung des Richters bestimmt werden muß. Obschon das Gesetz dem Richter im Umfange des Strafrahmens keine "Blankovollmacht" zur Entscheidungsfindung erteilt, enthält die strafrechtliche Deliktsfolgenbestimmung doch notwendig einen irreduziblen Akt persönlicher Wertung und Willensentschließung; bei der strafrechtlichen Deliktsfolgenanordnung ist Rechts"anwendung" wenn nicht völlig autonome Rechtsetzung, so doch immer eigenverantwortliche Rechtsverwirklichung durch Ausübung eines aus dem Gesetz nicht absehbaren Rechtsfolgeermessens198 • Der Einwand, die Bagatellisierungsermächtigung räume im Unterschied zur sonstigen199 Strafzumessungsermächtigung nicht bloß ein Rechtsfolgeermessen, sondern ein Tatbestandsermessen ein, weil über die prozessualen Einstellungsvorschriften die Aussonderung materielltatbestandiich nicht strafbedürftigen Unrechts erfolge, verfängt nicht. Eine starre Abgrenzung des Rechtsfolge- vom Tatbestandsermessen ist im Strafrecht nicht möglich. Die Ausübung von Rechtsfolgeermessen hat immer auch Rückwirkung auf die Tatbestandsseite, insofern erst dadurch die Typizität des Deliktstatbestandes ausgearbeitet und präzisiert wird20o • Durch unterschiedliche Bestrafung gleichermaßen einem Deliktstatbestand zuzuordnender Verhaltensweisen stuft die Rechtsprechung innerhalb des Tatbestandes Fallgruppen nach ihrer deliktstypischen Erheblichkeit ab und ordnet den Einzelfall einer dieser nach dem Ausmaß der Strafbedürftigkeit gebildeten Fallgruppen zu; indem die Rechtsprechung sich nach und nach auf eine homogene, an Leitfällen ausgerichtete Strafzumessung einpendelt, füllt sie den breiten Entscheidungsspielraum des Strafrahmens aus und konturiert durch ein zunehmend sich verdichtendes Netz differenzierender Fallabstufungen die Typizität des Tatbestandes 201 • Strafzumessung ist immer zugleich ein Dazu grundlegend Engisch, Einführung, S. 116 ff., 129 ff. Damit ist nicht gesagt, daß die Bagatellisierungsermächtigung nichts weiter sei als ein Unterfall bzw. Grenzfall der Strafzumessungsermächtigung. Die Untersuchung wird den Nachweis erbringen, daß es in einem noch abzusteckenden Rahmen möglich ist, Bagatelldelikte bereits auf der Ebene des Unrechtstatbestandes auszugrenzen; in dem Maße, wie es uns in der Folge gelingen wird, die tatbestandlichen Voraussetzungen zulässiger Bagatellisierung zu erarbeiten, wird sich das Bagatellproblem von der Rechtsfolgen- auf die Tatbestandsseite verschieben. 200 Auf die Bedeutung des typologischen Verfahrens für die Bestimmung der Bagatelldelikte wird später ausführlich einzugehen sein. 201 Dazu grundlegend Bruns, Leitfaden, S. 43 f. 198
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Akt der Tatbestandstypisierung: ob eine unter einen Deliktstatbestand subsumierbare Handlung die deliktstypische Erheblichkeit voll erfüllt oder nur soeben erreicht, bestimmt sich danach, welche Strafe dafür angemessen ist. Der Gesetzgeber hat es in der Hand, durch weite Fassung der Deliktstatbestände der typologischen Fallgruppenbildung bei der Strafzumessung weiten Raum zu geben oder durch eng gefaßte Grundtatbestände und tatbestandliche Benennung von Strafschärfungsund Milderungsgründen den richterlichen Entscheidungsspielraum einzuengen202 • Je weiter die Tatbestände gefaßt sind, desto unklarer ist das gesetzliche Konzept, unter dem der Tatbestand steht und desto mehr obliegt es der Rechtsprechung, die bei der gesetzlichen Tatbestandsumschreibung unterlassenen Aufgliederungen und Abstufungen bei Einzelfallentscheidungen inzident nachzuholen 203 • Wenn der Richter sich bei der Strafbemessung um eine Konkretisierung des Strafrahmens müht, konkretisiert er darum immer zugleich den Straftatbestand selbst204 • Freilich weist die Bagatellisierungsermächtigung gegenüber der sonstigen Strafzumessungsermächtigung die Besonderheit auf, daß die Rechtsanwendungsorgane hier nicht innerhalb eines gesetzlich vorgegebenen Rahmens über das Wie, sondern ungeachtet des Vorliegens der gesetzlichen Strafbarkeitsvoraussetzungen über das Ob der Bestrafung zu befinden haben. Während ansonsten der Ermessensentscheidung durch den Strafrahmen klare gesetzliche Grenzen vorgegeben sind, scheint bei der Bagatellisierungsermächtigung die Ermessensausübung im Vergehensbereich buchstäblich "frei", das heißt rechtlich nicht gebunden. Diese Argumentation verkennt, daß es im Strafrecht - wie generell im Verhältnis des Staats zum Bürger - keinen Ermessensspielraum gibt, der als rechtsleerer Raum verstanden werden könnte, aus dem alle Rechtspflichten verbannt sind205 • Ebensowenig wie die Höhe der Strafe innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens im Belieben des Richters liegt, steht es im Belieben von Staatsanwaltschaft und Gericht, eine Ein202 Die zahlreichen unbenannten Strafschärfungs- und -milderungsgründe sind nichts weiter als pseudotatbestandliche Vorformungen des richterlichen Urteils, die richterliche Strafzumessungserwägungen gesetzlich bindend antizipieren. Dies wird für die später zu erörternde Frage von Bedeutung sein, ob bei Fallgestaltungen, die solch unbenannten Strafschärfungsgründen unterfallen, die Annahme von Bagatellunrecht möglich ist. 203 Zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit dessen vgl. Schröder, Gesetzliche und richterliche Strafzumessung, S. 420 f., 428 sowie BGHSt 1, 136; 1, 308; 3, 118. 204 So auch Kausch, Der Staatsanwalt, S. 151; vgl. ferner Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 218, Fußnote 82. 205 Rupp, Grundfragen, S. 211; für das Strafrecht Jung, Straffreiheit, S. 58 f.
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stellung wegen Geringfügigkeit ohne oder mit beliebig hohen Auflagen bzw. Weisungen vorzunehmen oder darauf zu verzichten. Die These, die Einleitung des Bagatellisierungsverfahrens und die Wahl der bagatellarischen Rechtsfolgebestimmung sei dem Gutdünken der Instanzen überlassen, ist gleichermaßen unhaltbar wie die Behauptung, der Tatrichter dürfe den überführten Angeklagten von Rechts wegen so oder anders verurteilen, wenn er dabei nur die Grenzen des Strafrahmens einhalte 208 • Das Ermessen, das sich scheinbar als die freie Wahl unter mehreren vom Gesetz gleichermaßen "richtig" eingestuften Entscheidungsmöglichkeiten darstellt, bedeutet in Wahrheit nichts anderes als die Notwendigkeit der Konkretisierung gesetzlich nur vage bestimmter Wertentscheidungen und deren Vollziehung im Einzelfall. Hier wie dort gibt es keine Wahlbefugnis im Sinne einer inhaltlichen Entscheidungsfreiheit zwischen mehreren richtigen Lösungen; die Einräumung eines Ermessens trägt vielmehr allein der Einsicht Rechnung, daß die im Einzelfall angemessene Entscheidung sich durch das Gesetz nur annäherungsweise vorbestimmen läßt207 • Die Kann-Bestimmungen in §§ 153, 153 a StPO sind bloß ein Hinweis darauf, daß die sachgerechte Entscheidung sich nicht als fixe Größe aus dem Gesetz "errechnen" läßt, sondern unter Abwägung der nicht umfassend angebbaren besonderen Umstände des Einzelfalles getroffen werden muß 208 • Der Ermessenscharakter der Bagatellisierungsentscheidung unterstreicht deren mangelnde generelle Vorbestimmbarkeit, belastet diese aber nicht mit einem Mehr an Unbestimmtheit, als nicht ohnehin bereits in der Unbestimmtheit der Anwendungsvoraussetzungen angelegt ist209 • 208 Der Einsicht, daß nur eine Strafe als die für den Einzelfall angemessene "richtig" sein kann, steht weder die Anerkennung der Spielraumtheorie im Sinne der Rahmenschuldstrafe noch der Umstand entgegen, daß die Einzelfallgerechtigkeit der vom Tatrichter verhängten Strafe im Nachhinein im Rahmen der Revisibilität des Strafmaßes nicht restlos überprüft werden kann, so Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 69. 207 So Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 66 f. für das Strafzumessungsermessen. 208 Ebenso Naucke, Der Begriff, S.205: "Das Ermessen ("Kann einstellen") ist nur ein Hinweis darauf, daß der Begriff der geringen Schuld vieldeutig und daher eine sogenannte Subsumtion ausgeschlossen ist, so daß für die Festlegung des Begriffs ein Ermessen genutzt werden muß. Dieses Ermessen ist nicht größer als das Ermessen bei der Handhabung vieler Begriffe des materiellen Rechts überhaupt." Anders Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 217 ff., der eine echte Wahlmöglichkeit annimmt, andererseits aber betont, die entscheidende Frage sei nicht, ob eingestellt werden kann, sondern ob überhaupt die Einstellung in Erwägung gezogen werden darf (S. 220). 209 Streng genommen handelt es sich daher hier wie beim Ermessen im Strafrecht generell nicht um ein Ermessen im Sinne des Verwaltungsrechts, sondern strukturell um Rechtsanwendung, vgl. Bruns, Strafzumessungsrecht, S.67. Darauf wird im folgenden Kapitel näher einzugehen sein. Ähnlich bereits Vogel, Das öffentliche Interesse, S. 312 ff.
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Die Richtigkeit dieser Auslegung wird durch die Gesetzgebungsmotive belegt. Bis zur Änderung des § 153 StPO durch die "kleine Strafprozeßreform" von 1964210 fehlte bei der Einstellung des Verfahrens wegen eines geringfügigen Vergehens der Hinweis auf das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung, aus dem heute der Ermessenscharakter der Einstellung wegen Geringfügigkeit abgeleitet wird; stattdessen kam es neben der geringen Schuld des Täters darauf an, daß "die Folgen der Tat unbedeutend" waren. Auf dieses Merkmal wurde in der Novellierung im Jahre 1964 verzichtet, weil der unbestimmte Rechtsbegriff "unbedeutende Tatfolgen" nur schwer zu bestimmen und zur Abgrenzung untauglich sei; der Begriff des fehlenden öffentlichen Verfolgungsinteresses, von dem man sich einen "möglichst objektiven Maßstab" versprach 211 , sollte die Funktion des Begriffs der unbedeutenden Tatfolgen übernehmen212 • Damit ist evident, daß der Gesetzgeber mit dem Begriff des öffentlichen Interesses nicht die Eröffnung eines Entscheidungsspielraums mit der Möglichkeit der freien Wahl unter mehreren gleich richtigen Entscheidungen im Auge hatte, sondern im Gegenteil die Bagatellisierungsentscheidung mehr als bisher von divergierenden subjektiven Einschätzungen der jeweiligen Rechtsanwender unabhängig machen und einem eindeutigeren, objektiven Beurteilungsmaßstab unterstellen wollte 21s• Wie immer darum die Begriffe Geringfügigkeit des Verschuldens und öffentliches Verfolgungsinteresse zu verstehen sind: wenn die Schuld des Täters als gering eingestuft wird und ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung fehlt bzw. durch Erfüllung von Auflagen oder Weisungen ausgeräumt werden kann, muß eine Einstellung wegen Geringfügigkeit ergehenU4 • Demnach ist festzuhalten, daß das Bestimmtheitsgebot von Strafnormen durch die Einstellung wegen Geringfügigkeit nicht verletzt wird. Da die Gefahr einer Ungleichbehandlung durch die Einstellung wegen Geringfügigkeit gleichermaßen aus der gewiß beträchtlichen, aber verfassungs rechtlich nicht zu beanstandenden Unbestimmtheit der Einstellungsvoraussetzungen resultiert, läßt sich daraus eine Verletzung des 210 Art. 10 Nr.3 des Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes (StPÄG) vom 19.12.1964 BGBl. I, S.1067). 211 So der Berichterstatter des Vermittlungsausschusses Jahn vor dem Bundesrat, vgl. Stenographischer Bericht über die 275. Sitzung des Bundesrats vom 20. 11. 1964, S. 205 A. 212 Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 218. 213 Daß der Begriff des öffentlichen Interesses sich wegen seiner Leerformelhaftigkeit dazu als ungeeignet erwiesen hat, ist in diesem Zusammenhang unmaßgeblich. 214 So auch Naucke, Der Begriff, S.205 m. w. N. Neuerdings auch Rieß, Prolegomena, S. 199 f.
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Gleichbehandlungsgebots des Art. 3 GG in seinem Wesensgehalt ebenfalls nicht herleiten. 1.25 Verfassungswidrige Vorbestimmung des richterlichen Aufgabenbereichs durch den Staatsanwalt?
Die bisherige Argumentation hat ergeben, daß weder die übertragung der Bagatellisierungsermächtigung im Ermittlungsverfahren auf den Staatsanwalt noch die mangelnde gesetzliche Vorbestimmung der Bagatellisierungsermächtigung für sich betrachtet ausreichen, um einen Verfassungsverstoß zu begründen. Bei dieser jeweils auf einen jener beiden Aspekte beschränkten Prüfung wurde außer Betracht gelassen, daß die Problematik der staatsanwaltlichen Bagatellisierungsermächtigung sich vollends erst aus dem Zusammenwirken beider Gesichtspunkte ergibt. Die staatsanwaltliche Entscheidungs- und Sanktionsbefugnis im BagateIlbereich erhält durch die mangelnde gesetzliche Vorbestimmung dieses Bereichs eine neue Dimension, der Verzicht auf eine gesetzliche Aussonderung materiell-tatbestandlich nicht strafbedürftigen Unrechts durch die Delegation der Aussonderungsbefugnis an den Staatsanwalt eine neue Qualität. Insofern die Aussonderungsbefugnis nicht strafbedürftigen Unrechts auf eine Instanz verlagert wird, die weder unmittelbar demokratisch legitimiert ist noch an der richterlichen Unabhängigkeit teilhat, deutet sich aufs Neue eine Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips, des Rechtsprechungsmonopols der Gerichte und des Bestimmtheitsgebots von Strafnormen an215 • Wenn die Reaktion auf unbedingt strafbedürftige Kriminalität von Verfassungs wegen zwingend den Gerichten anvertraut ist216 und über die einzelfallbezogenen Bagatellisierungsentscheidungen festgelegt wird, wo die Grenzlinie zum strafbedürftigen Kriminalunrecht verläuft, wird durch die staatsanwaltliche Bagatellisierung im Ermittlungsverfahren vorentschieden, in welchem Kriminalitätsbereich allein die Gerichte zur Entscheidung berufen sind. Durch die Delegation der Bagatellisierungsermächtigung an den Staatsanwalt wird die Bestimmung des Umfangs der dem Strafgericht vor behaltenen Zuständigkeiten dem Staatsanwalt überlassen. Weil der Staatsanwalt in eigener Kompetenz 217 festlegt, wo der Bereich des unbedingt strafbedürftigen Kriminalunrechts 215 So Kausch, Der Staatsanwalt, S.184, 240 ff.; skeptisch demgegenüber Weigend, Strafzumessung, S.14. 210 BVerfGE 22,49 ff. (81); vgl. dazu bereits oben Kap. 1.23, S. 86 ff. 217 Auch soweit eine richterliche Zustimmung erforderlich ist, wird die Entscheidung durch den Staatsanwalt in eigener Kompetenz getroffen, da die Zustimmung keine Sachentscheidung darstellt; dazu bereits oben Kap. 1.23, S.82.
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und damit die Domäne des Richters beginnt, weist der Staatsanwalt und nicht das Gesetz dem Richter die Aufgaben ZU218 • Wegen der Weisungsgebundenheit des Staatsanwalts sind dessen Befugnisse immer zugleich solche der Behörde und der übergeordneten Landesjustizverwaltung, die durch Ausübung des Weisungsrechts die Entscheidung des einzelnen Staatsanwalts weitgehend präjudizieren können. Die Notwendigkeit, im Bagatellbereich zu einer einheitlichen standardisierten Entscheidungspraxis zu kommen, begründet gerade hier die Notwendigkeit zur Wahrnehmung der Richtlinienkompetenz. Damit bestimmt letztlich die Exekutive des jeweiligen Bundeslandes nach ihren je spezifischen, oft durch regionale Besonderheiten und parteipolitische Interessen geprägten Vorstellungen 2U über die Ausübung der Bagatellisierungsermächtigung im Ermittlungsverfahren und nimmt auf Grund dieser Vorstellungen eine Vor-Auswahl der den Gerichten zur Entscheidung verbleibenden Strafrechtsfälle vor. Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach von einem gewissen Schweregrad der Straftaten an die strafrechtliche Sanktionskompetenz den Richtern vorbehalten ist, ergeben sich daher neuerlich Bedenken gegen die verfassungsmäßige Zulässigkeit der staatsanwaltlichen Bagatellisierungsermächtigung. Denn der Staatsanwalt - nicht etwa das Gericht - bestimmt durch die Ausübung oder Nichtausübung des Bagatellisierungsermessens im Ermittlungsverfahren, wann dieser Schweregrad unterschritten oder erreicht ist. Dadurch aber verliert der vom Bundesverfassungsgericht aufgestellte Richtwert des Schweregrades seine inhaltliche Verbindlichkeit und verblaßt zu einer nichtssagenden, beliebig ausfüllbaren Leerformel: was immer der Staatsanwalt einer bagatellarischen Erledigung zuführt, kann per definitionem nicht den der Entscheidungszuständigkeit des Richters vorbehaltenen Schweregrad erreichen, weil der Staatsanwalt darüber in eigener Kompetenz durch die Vornahme oder Nichtvornahme der Bagatellisierung befindet220 • Zwei Wege deuten sich an, um dem Richtwert des Schweregrades zu verfassungsrechtlicher Verbindlichkeit zu verhelfen. Der eine Weg besteht darin, eine generelle und doch im Einzelfall zur Abgrenzung taugliche Definition dafür zu geben, wann die Schwelle zum strafSo Kausch, Der Staatsanwalt, S. 141. Zur inhaltlichen Divergenz der bestehenden Richtlinien im Bagatellbereich vgl. die Übersicht bei Kausch, Der Staatsanwalt, S. 195 ff. Prägnante Kritik der Richtlinienpraxis bei Keller, Zur gerichtlichen Kontrolle, S. 518, wonach die Richtlinien via ,öffentliches Interesse' quasi ein Alternativ-Strafgesetz der Exekutive errichten. 220 Vgl. dazu bereits oben Kap. 1.23, S.87. 218
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bedürftigen Unrecht erreicht bzw. überschritten ist; dies hat sich im vorangehenden Kapitel als unmöglich erwiesen. Der zweite Weg eröffnet sich aus der Ungangbarkeit des ersteren: wenn es unumgänglich ist, die Bestimmung der Strafbedürftigkeit einer Einzelfallentscheidung zu überlassen, muß die Entscheidung auch durch diejenige Instanz ergehen, die bei Bejahung der Strafbedürftigkeit über das Strafmaß zu befinden hat. Nur wenn die Entscheidungen über Verhaltensweisen, die einen Straftatbestand erfüllen, sämtlich einer Instanz zugewiesen sind, ist sichergestellt, daß über die Anwendung des Strafrechts nach einheitlichen Kriterien entschieden wird. Da die vom Strafrecht umfaßten Verhaltensweisen typischerweise strafbedürftig sind und sich aus der Strafbedürftigkeit die alleinige richterliche Entscheidungszuständigkeit ergibt, unterliegt auch die Prüfung, ob ein atypischer, nicht strafbedürftiger Fall anzunehmen ist, der alleinigen richterlichen Entscheidungszuständigkeit; es geht nicht an, daß ein nichtrichterliches Organ aus dem grundsätzlich der richterlichen Kompetenz zugewiesenen Raum Verhaltensweisen in eigener Kompetenz aussondert und der richterlichen Entscheidungszuständigkeit entzieht, so daß für den Richter nur noch bleibt, was ihm überlassen wird 221 • Die Grenzen des strafbedürftigen Kriminalunrechts müssen durch den Richter festgelegt werden; allein die richterliche Bestimmung des Strafbedürftigkeitsbereichs ist der nicht erbringbaren gesetzlichen Vorbestimmung dieses Bereichs funktionsäquivalent, weil nur bei der Rechtsprechung die institutionellen Vorkehrungen durch richterliche Unabhängigkeit und Verfahrensgarantien geschaffen sind, die die Einbuße an gesetzlicher Bestimmtheit ausgleichen und verfassungsrechtlich erträglich machen222 • Diese Überlegung führt - konsequent zu Ende gedacht - sich selbst ad absurdum. Wenn man mit dem Postulat Ernst macht, dem Richter dürfe keine von einer anderen Instanz vorselektierte Auswahl von Strafrechtsfällen zur Entscheidung vorgelegt werden, mündet dies in die Forderung einer richterlichen Allzuständigkeit im Strafrecht, wie sie im Inquisitionsverfahren begründet war. Nicht nur durch staatsanwaltliche Entscheidungen wird aussortiert, welche der strafrechtsrelevanten Fälle zur Entscheidung des Richters gelangen; die Selektion setzt bereits bei der polizeilichen und staatsanwaltlichen Ermittlungstätigkeit ein, insofern die Art und Intensität der durchgeführten Ermittlungen darüber bestimmt, welche der strafrechtsrelevanten Fälle den Kontrollinstanzen zur Kenntnis gelangen und damit überhaupt erst einer richterlichen Entscheidung zugänglich werden. Die faktische Vorbestimmung des richterlichen Entscheidungsbereichs durch die Ermitt221 222
Ähnlich Kausch, Der Staatsanwalt, S.219. Vgl. Kausch, Der Staatsanwalt, S. 184; Kühl, Probleme, S. 19.
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lungstätigkeit anderer Instanzen unterliegt keiner anderen Beurteilung als dessen rechtliche Vorbestimmung durch die Entscheidungskompetenz anderer Instanzen. Wenn man daran festhält, daß der Bereich richterlicher Entscheidung vorbehaltener Fallgestaltungen nicht durch nichtrichterliche Instanzen vorbestimmt werden darf, muß man den Richtern nicht nur die alleinige Entscheidungskompetenz, sondern auch die Ermittlungskompetenz im Strafrecht übertragen. Die Rechtsansicht, welche in der Bagatellisierungsbefugnis des Staatsanwalts nach geltendem Recht eine "Wiederkehr der Rollenvereinigung des Inquisitionsprozesses" erblickt223, muß daher streng genommen selbst auf dieser Rollenvereinigung in der Person des Richters bestehen und damit das Modell des Inquisitionsverfahrens getreuer nachvollziehen, als dies im geltenden Recht angeblich der Fall ist. Nicht nur diese in ihrer Radikalität sich selbst diskriminierende Konsequenz ist unhaltbar; auch die These, dem Richter müßten zumindest alle Einzelfallentscheidungen im Strafrecht vorbehalten bleiben, läßt sich nicht ernsthaft vertreten. Nicht einmal die ursprüngliche, auf größtmögliche Wahrung richterlicher Entscheidungskompetenz bedachte Konzeption der StPO von 1877 ging so weit, dem Staatsanwalt die Entscheidungsbefugnis im Ermittlungsverfahren bei mangelndem Tatverdacht (§ 170 Abs.2 StPO) zu nehmen. Wenn überhaupt der Satz Gültigkeit beanspruchen kann, nur das Gesetz, nicht der Staatsanwalt dürfe bestimmen, wo im Strafrecht die Domäne des Richters beginnt, muß man sich die Inkonsequenz leisten, seine Geltung auf staatsanwaltliche Entscheidungen auf Grund des Opportunitätsprinzips zu beschränken224 • Dann freilich ist die Frage, inwieweit sich hier zu der zweifelsfrei unbedenklichen staatsanwaltlichen Einstellungsbefugnis mangels hinreichenden Tatverdachts ein Unterschied ausmachen läßt, der eine unterschiedliche Beurteilung rechtfertigt. Eine unterschiedliche verfassungsrechtliche Beurteilung der staatsanwaltlichen Bagatellisierungsbefugnis und der Einstellungsbefugnis mangels hinreichenden Tatverdachts läßt sich nur darauf stützen, daß bei ersterer der Staatsanwalt trotz nicht ausgeräumtem Tatverdacht von der Anklageerhebung absieht und dadurch eine Entscheidung vorwegnimmt, zu der womöglich allein der Richter berufen ist. Pointiert formuliert hieße dies: die Verfassung gestattet dem Staatsanwalt nur innerhalb der strikten Bindung des Legalitätsprinzips eine Vor-AusNachweise oben in Fußnote 131. So Kausch, Der Staatsanwalt, S. 215 ff., der freilich innerhalb der Einstellungen nach dem Opportunitätsprinzip eine erneute Eingrenzung vornimmt und im Ergebnis nur die staatsanwaltliche Bagatellisierungsbefugnis gegen Auflagen bzw. Weisungen für verfassungswidrig erachtet; zur Vertretbarkeit dessen sogleich ausführlich. 223
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wahl der vom Richter zu entscheidenden Strafrechtsfälle; eine Verfahrensbeendigung aus Opportunitätserwägungen ist hingegen allein dem Richter vorbehalten. Diese These, die nur einen richterlichen Strafverzicht, nicht einen staatsanwaltlichen Verfolgungsverzicht für zulässig erachtet, sitzt der Fehlvorstellung eines qualitativen Unterschiedes zwischen Verfahrensbeendigungen aus Opportunitätsgründen und solchen aus Legalitätsgründen auf; sie suggeriert, Opportunität sei so etwas wie völlig freies Ennessen, gegen das ein prinzipielles Mißtrauen am Platze sei und dessen Ausübung im Strafrecht wenn überhaupt dem unabhängigen gesetzlichen Richter vorbehalten bleiben müsse 225 • Unterdessen hat sich im vorangehenden Kapitel gezeigt, daß das Bagatellisierungsermessen lediglich zur Konkretisierung der gesetzlichen Ziele im Einzelfall ennächtigt und sich darum eine Andersartigkeit von Rechtsanwendung nach dem Legalitätsprinzip und Ennessensausübung nach dem Opportunitätsprinzip nicht begründen läßt. Die geläufige verwaltungsrechtliche Unterscheidung von Rechtsanwendung und Ennessensausübung danach, ob jeweils nur eine Entscheidung normkonform ist oder ob mehrere Entscheidungen als je gesetzes- bzw. nonngemäß denkbar sind, hat sich auch dort in der Sache als bedeutungslos 226 erwiesen: ebensowenig wie sich bei der Rechtsanwendung die Einzelfallentscheidung aus dem Gesetz einfach "ablesen" läßt, besteht bei der Ermessensausübung eine ungebundene Wahl, die von der Rücksicht auf die gesetzlich erkennbaren Gesichtspunkte des Normziels frei wäre 227 • Das Ennessensproblem stellt sich nicht als ein selbständiges Problem außerhalb der Rechtsanwendung, sondern ist strukturell ein solches der Rechtsanwendung selbst. Bei der Auslegung gesetzlicher Merkmale ist dem Rechtsanwender prinzipiell immer eine Eigenverantwortung für die Vorbereitung nonnzweckgerechter Subsumtion bei der Würdigung des Sachverhalts zugestanden; selbst angeblich feste Tat225 So in der Tat die ursprüngliche Konzeption der StPO, die alle wesentlichen prozessualen Entscheidungen außer der Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO dem Richter zuwies. Kausch, Der Staatsanwalt, S. 231 bemerkt, darin komme eine Vorliebe des Liberalismus jener Zeit für die Justiz zum Ausdruck und eine überschätzung der Position des unabhängigen Richters auf Grund der Erfahrungen mit dem absolutistischen Polizeistaat. Fragwürdig wird seine Argumentation aber, wenn er fortfährt: "Das Grundgesetz dürfte jedoch die Einstellung des (gemeint ist: diese Einstellung des frühen, K.-L. K.) Liberalismus teilen." 226 Vgl. dazu etwa Bachof, Beurteilungsspielraum, S. 97 ff.; Rupp, Grundfragen, S. 207 ff. Zur Relevanz dieser Erkenntnisse für das Strafverfahrensrecht vgl. Jung, Straffreiheit, S. 58 f. 227 Vgl. Esser, Vorverständnis, S.63. Vielmehr gilt immer das Gebot sachangemessener Differenzierung unter Beachtung des Willkürverbots, vgl. Gössel, überlegungen zur Bedeutung, S. 127 f.
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bestandsmerkmale, die deskriptiv anmutende Begriffe verwenden, sind wertausfüllungsbedürftig, insofern ihre Auslegung über den jeweiligen Normzweck erfolgen muß 228 • Bestimmte Tatbestandsmerkmale, unbestimmte Tatbestandsmerkmale und Ermessensmerkmale markieren fließend ineinander übergehende Bereiche auf der Skala einer kontinuierlich steigenden Unbestimmtheit; die methodologische Einsicht in die mehr oder weniger große Unbestimmtheit fast aller Rechtsbegriffe verwehrt es, hier feste Grenzen zu ziehen und nach Bestimmtheitsgraden bzw. den diesen korrespondierenden Handlungsspielräumen bei der Rechtsanwendung zu kategorisieren229 • Der in § 170 Abs.2 StPO angeblich strikt formulierte Verfolgungsverzicht mangels hinreichenden Tatverdachts unterliegt keinen prinzipiell bestimmteren Anwendungsregeln als der Verfolgungsverzicht wegen Geringfügigkeit. Schon in rechtlicher Hinsicht ist umstritten, ob der Staatsanwalt bei der Entscheidung über die Anklageerhebung an die höchstrichterliche Rechtsprechung gebunden oder nach eigener Rechtsauffassung zu urteilen befugt ist280 • Jedenfalls hängt die Entscheidung, ob in tatsächlicher Hinsicht hinreichender Tatverdacht anzunehmen ist, von der Intensität der durchgeführten Ermittlungen ab. Es wurde bereits erwähnt, daß der Staatsanwalt berechtigt und nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verpflichtet ist, den Ermittlungsaufwand nach der Schwere des mutmaßlichen Tatvorwurfs zu gewichten; bei weniger gravierenden Delikten kann von einer minutiösen Sachverhaltsaufklärung abgesehen und von einer vorläufigen Tatbewertung ausgegangen werden281 • Wie bei der Einstellung wegen Geringfügigkeit nimmt der Staatsanwalt bei der Einstellung mangels hinreichenden Tatverdachts in Ansehung der Gebotenheit weiterer Aufklärung zur Erlangung gesicherter Ermittlungsergebnisse eine Schwereeinschätzung des Tatvorwurfs auf Grund des derzeitigen Ermittlungsstandes vor und entscheidet jenseits einer - im tatsächlichen Bereich gar nicht durchführbaren - strengen Legalitätsbindung über Verfolgungsverzicht oder Anklageerhebung; je weniger schwerwiegend sich der mögliche Tatvorwurf nach den bisherigen Ermittlungen darstellt, desto näher liegt es, auf weitere aufwendige Ermittlungen mit ungewissem Ergebnis zu Esser, Vorverständnis, S.52. Jung, Straffreiheit, S. 58. Demgemäß betont Schroeder, Legalitäts- und Opportunitätsprinzip, S. 425 f., das Opportunitätsprinzip sei nach heutigem Verständnis immer mehr zur Subsumtion unter Tatbestandsmerkmale geworden; das Legalitätsprinzip verstanden als Verfolgungszwang betone zu sehr das Moment des Gebundenseins und verführe zu der Fehlvorstellung, daß bei seinem Nichtvorliegen eine Verfolgungsfreiheit bestehe. 230 Für ersteres BGHSt 15, 155 ff. (160). Zum Meinungsstand vgl. Gössel, überlegungen, S. 343; Kausch, Der Staatsanwalt, S. 220 f. 231 BGHSt 23, 304 ff. (306). Dazu bereits oben Kap. 1.21, S. 73 ff. 228
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verzichten und zugunsten des Beschuldigten von der Nichtnachweisbarkeit des Vorwurfs auszugehen. Entgegen des ersten Anscheins spielt damit der Geringfügigkeitsgedanke auch bei der Einstellung mangels Nachweisbarkeit eine entscheidende Rolle; für diese Erledigungsart gilt dasselbe prozessuale Verhältnismäßigkeitsprinzip 232, welches für die Einstellung wegen Geringfügigkeit bestimmend ist. Die Einstellung mangels Nachweisbarkeit unterscheidet sich in ihren Voraussetzungen von der Einstellung wegen Geringfügigkeit daher nicht prinzipiell nach der unterschiedlichen Bindung des Staatsanwalts an gesetzliche Vorgaben, wie die Gegensätzlichkeit von Legalitäts- und Opportunitätsgrundsatz vermuten läßt, sondern bloß graduell nach Beweisbarkeit bzw. Sanktionsbedürftigkeit. Dies leuchtet unmittelbar ein, wenn man sich vor Augen führt, daß sowohl bei Nichterreichen des für § 153 Abs.1 StPO geforderten Verdachtsgrads der überwiegend wahrscheinlichen Nachweisbarkeit als auch bei Nichterreichen des für § 153 a Abs. 1 StPO zu verlangenden 233 Grades der hinreichenden Nachweisbarkeit eine Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO in Betracht kommt. Handelt es sich auf Grund vorläufiger Tatbewertung um eine Bagatelle, die zu keiner Reaktion Anlaß gibt, ist bei überwiegender Wahrscheinlichkeit der Überführung eine Einstellung nach § 153 Abs. 1 StPO, bei überwiegender Unwahrscheinlichkeit der Überführung eine Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO geboten. Erscheint dagegen eine folgenlose Hinnahme des in Frage stehenden Tatvorwurfs nicht vertretbar, ist bis zur Klärung des hinreichenden Tatverdachts weiterzuermitteln. Bestätigt sich dieser nicht, greift die Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO Platz; andernfalls ist bei positiver Prognose über die VerurteilungswahrscheinlichkeW 34 Anklage zu erheben bzw. ein Strafbefehl zu beantragen, bei negativer Prognose eine Einstellung nach § 153 a Abs. 1 StPO anzustreben. Die üblicherweise bloß als Kehrseite der Anklageerhebung verstandene Einstellung mangels Nachweisbarkeit ist gleichermaßen als Gegenstück zu den Einstellungen wegen Geringfügigkeit zu verstehen; sämtliche staatsanwaltliche Reaktionsmöglichkeiten bilden ein System ineinandergreifender, nach Beweisbarkeit und Sanktionsbedürftigkeit gestaffelter Entscheidungsalternativen, die wechselseitig aufeinander 232 So Driendl, zitiert nach Beckmann, Diskussionsbericht, S. 601. Im Ergebnis ähnlich Zipf, Kriminalpolitische Überlegungen, S.498, der hervorhebt, die Aufgabe des Legalitätsprinzips sei es nicht, die Selektion im Sanktionierungsprozeß zu verhindern, sondern zu verhindern, daß parteiisch unter Ansehen der Person die Strafverfolgung durchgeführt wird. Da dasselbe für das Opportunitätsprinzip gilt, unterscheiden sich beide Grundsätze im Kern nicht. 233 Vgl. oben Kap. 1.21, S. 73 f. 234 Dazu näher oben Kap. 1.23, S. 83.
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bezogen sind und daher grundsätzlich denselben Entscheidungsspielraum eröffnen. Hieraus erhellt, daß der Beurteilungsspielraum, den der unbestimmte Rechtsbegriff "hinreichender Tatverdacht" bei der Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO läßt235 , nicht andersartig oder enger ist als der Ermessensspielraum bei der Einstellung wegen Geringfügigkeit. Damit verblaßt trotz der sprachlichen Differenz in der Handlungsanweisung der scheinbare Gegensatz zwischen Einstellungen mangels hinreichenden Tatverdachts und Einstellungen wegen Geringfügigkeit zur bloßen Variation der Konkretisierung des Gesetzmäßigkeitsgrundsatzes in der Strafverfolgung236. Eine prinzipielle Divergenz in der Bestimmtheit der Anwendungsregeln, die zu verfassungs rechtlichen Bedenken gegen die Einstellung wegen Geringfügigkeit Anlaß gäbe, läßt sich nicht ausmachen. Dies offenbart sich in aller Deutlichkeit bei Rechtsordnungen wie der italienischen und der österreichischen, die an einem strengen Legalitätsprinzip festhalten und demgemäß Einstellungen wegen Geringfügigkeit aus Opportunitätsgründen nicht kennen. Die Einstellung mangels hinreichenden Tatverdachts deckt dort faktisch jenen Bereich voll ab, der hierzulande der staatsanwaltlichen Einstellung wegen Geringfügigkeit 237 vorbehalten ist; die Staatsanwaltschaft schafft sich dort über die Auslegung des Rechtsbegriffs "hinreichender Tatverdacht" jenen Freiraum zur Bagatellisierung, den das Gesetz ihr offiziell versagt. So kann Paliero für Italien behaupten, das Legalitätsprinzip werde "häufig über 236 BGH JZ 1970, S. 729 f. Bloy, Zur Systematik, S. 163 weist darauf hin, daß die Entscheidung über die Einstellung mangels Nachweisbarkeit nicht voll objektivierbar sei und es innerhalb des der Staatsanwaltschaft zuzubilligenden Beurteilungsspielraums nicht mehr möglich sei, positive Richtlinien aufzustellen; es sei nur negativ zu fordern, daß keine Beurteilungsfehler vorhanden sein dürften. 238 Jung, Straffreiheit, S.59; vgl. auch Rieß, Die Zukunft, S.4: "Der Aufklärungsaufwand wird nach antizipierten Erfolgseinschätzungen und nach der Deliktsschwere dosiert; in manchen Bereichen beschränken sich die Strafverfolgungsorgane auf die Registrierung angezeigter Kriminalität. Wenn aber die Strafverfolgungsorgane aufgrund einer wertenden, prozeßökonomisch und kriminalpolitisch fundierten Entscheidung eine kriminalistisch mögliche Aufklärung unterlassen, so wird der materielle Anspruch des Legalitätsprinzips, aufklärbare und beweisbare Taten zur Aufklärung zu bringen, nicht restlos erfüllt. Die Einstellung nach § 170 Abs.2 StPO berührt, entgegen verbreiteter Auffassung, in diesen Fällen das Legalitätsprinzip. Daraus folgt einmal, daß die scharfe Trennung zwischen den Einstellungen nach den §§ 153 ff. StPO und denen nach § 170 Abs.2 StPO möglicherweise relativiert werden muß, zum anderen, daß der Anteil des ,freiwilligen' Verfolgungsverzichts durch die StA und Polizei höher sein dürfte, als die Zahl der offenen Durchbrechungen des Legalitätsprinzips." Zur Relativierung der Durchsetzung des Sanktions anspruchs durch das Bedürfnis nach Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit Rieß, Legalitätsprinzip. !37 Daneben eröffnet das österreichische Recht in § 42 Abs. 1 ÖStGB die Möglichkeit des gerichtlichen Strafverzichts mangels Strafwürdigkeit; dazu später ausführlich.
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den Umweg der Einstellung mangels Tatverdachts geschickt umgangen" und Driendl für Österreich darauf hinweisen, das Legalitätsprinzip erweise sich als "die arbeitssparendste Variante des Opportunitätsprinzips"238. Offenbar findet eine Selektion der Bagatellkriminalität durch die Staatsanwaltschaft unabhängig davon statt, ob ihr ein Bagatellisierungsermessen gesetzlich zugebilligt wird oder nicht; wenn aber dem Staatsanwalt faktisch die Bagatellisierungsmacht ohnehin nicht zu nehmen ist, erscheint es vorzugswürdig, dieser eine gesetzliche Grundlage zu geben und sie dadurch - zumindest in Grenzen - transparent und kontrollierbar zu machen238a . Die Unbedenklichkeit der Vorbestimmung des richterlichen Aufgabenbereichs durch staatsanwaltliche Bagatellisierungen zeigt sich im übrigen darin, daß das Strafrecht auch im Zusammenhang mit der Verwaltungsakzessorietät eine Abhängigkeit der Bestrafung von Vorentscheidungen einer Instanz kennt, die weder unmittelbar demokratisch legitimiert ist noch an der richterlichen Unabhängigkeit teilhat. Speziell im Umweltstrafrecht verwendet das Gesetz Blankettbestimmungen, die im wesentlichen nur die Strafdrohung enthalten, bezüglich des Verbotsinhalts aber auf andere gesetzliche Bestimmungen oder gar auf Verordnungen und Verwaltungsakte verweisen238 ; erst mit diesen Ausfüllungsnormen bzw. Ausfüllungsakten werden die Strafblankette zu vollständigen Straftatbeständen!4O. Zumindest bei den Strafvorschriften, deren Tatbestand ganz oder teilweise durch Einzelanordnungen von Verwaltungsbehörden ausgefüllt wird 24 t, wird de facto die Entscheidung über die Strafbarkeit eines konkreten Verhaltens von der Ersten auf die Zweite Gewalt verlagert, die auf Grund eigenständiger Entschließung über den Zuständigkeitsbereich der Drit238 Zitiert nach Beckmann, Diskussionsbericht, S.597, 607. 238a In diesem Sinne meint Lüderssen, Grenzen, S. 222, im Falle der Bagatellkriminalität wögen die Ungleichheiten, die durch das Festhalten am Legalitätsprinzip in aussichtslosen Situationen erzeugt würden, schwerer als die Ungleichheiten, die durch ungleichmäßige Ermessensausübung im Rahmen eines Opportunitätsprinzips entstünden. 239 Etwa §§ 27 Abs. 2 Nr. 1 und 2 Chemikaliengesetz; 311 d Abs. 4, 325 Abs.4 StGB. Die durch das am 1. 7.1980 in Kraft getretene Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität in das StGB eingefügten Strafbestimmungen verweisen hinsichtlich des Verbotsinhalts durchweg auf verwaltungsrechtliche Spezialvorschriften z. B. des Wasserhaushaltsgesetzes, des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, des Abfallbeseitigungsgesetzes und des Atomgesetzes. 240 Vgl Backes, Strafrechtswissenschaft, S.200: "Konturen gewinnen diese Straftatbestände vielmehr erst dadurch, daß sie ausnahmslos auf behördliche ,Genehmigungen', ,Untersagungen', ,festgelegte Höchstmengen', ,Auflagen', ,Erlaubnisse', ,Befugnisse' usw. Bezug nehmen und diese damit zum Bestandteil des Straftatbestandes machen. Erst die behördlichen Entscheidungen konkretisieren die Strafbestimmungen; erst ihre Nichtbeachtung löst Sanktionen aus." 241 So bei §§ 27 Abs.2 Nr.2 Chemikaliengesetz; 325 Abs.4 StGB.
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ten Gewalt verfügt242. Strafsetzungsbefugnisse den Einzelakten einer Verwaltungsbehörde zu überlassen, muß verfassungsrechtlich weit problematischer erscheinen als Verfolgungsverzichtsbefugnisse der Staatsanwaltschaft einzuräumen; während hier der Gesetzgeber den Strafbarkeitsbereich selbst festlegt und lediglich dem Staatsanwalt gestattet, innerhalb dieses von Gesetzes wegen grundsätzlich der richterlichen Entscheidung zugewiesenen Bereichs eine korrigierende negative Auslese nach Geringfügigkeitsgesichtspunkten vorzunehmen, wird dort bereits die positive Ausgrenzung und Konturierung der strafrechtlichen Verbotsmaterie an eine Behörde delegiert, die obendrein im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft kein Organ der Strafrechtspflege ist243 • Ist damit die Bagatellisierungsbefugnis des Staatsanwalts auf Grund der nach Opportunitätsgesichtspunkten zu treffenden Ermessensentscheidung als solche nicht zu beanstanden243a , so läßt sich ein Verfassungsverstoß auch nicht aus der staatsanwaltlichen Sanktionsbefugnis nach § 153 a Abs. 1 StPO herleiten. Zwar führt nur die Bagatellisierungsbefugnis nach § 153 Abs. 1 StPO wie die Einstellungsbefugnis nach § 170 Abs.2 StPO zu einem unbedingten Verfolgungsverzicht. Indes muß unter dem Gesichtspunkt der Vorbestimmung des richterlichen Aufgabenbereichs durch den Staatsanwalt für die Ermächtigung nach § 153 a Abs. 1 StPO dasselbe gelten wie für diejenige nach § 153 Abs. 1 StPO; entweder wird in beiden oder in keinem der beiden Fälle der richterliche Aufgabenbereich durch den Staatsanwalt unzulässig präformiert. Bei der unbedingten Bagatellisierung nach § 153 Abs. 1 StPO sondert der Staatsanwalt gleichermaßen wie bei der durch Auflagen bzw. Weisungen bedingten Bagatellisierung nach § 153 a Abs.1 StPO strafunwürdige Vorgänge auf Grund einer vom Gesetz nicht voll determinierbaren Entschließung aus und entzieht die Vorgänge der richterlichen Entscheidungsgewalt; hier wie dort schiebt sich der Staatsanwalt zwischen Gesetz und Richter und nimmt gesetzesvertretend eine VorAuswahl der dem Richter zur Entscheidung verbleibenden Strafrechtsfälle vor. Mit der Frage der Zulässigkeit dieser Vor-Auswahl des Bagatellisierungswürdigen durch den Staatsanwalt hat die - bereits positiv beantwortete244 - Frage nach der Zulässigkeit der Rechtsfolgeanord242 Ähnlich Kühl, Probleme, s. 12 f. 243 Auf die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer solchen Verwaltungsaktsakzessorietät des Strafrechts kann hier nicht eingegangen werden; dazu skeptisch Kühl, Probleme, S. 22 ff. Backes, Strafrechtswissenschaft, S. 200 ff. schlägt vor, die fehlende gesetzliche Konkretisierung des Strafbaren im Umweltstrafrecht durch Einführung unabhängiger Prüfstellen auszugleichen, die jeweils die Grenze des Strafbarkeitsbereichs festlegen. Daß auch solche Prüfstellen in der Terminologie von Kausch "Richter vor dem Richter" wären, liegt auf der Hand. 243a Ebenso Faller, Verfassungsrechtliche Grenzen, S. 82. 244 Vgl. oben Kap. 1.23, S. 88 ff.
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nungen des § 153 a Abs. 1 StPO, die an die erfolgte Vor-Auswahl geknüpft werden, nichts gemein: der staatsanwaltliche Ermessensspielraum bei der Aussonderung strafunwürdiger Vorgänge wird nicht dadurch ein anderer, daß bei § 153 a Abs. 1 StPO nach Ausübung dieses Ermessens zusätzlich die Wahl unter mehreren sanktionierenden Rechtsfolgen zu treffen ist, während bei § 153 Abs. 1 StPO dann allein die Rechtsfolge "Null" in Betracht kommt. Die Einflußmöglichkeit des Staatsanwalts auf die zur Entscheidung des Richters gelangenden Strafrechtsfälle wird durch § 153 a Abs. 1 StPO nur graduell erweitert, insofern mehr Fälle als bisher und auch solche nicht bloß völlig unbedeutender Art im Ermittlungsverfahren bagatellisiert werden können; wie diese quantitative Ausweitung der staatsanwaltlichen Selektionsbefugnis ins Qualitative umschlagen soll mit der Folge, daß die Auslese strafunwürdiger Vorgänge durch den Staatsanwalt nach § 153 Abs.1 StPO als verfassungsrechtlich zulässig, nach § 153 a Abs. 1 StPO dagegen als unzulässig gilt 245 , ist schlechterdings unverständlich. Insofern ist Rieß uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er ausführt245a : "Sieht man - wie es hier geschieht - in der staatsanwaltlichen Abschlußverfügung eine Tätigkeit mit wertendem Entscheidungscharakter, die qualitative Verwandtschaft mit der richterlichen Entscheidung hat, so ist die Einstellung gegen Auflagen und Weisungen nach § 153 a StPO kein Systembruch, sondern Teil eines abgestuften Systems der Reaktionen auf abweichendes Verhalten und als eigenständige Sanktion bei fehlendem Strafbedürfnis der eigentlichen Strafe vorgelagert." Daraus resultiert die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des staatsanwaltlichen Sanktionierungsverfahrens, nicht aber - wie Rieß unterstellt 245b seine kriminalpolitische Akzeptabilität. 245 So aber Kausch, Der Staatsanwalt, S. 223 f. Der Begründungsversuch von Kausch verstrickt sich fortlaufend in Widersprüche. So soll einerseits der Bereich unbedingt bagatellisierungswürdiger Verhaltensweisen "immer nur ein sehr schmaler Sektor sein", andererseits wird zugestanden, daß dieser Sektor "zahlenmäßig nicht gering ist". Die Differenz der unbedingten zur bedingten Bagatellisierung wird darin gesehen, daß erstere wie § 170 Abs. 2 StPO dazu diene, "eigentlich nicht strafbare Handlungen auszuordnen" und "Verfahren auszuscheiden, bei denen ein Schuldspruch als Ergebnis des Verfahrens nicht erwartet werden kann" (S.223). Das Gegenteil dieser Annahmen ist zutreffend: die unbedingte Bagatellisierung setzt wie die bedingte gerade voraus, daß ein Schuldspruch zu erwarten ist - andernfalls müßte nicht eine Einstellung wegen Geringfügigkeit, sondern eine solche nach § 170 Abs. 2 StPO ergehen; auch die unbedingte Bagatellisierung dient keineswegs dazu, nicht strafbare, sondern trotz - nach dem Ermittlungsergebnis zu erwartender - formeller Strafbarkeit nicht strafbedürftige Handlungen auszusondern. Die Argumentation von Kausch belegt damit ungewollt die Richtigkeit der hier vertretenen These. 245a Rieß, Prolegomena, S. 199. 245b Rieß, Prolegomena, S.199; vgl. auch ders., Vereinfachte Verfahrensarten, S. 133.
8 Kunz
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Zugegeben: das Unbehagen an der Unbestimmtheit der Anwendungsvoraussetzungen des Bagatellisierungsverfahrens und an der Sanktionsverhängungsbefugnis des Staatsanwalts im Bagatellisierungsverfahren potenziert die Problematik des § 153 aStPO. Daraus läßt sich die Vorschrift kriminalpolitisch, aber nicht verfassungsrechtlich in Frage stellen246 • Beide Gesichtspunkte zusammengenommen verleihen der kriminalpolitischen Kritik an der Bestimmung verstärktes Gewicht. Wenn aber keiner der Gesichtspunkte für sich betrachtet den Grad des von Verfassungs wegen noch Hinzunehmenden überschreitet, dürfen sie nicht in der Weise aufaddiert werden, daß daraus unter dem Strich eine Verfassungswidrigkeit resultiert. Wer dies gleichwohl tut, kleidet ein berechtigtes kriminalpolitisches Anliegen in eine verfassungsrechtliche Argumentation und nimmt durch die juristische Angreifbarkeit seiner Argumentation die Brisanz, die ihr kriminalpolitisch zukommt. Darum bleibt festzuhalten: das geZtende gesetzliche BagateZZisierungsverfahren ist verfassungskonform. Dieses Ergebnis wird bestätigt durch eine neue re Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Vereinbarkeit der Regelung des Bagatelldiebstahls mit dem Grundgesetz: in dieser Entscheidung geht das Gericht unter anderem auf die geltende prozessuale Lösung der Auflockerung des Verfolgungszwanges im Allgemeinen und die staatsanwaltliche Bagatellisierungsbefugnis ohne gerichtliche Mitwirkung (§§ 153 Abs. 1 Satz 2, 153 a Abs. 1 Satz 6 StPO) im Besonderen ein, und stellt diesbezüglich lapidar fest, jene Regelung sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden247 • Der Deutlichkeit halber sei betont, daß mit diesem Befund die erörterten248 Einwände gegen die geltende gesetzliche Regelung keineswegs entkräftet sind, sondern sich nunmehr präziser als rein kriminalpolitische Einwände bestimmen lassen. Die bisherige Argumentation hat nur die ZuZässigkeit des vom Gesetzgeber gewählten Reaktionsmodells auf Bagatellkriminalität erwiesen; über seine Angemessenheit kann erst fundiert geurteilt werden, wenn die in Betracht kommenden alternativen Reaktionsmodelle erarbeitet und auf ihre Eignung zur Lösung der Bagatellproblematik befragt worden sind. 246 Zur vorschnellen Aktivierung des Verfassungsrechts, wo eigentlich eine kriminalpolitische Argumentation am Platze wäre, ist die These symptomatisch, eine unbestimmte Regelung im Strafrecht ließe sich bereits dann verfassungsrechtlich in Frage stellen, wenn es eine Regelungsalternative gibt, die nicht oder weniger unbestimmt ist und die gleiche Funktion gewährleistet, so Kausch, Der Staatsanwalt, S. 157. 247 BVerfG NJW 1979, 1039 f. (1040). 248 Kp. 1.1, S. 57 ff.
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Zumindest soviel ist indes bereits jetzt sicher: die geltende gesetzliche Regelung stellt keine auf Anhieb befriedigende Lösung dar, die allseits akzeptabel wäre, sondern kann sich allenfalls im Hinblick auf die verfügbaren Regelungsalternativen als das kleinere Übel erweisen, mit dem man sich notgedrungen abzufinden hat.
2. Gesetzestechnische Möglichkeiten der Sonderbehandlung von Bagatelldelikten über die Notwendigkeit einer besonderen Behandlung von Bagatelldelikten besteht in Strafrechtswissenschaft und Kriminologie EinmütigkeW. Die Sonderbehandlung setzt freilich eine klare Bestimmung des Gegenstandes solcher Bemühung voraus. Eine Präzisierung des Begriffsinhalts des Bagatelldelikts und seine Abgrenzung von schweren Deliktsformen steht indes noch aus: bisher konnte der Begriff des Bagatelldelikts nicht mit dogmatisch exakten Kriterien erfaßt werden!. Von Bagatelldelikten zu reden meint, sich implizit an Zielen und Strategien der Kriminalpolitik zu orientieren: wir definieren Sachverhalte als Bagatellen, wenn wir uns entschieden haben, auf sie in besonderer Weise, in der Regel in abgeschwächter Intensität und vereinfachter Form, antworten zu wollen. Den Begriff des Bagatelldelikts zu bejahen heißt also, speziell darauf reagieren zu wollen3 • Die Abschwächung bzw. das völlige Entfallen einer Reaktion auf Bagatelldelikte kann in grundsätzlich unterschiedlicher Weise erreicht werden. Zunächst kann der Gesetzgeber ein Verhalten, welches nach seiner typischen Erscheinungsform nicht zwingend der Strafe bedarf, straflos lassen bzw. die bestehende Strafbarkeit des Verhaltens aufheben. Insofern der Gesetzgeber den Bereich strafbaren Verhaltens durch die Vorgabe von Deliktstatbeständen abstrakt-begrifflich definiert, steht es in seiner Macht, durch Begrenzung des Strafbarkeitsbereichs Bagatelldelikte von vornherein aus der Zone strafrechtlich erfaßten Verhaltens auszuklammern'. Dieser Weg wird namentlich eingeschlagen, wenn ein sozialer Wandel in der Bewertung bislang strafbaren Verhaltens eingetreten ist, die betreffende Strafvorschrift also in der sozialen Anschauung "überholt" erscheint. Die Abschaffung der Strafbarkeit einfacher Homosexualität zwischen Erwachsenen nach § 175 a. F. StGB Vgl. etwa Kaiser, Möglichkeiten, S.877, 881; dazu später ausführlich. So Maurach/Zipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Teilband 1, § 13 II. 8 Kaiser, Möglichkeiten, S. 899. , Inwiefern er hierzu befugt ist, steht auf einem anderen Blatt; dazu später ausführlich. 1 2
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durch das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts (1. StrRG) vom 25. 6. 19695 ist hierfür ein Beispiel. Solche ersatzlose Streichung obsoleter Strafnormen wird zwar typischerweise nicht von einem wie immer inhaltlich zu verstehenden Bagatellprinzip angeleitet. Während es hier um eine grundsätzliche Neuorientierung der Rechtsgüterpolitik geht, die infolge gewandelter gesellschaftlicher Werterfahrung einen "humaneren" und "rationaleren" Umgang mit abweichendem Verhalten geboten oder zumindest tolerabel erscheinen läßt, ist beim Bagatellproblem die Frage der partiellen Einschränkung des Strafschutzes unter Beibehaltung der Leitlinien bisheriger Rechtsgüterpolitik angesprochen. Dennoch kommt der Abschaffung von Strafvorschriften für Bagatelldelikte zumindest mittelbare Bedeutung zu, besteht doch die beste Lösung des Bagatellproblems darin, dieses durch Restriktion des Strafbarkeitsbereichs gar nicht erst aufkommen zu lassen. Freilich sind dieser Möglichkeit einer Rücknahme der Strafzone enge Grenzen gesetzt. Mit der Reform der Staatsschutzbestimmungen, des Sexualstrafrechts, der Familiendelikte und weiterer Deliktsbereiche8 ist die Generalüberholung "antiquierter" Strafnormen zu einem vorläufigen Abschluß gelangt. Das Scheitern der Fristenlösung im Rahmen der Abtreibungsreform7 hat hier allem Anschein nach eine Wende eingeleitet. Das reformatorische Potential scheint ausgeschöpft, da die Abschaffung weiterer Strafvorschriften kriminalpolitisch problematische Strafbarkeitslücken aufreißen würde und angesichts des sogenannten Kernbereichsvorbehalts des Bundesverfassungsgerichts8 obendrein verfassungs rechtlich bedenklich wäre. Damit stellt sich das Bagatellproblem mit unverminderter Brisanz und verlangt nach Lösungen jenseits einer generellen Neuorientierung der Rechtsgüterpolitik. Eine Lösungsmöglichkeit besteht darin, als Reaktion auf Bagatelldelikte eine nichtstrafrechtliche Rechtsfolge vorzusehen. In diesem Falle wird die Behandlung der Bagatellkriminalität aus dem Bereich des Strafrechts hinausverlagert. Bagatelldelikte in diesem - eigentlichen SinneS sind nicht geeignete Bezugsobjekte für eine Pönalisierung und BGBl. I, 8. 645. Vgl. etwa Jung, 8trafrechtsreform. 7 Die sog. Fristenregelung konnte nicht in Kraft treten, weil das Bundesverfassungsgericht durch Urteil vom 25.2. 1975 (BGBl. I, 625), BVerfGE 39, 1 den ihr zugrundeliegenden § 218 a 8tGB im Kern für verfassungswidrig und nichtig erklärte. 8 Vgl. BVerfGE 8, 197; 9, 167 (171); 22, 49 (79). Dazu später ausführlich. 9 Es handelt sich dabei um eigentliche Bagatelldelikte oder Bagatelldelikte per se, weil sie nach ihrer Tatbestandsbeschreibung in schlechthin jedem Falle geringfügig sind, im Gegensatz zu den uneigentlichen Bagatelldelikten, welche nach ihrer Tatbestandsbeschreibung so begangen werden können, daß 5
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2. Möglichkeiten gesetzlicher Privilegierung
unterfallen nicht dem Begriff der Straftat. Das Gesetz hat ihre tatbestandlichen Voraussetzungen in abstrakt-begrifflicher Form von den Straftatbeständen zu unterscheiden und zwingend andere als strafrechtliche Rechtsfolgen für sie vorzusehen. Eine derartige Herauslösung der Bagatellkriminalität aus dem strafrechtlichen Reaktionsbereich durch außerstrafrechtliche Verselbständigung von Bagatelldelikten hat der deutsche Gesetzgeber für den Bereich des Verwaltungsstrafrechts im Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (OWiG)lO vollzogen. Eine nichtstrafrechtliche Reaktion auf Bagatelldelinquenz ist ferner im Rahmen zivilrechtlich ausgestalteter Sanktionsverfahren möglich. Bestimmte strafbewehrte Verhaltensweisen können - fakultativ oder zwingend - der Verfolgungs- und Ahndungskompetenz staatlicher Strafgerichtsbarkeit entzogen und einem von den Verletzten zu betreibenden Verfahren unterworfen werden, welches über den bloßen Schadensausgleich hinaus die private Genugtuung durch Auferlegung von Zahlungsverpflichtungen eröffnet. Einen solchen Weg hat der von deutschen und schweizerischen Strafrechtslehrern vorgelegte Entwurf eines Gesetzes gegen Ladendiebstahl eingeschlagenloa . Der ebenfalls vom Alternativkreis von Strafrechtslehrern präsentierte Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der BetriebsjustizlOb ersetzt die Zuständigkeit der Strafjustiz für kleinere bis mittelschwere Straftaten am Arbeitsplatz durch ein betriebsinternes Verfahren mit gleichfalls nichtstrafrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten. Insofern bei der Betriebsgerichtsbarkeit nicht bloß der Verletzte, sondern daneben Repräsentanten der Betriebsgemeinschaft bzw. die berufsständischen Kammern das Verfahren betreiben, enthält die Betriebsjustiz zugleich Merkmale einer Gesellschaftsgerichtsbarkeit, die in sozialistischen Staaten für Delikte im sozialen Nahbereich generell ausgebaut ist loe und in den USA durch Neighborhoud Justice Centers eine Institutionalisierung gefunden hatlOd . sie schweres Unrecht darstellen, aber auch in Bagatellform möglich sind, so: Dreher, Die Behandlung, S.918. Krümpelmann bezeichnet diese Delikte in Anlehnung an Hellmuth Mayer als selbständige leichte Delikte, die dadurch gekennzeichnet seien, daß gerade der leichte Verstoß als solcher vom Gesetz bestraft wird; die betreffende Handlung sei nach Ansicht des Gesetzes nicht sehr erheblich, aber gerade diese nicht sehr erhebliche Handlung solle unterdrückt werden. Selbständige Bagatelldelikte sind somit solche, die nur als Bagatellen vorkommen, im Gegensatz zu den unselbständigen Bagatelldelikten, welche eine bagatellarische Verwirklichungsform eines an sich schwerwiegenden Delikts sind, so: Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 37. 10 OWiG vom 24. 5. 1968 (BGBl. I, 481). Auf die Fragen, ob Ordnungsrecht und Bagatellunrecht sich inhaltlich unterscheiden und ob eine Lösung des Bagatellproblems durch Umwandlung der Bagatelldelikte in Ordnungswidrigkeiten geboten oder vertretbar ist, wird später ausführlich einzugehen sein. 10a Arzt u. a., Entwurf eines Gesetzes gegen Ladendiebstahl. lOb Arzt u. a., Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Betriebsjustiz. Auf beide Gesetzentwürfe wird noch zurückzukommen sein. lOe Vgl. Eser, Gesellschaftsgerichte.
2. Möglichkeiten gesetzlicher Privilegierung
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Schließlich kann auf Bagatellkriminalität nichtstrafrechtlich durch diversifizierende Maßnahmen reagiert werden. Im Gegensatz zu der in sozialistischen Ländern praktizierten förmlichen Gesellschaftsgerichtsbarkeit mit Sanktionskompetenz setzt das in den USA verbreitete Diversionskonzept auf eine größtmögliche Re-Privatisierung der Konfliktbereinigung. Im Vordergrund steht die zwischenmenschliche Verständigung durch zwanglose Aussprache und private Einigung, deren mögliche Inhalte bewußt offengelassen werden; unter Verzicht auf eine förmliche Sanktionierung werden daneben sozialtherapeutische Programme auf freiwilliger Basis angeboten10e• Eine andere Möglichkeit der Behandlung von Bagatellkriminalität ist die innerstrafrechtliche. Hier wird für Bagatelldelikte regelmäßig eine gegenüber der typischen strafrechtlichen Reaktionsweise abgeschwächte strafrechtliche Reaktion vorgesehen, sei es, daß nur eine Kriminalstrafe minderen Rang€s oder bis zu einer gewissen Höhe, eine sonstige strafrechtliche Sanktion ohne Strafmakel oder gar ein ersatzloser Verzicht auf den Strafanspruch in Betracht kommt. Für die gesetzestechnische Ausgestaltung dieser innerstrafrechtlichen Behandlung von Bagatellkriminalität ist sowohl eine Lösung im materiellen als auch im prozessualen Recht denkbar11 • Die materiellrechtliche Lösung muß zwischen erheblichen und deshalb typischerweise strafbedürftigen Straftaten einerseits und geringfügigen, typischerweise weniger oder gar nicht strafbedürftigen Taten andererseits durch Vorgabe abstrakt-begrifflicher Tatbestandsumschreibungen im materiellen Strafrecht eine klare und generell vorhersehbare Grenzlinie ziehen. Hierfür bieten sich mehrere Wege an. Zum einen ist eine deliktspezifische Privilegierung durch Herausbildung privilegierter Sondertatbestände denkbar, wie etwa der deutsche Gesetzgeber sie bis zum Inkrafttreten des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch (EGStGB) am 1. 1. 197512 in Bezug auf den Diebstahl für den Mundraub (§ 370 Abs.1 Ziff.5 StGB a. F.) und die Notentwendung (§ 248 a StGB a. F.) vorgesehen hatte12a• Zum anderen kann der deliktspezifische Anwendungsbereich von Strafvorschriften durch Festlegung einer deliktstypischen ErheblichVgl. McGillis/Mullen, Neighborhoud Justice Centers. Zur Diversion vgl. oben Kap. 0.2, S. 44 ff. 11 Maurach/Zipf, Strafrecht AT, § 13 II. 12 EGStGB vom 2. 3. 1974 (BGBl. I, 469). 12a Eine entsprechende Regelung findet sich im geltenden schweizerischen StGB in Art. 138 Abs. 1, dazu ausführlich Beckmann, Das Bagatelldelikt. 10d 10e
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keitsschwelle eingegrenzt werden. Bestimmte Formen der Tatbegehung werden dann wegen ihres im Vergleich zum typischen Tatbild geringeren Unrechts- oder Schuldgehalts von der Strafbarkeit ausgenommen. So stellt etwa § 170 d StGB nur eine gröbliche Verletzung der Fürsorgeoder Erziehungspflicht mit erheblicher Entwicklungsgefährdung unter Strafe; § 184 c Ziffer 1 StGB bestimmt, daß eine Handlung einige Erheblichkeit aufweisen muß, um als sexuelle zu gelten; beim Kreditwucher nach § 302 a StGB müssen die Vermögensvorteile in auffälligem Mißverhältnis zur Leistung stehen; die Gefährdung des Straßenverkehrs setzt nach § 315 c Abs. 1 StGB eine Gefährdung fremder Sachen von bedeutendem Wert voraus; der Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte kann nach § 113 Abs.4 Satz 1 StGB straflos bleiben, wenn das Verschulden des Täters namentlich in Ansehung eines Verbotsirrturns geringfügig war13• Derartige Beschränkungen des Anwendungsbereichs von Strafvorschriften durch Vorgabe von Erheblichkeitsschwellen sind nicht ausschließlich dem Gesetzgeber vorbehalten; auch die Dogmatik der Rechtsanwendung kann durch am Normzweck ausgerichtete teleologische Reduktion von Tatbildern den Anwendungsbereich von Strafnormen einengen. So liegt nach absolut herrschender Meinung ein unerlaubtes Entfernen vom Unfall ort bei völlig belanglosem Schaden nicht vor 4 ; Äußerungen an sich beleidigenden Inhalts gelten im engsten Familienkreise als nicht tatbestandsmäßig i. S. von § 185 StGB 15 ; die zeitlich nur minimale Behinderung des Freiheitsgebrauchs wird für eine Bestrafung nach § 239 StGB nicht als ausreichend angesehen18 ; als die Nothilfepflicht nach § 323 c StGB begründender Unglücksfall wird nur ein Ereignis anerkannt ,welches eine erhebliche Gefahr für Menschen oder Sachen mit sich bringt17. Auch weitere, unter dem Gesichtspunkt sozialer Irrelevanz im Zusammenhang mit der Lehre von der Sozialadäquanz18 diskutierte Fallgruppen gehören hierher: so die Zueignung geringwertiger gefundener Sachen, insbesondere kleiner Münzen (§ 246 StGB)lt; die Erstattung einer sog. Aufklärungsanzeige (§ 164 StGB)20; für sich genommen ehrverletzende Äußerungen in Karnevals- und 13 Beispiele für gesetzliche Erheblichkeitsschwellen nach österreichischem Strafrecht bietet Nowakowski, Die Behandlung, S. 267 ff.; vgl. auch MüllerDietz, Das Bagatellprinzip, S. 523 f. 14 Vgl. statt aller Lackner, StGB, § 142 Anm. 3 b); Dreher, StGB, Rdnr.11 zu § 142 jeweils m. w. N. 15 Lackner, StGB, § 185 Anm. 3. b). 18 Dreher, StGB, § 239 Rdnr.2. 17 BGHSt 3, 66; 6, 152; 11, 136. 18 Grundlegend: Welzel, Strafrecht, 2. Aufl., S. 36 ff. 19 Hirsch, Soziale Adäquanz, S. 88. 20 Klug, Sozialkongruenz, S. 263 unter Berufung auf Bockelmann NJW 1959, S. 1849 ff.
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Faschingssituationen (§ 185 StGB)21; die Annahme verkehrsüblicher Geschenke und Gefälligkeiten durch Beamte wie etwa das Neujahrstrinkgeld für den Postboten (§ 331 StGB)22; das Glücksspiel mit ganz unbeträchtlichen Geldeinsätzen (§ 284 StGB)23; die Zufügung von Vermögensnachteilen durch riskante, sich aber im Rahmen ordnungsmäßiger Geschäftsführung bewegende Handlungen (§§ 266 StGB, 294 AktG, 81 a GmbHG)24; die Tierrnißhandlung bei chemisch-mechanischer Insektenbekämpfung (§§ 1-9 TierschutzG)25. Schließlich kann die Erheblichkeitsschwelle deliktunabhängig gefaßt werden, indem die Grenzziehung zwischen geringfügigen und erheblichen Taten durch eine generelle Vorschrift im Allgemeinen Teil des materiellen Strafrechts erfolgt. So ist nach § 3 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs der DDR die Strafbarkeit der Tat ausgeschlossen, wenn die Handlung zwar einen gesetzlichen Straftatbestand erfüllt, jedoch die "Auswirkungen der Tat auf die Rechte und Interessen der Bürger oder der Gesellschaft und die Schuld des Täters unbedeutend sind"26. Ähnlich sieht das österreichische Recht in § 42 Abs. 1 des Strafgesetzbuches unter bestimmten förmlichen Voraussetzungen eine Straflosigkeit wegen mangelnder Strafwürdigkeit der Tat vor, wenn die Schuld des Täters gering ist, die Tat keine oder lediglich unbedeutende Folgen nach sich gezogen hat und weder individual- noch general präventive Gesichtspunkte eine Bestrafung des Täters erfordern27 .
Hirsch, Soziale Adäquanz, S. 88; Klug, Sozialkongruenz, S.264. Eb. Schmidt, Die Bestechungstatbestände, S.144 Anm. 327; Hirsch, Soziale Adäquanz, S.89; Schaffstein, Soziale Adäquanz, S.374; Welzel, Strafrecht, 7. Aufl., S. 76. 23 Klug, Sozialkongruenz, S. 263. 24 Klug, Sozialkongruenz, S. 260 ff.; Welzel, Strafrecht, 7. Aufl., S.329; Schaffstein, Soziale Adäquanz, S.374. 25 Klug, Sozialkongruenz, S. 263. Eine umfassende viktimologische Tatbestandsrestriktion nach dem Prinzip der Eigenverantwortung des Opfers wurde von Arzt entwickelt, vgl. Arzt, Der Ruf, S. 38 ff. u. passim; ders., Zur Bekämpfung; ders., Offener oder versteckter Rückzug; ders., Verhandlungen 51. DJT, N 43 ff. 28 Die starke Gesellschaftsbezogenheit des DDR-Rechts auf eine sozialistische Gesellschaft hin gibt freilich auch dieser Vorschrift eine andere als mit dem Bagatellprinzip verbundene Prägung. In Polen wird die Gesellschaftsgefährlichkeit explizit zum Angelpunkt der Bagatellisierung genommen: während geringfügig gesellschafts gefährliche Taten in einem besonderen Verfahren als übertretungen geahndet werden (Art. 26 § 1 p StGB), kommt bei Delikten mit nicht bedeutender Gesellschaftsgefährlichkeit eine bedingte Einstellung des Strafverfahrens in Betracht (Art.27 § 1 P StGB), vgl. Weigend/Zoll, Die Bekämpfung, S. 753 ff. 27 Eingehend zu dieser Bestimmung Zipf, Die mangelnde Strafwürdigkeit; Driendl, Wege; Nowakowski, Die Behandlung; Moos, Die mangelnde Strafwürdigkeit; Müller-Dietz, Das Bagatellprinzip. 21
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Im Gegensatz zu diesen materiellrechtlichen Konzepten setzt das prozessuale Modell der innerstrafrechtlichen Behandlung von Bagatellkriminalität gleichsam erst auf der zweiten Stufe ein. Das Fehlen einer materiellen begrifflich-abstrakten Privilegierung von Bagatelldelikten wird hier kompensiert durch prozessuale Filter wie Strafantragserfordernis und vor allem Einstellungsmöglichkeiten aus Opportunitäts gründen; an die Stelle der generellen Einschränkung oder Beseitigung der materiellen Strafbarkeit tritt der einzelfallbezogene Ausschluß der prozessualen Verfolgbarkeit. Eine solche Verlagerung der Sonderbehandlung von Bagatelldelikten ins Verfahrensrecht ist im geltenden bundesdeutschen Recht verwirklicht. Diese Palette unterschiedlicher rechtlicher Reaktionsmöglichkeiten auf Bagatellkriminalität zeigt zweierlei: sämtliche skizzierten denkbaren Lösungswege werden - zum Teil miteinander kombiniert - in den gegenwärtigen Rechtsordnungen begangen 28 ; die eine überzeugende Patentlösung zur rechtlichen Behandlung von Bagatelldelikten scheint es hingegen nicht zu geben29 • Offenbar eröffnet sich hier ein breites Feld für gesetzgeberisches Ermessen, für das es völlige Evidenz nicht geben kann. Gerade weil unterschiedliche, möglicherweise gar konträre Konzeptionen zur Sonderbehandlung von Bagatelldelikten vertretbar sind und offensichtlich nicht ohne Erfolg praktiziert werden, gilt es nach Kriterien zu suchen, die den Raum legislatorischer Beurteilungsund Entscheidungsfreiheit einengen3o • Diese Kriterien können nur dadurch aufgespürt werden, daß man sich fragt, was die inhaltliche Eigentümlichkeit der Bagatelldelikte ausmacht, das heißt, welches die legitimen tatbestandlichen Voraussetzungen bagatellarischer Behandlung sind. Insofern haben wir um der Anschaulichkeit der Darstellung willen einen gedanklichen Umweg eingeschlagen, als wir das Bagatellproblem im Strafrecht von der Rechtsfolgenseite her - der kriminalpolitischen Notwendigkeit zur Sonderbehandlung geringfügiger Fälle - angingen; ein unmittelbarer Zugang 28 Einen überblick über die in Europa praktizierten Reaktionsmodelle auf Bagatellkriminalität bieten die hektographierten Unterlagen des Comite Europeen pour les Problemes Criminels. Bourse Coordonnee de Recherches Criminologiques 1974: La pratique des parquets regie par le principe de l'opportunite de la poursuite penale, zu beziehen beim Europarat, Generalsekretariat, Strasbourg. Vgl. auch Conseil de l'Europe, Rapport sur la Decriminalisation, Comite Europeen pour les problemes Criminels, Strasbourg 1980. Mit den Regelungen in einzelnen Ländern befassen sich Hauser, Die Behandlung; Cosmo, Zur Behandlung; Hulsmann, Die Behandlung sowie Beckmann, Diskussionsbericht. 29 So auch Zipf, Die mangelnde Strafwürdigkeit, S.7. 30 Ähnlich Müller-Dietz, Strafe und Staat, S. 36 f. für den Legitimierungszwang beim Erlaß von Strafnormen.
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zur Problematik ergibt sich durch die Thematisierung der Voraussetzungen, die eine solche Sonderbehandlung rechtfertigen. Vorab gilt es klarzustellen, nach den tatbestandlichen Voraussetzungen welcher Rechtsfolgen gesucht wird. Man muß sich entscheiden, welche konkreten Arten privilegierter strafrechtlicher Behandlung dem Begriff des Bagatelldelikts zugeordnet werden sollen; es ist allein eine Frage konventioneller Festsetzung, ob man auch solche Taten als Bagatellen definiert, die mittels Kriminalstrafe minderen Ranges bzw. bis zu einer gewissen Höhe (etwa Geldstrafe und Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten) bedroht und/oder geahndet werden. Im folgenden wird der Begriff des Bagatelldelikts eingebürgertem Sprachgebrauch entsprechend31 für diejenigen von den Strafgesetzen erfaßten Verhaltensweisen vorbehalten, die wegen ihres geringen deliktischen Gehalts typischerweise gar keine kriminalrechtliche Sanktion oder jedenfalls keine Bestrafung verdienen; sobald eine Kriminalstrafe am Platze ist, verbietet sich die Annahme einer Bagatelle. Diese definitorische Eingrenzung des Begriffs des Bagatelldelikts rechtfertigt sich aus dem regulativen Grundprinzip des Strafrechts, welches besagt, daß nur erhebliche, sozial unerträgliche Handlungen pönalisiert werden dürfen; da die Androhung und Verhängung von Kriminalstrafe einen massiven und unerträglichen Rechtsbruch voraussetzt, werden hier nur solche strafbaren Verhaltensweisen als Bagatelldelikte verstanden, bei denen die Androhung und/oder die Verhängung einer Kriminalstrafe nicht geboten ist.
31 So etwa Hirsch, Zur Behandlung, S.218: "Die Diskussion um die rechtliche Behandlung der Bagatellkriminalität betrifft jenen unteren Bereich der von den Strafgesetzen erfaßten Verhaltensweisen, bei dem wegen des geringen deliktischen Gehalts entweder gar keine strafrechtliche Sanktion erforderlich scheint oder doch wenigstens die gewöhnlichen strafrechtlichen Sanktionen und das zu ihnen führende Verfahren als staatliche überreaktion empfunden werden."
3. Das Bagatellunrecht als Interpretationsgrundlage und Maßprinzip für die Sonderbehandlung von Bagatelldelikten Will man sich nicht von vornherein auf die Position zurückziehen, die Voraussetzungen der Sonderbehandlung von Bagatelldelikten seien beliebig, so gilt es, die Besonderheit der Bagatelldelikte vorab im Bereich des materiellen Unrechts der Tat zu suchen. Das materielle Unrecht der Straftat ist eine strafrechtsdogmatische Kategorie, welche den Kreis an sich strafbarer Verhaltensweisen im Hinblick auf die Gebotenheit der Rechtsfolge Strafe befragt. Die kriminalpolitische Einsicht, daß eine Bestrafung wegen Geringfügigkeit nicht am Platz ist, muß strafrechtsdogmatisch primär damit zu begründen versucht werden, daß das materielle Unrecht der Tat hier bagatellarisch ist und eine Bestrafung nicht fordert. Zwar werden wir später sehen, daß auch wegen der Geringfügigkeit des Verschuldens eine bagatellarische Behandlung angezeigt sein kann; dennoch ist die Ebene des Unrechts der zentrale dogmatische Ort, an dem die Weichen für die Sonderbehandlung wegen Geringfügigkeit gestellt werden1 • Nach dem Prinzip der abgeleiteten Schuldbewertung indiziert das Ausmaß des verwirkten Unrechts grundsätzlich das Ausmaß des zu erhebenden Schuldvorwurfs2• Darüber hinaus läßt sich zumindest die Möglichkeit der Auslagerung der Bagatelldelikte aus dem Anwendungsbereich des Strafrechts nur auf der Ebene des Unrechts begründen; die inhaltliche Unterscheidung zwischen Bagatellunrecht und Kriminalunrecht ist für die Anwendungsvoraussetzungen dieses Reaktionsmodells schlechthin konstitutiv. Gleiches gilt für die Schaffung privilegierter strafrechtlicher Bagatelltatbestände, die Festlegung deliktstypischer Erheblichkeitsschwellen und die Einführung einer allgemeinen materiellen Bagatell bestimmung, sofern die Tatbestandsmerkmale, welche die Geringfügigkeit begründen, dem Unrechtstatbestand unterfallen; ob überhaupt bei anderen als rein prozessualen Lösungen des Bagatellproblems die Geringfügigkeit der Schuld eine Rolle spielen kann, ist fraglich und bedarf der späteren Erörterung. Um die Palette möglicher gesetzestechnischer Reaktionsweisen auf Bagatelldelikte umfassend im Blick zu Ebenso Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 63. Nowakowski, Das Ausmaß, S.304; vgl. auch Armin Kaufmann, Lebendiges, S. 199 ff. 1
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3.1 Formeller und materieller Straftatbegriff
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behalten, hat die Betrachtung bei dem Bagatellunrecht anzusetzen, welches die Interpretationsgrundlage und das Maßprinzip für die Sonderhehandlung von Bagatelldelikten insgesamt abgibt. Damit steht zu erwarten, daß die Betrachtung des Bagatellunrechts die einheitliche theoretische Grunclstruktur erkennen läßt, auf der die unterschiedlichen positivrechtlichen Reaktionsmodelle basieren; zugleich kann es ein erster Raster sein, an dem sich die Legitimität der erwähnten Reaktionsmodelle hemißt. 3.1 Herleitung des Bagatellunrechts aus der Divergenz zwischen formellem und materiellem Straftatbegriff Versuche, das Bagatelldelikt in seinem Unrechtsgehalt zu erfassen, bringen in die Strafrechtsdogmatik eine quantitative Betrachtungsweise ein, die dieser bis in die jüngere Vergangenheit fremd gewesen ist3 • Die Typizität des Verbrechens erschöpfte sich für die Strafrechtsdogmatik seit Binding und Beling in seiner strafrechtlichen Normwidrigkeit. Dementsprechend wurde die Lehre von der Rechtswidrigkeit als Entweder-Oder-Schema gedeutet, innerhalb dessen für eine graduelle Abstufung der Rechtswidrigkeit kein Raum war; das Problem des Bagatellunrechts geriet nicht ins dogmatische Blickfeld, weil die Bestimmung des "Ein-Bißchen-Strafbaren" gleichermaßen sinnlos schien wie die Frage, ob ein bißchen Schwangerschaft möglich sei'. Ebensowenig wie eine quantitative Abstufung der Unrechtsgrade jenseits der positivrechtlichen Verbrechenstypen als sinnvoll betrachtet wurde, schien die Abgrenzung zwischen strafbarem und straflosem Unrecht nach quantitativen Kriterien möglich5 • Quantitative Beurteilungsgesichtspunkte 3 Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 14 f. Die Differenzierung zwischen erheblichem und geringfügigem Unrecht, gravierender und leichter Schuld wurde als Problem verstanden, das sich nicht in der Dogmatik, sondern nur im Rahmen des gesetzgeberischen oder richterlichen Ermessens stellte - und demgemäß von der auf dogmatische Bemühungen konzentrierten Strafrechtswissenschaft vernachlässigt werden konnte. 4 Vgl. Beling, Die Lehre, S.25: "Bei den auf Gegenstände der Sinnenwelt gemünzten Begriffen bleibt eben immer die Möglichkeit offen, daß neue Arten entdeckt werden, die dem Begriffe unterfallen. Dagegen das Verbrechen ist durch gesetzgeberischen Machtanspruch begrifflich gebannt in den festgeschlossenen Kreis der positivrechtlichen Verbrechenstypen ... Das ,atypische Verbrechen' ist ein bloßes Phantasiegebilde ... es stehen sich die Tatbestände in ihrer Summe auf der einen Seite und die imaginäre Größe der ,Nichttatbestände' als zwei große Gruppen gegenüber, und die Feststellung, ob ein Verbrechen vorliegt, hängt nur davon ab, ob wir die Handlung dieser oder jener Gruppe zuweisen, nicht davon, wohin wir sie innerhalb der Gruppe stellen." 5 Binding, Die Normen, I, 2. Aufl., S. 237 f.: "Wer vorsätzlich den Vertrag bricht, kann viel schwereres Unrecht begehen als wer sich eine fremde Apfelsine aneignet oder den harmlosesten aller Hunde zur Zeit der Maulsperre
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3. Bagatellunrecht
wurden für die Bestimmung der Eigentümlichkeit der Straftat als unbrauchbar angesehen, weil sie dehnbar und unscharf seien6 , oft leichtes Unrecht bestraft werde, während höchst verwerfliche Akte der Niedertracht oft straflos blieben7 , und schließlich die Abgrenzung des Strafbarkeitsbereichs nicht ein begrifflich-definitorisches, sondern ausschließlich ein kriminalpolitisches Problem sei8 • überhaupt schien die quantitative Unrechtsbetrachtung im Strafrecht nicht nur sinnlos, sondern gänzlich unmöglich. Denn der Begriff des Unrechts wurde mit demjenigen der Rechtswidrigkeit gleichgesetzt. Die Rechtswidrigkeit als Mißverhältnis der Tat zu den Anforderungen der Rechtsordnung ist entweder vorhanden oder nicht: eine Tat kann nicht dem Grad nach - geringer oder strenger - verboten sein. Die Gleichsetzung von Unrecht und Rechtswidrigkeit verstellt darum die Einsicht, daß es zwar keine Grade der formellen RechtswidrigkeW, wohl aber Stufen des materiellen Unrechts gibt, die eine unterschiedliche Unrechtsbewertung gleichermaßen rechtswidriger Verhaltensweisen erlauben10 • Erst mit der neueren Entwicklung der Lehre von der materiellen Rechtswidrigkeit gewinnt die quantitative Betrachtungsweise in der Strafrechtsdogmatik Bedeutungll . Die Pönalisierung durch das positive Recht ist nach dieser Lehre nur ein notwendigesl!, nicht aber ein hinreichendes Merkmal der Straftat. Zu dem formellen, im gesetzlichen Tatbestand geschilderten Unrecht muß die materielle Wertwidrigkeit hinzutreten, welche die Handlung erst als unwerthaftes, gemeinhin strafwürdiges Tatgeschehen ausweist: "Nur was strafgesetzlich, also in der Form des Tatbestandes geschildert ist, kann Straftat sein; und zugleich kann nur das, was wir dem Gehalte nach als unwerthaftes, einmal ohne Beißkorb sich auswärts vergnügen läßt. Und doch wird im leichteren Falle bestraft, im schwereren nicht!" Zur Irrelevanz quantitativer Gesichtspunkte in der Strafrechtsdogmatik für Binding vgl. auch Binding, Das Problem, s. 79. ft v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd.2, S.92. 7 v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd.2, S. 92; so noch einmal nachdrücklich: Bockelmann, Vom Sinn, S. 26 f. 8 v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd.2, S. 105; v. Hippel, Lehrbuch, S.88 in bezug auf Polizeidelikte. 9 Insofern ist die Kennzeichnung der quantitativen Betrachtungsweise im Strafrecht durch Kern als ein Problem von "Graden der Rechtswidrigkeit" mißverständlich, vgl. Kern, Grade. 10 Krauß, Erfolgsunwert, S. 56 Fußnote 158. 11 Grundlegend: Kern, Grade, S. 255 f.; Heinitz, Zur Entwicklung; vgl. hierzu insgesamt Michels, Strafbare Handlung, S. 40 ff. 12 Die positiv-rechtliche Pönalisierung als notwendiges Merkmal der Straftat ergibt sich aus dem Grundsatz "nulla poena sine lege"; vgl. dazu den folgenden Text.
3.1 Formeller und materieller Straftatbegriff
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gemeinhin strafwürdiges Tatgeschehen ansehen, Straftat sein; erst in diesem Zusammenhang von materieller und formeller Seite kann die Straftat sachgerecht erfaßt werden13". Wenn jenes Zusammenspiel die Typizität der Straftat ausmacht, ist bei der strafrechtlichen Normaufstellung wie bei der Rechtsanwendung immer auf die Rechtsfolge der Strafe hin zu fragen; es gilt die Deliktsbeschreibungen des Strafrechts aus ihrer Abhängigkeit von der Eingriffsintensität der Strafe her zu deuten. Diese teleologische Verfahrensweise, die den legitimen Anwendungsbereich des Strafrechts vom Ergebnis - der Gebotenheit der Straffolge - her bestimmt14 , ergibt sich mit zwingender Konsequenz aus dem bereits erwähnten regulativen Grundprinzip des Strafrechts, wonach nur erhebliche, sozial unerträgliche Handlungen pönalisiert werden dürfen. Weil die Strafe massiv gesteigertes Unrecht erfordert, wird "in den strafrechtlich relevanten Unrechtsausschnitten die Quantität des Unrechts gestaltet"15; das Quantitative wird damit zur "Ausgangsbasis für das sozialethische Unwerturteil"16. War für Binding das Strafrecht wegen der Begrenztheit positiv-rechtlicher Verbrechenstatbestände fragmentarisch17, so folgt nunmehr umgekehrt aus dem als regulatives Prinzip erkannten fragmentarischen Charakter des Strafrechts, der im Wesen des Verbrechenbegriffs liegt, daß die Tatbestände sich nur auf besonders gravierendes Unrecht beziehen dürfen18. Entkriminalisierungsbemühungen unter dem Gesichtspunkt mangelnder Strafwürdigkeit beinhalten daher kein bloß kriminalpolitisches An13 Schmidhäuser, Strafrecht AT, 6/2.
Schmidhäuser, Strafrecht AT, 6/2. Vgl. auch Noll, Tatbestand, S. 2 f.; Naucke, Grundlinien, S. 17 ff. Auch wenn im Ergebnis die nichtvergeltende Strafrechtsfolge der Maßregel Platz greift, muß sich diese im Hinblick auf ihre der Strafe vergleichbare Eingriffsintensität daran legitimieren, daß die Maßregel als ein aus Anlaß der Tat verhängter beschränkender spezifisch strafrechtlicher Eingriff geboten und erforderlich ist. Zum Geringfügigkeitsprinzip als teleologische Auslegungsregel vgl. vorab Ostendorf, Das Geringfügigkeitsprinzip, S. 343 ff. 15 So: Lange, in: Kohlrausch/Lange, Strafgesetzbuch, S. 13. 16 So: Gallas, Diskussionsbeitrag, S.87. 17 Dies wird von Binding ausdrücklich beklagt, weil angesichts des Analogieverbots die mangelnde Systematik des Gesetzes, das "Zickzack" der Grenzlinie zwischen strafbedrohtem und straflosem Verhalten nicht korrigiert werden kann, vgl. Binding, Lehrbuch, Bd. 1, S. 20 ff.; ders., Die Normen, Bd. 1, 2. Aufl., S. 270. 18 Dazu nunmehr grundlegend die verdienstvolle Arbeit von Günther, Strafrechtswidrigkeit, die Strafunrecht als ein qualifiziertes, graduell gesteigertes Unrecht ausweist, welches im Hinblick auf seine spezifische Strafwürdigkeit teleologisch zu erschließen ist (insbes. S. 125 ff., 236 ff.); aus dem älteren Schrifttum exemplarisch: Hellmuth Mayer, Das Strafrecht (1936), S. 136 ff.; ders., Strafrecht AT (1953), S. 85 f.; ders., Gesetzliche Bestimmtheit, S. 259 ff. Zur Abgrenzung der Positionen von Binding und Mayer vgl. Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 135 f. 14
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3. Bagatellunrecht
liegen, welches an das Strafrecht sozusagen von außen her herangetragen wird; in der Forderung nach Begrenzung der strafrechtlichen Deliktsbeschreibungen auf Verhaltensweisen, die typischerweise Strafe verdienen und insofern materiell strafwürdig sind19, spiegelt sich die Vorstellung vom Strafrecht als dem einschneidensten, in die Freiheitsrechte des Bürgers am meisten eingreifende Instrument staatlicher Machtausübung; da die Pönalisierung unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nur am Platze ist, wenn die Verbotsmaterie für das Zusammenleben so elementar wichtig ist, daß zu ihrer Durchsetzung das schärfste Mittel der Strafe erlaubt scheint20 , muß der Bereich des formell strafbaren Verhaltens, die Strafzone, im Hinblick auf die materielle Strafwürdigkeit der darin vertypten Verhaltensweisen abgesteckt werden. Wenngleich der Gesetzgeber bei der Normaufstellung regelmäßig dergestalt teleologisch verfahren 21 wird, indem er solches Verhalten unter Strafe zu stellen glaubt, das in der sozialen Anschauung strafrechtlich ahndungswürdig erscheint, läßt sich nur vom Standpunkt eines blinden Gesetzespositivismus her annehmen, daß der Bereich des Strafwürdigen mit dem des Strafbaren notwendig deckungsgleich sei. Keine legislative Technik ist so vollkommen, daß nicht auch solche Verhaltensweisen unter die Strafnorm subsumierbar wären, die die Grenze der Strafwürdigkeit nicht oder kaum erreichen22 • Die Formulierung der Straftatbestände ist nicht so exakt möglich, daß diese nicht auch atypische Fälle erfassen würden, das heißt Fälle, die zwar unter den Wortlaut der Norm subsumierbar sind, ohne aber materiell an der der Unrechtstypisierung zugrundeliegenden Verwerflichkeit und Sozialschädlichkeit teilzuhaben23 • Mehr noch: das Auseinanderklaffen von materiellem und formellem Straftatbegriff ist auch bei noch so sorgfältiger Gesetzgebungsarbeit wegen der abstrakten, eine unbestimmte Vielzahl konkreter Fallgestaltungen umfassenden Tatbestandsumschreibungen Vgl. Sax, Grundsätze, S. 924 ff. Maurach/Zipf, Strafrecht AT, § 1 I B 2. 21 Teleologisch zu verfahren bedeutet, daß bei der strafrechtlichen Normaufstellung - wie bei der Rechtsanwendung - immer auf die Rechtsfolge der Strafe hin zu fragen ist, vgl. Schmidhäuser, Strafrecht AT, 6/2. 22 Zipf, Die mangelnde Strafwürdigkeit, S. 9. 23 Zipf, Rechtskonformes und sozialadäquates Verhalten, S. 648. Diesen Gesichtspunkt bringt bereits der Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, Berlin 1909, treffend auf den Begriff, worauf auch Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 200 f. hinweist. In der Begründung zum Vorentwurf, S. 321 f. heißt es: "Trotz aller Sorgfalt bei der Formulierung der Tatbestände der einzelnen Delikte läßt es sich nicht ... ausschließen, daß in außergewöhnlich gearteten Fällen zwar die Begriffsbestimmung, nicht aber der Gedanke und Zweck des Gesetzes zutrifft, so daß die im Gesetz vorgesehene Strafandrohung ... als eine Härte empfunden wird." 19
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3.1 Formeller und materieller Straftatbegriff
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von Strafnormen prinzipiell unvermeidbar; die abstrakte Fassung der Deliktstatbestände "eröffnet immer wieder die Möglichkeit einer allzu weiten Erstreckung in das Gebiet des Nichtkriminellen"24. Diese Gefahr einer überreaktion des Strafrechts ist durch die Vorgabe abstrakter Umschreibungen strafbarer Handlungen in Deliktstatbeständen systemimmanent begründet. Die generelle, in der tatbestandlichen Unrechtstypisierung ausgedrückte Strafwürdigkeitsbeurteilung des Gesetzgebers und die konkrete Strafwürdigkeit der einzelnen unter den Tatbestand subsumierbaren Handlung sind nicht notwendig deckungsgleich, weil den Tatbeständen im Wege der Auslegung eben auch unbedeutende Fälle zugeordnet werden können. Hinzu kommt, daß die Beurteilung der Strafwürdigkeit dem kontinuierlichen Prozeß gesellschaftlichen Wandels unterliegt, wohingegen die in den Deliktsbeschreibungen verwandten Begriffe nicht unbeschränkt den gewandelten gesellschaftlichen Anschauungen entsprechend auslegbar sind. Was der historische Gesetzgeber den herrschenden Einschätzungen seiner Epoche entsprechend als strafwürdig klassifizierte, kann nach heutiger Auffassung nicht mehr als strafwürdig gelten, obwohl das entsprechende Verhalten nach wie vor unter die Norm zu subsumieren ist. Wegen der begrenzten Auslegbarkeit umgangssprachlicher Begriffe ist eine Norm, die solche Begriffe verwendet, mehr oder weniger unelastisch und daher nur in geringem Maße an gesellschaftliche Veränderungen anpassungsfähig. Damit ist jeder Straftatbestand der Gefahr ausgesetzt, daß die einmal niedergelegte Deliktsumschreibung sich immer weiter von der sich stets dynamisch fortentwickelnden Gesellschaftsstruktur und den sozialerheblichen Wertvorstellungen entfernt25. Beide Gesichtspunkte - die mangelnde Präzision abstrakt gefaßter Tatbestände zur Bestimmung der Strafwürdigkeit konkreter Handlungen und die beschränkte Anpassungsfähigkeit von Strafnormen an gesellschaftliche Entwicklungen - leisten einer "überspannung der staatlichen Strafgewalt"26 Vorschub. Um dies abzuwenden, muß zur Vermeidung einer inflationären Vielstraferei neben der Strafwürdigkeit ein weiterer das materielle Unrechtsbild konkretisierender Raster in das dogmatische System eingebaut werden, der innerhalb des Kreises an sich strafwürdiger Verhaltensweisen eine zweite Auslese danach trifft, ob die Bestrafung auch wirklich das einzige geeignete und erforderliche Mittel ist, um die Gemeinschaftsordnung hinlänglich zu schützen. Darum gilt: nur was materiell strafwürdig ist, kann strafbar sein; 24 Peters, Die Parallelität, S. 396. 25 So: Zipf, Rechtskonformes und sozialadäquates Verhalten, S. 648. 26 Frank, Die überspannung. 9 Kunz
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3. Bagatellunrecht
nur was materiell strafbedürftig ist, kann Strafe auslösen. Die Strafwürdigkeit umreißt den legitimen Anwendungsbereich des Strafrechts, die Strafbedürftigkeit grenzt diesen Bereich in einem zweiten Schritt im Hinblick auf die Legitimität der Straffolge ein27 • Beide Kriterien befassen sich nicht mit der individuellen Beurteilung des Täters nach Strafzumessungsgesichtspunkten, sondern mit der Bestimmung des artspezifischen Unrechtsgehalts der Straftat als materieller Voraussetzung für eine Verhaltenspönalisierung; sie bilden strafrechtsdogmatische Filter, die das unter den formellen Straftatbegriff subsumierbare Rohmaterial nach Maßgabe des materiellen Straftatbegriffs sieben und verengen. Einen Auslesegesichtspunkt auf dem Weg vom formellen zum materiellen Straftatbegriff stellt das Bagatellunrecht dar28 • Weil bei der Erarbeitung des materiellen Straftatbegriffs immer auf die Rechtsfolge Strafe hin zu fragen ist und Strafe massiv gesteigertes Unrecht erfordert, bestimmt sich das Bagatellunrecht aus der Divergenz zwischen formellem und materiellem Straftatbegriff. Diese Ortsbestimmung im Spannungsfeld zwischen formellem und materiellem Straftatbegriff2D verdeutlicht, daß das Bagatellproblem sich nicht erst im Rahmen individueller Strafzumessung stellt, sondern bereits bei der Ausgrenzung des artspezifischen Unrechtsgehalts der Straftat Berücksichtigung verlangt. Bagatellunrecht ist eine strafrechtsdogmatische Kategorie der allgemeinen Straftatlehre, welche die Indizfunktion des in der formellen Straftat typisierten Unrechtsbildes nach Maßgabe des materiellen Straftatbegriffs begrenzt. Wenn der Gesetzgeber den Kreis strafbarer Handlungen nach Maßgabe der Strafwürdigkeit auszuwählen hat und innerhalb der vom Gesetz als strafbar bestimmten Verhaltensweisen eine neuerliche Eingrenzung nach Strafbedürftigkeitserwägungen vorzunehmen ist, hat es den Anschein, als wären Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit von der Strafbarkeit unabhängige Größen, die das positive Strafrecht an einem materiellen Verbrechensbegriff30 bemessen, welcher nicht aus dem 27 Der Bedeutungsgehalt von Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit ist nicht eindeutig. Nach Sax, Grundsätze, S. 924 ff. ist Strafwürdigkeit der Oberbegriff, wohingegen nach Otto, Strafwürdigkeit, S. 54 f., 56 f. beide Begriffe gleichrangig nebeneinanderstehen. Ähnlich wie hier: Hillenkamp, Vorsatztat, S. 174 f. Eine genauere Inhaltsbestimmung dieser Begriffe im Hinblick auf deren Relevanz für die Ausgrenzung des Bagatellunrechts wird uns später zu beschäftigen haben. 28 Ein anderer Auslesegesichtspunkt ist derjenige der Sozialadäquanz; dazu später ausführlich. Vgl. vorab nur Zipf, Rechtskonformes und sozialadäquates Verhalten, S. 649. 29 Maurach/Zipf, Strafrecht AT, § 13 II 4. 30 Der materielle Verbrechensbegriff ist identisch mit dem materiellen Straftatbegriff, betrifft also nicht die rein gesetzestechnische Unterscheidung von Verbrechen und Vergehen im Sinne von § 12 StGB.
3.1 Formeller und materieller Straftatbegriff
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positiven Recht ableitbar, sondern diesem vorgegeben ist. Dem steht jedoch die Garantiefunktion des Strafrechts entgegen, nach der - dem Grundsatz "nulla poena sine lege"31 folgend - aus rechtsstaatlichen Erwägungen ein vom positiven Recht unabhängiger strafrechtlicher Verbrechensbegriff nicht anerkannt werden kann32 ; weil nach diesem Grundsatz nur die exakt festgestellte Verletzung einer positiven Strafnorm Strafe auslösen darf, ist die förmliche Strafbarkeitserklärung durch das Gesetz für den strafrechtlichen Verbrechensbegriff schlechthin konstitutiv. Der Gegensatz ist augenfällig: entweder läßt sich der materielle Unrechtsgehalt der Straftat unabhängig von den jeweiligen positiven Strafnormen apriorisch-wesensmäßig fassen; dann sind seine Merkmale gegenüber der förmlichen Strafbarkeitsbestimmung zeitlich und logisch vorrangig33 und legen das positive Recht auf einen bestimmten Inhalt fest. Oder aber die materielle Unrechtsbeurteilung bezieht sich auf den Bereich des formell Strafbaren, indem sie diesen zum exklusiven Gegenstand ihrer Betrachtung macht und ihre Bewertungskriterien dem positiven Recht entlehnt; dann leitet sich der materielle Unrechtsgehalt aus der förmlichen Strafbarkeitsbestimmung ab und ist dieser zeitlich und logisch nachrangig. Der These, solange eine Handlung nicht verboten ist, könne sie nicht rechtswidrig sein34 steht die Gegenthese gegenüber, das positive Recht schaffe nicht materielles Unrecht, sondern finde dieses vo~. Dieser Meinungsstreit ist für unsere Untersuchung zentral: wenn sich herausstellt, daß die Maßstäbe der strafrechtlichen Unrechtsbetrachtung notwendig an die Bewertungsgesichtspunkte des positiven Rechts anknüpfen, der materielle strafrechtliche Unrechtsbegriff sich damit zwangsläufig auf die Unrechtstypisierungen des positiven Rechts bezieht und nur in ihnen konkrete Gestalt gewinnt, kann sein Gegenstück, der Begriff des Bagatellunrechts, eben auch nur auf der Grundlage des positiven Rechts bestimmt werden. Das Bagatellunrecht nimmt dann innerhalb der durch die formelle Strafbarkeitserklärung des positiven Rechts abgesteckten Strafzone die unterste Rangstelle der Unrechts31 Dazu neuerdings Schünemann, Nulla poena; BVerfGE 47, 109 (120 f.). 32 Hier geht es nur um den strafrechtlichen Straftatbegriff; die Möglichkeit und Notwendigkeit einer vom positiven Recht unabhängigen Ausgrenzung des Forschungsgegenstandes anderer Disziplinen, die sich mit Kriminalität und Kriminalisierung befassen - wie etwa die Kriminalpsychologie oder die Soziologie abweichenden Verhaltens - ist nicht zu bestreiten; vgl. hierzu Zipf, Kriminologischer und strafrechtlicher Verbrechensbegriff, S. 891 f. und in bezug auf die Kriminalsoziologie Kunz, Der labeling approach. 33 So etwa Michels, Strafbare Handlung, S. 38. 34 Binding, Die Normen 1,3. Aufl., S.132. 35 v. Liszt, Lehrbuch, S.174; vgl. auch Dohna, Die Rechtswidrigkeit, S.27. 9·
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3. Bagatellunrecht
bewertung ein, wobei die Rangordnung der Unrechtsgrade sich nach den Deliktstypisierungen des positiven Rechts bemißt88 • In diesem Falle dreht sich der Versuch einer inhaltlichen Konturierung des Bagatellunrechts aus der Divergenz zwischen formellem und materiellem Straftatbegriff im Kreise; da der materielle Straftatbegriff seine Inhalte durch die Deliktsbeschreibungen des positiven Rechts gewinnt, ist er nur deren kategoriale Synthese, nicht aber etwas vom positiven Recht wesensmäßig Verschiedenes, aus dem sich eine Divergenz zu jenem herleiten könnte. Wie der materielle Unrechtsbegriff im allgemeinen ist der Begriff des Bagatellunrechts dann eine Kategorie der strafrechtswissenschaftlichen Systematik, die das positive Strafrecht und seine Anwendung als ein in sich geschlossenes, widerspruchsfreies System aufeinander bezogener Rechtssätze und Rechtssatzbehauptungen darzustellen sucht. Der Begriff des Bagatellunrechts hat hier die Aufgabe, eine zuverlässige Bestimmung der geringfügigen Deliktsverwirklichung anhand der Deliktstypen des positiven Strafrechts zu ermöglichen. Maßstab für die Geringfügigkeitsbeurteilung ist die graduell unterschiedliche Unrechtstypisierung in den einzelnen Deliktstatbeständen des positiven Rechts; aus der bagatellarischen Behandlung bestimmter Tatbegehungen durch das Gesetz lassen sich generelle Regeln herleiten, welche die analoge Behandlung anderer Begehungsformen gestatten, die das Gesetz nicht ausdrücklich als bagatellarisch ausweist. Insofern der Begriff des Bagatellunrechts sich auf die Rangordnung der Deliktstatbestände des positiven Rechts beziehe7 , kann er die Frage nach der angemessenen strafrechtlichen Behandlung von Bagatellkriminalität nur teilweise beantworten: er kann angeben, wie das von der jeweiligen positiven Rechtsordnung gewählte Modell der Reaktion auf Bagatellkriminalität widerspruchsfrei und kohärent zu verwirklichen ist, ohne die vom positiven Recht getroffene Wahl ihrerseits in Frage stellen zu können. 38 So Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S.41, 108. Die notwendige Bezugnahme des materiellen auf den formellen Verbrechensbegriff und die daraus sich ergebenden Konsequenzen für das Bagatellunrecht hat bereits Beccaria erkannt; er geht davon aus, daß allein die Gesetze die Verbrechen bestimmen könnten, innerhalb der vom positiven Recht abgesteckten Strafzone aber eine abgestufte Betrachtung des Unrechts möglich und notwendig sei: "Ist die Notwendigkeit der Vereinigung der Menschen ... gegeben, ... so findet man eine Stufenleiter von Störungen, bei der die oberste Stufe aus denjenigen besteht, welche unmittelbar zur Zerstörung der Gesellschaft führen, während die unterste das geringstmögliche Unrecht, das einem einzelnen Mitglied der Gesellschaft zugefügt wird, einnimmt. Innerhalb dieser Endstufen liegen sämtliche gegen das öffentliche Wohl gerichteten Handlungen, die man Verbrechen nennt", so Beccaria, über Strafen, S.6I. 37 So ausdrücklich Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 108.
3.1 Formeller und materieller Straftatbegriff
133
Bestätigt sich hingegen die These, der materielle Unwert der Straftat lasse sich jenseits der jeweiligen Inhalte des positiven Strafrechts apriorisch-wesens mäßig erfassen, so erhält der Begriff des Bagatellunrechts einen völlig anderen Bedeutungsgehalt. In Entsprechung zu dem nunmehr vor- und überpositiv verstandenen materiellen Unrechtsbegriff erfüllt er hier nicht eine systemimmanente, sondern eine systemtranszendente Funktion. Wie der materielle Unrechtsbegriff dem positiven Recht seine legitimen Inhalte vorschreiben will, sucht der Begriff des Bagatellunrechts die Kriterien der Sachrichtigkeit strafrechtlicher Behandlung von Bagatellfällen umfassend anzugeben. Diese systemtranszendente Sichtweise will den positivrechtlichen Regelungen nicht nachfolgen, sich nicht an ihnen richten; sie will vielmehr die positivrechtlichen Regelungen ihrerseits im doppelten Wortsinne "richten" an den als maßgeblich bestimmten Wesensheiten des Bagatellunrechts38 •
Beide Gesichtspunkte: die Betrachtung des Bagatellunrechts sowohl unter systemimmanentem als auch unter systemtranszendentem Blickwinkel sind legitim und fordern bei Entkriminalisierungsüberlegungen gleichermaßen Beachtung. Eine ausschließlich system transzendente Betrachtung des Bagatellproblems würde verkennen, daß die - wie immer zu gewinnenden - Sachrichtigkeitskriterien strafrechtlicher Behandlung von Bagatellfällen der Umsetzung durch die schutztechnischen Instrumente des positiven Rechts bedürfen und erst darin konkrete Gestalt gewinnen; eine rein systemimmanente Betrachtung des Bagatellproblems müßte die jeweils untersuchte positivrechtliche Regelung so akzeptieren wie sie ist, ohne die Angemessenheit ihrer Reaktionsweisen überprüfen und deren Divergenz zu den Reaktionsweisen anderer Rechtssysteme erklären zu können. Da sich beide Wege wegen ihrer Ausschließlichkeit wechselseitig verbauen, besteht Grund zu der Annahme, daß die Frage nach der zeitlichen und logischen Vorrangigkeit des materiellen und des formellen Straftatbegriffs falsch gestellt ist. Eine Vorrangigkeit des formellen Straftatbegriffs kann nicht anerkannt werden, weil der Strafgesetzgeber nicht in einem gesellschaftsfreien Raum agiert und nicht die Inhalte seiner Regelungen aus dem Leeren schöpft, sondern bei der Kriminalisierung wie der Entkriminalisierung an gesellschaftliche Werterfahrungen anknüpft; die permanente, auch systemkritische, normative gesellschaftliche Verständigung über mehrheitlich geteilte Verhaltenserwartungen leitet den Strafgesetzgeber inhaltlich an, ruft ihn zum Eingreifen auf, ja zwingt ihn mitunter moralisch-politisch zu einer bestimmten Ent38 Ähnlich Hassemer, Theorie, S. 22 in bezug auf ein systemtranszendentes Rechtsgutskonzept.
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3. Bagatellunrecht
scheidung3'. Eine Vorrangigkeit des materiellen Straftatbegriffs kommt ebensowenig in Betracht, weil das positive Strafrecht an gesellschaftliche Werterfahrungen anknüpft - nicht etwa an Werte als solche, aus denen sich die Bedingungen sachgerechter Kriminalisierung einfach deduzieren ließen. Nach unserem Verständnis gibt es keine überzeitliche vorpositive Rechtsgüterwelt oder sozialethische Wertordnung, die das positive Recht auf einen bestimmten Inhalt festlegen könnte, vielmehr immer nur historisch tradierte und gesellschaftlich anerkannte Werterfahrungen, die zur Aufstellung strafrechtlicher Regelungen anleiten. Der - wenn man so will: "materielle" - Wert oder Unwert eines Verhaltens ist notwendig das Produkt eines gesellschaftlichen Bewertungsakts 40 , welcher - vom Gesetzgeber übernommen41 - Rechtsverbindlichkeit erlangt. Den materiellen Unrechtsbegriff an objektiv eindeutigen Kriterien festmachen, an denen die Verhaltenskriminalisierungen des positiven Rechts zu messen sind, scheint schlechterdings unmöglich4!. In der jüngeren Vergangenheit hat es nicht an Bemühungen gefehlt, jenen schier unmöglichen Versuch gleichwohl zu wagen. Die Bemühungen um die Konzipierung eines dem positiven Recht vorgelagerten materiellen Unrechtsbegriffs orientieren sich an zwei Fixpunkten: dem Problem des Rechtsgüterschutzes und dem der Abgrenzung des Kriminalunrechts vom Ordnungsunrecht. Ohne jene Problembereiche auch nur einigermaßen adäquat darstellen zu wollen 42a, soll im folgenden der Frage nachgegangen werden, ob es der Rechtsgutstheorie und bzw. oder der Lehre vom Ordnungsunrecht gelingt, den materiellen Unwertgehalt strafwürdiger Handlungen jenseits der vom positiven Recht gewählten Bewertungsgesichtspunkte begrifflich zu fassen, und damit die legitimen Inhalte des positiven Strafrechts vorpositiv zu bestimmen. Diese Fragestellung ist für unsere Untersuchung in zweierlei Hinsicht von Belang: Zipf, Kriminologischer und strafrechtlicher Verbrechensbegriff, S.89l. Diese Einsicht hat der labeling approach für die gesamte Strafrechtswissenschaft grundlegend vermittelt; vgl. hierzu Sack, Definition; Keckeisen, Die gesellschaftliche Definition, Müller-Dietz, Zur Diskussion; Kunz, Der labeling approach. 41 Die gesellschaftliche Werterfahrung kann dem Gesetzgeber nur eine moralisch-politische, keine rechtliche Schranke setzen, vgl. näher Kaiser, Verkehrs delinquenz, S.116, 118; Zipf, Kriminologischer und strafrechtlicher Verbrechensbegriff, S. 89l. 42 Demgemäß kann es "keine absolute, sondern nur eine relative sachliche Begriffsbestimmung des Verbrechens geben, ... weil sie an das Schutzbedürfnis und die Wertvorstellungen der Gesellschaft in der konkreten historischen Situation anknüpfen muß", so Gallas, Beiträge, S. 16 f. 42a Insbesondere werden die philosophischen Implikationen des Rechtsgutsbegriffs größtenteils ausgeklammert werden können. 39 40
3.1 Formeller und materieller Straftatbegriff
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Zum einen läßt sich an ihr unsere These überprüfen, die Bedingungen sachgerechter Kriminalisierung und Entkriminalisierung seien weder beliebig noch zwingend vorgegeben. Wenn sich herausstellt, daß der Strafgesetzgeber an kontextgebundene soziale Werterfahrungen auf der Grundlage der jeweiligen normativen gesellschaftlichen Verständidung anknüpfen muß, kann die Frage nur lauten, in welchem Maße er daran gebunden ist und ob die Bindungswirkung bei der Privilegierung von Bagatellunrecht in gleichem Umfange besteht wie bei der Ausgrenzung des Kriminalunrechts; eine völlig autonome gesetzliche Bestimmung der Inhalte des Kriminalunrechts und des Bagatellunrechts ist dann ebensowenig möglich wie deren Ableitung aus einer apriorisch vorgegebenen Wertordnung. Zum anderen dient die Interpretation der Theorien vom Rechtsgut und vom Ordnungsunrecht dazu, den richtigen Kern dieser Lehren herauszuarbeiten und für das Bagatellproblem fruchtbar zu machen. Aus dem angestrebten Nachweis der Unmöglichkeit, die materiellen Begriffsinhalte von Kriminal- und Bagatellunrecht mit universeller Gültigkeit anzugeben, resultiert nur die Unmöglichkeit, dem Gesetzgeber ein für allemal gültige Handlungsanleitungen für sein Bagatellisierungsprogramm zu liefern. Die Einsicht in die kulturhistorische Bedingtheit der Festlegung des unteren Bereichs der Strafzone verbietet nur die Suche nach universell gültigen Kategorien für Geringfügigkeit, nicht hingegen das Bemühen um die Bestimmung von Leitlinien der Bagatellisierung, welche für Gesellschaftsordnungen mit vergleichbaren sozialen und kulturellen Traditionen Gültigkeit beanspruchen. Eine theoretische Befassung mit dem Bagatellunrecht, die sich angesichts der Unmöglichkeit einer überzeitlichen Inhaltsbestimmung in einen resignativen Dezisionismus zurückzöge, würde übersehen, daß die sozialen Wertmaßstäbe, welche strafrechtlich erfaßtes Verhalten als nicht strafbedürftig erscheinen lassen, in ein ideengeschichtliches Kontinuum eingebunden sind: daß sie zwar Veränderungen unterliegen, diese Veränderungen aber in einem kulturhistorischen Zusammenhang erfolgen43 • Der Gesetzgeber kann weder strafrechtliche Reaktionen an einem unverbrüchlich vorgegebenen universalen Verbrechensbegriff festmachen noch ist es in sein Belieben gestellt, die Strafzone und ihre Abstufungen willkürlich festzulegen; vielmehr ist er gehalten, die Anknüpfungspunkte für die Bestimmung von Art und Ausmaß strafrechtlicher Reaktionen an der Kontinuität historisch tradierter und sozial anerkannter Anschauungen über Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit auszurichtenu. Zu fragen ist demnach nicht nach der universell gültigen 43 Ähnlich Hassemer, Theorie und Soziologie, S. 230 in bezug auf die Rechtsgutsentscheidung. 44 Darin besteht der Kern der modernen materiellen Auffassung des Tat-
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3. Bagatellunrecht
Bestimmungsgröße für geringfügiges strafrechtliches Unrecht schlechthin, vielmehr nach den strafrechtssystematischen Leitvorstellungen und Ordnungs gesichtspunkten, auf denen die beispielhaft erwähnten Bagatellisierungsprogramme kontinentaleuropäischer Rechtsordnungen der Gegenwart beruhen. 3.2 Der materielle Unrechtsbegriff des Strafrechts in der Lehre vom Rechtsgut Die Erörterung des materiellen Unrechtsbegriffs in der Rechtsgutstheorie hat bei Binding anzusetzen, ist dieser doch der erste, der mit Hilfe des Rechtsgutskonzepts die bis dahin als heterogen verstandenen Dimensionen des positiven Strafrechts und der staatlichen Straf-Berechtigung auf einen systematischen Nenner zu bringen sucht45 . Aus der Einsicht, daß der Verbrecher den positivierten Straftatbeständen im strengen Sinne gar nicht zuwider-, vielmehr gerade ihnen gemäß handele, kommt Binding zu der Feststellung, daß die Norm, die der Verbrecher übertrete, logisch dem Gesetz, welches Art und Weise seiner Verurteilung anordne, vorausgehen müsse 4B • Die Norm liefert den Rechtsgrund der Strafe und ist deshalb dem Strafgesetz vorgelagert; das Strafgesetz nimmt bezug auf die die staatliche Strafgewalt rechtfertigende Norm und ist deshalb ein staatliches Straf-Recht bejahender Rechtssatz47 . Beim Erlaß von Strafgesetzen greift der Gesetzgeber zurück auf den "unveränderten Bestand der Normen ... , (die) den Niederschlag derjenigen Rechtsbedürfnisse (bilden), welche die primitivste mit der entwickeltsten Gesellschaft teilt"48. Der Gesetzgeber "sucht die tatsächlichen Bedingungen gesunden Gemeinlebens; an Personen, Dingen und Zuständen haftet sein Blick ... Er sucht weiter an jenen Bedingungen ... die Wetterseite: die Eigenschaft, die den Angriff hervorlockt und anzieht. Und damit ist das Objekt des unmittelbaren Schutzbedürfnisses gefunden: dieses wird zum Objekt der Norm, seine Verletzung zur Straftat gestempelt"49; solche Schutzobjekte bezeichnet Binding als Rechtsgütero. Wenngleich alle Strafgesetze somit das Delikt als übertretung bestandes als Träger des typischen Strafbedürftigkeitsgehalts der jeweiligen Verbrechensart, als Verkörperung des Deliktstypus. Dazu exemplarisch Gallas, Zum gegenwärtigen Stand, S.17; Hassemer, Tatbestand und Typus, S. 109 ff. 45 Nach Armin Kaufmann ist es Binding, der dem Rechtsgutsbegriff in der Strafrechtslehre Bürgerrecht verschaffte, so: Kaufmann, Lebendiges, S.69. 4S Binding, Die Normen I, 3. Aufl., S.4. 47 Binding, Handbuch I, S. 499. 48 Binding, Die Normen 1,3. Aufl., S. 167, vgl. auch S. 142. 40 Binding, Die Normen I, 2. Aufl., S. 339 f. 60 Binding, Die Normen 1,2. Aufl., S. 340.
3.2 Materieller Unrechtsbegriff und Rechtsgut
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einer außer ihnen liegenden Norm anerkennen 51, sind die Normen und die dadurch geschützten Güter für Binding nicht unabhängig vom Gesetz naturrechtlich vorgegeben, sondern können nur mittelbar aus dem geschriebenen Recht durch Nachweis aus den Bedürfnissen der Gesetzgebung entwickelt werden52 • Erst das Werturteil der Rechtsgemeinschaft, welches in dem Erlaß des Gesetzes zum Ausdruck kommt, erhebt einen Gegenstand zum rechtlich schützenswerten Gut53 ; in der Schaffung von Rechtsgütern und in der Aufstellung von Schutznormen derselben ist die Rechtsquelle nur durch ihre eigene Erwägung und die Logik beschränkt, nicht als verletzbar anzuerkennen, was nicht verletzbar ist54 • Solange eine Handlung darum nicht verboten ist, kann sie nicht rechtswidrig sein: "Das Delikt entsteht durch die Norm, die Möglichkeit ihrer Übertretung für jeden Einzelnen durch ihre Kenntnisnahme und allein durch sie - hinter Verbot und Gebot beginnt aber für den, der nach der Rechtswidrigkeit sucht, tiefster undurchdringlicher Nebel 55• " Folgerichtig ist für Binding der Rechtsgutsbegriff des Strafrechts ausschließlich ein strafrechtssystematischer Begriff, der die Systematisierung des allein durch die Normensetzungsmacht des Gesetzgebers verbindlich festzulegenden Strafbarkeitsbereichs zu erbringen hat. Weil der formelle Verbrechensbegriff des Gesetzes nur die generelle Unterscheidung zwischen strafbarem und nichtstrafbarem Verhalten zuläßt, bedarf es innerhalb der Klasse strafbarer Verhaltensweisen der weiteren Differenzierung nach materiellen Gesichtspunkten, um die unterschiedliche gesetzliche Bewertung gleichermaßen bei Strafe verbotener Verhaltensweisen wie Mord, Diebstahl und Schlittenfahren ohne Geläute 56 einsichtig zu Binding, Die Normen I, 2. Aufl., S. 70. Binding, Die Normen I, 2. Aufl., S.42, 51 ff. 53 Binding, Die Normen I, 2. Aufl., S.356. 54 Binding, Die Normen 1,2. Aufl., S. 340. 55 Binding, Die Normen H, S. 160. Vgl. auch Binding, Die Normen H, S.154 Anm.32: "Ich hatte gehofft, durch die Klarlegung des Gegensatzes von Norm und Strafgesetz auch den nicht allzu großen Wahrheitsgehalt des ja fast stereotyp gewordenen Satzes, das Strafgesetz schaffe das Verbrechen nicht, sondern pönalisiere nur das schon vorher allgemein als strafwürdig Anerkannte. aufzudecken." 58 Vgl. Binding, Handbuch I, S. 312 f. Ganz in diesem Sinne Honig, Die Einwilligung, S. 94: nach Honig soll durch den Rechtsgüterschutzgedanken nichts anderes zum Ausdruck gebracht werden als der vom Gesetzgeber in den Strafrechtssätzen anerkannte Zweck in seiner kürzesten Formel; der Begriff des Schutzobjekts sei nur diejenige kategoriale Synthese, mit welcher juristisches Denken Sinn und Zweck der einzelnen Strafrechtssätze in komprimierter Form zu erfassen bestrebt sei. Zur Aktualität dieser Position Bindings und Honigs sei auf Bockelmann und Krümpelmann verwiesen. Auch diese Autoren erkennen allein die Selbstbindung des Gesetzgebers, sich nicht zu seinen eigenen Prämissen in Widerspruch zu setzen, als rechtliche Schranke legislatorischen Ermessens an. Im übrigen habe es der Gesetzgeber in der Hand, überall dort, wo es ihm darauf ankomme, Straftatbestände aufzustellen. Vgl. Bockelmann, Zitiert nach Fischer, Bericht, S. 110 sowie Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 58 f. 51
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3. Bagatellunrecht
machen. Dies und dies allein ist Aufgabe des Rechtsgutsbegriffs bei Binding: ein systematisches Modell der vom jeweiligen positiven Strafrecht ausgewählten Schutzobjekte zu liefern57• Das Bindingsehe Rechtsgutskonzept leidet nach Auffassung seiner Kritiker nicht so sehr darunter, daß es formalistisch und positivistisch wäre 58, vielmehr darunter, daß es das Rechtsgut ausschließlich auf das positive Recht bezieht und damit dem Gesetzgeber eine unbegrenzte Berechtigung zur Verhaltenskriminalisierung zugesteht 59 • Demgemäß wird der Position Bindings in Anlehnung an den programmatischen Satz v. Liszts die These entgegengestellt, der materielle Gehalt des Unrechts sei unabhängig von seiner Würdigung durch den Gesetzgeber: das positive Recht schaffe nicht materielles Unrecht, sondern finde dieses vor80 • Das Problem, worin denn nun das vorpositive Substrat besteht, von dem "der Vollklang des Wortes Verbrechen ... tönt" 61 , ist von der Rechtsgutslehre in unterschiedlichster Weise behandelt wordenS!. Es wird heute zumeist mit den KurzformeIn der sozialethischen Verwerflichkeit und der Sozialschädlichkeit zu erfassen versucht, wonach die sozialethische Verwerflichkeit die besondere sittliche Mißbilligung des Verhaltens kennzeichnet83 und als sozialschädlich solche Handlungen gelten, welche die Bestands- und Funktionsfähigkeit des gesellschaftlichen Zusammenlebens aufheben oder in unerträglicher Weise beeinträchtigen 64 • Den vielfältigen, zum Teil gegensätzlichen Bemühungen der Rechtsgutslehre, das materielle Substrat des Verbrechens auf den Begriff zu bringen, soll und braucht hier nicht nachgegangen zu werden; entscheidend in unserem Zusammenhang ist die Frage, ob es der Rechtsgutslehre gelingt, einen dem positiven Strafrecht vorgelagerten materiellen Unrechtsbegriff zu konzipieren, der dem positiven Strafrecht seine legitimen Inhalte vorschreibt und damit gesetzgeberische - und auch richterliche - Entscheidungen determiniert. 57 Vgl. die insoweit übereinstimmenden Interpretationen von Hassemer, Theorie, S. 42 ff. und Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 73 ff. 58 Vgl. aber Eb. Schmidt, Einführung, S. 308. 59 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 77 ff. m. w. N. 60 v. Liszt, Lehrbuch, S. 174. 61 Maurach/Zipf, Strafrecht AT, § 1 IA 2., unter Berufung auf Wegner. 62 Vgl. neuerdings die eingehende Darstellung in den grundlegenden Monographien von Amelung, Rechtsgüterschutz und Hassemer, Theorie. Zur Abgrenzung der beiden Autoren voneinander vgl. die gegenseitigen Rezensionen in: ZStW 87 (1975), S. 132 ff., 146 ff. 63 Vgl. etwa Lange, in: Protokolle, S. 117 ff. (120 f.). 64 So etwa Maurach/Zipf, Strafrecht AT, § 13 II 2. m. w. N. Der Versuch Amelungs, die Sozialschadenslehre mit ihrem "aufklärerischen Impuls liberaler Kriminalpolitik" gegen die "eher restaurative" Rechtsgutslehre auszuspielen (Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 43 ff., 350 ff.) verzeichnet die historischen übergänge und sachlichen Zusammenhänge; dazu überzeugend Hassemer, ZStW 87 (1975), S. 146 ff. (155 ff.).
3.2 Materieller Unrechts begriff und Rechtsgut
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Wer den materiellen Unrechtsbegriff an vorpositiven Gütern zu verankern sucht, ist gezwungen, diese Güter unabhängig vom gesellschaftlichen Interaktionsprozeß zu begreifen, in dem die Mitglieder der Gesellschaft sich über ihre selbstkontrollierte Verhaltenspraxis verständigen und rechtliche Regeln aufstellen, die deren Einhaltung gewährleisten; weil sich die Inhalte des positiven Rechts aus vorpositiven Gütern ableiten sollen, müssen jene der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der Rechtsnormen positiviert und angewandt werden, eben als vorgängig und vorgegeben gedacht werden. Dies ist auf zweierlei Weise möglich: indem man die Güter entweder immateriell als kulturelle bzw. ideelle Werte oder aber zuständlich als greifbare Objekte der Außenwelt beschreibt. In beiden Fällen bleibt die Ebene normativer gesellschaftlicher Verständigung ausgeblendet, in der Verhaltensweisen bewertend interpretiert werden und sich für bestimmte Verhaltensmuster nach und nach homogene soziale Bewertungen herausbilden; hier wie dort wird das Gut von den gütererzeugenden Bewertungsakten der Gesellschaft abgetrennt und erscheint erst dadurch als eine dem geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext der Aushandlung von Rechtsinhalten entbundene, diese Inhalte scheinbar objektiv determinierende Größe. Der immateriellen Güterlehre entsprechend - wie sie gegenwärtig etwa von Jescheck vertreten wird - sind Rechtsgüter nicht als "greifbare Gegenstände der realen Welt" aufzufassen, sondern als "ideelle Werte der Sozialordnung"65. Demgegenüber bezieht die zuständliche Güterlehre - der etwa Roxin zuneigt - den Standpunkt, Rechtsgüter könnten nur "anschaulich-greifbare" Zustände sein88 • Die diametrale Gegensätzlichkeit der vertretenen Positionen legt die Vermutung nahe, daß beide Lehren jeweils einen Aspekt des Problems zutreffend erfassen, diesen aber vereinseitigen und darum gleichermaßen den von ihnen intendierten Gegenstand verfehlen67 . In der Tat versteht die neukantianische und phänomenologische Wertphilosophie, der der Rechtsgutsbegriff entlehnt ist, Güter stets sowohl als wert- als auch als wirklichkeitsbezogen. Güter sind danach reale 65 Jescheck, Strafrecht AT, S.I77. Weitere immaterielle Konzeptionen des Rechtsgutsbegriffs in der zeitgenössischen Literatur finden sich bei Arthur Kaufmann, Das Unrechtsbewußtsein, S.120; Lange, in: Kohlrausch/Lange, Strafgesetzbuch, System. Vorbem. III 1, S. 13 f.; Würtenberger, Die geistige Situation, S. 58. 88 Roxin, Täterschaft, S. 412 f. Vgl. für ein zuständliches Rechtsgutskonzept auch Jäger, Strafgesetzgebung; Welzel, Studien, S. 509 ff. 67 Dementsprechend wird in der neueren Literatur für eine Synthese beider Lehren plädiert. Vgl. hierzu Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S.82; Salm, Das versuchte Verbrechen, S. 179 f.; Schmidhäuser, Strafrecht AT, 2/7 ff.; Schmidhäuser, Der Unrechtstatbestand, S. 443 ff.
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3. Bagatellunrecht
Objekte, denen eine eigene Werthaftigkeit innewohnt, und enthalten somit notwendig ein normatives und ein faktisches Element: das faktische Element umschreibt das reale Objekt, auf welches sich die Werthaftigkeit bezieht, das normative Element bestimmt die Werthaftigkeit, die dem Objekt eigen ist68 . Güter verkörpern so gesehen nicht die Gesamtheit der real existierenden Gegenstände, sondern beziehen sich auf bestimmte ausgrenzbare Objekte; sie sind nicht dem rein ideellen Reich der Werte angehörig, sondern schreiben vorhandenen Gegenständen eine diesen angeblich inhärente Werthaftigkeit zu. Sie sind kurzum reale Gegenstände, an denen ein ideeller Wert "haftet"6D. Bestimmt man mit der immateriellen Güterlehre Rechtsgüter als ideelle Werte der Sozialordnung, so wird die Rechtsgüterwelt vergeistigt gefaßt und damit dem Einfluß des Kausalgesetzes entzogen; immaterielle Rechtsgüter sind als Werte kausal nicht veränderbar und damit im eigentlichen Sinne auch nicht verletzbar70 . Da aber für ein Tatstrafrecht das Verbrechen sich nicht in der wertwidrigen Gesinnung erschöpft, sondern als Betätigung solcher Gesinnung zumindest die Tendenz zur Verletzung eines positiv bewerteten realen Gegenstandes enthalten muß7t, bleibt das reale Tatgeschehen der immateriellen Rechtsgutsbestimmung äußerlich und kann von ihr nicht erfaßt werden. Nun verkennt die immaterielle Güterlehre zwar nicht, daß auch ihr Begriff des Rechtsguts als gütererzeugender Wert sich zwangsläufig auf ein Objekt der Wertung richtet, das seinerseits kein bloßer Wert sein kann72 ; freilich vermag sie dieses Objekt der Wertung nicht mit dem geschützten realen Gegenstande73 gleichzusetzen, gehört ein solcher 68 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 339.
Zum "Haften" des Werts an der Wirklichkeit Scheler, Der Formalismus, S.106. Vgl. dazu auch Rickert, System, S.258; Salm, Das versuchte Verbrechen, S. 179 f. Kritisch Stegmüller, Hauptströmungen, S. 132 f., 504 f. 70 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 175 f. 71 Vgl. Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 91: "Eine Handlung, die nicht zum Erfolg geführt hat, kann eine Unrechtshandlung jedenfalls dann nicht sein, wenn sie von vornherein keine Tendenz zum Erfolg hatte, gleichgültig, an welchem Sachverhalt diese Tendenz sich zeigt: an der inneren Einstellung des Täters wie beim Versuch (vor allem beim untauglichen) oder an der abstrakten und konkreten Gefährlichkeit der Handlung." 7! So schon Kessler, Rechtsgut, S. 127, der in seiner Kritik am Liszt'schen Rechtsgutsbegriff darauf hinweist, daß das Rechtsgut zwar ein Begriff sei, aber das vom Begriff des Rechtsguts Vorgestellte, was Gegenstand des Rechtsschutzes sein solle, nicht wieder ein bloßer Begriff sein könne. 73 Mit dem realen Gegenstand, auf den sich der Strafschutz bezieht, ist hier und im folgenden der durch die Strafnorm geschützte Gegenstand, nicht etwa das Tat- oder Handlungsobjekt als der im Tatbestand genannte bzw. bei der Umschreibung der Handlung vorausgesetzte Gegenstand gemeint. Tatobjekt und Schutzobjekt der Norm können auseinanderfallen, wie sich etwa bei den Urkundendelikten zeigt: Tatobjekt ist hier die Urkunde, Schutzobjekt hingegen die Sicherheit des Rechtsverkehrs. Vgl. zu dieser Unterschei89
3.2 Materieller Unrechtsbegriff und Rechtsgut
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doch der vom Kausalgesetz beherrschten Wirklichkeit an, auf die sich das immaterielle Rechtsgut gerade nicht bezieht74 • Darum kann Objekt der im immateriellen Güterbegriff angelegten Wertung nur der Achtungsanspruch sein, der den Einzelnen zur Achtung des real geschützten Gegenstandes verpflichtee5 ; die Rechtsgutsverletzung liegt in dem Schaden, den die Wertordnung durch die Mißachtung erleidet, und der bei konkreter Verletzung eines realen Gegenstandes nur besonders betont wird76 • Der Schaden ist freilich kein meßbarer, die faktische Geltung der Wertordnung qua Institution berührender Schaden, sondern ein bloß ideeller, imaginärer Wertverlust. Die Verletzung eines Rechtsguts ist als Verletzung eines Achtungsanspruches ein rein geistiges Phänomen, das mit der Pflichtverletzung identisch ist; daher liegt in der immateriell verstandenen Rechtsgutsverletzung der Handlungsunwert des Verbrechens77 • Mit dieser Bestimmung des Objekts der gütererzeugenden Wertung als dem von der Wertordnung ausgehenden Achtungsanspruch verliert die immaterielle Güterlehre den Boden unter den Füßen, den sie mit Hilfe des Rechtsgutsbegriffs zu erlangen bemüht war 78 : da der Gegenstand, an dem der gütererzeugende Wert "haften" soll, seinerseits aus der Wertordnung abgeleitet wird, wird der Güterschutzgedanke zum bloß formalen, inhaltlich nicht faßbaren Prinzip. Denn welchen konkreten Gegenständen Achtung entgegenzubringen ist, sagt der immaterielle Güterschutzgedanke gerade nicht; weil die immateriell begriffene Rechtsgutsverletzung ein ebenso abstrakter Tatbestand wie der Verfall dung Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 198 ff.; Schmidhäuser, Strafrecht AT,
2/7 ff.
Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 176. Schmidhäuser, Der Unrechtstatbestand, S. 443 f. Schmidhäuser, der die immaterielle mit der zuständlichen Güterlehre zu vereinen sucht, bezeichnet konsequenterweise diesen Achtungsanspruch als das (immaterielle) Rechtsgut, und den realen Gegenstand, auf den sich der Achtungsanspruch bezieht, als Rechtsgutsobjekt. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 181 ff., 196 benennt den Achtungsanspruch "institutionelles Rechtsgut" als eine durch Sanktionen gesicherte Ordnung von Verboten und Geboten im Gegensatz zu dem durch solche Verbote geschützten Gegenstand. Die Wortwahl Amelungs ist, wie dieser selbst feststellt (S. 182 f.), für die immaterielle Güterlehre irreführend, weil diese Institutionen nicht im soziologischen Sinne als beobachtbarer Komplex normativ gesteuerter Handlungen oder faktisch geltender Normen, sondern von einem inneren Standpunkt aus als verpflichtende Wertordnung begreift. 78 Vgl. Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 83, wo freilich von der Wertordnung in dem mißverständlichen Sinne Amelungs als "Rechtsinstitut" die Rede ist. 77 Schmidhäuser, Der Unrechtstatbestand, S. 269. 78 Nach Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 212 bekommt man in der Rechtsgutstheorie nur dann Boden unter die Füße, wenn man den Schutzobjektbegriff (d. h. den durch die Norm geschützten realen Gegenstand) nach dem Vorbild Welzels aus der Struktur der Strafnorm ableitet. 74
75
142
3. Bagatellunrecht
der Gesinnungswerte in der Unrechtslehre der Finalisten ist 79 , kann die immaterielle Güterlehre jeden von der moralischen Instanz des Gewissens anerkannten Wert80 zum Rechtsgut machen81 und stellt die Güterbestimmung damit ins Belieben jedes Einzelnen. Die Unzulänglichkeit der immateriellen Güterlehre bringt Wasser auf die Mühlen derer, die den Rechtsgutsbegriff zuständlich zu fassen suchen. Die kriminalpolitische Bedeutung des vorpositiven Güterschutzgedankens scheint sich zumindest auf den ersten Blick auch eher mit einer zuständlichen Güterlehre vereinbaren zu lassen, will diese doch den Gesetzgeber darauf festlegen, nur "Realitäten" zu schützen, die nicht von der Rechtsordnung geschaffen sind 82 • Die Rechtsgutsverletzung wird dementsprechend von der zuständlichen Güterlehre als reale Beeinträchtigung eines Außenweltgegenstandes beschrieben, den die Menschen als ihr Gut ansehen83 • Damit macht die Rechtsgutsverletzung nicht - wie bei der immateriellen Güterlehre - den Handlungsunwert, sondern den Erfolgsunwert des Verbrechens aus; Rechtsgut in diesem Sinne ist das reale Objekt äußerer Folgen einer Handlung, Rechtsgutsverletzung der vom normwidrigen Verhalten des Täters abgelöste substantielle Güterschaden84 • Die Frage indes, welches die der Rechtsordnung vorgegebenen anschaulich-greifbaren Zustände sind, die zu schützen das Strafrecht berufen und verpflichtet ist, bringt die zuständliche Güterlehre in Schwierigkeiten. Will sie sich nicht auf die von vornherein unhaltbare Position zurückziehen, das Strafrecht schütze nur Ausschnitte aus der bio-physikalischen Körperwelt, muß sie auch so wenig "anschaulich-greifbare Zustände" wie etwa die verfassungsmäßige Ordnung oder die Rechtspflege als schützenswerte Realitäten begreifen85 Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 83. So ausdrücklich Michels, Strafbare Handlung, S. 114 f., nach dem eine Tat materiell rechtswidrig sein soll, wenn schon (?!) das Gewissen von ihr sage, daß sie nicht begangen werden dürfe; vgl. auch Arthur Kaufmann, Unrechtsbewußtsein, S.145. Zum Gewissen als Instanz der Werterkenntnis in der neukantianischen und phänomenologischen Wertphilosophie vgl. Hartmann, Ethik, S. 160 ff. 81 Nach Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 247 bestätigt sich dies historisch in der vorbehaltlosen Auslieferung der neukantianischen Güterlehre an die Wertsetzungen des Nationalsozialismus. 82 So ausdrücklich Jäger, Strafgesetzgebung, S.21. 83 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 345. 84 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 168. 85 Diese notwendige Konsequenz zieht Welzel, indem er den "statischen Gütern", die die bio-physikalische Körperwelt betreffen, "funktionelle" Rechtsgüter gegenüberstellt, so Welzel, Studien, S.511, Fußnote 30. Freilich lassen sich auch die "statischen" Rechtsgüter im Sinne Welzels nur dynamisch in ihrer Einsatzmöglichkeit bzw. Funktionalität angemessen erfassen, vgl. hierzu Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 191; Rudolphi, Die verschiedenen Aspekte, S. 162 f. sowie der folgende Text. 79
80
3.2 Materieller Unrechtsbegriff und Rechtsgut
143
und damit ihren zunächst so plastisch scheinenden zuständlichen Gutsbegriff nur noch in übertragenem Sinne verwenden. Aber auch die Verletzung eines im strengen Sinne substantiellen Objekts ist nicht ohne weiteres zuständlich als Veränderung oder Zerstörung des Objekts faßbar, sondern kann nur als Einschränkung seiner Funktionsmöglichkeit für die Zwecke des Berechtigten angemessen dargestellt werden: was das Verbrechen zerstört, ist aus der Sicht des Berechtigten eine Chance, die dieser handelnd hätte realisieren können86 • Dies gilt nicht nur für personenbezogene Objekte wie Vermögenswerte oder im Eigentum stehende Sachen, sondern gleichermaßen für die Person als körperlicher Gegenstand selbst. Wenn das Strafrecht das Leben und die körperliche Integrität einer Person schützt, schützt es nicht die Person schlechthin, sondern nur normativ abgegrenzte Ausschnitte seines Daseins87 • Selbst so im Wortsinne substantielle Güter wie Leben und körperliche Integrität sind eben nicht rein zuständlich faßbare biologische Sachverhalte, vielmehr normativ unter dem Aspekt ihrer Schutzwürdigkeit gedeutete Elemente menschlichen Daseins; dies zeigt sich spätestens in Grenzbereichen, wo es etwa um die Schutzwürdigkeit ungeborenen Lebens oder um die Frage der Gutsbeeinträchtigung durch medizinisch indizierten ärztlichen Heileingriff geht. Die Wirkungen des Verbrechens in der Einwirkung auf eine vorgegebene Außenwelt zu suchen, verkennt den spezifisch sozialen Charakter der Destruktivität des Verbrechens. Reale Gegenstände sind nicht für sich genommen schützwürdig, sie werden es erst durch normative gesellschaftliche Verständigung. Dies ist bei "funktionellen" Gütern im Sinne Welzels unmittelbar einleuchtend. Wenn es Sinn haben soll, etwa die Rechtsprechung als einen "realen" schützwürdigen Gegenstand zu bezeichnen, dann besteht dessen Realität in dem Komplex faktisch geltender Normen, welche eine ungestörte normgemäße Rechtsanwendung gewährleisten; dies bedeutet nichts anderes, als daß Normen hier erst das Gut schaffen, welches in eben diesen Normen durch Sanktionierung geltungsgefährdender Verstöße gesichert wird88 • Wo es um "statische" 88 Andernfalls wäre etwa die wirksame Einwilligung als Ausschluß der Rechtsgutsverletzung nicht denkbar, vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 189. Schmidhäuser, Strafrecht AT, 8/34 ff. nennt deshalb die wirksame Einwilligung treffend eine nur scheinbare Rechtsgutsverletzung. 87 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 188. Aus der generellen Erwägung, daß eine Veränderung oder Zerstörung eines substantiellen Gutes dann nicht als schädlich angesehen werden kann, wenn sie mit dem funktionsgerechten Einsatz des Gutes notwendig einhergeht, läßt sich unter dem Gesichtspunkt sozialer Adäquanz behaupten, daß der kunstgerechte gelungene ärztliche Eingriff gar keine Verletzung der körperlichen Integrität darstellt; so Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 190 unter Berufung auf Roxin. 88 Ahnlich Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 185, 195.
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3. Bagatellunrecht
Güter der biophysikalischen Körperwelt im Sinne Welzels geht, bezieht sich der Strafschutz zwar auf reale Gegenstände; auch dort werden die Gegenstände wie etwa die Klasse der Eigentumsobjekte indes nicht um ihrer selbst willen geschützt, sondern weil sie der gesellschaftlich als schutz würdig anerkannten, darum durch Normen gesicherten Institution Eigentum zuzurechnen sind und deshalb die institutionellen Normen sich wie ein - nicht unbedingt lückenloser - Schutzwall um die Eigentumsobjekte legen80• Wir kommen damit zu dem Zwischenergebnis, daß der Versuch, die Legitimierung strafrechtlicher Verbote an dem Gedanken des Rechtsgüterschutzes festzumachen, insofern in die Irre führt, als er die Fehlvorstellung nährt, es gäbe eine Vorgegebenheit vorpositiver Güter in einer von der gesellschaftlichen Verständigung über Rechtsinhalte unberührten Wirklichkeit90 • Der Unwertgehalt der Straftat läßt sich nicht aus einer abgezählten Menge vorgegebener Rechtsgüter herleiten, die - zuständlich oder ideell gefaßt - der gesellschaftlichen Verständigung über ihre Existenz, ihren Inhalt und ihrer Funktion enthoben sind91 • Rechtsgüter sind keine unabänderlichen Gegebenheiten, die als werthafte Gegenstände einfach vorgefunden werden könnten, sondern konstituieren sich erst in dem interaktiven Prozeß gesellschaftlicher Wertschöpfung, in den auch die Aufstellung und Durchsetzung positivrechtlicher Normen eingebunden ist0 2• Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 194 f. Vgl. die in ihrer Prägnanz eindrucksvolle, Formulierung bei Bockelmann, Strafrecht AT, § 311., S.l1: "Aus dem Postulat, daß nur Rechtsgutsverletzungen bestraft werden dürfen, läßt sich keine Limitierung der Pönalisierungsbefugnisse des Gesetzgebers ableiten. Denn es existiert kein dem Legislator vorgegebener Katalog von Rechtsgütern, an dem sich zu orientieren er verpflichtet wäre." Damit ist freilich lediglich gesagt, daß die normative gesellschaftliche Verständigung über die Inhalte strafrechtlicher Regelungen die Pönalisierungskompetenz des Gesetzgebers rechtlich nicht antasten kann; nicht ausgeschlossen ist hingegen, daß die gesellschaftliche Interaktion den legislatorischen Entscheidungsspielraum durch moralische und politische Einflußnahme einengt. Vgl. dazu bereits oben Kap. 3.1, Fußnote 41. 91 Dies ist der zentrale Punkt, an dem die ansonsten weitgehend divergierenden Auffassungen von Amelung und Hassemer zu Funktion und Aufgabe der Rechtsgutslehre übereinstimmen, vgl. Hassemer, Besprechung zu Amelung, S. 154, 157. 92 Insofern hat Binding im Ergebnis recht, wenn er sagt, daß Rechtsgüter nur aus den Bedürfnissen der Gesetzgebung - und, wäre zu ergänzen: der Rechtsanwendung - entwickelt werden können; er hat unrecht, wenn er daraus folgert, die Inhalte rechtlicher Regelungen wären ins Belieben der Rechtsverwirklichungsorgane gestellt. Da diese sich dem Kontext gesellschaftlicher Meinungsbildung über mögliche und sinnvolle Rechtsinhalte nicht verschließen können, sondern notwendig daran teilnehmen und ihrerseits meinungsbildend wirken, gibt es hier weder freie Willkür noch vollkommene Determination. 89 90
3.2 Materieller Unrechtsbegriff und Rechtsgut
145
Jede Bemühung um eine Betrachtung von Rechtsgütern "an sich" verkennt, daß gütererzeugende Werte im sozialen Raum nur gelten, soweit sie als allgemeinverbindlich erkannt und anerkannt sind93 • Rechtsgutslehren haben es mit der Erzeugung rechtsverbindlicher Wertvorstellungen unter situativen historischen und sozialen Bedingungen zu tun. Es geht nicht darum, mit Hilfe des Rechtsgutsbegriffs hinter den je konkreten gesellschaftlichen Akten kommunikativer Wertschöpfung eine eigentliche, gleichsam unverfälschte Güterwelt kenntlich zu machen. Wer dies gleichwohl versucht, unterläuft die Notwendigkeit diskursiver Begründung der von ihm postulatorisch aufgestellten Güter und bleibt eine Begründung für deren Auswahl schuldig. Weil übersehen wird, daß das Rechtsgut im Wege der Vergegenständlichung methodisch erst erzeugt wird, rückt die Rechtsgemeinschaft als Akteur der Güterproduktion in die Rolle einer Agentur, die durch scheinbar objektiv vorgegebene Güter kontrolliert wird. Wird das Rechtsgut unabhängig vom intersubjektiven Prozeß gesellschaftlicher Gütererzeugung gedacht, erscheint es als ein den gesellschaftlichen Subjekten vorgegebener Gegenstand. Entsprechend der exklusiven Doppelbedeutung von "Gegenstand" als konkretes, für sich genommen existierendes Objekt der Außenwelt und als vorgestelltes Objekt der geistigen Versinnbildlichung 94 kann ein dem positiven Strafrecht vorgängiger Gutsbegriff nur zuständlich oder ideell gefaßt werden: die Rechtsgutslehre ist darum bei der Suche nach einer vorgegebenen Güterwelt gezwungen, ihren Gegenstand entweder zu reijizieren und damit dessen Wertbezug außer Betracht zu lassen oder aber zu idealisieren und damit dessen konkrete Erzeugung und Verletzung durch menschliche Handlungen aus dem Blick zu verlieren. Begreift man Rechtsgüter ideell als Werte, nehmen sie keine positive Gestalt an und fließen in die Ethik zurück; begreift man sie hingegen zuständlich als Objekte der Außenwelt, entbehren sie des Wertbezuges und flachen zu Naturhaftigkeiten ab. Diese Vereinseitigung jeweils eines Aspekts des Rechtsgutsgedankens ist die notwendige Folge seiner Vergegenständlichung. Der Gutsbegriff verstanden als realer Gegenstand, an dem ein ideeller Wert "haftet", zerfällt eben zwangsläufig in zwei heterogene Teile, die in dieser scheinbar so griffigen Formel nicht zusammenzubringen sind: das zuständliche Objekt der Wertung und die ideelle Wertung des Objekts. Beide Aspekte in ihrer wechselseitigen Verknüpfung zu sehen, wird darum methodisch konsistent erst möglich, wenn man sich von der Fehlvorstellung einer vorpositiven Güterwelt löst und 93
In diesem Sinne auch Sax, Grundsätze, S. 928; Otto, Rechtsgutsbegriff,
S. 8 f.
94 Zu dieser Doppelbedeutung und ihren erkenntnistheoretischen Implikationen vgl. Kunz, Die analytische Rechtstheorie, S. 65 ff.
10 Kunz
146
3. Bagatellunrecht
erkennt, daß die Rechtsgutslehre eben jenem Zusammenhang der Aufstellung und Anwendung rechtlich positivierter Verhaltensregeln zugehört, den sie durch ihre begrifflichen Inhalte anleiten möchte 85 • Wenn es unmöglich ist, den materiellen Unrechtsgehalt der Straftat an der Verletzung oder Gefährdung eines apriorisch vorgegebenen Rechtsguts gleichsam "dingfest" zu machen, ist es ebensowenig möglich, aus der Lehre vom Rechtsgut ein für allemal gültige Bestimmungsgrößen für den materiellen Unrechtsgehalt des Bagatelldelikts zu gewinnen. Bagatellunrecht besitzt wie Kriminalunrecht keine Wesenheit an sich, es kann nicht wie ein in sich fertiger Gegenstand für sich genommen vorgefunden werden, sondern konstituiert sich erst in der von historisch tradierten und sozial anerkannten Anschauungen und rechtlichen Bewertungsmaßstäben geprägten bagatellarischen Sonderbehandlung. Dies besagt freilich nicht, daß die Rechtsgutslehre für die Bestimmung von Kriminalunrecht und Bagatellunrecht belanglos wäre 8s• Löst man sich von der Vorstellung einer apriorisch vorgegebenen Güterwelt und begreift Rechtsgüter als Produkte je kontextabhängiger gesellschaftlicher Verständigung über Aufgabe und Reichweite des Strafschutzes, so können die Inhalte der Rechtsgutsdiskussion Maßstäbe dafür setzen, wonach sich der materielle Unrechtsgehalt der Straftat in unserer Kulturtradition beurteilt und welches die maßgeblichen Bewertungsgesichtspunkte sind, die an sich strafbares Verhalten als geringfügig erscheinen lassen. Es wurde gezeigt, daß die Lehre vom Rechtsgut, je nachdem, ob sie sich als ideelle oder zuständliche versteht, die Rechtsgutsverletzung entweder als Handlungs- oder als Erfolgsunwert des Verbrechens deutet. Wenn beide Interpretationen gleichermaßen auf der Fehlvorstellung beruhen, es gäbe eine Vorgegebenheit vorpositiver Güter in einer von der gesellschaftlichen Verständigung über Rechtsinhalte unberührten Wirklichkeit, und diese Fehlvorstellung dazu verleitet, jeweils einen zutreffenden Problemaspekt zu vereinseitigen, kann der materielle Unrechtsgehalt der Straftat nur sowohl im Handlungs- als auch im Erfolgsunwert begründet sein87 • Handlungs- und Erfolgskomponente 95 In diesem Sinne meint Roxin, der Rechtsgutsbegriff müsse von der Aufgabe des Strafrechts her und nicht umgekehrt diese vom Rechtsgutsbegriff her bestimmt werden, so Roxin, Franz von Liszt, S.624; vgl. auch Marx, Rechtsgut, S. 24 f. 96 So aber Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 6, 350 in bezug auf das Kriminalunrecht; anderer Ansicht Hasserner, vgl. ders., Besprechung zu Amelung. 97 Programmatisch Krauß, Erfolgsunwert, S. 57 ff.: Der Erfolg tritt als "vollwertiges Unrechtselement neben dem Handlungsunwert" (S.62). Unrechtstatbestände, die sich allein als Verletzung von Handlungsunwerten darstellen, wie beim ungefährlichen untauglichen Versuch oder den abstrakten Gefährdungsdelikten, bilden die Ausnahme; grundsätzlich ist der Erfolgs-
3.2 Materieller Unrechtsbegriff und Rechtsgut
147
sind strukturell notwendige, voneinander unabhängige Interpretationsgesichtspunkte strafbaren Unrechts, mag es auch im positiven Recht ausnahmsweise Unrechtstatbestände geben, die sich allein auf das Vorliegen von Handlungsunwerten beziehen wie beim ungefährlichen untauglichen Versuch oder den abstrakten Gefährdungsdelikten. Die Notwendigkeit der methodisch zweispurigen Unrechtsbegründung im Strafrecht nach Handlungs- und Erfolgsunwert ist unabhängig von der gesetzestechnischen Frage nach der positivrechtlichen Tatbestandsfassung. Dies zeigt sich daran, daß das Strafrecht etwa auf fahrlässige Erfolgsdelikte, konkrete Gefährdungsdelikte und erfolgsqualifizierte Delikte gänzlich verzichten und dennoch dieselbe Wirkung durch Einführung entsprechender abstrakter Gefährdungsdelikte und Qualifikationstatbestände für besonders gefährliche und rücksichtslose Verwirklichungsweisen erreichen kannD8 ; dennoch müßte sich die Angemessenheit dieser gesetzlichen Regelung, die vom Erfordernis des Eintritts eines deliktischen Erfolges völlig absieht, danach bemessen, ob sie dem methodischen Interpretationsgesichtspunkt der Erfolgskomponente gebührend Rechnung trägt und nicht etwa zu einem reinen Gesinnungsstrafrecht führt. Die positivrechtliche Anknüpfung an Verletzungserfolge ist disponibel, die Berücksichtigung des Erfolgsunwerts als konstitutives Element strafrechtlicher Unrechtsbegründung ist es nicht. Wenn eine prinzipiell zweiphasige Unrechtsbegründung im Strafrecht nach Handlungs- und Erfolgsunwert unerläßlich ist, ist auch die Bestimmung des graduellen Ausmaßes des Unrechts von diesen beiden Interpretationsgesichtspunkten abhängig; für den Unrechtsgehalt des Bagatelldelikts bedeutet dies, daß jener sich nach den Maßstäben von Handlungs- und Erfolgsunwert gleichermaßen als geringfügig erweisen muß. Der allein unter dem Gesichtspunkt des Handlungsunwerts geringfügige Fall des leicht fahrlässigen, folgenschweren Delikts verkörpert ebensowenig Bagatellunrecht wie der allein unter dem Gesichtspunkt des Erfolgsunwerts geringfügige Fall des Versuchs eines schweren Delikts. Gleiches gilt für Irrtumsfälle, in denen jeweils nur der Handlungs- oder der Erfolgsunwert gemindert ist: der Diebstahl einer wertvollen Sache in der Annahme ihrer Geringwertigkeit ist ebensowenig bagatellarisCh wie der Diebstahl einer minderwertigen Sache in der Annahme ihrer Hochwertigkeit. Die unreduzierbare Zweidimensionalität der Unrechtsbegründung im Strafrecht bedeutet also eine wesentliche Einschränkung des Bereichs des Bagatellunrechts, insofern dieses einer doppelten Bedingung genügen mußV9 • unwert neben dem Handlungsunwert selbständiger Träger des Unrechtsvorwurfs (S.66). Vgl. auch Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 82 ff.; Dreher, Die Behandlung, S.917. 98 Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 93. 99 Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 94. 10·
148
3. Bagatellunrecht
3.3 Der materielle Unrechtsbegriff des Strafrechts in der Lehre vom Ordnungsunrecht Die Vorstellung einer Wesensverschiedenheit von Kriminalunrecht und Ordnungsunrecht ist mit dem Güterschutzgedanken des Strafrechts eng verknüpft. Unter dem Aspekt des Rechtsgüterschutzes wird die Unterscheidung beider Bereiche mit dem Ziele versucht, Maßkriterien zu entwickeln, die dem Gesetzgeber vorschreiben, mit welcher Art von Norm - und damit mit welcher Art von Verfolgungsverfahren und Sanktion - er welche Art von Verhalten bewerten und ahnden darf10o ; durch objektiv eindeutige Abgrenzung der Inhalte des Ordnungsunrechts von denjenigen des Kriminalunrechts soll der Gesetzgeber in der Wahl seiner Bewertungskriterien und Reaktionsweisen für Straftaten und Ordnungswidrigkeiten bindend festgelegt werden looa • In der von Goldschmidt begründeten Verwaitungsstrafrechtsiehre101 findet der Güterschutzgedanke seinen Ausdruck in der prinzipiell unterschiedlichen Schutzrichtung von Kriminalstrafrecht und Verwaltungsstrafrecht: während das Kriminalstrafrecht es mit dem Schutz von Rechtsgütern zu tun hat, die als legitime Lebensinteressen und Machtsphären individueller Willensträger verstanden werden l02 , geht es im Verwaltungsstrafrecht um den Schutz von Verwaltungsgütern, die die Verfolgung des das individuelle Dasein übersteigenden öffentlichen Wohls sicherstellen103 • Verwaltungswidrigkeiten bestehen danach in einem Verstoß gegen Normen, die nicht Individualsphären umgrenzen oder sichern, sondern wohlfahrtsstaatlichen Zwecken der Verwaltungsordnung dienen. Die Verwaltungsordnung des staatlichen Verbandes begründet für das Individuum als Gliedperson öffentliche Pflichten, auf deren Nichteinhaltung der Staat mittels "Pflichtenmahnung" reagieren muß, um künftigen Zuwiderhandlungen vorzubeugen104 • Die Pflichtenmahnung ist ein bloßer Ordnungsruf, ihr Anlaß reiner Ungehorsam gegenüber Verwaltungsbefehlen 105. Entsprechend den Bedürfnissen nach Entlastung der Gerichte von der Bearbeitung der kaum noch übersehbaren Menge von VerwaltungsHassemer, Theorie, S.217. Dazu grundlegend Mattes, Untersuchungen, 2. Halbband, S. 75 ff., 85 ff. 101 Vgl. Goldschmidt, Das Verwaltungsstrafrecht, Eine Untersuchung; ders., Das Verwaltungsstrafrecht im Verhältnis; ders., Begriff. 102 Goldschmidt, Das Verwaltungsstrafrecht, Eine Untersuchung, S. 539 f. 103 Goldschmidt, Das Verwaltungsstrafrecht, Eine Untersuchung, S.548, 560. 104 Goldschmidt, Das Verwaltungsstrafrecht, Eine Untersuchung, S. 545.f. Vgl. auch Eb. Schmidt, Das neue westdeutsche Wirtschafts strafrecht, S. 28 ff., 39. 105 Goldschmidt, Das Verwaltungsstrafrecht im Verhältnis, S. 424. 100
100a
3.3 Materieller Unrechtsbegriff und Ordnungsunrecht
149
verstößen einerseits und nach zunehmender Staatsintervention insbesondere im Bereich der Wirtschaft andererseits wird die von Goldschmidt in Bezug auf das spätliberale Staatsverständnis der Jahrhundertwende entwickelte Verwaltungsstrafrechtslehre in der Folge von Erik Wolfl06 und Eberhard Schmidtl07 in zwei Richtungen ausdifferenziert: zum einen durch Herauslösung des materiellen Verwaltungsunrechts aus dem Strafrecht; zum anderen durch Erstreckung des Strafschutzes auf überindividuelle, namentlich volkswirtschaftliche Belange des Gemeinwohls. Beide Tendenzen haben mit Erlaß des Ordnungswidrigkeitengesetzes und nebenstrafrechtlichen Gesetzen, insbesondere dem Wirtschaftsstrafgesetz, ihren vorläufigen Abschluß gefunden. Mit dieser Entwicklung ist freilich die Grundlage der Verwaltungsstrafrechtslehre Goldschmidts in Frage gestellt. Der Aufgabenbestimmung des spätliberalen Staates entsprechend konnte Goldschmidt die Funktion des Kriminalrechts auf den Schutz individualbezogener Rechtsgüter beschränken, und zugleich der sich bereits damals abzeichnenden Schutzbedürftigkeit der fürsorgenden öffentlichen Wohlfahrtspflege durch die vergleichsweise "harmlosen" Mittel des VerwaltungsstrafrechtslOB Rechnung tragen l09. Sobald jedoch erkannt wird, daß eine Beeinträchtigung der organisatorischen und administrativen Gestaltungsformen menschlichen Zusammenlebens keine bloße "Lässigkeit"l1O darstellt, sondern mindestens ebenso schwer wiegen kann wie eine Einwirkung auf individual bezogene Interessen - und konsequenterweise organisatorische Strukturen wie die Wirtschaftsordnung, die Garantie daseinsnotwendiger Leistungen und die geordnete Verwaltungstätigkeit ihrerseits zu Rechtsgütern erklärt werden111 - wird die Grenzlinie zwischen dem Anwendungsbereich des scharfen Schwerts der Kriminalstrafe und dem bloßen Ordnungsruf der verwaltungsstraflOB Erik Wolf, Die Stellung. 107 Eb. Schmidt, Das neue westdeutsche Wirtschaftsstrafrecht; ders., Straftaten; ders., Referat. lOB So Gallas, Diskussionsbeitrag, S. 87, wonach im liberalen Staat zur Zeit Goldschmidts ein Eingriff in verwaltungsmäßige Interessen noch als etwas Harmloses erschienen sei. 109 Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 167. 110 Nach der Verwaltungsstrafrechtslehre in ihrer ursprünglichen Form handelt es sich aber beim Ordnungsunrecht um eine solche sozialethisch farblose "Lässigkeit", die darin bestehe, daß der einzelne gegenüber der Verwaltung nicht diejenige mitwirkende Aktivität aufbringe, welche das rei1;lungslose Funktionieren der Verwaltungstätigkeit voraussetze, so Eb. Schmidt, Das neue westdeutsche Wirtschaftsstrafrecht, S. 27 f. 111 So Eb. Schmidt, Das neue westdeutsche Wirtschaftsstrafrecht, S. 17 in bezug auf die Gesamtwirtschaft und deren funktionell wichtige Zweige und Einrichtungen; Roxin, Sinn, S.377, 381 f. in bezug auf die Garantie daseinsnotwendiger Leistungen; Jescheck, Das deutsche Wirtschaftsstrafrecht, S.461 in bezug auf die geordnete Verwaltungstätigkeit.
150
3. Bagatellunrecht
rechtlichen Pflichtenmahnung brüchig. Die strafrechtliche Schutzwürdigkeit der verwaltungsmäßigen Organisation des Sozialbereichs ist keine prinzipiell geringere oder andersartige als diejenige der Individualsphäre, werden doch die sozialen Freiräume des Einzelnen durch die Eingriffsverwaltung konturiert und gesichert, und hängt doch die Möglichkeit individueller Selbstverwirklichung in hohem Maße von dem reibungslosen Funktionieren der leistungsgewährenden Verwaltung des Sozialstaates abU!. Strafrechtlich zu schützendes Interesse ist auch das auf die einzelnen Bürger nicht mehr atomisierbare Interesse der Gemeinschaft113 • Der Einzelne wird durch Strafrecht gegenüber den anderen wie der Gemeinschaft in Pflicht genommen; auch wenn man annimmt, Strafrecht gewährleiste primär Freiheitsräume des Einzelnen, so sind diese doch gleichermaßen durch das Verbot der Verletzung individueller Freiheitsräume anderer wie durch das Verbot der Verletzung überindividueller Gestaltungsformen dieser Freiheitsräume begrenzt. Läßt sich damit die Eigenständigkeit des Ordnungs rechts nicht mehr mit der vermeintlich individualistischen Schutzrichtung des Kriminalrechts begründen, so wird hierfür nunmehr namentlich von Lange114 der bei Goldschmidt und Eberhard Schmidt bereits angelegte115 Gedanke einer ethischen Indifferenz des Ordnungsunrechts fruchtbar zu machen versucht. Das Kriminalunrecht unterscheidet sich danach vom Ordnungsunrecht durch seinen sozialethischen Gehalt: die Kriminaldelikte greifen den Kernbestand vorgegebener, vom Gesetz lediglich anerkannter sozialethischer Werte an, die Zuwiderhandlungen des Ordnungsunrechts verstoßen gegen positiv geschaffene Vorschriften, die aus dem Raum grundsätzlich freien und erlaubten Verhaltens vorübergehend Exklaven rechtlicher Gebote oder Verbote ausgrenzen118 • Das Kriminalrecht hat es mit "delieta per se", das Verwaltungsstrafrecht mit "delieta mere prohibita" zu tun; Gegenstand der Kriminaldelikte ist die Verletzung vorpositiver Rechtsgüter, Gegenstand der Zuwiderhandlungen 112 Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 290. Nachgerade schon selbstverständlich ist, daß der Bereich der Verwaltung nicht mehr mit Goldschmidt unabhängig vom Bereich des Rechts gedacht werden kann. Die Bindung der Verwaltung an Gesetz und Recht, die in Art. 20 Abs.3 GG ihren Ausdruck findet, zeigt die durchgängige rechtliche Durchformung des Verwaltungsbereichs, vgl. dazu etwa Bettermann, zitiert nach Fischer Bericht, S. 116 f. 113 Ellscheid/Hassemer, Strafe, S.41 Fn.27. 114 Lange, Die Magna Charta; ders., Der Strafgesetzgeber; ders., Nur eine Ordnungswidrigkeit?; ders., Das Rätsel, S. 53 ff. Vgl. auch Michels, Strafbare Handlung, sowie Wimmer, Straftat. 116 Vgl. Goldschmidt, Das Verwaltungsstrafrecht im Verhältnis, S.424; Eb. Schmidt, Das neue deutsche Wirtschaftsstrafrecht, S.52; ders., Kriminalpolitische und strafrechtsdogmatische Probleme, S. 362. 118 Lange, Der Strafgesetzgeber, S. 77.
3.3 Materieller Unrechtsbegriff und Ordnungsunrecht
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des Ordnungsunrechts ist die bloße Störung der positiven Ordnung117• Grund und Folge von formeller und materieller Rechtswidrigkeit kehren sich um: bei den Kriminaldelikten erwächst aus dem sozialethisch verstandenen materiellen Unwert der Handlung die formelle Rechtswidrigkeit; bei den Zuwiderhandlungen erwächst aus dem ethisch indifferenten formellen Verbot die materielle Wertwidrigkeit des Ungehorsams118• Zuwiderhandlungen sind nur typischerweise, nicht aber notwendig durch ordnungsrechtliche Buße zu ahnden; die Auflehnung gegen an sich wertneutrale Ordnungsbestimmungen kann ein sozialethisch derart unerträgiches Ausmaß erreichen, daß wie bei den echten Kriminaldelikten eine Bestrafung am Platze istllU• Dennoch verkörpern die strafbewehrten Zuwiderhandlungen, zu denen namentlich Verstöße gegen Bestimmungen des Nebenstrafrechts zu rechnen sind, strukturell gesehen Ordnungsunrecht, nicht Kriminalunrecht; die Straffolge rechtfertigt sich allein aus der übertretung einer positivrechtlichen Norm, nicht - wie bei den echten Kriminaldelikten - aus der Verletzung einer dem positiven Recht vorgelagerten sozialethischen Wertordnung120 • Die Unhaltbarkeit dieser Thesen liegt nach unserer Kritik der gegenständlich gefaßten Rechtsgutslehre auf der Hand. Ebensowenig wie Rechtsgüter als dem positiven Recht vorgängige, dieses objektiv determinierende Größen zu verstehen sind, kann eine vorgegebene sozialethische Wertordnung anerkannt werden, die das Kriminalstrafrecht auf einen bestimmten Inhalt festlegt. Die Ableitung der Normen des Kriminalrechts aus dem angeblich unverbrüchlich vorgegebenen Bestand einer präexistenten sozialethischen Wertordnung ist nicht möglich12l • Es gibt keinen "natürlichen" oder sonstwie ein für allemal vorgegebenen Be117 Lange, Das Rätsel, S.53. Vgl. auch Maurach, Strafrecht AT, 3. Aufl., S. 13: "Wesen der Ordnungswidrigkeit ist mithin nicht ein konkretisierbarer Angriff auf materielle, überwiegend zeitlos geschützte Güter, sondern die Unbotmäßigkeit, der Ungehorsam, allenfalls die Lässigkeit gegenüber überwiegend zeit- und verhältnisbedingten Sicherungsanordnungen des Verwaltungsstaates. " 118 Lange, Die Magna Charta, S. 522. Bezeichnend auch Michels, Strafbare Handlung, S. 52 f.: "Bei den klassischen Delikten des Kriminalstrafrechts gründet sich die formelle Rechtswidrigkeit auf den schon vorher auffindbaren materiellen Unwert der Handlung. Bei den Zuwiderhandlungen dagegen setzt die materielle Ordnungsstörung die Existenz des formellen Verbots oder Gebots voraus. Dort die Verletzung bereits in der lebendigen Sittenordnung wirkender Werte, hier der Verstoß gegen positiv geschaffene Ordnungs gebote oder Verbote im an sich wertneutralen Bereich, dort primär materielle Rechtswertwidrigkeit, hier primär reine Widrigkeit gegen das Recht in seiner bloßen Ordnungsfunktion. " 110 Lange, Der Strafgesetzgeber, S. 77 f.; Michels, Strafbare Handlung, S.58; Wimmer, Straftat, S. 1170. 120 Michels, Strafbare Handlung, S. 58 f. 111 Ebenso Sax, Grundsätze, S. 922 Fußnote 42; Schoreit, Die sogenannten Ordnungswidrigkeiten, S. 228 f.
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3. Bagatellunrecht
griff des Verbrechens, an welchen der Strafgesetzgeber anknüpfen könnte122 , weil das Kriminaldelikt keine sozialethische Unwerthaftigkeit apriorisch in sich trägt, sondern notwendig auf einer kontextgebundenen, durch konkrete gesellschaftliche Verständigung angeleiteten Wertentscheidung des jeweiligen Gesetzgebers beruht; insofern sind die Inhalte des Kriminalunrechts nicht "natürlich" in mentibus omnium vorgegeben, sondern gleichermaßen wie die Inhalte des Ordnungsunrechts "künstliche" Produkte positiver Rechtsetzungsakte. Auch die Auffassung von der ethischen Belanglosigkeit des Ordnungsunrechts kann keinen Bestand haben. Die Begründung, daß Ordnungsvorschriften wie das Rechtsfahrgebot oder die innerörtliche Geschwindigkeitsbegrenzung ethisch indifferent seien123, kann nicht überzeugen. Derartigen Bestimmungen entspricht zwar keine gleichlautende ethische Norm, sie sind aber nur verständlich aus dem Zusammenhang mit dem eminent wertbehafteten Ziel der Straßenverkehrsordnung, erfahrungsgemäß typischerweise lebensgefährlichen oder unfallträchtigen Situationen im Straßenverkehr vorzubeugen124 • Eine wertindifferente Rechtspflicht wäre auch bei reinen Ordnungsvorschriften ein Widerspruch in sich; denn die Verpflichtungskraft von Ordnungsnormen beruht letztlich nur darauf, daß sie nicht irgendeine beliebige, sondern eine als werthaft anerkannte rechtliche Ordnung schützen125 • Das Ordnungsunrecht läßt sich also nicht als reine Verbotswidrigkeit auffassen; das Verbot entsteht zwangsläufig aus bestimmten Wertvorstellungen, die durch den Normbefehl des Verbotes rechtswirksam werden. Das Ordnungsunrecht kann sich damit nicht der ethischen Reflexion entziehen; letztere ist 122 So der von Garofalo entwickelte Begriff des "natürlichen Verbrechens", das sich als Angriff gegen die naturrechtlichen Güter der pieta (Achtung fremder Persönlichkeitswerte) oder der probita (Achtung sonstiger fremder Güter) verstand. Zur Kritik vgl. schon Ferri, Das Verbrechen als soziale Erscheinung (1896). Zur Ablehnung des apriorischen Verbrechensbegriffs vgl. statt aller Maurach/Zipf, Strafrecht AT, § 1 I B 2., S.5. 123 Michels, Strafbare Handlung, S. 51 f. 124 Amelung, Rechtsgüterschutz, S.288; Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 173. Vgl. in anderem Zusammenhang Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale, S.166, Fußnote 33, der eine sozialethische Wertbeziehung auch bei solchen Normen anerkennt, bei denen das sozialethische Gebot nicht unmittelbar einsichtig ist, sondern sich erst aus dem Zusammenhang der Norm mit der Förderung gedeihlichen Zusammenlebens ergibt. Treffend auch Hassemer, Theorie, S.219: "Das Straßenverkehrsrecht ist ja keine Spielwiese des Gesetzgebers, auf der verschiedene Merkzeichen ausprobiert und die Staatsbürger auf Bereitschaft und Fähigkeit zur Botmäßigkeit überprüft werden." 125 Vgl. Mattes, Die Problematik, S. 28 f.; Sax, Grundsätze, S. 921 f. Lange, Die Magna Charta, S. 523, und Michels, Strafbare Handlung, S. 72 f. erkennen zwar an, daß derartige Ordnungsvorschriften auch Rechtsgüter (gegen abstrakte Gefährdung) schützen; dies sei aber nicht Normeninhalt, sondern bloße ratio legis. Zur Unhaltbarkeit dieser Unterscheidung treffend Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 288 sowie Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 173.
3.3 Materieller Unrechtsbegriff und Ordnungsunrecht
153
bei ihm typischerweise nur weniger stark als im Bereich des Kriminalunrechts ausgeprägtl26 • Die Fragwürdigkeit der Abgrenzungsbemühungen des Kriminalunrechts vom Ordnungsunrecht mittels dessen angeblicher ethischer Indifferenz zeigt sich vollends im Bereich der strafbewehrten Zuwiderhandlungen. Wenn diese strukturell Ordnungsunrecht verkörpern, ist nicht ersichtlich, worin der gesteigerte Unrechtsgehalt besteht, der die Straffolge rechtfertigt, wo doch das Wesensmerkmal des Ordnungsunrechts nur die Verbotswidrigkeit sein soll. Die Verbotswidrigkeit ist nicht steigerungsfähig, sondern bezeichnet nur die Tatsache des Normwiderspruchs, der entweder vorhanden oder nicht vorhanden ist. Eine Tat kann nicht mehr oder weniger verboten sein; es gibt keine Gnade der Verbotswidrigkeit, sondern nur nach Sozialschädlichkeit und sozialethischer Verwerflichkeit abgestufte Grade der Wertwidrigkeit127 • Diese machen aber gerade nicht den wertindifferent gefaßten Unrechtsgehalt der Zuwiderhandlung aus l28 • Es ist darum in sich widersprüchlich, die Rechtfertigung strafbewehrter Zuwiderhandlungen daraus herzuleiten, daß hier die Auflehnung gegen an sich wertneutrale Ordnungsbestimmungen ein sozialethisch unerträgliches Ausmaß erreiche 129 • Die Verletzung einer wertindifferenten Norm ist ihrerseits notwendig wertindifferent; den Verletzungsakt als sozialethisch unerträglich zu bewer128 Schoreit, Die sogenannten Ordnungswidrigkeiten, S.229. Vgl. auch Sax, Grundsätze, S. 922 f.: "Auch Ordnungswidrigkeiten sind nur als Rechtsgutsverletzungen rechtsstaatlich faßbar und begründbar. Ihrem Wesen nach unterscheiden sie sich durch nichts von den Straftaten. Verschieden sind sie nur insofern, als die ,Wertmediatisierung' bei der Abschichtung der Schutzgüter des Ordnungswidrigkeitenrechts noch weiter vorangetrieben ist als bei der Ausformung der nicht grundwertidentischen strafrechtlichen Schutzgüter." Im Ergebnis ebenso Hellmuth Mayer, Strafrecht AT, § 11 V, S. 71 ff.; Welzel, Der Verbotsirrtum, S. 241; Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 288 f.; Baumann, Strafrecht AT, § 4 I 2. b); Hirsch, Zur Behandlung, S.242; Hassemer, Theorie, S. 217 ff.; Jescheck, Strafrecht AT, § 6 V. 2; Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 172 f.; Mattes, Die Problematik, S. 28 f. Differenzierend LangHinrichsen, Verbandsunrecht, S. 61; Mauurach/Zipf, Strafrecht AT, § 1111 BI; Dreher, Die Behandlung, S. 929 ff. In der Literatur ist es üblich geworden, die Vorstellung einer Eigenständigkeit des Ordnungsrechts als "qualitative", die Gegenposition als "quantitative" Betrachtungsweise zu kennzeichnen. Diese Termini werden hier bewußt vermieden, weil sie eher Verwirrung denn Klarheit stiften und unsere im folgenden zu belegende sozialpsychologische Abgrenzung von Kriminal- und Ordnungsunrecht sich keinem dieser Begriffe exklusiv zuordnen läßt: wie sogleich zu belegen sein wird, gibt es zwischen Kriminal- und Ordnungsunrecht weder einen begrifflich-wesensmäßig qualitativen noch einen rein quantitativen Unterschied. 127 Krauß, Erfolgsunwert, S.56 Fußnote 158; Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 175. 128 Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 175. 129 So aber Lange, Der Strafgesetzgeber, S. 77 f.; Michels, Strafbare Handlung, S. 58; Wimmer, Straftat, S. 1170.
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3. Bagatellunrecht
ten, heißt nichts anderes als die Vorstellung von der Wertindifferenz der verletzten Norm aufzugebenl30 • Schließlich kollidiert die Auffassung von der sozialethischen Indifferenz des Ordnungsunrechts mit den Bedürfnissen des modernen Sozialstaates, gerade durch das gegenüber dem Strafrecht viel flexiblere Instrument der Ordnungsvorschriften gesellschaftlich verbindliche Wertorientierungen auch gegen die herrschende soziale Werterfahrung zu setzen, das öffentliche Bewußtsein in seiner Gleichgültigkeit wachzurütteln und für die Einsicht in die Verwerflichkeit der normwidrigen Verhaltensweise zu sensibilisieren. Zahlreiche Ordnungsvorschriften, etwa im Bereich des Umweltschutzrechts, des Kartellrechts, des Steuerrechts, des Straßenverkehrsrechts und des Jugendschutzrechts verfolgen gerade diese Intention - und haben allem Anschein nach den Umschwung der öffentlichen Meinung in der Einschätzung der Schutzwürdigkeit dieser Bereiche erfolgreich angeleitet. Damit gerät die Vorstellung der Artverschiedenheit von Kriminalund Ordnungsunrecht in ein Dilemma: hält sie ihre Prämisse durch, das Kriminalunrecht und nur dieses knüpfe an eine vorgegebene sozialethische Wertordnung an, so verfehlt sie mit ihrem theoretischen Konzept die Rechtswirklichkeit und die Gestaltungsbedürfnisse des modernen Staates; nimmt sie hingegen ihre kategoriale Trennung zwischen sozialethisch verwerflichen Kriminaldelikten und wertindifferenten Zuwiderhandlungen zurück, wird sie ihrer eigenen Prämisse untreu und vollzieht eine Wende, die sie theoretisch nicht mehr rechtfertigen kann. Diesem Dilemma ist auch der Versuch von Amelung ausgesetzt, das Kriminalunrecht im Unterschied zum Ordnungsunrecht mit den Normen der Gewissensbildung in Beziehung zu bringen. Nach Amelung knüpfen die Tatbestände des Kriminalstrafrechts an Normen an, die der Mensch im Stadium seiner (primären) Sozialisie130 Bezeichnend ist, daß die Vertreter der hier kritisierten Auffassung zur Begründung ihres Standpunktes bereits bei der Wahl des begrifflichen Ausdrucks in Tautologien verfallen oder sich in logische Widersprüche verwikkeIn. Die These von Michels, Strafbare Handlung, S. 58, das "in diesem Bereiche dominierende Zweck-Telos" lasse eine "Strafandrohung einfach zweckmäßig erscheinen", ist reine Tautologie; so bereits Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 163, Fußnote 30. Die Bemerkung von Wimmer, Straftat, S. 1170, es müsse "zweiaktig" gefragt werden, "welche Verstöße ... an sich sozialethisch böse und welche nicht böse (seien) - und dann - was ... der Staat deswegen oder trotzdem als sozialethisch bösen bzw. nichtbösen Ungehorsam behandeln (solle)", spricht in seiner logischen Widersprüchlichkeit für sich. Generell bemerkt die Lehre von der sozialethischen Indifferenz des Ordnungsunrechts nicht die Doppelbedeutung des von ihr unreflektiert gebrauchten Begriffs "Ungehorsam"; dieser bezeichnet einmal die bloße Tatsache des Normwiderspruchs, zum anderen aber den sozialethisch negativ bewerteten Akt der Auflehnung gegen die Norm.
3.3 Materieller Unrechtsbegriff und Ordnungsunrecht
155
rung, seiner Personwerdung, verinnerlicht. Im Ordnungswidrigkeitenrecht könne der Gesetzgeber hingegen nicht auf solche ins Gewissen aufgenommenen Normen Bezug nehmen, sondern lediglich eine allgemeine, in Legitimitätsvorstellungen wurzelnde Bereitschaft voraussetzen, den staatlichen Befehlen Folge zu leisten131 • Diese Abgrenzung ist unpräzise und daher abzulehnen. Denn entweder geht sie von der ohnehin nur schwer nachvollziehbaren13! Vorstellung aus, daß die Normen der primären Sozialisierung den Vorschrüten des Kriminalrechts inhalts entsprechend und daher mit diesen deckungsgleich seien; dann ist die Berufung auf Normen der Gewissensbildung eine bloße petitio principii, die dem Kriminalstrafrecht eine innere Verpflichtungskraft zuschreibt und dessen Eigentümlichkeit eben daraus ableitet. Oder aber sie faßt solche Normen abstrakter, etwa im Sinne des Dekalogs, und verstrickt sich damit in dieselben Aporien, die wir bei der Lehre von der sozialethischen Irrelevanz des Ordnungsunrechts aufgewiesen habenl33 • Auch Ordnungsverstöße geraten mit den Geboten des Dekalogs in Konflikt: die Abgabe einer falschen Steuererklärung mit dem Gebot, nicht zu lügen, die Geschwnidigkeitsübertretung wegen der damit erfahrungsgemäß verbundenen standardisierten Gefahrensituation für Menschenleben mit dem Gebot, nicht zu töten. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 292. Auch wenn das Kriminalstrafrecht - freilich nicht nur dieses und dieses auch nur teilweise - auf Prinzipien beruht, die den Normen der Gewissensbildung entsprechen, gehen seine Inhalte nicht völlig in diesen Normen auf, weil das positive Recht in der äußeren Welt eine eindeutige und praktikable, zwangsweise durchsetzbare und damit sichere Ordnung des Soziallebens begründen muß. 133 Amelung sucht dem zu entgehen, indem er im Unterschied zur geisteswissenschaftlich orientierten Strafrechtslehre keinen "inneren" wertenden, sondern einen "äußeren" deskriptiven Standpunkt gegenüber den Normen der Gewissensbildung einnehmen möchte, so Amelung, Rechtsgüterschutz, S.297, vgl. auch S. 182 f. Er verkennt dabei, daß die von ihm zurecht kritisierte Lehre von der ethischen Indifferenz des Ordnungsunrechts gleichfalls einen äußeren Standpunkt gegenüber der sozialethischen Wertordnung bezieht, und daß gerade dies die Aporien begründet, denen Amelung zu entgehen sucht. Der Unterschied beider Positionen besteht nur darin, daß Amelung nicht wertphilosophisch, sondern empirisch-deskriptiv argumentiert. In der Vorstellung einer Vorgegebenheit der Wertordnung ist diese dem erkennenden und bewertenden Subjekt aber gleichermaßen äußerlich wie das Forschungsobjekt empirischer Deskription. Hier wie dort wird der im Gewissen verinnerlichte Normenkomplex bzw. die sozialethische Wertordnung eben nicht verstanden als Produkt kulturell tradierter und intersubjektiv anerkannter Werterfahrung, durch die wir alle - auch als Erkennende notwendig vorgeprägt sind und die wir darum nur unter Einbringung unseres lebenspraktischen Vorverständnisses durch wertenden Nachvollzug "von innen her" angemessen erschließen können; vielmehr erscheint in beiden Fällen der im Gewissen verinnerlichte Normenkomplex bzw. die sozialethische Wertordnung als eine im Erkenntnisakt unabhängig vorgegebene, scheinbar objektiv vorhandene Größe, die "von außen her" erfaßt und bestimmt werden kann. Zur Kritik dieser Vorstellung ausführlich Kunz, Die analytische Rechtstheorie, S. 68 ff., 81 ff., 92 ff. 131
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3. Bagatellunrecht 3.4 Die mangelnde Strafwürdigkeit des Ordnungsrechts
Aus der Unmöglichkeit, Kriminal- und Ordnungsunrecht apriorischwesensmäßig zu unterscheiden, scheint sich zwingend die Unmöglichkeit zu ergeben, zwischen beiden Unrechtsbereichen überhaupt eine prinzipielle Differenz auszumachen; die Einsicht, daß nicht nur das Kriminalunrecht, sondern auch das Ordnungsunrecht sozialethische Werte verwirklicht, verleitet zu der Annahme, zwischen beidem bestünde nicht ein qualitativer, sondern "nur" ein quantitativer Unterschied. 3.41 Identität der Anwendungsbereiche von Bagatellunrecht und Ordnungsunrecht?
Dieser Auffassung zufolge fallen die Anwendungsbereiche von Ordnungsunrecht und strafrechtlichem Bagatellunrecht in eins: da das Ordnungsunrecht einen graduell geringeren, nicht aber einen prinzipiell anderen Unrechtsgehalt als das Kriminalunrecht verkörpert und das Bagatellunrecht die unterste Rangstelle der strafrechtlichen Unrechtsbewertung kennzeichnet, ist die Materie des Ordnungswidrigkeitenrechts mit der des Bagatellstrafrechts identisch; zwischen Ordnungsunrecht und strafrechtlichem Bagatellunrecht besteht dann nur noch der rein formale Unterschied, daß ersteres außerhalb, letzteres innerhalb des Strafrechts seine positivrechtliche Regelung findet. Folglich wäre es ins Belieben des Gesetzgebers gestellt, eine strafrechtliche oder eine ordnungswidrigkeitsrechtliche Reaktion auf Bagatelldelikte vorzusehen1" . Jene Auffassung kann sich tendenziell auf eine Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts berufen l34a • Das Gericht erblickt zwar in dem ethischen Schuldvorwurf der Kriminalstrafe und der bloßen Pflichtenmahnung der Geldbuße eine prinzipielle Wertungsdifferenz, meint aber, daß im Grenzbereich zwischen weniger gravierendem Kriminalunrecht und Ordnungsunrecht nur ein gradueller Unterschied bestünde; hier die exakte Grenzlinie unter Berücksichtigung der jeweiligen historischen Situation verbindlich und im Einklang mit der verfassungsrechtlichen Wertordnung festzulegen, sei Sache des Gesetzgebers, dessen Entscheidung vom Bundesverfassungsgericht nur in gewissem Umfange geprüft werden könne l34b • 134 So im Ergebnis Baumann, Strafrecht AT, § 4 I 2 a); ders., über die notwendigen Veränderungen, S. 3; ders., Eine Bagatelle?, S. 268 ff.; ders., Minima, S. 10; ders., Grabgesang, S. 273 ff.; ders., Bekämpfung, S.526. 134a BVerfGE 45, S. 272 ff. 134b BVerfGE 45, S. 288 f.
3.4 Mangelnde Strafwürdigkeit des Ordnungsunrechts
157
Die Fragwürdigkeit dieser Ansicht zeigt sich, wenn man die Lehrmeinung von dem angeblich "nur" quantitativen Unterschied ins Positive kehrt. Sie impliziert nämlich nicht nur eine negative Abgrenzung gegenüber der Vorstellung eines qualitativ-wesensmäßigen Unterschiedes, sondern zugleich zwei positive Aussagen, die sich schwerlich vertreten lassen:
Erstens, daß Ordnungsunrecht notwendig bagatellhaft sein müsse. Da Ordnungsunrecht nicht von qualitativ anderen Prinzipien als Kriminalunrecht regiert sein soll, ginge es mit diesem dieselbe Rangordnung der Unrechtsbewertung ein und müßte - um sich überhaupt noch von Kriminalunrecht zu unterscheiden - eine prinzipiell geringere Rangstelle als jenes einnehmen, mit anderen Worten: Ordnungsunrecht müßte in Relation zum Kriminalunrecht immer geringfügig sein18S• Diese Konsequenz der quantitativen Abgrenzung ist unhaltbar; sie widerspricht dem elementaren krimnalpolitischen Bedürfnis nach Verhängung zum Teil drastischer Geldbußen, die die üblichen Taxen bei Geldstrafen bei weitem übersteigen. Wenn unser Recht Geldbußen bis zu einer Million DM androhtl36 , und der gesetzlich vorgesehene Rahmen stets überschritten werden kann, um den wirtschaftlichen Vorteil aus der Ordnungswidrigkeit abzuschöpfen (§ 17 Abs. 4 OwiG), kann nicht die Rede davon sein, daß Ordnungsunrecht nur leichtes Unrecht umfasse. Da auch schwerwiegende Ordnungswidrigkeiten zulässig sind, heben diese sich nicht quantitativ im Unrechtsgrad von Straftaten ab, sondern gehen eine eigene Rangordnung der Unrechtsbewertung ein; weil sie gegenüber der Straftat ein aliud darstellen, ist dem quantitativen Abgrenzungsversuch die Voraussetzung genommen137 • Zweitens, daß der Gesetzgeber sich selbst widerspräche, wenn er einen Teil der Bagatelldelikte ins Ordnungswidrigkeitenrecht und einen anderen Teil ins Strafrecht integrierte. Da angeblich keine Unterschiede zwischen den Anwendungsvoraussetzungen des Bagatellstrafrechts und des Ordnungswidrigkeitenrechts bestehen, könnte der Gesetzgeber zwar nach Gutdünken den einen oder den anderen Weg, nicht 135 Diese Konsequenz ist methodisch zwingend für denjenigen, der im Ordnungsunrecht einen quantitativen Unterschied gegenüber dem Kriminalunrecht erblickt, so Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 165. 136 Das regelmäßige Höchstmaß der Geldbuße beträgt nach § 13 Abs. 1 OWiG 1 000,- DM, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt. Vor allem bei Ordnungswidrigkeiten im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts finden sich weit höhere Bußgeldandrohungen, dazu im einzelnen Göhler, Ordnungswidrigkeitengesetz, Anm. 1) D. zu § 13 sowie Anhang B. In der 4. Novelle 1980 zu dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen ist ein Bußgeldrahmen bis zu einer Million DM vorgesehen. 137 Vgl. Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 165 f., der freilich im folgenden die gegenteilige Auffassung vertritt.
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3. Bagatellunrecht
aber beide Wege nebeneinander beschreiten. Hätte er sich für den einen Weg entschieden, wäre ihm durch die darin beschlossene Selbstbindung der andere Weg verwehrt. Denn der Gesetzgeber darf in Art und Ausmaß seiner Reaktionsweisen nur differenzieren, wenn dies sachlich geboten ist; eine sachliche Differenz von Ordnungsunrecht und strafrechtlichem Bagatellunrecht soll aber gerade nicht bestehen. Das Ordnungswidrigkeitenrecht ist ungeachtet der jüngst vermehrt dagegen vorgebrachten KritikU8 in unserem Rechtskreis nicht mehr hinwegzudenken; eine völlige Aufhebung der Ordnungswidrigkeiten und deren Reintegration in das Strafrecht steht hier und heute nicht zur Disposition. Die mit dem EGStGB am 1. 1. 1975 vollzogene Abschaffung der strafrechtlichen übertretungen und deren (teilweise) überführung ins Ordnungswidrigkeitenrecht ist eindeutig als ein Schritt in Richtung auf ein liberaleres, sich auf die Bekämpfung schwerwiegender Rechtsgutsverletzungen konzentrierendes Strafrecht zu verstehen; eine Reintegration der Ordnungswidrigkeiten in das Strafrecht hieße darum, das Rad der Rechtsgeschichte, das gerade über die übertretungen hinweggegangen ist, wieder zurückzudrehenl3U • Damit käme nur eine vollständige überführung der Bagatelldelikte ins Ordnungswidrigkeitenrecht in Betracht140 • Ob das sachgerecht ist, kann vorerst dahingestellt bleiben. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist jedoch, daß die Frage der inhaltlichen Abgrenzung beider Unrechtsbereiche nicht mit der ganz anderen Frage vermengt werden darf, ob rechtliche oder praktische Gründe es nahelegen, für Ordnungswidrigkeiten und Bagatelldelikte dieselben Rechtsfolgen vorzusehenl41 • Wie sogleich darzulegen sein wird, gibt es zwischen Kriminalunrecht und strafrechtlichem Bagatellunrecht einerseits und Ordnungs unrecht andererseits prinzipielle Unterschiede. Mag es auch - was mit guten Gründen zu bezweifeln ist - angebracht sein, die leichten Formen des Diebstahls, Betruges, Hausfriedensbruchs oder der Unterschlagung, Nötigung, Beleidigung, Sachbeschädigung prinzipiell mit Geldbuße zu ahnden: es ist ein Gebot methodischer Klarheit, zunächst nach den möglichen strukturellen Besonderheiten von Kriminalunrecht einschließlich strafrechtlichem Bagatellunrecht zu fragen, und erst dann sich damit zu beschäftigen, ob sich daraus praktische Konsequenzen ergeben oder ob es ungeachtet der nachgewiesenen Besonderheiten Etwa Hirsch, Zur Behandlung, S. 243. So in bezug auf die Einführung einer Kategorie leichter Delikte im Strafrecht generell Dreher, Die Behandlung, S.926; vgl. auch Vogler, Möglichkeiten, S. 155; Kunz, Die Einstellung, S. 16. 140 Dies wird namentlich von Baumann propagiert, vgl. dazu die Nachweise in Fußnote 134. 141 Ähnlich Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 296. 138
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3.4 Mangelnde Strafwürdigkeit des Ordnungsunrechts
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geboten ist, Ordnungsunrecht und strafrechtliches Bagatellunrecht im Ergebnis gleichzubehandeln. Wer beide Unrechtsbereiche unreflektiert in eins setzt, verstellt sich von Anbeginn den Blick dafür, daß es zwischen ihnen Besonderheiten gibt, aus denen strafrechtsdogmatische und kriminalpolitische Konsequenzen resultieren können - und verkürzt sich damit sein Problembewußtsein. Der richtige Kern der Unterscheidung von Ordnungsunrecht und Kriminalunrecht wird erst sichtbar, wenn man sich von der Vorstellung einer qualitativ-wesensmäßigen Differenz löst, ohne dabei ins andere Extrem zu verfallen, eine prinzipielle Unterscheidbarkeit überhaupt zu leugnen. Die Inhalte des leichten Kriminalunrechts sind nicht mit denjenigen des Ordnungsunrechts deckungsgleich, der Gesetzgeber kann sie nicht nach Gutdünken dem einen oder anderen Regelungsbereich zuordnen. Es gibt den Gesetzgeber bindende Leitlinien für die Wahl der Anknüpfungspunkte von Strafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht nur resultieren diese Leitlinien nicht aus einem apriorisch vorgegebenen Wesensunterschied von Ordnungs- und Kriminalunrecht, welcher der gesellschaftlichen Interaktion vorgängig und ihr entzogen ist. Dies läßt sich an Extremfällen einsichtig machen. Die Dispositionsbefugnis des Gesetzgebers ist eindeutig überschritten, wollte er etwa Mord und Raub zu Ordnungswidrigkeiten deklarieren oder das Falschparken unter Strafe stellen142 • Aber nicht etwa deshalb, weil das eine "seiner Art nach" Kriminalunrecht, das andere "genuin" Ordnungsunrecht darstellte143 , sondern weil bei dem einen die elementare Wertwidrigkeit im gesellschaftlichen Bewußtsein jedenfalls hier und heute evident verankert ist, das andere hingegen eindeutig als bloße Nachlässigkeit empfunden wird. Bei dem einen ist die instinktive Abscheu vor dem inkriminierten Verhalten fester Bestandteil unserer kulturhistorischen Tradition. Die Gesellschaft reagiert hier völlig spontan und unreflektiert; es besteht ein letztlich unhinterfragbarer - weil rein emotional fundierter - Grundkonsens, den Angriff, auch wenn er sich nicht gegen die eigene Person richtet, als persönliche Bedrohung zu empfinden, die allgemeine Unsicherheit und Angst auslöst14'. Das Erschrecken der Gesellschaftsmitglieder vor der Tat löst unmittelbar ein allgemeines Strafverlangen aus; dieses ist wie ein Reflex auf die Tat ohne jede rationale Steuerung. Die Gesellschaft verDreher, Die Behandlung, S. 930. So aber Dreher, Die Behandlung, S. 930. lU Diesen emotionalen Aspekt der gesellschaftlichen Bewertung von Kriminalunrecht erkennt auch Dreher, ohne freilich daraus methodische Konsequenzen zu ziehen, vgl. Dreher, Die Behandlung, S. 931. Vgl. zur sozialpsychologischen Beurteilung des Strafwürdigen aus psychoanalytischer Sicht Freud, Totem, S. 82. 142
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3. Bagatellunrecht
langt nach Beruhigung und Stabilisierung durch Strafe; die Vergeltung durch Strafe ist das einzige Mittel, um das durch die Tat gestörte gesellschaftliche Gleichgewicht wiederherzustellen145 • Bei dem anderen dagegen ist das Verhalten als solches in der gesellschaftlichen Bewertung emotional unbesetzt oder zumindest nicht eindeutig emotional besetzt; Bewertungskriterien und Reaktionsweisen sind daher dort einer rationalen Diskussion und Argumentation unmittelbar zugänglich. Wer dem Partner im Straßenverkehr die Vorfahrt nimmt, wird die Reaktion des andern nur schwer prognostizieren können; sie liegt auf einer Skala vom großzügigen Übersehen des Vorfalls bis zu schweren Übergriffenl46 ; wegen der diffusen Unbestimmtheit möglicher Einschätzungen und Verarbeitungen des Verhaltens lassen sich vergleichsweise emotionslos rationale Überlegungen über objektive Gefährlichkeit und Reaktionsbedürftigkeit anstellen147• Ganz anders bei Mord und Raub: Mörder und Räuber tragen in unserer Kulturtradition das Stigma des Verabscheuungswürdigen148 ; eine rechtliche Regelung, die dies übergehen und aus vermeintlich rationalen Erwägungen den Raub einer geringwertigen Sache nicht zwingend unter Strafe stellte, würde gegen die einhellige emotionale GrundeinsteIlung unserer Gesellschaft gegenüber Räubern verstoßen und darum ihrerseits irrational sein l49 • Weil die skizzierten Zusammenhänge keine begrifflich eindeutige, sondern eine sozialpsychologische Grundlage haben, ist der Grenzverlauf zwischen Kriminal- und Ordnungsunrecht fließend. Eine eindeutige für immer gültige Unterscheidung ist ausgeschlossen, da die emotionalen Grundeinstellungen der Gesellschaft dem kontinuierlichen sozialen Wandel unterliegen. Sie sind längst nicht mehr auf die "klassische" 145 Hasserner, Theorie, S. 195. Vgl. neuerdings auch Arzt, Probleme, S. 117 f., 119 f. Tendenziell ähnlich Mattes, Untersuchungen, 2. Halbband, S. 78. 146 Zu der Frage, inwieweit dieses spontane Strafverlangen auch bei Juristen ausgeprägt ist, vgl. Streng, Strafmentalität, insbes. S. 77 ff. 141 Ähnlich BVerfGE 8, 197 (207): Das Gericht sieht den Unterschied von Straftat und Ordnungswidrigkeit darin, daß die Ordnungswidrigkeit Fälle "mit geringem Unrechtsgehalt" betreffe, die "nach allgemeinen gesellschaftlichen Auffassungen nicht als (kriminell) strafwürdig gelten". Anders noch BGHSt 11, 263, der sich auf die oben kritisierte Formel zurückzieht, daß das Kriminalunrecht einem ethischen Unwerturteil unterliege, während das Ordnungsunrecht nur Ungehorsam gegen einen Verwaltungsbefehl darstelle. 148 Kennzeichnend für die emotionsgeladene gesellschaftliche Einstellung zu Kriminalunrecht ist es, die Bewertung der Taten auszudehnen auf die Person des Täters. Dieser Stigmatisierungseffekt, der einer "Vorverurteilung" Vorschub leistet und Resozialisierungsbemühungen erschwert, ist im Bereich der "klassischen" Kriminalität ungleich stärker ausgeprägt als im Bereich etwa der Wirtschaftskriminalität, eben weil die Einstellung der Gesellschaft gegenüber Wirtschaftskriminalität weniger emotionsbesetzt ist. 149 Hasserner, Theorie, S. 201 ff. Vgl. dazu auch den folgenden Text.
3.4 Mangelnde 8trafwürdigkeit des Ordnungsunrechts
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Delinquenz beschränkt. Neue Verkehrs-, Verteilungs- und Produktionsmittel bringen nicht nur typische neue Gefahrensituationen mit sich, sondern verändern auch die emotionalen GrundeinsteIlungen der Gesellschaft zu dem gefahrträchtigen Verhalten. Überall dort, wo die gesellschaftliche Interaktion sich darauf einpendelt, das gefahrenbegründende Verhalten als verwerflich einzuschätzen, kommt eine Vorverlagerung des Strafschutzes in Betracht; umgekehrt steht eine Rücknahme des Strafschutzes zur Diskussion, wenn die Gesellschaft zu einer emotionslosen Einstellung gegenüber dem ursprünglich als verwerflich empfundenen Verhalten findet. Je deutlicher das emotionale gesellschaftliche Bedrohungselement ausgeprägt ist, desto eher wird eine strafrechtliche und desto weniger eine ordnungswidrigkeitliche Sanktionierung angezeigt sein. Die Ausrichtung der Strafzone am gesellschaftlichen Strafschutzverlangen ist gewiß problematisch. Nicht genug, daß damit leidvolle Assoziationen an eine Gesetzgebung nach dem "gesunden Volksempfinden" geweckt werden: Kriminalisierungswünsche wurzeln in kollektiven Verdrängungen und Projektionen; sie sind blindwütige Reflexe einer diffusen, oft unbegründeten und hysterisch übersteigerten Verbrechensangst. Daß ein derart zutiefst unvernünftiges, manipulierbares und in der Extremform als Verirrung der Phantasie erscheinendes Phänomen den Maßstab für den wohlbedachten Einsatz des Strafrechts abgeben soll, ist nicht ohne weiteres einsichtig. Indes sind zur Strafwürdigkeitsbestimmung keine Richtwerte verfügbar, die jenes Maß an Rationalität und Objektivierbarkeit aufweisen, welches eine vernunftgerechte Strafgesetzgebung idealiter voraussetzt. Am Beispiel der Rechtsguts- und Sozialschadenslehren wurde belegt, daß die Diskussion um die legitimen Inhalte des Strafrechts nicht unabhängig vom gesellschaftlichen Strafschutzverlangen geführt werden kannl50 • Rechtsguts- und Sozialschadenskonzepte sind in ihrer jeweiligen inhaltlichen Ausformung von gesellschaftlichen Bewertungen abhängig, die emotional aufgeladen sind und ein kollektives Bedrohungsempfinden widerspiegeln. Es gibt keine der strafwürdigen Tat objektiv innewohnende Sozialschädlichkeit; vielmehr steht der Begriff als Kürzel für die nach Strafe verlangende gesellschaftliche Irritationl50a • Dem herrschenden Zeitgeist erscheinen die jeweils unter Strafe gestellten Handlungen sozialschädlich; dies gilt heutzutage für den Inzest in gleicher Weise wie vordem für die HexereP 50b. Die Bezugnahme auf vorhandene Kriminalisierungswünsche ist für die legislative StrafwürdigungseinschätOben zu Kap. 3.2, 8. 144 ff. Kunz, Die Verbrechensfurcht, 8.163. 150b Arzt, Probleme, 8.117.
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3. Bagatellunrecht
zung darum konstitutiv; der falsche Anschein einer der Unvernunft kollektiver Rachegelüste entrückten legislativen Entscheidung verschüttet die Quellen, aus denen die Entscheidung wirklich gespeist wird, und entzieht diese der rationalen überprüfung. Mit der postulierten Bindung des Gesetzgebers an das gesellschaftliche Strafschutzverlangen ist freilich nicht behauptet, daß er davon bedingungslos abhängig wäre. Die Bindung ist letztlich immer nur eine relative, weil der gesetzgeberischen Beurteilung notwendig ein Moment der subjektiven Setzung und damit der Positivität innewohnt150c • In einer pluralen Gesellschaft ist ein durchgängiger Konsens über die Notwendigkeit strafrechtlicher Intervention kaum je zu erzielen. Eindeutig mit dem Stigma des Strafwürdigen besetztes Verhalten oder mit gleicher Eindeutigkeit als strafunwürdig ausgewiesenes Tun bildet die Ausnahme; dazwischen liegt eine Grauzone mit abgestuften Schattierungen150d , in der sich divergierende Einschätzungen annähernd die Waage halten. Wenngleich sich die Legitimität des Einsatzes von Strafrecht nicht einfach mit Mitteln der Demoskopie abfragen läßt, wird der Gesetzgeber gut daran tun, seine Entscheidung auf eine empirisch gesicherte Bestandsaufnahme des gesellschaftlichen Meinungsspektrums zu gründen. Eine solche Bestandsaufnahme macht die - oft unerwartete - Vielfalt konträrer Einschätzungen bewußt und verhindert die ungeprüfte Unterstellung einer Einhelligkeit sozialer Auffassungen über die legitime Reichweite des Strafrechts. Die fiktive Annahme eines vermeintlich einmütigen Kriminalisierungsbegehrens überspielt nur allzu leicht die mangelnde Bereitschaft des Gesetzgebers zur übernahme von Folgenverantwortung150e • Demoskopische Erhebungen verbauen jenen Fluchtweg aus kontroversen Diskussionen über die erwartbaren sozialen Auswirkungen projektierter Strafrechtsreformen; Demoskopie im Dienste der Strafrechtsreform engt den legislativen Entscheidungsspielraum nicht ein, sondern verdeutlicht diesen durch Nachweis der vorhandenen Beurteilungsvielfalt und Toleranzbereitschaft. So bereits Gallas, Beiträge, S. 19 f. Dreher, Die Behandlung, S.930. Vgl. auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 294; S. 294; Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht AT, § 1 III B 1. 150e Darin besteht der zutreffende Kern der von Vertretern der Konflikttheorie propagierten Auffassung, gesellschaftliche Strafbedürfnisse seien von den Kontrollinstanzen hervorgebracht, um die vermeintlichen Bedürfnisse für Kontrollzwecke einsetzen zu können, so namentlich Steinert, Kleine Ermutigung. Demgegenüber ist freilich zu betonen, daß Strafbedürfnisse empirisch nachweisbare sozialpsychologische Befindlichkeiten und keineswegs Artefakte zur Selbstlegitimation strafrechtlicher Kontrolle sind, wiewohl die ungeprüfte Unterstellung derartiger Bedürfnisse zu Kontrollzwecken verwandt werden kann. 150C
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3.4 Mangelnde Strafwürdigkeit des Ordnungsunrechts
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Aber auch wenn die Demoskopie ein mehrheitlich geteiltes Kriminalisierungsverlangen kenntlich macht, folgt daraus zwar indiziell, nicht jedoch zwingend die Notwendigkeit strafrechtlicher Inkriminierung. Querschnittserhebungen eines dem sozialen Wandel unterworfenen Forschungsbereichs bedürfen der Ergänzung durch Längsschnittuntersuchungen, weil sie wie die Momentaufnahme eines in Bewegung befindlichen Körpers nichts über Richtung und Geschwindigkeit der Bewegung besagen. Zudem wird die Entwicklung sozialer Erwartungen an rechtliche Regeln durch geänderte Rechtsvorschriften, ja bereits durch die öffentliche Diskussion projektierter Reformgesetze beeinflußt; so gesehen hat der Gesetzgeber es in der Hand, gesellschaftliche Strafschutzverlangen zu filtern und langfristig zu steuern. Der übereilte Ruf nach dem Strafgesetzgeber ist vielfach bloß das Echo einer sozialpsychologischen Befindlichkeit, in der die strafrechtliche Repression als alleinige Antwort auf beängstigendes Verhalten präsent ist; weil die Allgemeinheit sozusagen auf das Strafrecht "konditioniert" ist, werden andere Möglichkeiten der Angstkompensation nicht wahrgenommen. Bei der Gewährung von Strafschutz geht es nicht darum, einem entsprechenden Verlangen blind zu folgen, sondern der sozialen Verunsicherung gegenzusteuern, die sich im Wunsch nach Kriminalisierung symptomatisch äußert. Die begründete Aussicht, soziale Verunsicherung durch aufklärende, vertrauensbildende und ausgleichende Maßnahmen abzubauenl5l , macht die Aktivierung des Strafrechts trotz momentan vorhandenen Strafschutzverlangens einstweilen entbehrlich. Wann der Gesetzgeber vorhandene Kriminalisierungserwartungen enttäuschen darf, läßt sich nicht abschließend angeben. Je kontroverser Strafwürdigkeitsbeurteilungen sind, je weniger sie einer traditionell gefestigten Einschätzung entspringen und je mehr Aussicht besteht, die soziale Verunsicherung anders als durch Kriminalisierung des verunsichernden Verhaltens abzubauen, desto eher wird der Gesetzgeber es wagen können, sich der sozialen Beurteilung zu widersetzen. Freilich muß die Enttäuschung von Kriminalisierungserwartungen die Ausnahme bleiben, weil sonst das Strafrecht seine sozial friedensstiftende Funktion einbüßt und Gefahr läuft, durch den Verzicht auf eine streng regelgeleitete Konfliktbewältigung eine blindwütige Entladung aufgestauter Rachegelüste zu provozieren. Das geringfügige Auseinanderklaffen strafrechtlicher Normen und sozialer Erwartungen an die Inhalte dieser Normen erzeugt eine Spannung, die die Dynamik sozialen Wandels antreibt; wird die Spannung hingegen auch nur punktuell zu groß, kommt es zum großflächigen Bruch zwischen Staat und Gesellschaft, der 151
11·
Dazu näher Kunz, Die Verbrechensfurcht.
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3. Bagatellunrecht
das Rechtsvertrauen erschüttert und eine Bändigung sozialer Reaktionen durch rechtsfönnliche Regeln unmöglich macht. Versuche des Gesetzgebers, sich aus venneintlich besserer Einsicht gegenüber dem scheinbaren Irrationalismus gesellschaftlicher Irritation "kritisch" und "aktiv" abzusetzen, überschritten die Grenzen des legislativen Handlungsspielraums. Entschiede der Gesetzgeber sich für Strafnonnen, welche die soziale Werterfahrung verfehlen, erreichte er das Gegenteil seines Ziels: er schüfe Konflikte, anstatt sie zu lösen; würde er den Strafschutz in Bereichen mit hoher Bedrohungsintensität zurücknehmen, beschwörte er in Art und Ausmaß unberechenbare gesellschaftliche Reaktionen herauf und handelte damit seinerseits irrationaP 51a. Ein grundlegender Wandel des gesellschaftlichen Wertempfindens zu einer vernunftbestimmten, toleranten und humanen Einstellung gegenüber abweichendem Verhalten kann nicht allein mit Mitteln des Strafrechts, sondern zuvorderst mit solchen der Kriminalpolitik wirksam angeleitet werden. Das positive Recht hinkt der gesellschaftspolitischen Aufklärung zwangsläufig hinterher; solange sich durch gesellschaftspolitische Aufklärung keine Änderung in der aktuellen sozialen Werterfahrung wenigstens anbahnt, darf der Gesetzgeber nicht seiner Zeit vorauseilend die Strafzone abweichend vom gesellschaftlichen Strafwürdigkeitsempfinden ausdehnen oder zurücknehmen151b • Durch gezielten Einsatz rechtlicher Normen gegen soziale Normen einen gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen, hieße das Recht von der gesellschaftlichen Entwicklung abzukoppeln und seine sozialintegrative Funktion zu verfehlen. Eine rationale Delinquenzreaktion kann somit nicht allein durch Strafrecht bewirkt werden, sondern erfordert eine Doppelstrategie, die auf die Zweispurigkeit von Strafrecht und Kriminalpolitik setzt. Der Anwendungsbereich des Strafrechts bemißt sich primär nach der jeweiligen emotionalen Strafwürdigkeitsbeurteilung der Gesellschaft. Strafnonnen sind dann und nur dann rational, wenn sie sich funktional beziehen auf das irrationale gesellschaftliche Strafverlangen; sie können das soziale System nur stabilisieren, wenn sie dem Strafwürdigkeitsempfinden Rechnung tragen und die Wogen aufwallender gesellschaftlicher Empörung und Verunsicherung glätten, indem sie das die Empörung und Verunsicherung auslösende Verhalten grundsätzlich in den strafrechtlichen Schutzbereich einbeziehen. Weil aber das Strafwürdigkeitsempfinden divergierenden Einschätzungen und dem dynamischen Prozeß sozialen Wandels unterliegt, kann Hasserner, Theorie, S. 240 f. Ähnlich Hasserner, Theorie, S. 244 f. Vgl. auch Lüderssen, Die generalpräventive Funktion, S. 61. 151a
151b
3.4 Mangelnde Strafwürdigkeit des Ordnungsunrechts
165
dieser Prozeß gesellschaftspolitisch angeleitet werden. Das Strafrecht hat Irrationalismen Rechnung zu tragen, die Kriminalpolitik kann sie aufdecken und ihre Überwindung einleiten - und damit den Boden für ein humaneres und toleranteres Strafrecht bereiten. Die Enthüllung der Irrationalität des Geschlechtstabus, aus dem sich die Pönalisierung exhibitionistischer Handlungen herleitetl51C , die Widerlegung im gesellschaftlichen Bewußtsein fest verwurzelter Alltagstheorien über die scheinbare Sozialschädlichkeit der im jugendlichen Alter manifest gewordenen Homosexualitätl5ld , die Aufdeckung der mit Ladendiebstahl, Zech-, Einmiete- und Ratenkaufbetrug typischerweise verbundenen finanziellen Notlage151e und vieles andere mehr können gleichsam wie Katalysatoren einen Wandel in der emotionalen gesellschaftlichen Strafwürdigkeitseinschätzung bewirken, welcher, wenn er sich anbahnt (aber erst dann) vom Strafrecht nachvollzogen werden kann. Was die Frage der möglichen Vorverlagerung des Strafschutzes anbelangt, ist der Dispositionsspielraum des Gesetzgebers derzeit speziell im Bereich des Wirtschafts- und Umweltschutzrechts beträchtlichi52. Hier, wo die emotionalen gesellschaftlichen Einstellungen zur Regelungsmaterie besonders stark im Fluß begriffen sind, steht der verstärkte Einsatz des Strafrechts zur Disposition. Die Gesellschaft ist zunehmend gerade auf solchen Gebieten für eine Vorverlagerung des Strafschutzes empfänglich, wo individuelle Belange nicht unmittelbar berührt werden, sondern die Erhaltungsbedingungen der sozialen Lebenswelt und der Produktionsverhältnisse angesprochen sind. Es mag dem Gesetzgeber einmal als weise Zurückhaltung erschienen sein, als er marktwirtschaftlichen Bedürfnissen und dem Grundsatz "in dubio pro libertate"153 folgend etwa Kartellrechtsverstöße ausschließlich als Ordnungswidrigkeiten einstufte und behandelte154 ; mit der Aufdeckung 151C Hassemer, Theorie, S. 244. 151d Hassemer, Theorie, S. 244 f. 16Le Der Ladendiebstahl ist entgegen verbreiteter Einschätzung kein Wohlstands-, sondern ein Notstandsdelikt, vgl. hierzu insbes. Wagner, Ladendiebstahl, S. 108 ff. mit eingehenden Belegen. 152 Freilich nicht nur in diesem Bereich. Spektakuläre, die Kriminalitätsfurcht der Bevölkerung aktivierende Vorgänge haben etwa die Ausweitung des früheren Kidnaping-Paragraphen auf erpresserischen Menschenraub und Geiselnahme (§§ 239 a, 239 b StGB) angeleitet und zu einer Vorverlagerung des Strafschutzes gegen terroristische Aktivitäten (§§ 88 a, 129, 129 a, 130 a StGB) geführt. 153 Zu diesem Grundsatz vgl. Müller-Dietz, Strafe. Dieser Grundsatz erlaubt keine inhaltliche Bindung des Gesetzgebers; er wird je nach gesellschaftlichem Strafwürdigkeitsempfinden beachtet oder durchbrochen. Vgl. dazu die Beispiele bei Hassemer, Theorie, S. 200 ff. 154 Zur Kritik der ordnungswidrigkeitlichen Lösung und zur Forderung nach Pönalisierung der Kartellrechtsverstöße vgl. Lang-Hinrichsen, Verbandsunrecht, S. 58 f. m. w. N.
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3. Bagatellunrecht
und publizistischen Verbreitung von Manipulationen in Millionenhöhe bahnt sich ein Wandel in der gesellschaftlichen Einschätzung an, der die Pönalisierung von Kartellverstößen zunehmend geboten erscheinen läßt. Anders bei der Frage der möglichen Rücknahme des Strafschutzes. Mit der Gesetzesreform durch das EGStGB im Jahre 1975 dürfte die erwähnte Grauzone stark dezimiert worden, wenn nicht auf Null zusammengeschrumpft sein. Der Gesetzgeber hat von seiner Entscheidungsbefugnis weitreichend Gebrauch gemacht und seinen Entscheidungsspielraum zumindest nahezu ausgeschöpft, als er einen Teil der früher strafbewehrten übertretungen ersatzlos abschaffte und einen anderen Teil ins Ordnungswidrigkeitenrecht übernahm. Eine darüber hinausgehende Begrenzung der Strafzone geriete - wie sogleich deutlich werden wird - mit den emotionalen gesellschaftlichen GrundeinsteIlungen in Konflikt. 3.42 Zurückstufung von Bagatelldelikten in Ordnungswidrigkeiten? Dies gilt speziell für den Vorschlag, Bagatellfälle im Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte in Ordnungswidrigkeiten zu verwandeln155 • Nach rein rationaler Beurteilung der objektiven Sozialschädlichkeit mögen Bagatellvermögensdelikte im Ergebnis nicht schwerer wiegen als Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung158 • Eine solche rein rationale Sichtweise ist aber eben nicht maßgeblich, wenn es darum geht, den legitimen Anwendungsbereich des Strafrechts gegenüber demjenigen des Ordnungswidrigkeitenrechts abzugrenzen. Wo die Unterscheidung von grundsätzlich Strafbarem zu Nichtstrafbarem in Frage steht, ist das gesellschaftliche Empfinden der Verunsicherung und Bedrohung durch abweichendes Verhalten unmittelbar angesprochen. Bei der Abgrenzung des Strafbarkeitsbereichs durch Formulierung strafrechtlicher Deliktstatbestände muß der Gesetzgeber sich darum von diesem gesellschaftlichen Bedrohungselement leiten lassen. Die Entscheidung des Gesetzgebers über das Ob des Strafschutzes ist von der gesellschaftlichen Irritation durch abweichendes Verhalten abhängig, welche auf eine Pönalisierung drängt; die normtive gesellschaftliche Verständigung hierüber ist das Reservoir, aus dem das positive Strafrecht seine Inhalte schöpft. So insbesondere Baumann, vgl. oben Fußnote 134. So Arndt in der Fragestunde des Bundestages vom 26. 1. 1972, Protokoll, S. 9531 B. 155 158
3.4 Mangelnde Strafwürdigkeit des Ordnungsunrechts
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Das Postulat, der Staat dürfe nur realiter sozialschädliches oder -gefährliches, nicht dagegen bloß unmoralisches Verhalten unter Strafe stellenl57 , verkürzt diese Problematik und läßt außer Betracht, daß die Rationalität der legislatorischen Pönalisierungsentscheidung gerade in der Anerkennung emotionaler und letztlich rationalen Erwägungen unzugänglicher gesellschaftlicher Bewertungen liegt158 • Bei der strafrechtlichen Normaufstellung geht es jedenfalls nicht nur um Abschreckung, sondern auch und vor allem um die Bestätigung gesellschaftlicher Verhaltenserwartungen. Strafnormen haben solche Verhaltenserwartungen abzusichern und zu garantieren; nur wenn die Normen sich - mit den umrissenen Einschränkungen - an dem emotionalen gesellschaftlichen Strafwürdigkeitsempfinden ausrichten, können sie die Konsensbildung bestärken und sozial integrativ wirkenI59 • Nach solch emotionalen Gesichtspunkten bemessen kann nicht zweifelhaft sein, daß auch die leichten Begehungsweisen von Betrug, Diebstahl und Unterschlagung teilhaben an der spontanen gesellschaftlichen Strafwürdigkeitseinschätzung dieser Deliktskategorien. Betrug, Diebstahl und Unterschlagung gelten in unserer Kulturtradition als Sinnbilder stigmatisierten Tuns schlechthin und werden kategorial, das heißt ohne Ansehung der Motivationslage des Täters, der finanziellen Potenz des Opfers oder der Höhe des wirtschaftlichen Schadens als strafwürdig klassifiziert. Die Strafwürdigkeitseinschätzung bezieht sich auf die Deliktskategorie als solche und nicht auf die konkrete Modalität der Deliktsverwirklichung. Diese schablonenartig standardisierende, geradezu holzschnitt artig vergröbernde Bewertung180 findet ihre Ursache in der Verallgemeinerungsfähigkeit des "Eindrucks", den jene Taten beim Opfer hinterlassen - "Eindruck" im zweifachen Sinne des subjektiven Empfindens wie der objektiven Auswirkung. Die nachhaltige Eindrücklichkeit des Diebstahls erschöpft sich für das Opfer keineswegs in der Einbuße der abhanden gekommenen Sache, die regelmäßig ersetzbar und oft gegen Verlust versichert ist. Der Verlust durch Diebstahl ist 1&7 So etwa Rudolphi, in: Systematischer Kommentar, Rdnr.l vor § 1; Arthur Kaufmann, Strafrechtspraxis, S. 362 ff. Vgl. auch Amelung, Rechtsgüterschutz, S.360 sowie BVerfGE 39, 1 (46): "Aufgabe des Strafrechts war es seit jeher, die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens zu schützen." 158 Hassemer, Theorie, S. 242 ff.; Müller-Dietz, Grundfragen, S. 35 f. 159 Jakobs, Schuld, S. 24; Roxin, Zur jüngsten Diskussion, S.306. Darin besteht für Roxin der Zweck der Strafe: das Urteil der Rechtsgemeinschaft als Ergebnis einers sozialpsychologischen Wertungsvorgangs zu bestärken, so Roxin, Strafzumessung, S. 466. Dazu neuerdings Haffke, Tiefenpsychologie, S. 81 f.; ders., Strafrechtsdogmatik, S. 37 f.; Hassemer, Generalprävention, S.38f. 180 Arzt, Strafrecht BT (Vermögensdelikte, CI 1), bezeichnet folgerichtig den Diebstahl als einen "archetypischen" Tatbestand, bei dem Entkriminalisierungsbemühungen von Teilbereichen "emotionale Abwehrreaktionen" hervorrufen.
168
3. Bagatellunrecht
qualitativ anderer Art als der Sachverlust infolge Verlierens oder Zerstörung durch Naturgewalt. Der wirtschaftliche Schaden spielt eine untergeordnete Rolle; das unmittelbare Angesprochensein, die persönliche Betroffenheit durch die Tat ist es, was den Geschädigten und die Gesellschaft so stark berührt und die Tat als strafwürdig erscheinen läßt181 • Einerlei ob eine wertvolle oder eine geringwertige Sache gestohlen wird, ob der Geschädigte reich oder arm ist: die reziproke Bereitschaft, sich mit der emotionalen Befindlichkeit des Opfers zu identifizieren führt dazu, daß die Rechtsgemeinschaft sich die individuelle Betroffenheit des Opfers stellvertretend zu eigen macht getreu der Devise: "Es hätte jeden treffen können und trifft uns deshalb alle!" Dies gilt selbst für massenhaft vorkommende Delikte wie den Kaufhausdiebstahl, den Diebstahl am Arbeitsplatz, die Unterschlagung unter Eigentumsvorbehalt erworbener Sachen oder die betrügerische Nichteinhaltung von Ratenzahlungsverpflichtungen. Ungeachtet ihrer massenhaften Begehung sind solche Delikte nicht sozialadäquat162 : weder entsprechen sie sozial anerkannten Verhaltensnormen noch werden sie als völlig "normal" angesehen163 und deshalb stillschweigend gesellschaftlich toleriert wie falsches Parken; letzteres tut "man" eben, ersteres nicht, und wenn diese gesellschaftlich internalisierte Verhaltensregel faktisch noch so häufig durchbrochen werden mag. Gewiß ist es vergröbernd, von "der" Gesellschaft und ihrer Strafwürdigkeitseinschätzung zu reden - als ob die pluralistische Meinungsvielfalt sich nicht auch in einer Vielfalt gesellschaftlicher Einstellungen 181 Vgl. Dreher, Die Behandlung, S. 931: "Es trifft den Menschen in seinem Menschsein, wenn ihm ein Buch gestohlen wird, das er liebt, oder ein Vogel getötet wird, an dem er hängt, ganz gleichgültig, ob der materielle Wert nur 20,- DM ausmacht. Es trifft ihn, wenn ihm vom Nachttisch ein billiges Schmuckstück genommen oder wenn er an der Haustür von einem Zeitungswerber betrogen wird. Er fürchtet sich davor, daß nachts in der Wohnung ein fremder Mensch auftauchen und nach Beute suchen könnte, und der damit verbundene Schock, den er oder vielleicht seine kleinen Kinder von einem solchen Erlebnis davontragen könnten, wird nicht kleiner, wenn der Einbrecher nur 20 DM mitnimmt." Vgl. dazu auch Sax, Grundsätze, S.927, Anm. 54, nach dem ein Diebstahl, auch wenn es sich nur um einen Groschen handelt, immer kriminelles Unrecht sei; ebenso bereits Hellmuth Mayer, Strafbefehlsverfahren, S.408, der hervorhebt, daß es tief im Volksbewußtsein begründet sei, auch denjenigen als Dieb zu betrachten, der nur eine geringwertige Sache weggenommen hat. Ähnlich Hünerfeld, Kleinkriminalität, S. 911 f. 162 Vgl. aber Lüderssen, Grenzen, S.217. Schwer nachvollziehbar ist, wie Arzt, Zur Bekämpfung, S. 694 von der "Sozialadäquanz des Diebstahls am Arbeitsplatz" reden kann. 163 Zur unterschiedlichen Bedeutung von Sozialadäquanz als sozial anerkanntes oder völlig normalübliches Verhalten vgl. einerseits Peters, Sozialadäquanz, S. 419 ff., 427; Zipf, Rechtskonformes und sozialadäquates Verhalten, S. 633; Maurach/Zipf, Strafrecht AT, § 17 II B.; andererseits Hirsch, Soziale Adäquanz, S. 79.
3.4 Mangelnde Strafwürdigkeit des Ordnungsunrechts
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zum abweichenden Verhalten niederschlüge. Sozialethische Beurteilungen bilden sich unter je unterschiedlichen soziostrukturellen Ausgangsbedingungen und erhalten dadurch je unterschiedliche Inhalte. Sozialwissenschaftliche Kriminalitätstheorien wie die Theorie differentieller Kontakte oder die Subkulturtheorie183a lehren, daß sozialethische Wertvorstellungen durch Bezugsgruppennormen zerrspiegelartig verformt oder gar teilweise außer Kraft gesetzt werden. Das Stehlen im Warenhaus hat für den Schüler, dessen Mitschüler tagtäglich darin wetteifern, wer die wertvollste Beute vorweisen kann, nicht den Stellenwert des Diebstahls; in der Rowdyclique gilt die gewalttätige Auseinandersetzung keineswegs als verpönt, im Gegenteil: wer sie meidet, muß mit dem Ausschluß aus der Gruppe rechnen. Von zentraler Bedeutung für unseren Argumentationszusammenhang ist jedoch die Einsicht, daß auch in solch devianten Bezugsgruppen das gesellschaftliche Wertesystem präsent bleibt183b und dessen Verpflichtungskraft lediglich partiell durch "Neutralisationstechniken" - von der Ablehnung der Verantwortung über die Ablehnung des Opfers, die Verneinung des Unrechts, die Verdammung der Verdammenden bis zur Berufung auf höhere Instanzen1e3c - unterlaufen wird. Wer Warenhausdiebstahl als "Sport" betreibt, akzeptiert die gesellschaftliche Strafwürdigkeitseinschätzung des Diebstahls - und definiert seine Handlungsimperative doch so, daß das grundsätzlich als nicht hinnehmbar erkannte Verhalten in diesem besonderen Fall annehmbar, wenn nicht gar "richtig" erscheint. Die Aufhebung interner Kontrollmechanismen durch derartige Rechtfertigungsstrategien bleibt im HegeIschen Wortsinne ambivalent, insofern die Aufhebung zugleich eine überwindung wie eine Bewahrung beinhaltet und darum nichts anderes als eine besondere Form der Anerkennung darstellt. Die prinzipielle Beliebigkeit des Inhalts solch subjektiver Rechtfertigungsstrategien - jedwede soziale Norm läßt sich damit nach Gutdünken für die eigenen Zwecke zurechtstutzen - enthüllt deren Inakzeptabilität. Zugegeben: vielerlei spricht dafür, Massendelikte nicht mit den "üblichen" Begehungsformen von Diebstahl, Betrug und Unterschlagung über einen Kamm zu scheren. Gegenüber den sonstigen Begehungsformen weisen diese Delikte ein besonderes soziales Erscheinungsbild auf, welches sich dem legalen Konsumverhalten in der Wohlstands183a Zu beiden Theorien vgl. die übersicht bei Pfeiffer/Scheerer, Kriminalsoziologie, S. 36 f., 43. 183b Vgl. auch Hassemer, Einführung, S. 288. 183c Vgl. die Literaturnachweise bei Pfeiffer/Scheerer, S.43 und den Hinweis darauf, daß die "Karikaturen" des allgemeinen Wertesystems in Bezugsgruppennormen subterranean values und nicht etwa counter values darstellen.
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3. Bagatellunrecht
gesellschaft annähert und regelmäßig durch das Wecken von Konsumbedürfnissen, die die eigene Zahlungsfähigkeit übersteigen, gekennzeichnet ist. Die Anonymität und finanzielle Potenz des Geschädigten, die bewußte Gewahrsamslockerung durch die Verlockungssituation in Selbstbedienungsläden und der unkontrollierte Zugang zum Arbeitsgerät am Arbeitsplatz, der global und routinemäßig eingesetzte Eigentumsvorbehalt bei Ratenkäufen, der Anreiz zur Inanspruchnahme "großzügiger" Kredite, der Umstand, daß mit Taten in einem statistisch quantifizierbaren Ausmaß zu rechnen ist und der dadurch zu erwartende Schaden von vornherein in die Verlustkalkulation einbezogen wird all dies baut die Barriere zum fremden Rechtsgut ab und provoziert massenhafte Normverletzungen164 • Für vorbeugende gesellschaftspolitische Präventionsmaßnahmen eröffnet sich hier ein weites Feld, das von der Demystifizierung des Ideals zügellosen Konsumstrebens bis zu vielfältigen Möglichkeiten der Erschwerung des Zugangs zu fremden Gütern185 reicht. Für die strafrechtliche Einordnung derartiger Taten ist hingegen allein maßgeblich, daß diese weithin üblich gewordenen Verhaltensweisen keineswegs vom gesellschaftlichen Wertempfinden akzeptiert, sondern im Gegenteil emotionsgeladen stigmatisiert werden. Das Strafrecht muß einen Beitrag zur Stabilisierung des allgemeinen Rechtsbewußtseins leisten186 ; es muß das Rechtsbewußtsein auch und gerade dort stärken, wo anerkannte Verhaltenserwartungen zunehmend durchbrochen werden. Dies ist der Kern der zeitgenössischen Aufgabenbestimmung des Strafrechts als Integrationsprävention187 : die Einübung in Rechtstreue anzuleiten durch ein kontrafaktisches Festhalten an normativen gesellschaftlichen Erwartungen188 • Ob es sachgerecht ist, die kleinen Eigentums- und Vermögensdelikte im Ergebnis mit Strafe zu ahnden, steht auf einem anderen Blatt; auch sind gerade bei den Massendelikten überlegungen zum Ausbau flankierender außerstrafrechtlicher Reaktionsweisen unvermeidlich188 • Diese Taten völlig aus dem Anwendungsbereich des Strafrechts auszunehmen, wäre jedoch unangemessen17O , weil das gesellschaftliche Wert164 Vgl. dazu exemplarisch Blankenburg u. a., Empirische Rechtssoziologie, S.403. 185 Bezüglich des Kaufhausdiebstahls vgl. die Zusammenstellung prophylaktischer Maßnahmen bei Meurer, Die Bekämpfung, S. 17 ff. 188 Roxin, Strafzumessung, S. 467. 187 Roxin, Zur jüngsten Diskussion, S. 306; vgl. auch ders., über den Rücktritt, S. 251 ff.; ders., Schuld, S.l71 ff.; ders., über den Notwehrexzeß, S.105 ff.; Müller-Dietz, Grundfragen, S.19; Seelmann, Neue Entwicklungen, S.508; Müller-Dietz, Wie ist beim Mord, S. 93 f., 95. 188 Jakobs, Schuld, S. 10. 189 Vgl. dazu etwa Naucke, Gutachten, D 47 ff. 170 Lange, Privilegierung, S. 183 plädiert gar dafür, Ladendiebstähle schwerer zu bewerten als sonstige Diebstähle, weil das Wesentliche beim Selbst-
3.4 Mangelnde Strafwürdigkeit des Ordnungsunrechts
171
empfinden solche Verhaltensweisen ungeachtet ihres häufigen Vorkommens nicht hinnimmt, sondern grundsätzlich verurteilt. Auch wenn die normativen gesellschaftlichen Verhaltenserwartungen kontrafaktisch sind, insofern sie häufig nicht erfüllt werden, üben sie dennoch faktisch eine regulative Funktion aus, insofern sie die Geltungskraft der Verhaltenserwartungen gegen die Folgen ihrer Nichteinhaltung immunisieren und verhindern, daß die sozialpsychologische Hemmschwelle zur Begehung solcher Taten vollends in sich zusammenbricht. Mit der Zurückstufung der Bagatelleigentums- und Vermögensdelikte in Ordnungswidrigkeiten würde diese regulative Funktion sozialer Verhaltenserwartungen von Rechts wegen unterlaufen und ausgehöhlt; die Rücknahme des Strafschutzes würde in weiten Kreisen als Freibrief und Einladung zu Rechtsbrüchen mißverstanden. Zugleich wäre das Rechtsgefühl, das auch den Diebstahl geringwertiger Sachen als strafrechtsrelevantes Unrecht empfindet, aufs Empfindlichste brüskiert und verlangte nach zusätzlichen informalen Reaktionen, die den kleinen Dieb ungleich stärker brandmarkten als die nach geltendem Recht regelmäßig in Betracht kommenden171 Rechtsfolgen im Vorfeld der Bestrafung nach §§ 153, 153 aStPO. Das Unwesen der Bearbeitungsgebühren und Fangprämien beim Ladendiebstahll7la läßt in Umrissen erahnen, mit welchen noch viel stärkeren gesellschaftlichen Reaktionen eine ordnungswidrigkeitliche Behandlung der gesamten kleinen Eigentums- und Vermögensdelikte rechnen müßte, mag deren Entkrirninalisierung als solche noch so plausibel begründbar sein. Mit der Ausgliederung der Bagatelleigentums- und Vermögensdelikte würde nicht nur die ohnehin niedrige Hemmschwelle zur Begehung solcher Taten legalisiert und faktisch noch weiter herabgesetzt; dies hätte auch für die generalpräventive Wirkung des strafrechtlichen Eigentums- und Vermögensschutzes insgesamt fatale Folgen172 • Hat der bedienungskauf das Anvertrauen der Ware und damit das Wesentliche beim Diebstahl in solchen Läden der mit der Wegnahme verbundene Vertrauensbruch sei. Diese Argumentation überzeugt nicht; die freizügige Warenauslage in der Vertriebsform Selbstbedienung kann nicht als ein "Anvertrauen" verstanden werden, mit der Folge, daß der "Vertrauensbruch" ähnlich wie bei der veruntreuenden Unterschlagung erschwerend wirkt; vielmehr erleichtert die leichte Zugänglichkeit von Waren die Deliktsbegehung, indem sie die Entscheidung zum Konsum von derjenigen, dafür zu bezahlen, trennt und damit die Gelegenheit erhöht, das Erstere zu tun und das Letztere zu lassen. Insoweit überzeugend Blankenburg u. a., Empirische Rechtssoziologie, S.403. 171 Jedenfalls bei Ersttätern. Auf die zum Teil abweichenden regionalen Richtlinien zur Behandlung von Kaufhausdiebstählen wird später einzugehen sein. 171a Deren rechtliche Zulässigkeit war bis zur Grundsatzentscheidung BGH NJW 1980, 119 umstritten. 172 Vgl. Nauck:e, Gutachten, D 15: "Wird der Ladendiebstahl im Strafrecht gelassen, so wird in der Beurteilung der gesamten Kriminalität eine andere
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3. Bagatellunrecht
Gesetzgeber einmal in Strafrechtsnormen für die Allgemeinheit "plakathafte Grundsatzverbote" und "Werttafeln"173 aufgerichtet, dann darf er diese im unteren Anwendungsbereich der Norm nicht demontieren; er liefe sonst Gefahr, die abschreckende Wirkung der Norm insgesamt aufs Spiel zu setzen und das Vertrauen in ihre Richtigkeit zu erschüttern174 • Um der generalpräventiven, oder genauer: integrationspräventiven Wirkung des strafrechtlichen Eigentums- und Vermögensschutzes willen muß der Gesetzgeber sich die Rigorosität leisten, auch geringfügige Begehungsformen grundsätzlich dem Anwendungsbereich des Strafrechts zu unterstellen. Hier gilt uneingeschränkt der Satz: Wehret den Anfängen! In der Tat ist etwa die Verbreitung der Vorstellung, "ein bißchen Stehlen sei nicht strafbar", und wenn man das Pech habe, erwischt zu werden, müsse man eben wie beim falschen Parken eine Geldbuße zahlen175, jedenfalls für unseren Rechtskreis unerträglich17B • Der Hinweis, daß dies anderswo und zu anderen Zeiten anders ist bzw. war, entkräftet die Gültigkeit dieser Einsicht nicht. Der Umstand etwa, daß in den USA je nach Bundesstaat die Kontrolle bestimmter Vermögensdelikte teils strafrechtlich, teils nichtstrafrechtlich geregelt ist und dort die Integrationsprävention durch die nichtstrafrechtliche Verbrechenskontrolle offenbar keine Einbuße erleidet177 , ist auf Besonderheiten jener Gesellschaftsordnung zurückzuführen, die sich mit den Stichworten größere Permissivität, geringere staatliche Interventionsbereitschaft und gesellschaftliche Duldung privater Sanktionierungsmaßnahmen umreißen läßt. In den Niederlanden werden neuerdings Ersttäter, die einen Ladendiebstahl im Wert von weniger als 50 Gulden begangen haben, nicht mehr verfolgt; ob jene Regelung, die in dieser gewiß liberalen und permissiven Gesellschaft allseits heftige Proteste ausgelöst hat178, Bestand haben kann, bleibt abzuwarten. Bei uns sind die sozialpsychologischen Voraussetzungen einer derart weiten Rücknahme des Strafschutzes jedenfalls nicht gegeben. Die unbeEntwicklung befürwortet, als wenn der Ladendiebstahl in das Ordnungswidrigkeitenrecht oder das Zivilrecht überführt würde." 173 Jakobs, Schuld, S. 22. 174 Vgl. Hünerfeld, Kleinkriminalität, S. 911; Vogler, Möglichkeiten, S. 155 f. 175 Dreher, Die Behandlung, S. 929, geht zu weit, wenn er annimmt, dies gelte für jedes das Eigentum schützende Rechtssystem; er gelangt zu dieser unzutreffenden Folgerung, weil er von der fehlerhaften Prämisse ausgeht, es gäbe eine universell vorgegebene sozialethische Wertordnung, die die strafrechtliche Schutzwürdigkeit des Eigentums gebiete. Ebenso Lange, Der Ladendiebstahl, S. 131. 178 So auch das mehrheitliche Urteil auf dem 51. Deutschen Juristentag 1976, vgl. Schultz, Bericht, S. 993. 177 So Rössner, Strafrechtsreform, S. 142 unter Berufung auf die empirische Evaluation von Beutel. 178 Vgl. den Bericht von Vieten, in: Die Zeit Nr.53/80 vom 26. 12. 1980.
3.4 Mangelnde Strafwürdigkeit des Ordnungsunrechts
173
schadet der Sozialbindung des Art. 14 Abs. 2 GG gültige Unbedingtheit der Eigentumsgarantie und die strafrechtliche Schutzwürdigkeit ihrer Verletzung sind im Rechtsbewußtsein unserer Gesellschaft fest verankert. Selbst wenn man darin eine "neurotische Hypostasierung des Eigentums " 179 erblickt, muß das Strafrecht um seiner Integrationsprävention willen diese Einschätzung als (vorläufig) gegeben hinnehmen und auch die geringfügigen Deliktsverwirklichungen in seinem Anwendungsbereich belassen. Darauf läßt sich der vom Bundesverfassungsgericht aufgestellte, aber nicht auf bestimmte Deliktsbereiche hin präzisierte Kernbereichsvorbehalt ma beziehen, welcher besagt, daß im Kernbereich des Strafrechts die präventive Rechtskontrolle ausnahmslos und ausschließlich den Richtern anvertraut sei. Eine Ausgliederung der Bagatelleigentums- und Vermögensdelikte aus dem Anwendungsbereich des Strafrechts wäre unzulässig, nicht etwa weil diese Delikte dem Kernbereichsvorbehalt unterfielen180, vielmehr gehören sie umgekehrt hier und heute zum Kernbereich des Strafrechts, weil andernfalls das Strafrecht seine integrationspräventive Funktion nicht wirksam wahrnehmen könnte18oa • Gegenüber dem Gewicht dieser Einwände verblassen andere, mehr praxisorientierte Bedenken gegen die Auslagerung der Bagatelleigentums- und Vermögensdelikte ins Ordnungswidrigkeitenrecht: daß die Ordnungswidrigkeitenlösung die Entscheidungsverantwortung auf die insoweit nicht ausgebildeten Bußgeldbehörden überträgt, einer Unterwerfung durch den Täter eher Vorschub leistet als das bisherige Einstellungsverfahren, den Serientäter unbegründet privilegiert, und auf eine unangemessene Objektivierung hinausläuft, die bereits den Verstoß als hinreichenden Grund für die Buße nimmtl8l • Mit der zusätzlich durch eine solche Ordnungswidrigkeitenlösung implizierten Problematik der Wertgrenzenfestsetzung und der Privilegierung der leichten Eigentums- und Vermögensdelinquenz gegenüber anderen geringfügigen Delikten, die sich nicht mittels einer Wertgrenze eindeutig erfassen lassen, werden wir uns später eingehend zu befassen haben. Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 50, Fn. 157. BVerfGE 22,49 ff. (81); 27, 18 ff., 28 ff. 180 So aber Dreher, Die Behandlung, S. 929 ff.; Göhler, 9. Sitzung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, Deutscher Bundestag, 7. Wahlperiode, Stenographischer Dienst, S. 188 f. Dies ist gleichermaßen eine petitio principii wie der Versuch, jene Delikte unter Berufung auf die Verletzung angeblich präexistenter sozialehtischer Werte apriorisch dem Strafrecht zuzuweisen. Vgl. dazu Ahrens, Die Einstellung, S.241; Naucke, Gutachten, D 88; Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 200. 180a Die Kernbereichsthese ist rein formal und konkretisierungsbedürftig; was sie actualiter umfaßt, läßt sich nur im Hinblick auf die jeweiligen gesellschaftlichen Bedürfnisse nach Strafschutz angeben. 181 Zusammenfassend: Kaiser, Möglichkeiten, S. 894 f.; vgl. auch Ahrens, Die Einstellung, S. 238 ff. 179
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3. BagatellunreCht 3.43 Zivilrechtliche Sanktionsverfahren für Bagatelldelikte?
Die kriminalpolitische Notwendigkeit zur Entkriminalisierung von Bagatelldelikten und die Ungangbarkeit des Ordnungswidrigkeitenweges läßt daran denken, bestimmte Sektoren von Bagatellkriminalität aus dem Strafrecht auszugliedern und das Zivilrecht dafür allein zuständig zu machen. Dieser Vorschlag ist weniger rigoros als die Ordnungswidrigkeitenlösung, weil nach geltendem Recht im Bagatellbereich ohnehin bereits ein Nebeneinander von Strafrecht und Zivilrecht besteht. Die Überschneidung von Strafrecht und Zivilrecht zeigt sich etwa in der wechselseitigen Anrechenbarkeit von strafrechtlich auferlegter Wiedergutmachung (§ 153 a Abs. 1 Ziff. 1 StPO) und zivilrechtlicher Schadensersatzleistung und im Adhäsionsverfahren nach §§ 403 ff. StPO. Vor allem aber hat das Opfer von Bagatelleigentums- und Vermögensdelikten nach geltendem Recht die Möglichkeit, zwischen allein zivilrechtlichem Schadensausgleich und zusätzlicher Initiierung eines Strafverfahrens durch Anzeigenerstattung und Strafantragstellung zu wählen188 • Diese Wahlmöglichkeit gewinnt dort an Brisanz, wo das Vikariieren des Opfers zwischen dem Einsatz strafrechtlicher und/oder rein zivilrechtlicher Mittel wegen der Vielzahl der Fälle gesellschaftspolitische Bedeutung erlangt, also namentlich in den Bereichen der Beförderungserschleichung durch Schwarzfahren in öffentlichen Nahverkehrsmitteln, des Kaufhausdiebstahls und des Diebstahls am Arbeitsplatz. Beim Schwarzfahren in öffentlichen Nahverkehrsmitteln wird von den Unternehmen jedenfalls bei Ersttätern regelmäßig auf Anzeigeerstattung und Strafantragstellung verzichtet; beim Kaufhausdiebstahl wird hingegen so gut wie immer das Strafrecht mobilisiert189 ; beim Diebstahl am Arbeitsplatz läßt sich wegen der unterschiedlichen Handhabung in den einzelnen Betrieben keine einheitliche Tendenz erkennen1Do • Angesichts der Massenhaftigkeit und kriminologischen Vergleichbarkeit m dieser in hohem Maße typisierten Delikte wäre eine einheitliche Handhabung wünschenswert, die sich durch eine Ausgliederung der Kaufhaus- und Betriebsdelinquenz aus dem Anwendungsbereich des Strafsind entfallen. Diese Wahlmöglichkeit ist freilich insoweit eingeschränkt, als die Strafverfolgungsbehörde ungeachtet des Verzichts auf Strafantragstellung die Strafverfolgung bei Bejahung eines besonderen öffentlichen Interesses gleichwohl betreiben kann (vgl. etwa § 248 a StGB). Die dominierende Bedeutung privater Anzeigeerstattung für die Initiierung des Strafverfahrens zeigt sich daran, daß nur zwischen 2 und 6 % aller Ermittlungsverfahren ohne Anzeige eingeleitet werden, vgl. Steffen, Inhalte, 67. 189 Vgl. hierzu die Nachweise bei Kunz, Die Einstellung, S. 105 f. sowie Kramer, Ladendiebstahl, S. 66; Berckhauer, Soziale Kontrolle, S.232. 190 Vgl. Betriebsjustiz, S. 48 ff. m Für Ladendiebstahl und Schwarzfahren Blankenburg u. a., Empirische Rechtssoziologie, S. 403. 182-187
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3.4 Mangelnde Strafwürdigkeit des Ordnungsunrechts
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rechts und die Schaffung zivilrechtlicher Sanktionen über den bloßen Schadensausgleich hinaus erreichen ließe. Diesen Weg haben die vom Alternativkreis vorgelegten Gesetzentwürfe zum Ladendiebstahp92 und zur Betriebsjustiz l93 eingeschlagen. Der Ladendiebstahlsgesetz-Entwurf soll Anwendung finden bei nicht mehr als zwei Taten binnen zwei Jahren, sofern der Verkaufspreis der gestohlenen Sache den Betrag von DM 500,- nicht übersteigt. Der Verletzte kann neben der Rückgabe der erlangten Ware zusätzlich als Sanktion den Ladenpreis, mindestens DM 50,- oder gegen Herausgabe der Ware den doppelten Ladenpreis verlangen; jede Sanktion wird in ein zentrales Register neuer Art eingetragen. Bedenken gegen den Ladendiebstahlsgesetz-Entwurf erheben sich gerade deshalb, weil er nicht wie das Ordnungswidrigkeitenmodell eine radikale Alternative zum geltenden Recht formuliert, sondern den Pragmatismus des vom Opportunitätsprinzip regierten Einstellungsverfahrens wegen Geringfügigkeit konsequent fortführt und weit darüber hinaus ausdehnt. Dem privaten Verletzten wird ein freies Belieben über Einleitung und Fortführung des Sanktionsverfahrens, über die Höhe der Inanspruchnahme des Täters von Null bis zum doppelten Ladenpreis und über die Vollstreckung der Sanktion zugestanden1G4 ; diese nahezu autonome Gestaltungsmöglichkeit von Verfahren, Sanktion und deren Betreibung durch den Verletzten bei gleichzeitiger Offenheit der Folgen für den Täter treibt die in Grenzen unumgängliche pragmatische Behandlung der Bagatellkriminalität auf die Spitze, zumal dem Verletzten die Rolle des Ermittlers und zugleich des Richters zugewiesen wird. Durch den Gesetzentwurf werden damit keineswegs bloß immer schon vorhandene zivilrechtliche Möglichkeiten des Verletzten "aktiviert" 195, vielmehr wird im Gewande des Zivilrechts ein neues Rechtsinstitut geschaffen, welches auf eine Wiedererweckung der nahezu einmütig abgelehntenl96 Privatstrafe hinausläuft197 • Zwar sind dem heutigen 192 193 194 195 196
Arzt u. a., Entwurf eines Gesetzes gegen Ladendiebstahl. Arzt u. a., Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Betriebsjustiz. Naucke, Gutachten, D 101. So aber Arzt u. a., Entwurf eines Gesetzes gegen Ladendiebstahl, S. 9. Umfangreiche Nachweise bei Grossfeld, Die Privatstrafe, S. 12 ff. 197 Hirsch, Zur Behandlung, S.240. Eine Privatstrafe ist nach heute ganz allgemein geteilter Meinung bereits dann anzunehmen, wenn der mit der Sanktion verbundene Schaden für den Täter nicht dem Staate allgemein, vielmehr dem durch die Tat verletzten Privaten zugute kommt. Darüber hinaus erfüllt die im Entwurf vorgeschlagene Sanktion auch die früher erhobenen strengeren Anforderungen der Privatstrafe: Abhängen von Verfolgung, Bestrafung und Sanktionshöhe vom Willen des Verletzten sowie Vollstrekkung der Strafe durch den Verletzten selbst. Zu den Begriffsmerkmalen der Privatstrafe vgl. Grossfeld, Die Privatstrafe, S. 9 ff.
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3. Bagatellunrecht
Zivilrecht pönale Elemente nicht völlig fremd, wie sich etwa bei der Vertragsstrafe (§§ 339 ff. BGB), den verschiedenen Funktionen des Schmerzensgeldes insbesondere bei Verletzung von Persönlichkeitsrechten und bei den Voraussetzungen der außerordentlichen Kündigung im Arbeitsrecht zeigt. Dennoch erhält das Zivilrecht mit der im Entwurf vorgesehenen Regelung eine völlig neue Dimension durch den Versuch, die heterogenen Ziele des zivilrechtlichen Schadensausgleichs und der strafrechtlichen Ahndung in ein und derselben Maßnahme zu verbinden und ihre Einlösung dem privaten Verletzten zu überantworten. Die vorgesehene Sanktion erfüllt über den bloßen Schadensausgleich hinaus durch die Ahndung der Tat eine pönale Aufgabe. Dies zeigt sich deutlich daran, daß die Tat registriert und der Täter bei mehrfacher Wiederholung kriminalrechtlich belangt wird 198 ; anders ließe es sich auch nicht rechtfertigen, daß der Geschäftsinhaber nach § 12 des Entwurfs ordnungswidrig handelt, wenn er von der Sanktion Gebrauch macht, ohne das vorgeschriebene Registrierungsverfahren einzuleiten. Schadensreparation und pönale Ahndung in derselben Maßnahme zu verknüpfen, ist weder rechtsdogmatisch noch gesellschaftspolitisch vertretbar. Pönale Ahndung gleicht die Verletzung des Geltungsanspruchs einer Norm aus und dient der Verhinderung neuer Taten gegen die durch die Norm geschaffene Klasse von Rechtsgütern; Schadensersatz gleicht die Verletzung des durch die gleiche Norm geschaffenen Guts aus und dient einzig dem Ausgleich für die begangene Tat, auch wenn damit wie bei jeder Leistung als Nebeneffekt eine entsprechende Steuerungswirkung auf den zur Leistung Verpflichteten verbunden sein mag. Dieser prinzipiell unterschiedlichen Zweckbestimmung entsprechen prinzipiell unterschiedliche Maßkriterien für die Höhe des Ausgleichs: bei der Beeinträchtigung eines normativ geschützten Guts bemißt sich der Umfang des Reparationsanspruchs nach dem Umfang des Interesses des verletzten Guts für den Berechtigten, bei der Integritätseinbuße einer Norm bestimmt sich der Umfang des Ahndungsanspruchs nach dem Ausmaß des Abweichens von der Norm und dem Grad der Präventions198 Hirsch, Zur Behandlung, S.240. Anders ohne nähere Begründung Kramer, Willkürliche oder kontrollierte Warenhausjustiz, S.1611; Kramer, Ladendiebstahl, S. 63 f. meint, daß schon bei der gängigen Praxis der Einbehaltung einer Bearbeitungsgebühr die Schadensausgleichsfunktion völlig hinter die präventive Straffunktion zurücktrete. Dagegen nunmehr ausdrücklich BGH NJW 1980, 119 (121). Daß der Entwurf in Anbetracht der vorgesehenen Sanktionshöhe die Zuständigkeit des Zivilrechts eindeutig überschreitet, zeigt diese Grundsatzentscheidung des BGH: das Gericht billigt dem Warenhaus gegenüber dem Warendieb die Erstattung von Bearbeitungskosten gar nicht, die Erstattung einer vor dem Diebstahl ausgesetzten Fangprämie nur in angemessenem Umfang, in der Regel bis zu DM 50,-, zu; bei Waren von ganz unbedeutendem Wert ist auch diese Prämienpauschale unverhältnismäßig. Zu Rechtslage und faktischer Handhabung in Österreich vgl. Burgstaller, Der Ladendiebstahl.
3.4 Mangelnde Strafwürdigkeit des Ordnungsunrechts
177
bedürftigkeit. Beide Aufgaben können wegen ihrer Heterogenität nur getrennt verwirklicht werden199 ; sie zu vermengen und die Präventionsaufgabe dem privaten Verletzten aufzubürden, heißt nichts anderes als das Präventionsziel dem Geschäftsinteresse unterzuordnen. Der Einzelhandel kann es sich nicht leisten, der Zweckbestimmung des Ahndungsanspruchs Genüge zu tun, vielmehr muß die private Bekämpfung des Kaufhausdiebstahls nach betriebswirtschaftlichen Erwägungen des Einzelhandelsunternehmens erfolgen: über Maßnahmen zur Verhinderung, Entdeckung und Schadensabwälzung entscheidet allein die ökonomische Faktorenanalyse, in der Diebstahlsmöglichkeit, Verfolgungsintensität und Höhe der Inanspruchnahme von Tätern im Hinblick auf die betriebliche Ertragssituation kostenmäßig zu kalkulieren sind 20o • So steht zu befürchten, daß Warenhäuser und Selbstbedienungsläden, die in eigener Sache urteilen, nicht nach kriminal pädagogischen Gesichtspunkten vorgehen, sondern ihre Verfolgungspolitik daran ausrichten, was dem Hause nützt201 • Nicht auszuschließen ist auch die Gefahr eines "umgekehrten Schlußverkaufs" im Sinne des Fassens von Tätern zur Erzielung des doppelten Verkaufspreises 202 • Die Verknüpfung von Geschäftsinteresse und Prävention ist im Entwurf gewollt, weil man sich von dem durch das Eigeninteresse gesteigerten Anreiz zur Ahndung eine intensive Verfolgung und dadurch eine größere Abschreckungswirkung verspricht203 • Die Übertragung der Sanktionskompetenz vom Staat auf den privaten Verletzten ist von einem unausgesprochenen Mißtrauen gegen die 199 Zu diesen rechtsdogmatischen überlegungen aus der Sicht des Zivilrechts grundlegend J. Schmidt, Schadensersatz, insbes. S. 48 ff., 69 mit zahlreichen Belegen insbesondere des anglo-amerikanischen Diskussionsstandes. Vgl. auch BGH NJW 1980, 119: "Der Eigentumsschutz, den das Haftungsrecht ... sichert, erstreckt sich nicht auf die Verwirklichung des Strafanspruchs, mag die Klägerin hieran auch ein Interesse haben, um sich auf diesem Weg vor künftigen Rechtsverletzungen der Beklagten zu schützen. Insoweit wird dem Ersatzanspruch durch die Aufgabe der Haftungsnorm, den Einbruch in die Schutzsphäre des Betroffenen mit Mitteln des Zivilrechts auszugleichen, Grenzen gesetzt (S. 120) ... Ein über den Schadensausgleich hinausgehender Zuschlag zur Erhöhung der Abschreckungswirkung wird durch den zivilrechtlichen Schadensersatz nicht, auch nicht bei vorsätzlicher Schädigung, gedeckt. Ebenso ist, wie ausgeführt, bei Bemessung des erstattungsfähigen Aufwands dem Grundsatz Rechnung zu tragen, daß der ertappte Warendieb nicht für die Erscheinung des Warendiebstahls als eines Massendelikts, sondern nur für den eigenen Tatbeitrag einzustehen hat" (S. 121). 200 Vgl. Meurer, Die Bekämpfung, S. 13; Zöllner, Der Ladendiebstahl. 201 So Kramer, Ladendiebstahl, S. 65. 202 Berckhauer, Soziale Kontrolle, S.235; vgl. auch Schoreit, Der im Zusammenhang, S. 5. 203 Ebenso Meurer, Die Bekämpfung, S. 41: "Im Blick auf die generalpräventiv-prophylaktische Einwirkung auf das Selbstbedienungssystem ist die Selbststeuerung durch den Markt optimal."
12 Kunz
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3. Bagatellunrecht
generalpräventive Effektivität des aktuellen Strafrechts geleitet; dem privaten Verletzten wird ein rigoroseres und darum generalpräventiv wirksameres Durchgreifen zugetraut2OC , weil dieser jugendliche und erwachsene, planende und nachlässige Täter, die der Versuchung nicht widerstehen, Schuldunfähige und voll Verantwortliche gleich behandeln kann und die Individualität der Tat, das spezielle Ausmaß des Verschuldens sowie spezial präventive Erwägungen nicht zu berücksichtigen braucht205 • Die zivilrechtliche Ausgestaltung des Sanktionierungsverfahrens erfüllt im Gesetzentwurf damit eine ambivalente Funktion: formal dient sie zur Entkriminalisierung, materiell zur Steigerung der Abschreckungswirkung bei gleichzeitiger Vernachlässigung individualisierender, spezialpräventiver Gesichtspunkte 208 • Dies erklärt, warum der Gesetzentwurf seinen Anwendungsbereich mit einer Schadenshöhe bis zu DM 500,- weit über das Gebiet der Bagatelldelinquenz hinaus erstreckt: der Entwurf muß praktisch sämtliche, nicht bloß die geringwertigen Ladendiebstahlsfälle erfassen, um die beabsichtigte generalpräventive Durchschlagskraft zu erzielen; durch die Einführung einer niedrigeren, der Bagatelldelinquenz angemessenen Wertgrenze würde bei Taten, die jene Grenze übersteigen, der finanzielle Anreiz für den Geschädigten zum Einschreiten genommen und der Täter womöglich besser gestellt als bei der Entwendung geringwertiger Sachen207 • Damit aber wird im Bereich des Kaufhausdiebstahls die Entkriminalisierungsgrenze auf einen Betrag angehoben, der sich bei der übrigen Eigentumsund Vermögensdelinquenz nicht durchsetzen läßt; dies führt zu zusätzlichen Ungleichbehandlungen und zu einer unerträglichen Zersplitterung der Reaktionen auf Bagatelldelinquenz208 • Die einseitige Ausrichtung auf 204 Ein Beleg dafür ist, daß Arzt dem Staat ausdrücklich vorwirft, durch eine unklare Einstellungspraxis den strafrechtlichen Schutz des Geschädigten in verschleierter Form abzubauen, so Arzt, Offener oder versteckter Rückzug, S.57. 205 Vgl. Naucke, Gutachten, D 99. Berckhauer, Soziale Kontrolle, S.235 bezweifelt, ob sich dadurch eine Effektivierung der Generalprävention tatsächlich erzielen läßt. Insgesamt kritisch auch Bergfelder, Ladendiebstahl, S. 100 ff. 206 Vgl. Arzt u. a., Entwurf eines Gesetzes gegen Ladendiebstahl, S.1O: "Steigerung der Präventionswirkung bei gleichzeitiger Entkriminalisierung." Dies haben offenbar auch Blankenburg u. a., Empirische Rechtssoziologie, S.398 im Auge, wenn sie formulieren: "Der Unwertgehalt kann geringer bewertet und gleichzeitig - zum Teil hierdurch - das Sanktionensystem ,effektiver' gestaltet werden." Ähnlich Baumann, Eine Bagatelle, S.269: "Keine weiche Welle." 207 So ausdrücklich Arzt u. a., Entwurf eines Gesetzes gegen Ladendiebstahl, S.14. Insofern ist es keineswegs gleichgültig, ob man Entkriminalisierung des Ladendiebstahls durch eine überweisung in das Ordnungswidrigkeitenrecht oder durch "private Verwaltung von Geldbußen" organisiert, so aber Blankenburg u. a., Empirische Rechtssoziologie, S. 426. 208 Naucke, Gutachten, D 104; Hirsch, Zur Behandlung, S.240. Plastisch Rössner, Bagatelldiebstahl, S.223: "Es erschiene auch reichlich künstlich, wollte man nun einen Bagatelldiebstahl eines auf dem Lande wohnenden
3.4 Mangelnde Strafwürdigkeit des Ordnungsunrechts
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Abschreckung bewirkt ähnlich wie bei der Ordnungswidrigkeitenlösung eine Verobjektivierung des Vorwurfs gegenüber dem Täter und darüber hinaus eine Willkürlichkeit von Sanktionierungsverfahren und Sanktionshöhe, verglichen mit der die rechtsstaatlich nicht unbedenkliche Einstellungslösung des geltenden Rechts als ein rechtsstaatlicher Fortschritt erscheinen muß. Der Ladendiebstahlsgesetz-Entwurf führt jenen bedenklichen Zustand herbei, den die öffentlichen Nahverkehrsunternehmen durch Beförderungsbedingungen gegenüber Schwarzfahrern bereits hergestellt haben: ein ausschließlich an schlagkräftiger Prävention interessiertes formloses Quasi-Strafverfahren, dessen Ausgestaltung weitgehend dem Belieben der zugleich ermittelnden und richtenden privaten Kontrolleure unterliegt, und welches eine pauschale Beweiswürdigung, eine Erschwerung der Verteidigungsmöglichkeiten insbesondere sozial Schwacher, die Aufwand und Kosten eines Zivil verfahrens scheuen, sowie eine faktische Aufhebung der Unschuldsvermutung nach sich zieht20D • Der Betriebsjustizgesetz-Entwurf begegnet ähnlichen Einwänden. Der Entwurf sieht vor, Kleinkriminalität im Betrieb, bei Vermögensdelikten bis zu einer Schadenshöhe von DM 500,- der Strafjustiz zu entziehen und stattdessen ein betriebsinternes Verfahren einzuführen, das auf Antrag der Geschäftsleitung, des Betriebsrats oder des Verletzten einzuleiten ist und in dem Sanktionen von einer Verwarnung über Geldbußen von maximal DM 1000,- bis hin zur Kündigung verhängt werden können; bei Betrieben unter 50 Mitarbeitern soll eine außerbetriebliche, bei den zuständigen gewerblichen oder berufsständischen Kammern einzurichtende Schiedsstelle - besetzt aus je einem Schiedsmann Jugendlichen aus dem Garten eines Fremden als Kriminaldelikt behandeln, während der Ladendiebstahl eines Jugendlichen in der Stadt, dem sich allein diese Gelegenheit bietet, grundsätzlich anders einzustufen wäre. Nur wenn man gerade den Ladendiebstahl als ,Pseudokriminalität', hervorgegangen aus kapitalistischer Absatzstrategie, ansehen würde, könnte diese partielle Entkriminalisierung gerechtfertigt sein. Zudem scheint gerade die Ausdehnung bis zu der weit über jeden nach den vorliegenden Ergebnissen vertretbaren Bagatellbereich hinausgehenden Grenze von 500 DM das Merkmal der Typizität innerhalb des Ladendiebstahls selbst zu verlassen. Die Tat mit Mundraubcharakter kann kaum mit der gestohlenen Lederjacke verglichen werden." 20D Ähnlich Naucke, Gutachten, D 102. Vgl. auch Hirsch, Zur Behandlung, S. 249, der wegen der durchgreifenden Bedenken lapidar feststellt, der Entwurf sei seit dem 51. Deutschen Juristentag 1976 vom Tisch; der auch vom Deutschen Richterbund abgelehnte Entwurf (vgl. DRiZ 1976, S. 176) erhielt bei der Abstimmung auf dem Juristentag nur 18 von 154 abgegebenen Stimmen. Geerds, über mögliche Reaktionen, S. 226, bezeichnet die Warenhausjustiz als einen "rechtlich ungesicherten Wildwucher, ... der sich ebenso wie bei den Schwarzfahrern auch schon bei Ladendiebstahl breitgemacht hat". Daß im übrigen bei dem Entwurf der Teufel im Detail steckt, hat der Mitverfasser Arzt selbst überzeugend dargetan, vgl. Arzt, Offener oder versteckter Rückzug, S.697.
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3. Bagatellunrecht
der Arbeitgeber-, einem der Arbeitnehmerseite und einem öffentlich bestellten Vorsitzenden - die Entscheidung treffen. Wie der Ladendiebstahlsgesetz-Entwurf schreibt der Betriebsjustizgesetz-Entwurf bestehende Praktiken privater Sozialkontrolle fest und erweitert deren Kompetenzbereich beträchtlich. Die Einwände gegen bislang bereits praktizierte Formen der Betriebsjustiz, die sich insbesondere darauf beziehen, daß die Entscheidungen durch betriebsbezogene Tätermerkmale wie Dauer der Betriebszugehörigkeit, Stellung im Betrieb, Ersetzbarkeit, Beliebtheit und Gewerkschaftsmitgliedschaft beeinflußt werden 210 , lassen sich gleichermaßen gegen die Regelung des Entwurfs erheben. Darüber hinaus begegnet der Gesetzesvorschlag rechtsstaatlichen Bedenken, die sich aus dem staatlichen Rechtsprechungsmonopol (Art. 92 ff. GG) und seiner Funktionsmaximen herleiten. Im Gegensatz zu den tradierten Formen innerbetrieblicher Konfliktbereinigung werden im Entwurf der Betriebsjustiz Aufgaben materieller Rechtsprechung überantwortet, die nach unserem Verfassungsverständnis staatlichen Gerichten vorbehalten sind. Während die innerbetrieblichen Schiedsstellen noch als private Institutionen kategorisiert werden können, gilt dies für die bei den Kammern angesiedelten Schiedsstellen für kleinere Betriebe nicht mehr. Sie wären nach Struktur und personeller Besetzung bereits derart öffentlich-rechtlichen Organisationsprinzipien verpflichtet, daß funktionell wie organisatorisch ein Eingriff in das staatliche Rechtsprechungsmonopol vorläge; es handelte sich hier bereits um staatliche Spruchkörper mit quasi-justizieller Funktion211 • Auch hinsichtlich des Aufgabenbereichs der Schiedsstellen tangiert der Entwurf dieses Monopol und seine Ordnungsvorbehalte: die Zuständigkeit der Schiedsstellen ist nicht auf die Regelung von Verstößen gegen die innerbetriebliche Ordnung beschränkt, sondern erstreckt sich zugleich auf die Sanktionierung im Betrieb begangener leichter und mittlerer Straftaten. Mit der zivilrechtlichen Ausgestaltung wird damit neben Entkriminalisierung ein weiteres Ziel verfolgt, welches den formalen Rahmen der überkommenen zivil- bzw. arbeitsrechtlichen Kompetenzen sprengt; in Wahrheit handelt es sich hier nicht um ein arbeitsrechtliches, vielmehr um ein sektoral der GeseZZschajtsjustiz nachgebildetes Konzept 212 , wie sie in sozialistischen Gesellschaftsord210 Zu praktizierten Formen der Betriebsjustiz vgl. insbes. Betriebsjustiz, S. 68 ff., zur Relevanz betriebsbezogener Tätermerkmale für die Entscheidungsfindung S. 148 ff. Zu den rechtsstaatlichen Anforderungen vgl. BAG
E 20, 79 (87 f.).
Betriebsjustiz, S. 340 f. Hirsch, Zur Behandlung, S. 241. Von daher erhebt sich die Frage, warum ausschließlich die Betriebskriminalität und nicht etwa die Delinquenz in anderen Bereichen engeren Sozialkontakts, etwa in der Nachbarschaft und im Vereinsleben, in den Vorzug der Entkriminalisierung kommen soll. Die 211 212
3.4 Mangelnde Strafwürdigkeit des Ordnungsunrechts
181
nungen praktiziert wird 213 • Aus dieser rechtsstaatlich fragwürdigen Konzeption einer "stellvertretenden Strafrechtspflege"214, die sich mit betriebsbezogenen Straftaten bis hin zur mittelschweren Kriminalität befassen soll, ergeben sich im Hinblick auf Art und Höhe der Sanktionen zwangsläufig Ungereimtheiten. Angesichts des auch die mittelschwere Kriminalität umfassenden Anwendungsbereichs kann auf einschneidende Maßnahmen wie die Entlassung und die Geldbuße bis zur Höhe eines monatlichen Einkommens nicht verzichtet werden. Wenn freilich die Entlassung als Sanktionierungsinstrument vorgesehen wird, hat dies Auswirkungen auf das Verständnis der Kündigung des Arbeitgebers insgesamt: die Kündigung erscheint dann nicht mehr wertneutral als ein Akt zur einseitigen Lösung der Arbeitsverhältnisse, sondern zumindest tendenziell schlechthin als Stigmatisierungsmaßnahme. Mit der Aufnahme der Entlassung in den Sanktionenkatalog wird der Sinn der Konfliktbewältigung im sozialen Nahraum215 verfehlt. Die staatliche Justiz hat sich mit der Abschaffung der Todesstrafe und der Deportation mit guten Gründen der Möglichkeit begeben, Täter nach eigener Entscheidung "loszuwerden"; was hier unter dem Gesichtspunkt der Resozialisierung unzulässig erscheint, findet im Entwurf über die Hintertür der Entlassung erneut Eingang216 • Zudem sind die Auswirkungen der Entlassung in ihrem Schweregrad nicht abschätzbar, weil die Möglichkeiten zur Wiedererlangung eines gleichwertigen Arbeitsplatzes von Unwägbarkeiten wie wechselnder Arbeitsmarktsituation und Konjunkturlage, Bereitschaft zu Mobilität und Berufswechsel abhängt217 • Im Vergleich zu den maßvollen Geldbußen der bisherigen Betriebsjustizpraxis, die sich an der Höhe eines mittleren Tadesverdienstes als oberste Grenze orientieren, scheint der im Entwurf vorgesehene Geldbußenrahmen weit überzogen218 • Gesellschaftsgerichtsbarkeit der DDR etwa sieht in § 28 Abs. 2 und 3 DDRStGB eine umfassende Zuständigkeit der gesellschaftlichen Organe der Rechtspflege für Vergehen im Zusammenhang mit Verpflichtungen der Arbeitskollektive, der Hausgemeinschaften, der Brigaden oder anderer Kollektive vor. Auch unser Rechtssystem kennt über den Bereich der Betriebsjustiz hinaus vielfältige Formen der Privatjustiz, die sich mit den Stichworten der Verbandsjustiz, insbesondere in der Sport-Schiedsgerichtsbarkeit, oder der Versicherungsjustiz andeuten läßt. 213 Zur Gesellschaftsgerichtsbarkeit und der Problematik der Übertragung auf unser Rechtssystem vgl. Eser, Gesellschaftsgerichte. 214 Betriebsjustiz, S. 370. 215 So ausdrücklich die Zielvorgabe des Entwurfs, vgl. Vorbemerkungen, S.17. 21ft Betriebsjustiz, S. 368. 217 Vgl. Betriebsjustiz, S. 369. 218 Betriebsjustiz, S. 369 f. Auch darin zeigt sich das den Entwurf prägende Konzept einer stellvertretenden Strafrechtspflege: bei der Geldbußenbestimmung soll das Nettoeinkommensprinzip des § 40 StGB zugrundegelegt werden.
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3. Bagatellunrecht
Wie jedes Gesellschaftsjustizmodell setzt sich der Entwurf dem Vorwurf aus, soziale Institutionen zu überwachungsaufgaben heranzuziehen und dadurch verstärkt gesellschaftliche Zwänge zu produzieren. Der Betrieb ist danach für den Arbeitnehmer nicht mehr bloße Erwerbsquelle, sondern wirkt zugleich als Instrument sozialer Kontrolle!18; welche Auswirkungen dies auf Arbeitsklima und gewachsene zwischenmenschliche Beziehungen hat, ist evident: gegenseitiges Mißtrauen und Bespitzelung, Denunziantentum und überreaktionen wären fast unvermeidlich. Der Betriebsklatsch könnte Verfahren initüeren, bei denen eine erfolgreiche Verteidigung wegen festsitzender Vorurteile schier aussichtslos ist. Innerbetrieblich verhängte Sanktionen bewirkten ein Ausmaß an sozialer Diskriminierung und Stigmatisierung, verglichen mit dem die staatliche Strafe schon fast als Wohltat erscheintl!o. Wenngleich im Verfahren vor der Schiedsstelle die Öffentlichkeit nur auf Antrag des Betroffenen zugelassen werden soll, würden Verfahrensablauf und -ausgang zwangsläufig zum Gesprächsstoff unter Arbeitskollegen, wodurch die zwischenmenschlichen Beziehungen im sozialen Nahraum der Arbeitsstelle auch bei erfolgreich durchgestandenem Verfahren nachhaltig beeinträchtigt würden. Eindeutig eine unzulässige Degradierung des Verurteilten zum bloßen Verfahrensobjekt, die einer Anprangerung gleichkommt, stellt es dar, wenn der Entwurf um der wohlfeilen Abschreckungswirkung willen eine betriebsöffentliche Bekanntmachung der Entscheidung vorsieht221 • Die Versuche zivilrechtlicher Behandlung der Kaufhaus- und Betriebsdelinquenz belegen, daß Entkriminalisierung durch Schaffung zivilrechtlicher Sanktionierungsverfahren offenbar zwangsläufig auf eine jedenfalls faktische Verschärfung der Reaktionen bei gleichzeitiger Erschwerung der Verteidigungsmöglichkeiten hinausläuft. Entkriminalisierung und zugleich effiziente Verhinderung abweichenden Verhaltens ist nur machbar in einem Konzept, welches auf rigorose Abschreckung potentieller Folgetäter setzt und deshalb die strikte Einhaltung rechtsstaatlicher Verfahrensregeln sowie die Berücksichtigung individueller Täterbelange vernachlässigt. Die staatliche Strafgewalt kann es sich Hirsch, Zur Behandlung, S. 241. Nicht zufällig haben sich darum die Gewerkschaften gegen den Entwurf ausgesprochen und ihn als "völlig realitätsfem", "in der Studierstube entstanden" kritisiert, vgl. IG-Metall Pressedienst vom 13.8.1975. 221 Die Bekanntmachung ist an die Voraussetzung geknüpft, daß der "Betriebsfriede auf andere Weise nicht wieder herzustellen ist" (§ 3 Abs. 4). Dem Betriebsfrieden dürfte eine derartige Anprangerung in keinem Falle dienlich sein. Allenfalls ließe sich in den Fällen, in denen das Strafrecht eine Veröffentlichungsbefugnis des Verletzten vorsieht (§§ 165, 200 StGB) , an einen betriebsöffentlichen Anschlag denken. Vgl. dazu Betriebsjustiz, S. 372 f. 219
220
3.4 Mangelnde Strafwürdigkeit des Ordnungsunrechts
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jedenfalls in Grenzen leisten, individualisierend zu verfahren und bei Kleinkriminalität allenfalls symbolisch zu reagieren, wird hier doch Generalprävention bereits durch das plakathafte Grundsatzverbot der Strafnorm erzielt!!2. Wer hingegen den Anwendungsbereich des Strafrechts zurücknimmt und zivilrechtliche, das heißt für sich genommen nicht diskriminierende und stigmatisierende Maßnahmen an dessen Stelle setzt, muß durch Effektivierung des Verfahrens, härtere Sanktionierung und Ermöglichung faktischer Diskriminierung und Stigmatisierung dafür Sorge tragen, daß Normbrüche nicht überhand nehmen; die Rigorisität des Durchgreifens ist der Preis, der für die Vberführung von Strafbarkeitsbereichen ins Zivilrecht gezahlt werden muß. In der dem Gebot der Zeit entsprechenden und deshalb der Kritik enthobenen Form der Entkriminalisierung von Bagatelldelikten wird inhaltlich deren Loslösung von justizförmigen Verfahrensgarantien betrieben und eben dadurch die Abschreckungswirkung verstärkt. Das Unwerturteil des Zivilrechts hat in der sozialpsychologischen Einschätzung einen ungleich geringeren Stellenwert als das des Strafrechts und wirkt deshalb weniger verhaltenssteuernd; durch die Ausweitung gefahrenträchtiger, potentiell haftungsbegründender Sachverhalte einerseits und die zunehmende Risikoabdeckung durch Versicherungen andererseits hat das Recht der unerlaubten Handlung seine Präventionswirkung weitgehend eingebüßt2!!a. Ein zivilrechtlich ausgestaltetes Sanktionsverfahren für Bagatelldelikte, das den Ladendiebstahl strukturell denselben Erkenntnis- und Entscheidungsregeln unterwirft wie die schuldhafte Verursachung eines Verkehrsunfalls, muß die sozialpsychologische Wertungsdifferenz zwischen Bagatellstraftat und rein zivilrechtlich unerlaubter Handlung wiederherstellen und die geringere Präventionswirkung des Zivilrechts wettmachen durch eine Verschärfung der Repression gegenüber dem Ladendieb. Dies erklärt, warum Vorschläge zur Ersetzung strafrechtlicher durch zivilrechtlich ausgestaltete Sanktionsverfahren bislang nur für bestimmte Kriminalitätsbereiche vorgebracht worden sind. Die gesamte !!! Daß dieser generalpräventive Effekt der Strafnorm faktisch nicht immer wirksam ist, steht auf einem anderen Blatt und spricht jedenfalls nicht grundsätzlich gegen die Aufrechterhaltung dieser These. Die Furcht vor der "Schande", in ein Strafverfahren verstrickt zu werden, wiegt oft höher als die Strafangst und übt bereits für sich genommen eine abschreckende Wirkung aus, vgl. dazu die Thesen des Deutschen Richterbundes zur privaten Strafjustiz, DRiZ 1976, 176. 222a So Arzt, Probleme, S. 119, der nunmehr gegen den vermehrten Einsatz des Strafrechts keine prinzipiellen Bedenken mehr erhebt; offen bleibt, inwiefern er sich damit von den von ihm mit unterbreiteten Gesetzesvorschlägen distanziert.
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3. Bagatellunrecht
kleinere und mittlere Kriminalität der Zuständigkeit des Zivilrechts zu überantworten, wäre aus den erwähnten Gründen nicht durchsetzbar 223 . Das zivilrechtliche Sanktionsmodell beschränkt sich deshalb bewußt auf solche Kriminalitätsbereiche, wo sich de facto eine Form von Privatjustiz qua Hausgerichtsbarkeit bereits eingebürgert hat und das Modell darum nicht als völlige Neuerung, sondern als Ausweitung und Rechtfertigung eines ohnehin schon bestehenden Zustandes erscheint. Fragwürdige Praktiken von Privat justiz werden aber nicht dadurch annehmbar, daß man sie konsequent zu Ende denkt und von Rechts wegen billigt. Sich um des Bedürfnisses nach nichtstrafrechtlicher Konfliktbereinigung willen bei Kaufhaus- und Betriebskriminalität auf diese naheliegenste Lösung einzulassen, verbaut zudem die Möglichkeit einer durchgängigen und konsistenten Sonderbehandlung von Bagatelldelikten. Kurzlebige pragmatische Reformversuche, die punktuell an Einzelsymptomen kurieren, müssen sich als halbherzig erweisen 2!4 und kasuistische Ungleichheiten und Unstimmigkeiten produzieren; weil sie sich an einem sektoralen "Feuerlösch-Denken" orientieren, verkennen sie, daß Bagatellkriminalität ein allgemeines Problem darstellt, welches nach Herausarbeitung allgemeingültiger Gesichtspunkte und Maßstäbe verlangt225. So unterschiedliche Konzepte sich hinter der eingängigen Formel "Entkriminalisierung von Bagatellkriminalität" im Ordnungswidrigkeitenmodell und im zivilrechtlichen Sanktionsmodell verbergen, so vergleichbar sind ihre Auswirkungen. Gerade weil beide Lösungsversuche zur Entkriminalisierung diametral entgegengesetzte Wege beschreiten und dabei gleichermaßen wegen der Sprunghaftigkeit ihrer Reformvorschläge die gebotene gesellschaftspolitische Behutsamkeit und strafrechtssystematische Stimmigkeit vermissen lassen, produzieren sie vergleichbare Effekte. Die Ordnungswidrigkeitenlösung ist gegenüber der Einstellungslösung des geltenden Rechts radikal fortschrittlich, 223 Anders soweit ersichtlich nur der radikale Vorschlag von Plack nach völliger Ersetzung der Strafe durch zivilrechtliche Wiedergutmachung, vgl. Plack, Plädoyer, S. 323 ff. 224 Eser, Gesellschaftsgerichte, S. 48. Geerds, über mögliche Sanktionen, S.227 bezeichnet das zivilrechtliche Sanktionsmodell als "Holzweg". Ebenfalls ablehnend Ahrens, Die Einstellung, S. 234 ff. 225 Hirsch, Zur Behandlung, S.242; vgl. auch Eser, Gesellschaftsgerichte, S,48; Kramer, Ladendiebstahl, S.66. Rössner, Strafrechtsreform, S.145 sieht den grundlegenden Mangel der Gesetzentwürfe "in dem Ausweichen vor den generellen materiellen Problemen, die mit der Definition und Ausgrenzung der unselbständigen Bagatelldelikte im Strafrecht zusammenhängen. Ein widerspruchsfreies und folgerichtiges Gesamtkonzept bei der Behandlung der Bagatellkriminalität ist aber nur dann zu erreichen, wenn die materiellen Fragen zunächst einmal generell gelöst sind." Er wirft daher den Entwürfen vor, auf ihren neuen Wegen "den zweiten Schritt vor dem ersten" zu gehen.
3.4 Mangelnde Strafwürdigkeit des Ordnungsunrechts
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geht aber einen Schritt zu weit, weil sie durch die Herabstufung von Bagatelldelikten zu Ordnungswidrigkeiten die vom gesellschaftlichen Strafwürdigkeitsempfinden gesetzten Toleranzgrenzen überschreitet. Die zivilrechtliche Sanktionslösung ist verglichen mit dem geltenden Recht rückschrittlich, weil sie in vordergründigem Pragmatismus erstarrt und nicht einmal rechtsstaatlichen Minimalanforderungen Rechnung trägt. Das Ordnungswidrigkeitenmodell greift dem gesellschaftlichen Bewußtsein vor und bewirkt einen Rechtszustand, der rechtlich nur schwer kontrollierbare gesellschaftliche Spontanreaktionen auszulösen geeignet ist, das zivilrechtliche Sanktionsmodell setzt vorrechtliche Sanktionierungsbedürfnisse frei, indem es bislang informelle gesellschaftliche Sanktionspraktiken von Rechts wegen billigt und ausweitet. Beide geben die unbestreitbaren Vorzüge, die eine strafrechtliche Behandlung der Bagatelldelikte bietet, um des wohlfeilen Ziels der Entkriminalisierung willen vorschnell preis. Allein das Strafrecht kann das Gewaltmonopol des Staates gegenüber Kleinkriminellen sichern und dadurch in Art und Ausmaß unberechenbare resozialisierungsfeindliche gesellschaftliche Reaktionen auf Bagatellkriminalität und Selbsthilfemaßnahmen weitgehend zurückdrängen; allein das Strafrecht besitzt ausgefeilte inhaltliche Prinzipien der Verarbeitung von Delinquenzkonflikten und ermöglicht eine rechtsstaatlich formalisierte, in hohem Maße prognostizierbare Konfliktverarbeitung bei gleichzeitiger Berücksichtigung differenzierter täterorientierter Belange; allein das Strafrecht stellt eine reflexive Distanz zwischen Delinquenz und Reaktion her und gewährleistet, daß die Reaktion nicht als Einbruch instinktiver Abwehr, sondern als überlegte und vorhergesagte Antwort erscheint226 • Man mag mit guten Gründen anzweüeln, ob die Einstellungslösung des geltenden Rechts der Weisheit letzter Schluß ist. Fest steht nach dem Gesagten jedenfalls, daß auf absehbare Zeit allein ein innerstrafrechtlicher Lösungsweg zur Behandlung von Bagatelldelikten gangbar ist; welche der denkbaren innerstrafrechtlichen Lösungsvarianten vorzugswürdig ist, wird sich in der Folge erweisen. Der Klarheit halber sei betont, daß sich die vorgebrachten Einwände allesamt gegen die Erledigung der Bagatellkriminalität in einem 226 Vgl. Hassemer, Theorie, S.196. Wie hier auch Naucke, Gutachten, D 36: "Man wird aber jedenfalls sagen können, daß sprunghafte Reformen, die denkbar sind, die Kompliziertheit der geschilderten Entwicklung unterschätzen würden. Eher ist so etwas wie eine fachmännische rechts staatliche Behutsamkeit naheliegend. Diese Haltung müßte die Bagatellkriminalität im Strafrecht belassen, um die sichernden juristischen Denkgewohnheiten dieses Rechtsgebiets für die rechtliche Reaktion auf Kleinkriminalität (nicht: für die ,Erledigung' von Kleinkriminalität) zu erhalten, d. h. wieder wichtig zu machen." Ähnliche Bedenken bei Wolter, Der Alternativ-Entwurf, S.473.
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3. Bagatellunrecht
zivilrechtlich ausgestalteten Sanktionsverfahren, keineswegs jedoch gegen die Auferlegung materien zivilrechtlicher Verpflichtungen im Rahmen des Strafverfahrens richten. Fernziel der justiziellen Rechtsgewährung muß es sein, über jeglichen Ressortegoismus hinweg alle auf Grund eines Rechtsverstoßes notwendigen Maßnahmen in einem einzigen Verfahren durch Bündelung der unterschiedlichen Rechtsfolgeentscheidungen zur Erledigung zu bringen 226a . Wenngleich diese Forderung derzeit kaum einlös bar erscheint, verlangt doch jedenfalls die Wiederherstellung des Rechtsfriedens, der sich das Strafrecht verschreibt, grundsätzlich auch die Wiedergutmachung des dem Verletzten durch die Straftat zugefügten Schadens226b . Die unterschiedliche Zweckbestimmung von Schadensersatz und pönaler Ahndung hindert nicht daran, Sanktionsakt und Wiedergutmachungsakt zu koordinieren und die Sanktion im Hinblick auf die gleichzeitig angeordnete Wiedergutmachungsverpflichtung zu ermäßigen!26c . Sofern die soziale Destruktivität der Tat keine spezifisch gemeinschädliche Dimension erreicht, sondern sich in der Verletzung rechtlich anerkannter Interessen des Opfers erschöpft, kann das pönale Ahndungsbedürfnis durch die Verpflichtung zum zivilrechtlichen Schadensausgleich zumindest teilweise befriedigt werden. Die Auferlegung zivilrechtlicher Wiedergutmachungsverpflichtungen im Wege des Strafverfahrens ist ein wesentlicher und unverzichtbarer Bestandteil des strafrechtlichen Sanktionsrepertoires gerade im Bereich der Bagatellkriminalität; darauf wird später ausführlich zurückzukommen sein. Abzulehnen ist daher nicht etwa der im Ladendiebstahlsgesetz-Entwurf unternommene Versuch als solcher, über das Vehikel des zivilrechtlichen Schadensausgleichs spezifisch strafrechtliche Ziele zu erreichen2!8d und damit gewissermaßen zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen; abzulehnen ist vielmehr die im Entwurf darüber hinaus betriebene Aufweichung der staatlich monopolisierten Strafgewalt durch Delegation einer pönalen Ahndungskompetenz auf private Personen oder Organisationen22'e. Die Umsetzung pönaler Gewalt in private Aktion, nicht etwa die Nutzbarmachung des privaten Schadensausgleichs zur Befriedigung pönaler Ahndungsbedürfnisse ist als unangemessen zurückzuweisen. 221a Eser, Gesellschaftsgerichte, S. 51. !2eb Jung, Die Stellung, S. 1170 f. !26c Ob die Sanktion in der Wiedergutmachungsverpflichtung restlos aufgehen kann, bleibt der späteren Betrachtung vorbehalten. 22ed Dieser positiv einzuschätzende Aspekt des Entwurfs ist bei Ebert, Fortschritt, S. 386 ff. herausgearbeitet. 22'e Ähnlich Wolter, Der Alternativ-Entwurf, S.472; zur Notwendigkeit der Bewahrung des staatlichen Gewaltmonopols im Strafrecht vgl. auch Merten, Rechtsstaat.
3.5 Mangelnde Strafbedürftigkeit des Bagatellunrechts
187
3.5 Die mangelnde Strafbedürftigkeit des Bagatellunrechts Im vorangehenden Kapitel wurde gezeigt, daß der Gesetzgeber die Strafzone gemäß der emotionalen gesellschaftlichen Bedrohungsintensität durch abweichendes Verhalten auszugrenzen hat. Ein Strafrecht, das seine Deliktsbeschreibungen nicht an dem jeweiligen Strafwürdigkeitsempfinden der Gesellschaft ausrichtet, auf die es sich bezieht, ist illegitim. Daraus folgt nicht umgekehrt, daß die Inhalte des Strafrechts bereits dann legitim sind, wenn sie sich mit dem gesellschaftlichen Strafwürdigkeitsempfinden decken; eine solche automatische Umkehrung ist bereits aus Gründen der Logik ausgeschlossen, weil sonst das Strafwürdigkeitsempfinden begründungslos von einer notwendigen Bedingung der Legitimation von Strafrechtsnormen zu einer hinreichenden Bedingung dieser Legitimation umfunktioniert würde227 • Für die Frage, auf welche Verhaltensweisen Strafrecht anwendbar sein soll, ist das gesellschaftliche Strafwürdigkeitsempfinden konstitutiv. Fehlt es, ist der Gesetzgeber zur Sanktionierung sozialschädlichen Verhaltens auf den Weg des Ordnungswidrigkeitenrechts oder anderer nichtstrafrechtlicher Sanktionsmodelle verwiesen; ist es hingegen vorhanden, bleibt ihm dieser Weg versperrt. Aber auch hier, wo Strafschutz geboten ist, ist die Straffolge keineswegs zwingend am Platz: die Frage des Ob des Strafschutzes präjudiziert nicht die Frage des Wie der strafrechtlichen Rechtsfolgebestimmung. Wir haben gesehen, daß die Bezugnahme der Strafrechtsnormen auf das irrationale Strafwürdigkeitsempfinden rational ist, insofern nur so das Beruhigungsbedürfnis der Gesellschaftsmitglieder befriedigt und das gesellschaftliche System stabilisiert werden kann. Wenn die Rationalität des Strafrechts gerade darauf beruht, daß es dem funktionalen Nutzen des irrationalen Strafwürdigkeitsempfindens Rechnung trägt228 , kann der Gesetzgeber sich zwar bei der Ausgrenzung der Strafzone nicht vom gesellschaftlichen Strafwürdigkeitsempfinden lösen, darf aber die strafrechtliche Rechtsfolgenbestimmung nicht ausschließlich davon abhängig machen. Das Strafwürdigkeitsempfinden ist als Reflex ohne rationale Steuerung unbedingt und damit im wörtlichen Sinne maßlos: es neigt zu einer Schwarz-Weiß-Malerei, die Licht und Schatten ein227 Ähnlich Hassemer, Theorie, S. 214 in bezug auf den Rechtsgüterschutz. Vgl. dazu bereits oben Kap. 3.1, S. 134. 228 Vgl. dazu Ellscheid/Hassemer, Strafe, S. 47 f., die unter Berufung auf Freud darauf hinweisen, daß das Strafverlangen der Rechtsgenossen die Funktion einer Stabilisierung des triebverdrängenden und -verarbeitenden Mechanismus der Gesellschaft habe. Vgl. ferner Jakobs, Schuld, S. 21 ff. Zur Bedeutung des funktionalen Denkens im Strafrecht vgl. Calliess, Theorie, insbes. S. 17 ff.; Bringewat, Funktionales Denken, S. 66 ff., 71 ff.
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3. Bagatellunrecht
seitig verteilt, ohne nach den Folge- und Nebenwirkungen dieser Verteilung zu fragen. Die strafrechtliche Rechtsfolgenbestimmung hingegen bedarf eines maßgebenden Prinzips strafrechtlicher Haftung; sie fordert ein Maß, das es erlaubt zu bestimmen, ob, wie und in welchem Umfang kriminalrechtliche Sanktionen am Platze sind 229 • Wenngleich Tat und Strafe wegen ihrer Heterogenität im strengen Sinne nicht proportional sein können, ist doch eine dem Ausmaß des verschuldeten Tatunrechts entsprechende wohlabgewogene Reaktion möglich und notwendig 230 • Allein das Strafwürdigkeitsempfinden kann die Straffolge nicht legitimieren. Eine zweite Prüfstelle muß beachtet werden: die Strafbedürftigkeit nach rationalen Maßkriterien 231 • Die Einsicht, daß die legitimen Inhalte des Strafrechts notwendig unter situativen historischen und sozialen Bedingungen ausgehandelt werden, läßt sich somit dahin präzisieren, daß dieser Aushandlungsprozeß sich auf zwei unterschiedlichen Diskussionsebenen bewegt: derjenigen der emotionalen Strafwürdigkeitsbeurteilung und derjenigen der rationalen Strafbedürftigkeitsbeurteilung. Die erste Diskussionsebene befaßt sich mit dem legitimen Anwendungsbereich des Strafrechts, die zweite mit der Legitimität der Straffolge. Während es bei der Strafwürdigkeitsbeurteilung allein um das Interesse der Gemeinschaft am Rechtsfrieden geht, rückt die Strafbedürftigkeitsbeurteilung Tat und Täter ins Blickfeld und sucht eine praktische Konkordanz zwischen dem Gemeinschaftsinteresse und dem Interesse des Straftäters an möglichst schonender Behandlung herzustellen. Diese Aufgabe, in Anbetracht von Tat und Täterpersönlichkeit einen Interessenausgleich dergestalt zu bewirken, daß alle Interessen zu ihrer jeweils noch möglichen Verwirklichung kommen können, ist eine spezifisch juristisch rationale, die sich um eine Eingrenzung der Übelzufügung durch Strafrecht auf das notwendige und tolerierbare Maß bemüht232 • Die Strafbedürftigkeitsbeurteilung erfordert eine Bewertung der zur Systemstabilisierung durch Strafrecht eingesetzten Mittel nach Ellscheid/Hassemer, Strafe, S. 37,42 f. Nicht die Strafe kann dem Verbrechen entsprechen, wohl aber das Ausmaß der Strafe dem Ausmaß des Verbrechens. Dazu exemplarisch Gallas, Kriminalpolitik, S. 12. Vgl. auch BVerfGE 20, 323 (331): "Die Idee der Gerechtigkeit fordert. daß Tatbestand und Rechtsfolge in einem sachgerechten Verhältnis zueinander stehen." Ähnlich BVerfG EuGRZ 1977, 287. 231 Vgl. dazu bereits oben 3.1. Zur Unterscheidung von Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit grundlegend Sax, Grundsätze, S. 924 ff.; Otto, Strafwürdigkeit, S. 54 f., 56 f. Die Vernachlässigung dieser grundlegenden Unterscheidung verleitet Ostendorf, Das Geringfügigkeitsprinzip, S. 343 f. zu der irrigen Annahme, geringfügige Rechtsgutsbeeinträchtigungen seien nicht tatbestandsmäßig. 232 Ellscheid/Hassemer, Strafe, S. 43 f.; vgl. auch Müller-Dietz, Grundfragen, S.38. 229 230
3.5 Mangelnde Strafbedürftigkeit des Bagatellunrechts
189
Verhältnismäßigkeits- und Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten. Die Mittel müssen darauf befragt werden, ob sie mit rechtsstaatlichen Prinzipien vereinbar und dem Zweck der Systemstabilisierung effektiv förderlich sind 233 ; die Strafbedürftigkeitsbeurteilung bezieht sich auf die Gesamtheit strafrechtlicher Schutzmodalitäten und bemißt diese an dem wertrationalen Aspekt rechtsstaatlicher Erforderlichkeit und dem zweckrationalen Aspekt pragmatischer Geeignetheit 234 • Die Aspekte rechtsstaatlicher Erforderlichkeit und pragmatischer Geeignetheit schreiben die Art und Weise der Berücksichtigung des Strafwürdigkeitsempfindens bei der Ausgestaltung des Strafschutzes vor. Schuldgrundsatz, in-dubio-Prinzip, Gleichheitsforderung und Verhältnismäßigkeitsprinzip geben den verfassungsrechtlichen Rahmen vor, innerhalb dessen eine Systemstabilisierung durch Strafrecht im Rechtsstaat möglich ist. Die Prüfung, ob die Strafe Systemstabilität effektiv fördert und nicht etwa behindert und deshalb durch andere, weniger einschneidende Rechtsfolgen fakultativ oder zwingend zu ersetzen ist, die Geeignetheit des Strafantrages und des öffentlichen Interesses als Verfolgungsvoraussetzungen und anderes mehr bestimmen den von Zweckgesichtspunkten geleiteten Einsatz einer differenzierten Schutztechnik. Kurzum: die rationale Beurteilung der Strafbedürftigkeit überlagert und modifiziert die von emotionalen Empfindungen geleitete gesellschaftliche Beurteilung der Strafwürdigkeit. Damit wird der prinzipielle Unterschied zwischen Ordnungsunrecht und Bagatellunrecht endgültig sichtbar. Beide Kategorien eröffnen Möglichkeiten der Entkriminalisierung, verbinden diese aber mit völlig unterschiedlichen Voraussetzungen. Entkriminalisierungsbemühungen unter dem Gesichtspunkt des Ordnungsunrechts kommen in Betracht, wo das inkriminierte Verhalten sozialpsychologisch nicht bzw. nicht mehr als bedrohlich und verwerflich gilt, das heißt im emotionalen Sinne als nicht strafwürdig empfunden wird. Die Entkriminalisierung unter dem Gesichtspunkt des Bagatellunrechts setzt demgegenüber das Vorhandensein eines derartigen emotionalen Strafwürdigkeitsurteils voraus und knüpft daran an, daß die Verhaltensweise nach Maßgabe rationaler schutztechnischer Beurteilung von Erforderlichkeit und Geeignetheit der Straffolge nicht strafbedürftig erscheint. Bagatellunrecht ist strukturell - das heißt nach Maßge der Strafwürdigkeitsbeurteilung - Krimnalunrecht, welches nach Maßgabe der Strafbedürftigkeitsbeurteilung nicht zwingend nach Strafe verlangt. 233 Ähnlich Hassemer, Theorie, S. 194 ff., 215; vgl. auch Ellscheid/Hassemer, Strafe, S. 44. 234 Vgl. dazu BVerfGE 39, 46, wo der Gesetzgeber ausdrücklich verpflichtet wird zu prüfen, ob und inwieweit alternative Regelungen bzw. die Gesamtheit der dem Schutz des Rechtsguts dienenden Maßnahmen einen der Bedeutung des Rechtsguts entsprechenden tatsächlichen Schutz gewährleisten.
190
3. Bagatellunrecht
Spätestens hier wird unsere These vollends einsichtig, daß weder Ordnungsunrecht notwendig bagatellhaft ist noch Bagatellunrecht als Ordnungswidrigkeit eingestuft und behandelt werden darf. Beide Unrechtsbereiche gehen keine Verbindung ein: beim Ordnungsunrecht steht die emotionale Bedrohungsintensität, beim Bagatellunrecht die rationale Schutzbedürftigkeit zur Diskussion; ersteres orientiert sich am Mangel sozialpsychologischer Bedrohlichkeit, letzteres am Mangel objektiver Sozialschädlichkeit. Bezugspunkt des Bagatellunrechts ist nicht die emotionale Komponente der Strafwürdigkeitsbeurteilung, das "StrafeVerdienen" als Ausdruck sittlicher Mißbilligung, der das sittliche Pathos der deklassierenden Kriminalstrafe entspricht, vielmehr die rationale Komponente der Strafbedürftigkeitsbeurteilung: das "Strafe-Bedürfen" als Kurzform für das Urteil, daß bei an sich Strafe verdienenden Verhaltensweisen die Straffolge auch wirklich das einzige Mittel ist, um die Gemeinschaftsordnung hinreichend zu schützen235 • Ordnungsunrecht und Bagatellunrecht nehmen damit einander ausschließende, aufeinander aufbauende Rangstellen innerhalb der Skala kriminalpolitischer Entkriminalisierungsinstrumente ein. Das Ordnungsunrecht belegt die vorstrafrechtliche Rangstelle der Entkriminalisierung mangels emotional verstandener Strafwürdigkeit; das Bagatellunrecht ist auf der zweiten, innerstrafrechtlichen Stufe angesiedelt, wo es um die Entkriminalisierung mangels rational verstandener Strafbedürftigkeit geht. Im Gegensatz zur Entkriminalisierung durch Ausscheidung von Tatbeständen aus dem Anwendungsbereich des Strafrechts ist die Entkriminalisierung der Bagatelldelikte durch Verzicht auf Bestrafung trotz Vorliegens der förmlichen Strafbarkeitsvoraussetzungen von der gesellschaftlichen Strafwürdigkeitsbeurteilung relativ autonom. Bagatellunrecht bleibt als Kriminalunrecht eingestuft und unterfällt dem Anwendungsbereich des Strafrechts. Dem Strafwürdigkeitsempfinden ist hier bereits dadurch grundsätzlich Rechnung getragen, daß der Bagatelltäter durch seine Verstrickung in ein Strafverfahren eine soziale Deklassierung erfährt und mit der "Schande" des Schuldspruchs leben muß. Der förmlich festgestellte Verstoß gegen Strafnormen ist wegen des damit verbundenen Stigmatisierungseffekts236 jedenfalls in Grenzen geeignet, die aufwallende gesellschaftliche Empörung gegen den Täter zu besänftigen und Spontanreaktionen zu verhindern, speziell wenn Vgl. Sax, Grundsätze, S. 924 ff.; Otto, Strafwürdigkeit, S. 54 f., 56 f. Der Umstand, daß das Strafverfahren bereits für sich genommen einen Stigmatisierungseffekt bewirkt, ist bedenklich, aber im Prinzip unvermeidlich; die hier vertretene Auffassung rechnet deshalb mit einem solchen Effekt und berücksichtigt seinen funktionalen Nutzen, der im Bagatellbereich in der Möglichkeit besteht, trotz vorhandenen Strafwürdigkeitsempfindens auf eine Bestrafung zu verzichten. 235
238
3.5 Mangelnde Strafbedürftigkeit des Bagatellunrechts
191
ergänzend gegen den Täter eine nichtvergeltende strafrechtliche Sanktion verhängt wird. Das heißt indes nicht, daß der Gesetzgeber ausschließlich nach Maßgabe rationaler Strafbedürftigkeit - und das heißt: völlig ungeachtet des emotionalen Strafwürdigkeitsempfindens - Kriminalunrecht als bagatellarisch qualifizieren und von der Bestrafung ausnehmen könnte237 • Will die Strafbedürftigkeitsbeurteilung ihre Rationalität wahren, dürfen ihre Ergebnisse nicht in krassem Mißverhältnis zum gesellschaftlichen Strafwürdigkeitsempfinden stehen. Die irrige Annahme Feuerbachs, daß die Verhängung der Strafe gegen den überführten Täter nichts weiter sei als die logisch zwingende Konsequenz aus ihrer Androhung238 , ist sozialpsychologisch insoweit zutreffend, als die gesellschaftliche Abschreckungs- und Integrationsfunktion des Strafrechts Einbußen erleiden kann, wenn Strafbarkeitsbereiche fakultativ oder gar zwingend von der Bestrafung ausgenommen werden23u • Auch hier gilt, daß der Gesetzgeber sich nicht wie Münchhausen am eigenen Schopf240 aus dem Kontext des gesellschaftlichen Strafwürdigkeitsempfindens befreien kann, welches ihm seinen Handlungsrahmen vorgibt. Aber hier ist die Abhängigkeit vom Strafwürdigkeitsempfinden nicht, wie bei der Ausgrenzung der Strafzone, eine unmittelbare und positive, sondern eine durch rationale, spezifisch juristische Erwägungen vermittelte und negative: zu fragen ist primär danach, welche Rechtsfolge aus dem Arsenal strafrechtlicher Schutzmodalitäten nach rationaler schutztechnischer Beurteilung geeignet und erforderlich ist, und erst dann danach, ob diese aus Vemunftgrunden an sich gebotene Rechtsfolge sich innerhalb der Bandbreite dessen hält, was vom gesellschaftlichen Strafwürdigkeitsempfinden (gerade noch) toleriert wird. Es wurde bereits erwähnt, daß der Gesetzgeber diese Toleranzgrenze überschritte, würde er etwa aus vermeintlich rationalen Erwägungen den Raub mit geringwertigem Schaden nicht zwingend unter Strafe steIlen2U • Für das Strafbedürftigkeitsurteil ist im Unterschied zum Strafwürdigkeitsurteil somit eine doppelte Reflexion bestimmend: erstens, welche Rechtsfolge nach rationalen Maßkriterien dem Täterverhalten gerecht wird; zweitens, welche Folge diese Rechtsfolge im gesellschaftlichen Wertempfinden auslöst, ob sie für die Gesellschaft hinnehmbar oder von vornherein inakzeptabel ist. Unter diesen beiden So aber KrÜInpelmann, Die Bagatelldelikte, s. 60, vgl. auch S. 141. Vgl. dazu Naucke, Kant, S. 51 ff. 239 Vgl. Müller-Dietz, Grundfragen, S. 39 f. 240 Zu diesem Bild Hassemer, Theorie, S. 240. 241 Vgl. oben 3.41, S. 160. Das geltende Recht trägt dem Rechnung, insofern es den Anwendungsbereich der §§ 153, 153 a StPO auf Vergehen im Sinne von § 11 Abs. 2 StGB beschränkt. 237
238
192
3. Bagatellunrecht
Gesichtspunkten muß sich die Sonderbehandlung von Bagatellunrecht gegenüber sonstigem Kriminalunrecht legitimieren. Die Notwendigkeit solch doppelter Reflexion bei der Ausgrenzung des Bagatellunrechts vom Kriminalunrecht zeigt sich, wenn man vergegenwärtigt, daß die eingangs aufgeführten gesetzestechnischen Möglichkeiten der innerstrafrechtlichen Sonderbehandlung von Bagatelldelikten in unterschiedlichem Ausmaß emotionale gesellschaftliche Reaktionen auszulösen geeignet sind. Die deliktspezifische Privilegierung von Bagatellunrecht durch gesetzliche Vorgabe abstrakt gefaßter Sondertatbestände genügt zwar von allen innerstrafrechtlichen Reaktionsmöglichkeiten am ehesten den rechtsstaatlichen Erfordernissen tatbestandlicher Bestimmtheit der Anwendungsvoraussetzungen und genereller Vorhersehbarkeit der Rechtsfolgen. Daraus zu folgern, daß dieser Lösungsweg deshalb der einzig legitime sei, wäre jedoch verkürzt242 ; denn gerade weil dies so ist, berührt er das gesellschaftliche Strafwürdigkeitsempfinden am intensivsten. Würden für Bagatellvermögensdelikte Sondertatbestände geschaffen, die in der Regel nichtvergeltende Rechtsfolgen vorsehen, so geriete dies ähnlich wie der Vorschlag einer Herabstufung der Bagatellvermögensdelikte zu Ordnungswidrigkeiten mit dem Strafwürdigkeitsempfinden in Konflikt. Ein Strafbarkeitsbereich, der grundsätzlich von der Bestrafung ausgenommen ist, liefe Gefahr, seine abschreckende Wirkung einzubüßen, das gesellschaftliche Strafverlangen unbefriedigt zu lassen und dadurch in Art und Ausmaß unkontrollierbare Spontanreaktionen heraufzubeschwören. Freilich ist die innerstrafrechtliche Sonderbehandlung von Bagatellvermögensdelikten durch materiellrechtliche Privilegierung weit unproblematischer als deren völlige Herauslösung aus der Strafzone; womöglich muß die partielle Beeinträchtigung des Strafwürdigkeitsempfindens hier um der Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit willen in Kauf genommen werden243 • Bei der prozessualen Lösung des Bagatellproblems nach geltendem Recht verhält es sich umgekehrt. Die Bestimmungen der §§ 153, 153 a StPO sind in vielerlei Hinsicht rechtsstaatlich problematisch244 ; unbestreitbar ist indes, daß die Lösung des geltenden Rechts von allen denkbaren Lösungswegen am wenigsten mit dem gesellschaftlichen Strafwürdigkeitsempfinden kollidiert, weil die typischerweise im nichtöffentlichen Ermittlungsverfahren ergehenden Einstellungen wegen Geringfügigkeit der gesellschaftlichen Wahrnehmung entzogen bleiben und diese Ein242 243 2U
So aber etwa Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 225. Dazu später ausführlich. Vgl. oben Kap. 1.
3.5 Mangelnde Strafbedürftigkeit des Bagatellunrechts
193
stellungs möglichkeit überhaupt dem Laien so gut wie unbekannt ist245 • Wegen der hier obwaltenden "Präventivwirkung des Nichtwissens"248 können Einstellungen wegen Geringfügigkeit weitgehend ungeachtet des gesellschaftlichen Strafwürdigkeitsempfindens nach rationalen Erwägungen der Verhältnismäßigkeit und Zweckmäßigkeit ergehen. Welcher dieser Lösungen aus welchen Gründen der Vorzug zu geben ist, kann vorerst dahinstehen. Festzuhalten ist jedoch, daß jegliches Reaktionsmodell auf Bagatelldelikte sich prinzipiell in zweierlei Hinsicht zu legitimieren hat: nach den schutztechnischen Aspekten rechtsstaatlicher Erforderlichkeit und pragmatischer Geeignetheit und nach der Verträglichkeit mit dem gesellschaftlichen Strafwürdigkeitsempfinden.
245 Dazu ausführlich Kunz, Die Einstellung, S. 45. 248 Popitz, Präventivwirkung. 13 Kunz
4. Kriterien mangelnder Strafbedürftigkeit wegen Geringfügigkeit im Rahmen der Bildung des Rechtswidrigkeitsurteils und der Rechtsfolgenentscheidung
Nachdem die Komponenten des Bagatellunrechts und seine Beurteilungsmaßstäbe geklärt sind, können wir nunmehr versuchen, unter Berücksichtigung des bislang ausgeklammerten Bereiches der Schuld die strafrechtsdogmatischen Voraussetzungen der Sonderbehandlung wegen Geringfügigkeit umfassend anzugeben. Dabei gewinnt die Doppelfunktion des Schuld aspekts im Strafrecht als Haftungsgrund und als Grundlage der Strafzumessung1 für unsere Untersuchung Bedeutung. 4.1 Die Bedeutung der Schuld für die Bestimmung von Bagatelldelikten
In ihrer haftungsbegründenden Funktion bestimmt Schuld die persönliche Zurechenbarkeit der Tat, insofern sie zu der Feststellung führt, daß das tatbestandliche Unrecht dem Täter als persönliche Verfehlung zum Vorwurf gemacht wird. Der Inhalt des haftungsbegründenden Aspekts der Schuld ergibt sich aus seiner Beziehung auf den Unrechtstatbestand. Die Strafbegründungsschuld hat die Funktion, die Grenze der Anwendbarkeit eines sittlich fundierten Strafgedankens zu markieren; sie normiert die prinzipielle Wertentscheidung des Staates in der Frage, unter welchen Voraussetzungen staatliche Zwangsmaßnahmen als Ergebnis eines wertenden Zuschreibungsprozesses zu verstehen sind 2 • Dieser Schuldbegriff des Straftatsystems ist als unbedingter keiner Steigerung oder Minderung fähig: der tatbestandsmäßig und rechtswidrig handelnde Täter ist entweder schuldig oder nicht schuldig, eine Schuldzurechnung ist entweder möglich oder nicht. Die Unbedingtheit der Schuld als Haftungsgrund äußert sich prozessual in dem Akt des Schuldspruchs oder der Freisprechung; wie der Schuldbegriff des Strafsystems läßt der prozessuale Schuldspruch in sich keine Abstufungen zu, weil auch er seinen Inhalt nicht aus einem konkreten Aus1
t
Vgl. dazu Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen, S.4, 10 ff. Krauß, Schuldzurechnung, S. 92 f.
4.1 Bedeutung der Schuld
195
maß an Geschehen, sondern aus einem generell-abstrakten Verdikt des Strafgesetzes erhält'.
Anders der Schuldbegriff der Strafzumessung. Er bezieht sich nicht auf die Feststellung der Zurechenbarkeit, sondern auf die Gewichtung der Schuldschwere. Als Grundlage der Strafzumessung will er im Hinblick auf die Gesamtheit der in der rechtswidrig-schuldhaften (und daher zurechenbaren) Tat angelegten Umstände das Maß des individuellen Vorwurfs bestimmen, welcher dem Täter für seine Tat zu machen ist, und so die Wahl der konkreten Rechtsfolge beeinflussen. Bei der Schuldzurechnung geht es um die Feststellung der tatbestandlichen Voraussetzungen strafrechtlicher Rechtsfolgen; sie ist neben der Erfüllung eines Unrechtstatbestandes das zweite Glied in der Kette der Bedingungen der Möglichkeit einer Bestrafung. Bei der Schuldbemessung ist hingegen nicht die Tatbestands-, sondern die Rechtsfolgenebene angesprochen; hier - und hier allein - ist im Rahmen der Schuld Raum für eine graduelle Abstufung nach Geringfügigkeits- und Erheblichkeitsgesichtspunkten'. Bei der Haftungsbegründung durch Schuldzurechnung wird ein unbedingter Schuldvorwurf ethisch-normativ zugeschrieben5, bei der Schuldbemessung als Grundlage der Strafzumessung wird das Ausmaß individueller Schuld nach Schweregesichtspunkten quantifiziert6 •
3 Grundlegend Krauß, Der psychologische Gehalt, S.29; ders., Schuldzurechnung, S.93. Vgl. auch Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen, S. 10 ff., der sich dagegen wendet, die Strafbegründungsschuld als steigerungsfähigen Begriff anzusehen. Folglich kann auch der Vorsatz keine gesteigerte Schuldform gegenüber der Fahrlässigkeit darstellen; das meist geringere Gewicht des fahrlässigen Verhaltens folgt - abgesehen von den durchweg niedrigeren Strafrahmen - aus seinem geringeren Unrechtsgehalt. Wollte man anders entscheiden, könnte man mit gleichem Recht Vollendung und Versuch als Schuldformen bezeichnen, da sie in vergleichbarer Weise auf die Strafhöhe einwirken, so Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen, S. 228 f. 4 Die Kluft zwischen unbedingter Schuldzurechnung und quantifizierender Schuldbemessung kommt prozessual in dem Reformvorschlag nach Einführung des sogenannten "Schuldinterlokuts" zum Ausdruck, das zwischen Schuldfeststellung und Rechtsfolgebestimmung deutlicher als nach geltendem Recht unterscheiden möchte. Vgl. dazu etwa Schäfer, in: Löwe-Rosenberg, Strafprozeßordnung, 23. Aufl., Einl. Kap. 13, Rdnr.21; Krauß, Schuldzurechnung, S. 98. 5 Dies ist keine Frage empirischer Ermittlung des Andershandelnkönnens, sondern eine normative Festlegung sozialer Verantwortlichkeit, vgl. dazu Stratenwerth, Die Zukunft, S.20; Müller-Dietz, Grundfragen, S. 12 f.; Seelmann, Neue Entwicklungen, S. 507; Jakobs, Schuld, S.17 ff. 6 Krauß, Der psychologische Gehalt, S. 29 ff. Vgl. auch Rudolphi, Systematischer Kommentar, Rdnr. 1 vor § 19, nach dem es bei der Strafbegründungsschuld allein um die Frage geht, ob dem Täter ein bestimmtes tatbestandliches Unrecht in der vom Gesetz geforderten Weise als schuldhaft vorgeworfen werden kann, während die Strafzumessungsschuld im wesentlichen die Quantifizierung des individuellen Verschuldens betrifft.
13·
196
4. Kriterien mangelnder Strafbedürftigkeit
Der strafrechtliche Schuldbegriff zerfällt notwendig in diese zwei heterogenen Teile. Qualität und Quantität der Strafe können nicht unter demselben Gesichtspunkt Berücksichtigung finden. Die von Kant initiierte idealistische Straftheorie, die die Strafberechtigung und die gerechte Rechtsfolgenbestimmung gleichermaßen aus dem Talionsprinzip herzuleiten suchte7 , war gerade deshalb zum Scheitern verurteilt: ein adäquater Gegen-Wert für den der Straftat zugeschriebenen unbedingten sittlichen Vorwurf läßt sich schlechterdings nicht ausmachen 8• Erst die strikte Trennung von qualifizierender Strafbegründungsschuld und quantifizierender Strafzumessungsschuld löst diese Aporie auf. Weil der Schuldbegriff des Straftatsystems keiner Steigerung oder Minderung fähig ist, ist er für die Beurteilung der Geringfügigkeit einer Tat unmaßgeblich. Eine Straftat ist darum und nur darum bagatellarisch, weil sie Bagatellunrecht beinhaltet. Die zur Haftungsbegründung neben der Verwirklichung tatbestandlichen Unrechts erforderliche Schuldzurechnung modifiziert das Geringfügigkeitsurteil nicht und steuert ihm keine neuen Gesichtspunkte bei, sondern gibt die Inhalte der quantitativen Unrechtsbetrachtung unverändert wieder; die Kriterien, nach denen sich die Geringfügigkeit einer Tat bemißt, bleiben auch nach erfolgter Schuldzurechnung in dem Zuschnitt, der ihnen bereits auf der Ebene des Unrechts gegeben worden ist. Genau das ist der Grund, warum nach dem Prinzip der abgeleiteten Schuldbewertung das Ausmaß des verwirkten Unrechts grundsätzlich das Ausmaß des zu erhebenden Schuldvorwurfs indizierte. Die Geringfügigkeit des tatbestandlichen Unrechts nach Maßgabe von Handlungs- und Erfolgsunwert ist darum nicht nur notwendige, sondern hinreichende Bedingung für die Einstufung einer Straftat als Bagatelldelikt. Die Strafbegründungsschuld hat bei der Bestimmung des Bagatelldelikts im Straftatsystem mangels Quantifizierbarkeit auch dort außer Betracht zu bleiben, wo sie dem Unrechtstatbestand spezielle Schuldmerkmale hinzufügt; solche schuldtypisierenden Tatbestandsmerkmale wie etwa Rohheit in § 223 b StGB, Böswilligkeit in § 130 Nr. 3 StGB oder Rücksichtslosigkeit in § 315 c Abs. 1 Nr.2 StGB sind bei der
Kant, Die Metaphysik, S. 453. Krauß, Schuldzurechnung, S.89 unter Verweis auf v. Liszt. Freilich wird noch heute Schuld im Strafrecht vielfach als einheitlicher Begriff angesehen, der zugleich die Voraussetzungen der Strafverhängung und diejenigen der Strafzumessung nach identischen Bestimmungsgrößen angeben soll, vgl. die Nachweise bei Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen, S.10, Fußnote 42. 9 Vgl. dazu oben Kap. 3, S. 124. 7
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4.1 Bedeutung der Schuld
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Sachverhaltssubsumtion qualitativ zu bejahen oder nichtIG, entziehen sich jedoch der Quantifizierbarkeit". Nun gibt es freilich im geltenden Recht Schuldminderungselemente, die eine Stafmilderung nach § 49 StGB fakultativ zulassen; zu denken ist insbesondere an verminderte Schuldfähigkeit (§ 21 StGB), verschuldeten Verbotsirrtum (§ 17 Satz 2 StGB), eingeschränkte Zumutbarkeit oder vermeidbare irrige Annahme von entschuldigenden Umständen beim nicht entschuldigungs fähigen Notstand (§ 35 Abs. 1 Satz 2, Abs.2 StGB); darüber hinaus hat die Dogmatik weitere Gründe für eine Schuldminderung entwickelt wie bei der eingeschränkten Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens und der eingeschränkten individuellen Vorhersehbarkeit bei Fahrlässigkeiten. Diese zur Korrektur gesetzlicher Regelstrafrahmen dienenden Schuldminderungsmöglichkeiten spielen freilich sämtlich nicht bei der Strafbegründungsschuld, sondern erst bei der Strafbemessungsschuld eine Rolle l2 ; sie ändern nichts an der persönlichen Zurechenbarkeit der Tat und haben daher bei der Einschätzung der Schwere der Tat außer Betracht zu bleiben. Somit bleibt 10 Insoweit besteht eine notwendige Übereinstimmung zwischen Unrechtsund Schuldtatbestand. Die Gegenmeinung verkennt, daß privilegierende Schuldmerkmale entweder unselbständig sind, d. h. zugleich privilegierende Unrechtsmerkmale darstellen, oder, wenn sie selbständigen Charakter besitzen, lediglich im Rahmen der Strafzumessung eine Rolle spielen; vgl. zu dieser Argumentation Bockelmann, Strafrecht AT, § 12 II!. 3. m. w. N. 11 Dies verkennt Krümpelmann, wenn er sagt, neben den Komponenten des Unrechts könne auf die Betrachtung der Schuld nicht verzichtet werden, weil sie in verschiedenen Tatbeständen Gegenstand der Typisierung sei, so Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S.63, vgl. auch S. 98 ff.; freilich meint er, daß zur Bestimmung des Bagatelldelikts die Berücksichtigung der Schuld für den Regelfall vernachlässigt werden könne (S.109). Krümpelmann differenziert nicht wie hier zwischen unbedingter Schuldzurechnung und quantifizierender Schuldbemessung und unterschiebt dem Schuldbegriff des Straftatsystems eine diesem nicht zukommende Quantifizierbarkeit, wenn er bemerkt, daß der Schuldkomponente dort eigene Bedeutung zukomme, wo der Fall, nach Verhalten und Erfolg betrachtet, auf der Grenze der Geringfügigkeit liege (S. 109). In der Tat kommt der Schuld dann eigene Bedeutung zu; aber nicht der Schuld als Haftungsgrund, sondern der Schuld als Grundlage individualisierender Strafzumessung, die Krümpelmann gerade aus seiner Betrachtung ausschließen möchte (S. 107, 110). 12 So ausdrücklich Krauß, Der psychologische Gehalt, S. 13 f., 28 für die verminderte Schuldfähigkeit. Vgl. auch Müller-Dietz, Grundfragen, S. 6, der betont, daß die verminderte Schuldfähigkeit als bloßer Strafmilderungsgrundsatz, als Strafzumessungsregel zu werten sei, die im eigentlichen Sinne nichts mit der Schuldzurechnung zu tun hat. Von daher ergibt sich auch ein prinzipieller Einwand gegen die Theorie der Entschuldigungsgründe, nach der Entschuldigungsgründe im Gegensatz zu den Schuldausschließungsgründen eine Herabsetzung der Schuld unter die Schwelle der Strafbedürftigkeit bewirken sollen. Geringe Schuld und Entschuldigung bilden qualitativ verschiedene Erscheinungen; die Annahme eines bloß graduellen Stufenverhältnisses durch die Theorie der Entschuldigungsgründe wird dem funktionalen Unterschied von Strafbegründung und Strafzumessung nicht gerecht, so Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen, S. 11 f., 13.
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4. Kriterien mangelnder Strafbedürftigkeit
es dabei: die Geringfügigkeit der Tat richtet sich ausschließlich nach der Geringfügigkeit des verwirklichten Tatunrechts. 4.2 Bagatelldelikte in den Funktionszusammenhängen des Straftatsystems und der Strafzumessung Damit deutet sich eine prinzipielle, für unsere Untersuchung folgenreiche Unterscheidung innerhalb des Kreises der Bagatelldelikte an. Wir können den Begriff des Bagatelldelikts im Funktionszusammenhang der Strafzumessung und in demjenigen des Straftatsystems sehen. Der jeweils angesprochene Funktionszusammenhang schreibt die Grundlagen der Geringfügigkeitsbeurteilung vor und bestimmt die jeweiligen Inhalte der Bagatellkategorie. Im Funktionszusammenhang der Strafzumessung orientiert sich die Geringfügigkeitsbeurteilung an allgemeinen Grundsätzen der Strafzumessung, wie sie in § 46 StGB leitbildhaft aufgeführt sind. Hier geht es darum, einzelfallbezogene, im Ergebnis sachrichtige Lösungen zu finden. Die Beurteilungsgrundlage ist nicht auf die Tat beschränkt, sondern schließt das gesamte Bild des Täters und seines Verhaltens ein, soweit es als tatrelevant anzusehen ist13 ; Umstände wie die Vorbelastung des Täters, seine Motivationslage, die Eigenschädigung des Täters durch die Tat, Reumütigkeit und Einsichtigkeit, Schadenswiedergutmachung, Mitverschulden und Verfolgungsinteresse des Geschädigten sind im Hinblick auf das konkrete Ausmaß der individuellen Täterschuld sowie auf spezial- und generalpräventive Belange zu gewichten. Neben diesen Strafzumessungsgesichtspunkten im engeren Sinne spielen auch kriminalpolitische Erwägungen und überlegungen zur Opportunität der Strafverfolgung eine Rolle. Diese umfassende Strafbedürftigkeitsbeurteilung unter dem leitenden Interesse der sachrichtigen Behandlung geringfügiger Fälle beinhaltet zwangsläufig ein Gemenge uneinheitlicher, sich überlagernder, ja ambivalenter Gesichtspunkte, von denen manchmal der eine, ein andermal der andere ausschlaggebend ist1' ; die 13 So die inzwischen absolut herrschende Meinung, vgl. etwa BGSt 5, 132; 17,143. 14 Anschaulich ist in diesem Zusammenhang die wohl rhetorisch gemeinte Frage: "Was heißt denn Schwere einer Tat? Handelt es sich dabei wirklich um einen einheitlichen Begriff?", so Dreher, über die gerechte Strafe, S.65. Vgl. auch Seelmann, Neue Entwicklungen, S.511, nach dem die Bestimmung der Strafzumessungsschuld praktisch aus einem recht diffusen Gemisch von überlegungen resultieren wird. Vgl. ferner Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen, S. 13, wo betont wird, daß Momente, die im Straftatsystem voneinander getrennten Kategorien zugewiesen werden, bei der Strafzumessung ungeschieden auf ihre individuellen Charakteristika hin untersucht und als Faktoren in einen einheitlichen Bewertungsprozeß eingestellt werden.
4.2 Kriterien in Straftatsystem und Strafzumessung
199
Orientierung an der Sachrichtigkeit der Reaktion im Einzelfall macht die Beschränkung auf eindeutige und exakt voneinander abgegrenzte Beurteil ungskri terien unmöglich15. Wird das Bagatelldelikt hingegen im Funktionszusammenhang des Straftatsystems gesehen, ändert sich die Beurteilungsgrundlage funda-
mental. Bagatelldelikt ist dann nicht die Tat, die unter Berücksichtigung des gesamten tatrelevanten Täterverhaltens im Ergebnis bagatellarisch behandelt werden soll, sondern die Tat, die in ihrem materiellen Unrechtsgehalt sich selbst als bagatellarisch ausweist. Die Geringfügigkeitsbeurteilung richtet sich hier allein nach dem durch Handlungsund Erfolgsunwert spezifizierten materiellen Unrechtsgehalt der Straftat; das Bagatelldelikt in den Funktionszusammenhang des Straftatsystems zu stellen, bedeutet deshalb, das Problem der Geringfügigkeit im Strafrecht aus dem unmittelbar entscheidungspraktischen Bezug der rein ergebnisorientierten Einzelfallentscheidung zu lösen und im Vorfeld der Sachentscheidung auf dogmatisch-klassifikatorischer Ebene abzuhandeln; durch die Darstellung des Bagatellproblems als eines Problems im Rahmen der allgemeinen Straftatlehre soll der Aspekt der Geringfügigkeit des Tatunrechts gewissermaßen vor die Klammer gezogen und allein thematisiert werden, um so die Unbestimmtheitsfaktoren der fallbezogenen Sachrichtigkeitsbeurteilung nach divergierenden Gesichtspunkten auszuschließen: von der Vielzahl unterschiedlicher Bewertungsmöglichkeiten strafbaren Verhaltens nach graduellen Gesichtspunkten der Schwere oder Erheblichkeit werden nur diejenigen Umstände als Grundlage des quantitativen Bestimmungsvorganges berücksichtigt, die sich auf den Handlungs- und Erfolgsunwert der Tat beziehen. Die Unterscheidung zwischen Bagatelldelikten im Funktionszusammenhang des Straftatsystems und solchen im Funktionszusammenhang 15 Dies ist der Grund, warum Krümpelmann solche individualisierenden Strafzumessungserwägungen aus seiner Betrachtung der Bagatelldelikte ausklammert, vgl. Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S.61, 107 ff., 110. Die Untersuchung Krümpelmanns befaßt sich demnach ausschließlich mit Bagatelldelikten im Funktionszusammenhang des Straftatsystems. Diese an sich legitime thematische Beschränkung wird freilich nicht konsequent durchgehalten; da Krümpelmann der Schuld eigene Bedeutung für die Geringfügigkeitsbeurteilung zuweist, kommt der thematisch ausgeklammerte Bereich individueller Schuldbemessung unversehens durch die Hintertür wieder in die Betrachtung herein (vgl. oben Fußnote 11). Darüber hinaus verleitet seine thematische Beschränkung Krümpelmann zu der Annahme, der von ihm ausgesparte Bereich der Rechtsfolgenbemessung sei überhaupt nicht systematisch eingrenzbar; deshalb regiere hier freies Ermessen, die Schätzung der Geringfügigkeit nach Strafzumessungserwägungen werde praktisch zu einer Angelegenheit des Beliebens (S. 61). Damit entzieht sich Krümpelmann von vornherein dem Versuch einer Einengung der Bandbreite zulässiger Ermessensausübung.
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4. Kriterien mangelnder Strafbedürftigkeit
der Strafzumessung klassifiziert die Kriterien mangelnder Strafbedürftigkeit wegen Geringfügigkeit danach, ob sie im Rahmen des Unrechtstatbestandes oder (erst) im Rahmen der Rechtsfolgebestimmung angebbar sind. Stellt sich bereits der Unrechtstatbestand nach Maßgabe von Handlungs- und Erfolgsunwert als geringfügig dar, so haben wir es in jedem Falle mit einem Bagatelldelikt zu tun, einerlei ob in Anbetracht der für die Strafzumessung maßgeblichen Sachverhaltskonstellation des Einzelfalles mindernde oder erschwerende Umstände vorliegen. überlegungen zur Strafbedürftigkeit des Täters nach Strafzumessungsgesichtspunkten greifen erst dann Platz, wenn feststeht, daß nicht schon die Tat angesichts ihres geringen Unrechtsgehalts als bagatellarisch zu qualifizieren ist; die Feststellung, daß die Tat Bagatellunrecht verkörpert, präkludiert die weitere Erörterung von Strafzumessungstatsachen. Die Zueignung eines auf der Straße gefundenen Fünfmarkstücks ist als Bagatelldelikt einzustufen, gleichgültig, ob das Vorleben den Täter belastet. Die Zueignung eines Tausendmarkschiens stellt sich hingegen als gravierendes Unrecht dar; dennoch kann hier wegen besonderer im Rahmen der Strafzumessung zu würdigender mildernder Umstände im Ergebnis eine bagatellarische Behandlung angezeigt sein. Mit dieser strikten Zweiteilung der Kriterien mangelnder Strafbedürftigkeit wegen Geringfügigkeit danach, ob sie bei der Feststellung des Unrechtstatbestandes oder bei der Ermittlung der sachangemessenen Rechtsfolge eine Rolle spielen, ist die wichtigste Voraussetzung einer Rationalisierung des Geringfügigkeitsurteils geschaffen. Zwar gehen auch hier Unsicherheitsfaktoren in die Entscheidungsfindung ein; die verbleibende Unsicherheit reduziert sich jedoch auf die Ungewißheit, die bei der Feststellung auslegungs bedürftiger Begriffe im Unrechtstatbestand und bei der strafrechtlichen Rechtsfolgenbemessung immer vorhanden ist. Mit solchen Unbestimmtheitszonen haben wir es im Strafrecht ständig zu tun. Das Absehen von Strafe wegen Geringfügigkeit aus Strafzumessungserwägungen ist in gleichem Umfange (beschränkt) rationalisierbar wie die Entscheidung, daß im Einzelfall eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten geboten, aber auch ausreichend ist; die Beurteilung der Geringfügigkeit unrechtsbegrundender Merkmale von Deliktstatbeständen ist nicht problematischer als die Präzisierung von Tatbestandsmerkmalen wie Gewalt, Beleidigung, Grausamkeit oder der Gleichstellungsaspekt bei unechten Unterlassungsdelikten. Wollte man die hier getroffene Zweiteiliung der Geringfügigkeitskriterien nicht akzeptieren, wäre jeder rationalen Beurteilung die Grundlage entzogen und jede Möglichkeit einer Begrenzung des Geringfügigkeitsbegriff zerstört. Dagegen kann und muß die Ungewißheit, ob ein Absehen von Strafe im Einzelfall wirklich angemessen ist und ob Bagatellunrecht auch dann noch vorliegt, wenn Objekt der Fundunter-
4.2 Kriterien in Straftatsystem und Strafzumessung
201
schlagung nicht ein Fünfmarkstück, sondern ein Fünfzigmarkschein ist, als Ausdruck der irreduzierbaren allgemeinen Ungewißheit bei der strafrechtlichen Tatbestandsfeststellung und Rechtsfolgenbemessung hingenommen werden. Wie dieser Spielraum bei der Geringfügigkeitsbeurteilung noch weiter eingeengt werden kann, soll im Folgenden verdeutlicht werden. Vorab verdient festgehalten zu werden, daß die unterschiedlichen Bagatellisierungsmöglichkeiten aus Unrechts- und aus Zumessungsgesichtspunkten methodisch zwingenden Charakter besitzen und daher Gesetzgeber wie Rechtsanwender gleichermaßen verpflichten. Für den Gesetzgeber resultiert daraus die Forderung, die Bagatellisierungsregelung derart auszugestalten, daß die erarbeiteten Bagatellisierungskriterien in eine gesetzeskonforme Rechtsanwendung eingebracht werden können; der Klarheit halber wäre darüber hinaus erstrebenswert, der methodischen Zweiteilung der Bagatellisierungskriterien in der Gesetzesfassung auch begrifflich Ausdruck zu gebenl8 • Im geltenden Recht ist dies nicht geschehen. Immerhin lassen die §§ 153, 153 a StPO eine strafrechtsdogmatisch stimmige Auslegung in der Weise zu, daß das Merkmal des "geringen Verschuldens" zwei grundlegend unterschiedliche Anwendungsbereiche umfaßt: zum einen die Geringfügigkeit des verschuldeten Tatunrechts, zum anderen die Geringfügigkeit des zumessungsrelevanten Verschuldens als pars pro toto der Geringfügigkeitsbeurteilung nach Zumessungsgesichtspunkten. Ob und inwieweit die geltende Bagatellisierungsregelung in ihrer Gesamtheit mit den erarbeiteten methodischen Einsichten vereinbar ist, muß sich in der Folge erweisen; fest steht damit lediglich, daß der dargelegten Zweiteilung der Bagatellisierungskriterien im Rahmen der geltenden Regelung Rechnung getragen werden kann und muß.
16 Darauf wird bei der Vorstellung des rechtspolitischen Reformvorschlages zurückzukommen sein.
5. Die Geringfügigkeitsbestimmung nach Unrechtsgesichtspunkten Als Bagatelldelikte im Funktionszusammenhang des Straftatsystems wurden diejenigen Taten ausgemacht, die materiell gesehen Bagatellunrecht verkörpern. Das nach Handlungs- und Erfolgsunwert zu spezifizierende Bagatellunrecht wurde durch das Vorhandensein eines emotionalen gesellschaftlichen Strafwürdigkeitsempfindens bei gleichzeitigem Fehlen rationaler Strafbedürftigkeit charakterisiert. Es wurde gezeigt, daß die Beurteilung mangelnder Strafbedürltigkeit wegen Geringfügigkeit ihre Rationalität nur wahren kann, wenn sie sich in ihren Ergebnissen nicht in unerträglichen Widerspruch zum gesellschaftlichen Strafwürdigkeitsempfinden setzt. Zu klären bleibt, inwiefern diese unabhängig vom positiven Recht entwickelte Deutung des Bagatellunrechts von den jeweiligen Inhalten des positiven Strafrechts abhängig bleibt bzw. sich davon emanzipiert. Zur Bestimmung der Bagatelldelikte im Funktionszusammenhang des Straftatsystems nach Maßgabe des materiellen Ungerechtsgehalts der Tat bedarf es einer Vergleichsgrundlage und eines Vergleichsmaßstabes, in Ansehung derer sich das in der Tat verwirklichte Unrecht als bagatellarisch erweist; insofern ähnelt die formale Struktur des Bestimmungsvorganges von Bagatellunrecht einem Analogieschluß, mit dem charakteristische Gleichartigkeiten und Verschiedenheiten in bezug auf bekannte Gegebenheiten, mit denen der Vergleich naheliegt, erlaßt werden1 • Die Vergleichsgrundlage bilden die jeweiligen DeZiktstatbestände des positiven Strafrechts. Wir haben nachgewiesen, daß der materielle Unrechtsgehalt strafwürdiger Handlungen erst durch die gesetzliche Fixierung begrifflich faßbar wird und rechtsverbindliche Gestalt gewinnt; das Gesetz ist deshalb die alleinige Ausgangsbasis für die vergleichende Bestimmung von Bagatellunrecht. Da Bagatellunrecht strukturell Kriminalunrecht ist und sich durch seine grundsätzliche Strafwürdigkeit vom Ordnungsunrecht prinzipiell unterscheidet, kommen bei der vergleichenden Bestimmung nur die gesetzlichen Normen des Strafrechts, nicht etwa die des Ordnungswidrigkeitenrechts, in Ansatz. 1 Zur Analogie als Ähnlichkeitsrelation einer vergleichsweise unbekannten mit einer bekannten Gegebenheit im Hinblick auf ein tertium comparationis vgl. insbes. Arthur Kaufmann, Analogie, S. 14 ff., 22 ff.
5. Geringfügigkeit nach Unrechtsgesichtspunkten
203
Das Strafgesetz gibt in den Deliktstatbeständen die Gesichtspunkte vor, nach denen sich die Strafrechtsrelevanz von Lebenssachverhalten bestimmt. Der gesetzliche Tatbestand vermittelt die rechtlich maßgebliche Sicht des Lebensvorganges, seine Gestalt unter dem Blick des Strafrechts; wie ein Lebensvorgang zu einem Sachverhalt wird, wie sich Sachverhaltsteile aufzeigen lassen, wie diese Sachverhaltsteile zu Sachverhaltsmerkmalen werden, richtet sich allein nach dem Tatbestand und seinen Merkmalen!. Aus der Fülle des tatsächlichen Geschehens, aus dem die Deliktstatbetände die strafrechts relevanten Segmente benennen und dadurch eine Auswahl treffen, werden nur diejenigen Umstände als Grundlage der Bestimmung von Bagatellunrecht zugelassen, die einem Merkmal des Unrechtstatbestandes zugeordnet werden können. Damit ist eine wesentliche Begrenzung des Gegenstandes des Bestimmungsvorganges getroffen; wir brauchen etwa bei der Geringfügigkeit eines Diebstahls nicht zu prüfen, ob die geleistete Schadenswiedergutmachung oder die endgültige Zueignung der deliktisch erlangten Sache unter dem Gesichtspunkt des Erfolgsunwerts berücksichtigt werden können, weil im Deliktstatbestand die endgültige Zueignung und die Wiedergutmachung ohnehin nicht in Erscheinung treten3 • Ob die unrechtsbegründenden Merkmale aller strafrechtlichen Deliktstatbestände als Vergleichsgrundlage heranzuziehen sind oder sich innerhalb der Tatbestände eine weitere Eingrenzung vornehmen läßt, wird sogleich zu prüfen sein. Der Vergleichsmaßstab für Bagatellunrecht ist ungleich schwieriger zu bestimmen. Hier läßt sich vorerst nur auf die Typizität strafrechtlicher Tatbestände verweisen4 • Die strafbewehrten Deliktstatbestände verkörpern typischerweise erhebliches - nämlich strafwürdiges und grundsätzlich strafbedürftiges - Unrecht5 • Wenn der Unrechts gehalt der unter einen Deliktstatbestand subsumierbaren Tat gleichwohl nicht erheblich ist, muß der Grund dafür darin liegen, daß der Fall die vom Tatbestand anvisierte typische Erheblichkeit des nach Handlungs- und Erfolgsunwert spezifizierten materiellen Unrechts nicht erreicht und deshalb die Strafbedürftigkeit entfällt. Die Frage ist, wonach sich die Unrechtsminderung, die die Strafbedürftigkeit entfallen läßt, konkret bemißt. Hasserner, Tatbestand, S. 103, 109 f. Ebenso für den Fall der Wiedergutmachung Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 112, der freilich auch die schuldtypisierenden Tatbestandsmerkmale in die Betrachtung einbezieht. 4 Grundlegend: Hasserner, Tatbestand, insbes. S. 109 ff. 5 Vgl. oben Kap. 3.1, S. 128 ff. 2
3
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5. Geringfügigkeit nach Unrechtsgesichtspunkten
Zur Bestimmung der atypischen, die Strafbedürftigkeit aufhebenden Unrechtsminderung ist zunächst an Vergleichsjälle zu denken, die demselben Deliktstatbestand unterfallen und dessen volle deliktstypische Erheblichkeit erreichenD. Solche Vergleichsfälle sind die - geläufigem Sprachgebrauch zufolge - " typischen " Deliktsverwirklichungen mittlerer Schwere im Sinne der entweder faktisch am häufigsten auftretenden oder in ihrer Reaktionsbedürftigkeit in der Mitte des Strafrahmens anzusiedelnden Verwirklichungsmodalitäten eines Deliktstatbestandes. Die erfahrungsgemäß am häufigsten vorkommenden Regeljälle kommen als Maßstab zur Ermittlung der deliktstypischen Erheblichkeit nicht in Betracht. Regelfälle sind empirisch und statistisch zu erschließen; die Häufigkeit des Vorkommens besagt nichts über die Erheblichkeit des Unrechtsgehalts, weil dieser nicht empirisch, sondern normativ bestimmt werden muß7 • Zwar pflegt die Rechtsanwendungspraxis ihre Entscheidungen zuweilen an den erfahrungsgemäß immer wieder vorkommenden Fällen auszurichten und danach die Unrechtserheblichkeit zu taxieren8 • Dies ist jedoch nicht nur deshalb bedenklich, weil verläßliche Angaben über die Häufigkeit unterschiedlicher Verwirklichungs möglichkeiten eines Straftatbestandes fehlen und der Rechtsanwender deshalb auf die eigene, von seinem beschränkten Erfahrungshorizont abhängige Schätzung angewiesen ist 9 ; Regelfälle zum Maßstab für die Unrechtserheblichkeit zu machen ist auch methodisch unzulässig, weil der Bagatellfall keineswegs der seltene Fall ist10 , sondern häufig vorkommen wird und deshalb den Maßstab, von dem seine Bestimmung abhängen sollte, seinerseits beeinflußt. Auch der denkmäßige Durchschnittsjall, dessen Strafbedürftigkeit dem arithmetischen Mittel des Strafrahmens entspricht, kann nicht als Richtmaß zur Ermittlung der deliktstypischen Erheblichkeit dienen11 • Abgesehen davon, daß sich nicht angeben läßt, welche realen Fallgestaltungen eine Strafbedürftigkeit aufweisen, die dem rechnerischen Mittelwert des Strafrahmens exakt entspricht, liefert der Mittelwert keinen Maßstab dafür, wann die Abweichung vom denkmäßigen Durch-
5
Die inzwischen modifizierte Bestimmung des Nr.75 Abs. 3 Satz 2 RiStV
i. d. F. v. 1. 8. 1953 verwies zur Auslegung des § 153 StPO auf derartige ver-
gleichbare Durchschnittsfälle. 7 Ebenso Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 125. 8 Dagegen überzeugend Bruns, Leitfaden, S. 10 f., 47 sowie Mösl, Tendenzen, S. 166 unter Verweis auf die Rechtsprechung des BGH. 9 Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 125. 10 Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 126. 11 Anders offenbar Bruns, Leitfaden, S. 47.
5. Geringfügigkeit nach Unrechtsgesichtspunkten
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schnittsfall derart wesentlich ist, daß die Strafbedürftigkeit entfälltl2 • Der Versuch, die delikts typische Unrechtserheblichkeit an statistisch oder arithmetisch "typischen" Fällen festzumachen, führt daher in die Irre. Welche Fälle nach materialer Unrechtsbetrachtung deliktstypisch erheblich und strafbedürftig sind und welche es nicht sind, zeigt sich erst bei der fallbezogenen Auslegung des Unrechtstatbestandes und ist abstrakt nicht gewußt. Wie in der Folge deutlich werden wird, gibt es streng genommen keine "typischen" Fälle, sondern immer nur Fälle, die sich bei der Auslegung des Tatbestandes als dessen typisierende Konkretion erweisenl3 ; nicht der "typische" Fall, sondern die typologische Auslegung des Unrechtstatbestandes liefert den Vergleichsmaßstab für Bagatellunrecht. Solange das Strafgesetz die Kategorie der Übertretungen als selbständige leichte Delikte kannte, lag es freilich nahe, den Unrechtsgehalt der selbständigen Bagatelldelikte14 unmittelbar aus dem Gesetz in Analogie zu dem Unrechtsgehalt vergleichbarer Übertretungen zu erschließenl5 • So konnte der Unrechtsgehalt des Mundraubs (§ 370 Abs.1 Ziffer 5 StGB a. F.) einen generellen Maßstab für geringfügige Vermögensdelikte setzen; der Diebstahl von Geld in geringem Wert zum Erwerb einiger Lebensmittel oder der Zechbetrug mit geringem Schaden weisen in Handlungs- und Erfolgsunwert eine derartige Ähnlichkeit mit dem Mundraub auf, daß eine Gleichbehandlung dieser unter Vergehenstatbestände subsumierbaren Taten mit dem als Übertretung eingestuften Mundraub geboten schien l6 • Mit der ersatzlosen Abschaffung der Kategorie der Übertretungen durch das EGStGB im Jahre 1975 ist diese Vergleichsmöglichkeit entfallen. Das deutsche Strafrecht kennt nur noch die Einteilung der Deliktstatbestände in Vergehen und Verbrechen (§ 12 StGB). Selbständige Bagatelldelikte, die als Maßstab für atypisch leichte Tatbestandsverwirklichungen von Vergehen gelten könnten, sind im geltenden Strafrecht nicht mehr vorhanden. Die bußgeld bewehrten Tatbestände des Ordnungswidrigkeitenrechts können diese Funktion nicht übernehmen; da sich der Unrechtsgehalt der Ordnungswidrigkeiten qualitativ vom demjenigen der Straftaten unterscheidet, lassen sich Ordnungs12 Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 126. Ähnlich Zipf, Die mangelnde Strafwürdigkeit, S. 21 f. 13 Vgl. vorab Hassemer, Tatbestand, S. 130, der von Fällen als Konkretionen von Typen spricht, die das reale Substrat des Typus als eines hermeneutischen Instruments ausmachen. 14 Zur Unterscheidung von selbständigen und unselbständigen Bagatelldelikten vgl. oben Kap. 2., S. 117, Fußnote 9. 15 So Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 121, 146. 16 Vgl. Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 121.
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5. Geringfügigkeit nach Unrechtsgesichtspunkten
widrigkeiten nicht für die vergleichende Erschließung des Unrechtsgehalts strafrechtlicher Bagatelldelikte heranziehen17 • Das abgestufte Verhältnis der Deliktstatbestände zueinander, welches in den unterschiedlichen Strafdrohungen zum Ausdruck kommt und als Rechtsgüterhierarchie verstanden werden kann, gibt für die Bestimmung des Bagatellunrechts ebenfalls nichts her. Auch Deliktstatbestände, die im unteren Bereich der Rechtsgüterhierarchie anzusiedeln sind, verkörpern als Vergehen für sich genommen einen typischerweise erheblichen Unrechtsgehalt. Das abgestufte Verhältnis der Deliktstatbestände zueinander betrifft nicht die Unterscheidung zwischen geringfügiger und erheblicher Tatbestandsverwirklichung, sondern liefert innerhalb der grundsätzlich als erheblich einzustufenden Deliktsbegehungen ein Indiz für die weitere Gewichtung nach Schweregesich tspunkten18 • 5.1 Negative Eingrenzung der Vergleichsbasis: bagatellfreie Tatbestände Immerhin läßt sich den Bewertungsgesichtspunkten des geltenden Rechts eine negative Eingrenzung der Vergleichsbasis für Bagatellunrecht entnehmen: als Bagatelldelikte kommen nur Tatbestandsverwirklichungen von Vergehen, nicht hingegen solche von Verbrechen in Betracht. Bei Verbrechen, die im Mindestmaß mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind (§ 12 Abs. 1 StGB) , ist das gesellschaftliche Strafwürdigkeitsempfinden derart massiv und unbedingt, daß sich Überlegungen zur mangelnden Strafbedürftigkeit der verbrecherischen Tat von vornherein verbieten. Die als Verbrechen eingestuften Deliktstatbestände sind bagatellfreP9. Nicht nur, daß der Unrechtsgehalt verbrecherischer Handlungen notwendig erheblich ist und Verbrechen darum im Funktionszusammenhang des Straftatsystems keine Bagatelldelikte sein können20 ; wegen der Unbedingtheit des gesellschaftlichen Strafverlangens wäre es gleichermaßen unerträglich, die Tatbestandsverwirklichung eines Verbrechens im funktionszusammenhang der Strafzumessung als bagatellarisch zu behandeln 21 • Vgl. oben Kap. 3.41, S. 159 ff. Im geltenden Recht findet dies seinen Ausdruck darin, daß bei Verwirklichung eines vergleichsweise gravierenden und eines in Ansehung dessen weniger gravierenden Deliktstatbestands bezüglich des letzteren nicht eine Einstellung wegen Geringfügigkeit nach §§ 153, 153 aStPO, sondern eine solche gemäß §§ 154, 154 a StPO in Betracht zu ziehen ist. 19 Ebenso Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 127. 20 Vgl das bereits erwähnte Beispiel des Raubes einer geringwertigen Sache. 21 Anders offenbar Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 130. 17
18
5.1 Bagatellfreie Tatbestände
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Keiner der möglichen Unrechts- und schuldmindernden Gesichtspunkte kann hier dazu führen, die Tat wegen Geringfügigkeit nicht mit Strafe zu ahnden. Das geltende Recht trägt dem Rechnung, indem es Verbrechen von der prozessualen Einstellungsmöglichkeit wegen Geringfügigkeit generell ausnimmt (vg. §§ 153 Abs. 1, 153 a Abs. 1 StPO). Darüber hinaus läßt sich für Bagatelldelikte im Funktionszusammenhang des Straftatsystems die Vergleichsbasis weiter einengen. Nicht alle Vergehen können in einer Weise verwirklicht werden, die den Unrechtsgehalt der Tat als geringfügig erscheinen läßt; vielmehr gibt es Vergehenstatbestände, die eine Geringfügigkeit des Handlungsund/oder des Erfolgsunwerts ausschließen. Dies gilt zunächst für alle Tötungsdelikte, soweit sie als Vergehen eingestuft sind. Die Absolutheit des geschützten Rechtsguts Leben verbietet eine quantifizierende Betrachtungsweise. Die rechtswidrige Tötung verkörpert angesichts des gravierenden Erfolgsunwerts in keinem Falle Bagatellunrecht. Der Gedanke des absolut geschützten Rechtsguts läßt die Annahme von Bagatellunrecht auch dann nicht zu, wenn das Delikt wegen des typischerweise verminderten Handlungsunwerts als Vergehen eingestuft ist. Die Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB), die Kindestötung (§ 217 StGB) oder die fahrlässige Tötung (§ 222 StGB) beinhalten per se nie Bagatellunrecht und können daher im Funktionszusammenhang des Straftatsystems keine Bagatelldelikte sein. Freilich kann sich die konkrete Tatbegehung - im Unterschied zu den Verbrechenstatbeständen - im Funktionszusammenhang der Strafzumessung angesichts besonderer mildernder Umstände des Einzelfalls als bagatellarisch erweisen; der Verzicht auf eine Bestrafung wegen Geringfügigkeit bezieht dann aber seine Berechtigung nicht aus dem Gedanken verminderten Unrechts, sondern allein als individualisierenden Strafzumessungserwägungen22 • Ähnlich bei den qualifizierten Vergehenstatbeständen, die Strafschärfungsgründe ausdrücklich benennen und zu einer Aufstockung der für den Aufbautatbestand vorgesehenen Strafdrohung führen. Da das Unrechtsverhalten hier durch Merkmale beschrieben wird, die Steigerungen der Unrechtsschwere bezeichnen, entfällt die Möglichkeit geringfügiger Unrechtsverwirklichung. Bagatellunrecht kann nur in Ansehung des typischen strafrechtlichen Unrechtsgehalts geringfügig sein; wo von vornherein atypisch gesteigertes Unrecht vorliegt, geht diese Vergleichsbasis für Bagatellunrecht verloren23 • Der Diebstahl mit Waffen bzw. der Bandendiebstahl (§ 244 StGB), die gefährliche Körperverletzung (§ 223 a StGB) oder die Bestechlichkeit (§ 332 StGB) be22 23
Ebenso Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 128 f. Vgl. Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 130.
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5. Geringfügigkeit nach Unrechtsgesichtspunkten
inhalten zusätzliche erschwerende Momente, die den typischen Unrechtsgehalt des einfachen Diebstahls (§ 242 StGB), der einfachen Körperverletzung (§ 223 StGB) oder der Vorteils annahme (§ 331 StGB) steigern und darum die Annahme von atypisch vermindertem Unrecht ausschließen. Dies gilt auch für die partiell abgeleiteten qualifizierten Vergehenstatbestände (etwa die Mißhandlung von Schutzbefohlenen nach § 223 b StGB im Verhältnis zur einfachen Körperverletzung), die neben einem abgeleiteten Sektor einen Bereich von Verwirklichungsmodalitäten enthalten, welche nur in qualifizierter Form begangen werden können 24 • Bagatellunrecht kommt hier prinzipiell nicht in Betracht. Wie bei Delikten, die sich auf absolut geschützte Rechtsgüter beziehen, kann sich bei den qualifizierten Delikten das nach Unrechtsgesichtspunkten stets erhebliche Tatverhalten nach individuellen Strafzumessungsgesichtspunkten im Hinblick auf besondere mildernde Umstände des Einzelfalls als geringfügig erweisen. Diese Wertung findet in §§ 153 Abs. 1 Satz 2, 153 a Abs. 1 Satz 6 StPO ihren positivrechtlichen Ausdruck. Das Gesetz trägt in jenen Bestimmungen der gesteigerten Begründungsbedürftigkeit einer bagatellarischen Behandlung trotz erheblicher Unrechtsverwirklichung Rechnung, indem es auch bei Vermögensdelikten mit geringem Schaden die staatsanwaltliche Einstellung von der ansonsten nicht erforderlichen Zustimmung des Gerichts abhängig macht, wenn das Delikt mit einer im Mindestmaß erhöhten Strafe bedroht ist. Bei den unbenannten Strajschärjungsgründen durch nicht näher oder nicht abschließend bestimmte besonders schwere Fälle (vgl. etwa §§ 241 a Abs. 4, 263 Abs. 3, 266 Abs. 2, 292 Abs. 2, 293 Abs. 2 StGB) und bei den nicht bindend exemplifizierten besonders schweren Fällen (z. B. §§ 243, 311 Abs. 2 und 3 StGB) scheint sich auf den ersten Blick ebenfalls die Annahme von Bagatellunrecht zu verbieten. Dies wäre indessen nur dann zutreffend, wenn die Kriterien, die die Bejahung eines besonders schweren Falles rechtfertigen, sich ausschließlich aus der Steigerung des Unrechtsgehalts der Tat herleiteten. Die h. M. stellt je24 Anders, wenn man die Bestechlichkeit oder die Mißhandlung von Schutzbefohlenen entgegen der h. M. nicht als unselbständige tatbestandliche Abwandlungen, sondern als selbständige Delikte deutet. Die Lehre vom delicturn sui generis besagt ja gerade, daß solche Delikte keinen quantitativ gesteigerten, sondern einen qualitativ anderen, arteigenen Unrechts gehalt besitzen; Konsequenz der Annahme eines selbständigen Vergehenstatbestandes ist deshalb, daß dieser Bagatellunrecht enthalten kann. Die Deutung von Vergehenstatbeständen als selbständige Delikte muß jene notwendige Implikation berücksichtigen und die Richtigkeit ihrer Auslegung im Hinblick darauf reflektieren. Pointiert ausgedrückt: Bagatellunrecht ist nicht ausgeschlossen, weil der betreffende Deliktstatbestand eine unselbständige Qualifizierung darstellt, vielmehr beruht die Auslegung seiner Unselbständigkeit (unter anderem) auf den Gründen, die den Ausschluß von Bagatellunrecht rechtfertigen.
5.1 Bagatellfreie Tatbestände
209
doch für die Bestimmung des besonders schweren Falls des Diebstahls nach § 243 StGB auf eine durch Gesamtbewertung des tatrelevanten Täterverhaltens zu ermittelnde Erhöhung bzw. Minderung von Unrecht und bzw. oder Schuld ab2'; sie orientiert sich dabei ausdrücklich an der Vorschrift des § 62 E 62 28, wonach ein besondes schwerer Fall vorliegt, wenn Umstände, die zur Tat gehören oder ihr vorausgehen, oder das Verhalten des Täters nach der Tat das Unrecht bzw. die Schuld wesentlich erhöhen. Wenn aber die Entscheidung über das Vorliegen eines besonders schweren Falles "unter Abwägung aller Zumessungstatsachen aufgrund einer Gesamtbewertung der wesentlichen tatund täterbezogenen Umstände"27 zu treffen ist, sind hier letztlich nicht materielle Unrechts abstufungen, sondern Strafzumessungserwägungen ausschlaggebend. Die für besonders schwere Fälle vorgesehene Strafschärfung ist eine Richtlinie für die Verhinderung divergierender Strafbemessung und beinhaltet eine gesetzlich bindende Antizipation von Zumessungserwägungen28 • Dieser für die Regelbeispiele des § 243 StGB entwickelte Gedanke ist auf die Strafschärfungsgründe der besonders schweren Fälle insgesamt übertragbar 28 . Da somit die Strafschärfung der besonders schweren Fälle sich letztlich aus Zumessungsgesichtspunkten rechtfertigt, weichen besonders schwere Fälle im Unrechtsgrad jedenfalls nicht zwingend von dem in den Grundtatbeständen vertypten Unrecht ab. Mangels einer notwendigen Steigerung der Unrechtsschwere bei besonders schweren Fällen sind diese einer materiellen Unrechtsbetrachtung unter dem Gesichtspunkt möglicher Geringfügigkeit zugänglich. Daraus erhellt der Sinn der gesetzlichen Regelung in § 243 Abs. 2 StGB, wonach ein besonders schwerer Fall ausgeschlossen ist, wenn sich die Tat auf eine geringwertige Sache bezieht; weil der besonders schwere Fall sich aus der ergebnisbezogenen Betrachtung nach Zumessungsgesichtspunkten herleitet, ist seine Annahme immer dann ausgeschlossen, wenn auf der vorrangigen Stufe der Unrechts betrachtung Bagatellunrecht vorliegt. Dies ergibt sich als zwingende Konsequenz aus 25 Vgl. etwa Blei, Strafrecht, AT § 108 HI 1. cl; Arzt, Strafrecht BT, D H. 4. Nach BGHSt 26, 97 (98) sind darüber hinaus auch nicht schuldabhängige Strafzumessungsgesichtspunkte heranzuziehen. 28 Entwurf eines Strafgesetzbuches 1962 mit Begründung, Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, Drucksache IV /650. %7 So BGHSt 23, 254 (257). 28 Die darin beschlossene Doppelverwertung von Umständen für die Bestimmung des Strafrahmens von § 243 StGB und innerhalb des Strafrahmens für die Strafzumessung im eigentlichen Sinne gemäß § 46 Abs. 2 StGB ist nach h. M. zulässig, vgl. Arzt, Strafrecht BT, D H. 4. IU SO Blei, Strafrecht AT, § 108 IH 1. cl.
14 Kunz
210
5. Geringfügigkeit nach Unrechtsgesichtspunkten
der im vorangehenden Kapitel gewonnenen Einsicht, daß Bagatellunrecht Strafzumessungserwägungen präkludiert30 • Wie bei den besonders schweren Fällen gründet auch die Strafschärfung wegen Rückfalls (§ 48 StGB) auf Zumessungserwägungen; die materielle Rückfallvoraussetzung, daß dem Täter im Hinblick auf seine Vorverurteilungen der Vorwurf vermehrter Schuld zu machen ist, ergibt sich aus der umfassenden Gesamtwürdigung zumessungsrelevanter Umstände wie psychischer Faktoren, charakterlicher Eigenschaften und allgemeiner Lebensumstände31 • Demnach wäre es konsequent, die Strafschärfung wegen Rückfalls auszuschließen, wenn die abzuurteilende Tat Bagatellunrecht verkörpert. Im Gesetzgebungsverfahren wurde dieser Gedanke aufgegriffen, dann aber verworfen32 • Nach nunmehr geltender Regelung tritt eine Strafschärfung nur dann nicht ein, wenn das Höchstmaß der für die neue Tat angedrohten Freiheitsstrafe weniger als ein Jahr beträgt (§ 48 Abs.2 StGB); damit fällt die überwiegende Mehrzahl der Delikte mit Bagatellunrecht etwa in dem gesamten Sektor der Eigentums- und Vermögensdelinquenz in den Anwendungsbereich der Rückfallvorschrift33• Dies ist systemwidrig, da die materielle Unrechtsbetrachtung der in § 48 StGB maßgeblichen individuellen Schuldbetrachtung vorrangig ist und deshalb Bagatellunrecht die auf Zumessungserwägungen gründende Strafschärfung wegen Rückfalls präkludieren muß 34 • Dies hat das Bundesverfassungs30 Es ist daher folgerichtig, daß die erwähnte gerichtliche Zustimmungsbedürftigkeit zu staatsanwaltlichen Einstellungen wegen Geringfügigkeit bei Vermögensdelikten mit geringem Schaden (§§ 153 Abs.1 Satz 2, 153 a Abs.1 Satz 6 stPO) sich nur auf echte Qualifikationstatbestände, nicht aber auf die Strafschärfungsgründe der besonders schweren Fälle erstreckt; vgl. hierzu Meyer-Goßner, in: Löwe/Rosenberg, Strafprozeßordnung, 23. Aufl. Rdnr.48 zu § 153. 31 BGH GA 1972, 78 (79); vgl. auch BVerfG, Beschluß vom 16.1.79 2 BvL 4/77 -, BGBL I, S.225; Begründung zu § E 62, S.182; OLG Hamm NJW 1972, 1382: "Der Rückfall ist ein Schuldsteigerungsgrund ... Die höhere Strafe wird verhängt, weil der Täter durch die den Rückfall begründete Tat ... mehr Schuld auf sich geladen hat als ein anderer." 82 Während der Sonderausschuß für die Strafrechtsreform zunächst entschieden hatte, das zur Aburteilung stehende Delikt müsse eine "erhebliche vorsätzliche Straftat" sein, beschloß er nach erneuter Prüfung, das Wort "erheblich" wieder zu streichen, vgl. Protokolle, Band 1, S. 381 ff., 389; Band 2, S. 2201 f. Die Gründe für den Meinungswandel sind nicht eindeutig zu ermitteln, vgl. Wagner, Die schuldangemessene Bestrafung, S.43, 47. 33 Die wenigen Strafbestimmungen mit solchen Strafrahmen (§§ 106 a, 107 b, 160, 184 a, 284 a StGB) spielen in der Praxis kaum eine Rolle. 34 BVerfG, Beschluß vom 16.1. 79 2 BvL 4/77 -, BGBL I, S.225. In dem zu entscheidenden Fall handelte es sich bei der abzuurteilenden Tat um eine Beförderungserschleichung durch Benutzung der Straßenbahn ohne Fahrschein, eine Tat also, die angesichts der Geringwertigkeit der erschlichenen Leistung Bagatellunrecht beinhaltet und die nur auf Antrag verfolgbar ist (§§ 265 a Abs.3, 248 a StGB). Das BVerfG stellt indes in seiner Entscheidung ausschließlich auf die Konkurrenz der Schuldsteigerung des § 48 StGB mit
5.2 Vergleichsmaßstab: der Unrechtstypus
211
gericht außer Betracht gelassen, als es die geltende Rückfallbestimmung für verfassungskonform erklärte35 • Demnach läßt sich die Vergleichsbasis für Bagatellunrecht dahin eingrenzen, daß die Unrechtstatbestände aller Vergehen in Betracht zu ziehen sind, soweit es sich nicht um Tötungsdelikte oder Qualifikationen handelt; die weitere Einschränkung, daß keine besonders schweren Fälle und keine Rückfallvoraussetzungen vorliegen dürfen, kann nicht akzeptiert werden.
5.2 Der Vergleichsmaßstab: die typische Verwirklichung des Unrechtsgehalts von Deliktstatbeständen Bevor wir uns mit deliktspezifischen Vergleichsmaßstäben befassen, ist es angezeigt, danach zu fragen, ob sich nicht bereits auf der Ebene des allgemeinen Strafrechts deliktunabhängige Bestimmungshilfen für Bagatellunrecht aufweisen lassen. Als solch allgemeiner Vergleichsmaßstab für Bagatellunrecht läßt sich an die Fälle denken, in denen das Gesetz abweichend vom Regelstrafrahmen eine Strafmilderung zwingend oder fakultativ vorsieht. Hierher gehören namentlich die unbenannten Strafmilderungsgründe der minder schweren Fälle (z. B. §§ 213, 217 Abs. 2, 249 Abs. 2 StGB) und die besonderen gesetzlichen Milderungsgründe, auf die § 49 StGB Bezug nimmt36• Die minder schweren Fälle können wir aufgrund der vorgenommenen Auslegung der besonders schweren Fälle von vornherein als Vergleichsmaßstab ausscheiden, da für die Beurteilung des minder schweren wie für die des besonders schweren Falls letztlich einer Schuldminderung wegen Geringfügigkeit ab und erachtet die Strafschärfung wegen Rückfalls auch dort für zulässig, wo "den Angeklagten abgesehen vom Rückfall - nur ein geringer Schuldvorwurf trifft". Das Problem ist aber, ob die Möglichkeit der Schuldschärfung wegen Rückfalls überhaupt noch in Betracht zu ziehen ist, wenn sich die Tat nach vorgängiger Unrechtsbewertung bereits als geringfügig erweist. 35 Dieser naheliegende Gedanke wurde bei der Diskussion der Bagatelldelikte im Rückfall in der Literatur bislang nicht aufgegriffen, vgl. dazu die Nachweise bei Wagner, Die schuldangemessene Bestrafung, S. 49 ff. Auch Wagner argumentiert rein auf der Schuldebene, wenn er die Rückfallvorschrift nicht für anwendbar hält, sobald die Anwendung des § 48 StGB bei der Sanktionierung von Bagatelldelikten in Widerspruch zu dem in § 46 StGB normierten Schuldprinzip tritt (S. 56); er verfällt damit in denselben Fehler, den er Horn vorhält (S. 53), nämlich dem Gesetzgeber Absichten zu unterstellen, von denen er sich hätte leiten lassen sollen, und gerät damit in einen offenen Widerspruch zu Gesetzgebungsgeschichte und Wortsinn des § 48 StGB. 36 Privilegierte Sondertatbestände kommen als Vergleichsmaßstab nicht in Betracht, weil sie eine je eigene Vergleichsbasis bilden und der Maßstab nicht mit der Grundlage der vergleichenden Bestimmung identisch sein kann. 14*
212
5. Geringfügigkeit nach Unrechtsgesichtspunkten
nicht die materielle Unrechts betrachtung, sondern Zumessungserwägungen ausschlaggebend sind 37 • Was die besonderen gesetzlichen Milderungsgründe angeht, bedarf es der Betrachtung im einzelnen. Eine allgemeine Strafmilderung ist bei Versuch, Beihilfe, Versuch der Beteiligung, nicht entschuldigungsfähigem Notstand, verminderter Schuldfähigkeit, verschuldetem Verbotsirrtum, beim Fehlen strafbegründender persönlicher Merkmale beim Teilnehmer sowie beim unechten Unterlassungsdelikt teils fakultativ, teils obligatorisch vorgesehen. Bezüglich des Versuchs wurde bereits festgestellt, daß sich angesichts des uneingeschränkt vorhandenen Handlungsunwerts die Annahme von Bagatellunrecht verbietet 38 • Die verminderte Schuldfähigkeit (§ 21 StGB), der vermeidbare Verbotsirrtum (§ 17 Satz 2 StGB) und der nicht entschuldigungs fähige Notstand (§ 35 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 StGB) wurden dem Bereich individueller Schuldbemessung nach Zumessungsgesichtspunkten zugeordnet38 und haben daher ebenfalls für die vergleichende Bestimmung des Bagatellunrechts außer Betracht zu bleiben. Gleiches hat für die fakultative Strafmilderungsmöglichkeit beim Begehen durch Unterlassen (§ 13 Abs. 2 StGB) zu gelten. Im Unrechtsgehalt unterscheidet sich das Unterlassungsdelikt nicht vom Begehungsdelikt. Die Möglichkeit der Strafmilderung beruht ausschließlich auf individuellen Schuldbemessungsaspekten40 ; darauf deutet bereits die bloß fakultative Strafmilderung hin, die ein Eingehen auf die konkreten Umstände des Einzelfalls verlangt. Der Versuch der Beteiligung (§ 30 StGB) bezieht sich auf Verbrechen und ist daher bagatellfrei. In Betracht bleiben somit lediglich die Fälle der obligatorischen Strafmilderung bei der Beihilfe (§ 27 Abs. 2 Satz 2 StGB) und des Fehlens strafbegründender persönlicher Merkmale beim Teilnehmer (§ 28 Abs. 1 StGB). Ungeachtet dessen, daß die Beteiligung an fremder Tatbestandsverwirklichung ihren Unrechts gehalt vom Unrecht der Haupttat ableitet, verkörpert die Beteiligung einen arteigenen, bei der Beihilfe und dem Fehlen strafbegründender persönlicher Merkmale beim Teilnehmer zwingend geminderten Unwert41 • Das besagt freilich 37 Vgl. etwa Blei, Strafrecht AT, § 108 II!. 2. b) unter Verweis auf § 63 E 62; nach BGHSt 26, 97 kann ein minder schwerer Fall generell aufgrund solcher Sachverhalte angenommen werden, die früher als mildernde Umstände in Betracht gekommen wären. 38 Vgl. oben Kap. 3.2, S. 147. 39 Vgl. oben Kap. 4.1, S. 197 f. 40 Vgl. etwa Lackner, Strafgesetzbuch, Anm. 5 a) zu § 13. 41 Vgl. etwa Schönke/Schröder/Cramer, Strafgesetzbuch, Rdnr.22 vor § 25; Wesseis, Strafrecht AT, § 13 IV. 1. Zur Konstruktion eines eigenständigen, vom Unrecht der Haupttat losgelösten Teilnehmerdelikts vgl. Schmidhäuser, Strafrecht AT, 14/55. Bei den strafbegründenden persönlichen Merkmalen ist umstritten, ob es sich dabei um unrechtsbestimmende Merkmale handeln
5.2 Vergleichsmaßstab: der Unrechtstypus
213
nicht, daß hier beim Teilnehmer notwendig Bagatellunrecht anzunehmen ist, sofern es sich bei der Haupttat um ein nichtqualifiziertes Vergehen handelt'!; vielmehr bleibt ungewiß, wann die Unrechtsminderung des Teilnehmerdelikts ein derartiges Ausmaß erreicht, daß die Strafbedürftigkeit wegen Geringfügigkeit entfällt. In der Regel wird dies nicht der Fall sein, sondern nur bei Hinzutreten weiterer unrechtsmindernder Faktoren, die sich aus der deliktspezifischen Unwertbetrachtung der Haupttat ergeben und sich - wegen der (limitierten) Akzessorietät der Teilnahme - auf diese auswirken. Einen deliktunabhängigen Vergleichsmaßstab für Bagatellunrecht gibt es demnach im positiven Recht nicht; die obligatorische Strafmilderung bei der Beihilfe und dem Fehlen strafbegründender persönlicher Merkmale beim Teilnehmer ist nur ein Hinweiszeichen, daß in solchen Fällen die Annahme von Bagatellunrecht nach Maßgabe des materiellen Unrechtsgehalts der Haupttat naheliegt. Damit scheitert der Versuch einer vergleichenden Ermittlung des Bagatellunrechts durch Rekurs auf die Inhalte positivrechtlicher Normen, welche eine generelle Unrechtsminderung zum Ausdruck bringen; in unserem Rechtssystem sind schlechterdings keine deliktunabhängigen positivrechtlichen Vorschriften auszumachen, die als Maßstab für die Geringfügigkeit des Unrechtsgehalts einer Straftat herangezogen werden könnten. Demnach muß Bagatellunrecht je deliktspezifisch ermittelt werden, wobei alle nichtqualifizierten Vergehenstatin Betracht zu ziehen sind; mangels deliktunabhängiger positivrechtlicher Bestimmungshilfen muß sich die atypische Geringfügigkeit des Unrechts aus dem Vergleich mit dem deliktstypischen Unrechtsgehalt ergeben. Der deliktstypische Unrechtsgehalt umfaßt all diejenigen Verwirklichungsmöglichkeiten eines Unrechtstatbestands, welche erheblich und darum strafbedürftig sind. Der Deliktstypus ist vom Deliktstatbestand zu unterscheiden; der Typus bildet eine Konkretion des Tatbestandes nach Maßgabe der Erheblichkeit und Strafbedürftigkeit. Den Deliktstatbeständen läßt sich eine Spannbreite von Verwirklichungsmodalitäten zuordnen, die im Unrechtsgehalt teils erheblich, teils geringfügig sind. Das Gesetz intendiert in seinen Deliktsbeschreibungen die Erfassung nur erheblichen, strafbedürftigen Verhaltens, kann diese Zielvorgabe wegen der relativen Unbestimmtheit seiner sprachlichen Begriffe kann, vgl. Lackner, Strafgesetzbuch, Anm. 2. a) zu § 28 m. w. N.; wie hier etwa Blei, Strafrecht AT, § 76 III., der im Fall des § 28 Abs.l StGB eine Unwertdifferenz annimmt. 42 Wegen der (limitierten) Akzessorietät der Teilnahme verbietet sich die Annahme von Bagatellunrecht, wenn die Haupttat sich als Qualifikation eines Vergehens oder als Verbrechen darstellt.
214
5. Geringfügigkeit nach Unrechtsgesichtspunkten
aber nicht vollständig erreichen, sondern nur typologisch anpeilen; wir haben dies in anderem ZusammenhangU mit dem Satz von Peters zum Ausdruck gebracht, die abstrakte Fassung der Deliktstatbestände eröffne immer wieder die Möglichkeit einer allzu weiten Erstreckung in das Gebiet des Nichtkriminellen44 • Daraus folgt, daß der Deliktstypus zwar in Abhängigkeit vom Deliktstatbestand steht (insofern deliktstypisch nur sein kann, was sich den Merkmalen des Deliktstatbestands zuordnen läßt), jedoch nicht einfach aus diesem abgeleitet werden kann. Weil der Deliktstypus eine Mitte bildet zwischen dem konkreten strafrechtsrelevanten Geschehen, das er generalisiert, und den Tatbestandsmerkmalen, die er individualisiert45, bewegt sich die Betrachtung möglicher Tatmodalitäten unter dem Gesichtspunkt der deliktstypischen Erheblichkeit des Unrechts zwischen den Alternativen eines vollkommenen gesetzlichen Determinismus und einer willkürlichen Festlegung. Der Wortsinn der Tatbestands merkmale und die gesetzliche Konzeption, unter der der Tatbestand steht46 , geben nur ein grobes Bandmaß dafür ab, wonach sich die deliktstypische Erheblichkeit des Unrechts bemißt; sie sind ergänzungsbedürftig durch die Inhalte allgemein geteilter Werterfahrungen, die ein unter einen Deliktstatbestand subsumierbares Verhalten mehr oder weniger unwerthaft erscheinen lassen, ja sie konkretisieren sich streng genommen erst in diesen 47 • Wegen der Verwiesenheit der deliktstypischen Unrechtsbeurteilung auf gesellschaftlich anerkannte Werterfahrungen - vom Juristen meist mit dem Kürzel "Verkehrsanschauung" bezeichnet48 - läßt sich eine gewisse Unschärfe im Ergebnis nicht vermeiden. Zwischen den Verwirklichungsmodalitäten eines Tatbestandes, die ganz sicher als delikts typisch zu gelten haben und solchen, bei denen dies ganz sicher nicht der Fall ist, gibt es unvermeidliche Grenzfälle, über deren Einordnung sich streiten läßt49 • Immerhin liegt das Ergebnis der Beurteilung nach der VerkehrsOben Kap. 3.1, S. 129. Peters, Die Parallelität, S.396. 45 Vgl. Hassemer, Tatbestand, S. 113. 48 Die gesetzliche Konzeption bestimmt sich nach vorgesehener Strafart und -höhe, systematischer Einordnung des Deliktstatbestandes in eine bestimmte Gruppe von Straftaten, Privatklagefähigkeit usw. Die in solchen Umständen zum Ausdruck kommende Konzeption ist ein Indiz für die Auslegung des Tatbestandes und seiner Merkmale. 47 Vgl. Hassemer, Tatbestand, S. 101 ff. 48 So auch bei Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 113. 49 Hassemer, Tatbestand, S. 115 erwähnt das nach geltendem Recht in §§ 292 Abs.2, 293 Abs.2 StGB verwandte Merkmal "Nachtzeit", welches Typuskonkretionen mit fließenden übergängen wie heller Tag - Dämmerung - beginnende Dunkelheit - Mondhelle - Dunkelheit - Finsternis zuläßt. 43
44
5.2 Vergleichsmaßstab: der Unrechtstypus
215
anschauung in einer in Grenzen festen Form vor50 und kann als relativ präzise Richtschnur für die Einschätzung der deliktstypischen Erheblichkeit des Unrechtsgehalts dienen. Dies soll im folgenden bei einigen Merkmalen, deren Unrechtsgehalt besonders häufig atypisch gemindert ist, exemplifiziert werden. 5.21 Die wirtschaftliche Geringwertigkeit des deliktischen Objekts bzw. Schadens bei den Eigentums- und Vermögensdelikten
Geradezu als Paradebeispiel, wenn nicht gar als einziger Anwendungsfa1l51 von Bagatellunrecht, wird die wirtschaftliche Geringwertigkeit des deliktisch erlangten Objekts bzw. des zugefügten Schadens im Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte angesehen 52 . Der wirtschaftliche Wert des mit der Tathandlung bezweckten deliktischen Erfolges geht bei den Eigentums- und Vermögens delikten so unmittelbar in deren Unrechtsgehalt ein, daß er generell zur tatbestandstypischen Abgrenzung verwendbar erscheint. Diese Delikte erreichen nur in ernstlich sozialschädigenden Modalitäten den Grad der tatbestandstypischen Erheblichkeit, und die Sozialschädlichkeit ihrer Verwirklichungsmodalitäten wird in der sozialen Anschauung entscheidend durch den wirtschaftlichen Wert des angestrebten deliktischen Erfolgs bestimmt. Die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Geringwertigkeit als Ausscheidungskriterium von Bagatellfällen hat eine lange TraditionS!. Schon das sächsische Volks recht unterschied zwischen kleinem und großem (einfachem) Diebstahl anhand des Werts der Beute (3 Schillinge)5" wobei der kleine Diebstahl mit Geldbuße, der große Diebstahl mit Todesstrafe geahndet wurde5s . Auch die Landfriedensgesetzgebungen des Mittelalters nahmen innerhalb des einfachen Diebstahls zwi50 So auch Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 59 Fußnote 30. 51 Eine umfassende Thematisierung des Bagatellunrechts über den Gesichtspunkt der Geringwertigkeit des Schadens hinaus hat bislang nur Krümpelmann erbracht. Vgl. insbes. Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 111 ff., 119 ff. Für die Geringwertigkeit als einziges Kriterium der Geringfügigkeit von Eigentums- und Vermögens delikten vgl. insbesondere Baumann, über die notwendigen Veränderungen, S.3 und den ausgefeilten Begründungsversuch bei Rössner, Bagatelldiebstahl, insbes. S. 210 ff. 52 Ebenso bei der sich auf solche Delikte beziehenden sachlichen Begünstigung nach § 259 StGB, die das Interesse an Wiederherstellung des gesetzmäßigen Zustandes verletzt und insofern zumindest auch das durch die Vortat betroffene Rechtsgut beeinträchtigt. 53 Vgl. dazu die eingehende historische Darstellung der sozialen Kontrolle des Bagatelldiebstahls bei Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 21 ff. 54 Lex Saxonum 35, 36. 55 Vgl. im einzelnen Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 823 ff.
216
5. Geringfügigkeit nach Unrechtsgesichtspunkten
schen Frevel und Malefiz eine quantitative Abgrenzung mittels festen Geldwertbeträgen56 vor. Desgleichen die Constitutio Criminalis Carolina von 1532, die den Grenzwert auf 5 Gulden festsetzte 57 • Schließlich privilegierten die Landesgesetze in der Zeit der Aufklärung den geringwertigen Diebstahl; so etwa das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794, das den Mundraub aus Not und den Diebstahl bis zum Sachwert von 5 Talern gegenüber dem sonstigen gemeinen Diebstahl abhob 58• Erst das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 verzichtete auf die materiellrechtliche Sonderbehandlung des geringwertigen Diebstahls und versah nur den Mundraub mit einern geringeren Strafrahmen. Dieser gesetzgeberischen Entscheidung lagen kriminalpolitische und rechtsdogmatische Erwägungen zugrunde, die heute gleichermaßen fragwürdig geworden sind. Weil das aufkommende Industriearbeiterturn dem damals dominierenden Idealbild des sittlich auf sich selbst gestellten bürgerlichen Menschen zuwiderlief und dieses Ideal ins Wanken brachte, erschien das für die unteren Gesellschaftsschichten typische Massendelikt des kleinen Diebstahls als besonders gefährlich und nicht privilegierungsfähig5D ; die für den Frühliberalismus kennzeichnende autonome, von staatlicher Kontrolle dispensierte Entfaltungsmöglichkeit des Individuums gerade in wirtschaftlicher Hinsicht fand kriminalpolitisch in dem Bedürfnis nach Verschärfung des Strafschutzes von Privateigentum und -vermögen ihren Ausdruck. Darüber hinaus war die Abschaffung der wertgrenzenmäßigen Unterscheidung zwischen kleinem und großem einfachen Diebstahl durch das strafrechtsdogmatische Anliegen nach systematischer Perfektion des Gesetzeswerks bedingt. Die abstrakte und theoretisch genaue, aber unpragmatische Denkweise, die die damalige, an Kant und Regel geschulte Strafrechtsdogmatik prägte, orientierte sich allein an formal stringenten Prinzipien und ließ keinen Raum für die aus solchen Prinzipien nicht ableitbare Privilegierung des geringwertigen Diebstahls80 : materielles Unrecht wurde - positivistisch verkürzt - mit formeller Rechtswidrigkeit gleichgesetzt und aus der Unbedingtheit des Rechtswidrigkeitsurteils gefolgert, daß eine quantitative Abstufung nach Unrechtsgraden dogmatisch unmöglich sei 51 • Die Einsicht in das strafrechtsdogmatische und kriminalpolitische Bedürfnis nach Differenzie56 Vgl. dazu die Nachweise bei Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 42 f.; ders .. Strafrechtsreform, S. 142. 57 Art. 157 ff. CCC. 58 II 20 - 1122 ff. ALR. 59 Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 49 f. m. w. N. 60 Vgl. Hirsch, Hauptprobleme, S. 140 f.; Naucke, Gutachten, D 21; Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 49; Geerds, über mögliche Reaktionen, S.225. 61 Dazu eingehend oben Kap. 3.1, S. 126.
5.2 Vergleichsmaßstab: der Unrechtstypus
217
rung zwischen geringfügigem und erheblichem Unrecht82 läßt heute gerade im Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte die Suche nach Möglichkeiten der Unrechtsabstufung dringlich erscheinen, zumal inzwischen auch die gesetzliche Privilegierung des Mundraubs entfallen ist. Weil die Tatbestandsdefinitionen der Eigentums- und Vermögensdelikte so gefaßt sind, daß auch die Zueignung völlig geringwertiger Sachen bzw. die noch so unerhebliche Vermögensschädigung darunterfallen, besteht hier ein besonders vordringliches Bedürfnis nach Einführung eines Regulativs, um geringfügige Unrechtsverwirklichungen von der Bestrafung auszunehmen. Darin besteht der Unterschied etwa zur Körperverletzung und zur Beleidigung, wo schon im Wege der restriktiven Auslegung sozial unerhebliche Rechtsgutsverletzungen ausgeschieden werden können 83 • Die Annahme geringfügigen Unrechts bei Geringwertigkeit des deliktischen Objekts bzw. Schadens ist ein geeignetes Korrektiv, um die im unteren Anwendungsbereich überzogene Strafbewehrung der Eigentums- und Vermögens delikte dem heutigen Rechtsempfinden entsprechend rückgängig zu machen. Der Gedanke der Sozialadäquanz, der insoweit in der Sozialbindung des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG) seinen Ausdruck findet 6" taugt hierfür nicht, da die deliktische Eigentumsverletzung nach unserem Rechtsverständnis in keinem Fall als sozialadäquat anzusehen ist; weil die Sozialbindung nur gegenüber dem Staat besteht, ist die unmittelbare Inanspruchnahme fremden Eigentums unter Berufung auf die Sozialpflichtigkeit verwehrt. Einer Zugriffs möglichkeit auf fremdes Eigentum zur legitimen Befriedigung lebenswichtiger Bedürfnisse bedarf es nicht, besteht doch gegenüber dem Staat ein Rechtsanspruch auf fürsorgende soziale Leistungen, den dieser über die sich aus der Sozialpflichtigkeit des Eigentums ergebende Besteuerung erfüllt6s ; darin unterscheidet sich das sozialstaatliche Konzept von anderen rechtlichen GestaltungsmögIichkeiten, die die Erbringung fürsorgerischer Leistungen Privatpersonen überlassen und deshalb den Zugriff auf Privateigentum zur eigenmächtigen Realisierung des Fürsorgeanspruchs gestatten66 • Vgl. oben Kap. 3.1, S. 126 ff. Arzt, Strafrecht BT (Vermögensdelikte), CI 3. a). Auf die Geringfügigkeitsbestimmung des Unrechts von Körperverletzung und Beleidigung wird später einzugehen sein. 8' Zur Gleichsetzung von Sozialbindung mit Sozialadäquanz Maunz, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Art. 14, Bem. 46. IS Vgl. Arzt, Strafrecht BT (Vermögensdelikte), C1. 3. a). U So insbesondere in archaischen Rechtsordnungen, die einen Rechtsanspruch auf staatliche Sozialleistungen nicht kannten, vgl. etwa für das frühe jüdische Recht 5. Moses 23,25: "Wenn du in deines Nächsten Weinberg gehst, so magst du Trauben essen nach deinem Willen, bis du satt hast; aber du sollst nichts in dein Gefäß tun." Weitere Beispiele bei Rössner, Bagatelldieb82
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5. Geringfügigkeit nach Unrechtsgesichtspunkten
Die wirtschaftliche Geringwertigkeit bietet den Vorzug eines eindeutigen, nach rein objektiven Kriterien bestimmbaren Maßstabes für geringfügiges Unrecht; ihre Präzisierung hängt ausschließlich davon ab, inwiefern es der Verkehrs anschauung gelingt, den Bereich der Geringwertigkeit nach Maßgabe wirtschaftlicher Betrachtung zu definieren. Wenngleich sich hier nur schwer ein starr fixierter Betrag angeben läßt, wird die jeweils der Geldentwertung dynamisch anzupassende Wertgrenze derzeit bei DM 50,- angesiedeW 7 • Unterschreitet der Wert des deliktisch erlangten Objekts bzw. des zugefügten Schadens jene Grenze, ist danach zwingend auf Bagatellunrecht zu schließen. Aus der Einsicht, die Entwendung völlig geringwertiger Sachen sei mangels deliktstypischer Erheblichkeit des Unrechts nicht strafbedürftig, folgt zwingend, daß der Bereich der Geringwertigkeit nach oben hin durch eine "harte" Grenze 88 präzise abgesteckt werden muß. Eine exakte Grenzziehung ist wegen des Bestimmtheitsgebots im Strafrecht auch dort notwendig, wo sie angesichts ihrer Starrheit unbefriedigend erscheinen mag; der "Schmerz der Grenze"8ß läßt sich bei der Auslegung strafrechtlicher Tatbestandsmerkmale prinzipiell nicht vermeiden. Dem Einwand, jede zahlenmäßig bestimmte Zäsur sei willkürlich, läßt sich entgegenhalten, daß sich das Strafrecht auch in anderem Zusammenhang letztlich willkürlicher Festsetzungen durch Zahlenangaben bedient, um Tatbestandsmerkmale zu umschreiben70 • Schwerer wiegt das Bedenken, die Berücksichtigung allein der objektiven wirtschaftlichen Geringwertigkeit bedeute eine unangemessene stahl, S. 28 ff. Relikte solcher Gestattungen finden sich heute noch am Arbeitsplatz in Form von partiellen Duldungen (die Arbeiterin in der Schokoladenfabrik darf beliebig viel Schokolade essen), von Personalrabatt, Deputat und Naturallohn. Dadurch wird freilich weder die Grenzziehung zwischen echter Gestattung, tolerierter aber an sich schon verbotener Wegnahme und nicht geduldetem Diebstahl unmöglich, noch der Diebstahl am Arbeitsplatz sozialadäquat, so aber Arzt, Zur Bekämpfung, S. 694. 87 Etwa Arzt, Strafrecht BT (Vermögensdelikte), CI 3. c); Eckl, Neue Verfahrensweisen, S. 100; Kleinknecht, Strafprozeßordnung, § 153 Rdnr. 16; Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 225. Die von den Landesjustizverwaltungen BadenWürttemberg, Bayern, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz angesteuerte gemeinsame Anwendungspraxis der §§ 153, 153 a stpo operationalisiert die Merkmale "geringer Schaden" im Sinne des § 153 A1;ls. 1 Satz 2 StPO und "geringwertige Sache" im Sinne des § 248 a StBG ebenfalls dahingehend, daß die Höhe des Schadens oder der Wert der Sache DM 50,- nicht übersteigt, vgl. etwa Erlaß des Justizministeriums Baden-Württemberg vom 1. 9. 1977 4111- IV/36, S. 3. 88 Zur Ablehnung "weicher" Grenzen zutreffend Baumann, Minima, S.7. 89 Dreher, Die Behandlung, S. 929. 70 Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 13 unter Hinweis auf §§ 24 a StVG, 316, 174,180,182,239 Abs. 2 StGB; vgl. ferner die Altersgrenzen in § 1 Abs.2 JGG.
5.2 Vergleichsmaßstab: der Unrechtstypus
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Verabsolutierung dieses Gesichtspunktes71 • Indes stellt auch das Gesetz in §§ 243 Abs. 2, 248 a, 257 Abs. 4 Satz 2, 259 Abs. 2, 263 Abs. 4, 265 a Abs. 3, 266 Abs. 3 StGB, 153 Abs. 1 Satz 2, 153 a Abs. 1 Satz 6 StPO ausschließlich auf den Verkehrswert, nicht auf den Gebrauchs- oder Affektionswert ab 72 • Wollte man dem Gebrauchs- oder Affektionswert für die Unrechts typisierung der Eigentumsdelikte Bedeutung beimessen, so wäre das Erfordernis des wirtschaftlichen Wertverlusts für die Enteignungskomponente des Zueignungsbegriffs obsolet und führte zu einer Unmöglichkeit der Grenzziehung zwischen strafbarem Verbrauch und grundsätzlich straflosem Gebrauch der Sache73 • Nur der wirtschaftliche Gegenwert erlaubt eine verläßliche objektive Bestimmung der Geringwertigkeit; die Berücksichtigung des Gebrauchs- oder Affektionsinteresses macht wegen der damit verbundenen subjektiven Unwägbarkeiten eine objektive, generell vorhersehbare Beurteilung unmöglich. Zwar kann der Diebstahl einer objektiv geringwertigen Sache für das Opfer zu einer schwerwiegenden Einbuße führen, wenn dieses unbemittelt ist bzw. an der entwendeten Sache hängt, oder auf eine rücksichtslose Einstellung des Täters hindeuten, wenn jener ohne Not um geringfügiger Vorteile willen einbricht oder die Hilflosigkeit des Opfers ausnutzt. Derlei zum Problemkreis individueller Schuldbemessung gehörende erschwerende Umstände haben jedoch außer Betracht zu bleiben, wenn es um die der Schuldbemessung vorrangige Quantifizierung des Unrechts geht. Für die Unrechtsbetrachtung ist allein die wirtschaftliche Geringwertigkeit entscheidend74 ; trotz wirtschaftlicher Geringwertigkeit des deliktisch erlangten Objekts bzw. des zugefügten Schadens kein Bagatelldelikt anzunehmen hieße, auf unzulässige Weise in die Unrechtsfeststellung Schuldbemessungsgesichtspunkte einfließen zu lassen und das Ergebnis der Unrechtsbetrachtung durch Strafzumessungserwägungen zu revidieren75 • Wenn der Bagatellcharakter des 71 So offenbar Dreher, Die Behandlung, S. 929 f. Eingehende Auseinandersetzung nunmehr bei Jungwirth, Bagatelldiebstahl. 72 Vgl. Protokoll des Sonderausschusses des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform, Wahlperiode VII, S.192. So bereits die Strafgesetzbücher des 19. Jahrhunderts, vgl. dazu Naucke, Gutachten, D 12 m. w. N. Vgl. auch den Erlaß des Justizministeriums Baden-Württemberg vom 1. 9.1977 - 4111 - IV /36, S. 3, wo ausdrücklich betont wird, daß für die Wertfeststellung objektive Kriterien maßgebend sind. Für §§ 153, 153 a stPO ausdrücklich Kleinknecht, Strafprozeßordnung, § 153 Rdn.16: "Das Affektionsinteresse wird nicht berücksichtigt." 73 Eser, Strafrecht IV, Fall 3, A 32. 74 Im Ergebnis ebenso BVerfG, Beschluß vom 17.1. 79 2 BvL 12/77 -, S. 15. Das BVerfG erklärt in dieser Entscheidung § 248 a StGB für verfassungskonform und stellt diesbezüglich fest, daß die unter jene Bestimmung fallenden, auf die Erlangung einer wirtschaftlich geringwertigen Sache gerichteten Taten keineswegs leicht zu wiegen brauchen. 75 Vgl. dazu oben Kap. 4.2, S. 199 ff.
220
5. Geringfügigkeit nach Unrechtsgesichtspunkten
Diebstahls eines Zehnmarkscheines wegen der Opferverhältnisse in Frage gestellt und umgekehrt die Erheblichkeit einer Wegnahme von tausend Mark bezweifelt wird, weil das Opfer ein Großkonzern ist, für den der Verlust unerheblich ist, wäre im Strafrecht jede Möglichkeit genommen, mehr als nur Billigkeit, nämlich Gleichheit durchzusetzen7B • Ist somit der Gesichtspunkt der nach der Verkehrs anschauung zu bestimmenden wirtschaftlichen Geringwertigkeit unbedenklich, so fragt es sich, ob die Wertgrenze deliktunabhängig festgesetzt werden kann. Das Gesetz, welches im Bereich der Eigentums- bzw. Vermögensdelikte und der Begünstigung bei wirtschaftlicher Geringwertigkeit die Verfolgung von prozessualen Voraussetzungen abhängig macht, ist insofern nicht eindeutig, als es offenläßt, ob bei den einzelnen Delikten dieselbe Wertgrenze zu gelten hat. Im juristischen Schrifttum wird die Wertgrenzenproblematik nahezu ausnahmslos für den Fall des Bagatelldiebstahls, speziell des Ladendiebstahls, erörtert; ob damit implizit unterstellt wird, daß die in bezug auf den Bagatelldiebstahl bei DM 50,- anzusiedelnde Wertgrenze für alle Delikte Gültigkeit beansprucht, bei denen der durch die Tat verursachte Schaden wertmäßig bezifferbar ist, ist eine offene Frage77 • Für die deliktunabhängige Festlegung einer einheitlichen Wertgrenze scheint insbesondere das Gleichheitsargument zu sprechen: zumindest auf den ersten Blick wäre es befremdlich, etwa bei Diebstahl, Betrug und Unterschlagung die Obergrenze für den noch bagatellisierungsfähigen Schaden bei unterschiedlichen Geldbeträgen anzusetzen, zumal angesichts der dogmatischen Abgrenzungsschwierigkeiten jener Delikte voneinander es für den Täter mitunter nicht absehbar ist, ob die Tat sich im Ergebnis als Diebstahl, Unterschlagung oder Betrug darstellt. So legen denn auch die in den einzelnen Bundesländern bzw. Generalstaatsanwaltsbezirken erlassenen verwaltungsinternen Richtlinien zur Vereinheitlichung der Anwendungspraxis von §§ 153, 153 a StPO bei der Operationalisierung der geringen Schadenshöhe durchweg einen deliktunabhängigen Maßstab an78 ; die von den Landesjustizverwaltungen Baden-Württemberg, Bayern, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz getroffene Vereinbarung sieht etwa vor, daß eine Einstellung der 71 Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 210 unter Berufung auf Baumann, Grenzen, S. 143 f. sowie Kern, Grade, S.277. Anderer Ansicht Naucke, Gutachten, D 12 f. 77 Soweit ersichtlich, nimmt nur Rössner zu diesem Problem ausdrücklich Stellung: er geht davon aus, daß die beim Diebstahl anzusetzende Wertgrenze nicht unbesehen und uneingeschränkt auf alle Eigentums- und Vermögensdelikte übertragen werden kann, vgl. Rössner, Bagatelldiebstahl, S.212. 78 Vgl. dazu die Übersicht bei Kausch, Der Staatsanwalt, S. 195 ff., 200 f.
5.2 Vergleichsmaßstab: der Unrechtstypus
221
Staatsanwaltschaft ohne gerichtliche Zustimmung (§ 153 Abs. 1 Satz 2 StPO) bis zu einem Schaden von DM 50,- und die Anwendung der §§ 153, 153 a StPO im übrigen bis zu einer Schadenshöhe von DM 100,in Betracht zu ziehen ist7D • Die nähere Betrachtung erweist jedoch den Schein einer einheitlichen Handhabung der §§ 153, 153 a StPO in Ansehung des Schadensniveaus als trügerisch. Nicht nur, daß die Wertgrenze regional völlig unterschiedlich festgelegt wird80 ; auch vom Prinzip der einheitlichen Wertgrenze wird beim Ladendiebstahl nach unten hin, bei Wirtschaftsstraftaten nach oben hin abgewichen. Der Ladendiebstahl ist etwa in Bremen und in Berlin von der Einstellung wegen Geringfügigkeit generell ausgenommen81 • Bei Wirtschaftsstraftaten besteht unter den Landesjustizverwaltungen Einigkeit darüber, daß die Höhe des Schadens einer Einstellung wegen Geringfügigkeit nicht entgegen steht, wenn die Anwendungsvoraussetzungen aus sonstigen Gründen bejaht werden können82 • Darüber hinaus belegen empirische Untersuchungen zur Bagatellisierungspraxis, daß die strafrechtlichen Kontrollinstanzen zur Bestimmung der Geringwertigkeit des Schadens abweichend von den Richtlinien generell einen deliktspezifischen Maßstab anlegen: während etwa beim Diebstahl die Bagatellisierung mehrheitlich bis zu einer Schadenshöhe von DM 100,- erfolgt, liegt bei der Unterschlagung die Schadenshöhe in der bagatellisierten Fällen zum Teil weit darüberB3 • Nachweise bei Treiber, Die Macht, S.471, Fußnote 4. Die im Bundesvergleich höchste Schadensobergrenze bei Vermögensdelikten für Einstellungen nach § 153 a StPO ist in Hamburg auf DM 800,festgelegt, vgl. Verfügung des LOStA bei dem LG Hamburg betr. die Behandlung der Kleinkriminalität nach §§ 153, 153 a StPO sowie § 248 a StGB in der Fassung vom 1. lO. 1976. Landeseinheitliche Schadensobergrenzen sind nunmehr in Baden-Württemberg eingeführt, vgl. Gemeins. Erlaß des Innenund Justizministeriums vom 24.5.1983 (IH 63011474): bis 20 DM bei § 153 StPO und bis 500 DM bei § 153 aStPO. 81 Für Bremen: AV des GenStA v. 27.12.1974 4111 - 725/74 - V -, H. 2.; für Berlin: AO des Justizsenators v. 15.6.1977 - 4600/1 - IV/A. 3 -. 82 Nachweis bei Kramer, Willkürliche oder kontrollierte Warenhausjustiz, S.16lO, Fußnote 46. Die entgegengesetzte Ansicht vertritt Meyer-Goßner, in: Löwe/Rosenberg, Strafprozeßordnung, 23. Aufl., Rdnr.24 zu § 153 a: "Auch bei Wirtschaftsstrafsachen wird die Anwendung des § 153 a in der Regel nicht in Betracht kommen ... Gerade die jetzt allgemein erkannte Gefahr und Bedeutung der Wirtschaftsstrafsachen, die nicht zuletzt zu einer Verschärfung des Wirtschaftsstrafrechts geführt hat, begründen ein regelmäßig durch Auferlegung von Auflagen nicht zu beseitigendes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung. " 83 Dazu im einzelnen Kunz, Die Einstellung, S. 70 ff., 73. Nach einer anderen Untersuchung liegt der noch einstellungsfähige Schaden bei Ladendiebstahl durchschnittlich bei DM 24,-, bei der Unterschlagung hingegen DM 1224,-, vgl. Sessar, nach Albrecht, Bericht, S.1095. Tendenziell ähnliche Befunde bei Hertwig, Die Einstellung, S. 173 ff. 79
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5. Geringfügigkeit nach Unrechtsgesichtspunkten
Das stillschweigende Unterlaufen der grundsätzlich auf dem Prinzip der einheitlichen Wertgrenze beruhenden Richtlinien durch die Praxis belegt, daß eine deliktunabhängige Pauschalisierung der Schadensobergrenze nicht sachgerecht ist. Weil das typischerweise zu erwartende Schadensniveau je nach Delikt erheblich variiert, ist die pauschale Festlegung einer einheitlichen Wertgrenze immer inadäquat: orientierte man sich an der durchschnittlichen Schadenshöhe aller Delikte mit wertmäßig bezifferbarem Schaden, so wären praktisch alle Fälle des Diebstahls in Ansehung der Schadenshöhe bagatellarisch, weil Diebstahl ein Delikt mit niedrigem Schadensniveau ist; übertrüge man dagegen den Geringwertigkeitsmaßstab des Diebstahls auf andere Delikte, so würden ganze Deliktgruppen, für die ein regelmäßig hoher Schaden kennzeichnend ist, von vornherein der Bagatellisierung entzogen 8'. Die Verkehrsanschauung und ihr folgend die strafrechtlichen Kontrollinstanzen erachten ein Wirtschaftsdelikt, nicht aber einen Diebstahl in Anbetracht eines verursachten Schadens von DM 500,als geringfügig 85 • Weil zu den typischen Merkmalen des Betruges, der Unterschlagung und der Wirtschaftsstraftaten die Verursachung hoher Schäden gehört, wird hier die Toleranzschwelle für den noch bagatellisierungsfähigen Schaden hoch angesetzt; umgekehrt wird bei ähnlich hohem Schaden, der aus einem Ladendiebstahl resultiert, eine Bagatellisierung nicht in Betracht kommen, weil dort das typische Schadensniveau erfahrungsgemäß niedrig anzusetzen ist86 • Die deliktspezifische Operationalisierung des Merkmals Geringwertigkeit des Schadens ist darum grundsätzlich angemessen. Weil jenes Merkmal ein Indikator für die Geringfügigkeit des Unrechts ist und dieses sich aus dem Vergleich mit dem jeweils delikts typischen Unrechtsgehalt erschließt87 , muß auch die Geringwertigkeit des Schadens durch Vergleich mit dem je deliktstypischen Schadensniveau ermittelt werden. Bei der Auslegung von Tatbestandsmerkmalen ist es nachgerade schon selbstverständlich, daß derselbe Begriff in unterschiedlichen Deliktstatbeständen verwandt etwas anderes bedeuten kann 88• Nichts anderes gilt für das Merkmal Geringwertigkeit des Schadens: auch seine Auslegung bemißt sich nicht nach einem vom gesetzessyste84 So bereits Kunz, Die Einstellung, S. 103. Naucke, Gutachten, D 90 bezeichnet die Forderung nach einer einzigen Wertgrenze als "einseitiger kriminalpolitischer Dogmatismus, wenn nicht als Willkür". 85 Vgl. Blankenburg u. a., Die Staatsanwaltschaft, S. 147 ff. 86 Vgl. Kunz, Die Einstellung, S. 73 f. 87 Vgl. oben Kap. 5.2, S. 213 ff. 88 So umfaßt nach verbreiteter Ansicht der Gewaltbegriff des § 113 StGB im Gegensatz zu demjenigen nach § 240 StGB nur die körperlich spürbare Gewalt, vgl. etwa BGHSt 18, 133.
5.2 Vergleichsmaßstab: der Unrechtstypus
223
matischen Zusammenhang abstrahierten Begriffsinhalt, sondern nach dem je deliktspezifischen Kontext, durch den der Geringwertigkeitsbegriff erst seine konkrete Bedeutung erlangt. Wegen der Ungleichwertigkeit der Verstöße gegen unterschiedliche Strafvorschriften steht es in vollem Einklang mit den strafprozessualen Vorschriften und dem Gleichbehandlungsgebot, wenn die Praxis bei der Geringwertigkeit des Schadens keinen absoluten, sondern einen relativen, an Durchschnittsverstößen gegen dieselbe Strafbestimmung ausgerichteten Maßstab anlegtSg • Damit ist die Bedeutung der wirtschaftlichen Geringwertigkeit als Bemessungsgesichtspunkt für geringfügiges Unrecht relativiert. Eine Wertgrenze, unterhalb derer von Bagatellunrecht auszugehen ist, kann allenfalls für den Bereich des Diebstahls als gesichert angenommen werden. Bei anderen Delikten mit wertmäßig bezifferbarem Schaden sind hinlänglich präzise Verkehrsanschauungen darüber, wann eine Tat die deliktstypische Schadenserheblichkeit erreicht, nicht vorhanden; hier öffnet sich für die empirische Forschung ein breites Feld. Solange wir nicht sicher wissen, mit welcher Schadenshöhe bei Unterschlagung, Hehlerei, Betrug, Untreue und Wirtschaftsstrafsachen typischerweise zu rechnen ist und wo die Verkehrsanschauung bei diesen Delikten die Grenze zum unerheblichen Schaden festsetzt, sind diesbezügliche Mutmaßungen reine Spekulation. überhaupt muß davor gewarnt werden, die wirtschaftliche Geringwertigkeit als Maßstab für geringfügiges Unrecht zu überschätzen. Der Gesichtspunkt der Geringwertigkeit ermöglicht nur eine sektorale, auf Eigentums- und Vermögensdelikte beschränkte Ausgliederung von Bagatellunrecht. Ob die Geringwertigkeit auch bei anderen Delikten mit wertmäßig bezifferbarem Schaden zur Annahme von Bagatellunrecht führen kann, muß bezweifelt werden. Im Gegensatz zu den S9 Berckhauer, Die Erledigung, S. 1043. Die Kommentierung zu §§ 153, 153 a StPO geht übereinstimmend davon aus, daß Vergleichsmaßstab für die Geringfügigkeitsbestimmung die durchschnittliche Verfehlung gleicher Art sei, vgl. Eckl, Neue Verfahrensweisen, S.99; Kleinknecht, Strafprozeßordnung, Rdnr.4 zu § 153; Meyer-Goßner, in: Löwe/Rosenberg, Strafprozeßordnung, 23. Aufl., Rdnr. 13 zu § 153; Düwel, § 153 a, S. 482. An der Richtigkeit dieser strafrechtsdogmatischen Einsicht ändert nichts, daß sie speziell im Bereich der Wirtschaftsstraftaten zu kriminalpolitisch mitunter fragwürdigen Ergebnissen führt. Der Gefahr, daß Wirtschaftsdelikte mit horrend hohen Schäden bagatellisiert werden können, weil sie sich angesichts des hier zu erwartenden durchschnittlichen Schadenspegels (nach Berckhauer, Die Erledigung, S.1034: DM 300000,-) immer noch als relativ geringfügig darstellen, kann und muß auf andere Weise als durch Festlegung einer absoluten Schadensobergrenze begegnet werden. Dazu ausführlich später; vgl. vorab nur Kunz, Die Einstellung, S. 103 ff. Von daher gehen die kriminalpolitischen Einwände von Kausch gegen die deliktspezifische Wertgrenzenbestimmung fehl, vgl. Kausch, Der Staatsanwalt, S. 125 f.
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5. Geringfügigkeit nach Unrechtsgesichtspunkten
Eigentums- und Vermögensdelikten besteht etwa bei Sachbeschädigung und Verkehrsunfallflucht kein gleichermaßen dringliches Bedürfnis zur Privilegierung der geringwertigen Schadensverursachung, weil diese Delikte bereits in ihrer Tatbestandsumschreibung eine gewisse Schadenserheblichkeit voraussetzen und belanglose Beeinträchtigungen von vornherein tatbestandsmäßig ausgeschlossen werdenuo • Entgegen ersten Anscheins taugt die wirtschaftliche Geringwertigkeit auch im Betäubungsmittelrecht nicht als Anknüpfungspunkt für eine Privilegierung. Nach der Sondervorschrift des § 11 Abs.5 BtMG kann das Gericht von Strafe absehen, wenn der Täter Betäubungsmittel lediglich zum Eigenverbauch in geringen Mengen besitzt oder erwirbt. Bei der Auslegung des Merkmals der "geringen Menge" ist auf den Zweck der Vorschrift abzustellen: der Normzusammenhang stellt klar, daß die Bestimmung auf "Probierer" Anwendung findet, die erstmals mit zum Eigenverbauch tauglichen Betäubungsmittelmengen in Berührung kommen; ein Absehen von Strafe kommt in Betracht, wenn sich aus der Menge der besessenen oder erworbenen Betäubungsmittel der Schluß aufdrängt, daß diese nicht zur Weitergabe an Dritte bestimmt sind9oa • Ob dies sich nach der Zahl der mit der festgestellten Menge möglichen Rauschzuständeo ob , nach dem durchschnittlichen Vorrat eines KonsumentenUoC oder nach dem durchschnittlichen MonatsbedarfUod bemißt, mag vorliegend dahinsteheno oe • Wie bei Eigentums- und Vermögensdelikten auf den wirtschaftlichen Gegenwert abzustellenuof, verbietet sich jedenfalls schon deshalb, weil der Konsumentenpreis bei einem überangebot auf dem illegalen Markt sinkt und dadurch die Neigung des Konsumenten zur verstärkten Vorratshaltung geweckt wird; gerade unter diesen Umständen ist eine stärkere strafrechtliche Abschreckung zur Eindämmung der Vorratshaltung erwünscht, die beim Abstellen auf den wirtschaftlichen Gegenwert zunichte gemacht würde uog• Diese Beispiele zeigen, daß die wirtschaftliche Geringwertigkeitsbestimmung selbst dort, wo das Gesetz in Geldeswert quantifizierbare 90 Vgl. in bezug auf die Sachbeschädigung BGHSt 13, 207, in bezug auf die Verkehrsunfallflucht BayObLG VRS 15, 42, NJW 1960, 832. 90a Insofern besteht in Rechtsprechung und Lehre Einmütigkeit, vgl. Joachimski, Betäubungsmittelrecht, § 11 Anm. 27. c). 90b So OLG Düsseldorf NJW 1974, S.1920; NJW 1975, S.1493. 90C OLG Zweibrücken NJW 1974, S. 2069; OLG Karlsruhe NJW 1974, S.2061; OLG Hamm NJW 1974, S. 1437. 90d Joachimski, Betäubungsmittelrecht, § 11 Anm. 27. c). OOe Nach BGH NJW 1976, S. 1800 ist dies allein Sache tatrichterlicher Würdigung im Einzelfall. DOf So aber BayObLG NJW 1973, S. 669. BOg Vgl. Joachimski, Betäubungsmittelrecht, § 11 Anm. 27. c).
5.2 Vergleichsmaßstab: der Unrechtstypus
225
Merkmale verwendet, keineswegs zwingend zur Geringfügigkeitsbeurteilung tauglich ist. Die Vorfrage, ob die rein technisch gesehen problemlose tatbestandliche Verselbständigung geringwertiger Verwirklichungsmodalitäten mittels Wertgrenze angemessen ist, be mißt sich nicht nach technischen Imperativen, sondern nach der jeweiligen Tatbestandsstruktur und der jeweiligen Rechtsgutsbestimmung. Die wirtschaftliche Geringwertigkeit ist nur im Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte ein funktionales Äquivalent für die Geringfügigkeit des Unrechts; auf andere Deliktstatbestände läßt sich dieser Maßstab nicht übertragen. Da somit der Gesichtspunkt der Geringwertigkeit des Schadens nur einen partiellen Bereich geringfügigen Unrechts im Rahmen bestimmter Tatbilder abdeckt, bewirkt er für sich betrachtet eine unangemessene Privilegierung der leichten Eigentums- und Vermögensdelinquenz gegenüber anderen geringfügigen Delikten, die sich nicht mittels einer Wertgrenze objektiv eindeutig erfassen lassen91 • Die Geringwertigkeit des Schadens als Bemessungsgrundlage für geringfügiges Unrecht kann daher nur dann akzeptiert werden, wenn sich weitere generalisierbare Bewertungsmaßstäbe finden lassen, die die Geringfügigkeit des Unrechts bei weiteren Tatbestandsmerkmalen und anderen Deliktstatbeständen auf den Begriff bringen. In der Tat ist die wirtschaftliche Geringwertigkeit keineswegs der einzige, nicht einmal der einzig objektivierbare Maßstab für Bagatellunrecht. Im Bereich der alkoholbedingten Gefährdungsdelikte des Verkehrstrafrechts etwa ließe sich innerhalb der Zone relativer Fahruntüchtigkeit an eine durch Feststellung der Blutalkoholkonzentration gleichermaßen objektivierbare Grenze denken, unterhalb derer das Tatunrecht als bagatellarisch anzusehen ist. So erachten es die Gesprächsergebnisse der Landesjustizverwaltungen 1974 für vertretbar, bei Trunkenheit am Steuer bis zu einer Blutalkoholkonzentration von 1 %0 nach § 153 a StPO vorzugehen92 • Ob dies sachgerecht ist, muß mangels hinlänglicher empirischer Erkenntnisse derzeit dahinstehen; bestätigt sich die Annahme, es gäbe schlechthin keine für die Fahrleistung unerhebliche Blutalkoholkonzentration, so käme Bagatellun-recht insoweit überhaupt nicht in Betracht, weil ein noch so geringer Alkoholgenuß zur deliktstypischen Fahruntüchtigkeit führen kann. Aber auch außerhalb solch zahlenmäßig faßbarer Werte ist für eine quantifizierende Betrachtung unrechtskonstituierender Merkmale Raum: nahezu jedes unrechtsbegründende Tatbestandsmerkmal kann sich nach So bereits Kunz, die Einstellung, S. 98; vgl. auch Naucke, Gutachten, D 14. Nachweise bei Kausch, Der Staatsanwalt, S. 201; Eckl, Neue Verfahrensweisen, S. 100. 91 92
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5. Geringfügigkeit nach Unrechtsgesichtspunkten
Maßgabe der Verkehrsanschauung abweichend vom Deliktstypus als geringfügig erweisen. Hier eine sachgerechte Zäsur zwischen typischerweise erheblichen und geringfügigen Verwirklichungsmodalitäten zu treffen, ist nicht problematischer als bei zahlenmäßig graduierbaren Tatbestandsmerkmalen. Es ist wesentlich zu erkennen, daß eine Wertgrenze keine Präzisierung der Geringfügigkeitsbeurteilung mit sich bringt, sondern eine solche nur vortäuscht. Zahlenmäßig nicht graduierbare Tatbestandsmerkmale umschreiben Bagatellunrecht auf derselben Sprachebene wie der Begriff der Geringfügigkeit selbst und bringen deshalb die Unschärfe der Geringfügigkeitsbeurteilung auch begrifflich zum Ausdruck. Eine zahlenmäßig bestimmte Wertgrenze für Bagatellunrecht drückt dagegen das Ergebnis des gleichermaßen uneindeutigen Bestimmungsvorganges auf einer anderen, von der umgangssprachlichen Unschärfe gereinigten Sprachebene in arithmetisch exakter Form aus. Auch der vermeintlich rein deskriptive Ausdruck der Wertgrenze muß normativ festgelegt und interpretiert werden, weil er eine rechtliche Bewertung beinhaltet93 • Die Eindeutigkeit einer zahlenmäßig festgelegten Grenze bezieht sich nur auf ihre arithmetisch exakte Ausdrucksform, nicht aber auf ihren im rechtlichen Kontext maßgeblichen semantischen Gehalt: die Bezeichnung der Schwelle zum erheblichen Unrecht. Die Frage, wann diese Schwelle erreicht ist, beantwortet sich hier wie dort nach der Verkehrsanschauung und unterliegt deren Unschärferelationen. Die Wertgrenze ist der zeitgenössische Ausdruck des von uns als unmöglich erkannten94 Bemühens um eine apriorisch-eindeutige Festlegung der Inhalte des Bagatelldelikts. Dies erklärt, warum um ihre Einführung mit so viel Eifer gekämpft wird und warum sie bisweilen gar als einziges Kriterium zur Beurteilung der Geringfügigkeit von Eigentums- und Vermögensdelikten angesehen wird 95 • Die Wertgrenze als ein formal exakter Ausdruck einer inhaltlich prinzipiell uneindeutigen rechtlichen Würdigung zu sehen, erweist ihre vorgebliche Exaktheit als verklärenden Schein, der die eigentlichen Schwierigkeiten bei der Bestimmung von Bagatellunrecht nicht löst, sondern ihnen aus dem Wege geht. Dies zeigt sich immer dann, wenn die Wertgrenzenproblematik im Hinblick auf ihre Angemessenheit zur Erfassung geringfügigen Unrechts 93 Vgl. Esser, Vorverständnis, S.59: "Es ist von der Theorie schon lange anerkannt, daß jedes, auch ein scheinbar rein ,faktisches' Begriffsmerkmal eines Normtatbestandes, wertend, das heißt eben ,normativ' zu verstehen ist. Der Unterschied zwischen den genuinen normativen Rechtsbegriffen gegenüber ursprünglich deskriptiv verstandenen Begriffen ist funktionell nicht mehr nachweisbar, wenn ein Begriff der letzten Art als Relevanzkriterium in einen Normtatbestand eingebaut ist." 94 Vgl. oben Kap. 3.2, 3.3. 95 So vornehmlich Baumann, über die notwendigen Veränderungen, S.3.
5.2 Vergleichsmaßstab: der Unrechtstypus
227
erörtert wird. Obschon die Geringwertigkeit des erstrebten deliktischen Erfolges als solche im Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte ein geeigneter Indikator für Bagatellunrecht ist, wird sie, zahlenmäßig auf den Begriff gebracht, notwendig inadäquat. Ihre zeitliche Unangepaßtheit, der Umstand also, daß die Festlegung entweder zu rückwärts gewandt oder zu vorauseilend ist96 , ist dabei noch das kleinere Problem, das durch dynamische Anpassung an den Geldwert im Wege regelmäßiger Neufestsetzung oder durch automatische Berücksichtigung der jeweiligen Inflationsquote entschärft werden könnte. Entscheidend ist, daß eine - wo auch immer angesiedelte - Wertgrenze entgegen ihres Anscheins nicht "fest" ist: je mehr man sich ihr nähert, als um so schwächer erweist sie sich. Die Rechtsanwendungstechniken sind vielfältig, um harten Grenzen die Härte zu nehmen; sie reichen von Rechtswidrigkeits- und Schuldüberlegungen über Strafzumessungserwägungen bis zu Gnadenentscheidungen und Maßnahmen zur Steuerung der Verbrechenskontrolle. Selbst Promillegrenzen bei alkoholbedingten Verkehrsdelikten und Geschwindigkeitsbegrenzungen sind so wörtlich nicht gemeint97 • Warum die Rechtsfolgen völlig andere sein sollen, wenn die Wertgrenze soeben erreicht oder wenn sie um wenige Pfennige überschritten wird, ist prinzipiell nicht einsehbar; die Rechtsanwendung würde mit guten Gründen auch hier nach Wegen suchen, um eine gesetzlich vorgegebene Wertgrenze durch flexible Auslegung zu entschärfen98 • Die Befürworter einer harten Wertgrenze sehen sich denn auch genötigt, die durch die Härte der Grenze entstehenden Folgen "in Ausnahmefällen ... durch eine flexible Verfahrensgestaltung" zu mildern99 • Unter welchen Voraussetzungen solche Ausnahmen angenommen werden können, bleibt ebenso offen wie die Frage, ob diese Ausnahmeregelung nicht die Ausnahme zur Regel macht und damit das Prinzip der harten Grenze aus den Angeln hebt1oo• Aus alledem resultiert, daß es sich nicht empfiehlt, im Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte privilegierte Sondertatbestände zu Naucke, Gutachten, D 89. So Naucke, Gutachten, D 91. In bezug auf die 1,3-Promille-Grenze weist Naucke darauf hin, daß, um so mehr man sich ihr nähert, desto geringer die Anforderungen an die Feststellung der relativen Fahruntüchtigkeit werden, desto subtiler die Rückrechnungsregeln werden, desto höher die Strafe ausfällt und desto geringer die Aussichten werden, daß nur fahrlässige Begehung eines Trunkenheitsdelikts angenommen wird (Fußnote 284). 98 Damit stellt sich die Frage, ob eine gesetzlich fixierte Wertgrenze, die zwangsläufig eine Entindividualisierung und Verobjektivierung eines Teils des strafrechtlichen Reaktionssystems mit sich brächte, überhaupt mit der selbstbewußten Aufgabenstellung einer individualisierenden Rechtsanwendung in der heutigen Zeit vereinbar wäre, so Naucke, Gutachten, D 90 unter Berufung auf v. Bülow. 99 So etwa Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 225. 100 Ahnlich Naucke, Gutachten, D 90, Fußnote 280. 98 97
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5. Geringfügigkeit nach Unrechtsgesichtspunkten
schaffen, die sich von den jeweiligen Grundtatbeständen durch die bei einer bestimmten zahlenmäßigen Grenze anzusiedelnde Geringwertigkeit des deliktischen Erfolges abheben. Rein gesetzestechnisch ist die Abschichtung mittels Wertgrenze problemlos möglich; rein theoretisch ist sie ein geeignetes Korrektiv, um die im unteren Anwendungsbereich der Eigentums- und Vermögensdelikte überzogene Strafbewehrung zu restringieren. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, die Perspektiven grundsätzlicher Tauglichkeit und instrumenteller Möglichkeit zu einer Regelung zu verschmelzen, bei der die Unterschreitung einer bestimmten Wertgrenze des verkehrswertmäßig charakterisierten deliktischen Erfolges ein funktionales Äquivalent für die Geringfügigkeit des Unrechts darstellt. Das entscheidende praktische Problem, bei welchem Wert die Schwelle zwischen geringfügigem und erheblichem Unrecht anzusiedeln ist, läßt sich nicht einmal dann verbindlich befriedigend lösen, wenn man den jeweiligen Geldwert und die bei der jeweiligen Deliktsgattung typischerweise zu erwartende Schadenshöhe in die Kalkulation einbezieht. Weil eine eindeutige generelle Festlegung der Inhalte von Bagatellunrecht nicht möglich ist, kann eine wo auch immer zahlenmäßig fixierte Geringwertigkeitsgrenze die Geringfügigkeit des Unrechts nicht mit genereller Verbindlichkeit repräsentieren. Demnach kommt nur eine Regelung im Allgemeinen Teil des materiellen Strafrechts oder im Prozeßrecht in Betracht, die unter Verzicht auf Benennung eines festen Werts die Geringfügigkeit des mit einem Eigentums- oder Vermögens delikt erlangten bzw. erstrebten deliktischen Erfolges als zwingend zu berücksichtigender Indikator für eine Bagatellisierung aus Unrechtsgesichtspunkten vorsieht. Eine feste Wertgrenze läßt sich nur als unverbindliche Richtschnur für die Entscheidungsfindung vorgeben. Angesichts der als unumgänglich erkannten deliktspezifischen Festlegung der Wertgrenze ist die empirische Kriminalsoziologie aufgerufen zu ermitteln, mit welcher Schadenshöhe bei den einzelnen Delikten typischerweise zu rechnen ist und wo die Verkehrsanschauung bei diesen Delikten die Grenze zum unerheblichen Schaden festsetzt. Im Hinblick auf die Notwendigkeit einer dynamischen Anpassung der Wertgrenze an die Geldwertentwicklung empfiehlt sich eine bundeseinheitliche Regelung durch das gegenüber dem Gesetz flexiblere Instrument der Rechtsverordnung bzw. der Allgemeinverfügung. Da Rechtsverordnungen und Allgemeinverfügungen eine geringere Publizitätswirkung als Gesetze entfalten und die darin aufzunehmende Wertgrenze nur eine unverbindliche Richtschnur enthält, steht nicht zu erwarten, daß auf Grund einer solchen Regelung sich im öffentlichen Bewußtsein die generalpräventiv schädliche Erwartung festsetzt, Straftaten würden erst ab einer gewissen Schadenshöhe mit Strafe geahndet.
5.2 Vergleichsmaßstab: der Unrechtstypus
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5.22 Die Geringfügigkeitsbestimmung zahlenmäBig nicht graduierbarer Merkmale
Die im vorangegangenen Kapitel angestellten überlegungen haben verdeutlicht, daß die wirtschaftliche Geringwertigkeit des deliktischen Objekts bzw. Schadens ein nur partiell und mit Vorbehalt verwendbarer Maßstab für Bagatellunrecht ist, der die Problematik der Geringfügigkeitsbestimmung eher verstellt denn erhellt. Um so dringlicher ist es, den Möglichkeiten einer atypischen Unrechtsminderung bei zahlenmäßig nicht graduierbaren Tatbestandsmerkmalen nachzugehen; dies nicht nur, um eine sachwidrige Verengung der Diskussion auf wertmäßig bezifferbare Merkmale zu vermeiden, sondern zugleich, um die Regeln zu erhellen, denen die Geringfügigkeitsbestimmung unrechtskonstituierender Merkmale generell folgt - nach denen sich also auch die Angemessenheit der Wertgrenzenfestsetzung für geringwertige Objekte bzw. Schäden bemißt. Da wir von strafrechtlichem Bagatellunrecht bei einem Verhalten sprechen, welches formell strafrechtswidrig ist, ohne materiell die deliktstypische Unwerthaftigkeit zu erreichen, setzt die typisierende Unwertbestimmung voraus, daß das betreffende Verhalten zuvor kategorial als strafrechtswidrig klassifiziert wurde; die klassifizierende Rechtswidrigkeitsfeststellung ist ein Zwischenergebnis der Unrechtsbetrachtung, das der Grenzbestimmung strafbaren Unrechts dient und dem typisierenden Verfahren der Inhaltsbestimmung seine Voraussetzung vermittelt. Das formelle Rechtswidrigkeitsurteil gibt die Information aus der tatbestandlichen Qualifizierung eines Verhaltens an das nachfolgende Verfahren der materialen Unrechtsbewertung weiter und begründet die Möglichkeit und Notwendigkeit der erneuten Befragung des als strafrechtsrelevant klassifizierten Verhaltens nach Strafbedürftigkeitsrelevanzen. Dasselbe Verhalten, welches nach Maßgabe der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale qualitativ als rechtswidrig klassifiziert wurde, ist nunmehr durch Vergleich mit den typischen Verwirklichungsmodalitäten des Deliktstatbestandes, dem das Verhalten unterfällt, quantitativ in seinem Ausmaß an Unrechtserheblichkeit zu bestimmen; unterschreitet der Unwert des Verhaltens in atypischer Weise den im Deliktstatbestand zum Ausdruck kommenden Unwertgehalt, so ist es - obschon formell strafrechtswidrig - wegen der Geringfügigkeit seines materialen Unwertgehalts nicht strafbedürftig. Es hat deshalb den Anschein, als seien Rechtswidrigkeitsfeststellung und Unwertbestimmung methodisch divergent: erstere scheint klassifizierenden, letztere typisierenden Charakter zu besitzen. Dieser Annahme zufolge werden im Rahmen der Rechtswidrigkeitsfeststellung
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5. Geringfügigkeit nach Unrechtsgesichtspunkten
die unrechtskonstituierenden Merkmale des Deliktstatbestandes als Klassenbegriffe verstanden, die der Feststellung dienen, ob ein Lebensvorgang den Merkmalen eines Unrechtstatbestandes zuzuordnen ist oder nicht, und die daher zu einer kategorialen Entweder-Oder-Entscheidung zwingen, bei der für Zwischentöne kein Raum ist101 • Bei der Unwertbestimmung kommt es dagegen gerade auf diese "Zwischentöne" der Unrechtsabstufung an, die im Rechtswidrigkeitsurteil eliminiert sind; hier werden die unrechtskonstituierenden Tatbestandsmerkmale als Typenbegriffe aufgefaßt, die der typologischen Auffächerung des gesetzlich vermittelten Sinngehalts nach Strafbedürftigkeitsrelevanzen und des interpretativen Aus-Richtens des Lebensvorganges an diesen dienen. Für die Bagatellproblematik ist es wesentlich zu erkennen, daß eine derartige methodische Divergenz zwischen Rechtswidrigkeitsfeststellung und Unwertbestimmung nicht besteht. Nicht von ungefähr ergibt sich aus unserer Definition des Bagatellunrechts, daß das klassifizierende Ergebnis der Rechtswidrigkeitsfeststellung Voraussetzung für das typisierende Verfahren der Bestimmung von Bagatellunrecht ist. Nur das Ergebnis der Rechtswidrigkeitsprüfung - die Aussage, ein Verhalten sei strafrechtswidrig oder nicht - stellt sich als eindeutig und klassifizierend dar; darin unterscheidet sich die Rechtswidrigkeitsfeststellung aber gerade nicht von der Geringfügigkeitsbestimmung des Unrechts, deren Ergebnis in die gleichermaßen eindeutige und klassifizierende Aussage darüber mündet, ob ein rechtswidriges Verhalten nach Maßgabe seines Unwertgehalts strafbedürftig ist oder nicht. Die klassifikatorische Formulierung des Ergebnisses des Prüfungsverfahrens besagt hier wie dort nicht, daß das Verfahren selber sich nach klassifizierenden Prüfungskriterien richtet10!. Die Rechtswidrigkeitsfeststellung ist mehr als bloß formale Subsumtion eines Lebensvorganges unter die Merkmale eines gesetzlichen Unrechtstatbestandes; auch der vermeintlich rein klassifizierende Subsumtionsvorgang verlangt streng genommen eine typisierende Betrachtung gesetzlicher Tatbestandsmerkmale, die deren prinzipiell uneindeutigen und darum auslegungsbedürftigen Sinngehalt vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Werterfahrungen aktualisiert und auf den zur Entscheidung stehenden Lebensvorgang interpretativ zurichtet. Wenngleich die Rechtswidrigkeitsfeststellung im Gegensatz zur Unwertbestimmung den Deliktstatbestand und nicht unmittelbar den Deliktstypus zum Kriterium des Prüfungsverfahrens 101 Zum klassifikatorischen Charakter gesetzlicher Merkmale und ihrer Auslegung grundlegend Radbruch, Klassenbegriffe, insbes. S. 49 ff. 102 Ebenso Hassemer, Die rechtstheoretische Bedeutung, S.283 Fußnote 4; vgl. auch Hassemer, Tatbestand, S. 124 f. Ähnlich Blei, Strafschutzbedürfnis, S.109 ff.
5.2 Vergleichsmaßstab: der Unrechtstypus
231
nimmt, verlangt die einzelfallbezogene Auslegung des Tatbestandes und seiner Merkmale doch notwendig den Rekurs auf die Typizität des Tatbestandes103• So gesehen erweisen sich Rechtswidrigkeitsfeststellung und Unwertbestimmung nicht als methodisch gegensätzliche Arten der Unrechtsbetrachtung, sondern als aufeinander aufbauende Erkenntnisschritte einer zunehmenden Konkretisierung des gesetzlich vertypten Unrechts im Einzelfall. Zugegeben: die Prüfung der Strafrechtswidrigkeit unterliegt einer strengeren Bindung an den begrifflich fixierten Wortlaut des Gesetzes als die Beurteilung der Strafbedürftigkeit. Weil die Rechtswidrigkeitsfeststellung in der systematischen Ordnung des strafrechtlichen Entscheidungsverfahrens den ersten Schritt der Unrechtskonkretisierung darstellt, weist sie ein höheres Abstraktionsniveau auf und muß sich deshalb mehr an der abstrakten Begrifflichkeit gesetzlicher Tatbestandsmerkmale ausrichten als der nachfolgende, den Unwertgehalt im Einzelfall spezifizierende Schritt der Bestimmung der Unrechtserheblichkeit. Die Rechtswidrigkeitsprüfung ist auf die im Gesetz niedergelegte Deliktsumschreibung verwiesen und muß die beschränkte Auslegbarkeit gesetzlicher Merkmale und ihre relativ geringe Anpassungsfähigkeit an gewandelte Wertvorstellungen in Rechnung stellen. Bei der Ermittlung der Rechtswidrigkeit eines Verhaltens sind der typisierenden Auslegung durch den semantischen Bedeutungsgehalt der Strafrechtsnorm Grenzen gesetzt104 ; bei der Ermittlung der Strafbedürftigkeit eines Verhaltens nach Unwertgesichtspunkten kann der Rechtsanwender dagegen unmittelbar auf den Normzweck rekurrieren, wie er sich nach den derzeitigen sozialerheblichen Wertvorstellungen darstellt, und ist folglich nicht an die mehr oder weniger unelastische Begrifflichkeit der Norm - und schon gar nicht an die ursprünglich mit der Norm verbundenen Intentionen des historischen Gesetzgebers gebundenlOS. Der Bedeutungsgehalt unrechtsbegründender Merkmale läßt sich nur im Hinblick auf den durch Auslegung aktualisierten Normzweck erschließen wie umgekehrt der Normzweck nicht unabhängig von den unrechtsbegründenden Merkmalen des Tatbestandes bestimmt werden kann106 • Trotz dieser dialektischen Wechselbeziehung, die die alleinige Berücksichtigung eines Gesichtspunkts ausschließt, muß bei der konkreten Entscheidungsfindung je einem der beiden Gesichtspunkte 103 Grundlegend Hassemer, Tatbestand, insbes. S. 96 ff.; dazu oben bereits Kap. 5.2, S. 214 f. 104 über den möglichen Wortsinn als äußerste Grenze der Wortbedeutung darf man sich hier nicht hinwegsetzen, vgl. BGHSt 22, 235. 105 Dazu bereits oben Kap. 3.1, S. 128 ff. 106 Vgl. dazu bereits oben Kap. 3.1, S. 134 f.
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5. Geringfügigkeit nach Unrechtsgesichtspunkten
Bedeutungsgehalt oder Normzweck - in Zweifelsfällen der Vorrang eingeräumt werden. Es kennzeichnet nicht nur die Rationalität, mehr noch die Vernünftigkeit des strafrechtlichen Entscheidungsakts, die Unrechtsbetrachtung in zwei getrennte, aufeinander aufbauende Erkenntnisschritte aufzugliedern, die hier je andere Prioritäten setzen. Bei der Prüfung der Strafrechtswidrigkeit muß der Bedeutungsgehalt unrechtsbegründender Merkmale letztendlich den Ausschlag geben. Obschon für das Verfahren der Rechtswidrigkeitsbeurteilung die Bezugnahme auf den Normzweck methodisch unerläßlich ist, kann sich diese Bezugnahme im Ergebnis der Rechtswidrigkeitsbeurteilung nur insoweit niederschlagen, als der Wortsinn des Gesetzes dem nicht entgegensteht; eine Umdeutung des Gesetzeswortlauts gegen seinen erklärten Sinn ist auch dort unzulässig, wo es um die Einschränkung des Rechtswidrigkeitsbereichs geht, weil dadurch zwar nicht die Garantiefunktion des Strafgesetzes, wohl aber die Führungsfunktion des Gesetzgebers gegenüber dem Rechtsanwender107 bei der Ausgrenzung der strafrechtlichen Verbotsmaterie aufgehoben würde l08 • Mag es noch so fragwürdig erscheinen, die Wegnahme eines einzigen Pfennigs dem Unrechtstatbestand des Diebstahls zuzuordnen 109 : die Alleinzuständigkeit des Gesetzgebers für die Ausgrenzung der strafrechtlichen Verbotsmaterie würde unzulässig unterlaufen, wollte man das Einpfennigstück nicht als "fremde bewegliche Sache" klassifizieren. Im Rahmen der Rechtswidrigkeitsprüfung läßt sich die Gefahr einer überdehnenden Anwendung der Norm auf Sachverhalte, die nicht dem deliktstypischen Leitbild der Norm entsprechen, nicht bannen, weil diese Gefahr durch die - für die Rechtswidrigkeitsprüfung verpflichtende - abstrakte Begrifflichkeit der Gesetzessprache begründet ist. Anders bei der Prüfung der Unrechtserheblichkeit. Wiewohl auch sie an den Gesetzeswortlaut anknüpft, ist für sie nicht dessen Bedeutungsgehalt, sondern der darin zum Ausdruck kommende Normzweck verpflichtend. Die teleologische Reduktion des strafrechtswidrigen Verhaltens nach dessen Strafbedürftigkeit110 gleicht die Folgen der bei der Rechtswidrigkeitsprüfung unumgänglichen Ausrichtung am Wortsinn aus. Die vereinseitigende Polarität der dem Bedeutungsgehalt unrechtsVgl. hierzu Bruns, Leitfaden, S.35. Eine Umdeutung des Gesetzeswortlauts bei der Rechtswidrigkeitsprüfung ist nicht nur im Wege der strafeinschränkenden Auslegung unzulässig; auch ein Analogieschluß zugunsten des Täters oder der Rückgriff auf strafeinschränkendes Gewohnheitsrecht kommt nicht in Betracht, setzt bei des doch eine unbeabsichtigte Gesetzeslücke voraus, die hier gerade nicht vorhanden ist. 109 Zu diesem Beispiel Cramer, Ahndungsbedürfnis, S. 493. 110 Vgl. dazu oben Kap. 3.1, S. 128; Blei, Strafschutzbedürfnis. 107 108
5.2 Vergleichsmaßstab: der Unrechtstypus
233
begründender Merkmale verhafteten Rechtswidrigkeitsprüfung einerseits und der unmittelbar auf das deliktstypische Leitbild der Norm zurückgreifenden Prüfung der Unrechtserheblichkeit andererseits wird durch die Aufeinanderfolge jener beiden Erkenntnisschritte aufgehoben111 ; gerade die Umkehrung der Perspektiven macht eine tatangemessene - wenn man so will: objektive - strafrechtliche Unrechtsbetrachtung möglichl12 • Vorerst verdient festgehalten zu werden, daß Rechtswidrigkeitsfeststellung und Unwertbestimmung methodisch gesehen in einem gleichermaßen typologischen Verfahren zustandekommen. Die Verwiesenheit auf die begrenzte Ausdeutbarkeit des Gesetzeswortlauts hier und die unmittelbare Inanspruchnahme des aktualisierten Normzwecks dort setzen in dem typologischen Verfahren nur unterschiedliche Akzente; auch eine noch so streng dem Gesetzeswortlaut verpflichtete Auslegung muß der Einsicht Rechnung tragen, daß gesetzliche Merkmale keine Allgemeinbegriffe sind, die aus sich heraus verständlich wären118 , sondern als Typenbegriffe auf eine Sozialwirklichkeit außerhalb des Normensystems verweisen, die im Akt der Auslegung durch Rekurs auf gesellschaftliche Werterfahrung aktualisiert werden muß114 • Weil in diese Aktualisierung immer subjektive Einschätzungen und Bewertungen des Auslegenden eingehen, bleibt das Ergebnis des Auslegungsprozesses ein prinzipiell problematisches Urteil, auch wenn es in eine eindeutige, klassifizierende Aussage mündet. Das notwendig klas111 Und zwar in der doppelten Begriffbedeutung von Aufheben: als Aufbewahren und überwinden. Der irreduziblen Zweigliedrigkeit der strafrechtlichen Unrechts betrachtung trägt die ansonsten diesem Gedankengang weitgehend entsprechende Konzeption bei Sax, Tatbestand nicht Rechnung. Auch bei Sax bestimmt sich die deliktstypische Unrechtserheblichkeit nach dem im gesetzlichen Tatbestand vorausgesetzten Schutzzweck der Norm. Sax unterscheidet jedoch nicht zwischen der dem Bedeutungsgehalt der Norm verpflichteten Rechtswidrigkeitsprüfung und der unmittelbar auf den Normzweck verwiesenen Unrechtserheblichkeitsprüfung; er unterstellt fälschlich eine Identität beider Ebenen der Unrechtsbetrachtung, wenn er aus der atypischen Unrechtsminderung einen "Tatbestandsausschluß wegen Fehlens einer strafwürdigen Beeinträchtigung des Schutzzwecks der Norm" - nicht etwa den Ausschluß der Strafbedürftigkeit trotz Erfüllung des Unrechtstatbestandes - herzuleiten sucht (S. 9, vgl. auch S. 11, 84). Zu den unhaltbaren Konsequenzen dieser Annahme etwa für die Irrtumslehre vgl. Schönke/ Schröder/Cramer, Strafgesetzbuch, Rdnr.8 zu § 16. 112 Eine ähnliche Möglichkeit wohlfundierten Urteilens durch die Umkehrung der Perspektiven hat sich in der Kriminologie aus der inzwischen allenthalben als überholt empfundenen Polarisierung zwischen Ursachenerforschungstheorien und Etikettierungstheorien entwickelt; vgl. hierzu Kunz, Der labeling approach, S. 426 sowie das in diesem Zusammenhang erkenntnistheoretisch aufschlußreiche Zitat von Nietzsche ebenda in Fußnote 49. 113 Zur Kritik dieser Vorstellung eingehend Kunz, Die analytische Rechtstheorie, S. 81 ff. 114 Vgl. Hassemer, Tatbestand, S. 124 f.
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5. Geringfügigkeit nach Unrechtsgesichtspunkten
sifizierende Ergebnis des Auslegungsverfahrens verleiht dem Verfahren nicht im Nachhinein die strenge Rationalität formaler Klassifikation, sondern dient dazu, einen Entscheidungszwang zu begründen, dem der Auslegende unterworfen ist115 • Mag der Rechtsanwender sich auch noch so schwer tun, sich in der Auseinandersetzung mit Meinung und Gegenmeinung zu einer eigenen Auffassung durchzuringen - am Ende muß er sich so oder so entscheiden. Eben darin besteht die Notwendigkeit einer klassifikatorischen Aussage im Rechtswidrigkeitsurteil: die für immer neue typologische Ausdeutungen offene Auslegung gesetzlicher Merkmale durch eine definitive Stellungnahme zur Strafrechtsrelevanz abzuschließen. Wenn aber Rechtswidrigkeits- und Unwerturteil in einem gleichermaßen typologischen Verfahren zustande kommen, heißt dies, daß bei der Geringfügigkeitsbestimmung des Unrechts eben die typisierenden Auslegungsgesichtspunkte wiederaufgegriffen und nunmehr nach Strafbedürftigkeitsrelevanzen thematisiert werden, die bereits bei der Prüfung der Strafrechtswidrigkeit maßgeblich waren. Das Rechtswidrigkeitsurteil hat dabei die Funktion, den übergang zwischen beiden typologischen Argumentationsebenen zu markieren; seine klassifizierende Formulierung bringt zum Ausdruck, die Triftigkeit des typologischen Bestimmungsvorganges der Strafrechtsrelevanz nicht mehr in Frage stellen zu wollen, und eben dadurch die typisierende Argumentation unter dem erkenntnisleitenden Aspekt der Strafbedürftigkeit zu eröffnen. Weil sich nur der jeweilige Beurteilungsgesichtspunkt - Strafrechtsrelevanz oder Strafbedürftigkeitsrelevanz - ändert, Methode und Gegenstand der Beurteilung aber identisch bleiben, tauchen dieselben Auslegungsfragen und Abgrenzungsschwierigkeiten, die bei der Rechtswidrigkeitsprüfung von Bedeutung waren, bei der Prüfung der Unrechtserheblichkeit auf und verlangen dort erneut Beachtung. Argumente, die innerhalb der strafrechtssystematisch primären Rechtswidrigkeitsprüfung gegen die Strafrechtswidrigkeit eines Verhaltens sprechen, dort aber im Ergebnis nicht durchgreifen, gewinnen im nachgeschalteten Verfahren der Unwertbestimmung als Argumente gegen die Annahme deliktstypisch erheblichen, strafbedürftigen Unrechts an Gewicht. Im feinmaschigeren Netz der Unrechtsgraduierung können Argumente verfangen, die das vergröberte Raster der Rechtswidrigkeitsqualifizierung mit einiger Mühe passiert haben: ein Verhalten, welches trotz Bedenken noch als strafrechtswidrig qualifiziert wurde, wird sich 115 Darin besteht der Unterschied des juristischen Entscheidungsverfahrens zum typologischen Verfahren rein theoretischer Erkenntnisgewinnung etwa im Bereich der Geistes- und hermeneutischen Sozialwissenschaften, das streng genommen nie zu einem endgültigen Abschluß, sondern immer nur zu vorläufigen Befunden gelangt, die jederzeit aufs Neue geprüft und in Frage gestellt werden können.
5.2 Vergleichsmaßstab: der Unrechtstypus
235
regelmäßig wegen eben dieser Bedenken im deliktstypischen Unwertgehalt als geringfügig und deshalb nicht strafbedürftig erweisen. Damit deutet sich ein inhaltlicher Indikator von grundsätzlicher Tragweite für die Bestimmung von Bagatellunrecht an. Gerade noch straffreies und soeben strafrechtswidriges, nach seinem Unwertgehalt nicht strafbedürftiges Verhalten liegen dicht beieinander118 • Bestehen begründete Zweifel an der Strafrechtswidrigkeit eines Verhaltens, so verstärken sich diese Zweifel, wenn es bei nicht bedenkenfreier Annahme der Rechtswidrigkeit um die Strafbedürftigkeitsbeurteilung nach Maßgabe der deliktstypischen Erheblichkeit des Unrechts geht. Je problematischer die Begründung der Rechtswidrigkeit war, je mehr die Entscheidung hier "auf der Kippe lag", desto schwerer fällt es, die deliktstypische Erheblichkeit des Unrechts zu begründen - und desto näher liegt es, atypisch geringfügiges, nicht strafbedürftiges Unrecht anzunehmenl17 • Der Zusammenhang zwischen problematischer Bejahung der Rechtswidrigkeit und Verneinung der Unrechtserheblichkeit wird besonders augenfällig, wo die Rechtswidrigkeitsfeststellung von Maßstäben der Verkehrsanschauung abhängt118• Weil die Verkehrs anschauung als Kürzel für soziale Werterfahrungen steht, vermittels derer der Sinngehalt gesetzlicher Merkmale im Auslegungsprozeß aktualisiert werden muß llU, ist hier der typologische Charakter der Rechtswidrigkeitsfeststellung - und damit ihre strukturelle Ähnlichkeit zur Geringfügigkeitsbestimmung des Unrechts - unmittelbar einsichtig. Dies soll im Folgenden an einigen Beispielen belegt werden. 118 Vgl. dazu das freilich auf die Abgrenzung zwischen Kriminal- und Polizeidelikt gemünzte - plastische Bild bei Sauer, Grundlagen, S.314: "Es ist nicht etwa eine neutrale Zone dazwischen gelegen, das Feld gehört vielmehr dem Kriminalrecht an, aber man atmet doch schon die Luft, die von dem Nachbargebiet herüberweht. Das will besagen: die Schwere des Unrechts ist auf ein Mindestmaß herabgesetzt." 117 Dieser Gedanke klingt bei Cramer, Ahndungsbedürfnis, S.495 an, wenn er feststellt, daß an der Peripherie des Tatbestandes liegendes Unrecht von vornherein nicht ahndungswürdig sein könne. Ähnlich Ostendorf, Das Geringfügigkeitsprinzip, S.342, der dem Prinzip die Aufgabe zuweist, Unrechtstypen in ihren Randbereichen zu überprüfen. 118 So auch Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 113. 119 Streng genommen hängt daher die Auslegung unrechtsbegründender Tatbestandsmerkmale immer von Maßstäben der "Verkehrsanschauung" ab. üblicherweise wird freilich von Verkehrsanschauung erst gesprochen, wenn die sozialen Werterfahrungen einigermaßen gefestigt und homogen sind; auch dann sind die jeweiligen Inhalte der Verkehrsanschauung aber nicht ein für allemal feststehend und können nicht als fixe Größe demoskopisch abgefragt werden, sondern bleiben dem dynamischen Prozeß sozialen Wandels unterworfen und müssen im normativen Auslegungsakt interpretativ erschlossen werden. Vgl. dazu im einzelnen Kunz, Die analytische Rechtstheorie, S. 75 ff.
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5. Geringfügigkeit nach Unrechtsgesichtspunkten
Bei der Nötigung bestimmt sich die Rechtswidrigkeit (§ 240 Abs.2 StGB) danach, ob die Tat auf Grund der Relation zwischen Nötigungsmittel und -zweck nach allgemeinem Urteil der Verkehrsanschauung so verwerflich ist, daß sie ein gesteigertes, als Vergehen strafwürdiges Unrecht darstelltl20 • Obschon die Anwendung von Gewalt für die Rechtswidrigkeit in der Regel als indiziell gilt12t, beurteilen Rechtsprechung und Schrifttum die Rechtswidrigkeit der Nötigung mit Gewalt differenzierend und stellen kasuistisch u. a. auf die Intensität der Gewaltanwendung ab. Gewaltsame Zwangseinwirkungen ohne Dauer und nennenswerte Folgen gelten als nicht materiell sozialwidrig und darum nicht verwerflich; wer einem anderen aus Schabernack einen Augenblick lang die Tür zuhält, handelt formal unzulässig, ohne eine zur Annahme der Verwerflichkeit erforderliche ernstliche Störung des geordneten Zusammenlebens zu bewirken122 • Die zu fordernde Erheblichkeit der Zwangseinflüsse gewinnt namentlich dort an Bedeutung, wo der Gewaltbegriff extensiv im Sinne eines körperlich kaum spürbaren physischen Krafteinsatzes oder gar einer völlig körperkraftlosen Einwirkung auf den Willen des Genötigten ausgelegt wird; in dem Maße, wie die Zwangswirkung hier an sozialer Erheblichkeit einbüßt, wird das Rechtswidrigkeitsurteil unsicher. Eindeutig eine rechtswidrige Nötigung liegt vor, wenn ein Kraftfahrer auf einen die Parklücke für einen anderen Kraftfahrer freihaltenden Fußgänger gefährlich zufährt, um die an sich berechtigte Einfahrt in die Parklücke zu erzwingen123• Rollt hingegen der Kraftfahrer umsichtig mit Schrittgeschwindigkeit auf den Fußgänger zu und drängt ihn mit dem sanften Druck der Stoßstange aus der Parklücke, ohne ihn zu verletzen, ist die Verwerflichkeit seines Handeins fragwürdig: die Meinung, jeglicher Einsatz des Fahrzeuges als Mittel zum Beiseitedrängen eines fußgängers sei wegen der damit verbundenen Verletzungsgefahr - etwa durch Abrutschen vom Gaspedal- und des Verstoßes gegen das Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme im Straßenverkehr verwerflich l24, ist ebenso einleuchtend und vertretbar wie die Gegenmeinung, das langsame und umsichtige Zufahren auf den Fuß120 BGHSt 18, 389; 19, 263; OLG Köln NJW 1979, S.2056 m. w. N. Roxin, Verwerflichkeit, S.375 präzisiert die Verwerflichkeitsklausel zutreffend dahin, daß es hier nicht um einen Maßstab sittlicher Mißbilligung, sondern allein um einen solchen der strafbegründenden Sozialwidrigkeit geht. 121 BGHSt 23, 46, 55; OLG Celle NJW 1970, S.208. 122 Roxin, Verwerflichkeit, S. 376 f. Bei der Nötigung durch Drohung ergibt sich die zu fordernde Sozialerheblichkeit des Nötigungsmittels bereits aus dem gesetzlichen Merkmal der "Empfindlichkeit" des übels. 123 BayObLG NJW 1961, S.2074. 124 So OLG Hamm NJW 1970, S. 2074 f.; OLG Düsseldorf VerkMitt 1978, S. 59 f.; eingehend Berz, Die Grenzen, S. 370 f.
5.2 Vergleichsmaßstab: der Unrechtstypus
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gänger habe - zum al bei der Möglichkeit des Ausweichens durch Beiseitetreten - weder eine konkrete Gefährdung bewirkt noch eine erhebliche Zwangswirkung ausgelöst und stelle in Anbetracht der Rechtmäßigkeit des erstrebten Zwecks noch kein gesteigertes, als Vergehen strafwürdiges Unrecht dar 25 • Entsprechend verhält es sich bei der Beurteilung der Rechtswidrigkeit von Nötigungshandlungen auf dem Gebiete der politischen Demonstration. Nahezu einhellig Verwerflichkeit wird angenommen, wenn sich Demonstranten auf den Gleiskörper einer Straßenbahn setzen und durch Veranlassen des Wagenführers zum Anhalten den Verkehr blockieren mit dem Ziel, damit ihren - für sich betrachtet legitimen politischen Forderungen größere Publizität zu verschaffen126 • Ob die Anwendung solch körperkraftloser Gewalt hingegen bereits dann verwerflich ist, wenn sie als Nebenwirkung der Grundrechtsausübung bloß vorübergehende Verkehrsbehinderungen verursacht, erscheint zweifelhaftm. Hier lassen sich gegensätzliche Auffassungen mit gleichermaßen guten Gründen vertreten: der Rechtsmeinung, auch eine noch so unbedeutende gewaltsame Behinderung anderer Personen zur Geltendmachung eigener politischer Belange sei verwerflich, weil sie die Spielregeln der Demokratie verletzt, die allein auf der überzeugung durch Argumente basiert128, steht die Auffassung gegenüber, geringfügige und kurzzeitige Behinderungen seien als regelmäßige Folge politischer Demonstrationen im Interesse der Grundrechtsgewähr den Verkehrsteilnehmern zuzumuten und folglich nicht im materiellen Sinne sozialwidrig und verwerflich12t• Welche dieser konträren Positionen "die richtige" ist, läßt sich nicht mit objektiver Gültigkeit entscheiden; beide bewegen sich in der Bandbreite des juristisch Vertretbaren, innerhalb derer es eine absolute Richtigkeitsgewähr nicht gibt. Fest steht jedoch, daß der Rechtsanwender sich bei der Rechtswidrigkeitsprüfung für eine dieser Positionen entscheiden muß, und daß er - soll diese Entscheidung fundiert sein sich dabei argumentativ mit der gegenteiligen Position auseinanderzusetzen hat. Wer sich in der sorgfältigen Abwägung des Für und Wider für die Rechtswidrigkeit des Erzwingens einer Parkplatzbenutzung mit 125 So OLG Stuttgart NJW 1966, S.745 m. abI. Anm. Bockelmann; OLG Hamburg NJW 1968, S.662; tendenziell zustimmend auch OLG Köln NJW 1979, S. 2056 f. 128 VgI. BGHSt 23, 46 sowie die weiteren Nachweise bei Dreher, Strafgesetzbuch, Rdnr.9 zu § 240. 127 Dagegen etwa Lackner, Strafgesetzbuch, Anm. 6. a) aa) zu § 240 m. w. N.; offen gelassen in BGHSt 23, 46, 57. 128 So Dreher, Strafgesetzbuch, Rdnr. 9 zu § 240. 129 Dies folgt aus der von Roxin, Verwerflichkeit, S.376 vertretenen Auffassung; so im Ergebnis auch Lackner, Strafgesetzbuch, Anm. 6. a) aa) zu § 240.
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5. Geringfügigkeit nach Unrechtsgesichtspunkten
dem sanften Druck der Stoßstange bzw. der flüchtigen Verkehrsbehinderung durch Demonstranten entscheidet, wird nicht umhinkönnen, bei der anschließenden Prüfung der Unrechtserheblichkeit die nach der Verkehrsauffassung geringe Intensität der Zwangswirkung erneut zu reflektieren, und in Anbetracht dessen eine atypische Unrechtsminderung anzunehmen, die die Strafbedürftigkeit entfallen läßtl30 ; weil die Hürde, die zur Begründung der Unrechtserheblichkeit genommen werden muß, höher ist als diejenige bei der Begründung der Rechtswidrigkeit, läßt sich gerade wegen der Unsicherheiten bei der Feststellung der Strafrechtswidrigkeit Sicherheit in der Feststellung fehlender Strafbedürftigkeit erzielen. Der Unrechtstatbestand der Beleidigung (§ 185 StGB) wird dahin ausgelegt, daß er die ungerechtfertigte Kundgabe von Mißachtung oder Nichtachtung umfaßt. Einmütigkeit besteht darin, daß es Äußerungen schlechthin beleidigenden Charakters nicht gibt l31 ; stets bestimmt sich die Annahme einer Ehrverletzung nach den jeweiligen Verkehrsanschauungen und Gebräuchen der Beteiligtenl32 • Ein und dieselbe Äußerung kann unter Fremden beleidigend sein, unter Freunden dagegen keinen ehrenrührigen Gehalt besitzen. Das Duzen unbekannter erwachsener Personen, früher einhellig als mißachtend verstanden, wird heute innerhalb der jüngeren Generation weithin als gängige Anredeform akzeptiert. Im engeren Familienkreise ist die Beleidigungsschwelle derart hoch angesiedelt, daß in aller Regel Ehrenrührigkeit überhaupt nicht in Betracht kommtl33 • Für die Ehrverletzung eines 130 Dagegen läßt sich einwenden, für die Annahme einer atypischen, die Strafbedürftigkeit aufhebenden Unrechts minderung sei bei der Nötigung kein Raum, da deren Rechtswidrigkeit ja schon das Vorliegen erheblichen, materiell sozialwidrigen Unrechts voraussetze. Dieser Einwand verkennt, daß die Strafbedürftigkeitsprüfung prinzipiell strengeren Anforderungen unterliegt als die Rechtswidrigkeitsbeurteilung und deshalb die Erheblichkeitsschwelle hier höher anzusetzen ist: eine Nötigungshandlung, welche in ihrem Unwertgehalt erheblich genug ist, um als rechtswidrig klassifiziert zu werden, braucht nicht unbedingt so erheblich zu sein, um zwingend mit Strafe geahndet werden zu müssen. Die Unrechtsbetrachtung weist bei der Nötigung keine Besonderheiten zu anderen Deliktstatbeständen auf; das Scheinproblem einer doppelten Unrechtstypisierung bei der Rechtswidrigkeitsfeststellung und der Geringfügigkeitsbestimmung des Unrechts stellt sich nur deshalb, weil das Gesetz bei der Nötigung anders als sonst darauf verzichtet, Zulässiges und Verbotenes subsumtionsgerecht mit definitorisch fixierbaren Kriterien zu umschreiben, und deshalb hier ausdrücklich auf die grundsätzlich immer bestehende Notwendigkeit einer typologischen Gewinnung des Rechtswidrigkeitsurteils verweist. Vgl. hierzu Roxin, Verwerflichkeit, S.375 sowie Sax, Tatbestand, S. 83, der betont, die Generalklausel des § 240 Abs. 2 StGB enthalte keine Rechtswidrigkeitsregel, sondern eine Strafwürdigkeitsvoraussetzung, mithin sei der Nötigungstatbestand kein offener, sondern ein geschlossener Tatbestand wie jeder andere. 131 RGSt 65, 1; OLG Celle Nds Rpfl1977, S.88. 132 RG DRZ 1924, S. 530. 133 Vgl. etwa Lackner, Strafgesetzbuch, Anm. 3. b) zu § 185 m. w. N.
5.2 Vergleichsmaßstab: der Unrechtstypus
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Politikers sind strengere Maßstäbe anzulegen als für die Beleidigung eines "Normalbürgers"; die Austragung politischer Meinungsverschiedenheiten macht gelegentlich die Wahl sonst unzulässiger scharfer Formulierung und polemischer Argumentation zur Verdeutlichung des eigenen Standpunktes notwendigl34 • Wo die Grenze zwischen strafrechtlich nicht zu beanstandender grober Unhöflichkeit und strafrechtswidriger Schmähung bei der Verbalbeleidigung verläuft, ist ähnlich schwer zu bestimmen wie bei der Körperverletzung (§§ 223 ff. StGB) die Grenze zwischen einer im sozialen Leben hinzunehmenden und einer mit strafrechtlichen Mitteln zu unterdrückenden Beeinträchtigung der körperlichen Integrität. Bereits das absolut herrschende Verständnis der körperlichen Mißhandlung im Sinne einer üblen, unangemessenen Behandlung, durch die das körperliche Wohlbefinden aus der Sicht eines objektiven Betrachters mehr als nur unerheblich beeinträchtigt wird l35 , verdeutlicht die Notwendigkeit einer typologischen Auslegung dieses unrechtsbegrundenden Tatbestandsmerkmals, bei der in vielen alltäglichen Situationen die Grenze der Strafrechtswidrigkeit zweüelhaft bleiben mußl38 und eben deshalb bei Annahme strafrechtswidrigen Verhaltens die mangelnde Unrechtserheblichkeit außer Zweifel steht; das Drängeln im Bus, um den Ausgang zu erreichen137 , das kaum merkliche Versengen des Kopfhaars l38 , das Kürzen einer Haar- oder Barttracht auf einen modischen SchniW 39 sind hierfür Beispiele. Auch bei der Körperverletzung durch Gesundheitsbeschädigung stellt sich das Problem der Abgrenzung äußerst leicht wiegender strafrechtswidriger von gerade noch nicht strafrechtswidrigen Fällen140 : man denke nur an das Zufügen kaum sichtbarer Hämatome und Abschürfungen, die Ansteckung mit Krankheiten, die die körperliche Leistungsfähigkeit nicht ernstlich be einBGH NJW 1974, S.1763; OLG Koblenz NJW 1978, S. 1816. BGHSt 25, 277. 13B SO Arzt, Strafrecht BT (Delikte gegen die Person), D I. 2. a). 137 Beispiel nach Arzt, Strafrecht BT (Delikte gegen die Person), D I. 2. a). 138 Nach Dreher, Strafgesetzbuch, Rdnr.5 zu § 223 noch nicht tatbestandsmäßig. 139 "Unangemessenes" Abschneiden von Bart, Zopf oder sonst von Haaren gilt eindeutig tatbestandsmäßig, vgl. RGSt 29, 59; BGH NJW 1953, S.1440; BGH NJW 1966, S.1763; BVerwG NJW 1972, S. 1728. 140 Die Annahme, Gesundheitsbeschädigungen seien notwendig schwerwiegende Körperverletzungen, ist also verfehlt. Von daher erheben sich Bedenken gegen den Vorschlag des Alternativentwurfs, vorsätzliche Mißhandlung und Gesundheitsbeschädigung tatbestandlich zu trennen und für letztere einen strengeren, auch Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr umfassenden Strafrahmen vorzusehen (§ 109 Abs. 1 AE-StGB). Gegen diesen Versuch, horizontale Abstufungen der Unrechts schwere mittels vertikal gegenüberstehender Begriffe vorzunehmen, zutreffend Hirsch, Hauptprobleme, S. 141 ff. 134 135
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5. Geringfügigkeit nach Unrechtsgesichtspunkten
trächtigen, die Erregung leichter Trunkenheit und dergleichenl4l ; bei der Beurteilung des Vorliegens einer Gesundheitsbeschädigung streng naturalistisch auf das Bewirken einer Substanzverletzung abzustellen, mutete ähnlich sinnlos an wie der Versuch, das Wesen einer Verbalbeleidigung auf die Erzeugung von Schallwellen und Schwingungen des Trommelfells zu reduzieren142 • Der typologische, im Grenzbereich der Rechtswidrigkeitsfeststellung die Annahme von Bagatellunrecht indizierende Charakter des Auslegungsverfahrens offenbart sich bei der Unterschlagung (§ 246 StGB) in der Auslegung des Merkmals der Zueignung, beim Diebstahl (§ 242 StGB) in der Deutung des Merkmals der Zueignungsabsicht. Insbesondere die Abgrenzung zwischen Zueignung durch Verbrauch und regelmäßig strafloser Gebrauchsanmaßung erfordert eine quantifizierende Unrechtsbetrachtung und bietet Anhalt für Bagatellunrecht. Zueignung ist anzunehmen, wenn angesichts der Dauer des Gebrauchs und/oder des Maßes der Entwertung der Sache infolge des Gebrauchs die Grenze vorübergehender Nutzung überschritten ist148• Eindeutig eine Zueignung liegt vor, wenn ein Neuwagen oder neue Kleider zur vorübergehenden Nutzung entwendet werden, weil auch bei bloß vorübergehendem Gebrauch die Sachen zu Gebrauchtwaren herabsinken und ihre Neuverkaufsfähigkeit einbüßenl44 • Bei der Entwendung eines Buchs aus einem Warenhaus in der Absicht, dieses nach alsbaldiger Lektüre gelesen, aber nicht zerlesen wieder zurückzustellen, ist die Annahme von Zueignungsabsicht hingegen zumindest zweifelhaft, weil das An- und Durchlesen im Verkaufsraum ausgelegter Bücher zum branchenüblichen Kundenservice gehört und diese Art der Benutzung die Neuverkaufsfähigkeit regelmäßig nicht beeinträchtigt. Wer hier Zueignungsabsicht gleichwohl bejaht145, wird nicht umhinkönnen, diese jedenfalls als geringfügig einzustufen148 • Das Erfordernis der Rechtswidrigkeit der Zueignung bietet sich gleichermaßen für eine quantifizierende Betrachtungsweise an. Wer Beispiele nach Hirsch, Hauptprobleme, S. 144. Krauß, Zur strafrechtlichen Problematik, S. 559. 143 Arzt, Strafrecht BT (Vermögensdelikte), C UI. 5. a). 1U OLG Celle NJW 1967, S.1921 (1922); insoweit zustimmend Eser, Strafrecht IV, Fall 3, A 356-37. 145 So OLG Celle NJW 1967, S.1921 (1922); vgl. dazu die ausführliche Fallbesprechung bei Eser, Strafrecht IV, Fall 3 m. w. N. 148 So auch in dem erwähnten Fall des OLG Celle: die Tatsacheninstanz verhängte eine Geldstrafe in Höhe von DM 40,-; wenn hier nicht von der Einstellungsmöglichkeit wegen Geringfügigkeit Gebrauch gemacht wurde, so vermutlich deshalb, weil der Täter sich auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum wegen falscher Rechtsauskunft herauszureden suchte und die Richter dem Täter an Scharfsinn nicht nachstehen wollten. 141
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den ihm als bestimmte Sache geschuldeten Gegenstand in Zueignungsabsicht wegnimmt, handelt nicht rechtswidrig, weil er den von der Eigentumsordnung gewollten Zustand herbeiführt; anders bei Gattungsschulden, wo der Schuldner noch eine Auswahlbefugnis hat (§ 243 Abs. 1 BGB)147. Bei eigenmächtiger Realisierung eines Wertsummenanspruches durch Entwendung von Geldscheinen ist die Gleichbehandlung von Geldschulden mit Gattungsschulden fraglich, da dem Geldschuldner im Grunde etwas weggenommen wird, was zu behalten er im Ergebnis vernünftigerweise weder wollen noch legitimerweise beanspruchen könnte l48 ; ähnlich bei sonstigen vertretbaren Sachen, wenn der Eigentümer daran kein schutzwürdiges Interesse hat und der Sachentzug durch den Täter sofort wertmäßig voll ausgeglichen wird 149• Nimmt man in derartigen Fällen eine Rechtswidrigkeit der Zueignung an, weil der Täter zur Befriedigung seines wertsummenmäßig bestimmten Anspruches nicht irgendwelche Geldscheine wegnehmen darfiSO und beim Austausch sonstiger vertretbarer Sachen gegen gleichwertige die individuelle Zuordnungsfunktion des Eigentums verletzt wirdl5l , so ist doch unzweifelhaft, daß derartige Handlungen die deliktstypische Erheblichkeit der vom Gesetz anvisierten Fälle nicht erreichen und ein Ausmaß an Unrechtsminderung aufweisen, welches regelmäßig die Strafbedürftigkeit entfallen läßt. Die Beurteilung der Gewahrsamsverhältnisse beim Diebstahl unterliegt ebenfalls der typisierenden Betrachtung nach der Verkehrsanschauung. Am geparkten Fahrzeug, am Pflug im Felde, an den während einer Urlaubsreise in der Wohnung zurückgelassenen Sachen besteht ein - wenngleich gelockerter - Gewahrsam152 • An verlorenen, verlegten oder vergessenen Sachen kann die Abgrenzung zwischen minder intensivem, gelockertem Gewahrsam und völligem Gewahrsamsverlust zweifelhaft werden. In derartigen Fällen Bagatellunrecht anzunehmen, wäre jedoch verfehlt, weil die Tat sich bei unwillentlichem Gewahrsamsverlust zwar nicht als Diebstahl, regelmäßig aber als Unterschlagung darstellt, zu deren deliktstypischen Merkmalen der Gewahrsarnsbruch nicht gehört. Ebenso bei der Diebesfalle, wo trotz 147 Ganz h. M., vgl. etwa BGHSt 17, 87; weitere Nachweise bei Eser, Strafrecht IV, Fall 4, A 19. 148 Vgl. etwa Samson, in: Systematischer Kommentar, § 242 Rdnr.86. 149 Schönke/Schröder/Eser, Strafgesetzbuch, § 242 Rdnr. 4 a. 150 So BGHSt 17, 87 (88); ausführliche Besprechung bei Eser, Strafrecht IV, Fall 4. 151 So Samson in: Systematischer Kommentar, § 242 Rdnrn. 99 ff. mit der Begründung, daß andernfalls die Eigentums- zu bloßen Wertentziehungsdelikten umfunktioniert würden. 152 Absolut h. M., vgl. etwa BGH GA 1962, 78; BGH MDR 1954, 398 bei Dallinger; BGHSt 16, 271 (273).
16 Kunz
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5. Geringfügigkeit nach Unrechtsgesichtspunkten
Ansichbringen der Sache durch den Dieb ein geminderter Gewahrsam des Beobachtenden fortbesteht und ein Gewahrsamsbruch infolge Einwilligung in die Wegnahme nicht möglich istl53 ; auch hier verbietet sich die Annahme von Bagatellunrecht, weil ungeachtet dessen die Tat als Versuch des Diebstahls zu qualifizieren ist und dessen volle deliktstypische Erheblichkeit154 erreicht. Dieser Gedanke läßt sich verallgemeinern. Die Beurteilung der deliktstypischen Erheblichkeit unrechts begründender Tatbestandsmerkmale nach der Verkehrsanschauung stellt sich juristisch als ein Subsumtionsproblem dar, weil die juristische Subsumtion in derartigen Fällen auf die Verkehrs anschauung rekurriertl55 • Bagatellunrecht ist im Grenzbereich der Subsumtion unrechtsbegründender Merkmale zur Straflosigkeit hin angesiedelt. überall wo die juristische Auslegung auf die Verkehrs anschauung verweist, die Annahme unrechtsbegründender Merkmale aus Rechtsgründen problematisch ist und ihre Verneinung zur Straflosigkeit führte, liegt bei ihrer Bejahung die Annahme von Bagatellunrecht nahe. Das Problem des Bagatellunrechts ist eng verzahnt mit demjenigen der Subsumierbarkeit eines Verhaltens unter die unrechts begründenden Merkmale eines Deliktstatbestandes, sofern das Ergebnis der Subsumtion von Verkehrsanschauungen abhängig ist und die Straffreiheit des Verhaltens vertretbar erscheint. Läßt sich mit guten Gründen darüber streiten, ob nach der Verkehrsanschauung mangels Erfüllung eines unrechtsbegründenden Merkmals Straffreiheit anzunehmen ist, so steht jedenfalls außer Frage, daß bei der nicht unbedenklichen Annahme von Strafrechtswidrigkeit der Unrechtsvorwurf sich als bagatellarisch darstellt. Die angestellten überlegungen lassen in einer weiteren Hinsicht eine Verallgemeinerung zu: was für die unrechtsbegründenden (positiven) Merkmale gilt, muß in gleicher Weise auch für die unrechtsausschließenden (negativen) Merkmale strafrechtlicher Verbotsnormen Verbindlichkeit beanspruchen. Begreift man mit der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen156 die Erlaubnistatbestände von Rechtjertigungsgründen nicht als selbständige Gestattungsnormen, sondern als immanente Einschränkungen der von den Deliktstatbeständen abgesteckten BGHSt 4, 199. Vgl. dazu oben Kap. 3.2, S. 147. 155 So auch Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 113 ff., 118 mit weiteren Beispielen, der freilich in der Folge zur Bestimmung des Unrechtsgehalts der unselbständigen leichten Delikte auf die Ähnlichkeit mit dem Unrechtsgehalt der übertretungen abstellt (S. 121 f.). Vgl. auch zum Verstrickungsbruch OLG Hamm NJW 1980, S.2537, besprochen bei Ostendorf, Das Geringfügigkeitsprinzip, S. 333 ff. mit weiteren Beispielen. 156 Dazu grundlegend etwa Arthur Kaufmann, Schuld, S. 102 ff.; Minasv. Savigny, Negative Tatbestandsmerkmale. 153
154
5.2 Vergleichsmaßstab: der Unrechtstypus
243
Verbotsmaterie, so ergibt sich das konkrete strafrechtliche Verbot erst aus der von einem Rechtfertigungsgrund nicht umfaßten Verwirklichung eines Deliktstatbestandes157 • Da danach die Unrechtsqualität eines Verhaltens von der Erfüllung unrechtsbegründender Merkmale bei gleichzeitiger Nichterfüllung der unrechtsausschließenden Merkmale von Rechtfertigungsgründen abhängt und somit unrechtsbegründende wie unrechtsausschließende Merkmale zu einer einheitlichen Wertungsstufe im Verbrechensaufbau verschmelzen, ist das vom Deliktstatbestand gerade noch verbotene Verhalten mit dem von einem Rechtfertigungsgrund soeben nicht mehr abgedeckten, nahezu unverbotenen Verhalten artgleich und unterliegt denselben Bestimmungsregeln. Die bei der Rechtfertigung unter Notstandsgesichtspunkten (§ 34 StGB) geforderte Interessenabwägung und die Bestimmung der Angemessenheit des Mittels verlangen die Berücksichtigung sozialerheblicher Wertvorstellungen. Allgemein wird man sagen können, daß eine Rechtfertigung am ehesten bei der Verletzung formaler Ordnungsbelange oder ähnlich unerheblicher Beeinträchtigungen zu bejahen ist, daß aber an die Rechtfertigung des Verhaltens um so höhere Anforderungen zu stellen sind, je persönlichkeitsnäher das betroffene Rechtsgut ist und je nachhaltiger die Notstandshandlung in die Freiheit der personalen Selbstbestimmung eingreiftl58 • Die Geschwindigkeitsüberschreitung zur Rettung eines Schwerverletzten ist danach eindeutig gerechtfertigt159 • Die Beurteilung einer unfreiwilligen gewaltsamen Entnahme einer Blutprobe zur Rettung eines Schwerverletzten ist hingegen zweifelhaft; hier gilt es zwischen dem Recht auf freie Selbstbestimmung und dem Solidaritätsprinzip die Belastungsgrenze für den Betroffenen nach Zumutbarkeitsgesichtspunkten zu ermitteln. Während man innerhalb engster Schutz- und Beistandspflichten etwa unter Ehegatten oder Eltern und Kindern eine Rechtspflicht zur Blutspende annehmen wird l60 , ist unter Fremden das persönliche Opfer der Blutspende nicht zumutbarl61 • Wenn der unfreiwillige Blutspender mit dem Verletzten eng befreundet ist, wenn es sich um Soldaten im gemeinsamen Fronteinsatz, um Sportkameraden oder Bergsteiger handelt, bei denen eine Garantenverpflichtung nicht besteht, lassen sich gleicher157 Das Verbot des § 212 StGB etwa lautet dann korrekt: töte andere nicht vorsätzlich, außer im Falle der Notwehr, als Soldat im Krieg usw. 158 Blei, Strafrecht I, § 45 IH. d); Wesseis, Strafrecht AT, § 8 IV. 3. b). 159 Vgl. OLG Hamm NJW 1977, S. 1892. 160 Jedenfalls sofern dies das einzige Mittel zur Lebensrettung ist, die Blutentnahme dem Spender keinen ernsthaften gesundheitlichen Nachteil bringt und unter ausreichenden Schutzvorkehrungen möglich ist, so Baumann, Strafrecht AT, § 22 H. 1. b); Wesseis, Strafrecht AT, § 8 IV. 4. 161 Wesseis, Strafrecht AT, § 8 IV. 4. m. w. N.
16'
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5. Geringfügigkeit nach Unrechtsgesichtspunkten
maßen gute Gründe für die eine wie für die andere Meinung vorbringen. Wer hier bei der Rechtswidrigkeitsprüfung das Pendel in Richtung auf ein nicht (mehr) gerechtfertigtes Verhalten ausschlagen läßt, wird bei der Prüfung der Unrechtserheblichkeit das Gewicht der beachtlichen Gegenargumente erneut in die Waagschale werfen müssen und wegen des im Grenzbereich der Rechtfertigung liegenden Verhaltens zur Annahme geringfügigen, nicht strafbedürftigen Unrechts gelangenl82 • Auf die Erörterung weiterer Beispiele 162a kann verzichtet werden, ist doch im Vorgenannten das Grundprinzip der Geringfügigkeitsbeurteilung des Unrechts hinlänglich deutlich geworden. Die strikte Trennung zwischen Feststellung der Strafrechtsrelevanz und Beurteilung der Strafbedürftigkeitsrelevanz kann im Unrechtsbereich nur theoretisch stringent durchgehalten werden, weil die rechtliche Beurteilung hier wie dort von Maßstäben gesellschaftlicher Werterfahrung abhängig ist; die Scheidelinie zwischen Verhaltensweisen, die in der gesellschaftlichen Werterfahrung gerade noch hingenommen und solchen, die soeben nicht mehr geduldet werden, ist keine kategoriale, sondern eine sozialpsychologische mit fließenden übergängen und Verästelungen. Es gibt eben keine ein für allemal gültigen Abgrenzungskriterien des zwar nicht gebilligten, aber gesellschaftlich tolerierten und darum nicht strafwürdigen Verhaltens von dem nicht mehr tolerierten strafrechtsrelevanten, aber noch nicht strafbedürftigen Verhalten; solche Kriterien zeigen sich immer erst nach der auf soziale Werterfahrungen Bezug nehmenden Auslegung und sind vorher nicht gewußtl83 • Die Frage der 162 Einen anderen, im Ergebnis fehlgehenden Weg zur Bestimmung der Geringfügigkeit des Unrechts bei von einem Rechtfertigungsgrund soeben nicht mehr gedecktem Verhalten sucht NoH einzuschlagen; er erblickt das Spezifikum von BagateHunrecht in derartigen Fällen darin, daß entweder der Rechtfertigungstatbestand nicht ganz erfüllt, z. B. der Angriff nicht mehr gegenwärtig sei, oder das Unrecht über den gerechtfertigten Bereich hinausgehe, z. B. die Verteidigung über das zur Abwehr Erforderliche, vgl. Noll, Tatbestand, S. 9 ff., 14; ders., übergesetzliche Milderungsgründe, S. 195. Demgegenüber betont Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 32, daß die überschreitung eines an sich gegebenen Rechts nicht immer geringeres Unrecht sei als ein Handeln ohne Rechtfertigungselemente. Der entscheidende Punkt ist freilich, daß bei der nicht vollständigen Erfüllung bzw. der überschreitung eines Rechtfertigungsgrundes gar keine atypische Unrechtsminderung vorliegt: das Verhalten ist eindeutig rechtswidrig und daher im Unrechtsgehalt erheblich. Geringfügig kann hier nicht das Unrecht, sondern nur die Schuld sein; die Schuldminderung kann aber erst im Funktionszusammenhang der Strafzumessung Berücksichtigung finden. Ähnlich nunmehr Hillenkamp, Vorsatztat, S. 214 ff., 239 ff. 162a Vgl. Nachweise in Fn. 155 sowie zum gleichfalls unrechtsbezogenen Strafverzicht nach § 174 Abs. 4 StGB Jung/Kunz, Das Absehen. 183 Gerade dies ist kennzeichnend für die typologische Interpretation des Tatbestandes, vgl. Hassemer, Tatbestand, S. 101: "Nicht nur zeigt sich erst
5.2 Vergleichsmaßstab: der Unrechtstypus
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Strafrechtsrelevanz eines Verhaltens zwingt den Juristen bei der Subsumtion zu einer kategorialen Entweder-Oder-Entscheidung, die, wenn ihre Beantwortung von Maßstäben der Verkehrs anschauung abhängtund wo wäre dies nicht ständig der Fall! - der nuancenreichen Subtilität und Komplexität gesellschaftlicher Bewertungsgesichtspunkte nicht gerecht werden kann; erst die Einsicht, daß ein Verhalten, welches die Schwelle strafrechtlicher Mißbilligung nur unbedeutend überschreitet, eben aus diesem Grunde nicht strafbedürftig ist, macht die Folgen solch kategorialen Entscheidungszwanges erträglich. Darin zeigt sich die Nähe der Lehre vorn Bagatellunrecht zur Lehre von der sozialen Adäquanzl64 • Beide Denkfiguren zielen auf eine Re-
striktion des Strafrechts nach Maßgabe der Verkehrsanschauung: die Lehre von der Sozialadäquanz dadurch, daß sie bestimmte Handlungen trotz Verwirklichung eines tatbestandsmäßigen Erfolges als nicht strafwürdig und damit strafrechtsirrelevant erweist, die Lehre vorn Bagatellunrecht dadurch, daß sie bestimmte strafrechtsrelevante Handlungen als nicht strafbedürftig erweist. Versteht man unter sozialadäquat in einern weiten Sinne nicht nur die statthafte, allgemein gebilligte und anerkannte, sondern auch die als völlig normal angesehene, tolerierte und darum unverbotene Betätigung165, so fungiert die Sozialadäquanz als genereller Raster, um die Verwirklichungsmodalitäten von Deliktstatbeständen auf das nach der Verkehrsanschauung mißbilligte Ver-
nach einem (nichtanalytischen) Entscheidungsverfahren, ob der Tatbestand die Entscheidung enthält, sondern vor dem Entscheidungsverfahren kann der Tatbestand die Sachverhaltsentscheidung actualiter gar nicht enthalten haben." 184 Dazu grundsätzlich Zipf, Kriminalpolitik, S. 124 ff.; ders., Rechtskonformes und sozialadäquates Verhalten, S. 631, 654. 185 In diesem auf Welzel zurückgehenden - Sinne plastisch Hirsch, Soziale Adäquanz, S. 79: "Unter sozialadäquaten Handlungen sind diejenigen Tätigkeiten zu verstehen, die sich völlig im Rahmen der normalen, geschichtlich gewordenen sozialethischen Ordnung des Gemeinschaftslebens bewegen, d. h. alle Betätigungen, die so mit unserem Sozialleben verknüpft sind, daß sie als völlig normal anzusehen sind." Für die Begrenzung der Sozialadäquanz auf sozialethisch statthaftes Verhalten dagegen Schaffstein, Soziale Adäquanz, S.385, 393 f.; Peters, Sozialadäquanz, S. 427; Maurach/Zipf, Strafrecht AT, § 17 II B; Zipf, Rechtskonformes und sozialadäquates Verhalten, S. 633 f. Klug, Sozialkongruenz, S. 262 bezeichnet demgegenüber das sozialethisch gebotene oder wegen sozialethischer Irrelevanz erlaubte Verhalten als sozialkongruent, das nicht nur wegen sozialethischer Irrelevanz erlaubte Verhalten als sozialadäquat. Auch wer bereits die unverbotene Betätigung als sozialadäquat ansieht, muß diesem Begriff freilich ein Minimum an sozialethisch-normativer Bedeutung beimessen: sozialadäquat ist nie das bloß üblich gewordene, massenhaft vorkommende Verhalten, sondern immer nur das als normal anerkannte, das heißt sich innerhalb gesellschaftlicher Normen bewegende, übliche und sozial tolerierte Verhalten. Vgl. dazu bereits oben Kap. 3.42, S. 168.
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5. Geringfügigkeit nach Unrechts gesichtspunkten
halten einzuengen16S ; Verhaltensweisen, die dem Wortlaut von Strafbestimmungen unterfallen, sich aber völlig im Rahmen des nach der Verkehrsanschauung Tolerierten bewegen, werden so aus dem als Unrechtstypus aufgefaßten Tatbestand ausgeklammert. Wie die methodische Funktion der sozialen Adäquanz darin besteht, gesellschaftlich tolerierte Lebensvorgänge aus dem formalen Wortlaut der Tatbestände herauszuschneiden, und es dadurch mit ermöglicht, daß der Unrechtstatbestand Vertypung strafwürdigen Unrechts ist167, besteht die methodische Funktion des Bagatellunrechts darin, verkehrsunerhebliehe Verhaltensweisen von der Bestrafung auszunehmen, und ermöglicht es dadurch, daß der Unrechtstatbestand Vertypung strafbedürftigen Unrechts ist; die soziale Adäquanz ist ein regulatives Prinzip, das die verkehrsanschauungsgemäße Einschränkung strafwürdiger Fälle gegenüber zu weit gefaßten Strafbarkeitsvoraussetzungen gestattet, das Bagatellunrecht ein regulatives Prinzip, welches die verkehrsanschauungsgemäße Einschränkung der strafbedürftigen Fälle gegenüber zu weit gefaßten Straffolgevoraussetzungen erlaubt. Die Lehre von der Sozialadäquanz bezieht sich auf Fallgestaltungen, welche gewissermaßen an der Schwelle zum strafbaren Unrecht stehen, diese aber wegen tolerierter Verkehrsüblichkeit nicht erreichenls8 ; die Lehre vom Bagatellunrecht umfaßt Fallgestaltungen, welche die Schwelle strafbaren Unrechts nach Maßgabe der Verkehrsanschauung minimal überschreiten. Weil sich die Schwelle des Strafbarkeitsbereichs und die Geringfügigkeit ihrer Über- oder Unterschreitung hier nach der Verkehrs anschauung bemißt, kann die Abgrenzung des straflosen, durch die Verkehrs anschauung geduldeten Verhaltens von dem strafbaren, aber nicht strafbedürftigen verkehrsunerheblichen Verhalten 168 Dem zu einem Zentralproblem dieses Rechtsinstituts hochstilisierten Streit, ob die soziale Adäquanz Rechtfertigungsgrund oder Tatbestandsausschließungsgrund sei, wird weitgehend der Wind aus dem Segel genommen, wenn man erkennt, daß die soziale Inadäquanz Voraussetzung jeder Strafe aus einem vorsätzlichen oder fahrlässigen Erfolgsdelikt ist. Auch die Vorsatztat bezieht sich nur auf Fälle, die die jedermann gebotene objektive Sorgfalt verletzen; auch als Vorsatztäter wird immer nur in Betracht gezogen, wer, einen entsprechenden Tatbestand vorausgesetzt, auch ohne Vorsatz wegen fahrlässiger Tatbegehung bestraft werden würde. So Krauß, Zur strafrechtlichen Problematik, S.564; ähnlich Zipf, Rechtskonformes und sozialadäquates Verhalten, S. 648 f. 167 Die Frage ist freilich, ob diese Funktion der Sozialadäquanz nicht bereits zumindest in weiten Teilen durch restriktive teleologische Auslegung von Tatbestandsmerkmalen erzielbar ist und dieses Rechtsinstitut deshalb bei dem heutigen Stand der Strafrechtsdogmatik weitgehend entbehrlich geworden ist. Für eine völlige Entbehrlichkeit der Lehre von der Sozialadäquanz Hirsch, Soziale Adäquanz, S.133; dagegen Schaffstein, Soziale Adäquanz, S. 377, 384. Dazu grundlegend Kienapfel, Körperliche Züchtigung. S. 98 ff.; Jung, Das Züchtigungsrecht, S. 23 f. lS8 Schaffstein, Soziale Adäquanz, S.374.
5.2 Vergleichsmaßstab: der Unrechtstypus
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nicht präziser sein als die Verkehrsanschauungen, die jenen Bewertungen zugrundeliegen18t• Für eine pragmatische Vernunft ist freilich der entscheidende Gesichtspunkt, daß sich gerade aus dieser Abgrenzungsschwierigkeit für die Bestimmung des Bagatellunrechts Kapital schlagen läßt. Das Abgrenzungsproblem besagt ins Positive gekehrt, daß die sozialadäquaten und die geringfügigen Verwirklichungsmodalitäten eines Deliktstatbestandes dicht beieinander liegen. überall wo die Strafrechtswidrigkeit eines formal unter einen Unrechtstatbestand subsumierbaren Verhaltens wegen Sozialadäquanz in Zweifel steht, ist darum ein Minimalkonsens darüber erzielbar, daß das Verhalten, wenn es schon als sozial inadäquat und rechtswidrig gedeutet wird, jedenfalls als sozial unerheblich und bagatellarisch anzusehen ist. Die einhellige Meinung, die annimmt, das Glücksspiel mit ganz unbeträchtlichen Geldeinsätzen, die Zueignung gefundener kleiner Münzen oder die Annahme verkehrsüblicher Neujahrsgeschenke durch den Postboten sei sozialadäquat und darum straffrei170 , wird sich schwer daran tun, eine präzise Grenze dafür anzugeben, wann die Geldeinsätze nicht mehr ganz unbeträchtlich, die Münzen nicht mehr so klein und die Neujahrsgeschenke über den Rahmen des üblichen hinausgehen. Dies ist auch nicht das primäre Problem. Die juristische Auslegung hat typische Fälle, keine Grenzfigurationen im Auge; sie orientiert sich nicht an Grenzentscheidungen, sondern an der typologischen Beurteilung dessen, was die im Hinblick auf Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit gedeuteten Tatbestandsmerkmale ganz sicher und was sie ganz sicher nicht umfassen171 • Bei Verhaltensweisen, die formal einem Deliktstatbestand zugeordnet werden können, bildet Bagatellunrecht die übergangszone von der typischerweise erheblichen, strafbedürftigen Unrechtsverwirklichung hin zu den typischerweise verkehrskonformen, straffreien Verwirklichungsmodalitäten; zwischen den Extremen des ganz sicher Strafbedürftigen und des ganz sicher nicht Strafwürdigen vollzieht sich der Bestimmungsprozeß von Bagatellunrecht durch interpolaren typologischen Vergleich. Der Vorzug dieses typologischen Er189 Eine bemerkenswerte Parallele zur Heranziehung des Gedankens der Sozialadäquanz bei der Bestimmung von Bagatellunrecht findet sich in der italienischen Strafrechtswissenschaft. Da das italienische Strafrecht keine Bagatellbestimmung kennt, grenzt die Lehre Bagatellunrecht dort aus, indem sie den Rechtsgedanken der Straffreiheit beim untauglichen Versuch (Art. 49 ital. cod. pen.) auf die vollendete, im Unwertgehalt geringfügige Straftat ausdehnt. Vgl. hierzu Beckmann, Diskussionsbericht, S. 597 f., der hervorhebt, daß die geistigen und kulturellen Grundlagen dieser Theorie nicht weit von der bekannteren Theorie der Sozialadäquanz entfernt seien. 170 Nachweise bei Kap. 2. Fußnoten 19, 22, 23. 171 Vgl. Hasserner, Tatbestand, S. 115.
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5. Geringfügigkeit nach Unrechtsgesichtspunkten
kenntnisverfahrens besteht darin, daß gerade dort, wo es für die Bestimmung der Strafbarkeit unsicher wird, bei der Bestimmung der Strafbedürftigkeit zu einem eindeutigen (negativen) Ergebnis führt. Formelhaft ausgedrückt: rechtlicher Dissens über die von der Verkehrsanschauung abhängige Beurteilung der Strajrechtswidrigkeit impliziert Konsens über die Beurteilung mangelnder Strajbedürjtigkeit. Jene Formel ist eine heuristische Entscheidungshilfe, die die Komponenten der Geringfügigkeitsbeurteilung des Unrechts, nicht aber die Fälle geringfügigen Unrechts aufweisen kann und will. Wann sich eine hinlänglich gefestigte soziale Anschauung herausgebildet hat, auf die sich die rechtliche Argumentation stützen kann, und wann ein beachtlicher Dissens in der Beurteilung der Strafrechtswidrigkeit anzunehmen ist, der die Annahme mangelnder Unrechtserheblichkeit hinreichend gesichert erscheinen läßt, ist weder in statistischen Mehrheitsverhältnissen noch sonstwie objektiv eindeutig angebbar172 • So gewiß es einerseits ist, daß weder eine vollkommene Einmütigkeit in der sozialen Einschätzung zu verlangen ist noch eine als abwegig eingestufte Mindermeinung ausreicht, um einen beachtlichen Dissens in der Rechtswidrigkeitsbeurteilung zu begründen, so sicher ist andererseits, daß sich feste, objektiv eindeutige Grenzen hier wie dort nicht ziehen lassen. Wegen des normativen, auf eine sachrichtige Deutung realer Geschehensabläufe abzielenden Charakters sozialer wie rechtlicher Beurteilungen muß sich die Geringfügigkeitsbestimmung des Unrechts im Einzelfall der Angemessenheit solcher Beurteilungen versichern, auf die sie sich bezieht; die argumentative, letztlich eigenverantwortliche Auseinandersetzung mit der Sachrichtigkeit sozialer und rechtlicher Beurteilungen bei der Entscheidungsfindung läßt sich nicht durch scheinbar noch so griffige Formeln vorwegnehmen und ersetzen. Dieses Ergebnis kann nur demjenigen enttäuschend erscheinen, der von der methodisch-systematischen Befassung mit dem Bagatellunrecht subsumtionsgerecht abrufbare, objektiv eindeutige Kriterien für die Einzelfallentscheidung erwartet. Eine solche Eindeutigkeit ist von der Strafrechtsdogmatik prinzipiell nicht zu leisten und besteht auch im strafrechtlichen Entscheidungsverfahren nirgends: weder beim Rechtswidrigkeitsurteil noch schon gar bei der Feststellung der Unrechtserheblichkeit. Die Eigentümlichkeit bagatellarischen Kriminalunrechts kann nicht präziser umrissen werden als die allgemeine Straftatlehre, deren Sonderfall die Lehre vom Bagatellunrecht darstellt, präziser Be172 Anschaulich Bruns, Leitfaden, S.49: "Es gibt ganz allgemein im Rechtsleben - keinen rechnerischen Fixpunkt, z. B. für die Wuchergrenze beim Darlehen, für die Pornographie der Abbildung, die Heimtücke der Mordbegehung ... ce
5.2 Vergleichsmaßstab: der Unrechtstypus
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stimmung fähig und das Beziehungsgeflecht strafrechtsdogmatischer Gesichtspunkte, die im Problemkreis des Bagatellunrechts zusammenfinden, einer solchen Bestimmung zugänglich ist. Die erörterten strafrechtsdogmatischen Gesichtspunkte können die Bandbreite der Beurteilungs- und Entscheidungsfreiheit einengen, nicht aber die Entscheidung mit objektiver Eindeutigkeit determinieren. Sie können Einzelfallentscheidungen falsifizieren, sofern diese sich auf Gesichtspunkte stützen, die bei der Geringfügigkeitsbestimmung des Unrechts außer Betracht zu bleiben haben; es läßt sich zeigen, welche Deliktstatbestände bagatellarisch verwirklicht werden können und welche nicht, welche Maßstäbe bei der Prüfung der Unrechtserheblichkeit anzulegen sind und welche hierbei keine Rolle spielen. Eine strafrechtsdogmatische Verifikation - und nicht bloß der Nachweis der Nicht-Falsifizierbarkeit - konkreter Geringfügigkeitsbeurteilungen ist hingegen unmöglich. Die Annahme geringfügigen, nicht strafbedürftigen Unrechts beruht notwendig auf einer konventionellen subjektiven Festlegung, die - fern jeglicher absoluten Richtigkeitsgewähr - in dem Maße allgemeingültig und verbindlich ist, wie sie anerkannten gesellschaftlichen Werterfahrungen entspricht und in der intersubjektiven juristischen Meinungsbildung Bestätigung findet 17S• Rein strafrechtsdogmatisch ist die Annahme, die schwerwiegende Verletzung von Polizeibeamten durch Demonstranten verkörpere wegen des legitimen politischen Anliegens der Demonstration Bagatellunrecht, ebensowenig zu beanstanden wie die These, ein solches Verhalten sei nicht rechtswidrig. Wer derartige Auffassungen vertritt, disqualifiziert sich als ernstzunehmender Teilnehmer an der juristischen Meinungsbildung und setzt sich damit selbst ins Abseits. Eine andere Richtschnur zur Verifizierung juristischer Entscheidungen als diejenige diskutabler Begründung und argumentativer Überzeugungskraft gibt es nicht. Wo sich beim Abwägen des Für und Wider das Zünglein an der Waage deutlich über die Grenze des juristisch Vertretbaren hinausbewegt, zeigt sich immer erst im Rahmen der juristischen Meinungsbildung und ist außerhalb dessen nicht gewußt. 173 Vgl. Henkel, Die richtige Strafe, S. 34, 39, der betont, daß sich wegen dieses schöpferischen, gestalterischen Charakters strafrechtlicher Entscheidungen deren Richtigkeit nicht exakt (klassifizierend) verifizieren, nicht durch Subsumtion finden, sondern nur durch Argumentation aufzeigen lasse. Ähnlich Bruns, Leitfaden, S. 44, der in bezug auf das Ergebnis der richterlichen Strafzumessung feststellt, dieses komme methodologisch durch Anwendung von Typen- bzw. Steigerungsbegriffen zustande, und fortfährt: "Problematisch bleibt das Urteil insofern, als es nicht möglich ist, es exakt (klassifizierend) zu verifizieren. Die ,Richtigkeit' der konkreten Rechtsfolgeanordnung läßt sich gleichwohl - wenn auch nicht mit Subsumtion, so doch - durch ,Argumentation' nachweisen."
6. Die Geringfügigkeitsbestimmung nach Zumessungsgesich tspunkten Die grundlegende Unterscheidung zwischen Bagatelldelikten im Funktionszusammenhang des Straftatsystems und der Strafzumessung scheint eine unterschiedliche Rationalisierbarkeit des Geringfügigkeitsurteils zu reflektieren. Bei der Erarbeitung der Komponenten der Geringfügigkeitsbeurteilung des Tatunrechts konnte auf die ausgefeilte Dogmatik der Straftatlehre Bezug genommen werden; die Dogmatik der Strafzumessungslehre steckt im Vergleich dazu noch in den Kinderschuhen1 • Hinzu kommt, daß die Geringfügigkeitsbeurteilung des Unrechts einheitlichen Kriterien folgt, die sich aus der im Unrechtstatbestand vorausgesetzten deliktstypischen Erheblichkeit herleiten. Im Gegensatz zu diesem eindimensionalen Bestimmungsvorgang von Bagatelldelikten im Unrechtszusammenhang ist der Bestimmungsvorgang von Bagatelldelikten im Zumessungszusammenhang multidimensional: hier kommen für die Bagatellbestimmung so unterschiedliche Kriterien wie Ausmaß des individuellen Verschuldens, spezial- und generalpräventive Reaktionsbedürftigkeit, kriminalpolitische Erwägungen und Überlegungen zur Opportunität der Strafverfolgung in Betracht2, deren Relevanz und wechselseitige Abhängigkeit erst noch geklärt werden muß; solange diese Klärung nicht erbracht ist, erscheint die Geringfügigkeitsbeurteilung im Zumessungszusammenhang als irrationaler, gefühlsmäßiger Akt der subjektiven Schätzung. Dies heißt nun aber keineswegs, daß die Bedingungen sachgerechter Bagatellisierung im Zumessungszusammenhang sich der methodischsystematischen Rationalisierung entzögen, weil die Bagatellisierungsentscheidung hier auf einer rein gefühlsmäßigen, an Intuition oder bestenfalls Tradition ausgerichteten Schätzung beruhte3 • Für einen derartigen resignativen Verzicht auf eine methodische Anleitung der Entscheidungsfindung, der vor den Schwierigkeiten kapituliert und dadurch erst die Geringfügigkeitsentscheidung im Strafzumessungsbereich Vgl. Bruns, Leitfaden, S. 15; Roxin, Strafzumessung, S.463. Vgl. oben Kap. 4.2, S. 198 f. 3 So aber Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 60 f., 107 ff., 110. Dagegen schon oben Kap. 4.1 Fußnote 11, Kap. 4.2 Fußnote 15. 1
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
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zu einer "Angelegenheit des Beliebens"4 macht, besteht um so weniger Anlaß, als es der Strafzumessungslehre in der jüngeren Vergangenheit zunehmend gelungen ist, die an die Strafbarkeitsfeststellung zu knüpfende Rechtsfolge der Willkür zu entrücken5 • Rekapitulieren wir unsere bislang gewonnenen Einsichten zur Geringfügigkeitsbestimmung im Funktionszusammenhang der Strafzumessung: Ein strafbares Verhalten, welches nicht schon im Unrechtsgehalt als bagatellarisch ausgewiesen ist, kann sich unter Zumessungsgesichtspunkten als nicht strafbedürftig, weil geringfügig erweisen. Wird Bagatellunrecht angenommen, so entfällt bereits deshalb die Strafbedürftigkeit; die Erörterung von Zumessungsgründen verbietet sich dann6 • Trotz deliktstypisch erheblichen Unrechtsgehalts kann bei allen als Vergehen strafbaren Handlungen nach Maßgabe individualisierender Zumessungsgesichtspunkte eine bagatellarische Rech.tsfolge angezeigt sein; bei Verbrechen ist wegen der Unbedingtheit des gesellschaftlichen Strafverlangens eine bagatellarische Behandlung ausgeschlossen7 • Beurteilungsgrundlage sind anders als bei der Geringfügigkeitsbestimmung des Unrechts nicht bloß die in gesetzlichen Tatbestandsmerkmalen vertypten Umstände, sondern alle tatrelevanten Umstände, die sich auf das Bild des Täters und seines Verhaltens beziehen. Beurteilungsmaßstäbe sind die allgemeinen Grundsätze der Strafzumessung, wie sie in § 46 StGB leitbildhaft aufgeführt sind8 ; eine Orientierungshilfe liefern daneben die besonderen gesetzlichen Milderungsgründe, auf die § 49 StGB Bezug nimmt9 , die unbenannten Strafmilderungsgründe der minder schweren Fälle1G und die von der Dogmatik entwickelten Schuldminderungselemente wie etwa die eingeschränkte Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens und die eingeschränkte individuelle Vorhersehbarkeit bei Fahrlässigkeitsdelikten11 • Ergibt sich nach diesen Maßstäben, die regelmäßig nur die Strafbedürftigkeit mindern, ohne sie völlig entfallen zu lassen, daß eine Bestrafung auf Grund der besonderen Umstände des Einzelfalles schlechthin unangemessen wäre, so ist eine Bagatellisierung am Platz. Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 61. Vgl. Bruns, Strafzumessungsrecht, s. IX unter Berufung auf Alsberg. Dies ist namentlich den grundlegenden Schriften von Bruns selbst zu verdanken. 6 Vgl. oben Kap. 4.2, S. 200. 7 Vgl. oben Kap. 5.1, S. 206. 8 Vgl. oben Kap. 4.2, S. 198 f. 9 Dazu im einzelnen oben Kap. 5.2, S. 211; zum Verständnis der fakultativen besonderen gesetzlichen Milderungsgründe als Strafzumessungsumstände vgl. auch oben Kap. 4.1, S. 197 f. 10 Zur Bestimmung der minder schweren wie der besonders schweren Fälle nach Strafzumessungserwägungen vgl. oben Kap. 5.1, S. 208 f., Kap. 5.2, S. 211 f. 11 Vgl. oben Kap. 4.1, S. 197 f. 4
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten 6.1 Die strukturelle Identität von Bagatellisierungsgründen und Strafzumessungsgründen
Die letztgenannte These ist nicht unmittelbar einleuchtend und bedarf einer genaueren überprüfung. Womöglich hat sich in die bisherigen überlegungen ein Denkfehler eingeschlichen, insofern als selbstverständlich davon ausgegangen wird, daß Strafzumessungsgründe bei der Geringfügigkeitsbestimmung Verwendung finden können. Dies ist jedenfalls nicht unproblematisch, bringt doch schon die Wortwahl zum Ausdruck, daß es sich dabei - jedenfalls regelmäßig - um Gründe zur Zumessung der Strafe handelt. Naheliegend ist deshalb die Annahme, Strafzumessungsgründe könnten nur bei der Strafmaßbestimmung Beachtung finden. Wenn indes in die gesetzlichen Tatbestände auch geringfügige, nicht strafbedürftige Verwirklichungsmodalitäten eingehen, muß sich das Geringfügigkeitsurteil auf eben die mildernd in Ansatz zu bringenden Zumessungsgründe stützen lassen, die als Straf-zumessungsgründe im eigentlichen Sinne nur eine Herabsetzung der Strafe bis zur unteren Grenze des Strafrahmens erlauben; da sich die Strafzumessungsgründe auf sämtliche für die einzelfallbezogene Zumessung strafrechtlicher Rechtsfolgen beachtlichen Umstände erstrecken, spiegelt die irreführende, auf die Zumessung von Strafe beschränkte Wortbedeutung den Befund, daß Strafe die typische, nicht aber die einzige Rechtsfolge des Strafrechts ist. Damit stellt sich die Frage der systematischen Ordnung der Zumessungsschritte bei der Bestimmung von Bagatelldelikten. Herkömmlicherweise wird das Strafzumessungsverfahren als zweiphasig verstanden: bei feststehender Strafbarkeit eines Verhaltens ist zunächst der Strafrahmen zu ermitteln und anschließend der Fall einer Rangstelle innerhalb des Strafrahmens zuzuordnenl2 • Ein im Funktionszusammenhang der Strafzumessung bagatellisierungswürdiges Verhalten zeichnet sich dadurch aus, daß es sich innerhalb der Eckwerte des Strafrahmens nicht einordnen läßt, weil sich noch die unterste Rangstelle des Strafrahmens als zu hoch gegriffen erweist. Die Deutung des Zumessungsvorganges als eines zweiaktigen Entscheidungsverfahrens unterschlägt darum einen weiteren, zwischen die Strafrahmenbestimmung und die konkrete Rechtsfolgenbemessung geschalteten Zumessungsakt: die Prüfung, ob außergewöhnlich mildernde Umstände anzunehmen sind, die die Einhaltung der unteren Grenze des Strafrahmens als schlechthin unangemessen erscheinen lassen. Der an die Strafbarkeitsfeststellung anschließende Zumessungsvorgang stellt sich darum als prinzipiell dreiphasig 12
Vgl. etwa Bruns, Leitfaden, S.46.
6.1 Bagatellisierungs- und Strafzumessungsgründe
253
dar; er unterteilt sich in die Sektoren der Strafrahmenfeststellung, der Strafbedürftigkeitsfeststellung nach Maßgabe der unteren Grenze des Strafrahmens und der konkreten Rechtsfolgebemessung nach Maßgabe der positiven oder negativen Strafbedürftigkeitsfeststellung. Die Feststellung der Strafbedürftigkeit bzw. der fehlenden Strafbedürftigkeit wegen Geringfügigkeit ist ein selbständiger, der konkreten Rechtsfolgenbemessung vorgelagerter Abschnitt des Zumessungsverfahrens, der die Weichen dafür stellt, ob die Rechtsfolge dem Strafrahmen oder dem Spektrum der bagatellarischen Rechtsfolgeanordnungen zu entnehmen ist. Ergibt sich aus der Gesamtheit der zumessungserheblichen Umstände, daß der Strafrahmen zumindest in seiner Untergrenze eine einzelfallgerechte Entscheidung ermöglicht, so ist innerhalb der Wertskala des Strafrahmens das konkrete Strafmaß nach Zumessungsgesichtspunkten zu ermitteln; erweist sich der Strafrahmen hingegen schon in seiner Untergrenze als unangemessen überzogen, so dienen die Zumessungsgesichtspunkte, die nach herkömmlichem Verständnis nur das Strafmaß beeinflussen, zur Bestimmung der einzelfallgerechten bagatellarischen Rechtsfolge. Hieraus erhellt vollends, daß die Strafbedürftigkeitsbestimmung im Funktionszusammenhang der Strafzumessung anderen Regeln folgt und eine andere Variationsbreite von Entscheidungsmöglichkeiten eröffnet als die Strafbedürftigkeitsbestimmung im Funktionszusammenhang des Straftatsystems'3. Geht es dort um die Strafbedürftigkeit gemäß der vom Gesetz im Unrechts tatbestand gattungsmäßig vorausgesetzten Unrechtserheblichkeit, so ist hier die Strafbedürftigkeit gemäß der je singulären Beurteilung des Einzelfalles angesprochen; während dort eine Auslese bagatellarischer Fälle durch typisierende Eingrenzung der Tatbestandsseite zu treffen ist, richtet sich hier das Augenmerk auf die Auslese bagatellarischer Fälle auf der Rechtsfolgenseite. Im Funktionszusammenhang des Straftatsystems ist nur für die Feststellung der Strafbedürftigkeit oder der mangelnden Strafbedürftigkeit wegen Geringfügigkeit Raum; wie bei jeder Tatbestandsprüfung muß dort am Ende eine kategoriale Entweder-Oder-Entscheidung stehen, die eine weitere Differenzierung nicht zuläßt. Wenn darum ein strafrechtswidriges Verhalten sich im Unrechtstatbestand als bagatellarisch erweist, kommt nur eine unbedingte, folgenlose Bagatellisierung in Betracht; die Verneinung auch der materiell gedeuteten Tatbestandsmäßigkeit kann nur die Rechtsfolge "Null" nach sich ziehen. Für die Bagatellbestimmung im Funktionszusammenhang des Straftatsystems ist die Feststellung mangelnder Strafbedürftigkeit das Ergebnis, aus dem zwingend die unbedingte, folgenlose Bagatellisierung erwächst; .3
Vgl. dazu bereits oben Kap. 4.2.
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
für die Bagatellbestimmung im Funktionszusammenhang der Strafzumessung ist die Feststellung mangelnder Strafbedürftigkeit hingegen nur ein Zwischenschritt, der der Ergänzung durch die konkrete Rechtsfolgenbemessung bedarf. Hier ist mit der Feststellung der Bagatellisierungswürdigkeit nur vorentschieden, daß die Ermittlung der konkreten Deliktsfolgen nicht nach der Wertskala des Strafrahmens, sondern nach derjenigen der bagatellarischen Rechtsfolgeanordnungen zu treffen ist. Allein bei der Bagatellbestimmung im Funktionszusammenhang der Strafzumessung ist für die Wahl zwischen einer unbedingten, folgenlosen Bagatellisierung und einer durch die Verhängung nichtstrafender Sanktionen bedingten BagateHisierung Raum; das die Strafzumessung beherrschende erkenntnisleitende Interesse der sachrichtigen Behandlung strafbarer Fälle macht es erforderlich, die Palette bagatell arischer Rechtsfolgeanordnungen umfassend in Rechnung zu stellen und daraus unter Abwägung der zumessungserheblichen Faktoren die einzelfallgerechte Maßnahme auszugrenzen. Wenn unsere These zutreffend sein soll, daß Strafbedürftigkeitsfeststellung und Strafmaßbestimmung, Bagatellisierungswürdigkeitsfeststellung und bagatellarische Rechtsfolgenbestimmung allesamt nach einheitlichen Zumessungsgründen erfolgen, müssen auf zwei prinzipielle methodische Fragen befriedigende Antworten gefunden werden. Erstens: wie können die gleichen Zumessungsgrunde, die nach herkömmlichem Verständnis der Strafbemessung innerhalb eines vorgegebenen Strafrahmens dienen, zugleich über die Strafbedürftigkeit oder Bagatellisierungswürdigkeit, also über die Verbindlichkeit oder Unverbindlichkeit des Strafrahmens entscheiden? Zweitens: wie können die gleichen Zumessungsgründe, die bei der konkreten Rechtsfolgenbemessung Beachtung verdienen, bereits bei der vorgängigen Prüfung der Strafbedürftigkeit bzw. Bagatellisierungswürdigkeit maßgeblich sein, im Ergebnis also doppelt in Rechnung gestellt werden? Die gleichen mildernd in Ansatz zu bringenden Umstände, die typischerweise eine Einordnung des Falles in die unteren Rangstellen des Strafrahmens rechtfertigen, sind nach der hier vertretenen These geeignet, bei außergewöhnlicher Steigerung des Milderungsgrundes den Strafrahmen außer Kraft zu setzen. Auf den ersten Blick erscheint es freilich widersprüchlich, daß Zumessungsgrunde, die der einzelfallbezogenen Konkretisierung der Wertskala des Strafrahmens dienen, über die Unverbindlichkeit dieser Wertskala in geringfügigen Fällen befinden. Der systemimmanente, an die Grenzen des Strafrahmens gebundene Zumessungspunkt kann nicht zugleich - so scheint es systemkritisch die Angemessenheit des Strafrahmens selbst reflektieren; gleichermaßen wie es unzulässig ist, aus Strafzumessungsgrunden, die eine hohe Strafe erforderlich machen, den gesetzlichen Straf-
6.1 Bagatellisierungs- und Strafzumessungsgründe
255
rahmen zu überschreiten, könnte es unzulässig sein, aus als strafmildernd zu berücksichtigenden Umständen die Berechtigung zum Strafverzicht wegen Geringfügigkeit herzuleiten. Dies wäre indes nur dann richtig, wenn ein noch so mildernder zumessungserheblicher Umstand nicht milder beurteilt werden könnte, als der Strafrahmen dies zuläßt. Die untere Grenze des Strafrahmens schließt jedoch nur die Möglichkeit einer weiteren Milderung der Strafe, nicht hingegen die Möglichkeit des bagatellisierenden Strafverzichts wegen außergewöhnlich mildernden Umständen aus l \ Die gesetzliche Mindeststrafe ist unter dem Vorbehalt der Strafbedürftigkeit für den Richter verpflichtend; wenn sich das strafbare Verhalten als strafbedürftig erweist, dann und nur dann ist er an die Mindesstrafe gebunden. Weil die Bagatellisierungswürdigkeit auf einer der konkreten Rechtsfolgenbemessung vorgelagerten Ebene zu ermitteln ist, besteht kein Widerspruch in unserer These, die Geringfügigkeitsbeurteilung sei nach allgemeinen Strafzumessungsgrundsätzen vorzunehmen. Bei der Prüfung der Strafbedürftigkeit bzw. Bagatellisierungswürdigkeit im Funktionszusammenhang der Strafzumessung geht es um die Entscheidung, ob die untere Grenze des Strafrahmens überhaupt noch eine angemessene, einzelfallgerechte Reaktion zuläßt; erst wenn diese Frage positiv beantwortet ist und damit die Strafbedürftigkeit feststeht, wird der Strafrahmen für das (weitere) Zumessungsverfahren verpflichtend. Versteht man unter Strafmilderungsgründen diejenigen mildernden Umstände, die eine Ermäßigung der Strafe bis zur Untergrenze des Strafrahmens erlauben, so wird einsichtig, daß solche Strafmilderungsgründe im eigentlichen Sinne den mildernden Umständen des Einzelfalles nur begrenzt gerecht werden können; bei der Straffolgenbemessung kann der individuellen Gestaltung des Einzelfalles nur insoweit Rechnung getragen werden, als der Einzelfall sich in seiner Reaktionsbedürftigkeit in der Bandbreite des Strafrahmens bewegt. Da sich aber immer noch leichtere Fälle vorstellen lassen als derjenige, für den die Mindeststrafe oder überhaupt die Kriminalstrafe sich als angemessen erweist15, verlangt das Gebot einzelfallgerechter RechtSfolgenbestimmung in derart äußerst leicht wiegenden Fällen den Strafverzicht wegen Geringfügigkeit. Weil bei außergewöhnlich mildernden Umständen der Strafrahmen keine angemessene Reaktion mehr zuläßt, wird hier aus einem Strafmilderungsgrund ein Bagatellisierungsgrund. Wann genau dieser Umschlag vom Quantitativen ins Qualitative erfolgt und 14 Vgl. BGHSt 21, 139. Zum Verbot einer Unterschreitung der Mindeststrafe vgl. BGHSt 24, 173 f.; kritisch dazu Schulz-Heik, Atypische Tat, S. 150 ff. 15 Vgl. Mösl, Tendenzen, S. 166.
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
wonach er sich bemißt, bleibt der späteren Betrachtung vorbehalten. An dieser Stelle gilt es lediglich hervorzuheben, daß Bagatellisierungsgründe im Funktionszusammenhang der Strafzumessung nichts weiter als Grenzwerte von Strafmilderungsgründen sind: mildernde Umstände, die in ihren geringeren Abstufungen die Strafhöhe ermäßigen, drücken in höheren Steigerungsgraden die Strafe bis zur gesetzlichen Mindeststrafe herab und lassen im Extrembereich der nach Milderungsgraden gestaffelten Rangskala die Strafbedürftigkeit wegen Geringfügigkeit entfallen16 • Es ist darum keineswegs widersprüchlich, sondern im Gegenteil folgerichtig und unerläßlich, daß sich die Strafbedürftigkeit nach eben den mildernd in Ansatz zu bringenden Umständen bemißt, die nach herkömmlichem Verständnis nur das Strafmaß zu ermäßigen geeignet sind. Versuche, die Zulässigkeit einer Unterschreitung des gesetzlichen Strafrahmens aus Strafmilderungsgründen herzuleiten, die eigentlich nur eine Ermäßigung der Strafe bis zur Untergrenze des Strafrahmens gestatten, haben eine lange rechtsgeschichtliche Tradition. Schon das österreichische Strafgesetzbuch von 1803 sah neben der dem Landesherrn vorbehaltenen Begnadigungsbefugnis eine außerordentliche richterliche Ermächtigung zur Unterschreitung des Strafrahmens beim Zusammentreffen außergewöhnlich mildernder Umstände vor (1. Teil, §§ 46 ff.). Im österreichischen Strafgesetzbuch von 1852 (§§ 54, 55) und in der Strafprozeßordnung von 1853 (§ 286) wurde die alte Regelung im Grundsatz beibehalten und bekräftigt. Dem österreich ischen Beispiel folgend fand die Möglichkeit des Zurückbleibens hinter der gesetzlichen Strafdrohung bei außergewöhnlicher Steigerung und kumulativer Häufung von Strafmilderungsgründen in die partikularstaatlichen Kodifikationen des braunschweigischen Strafgesetzbuchs von 1840 (§ 62) und des hamburgischen Criminalgesetzbuchs von 1869 (Art. 60) Eingang17 • Die Kodifikationen anderer deutscher Partikularstaaten übernahmen diese Regelung aus Rücksicht auf die Prärogativen der Begnadigungsbefugnis 16 Das Gesetz der Grenzwertbestimmung, auf das hier Bezug genommen wird, wurde von Mezger zur Bestimmung des Verhältnisses von gesetzlichen Schuldausschließungsgründen zu Schuldminderungsgründen entwickelt; es besagt in seiner ursprünglichen Form, daß die Gründe, die in ihren höheren Abstufungen die Schuld ausschließen, in ihren minderen Graden auch bei bestehender Schuld auf deren Umfang und damit auf die Strafhöhe entscheidenden Einfluß ausüben. Die übertragbarkeit dieses Gedankens auf das Verhältnis von Strafmilderungsgründen zu Bagatellisierungsgründen liegt auf der Hand. Zum Gesetz der Grenzwertbestimmung eingehend Bruns, Leitfaden, S. 35 f., wo ausdrücklich die Verallgemeinerungsfähigkeit des Gesetzes betont wird. Zu Grenzwerten des Opferverhaltens als Leitwerte der Strafzumessung nunmehr programmatisch Hillenkamp, Vorsatztat, S. 239 ff. 17 Der Wortlaut der Bestimmungen ist abgedruckt bei Schmid, über Strafmilderungsgründe, S. 136 f.
6.1 Bagatellisierungs- und Strafzumessungsgründe
257
des Landesherrn und aus Sorge vor richterlicher Willkür nicht l8 • Von einem formalistischen Strafrechtsdenken geprägt, statuierte das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 die Notwendigkeit bestimmter Strafdrohungen und ihrer unnachsichtigen Durchsetzung. Die Lawine aus Not geborener Kleinkriminalität des politischen und wirtschaftlichen Zusammenbruchs nach Ende des Ersten Weltkrieges machte einer weniger rigide, mehr pragmatisch orientierte Verbrechensbekämpfung erforderlich, die auch insoweit in der Strafrechtsdogmatik ein Umdenken erzwang. Nicht von ungefähr kommt die Idee, beim Zusammentreffen besonders intensiv ausgeprägter Milderungsgrunde die Verbindlichkeit der unteren Grenzmarke des Strafrahmens aufzuheben, in jener Zeit erneut auf und wird ergänzt durch den Vorschlag, in derartigen Fällen nicht bloß eine geringere als die im Gesetz vorgesehene Mindeststrafe, sondern einen völligen Strafverzicht zu ermöglichen. Der Gedanke, Bagatellisierungsgrunde als Grenzwerte von Strafmilderungsgründen zu deuten, findet in § 75 des Amtlichen Entwurfs eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs von 192519 erstmals Ausdruck. Die Bestimmung lautet: ,,(1) In besonders leichten Fällen mildert das Gericht die Strafe nach freiem Ermessen. Wo es zugelassen ist, kann das Gericht von Strafe absehen. (2) Ein besonders leichter Fall liegt vor, wenn trotz Zubilligung mildernder Umstände die mildeste zulässige Strafe noch unbillig hart sein würde." Die berechtigte Kritik an der kriminalpolitischen Vertretbarkeit dieses Regelungsvorschlages, der das Ermessen des Richters überspannt und die Strafdrohungen allzu sehr abschwächt, hat eine ernsthafte strafrechtsdogmatische Auseinandersetzung mit dem hier angesprochenen Grundgedanken gar nicht erst aufkommen lassen und bewirkt, daß das ihm zugrundeliegende Prinzip der Bestimmung von Bagatellisierungsgründen als Grenzwerte von Strafmilderungsgründen alsbald in Vergessenheit geriet20 • Das Gesetz der Grenzwertbestimmung läßt sich zur Ausdeutung von Bagatellisierungsgrunden noch in einem weiteren Sinne heranziehen: gleichermaßen wie Bagatellisierungsgrunde bezogen auf den Strafbarkeitsbereich als Grenzwerte von Strafmilderungsgrunden zu verstehen sind, können sie auf der anderen Seite der Skala - dem StraflosigVgl. Schmid, S. 137 m. w. N. in Fußnote 63. Materialien zur Strafrechtsreform 3. Band 1954. 20 Die Bestimmung wurde schon zwei Jahre später im StGB-Entwurf 1927 durch die völlig anders gefaßte Vorschrift des § 76 Abs.2 ersetzt, vgl. Materialien zur Strafrechtsreform 4. Band 1954. 18
19
17 Kunz
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
keitsbereich - als Grenzwerte solcher Umstände aufgefaßt werden, die bei besonders intensiver Ausprägung die an sich mögliche Vorwerfbarkeit entfallen lassen, eine Strafverschonung kraft Gesetzes erzwingen oder ein Verfahrenshindernis setzen. Entschuldigungsgründe zeichnen sich dadurch aus, daß bei ihrem Vorliegen auf die Erhebung des grundsätzlich möglichen Schuldvorwurfs in Anbetracht außergewöhnlicher Umstände, die ein normgemäßes Verhalten wesentlich erschweren und im Ergebnis unzumutbar erscheinen lassen, verzichtet wird; der die Exkulpation rechtfertigende übergreifende Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens bewirkt eine derart erhebliche Minderung des Unrechts- und Schuldgehalts der Tat, daß den Täter allenfalls noch ein moralischer, nicht aber ein strafrechtlich haftungsbegründender Vorwurf trifft21 • Entschuldigungsgründe sind damit ins äußerste Extrem gesteigerte Strafmilderungsgründe aus Verschuldensgesichtspunkten, die wegen ihrer Intensität nicht erst bei der Schuldbemessung Beachtung verdienen, sondern schon bei der Schuldzurechnung zu Buche schlagen und die Vorwerfbarkeit entfallen lassen. Es liegt auf der Hand, daß die Exkulpation als Extremfall der Schuldminderung an eng umgrenzte Voraussetzungen gebunden bleiben muß; eine extensive Auslegung der Exkulpationsmöglichkeiten ist nicht zulässig22 • Schuldmindernde Umstände, die auf der Grenze zur Exkulpation etwa durch entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB) oder Notwehrüberschreitung (§ 33 StGB) liegen, lassen sich daher weder als Strafmilderungsgründe im eigentlichen Sinne noch als Entschuldigungsgründe ihrem Schuldgehalt entsprechend angemessen berücksichtigen: die bloße Strafmilderung wäre ein Zuwenig, die Exkulpation ein Zuviel. Der Grenzfall zwischen Strafmilderung und Exkulpation gibt zur Bagatellisierung Anlaß; Bagatellisierungsgründe sind als Puffer im Grenzbereich zwischen völliger Exkulpation und bloßer Strafmilderung angesiedelt. Zu beachten ist freilich, daß sich ein Exkulpationsgrund immer nur dem spezifischen Schutzzweck der Norm entsprechend zu einem Strafmilderungsgrund bzw. Bagatellisierungsgrund ausweiten läßt; die Aus21 Vgl. Wesseis, Strafrecht AT, § 10 VII: "In der heutigen Rechtslehre gewinnt die Auffassung an Boden, daß die Entschuldigungsgründe sich unrechts- und schuldmindernd auswirken ... Der SchuldgehaIt der Tat ist erheblich geringer als unter normalen Umständen." Dies macht den spezifischen Unterschied der Entschuldigungsgründe zu den Schuldausschließungsgründen aus, bei denen ein Schuldvorwurf von vornherein unmöglich ist. 22 Was nicht heißt, daß für ganz außergewöhnliche Konfliktsituationen keine übergesetzliche Exkulpationsmöglichkeit anerkannt werden kann; ein allgemeiner übergesetzlicher Entschuldigungsgrund der Unzumutbarkeit ist jedoch mit der herrschenden Meinung abzulehnen, vgl. dazu etwa Haft, Strafrecht AT, § 4, 5. a).
6.1 Bagatellisierungs- und Strafzumessungsgründe
259
weitung bezweckt eine lineare Fortschreibung des die Exkulpation bestimmenden Grundgedankens in den Zumessungszusammenhang. Sie kann nicht dazu dienen, im Wege der Normenkorrektur solche Lücken zu schließen, die der Gesetzgeber mit Bedacht gesetzt hat. Der Grundgedanke der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens rechtfertigt den Verzicht auf die Erhebung des Schuldvorwurfs und damit auch die Privilegierung im Zumessungszusammenhang nur insoweit, als etwa bei der Notwehrüberschreitung (§ 33 StGB) die Abwehrhandlung gegenüber einem gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff die Grenzen der Erforderlichkeit überschreitet. Nur das Opfer eines gegenwärtigen Angriffs, das sich intensiver als erforderlich verteidigt, verdient in besonderem Maße Nachsicht; der extensive Notwehrexzeß, bei dem ein Angriff noch nicht oder nicht mehr vorliegt, ist vom Schutzzweck der Bestimmung nicht gedeckt23 und daher auch im Zumessungszusammenhang nicht privilegierungsfähig. Zumessungsrelevant sind daher namentlich die Fälle, in denen die Notwehrüberschreitung soeben nicht mehr aus den im Gesetz genannten asthenischen Affekten Verwirrung, Furcht oder Schrecken entschuldigt werden kann. Eine Exkulpation ist nur möglich, wenn solche Affekte in einem Motiv- oder Affektbündel dominieren 24 ; spielen die asthenischen Affekte hingegen neben anderen Beweggründen eine bloß untergeordnete Rolle, so kommt wegen ihrer Mitursächlichkeit für die Tatbegehung nur eine Strafmilderung in Betracht. Für Fallgestaltungen, in denen weder der asthenische Affekt noch ein anderer Beweggrund eindeutig dominiert, das Motiv- und Affektbündel also annähernd gleichgewichtig durch den Affekt wie durch andere Beweggründe geprägt wird, sieht ein auf die Alternative völlige Exkulpation oder bloße Strafmilderung verengtes Rechtsfolgenkonzept keine angemessene Reaktion vor; die Einzelfallgerechtigkeit gebietet, hier eine Bagatellisierung vorzusehen. Der Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens ist darüber hinaus im Rahmen der Schuldzurechnung bei Fahrlässigkeitsdelikten als generelle Begrenzung der den Täter persönlich treffenden Sorgfaltspflicht anerkannt25 • Auch hier ist der Übergang zwischen Umständen, die die Erfüllung der Sorgfaltspflicht unzumutbar erscheinen lassen, und anderen Umständen, die die Erfüllung bloß erschweren, fließend; zwischen der als Strafmilderungsgrund zu berücksichtigenden eingeschränkten Zumutbarkeit und der den Schuldvorwurf tilgenden Unzumutbarkeit klafft eine Lücke, die im Bereich der erheblich einge23
Herrschende Meinung, vgl. etwa Lackner, Strafgesetzbuch, Anm. 2. zu
§ 33; anderer Ansicht Roxin, über den Notwehrexzeß, S. 11. 24 25
17*
Vgl. BGHSt 3, 198; BGH GA 1969, S. 23. Vgl. Jescheck, Strafrecht AT, § 57 IV. 1.
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
schränkten Zumutbarkeit durch Eröffnung der Bagatellisierungsmöglichkeit geschlossen werden muß. Entsprechendes gilt für die individuelle Voraussehbarkeit des Erfolges und des Kausalverlaufs bei Fahrlässsigkeitsdelikten26 • Hier nur die Alternative Straflosigkeit oder bloße Strafmilderung bereitzustellen hieße grobschlächtig und undifferenziert zu verfahren, insofern die Schere zwischen einer soeben möglichen und einer die Härte der Kriminalstrafe rechtfertigenden massiven Vorwerfbarkeit in der Zwischenzone der erheblich eingeschränkten subjektiven Voraussehbarkeit keine angemessene Reaktion zuläßt. Die Verfeinerung des Schuldprinzips27 gebietet, die Subtilität der psychischen Geschehensabläufe bei der Rechtsfolgenbemessung zu berücksichtigen und den Grenzbereich der erheblich eingeschränkten individuellen Voraussehbarkeit als Bagatellisierungsgrund zu werten. In ähnlicher Weise lassen sich jenseits von Unrecht und Schuld Bagatellisierungsgründe als Grenzwerte von gesetzlich normierten Strafverschonungsgründen auf der einen Seite und den ihnen korrespondierenden Strafmilderungsgründen auf der anderen Seite verstehen. Umstände, die trotz rechtswidrig-schuldhaften Handeins einen Strafverzicht erzwingen oder ein Verfahrenshindernis setzen, müssen in ihren Voraussetzungen exzeptionell gefaßt werden und sind wegen ihres Ausnahmecharakters einer extensiven Auslegung nicht zugänglich. Gleichwohl wäre es unvertretbar, den Sinn solcher Regelungen auf ein Allesoder-Nichts-Prinzip zu reduzieren: sofern ein Tatgeschehen ihrem Grundgedanken entspricht, ohne die Voraussetzungen der Strafverschonung vollständig zu erfüllen, ist eine Strafmilderung, wenn nicht gar eine Bagatellisierung geboten. Die Befürchtung einer "Knochenerweichung" der strafrechtlichen Verbots materie durch uferlose, unkonturierbare Ausweitung der Strafverschonungsvoraussetzungen ist unbegründet. Ein Strafverschonungsgrund gibt bei annäherungsweiser Erfüllung seiner Merkmale immer nur dann zu einer Privilegierung im Zumessungszusammenhang Anlaß, wenn sein Grundgedanke sich in das starre Prinzip eines Alles-oder-Nichts nicht sachgemäß einbinden läßt, die exzeptionelle Fassung der Vorschrift also die durchgängige Verwirklichung ihres Grundgedankens geradezu vereiteW 8 • Die Verjährungsvorschriften etwa zielen um der Rechtssicherheit willen auf eine eindeutig fixierte Regelung, die auch bei minimaler Unterschreitung der Verjährungsgrenze keine Privilegierung zuläßt20 • 26 Der subjektive Maßstab der Voraussehbarkeit ist der gleiche wie bei der Erfüllbarkeit der Sorgfaltspflicht, vgl. Jescheck, Strafrecht AT, § 57 UI. 1. 27 Jescheck, Strafrecht AT, § 57 IV. 1. 28 So Maiwald, Das Absehen, S. 684 für § 60 StGB; dazu sogleich ausführlich. 29 Bruns, Leitfaden, S. 153 meint freilich ohne nähere Begründung, die bes-
6.1 Bagatellisierungs- und Strafzumessungsgründe
261
Anders dagegen das Beschleunigungsgebot des Art. 6 Abs. 1 MRK. Während die derzeit noch herrschende Meinung aus seiner Verletzung immer nur einen Strafmilderungsgrund ableitet30, nimmt eine im Vordringen befindliche Ansicht bei starker Verletzung eine Verwirkung des Strafanspruchs und demgemäß ein Verfahrenshindernis anS1 • Ob man so weit gehen kann, der eklatanten Verletzung des Beschleunigungsgebots verfahrensbeendigende Wirkung beizumessen, kann hier dahinstehen; sicher ist jedenfalls, daß die Zubilligung eines einfachen Strafmilderungsgrundes oft nicht ausreicht, um den besonderen Belastungen des Beschuldigten angemessen Rechnung zu tragen32 • Weil der Zeit ablauf von der Tat bis zur Aburteilung das Strafbedürfnis abschwächt, kann der längere Zeitablauf das Schuld ausgleichs- und Präventionsverlangen auf ein nicht mehr strafbedürftiges Minimum zusammenschrumpfen lassen33 • Die Einsicht, wonach die Zeit auch die Wunden heilt, die eine Straftat geschlagen hat, wird nicht dadurch entkräftet, daß sich nicht abstrakt angeben läßt, wann unter dem Gesichtspunkt des Zeit ablaufs sich eine Wundbehandlung durch Strafe erübrigt. Auch der Strafverschonungsgrund des § 60 StGB eignet sich als Privilegierungsmaßstab im Zumessungszusammenhang. Unter dem Gesichtspunkt der Eigenschädigung des Täters durch die Tat kann nach jener Bestimmung von Strafe abgesehen werden, wenn diese "offensichtlich verfehlt" wäre. Dadurch wird der exzeptionelle Charakter der Vorschrift hervorgehoben und ihr Anwendungsbereich auf Extremfälle begrenzt, in denen alles andere als der Ruf nach dem Strafrichter angebracht erscheint und sich der Eindruck aufdrängt, hier müsse wenn überhaupt nicht strafend, sondern helfend eingegriffen werden 34 • über jenen von § 60 StGB allein umfaßten Extrembereich hinaus verlangt der in der Vorschrift angesprochene Grundgedanke der Privilegierungswürdigkeit des Täters, der durch seine Tat einen Eigenschaden erlitten hat, als allgemeiner Zumessungsgesichtspunkt BeachtungBS. Die Eigenschädigung des Täters mindert im Zumessungszusammenhang die Strafbedürftigkeit oder wiegt sie völlig auf, wenn der Täter durch die "Gegentat" der Eigenschädigung schon sein Teil abbekommen hat und seren Gründe sprächen dafür, die herannahende Verjährung als Strafmilderungsgrund zu akzeptieren. 30 Kleinknecht, Strafprozeßordnung, Rdnr. 7 zu Art. 6 MRK m. w. N. 31 So namentlich Bruns, Leitfaden, S. 154. 32 Düwel, § 153 a, S. 483 meint demgemäß, insbesondere bei Wirtschaftsstraftaten werde die Geringfügigkeit des Verschuldens oft aus dem weit zurückliegenden Tatzeitpunkt hergeleitet. 33 Vgl. Bruns, Leitfaden, S. 154. U Müller-Dietz, Absehen, S. 314. 35 Maiwald, Das Absehen, S. 684.
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
angesichts dessen genug gestraft erscheint. Obschon die Möglichkeit des Absehens von Strafe sich nicht auf Bagatelltaten oder besonders leichte Fälle im Sinne früherer Entwürfe beschränktSe, gibt der darin zum Ausdruck kommende Grundgedanke einen Richtwert für die Bestimmung von Bagatelldelikten im Zumessungszusammenhang ab. Die angeführten - und in der Folge zu ergänzenden - Beispiele kranken sämtlich daran, daß sie um der Anschaulichkeit der Darstellung willen je einen zumessungsrelevanten Gesichtspunkt (außergewöhnliche Erschwerung normgemäßen Verhaltens, Verfahrensdauer, Eigenschädigung des Täters) isoliert betrachten und stillschweigend voraussetzen, daß gerade diesem Gesichtspunkt für die Beurteilung der Bagatellisierungswürdigkeit des Einzelfalles entscheidende Bedeutung zukommt. Wie in der Folge deutlich werden wird, ist bei der Bagatellisierungsentscheidung im Zumessungszusammenhang wie bei der Zumessungs entscheidung überhaupt prinzipiell eine Gesamtabwägung aller im Einzelfall zusammentreffenden Gesichtspunkte geboten; die Bagatellisierungsrelevanz eines Gesichtspunkts ergibt sich erst aus der Feststellung, daß den übrigen Gesichtspunkten des Falles keine oder eine bloß untergeordnete Bedeutung für die Entscheidungsfindung zukommt. Des ungeachtet verdeutlichen die Beispiele das Prinzip, dem die Begründung von Bagatelldelikten im Zumessungszusammenhang folgt. Bagatellisierungsgründe besitzen keinen strukturell eigenständigen Gehalt, sie leiten sich vielmehr aus der Steigerung der begriffsnotwendig graduierbaren Strafmilderungsgründe und der Abschwächung jener graduierbaren Umstände her, die den Schuldvorwurf tilgen oder jenseits von Unrecht und Strafbegründungsschuld eine Strafverschonung bewirken. Der Bestimmungsvorgang von Bagatelldelikten wird dadurch zugleich erleichtert wie erschwert: erleichtert, insofern die Bestimmung jeweils auf tradierte Bewertungsgesichtspunkte des Strafausschlusses und der Strafmilderung zurückgreifen kann und muß; erschwert, insofern eine generelle eindeutige Konturierung von Bagatellisierungsgründen unmöglich ist. Damit deutet sich eine befriedigende Antwort auch auf die zweite der aufgeworfenen Fragen an. In der Tat werden bei der konkreten Rechtsfolgenbemessung die gleichen zumessungserheblichen Umstände des Einzelfalles wiederaufgegriffen und erneut in die Waagschale geworfen, die bereits im vorgängigen Abschnitt des Zumessungsverfahrens bei der Strafbedürftigkeitsprüfung maßgeblich waren. Mildernd zu berücksichtigende Tatsachen, die bei der Strafbedürftigkeitsprüfung in 38
Müller-Dietz, Absehen, S.308.
6.1 Bagatellisierungs- und Strafzumessungsgründe
263
Rechnung gestellt wurden, sind damit für die anschließende Rechtsfolgenbemessung nicht "verbraucht", ist doch die Bewertungsrichtung eine völlig andere: die Strafbedürftigkeitsprüfung dient der Grenzwertbestimmung mildernder Umstände danach, ob sie als Strafmilderungsgründe im eigentlichen Sinne die Strafhöhe ermäßigen oder als Bagatellisierungsgründe die Strafbedürftigkeit entfallen lassen; die nuancierende Inhaltsbestimmung bleibt dagegen der konkreten Rechtsfolgenbemessung vorbehalten. Während bei der Strafbedürftigkeitsprüfung darüber zu befinden ist, welche Reaktionsart - Kriminalstrafe oder bagatellarische Rechtsfolge - der individuellen Gestaltung des Einzelfalles angemessen ist, geht es bei der Rechtsfolgenbemessung um die nach den gleichen individuellen Umständen zu treffende Entscheidung, welche konkrete Reaktion innerhalb der zuvor bestimmten Reaktionsart sich als sachgerecht erweist. Nur ein fehlgeleitetes begriffsrealistisches Verständnis, das Zumessungstatsachen losgelöst von deren Funktion gleichsam wie Bausteine für ein Bauwerk deutet, läßt hier die Vermutung einer "Sperrwirkung" aufkommen, insofern ein und derselbe Baustein nicht an zwei verschiedenen Stellen des Gebäudes eingesetzt werden kann37 • Die Unbedenklichkeit und Erforderlichkeit der mehrfachen Berücksichtigung mildernd in Ansatz zu bringender Umstände des Einzelfalls bei der Strafbedürftigkeitsprüfung und der konkreten Rechtsfolgenbemessung leuchtet unmittelbar ein, wenn man sich vergegenwärtigt, daß aus der individuellen Gestaltung des Einzelfalls in unterschiedlichen Abschnitten des Zumessungsverfahrens ohne weiteres doppelt mildernde Konsequenzen gezogen werden dürfen. So können etwa dieselben zumessungserheblichen Tatsachen, die die Strafrahmenbildung beeinflussen und eine Strafrahmenverschiebung bewirken, bei der Einordnung des Falles in die Wertskala des danach gebildeten Sonderstrafrahmens erneut Berücksichtigung finden 38 • Für einzelfallbezogene Strafzumessungstatsachen gibt es generell kein Doppelverwertungsverbot; diese dürfen daher an verschiedenen Stellen der Zu diesem Bild Noll, Tatbestand, S.3. Umstände, die nach § 21 i. V. m. § 49 Abs. 1 StGB schon zur Begründung einer vom Gesetz zugelassenen Strafmilderung wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit herangezogen wurden, dürfen deshalb bei der Zumessung der Strafe aus dem so gebildeten Sonderstrafrahmen nochmals berücksichtigt werden. Unzulässig wäre nur, nach Rückgriff auf den Sonderstrafrahmen die verminderte Zurechnungsfähigkeit als solche nochmals als Strafmilderungsgrund zu verwerten, denn dieses Merkmal trifft unterschiedslos auf alle derartigen Fälle zu und ist daher bereits durch die Wahl des Sonderstrafrahmens gebührend berücksichtigt; unbedenklich ist dagegen die mehrfache Berücksichtigung von Tatsachen, die sowohl die Annahme verminderter Zurechnungsfähigkeit stützen als auch in die Gesamtbeurteilung des Einzelfalls eingehen. Vgl. dazu BGHSt 26,311; BGH MDR 1980, S. 453; Bruns, Leitfaden, S. 114 f. m. w. N. 37
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
strafrechtlichen Rechtsfolgenbeurteilung mehrfach in die Waagschale der Entscheidung geworfen werden".
6.2 Das Verbot einer "doppelten Buchführung" in der Geringfügigkeitsbilanz Von der - als unbedenklich und erforderlich erachteten - mehrfachen Berücksichtigung milde'rnd in Ansatz zu bringender Umstände des Einzelfalles streng zu unterscheiden ist die erneute Berücksichtigung von Umständen, die bereits bei der Strafbedürftigkeitsprüfung nach Unrechtsgesichtspunkten herangezogen worden sind. Hier gilt in der Tat das Verbot einer "doppelten Buchführung" in der Geringfügigkeitsbilanz. Die Geringfügigkeitsbeurteilung nach Zumessungsgesichtspunkten ist von der Geringfügigkeitsbeurteilung nach Unrechtsgesichtspunkten artverschieden, weil sich die Bestimmungsgrundlagen und -maßstäbe aus je verschiedenen Beurteilungsebenen ableiten; während die Geringfügigkeitsbeurteilung nach Unrechtsgesichtspunkten an die vom Gesetz begrifflich-abstrakt definierte Verbotsmaterie anknüpft und diese nach der in den Unrechtstatbeständen gattungsmäßig vorausgesetzten Unrechtserheblichkeit eingrenzt, geht die Geringfügigkeitsbeurteilung nach Zumessungsgesichtspunkten von den konkreten als strafbar gedeuteten Lebensvorgängen aus und läßt sich von dem Interesse einer einzelfallgerechten Reaktion leiten. Insofern das Bagatellprinzip auf zwei unterschiedlichen Abstraktionsebenen realisiert wird - der generellen der Unrechtsbetrachtung und der speziellen der Rechtsfolgenbemessung im einzelnen Fall - erlaubt die Bagatellisierungsmöglichkeit nach Zumessungsgesichtspunkten keine nachträgliche Korrektur der womöglich als zu eng empfundenen Bagatellisierungsmöglichkeit nach Unrechtsgesichtspunkten, sondern greift jene individualisierenden Aspekte auf, die bei der gattungsbezogenen Unrechtsbetrachtung außer Ansatz bleiben müssen; Umstände, die bereits bei der Prüfung der Geringfügigkeit des Unrechts Beachtung zu finden haben, sind dadurch verbraucht und können bei der Geringfügigkeitsprüfung nach Zumessungsgesichtspunkten nicht erneut ins Spiel gebracht wer38 Das Doppelverwertungsverbot von Tatbestandsmerkmalen nach § 46 Abs. 3 StGB bezieht sich nur auf Erwägungen, die den Gesetzgeber bei der gattungsmäßigen Normierung eines Deliktstatbestandes geleitet haben, nicht aber auf die je besonderen Modalitäten der Tatbestandsverwirklichung im Einzelfall. Die Sonderregelung des § 50 StGB verbietet lediglich die doppelte Strafrahmenermäßigung und bei der konkreten Rechtsfolgenbemessung die erneute Berücksichtigung des strafrahmenverschiebenden Umstandes als solchem. Vgl. hierzu grundlegend Bruns, Leitfaden, S. 109 ff.; ders., Strafzumessungsrecht, S. 375 ff.; Zipf, Die Strafmaß revision, S. 96 ff.
6.2 Verbot "doppelter Buchführung
265
den. Wer etwa annimmt, der Diebstahl einer Sache im Wert von DM 100,- verkörpere kein Bagatellunrecht (mehr), kann diese Annahme nicht dadurch in Frage stellen, daß er in Anbetracht des wenn nicht geringen, so doch auch nicht sehr erheblichen Werts der gestohlenen Sache die nach Unrechtsgesichtspunkten bejahte Strafbedürftigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten erneut reflektiert und hier womöglich verneint. Handelt es sich bei der Diebesbeute hingegen - dem Täter erkennbar - um einen für das Opfer völlig unbrauchbaren Gegenstand, den dieses eigentlich schon längst hätte wegwerfen wollen, so verdient dieser Umstand bei der Geringfügigkeitsprüfung nach Zumessungsgesichtspunkten Beachtung, weil für die Geringfügigkeitsbestimmung des Unrechts nur der generelle Verkehrswert, nicht aber der spezielle Gebrauchs- bzw. Affektionswert maßgeblich ist4G • Auf den ersten Blick scheint diese Einsicht nur das allgemeine Verbot der Doppelverwertung von Tatbestandsmerkmalen (§ 46 Abs. 3 StGB) zu rezipieren. Dem ist indes keineswegs so. Das Doppelverwertungsverbot von Tatbestandsmerkmalen besagt, daß die Gründe, die vom Gesetzgeber bei der Normierung des Tatbestandes herangezogen worden sind, bei der Normanwendung im einzelnen Falle nicht noch einmal als Strafzumessungsgründe berücksichtigt werden dürfen41 ; weil derartige Umstände unterschiedslos auf alle vom Tatbestand umfaßten Erscheinungsformen der Straftat zutreffen, kennzeichnen sie nicht die Besonderheit der einzelnen Fälle und dürfen folglich bei der einzelfallbezogenen Strafzumessung nicht in Rechnung gestellt werden. Dem Richter ist hingegen nicht verwehrt, die besondere Art, in der Tatbestandsmerkmale im Einzelfall verwirklicht worden sind, bei der Strafzumessung erneut zu berücksichtigen; eine unzulässige Doppelverwertung liegt also nicht vor, wenn Modalitäten, das heißt Steigerungen oder Abschwächungen in der graduellen Verwirklichung des Tatbestandes als Strafzumessungsgründe benutzt werden42 • Das Verbot einer doppelten Buchführung in der Geringfügigkeitsbilanz ist demnach umfassender und weiterreichender als das allgemeine Verbot der Doppelverwertung von Tatbestandsmerkmalen: es erstreckt sich im Gegensatz zu diesem auch auf die quantitativen Abstufungen 40 Vgl. oben Kap. 5.21, S. 218 ff. n Das Doppelverwertungsverbot bezieht sich daher weder nur auf reale Gründe bzw. Umstände im Sinne von Strafzumessungstatsachen noch bloß auf die Gründe, die in den Merkmalen des Tatbestandes Ausdruck gefunden haben, sondern auf sämtliche Erwägungen, die den Gesetzgeber bei der Normierung des Tatbestandes geleitet haben, also namentlich solche, die der Strafvorschrift unausgesprochen zugrundeliegen, vgl. Bruns, Leitfaden, S. 109 f. 42 Bruns, Leitfaden, S. 112.
266
6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
innerhalb der Unrechtsschwere. Wird in unserem Beispiel die Geringfügigkeit des Unrechts verneint, weil ein Diebesgut im Wert von DM 100,- nicht (mehr) als geringwertig anzusehen ist, so ist der doch auch nicht sehr erhebliche Wert der Sache als Strafmilderungsgrund im eigentlichen Sinne heranzuziehen und kann die Verhängung einer relativ niedrigen Geldstrafe rechtfertigen; ein Bagatellisierungsgrund im Zumessungszusammenhang läßt sich daraus hingegen nicht herleiten. Die Feststellung der Strafbedürftigkeit in Anbetracht des Verkehrswerts ist schon bei der Unrechtsprüfung verbindlich getroffen; die Verneinung der Strafbedürftigkeit im Zumessungszusammenhang kann sich nur auf Umstände stützen, die bei der Bagatellbestimmung im Unrechtszusammenhang keine Rolle spielen. Damit ist ein weiterer Schritt hin zu einer Rationalisierung des Geringfügigkeitsurteils im Zumessungszusammenhang getan: Bagatellisierungsgründe im Funktionszusammenhang der Strafzumessung ergeben sich aus der außergewöhnlichen Steigerung mildernder Umstände, die in ihren regelmäßigen Abstufungen zu einer Einordnung des Falles in die unteren Rangstellen des Strafrahmens Anlaß geben; nicht alle Strafmilderungsgründe können jedoch zu Bagatellisierungsgründen werden, sondern nur solche, die sich nicht auf die Abstufungen der Unrechtsschwere beziehen.
6.3 Bewertungsgesichtspunkte der Bagatellbestimmung Aus der strukturellen Identität von Bagatellisierungsgründen und Strafzumessungsgründen folgt, daß die Bagatellbestimmung sich nach den gleichen Bewertungsgesichtspunkten richtet, die als Strafzwecke die finalen Zumessungsgründe der Strafmaßbestimmung abgeben. Dies besagt freilich nicht, daß an dieser Stelle einfach die Banknoten der Strafzwecke in das Kleingeld der Zumessungszwecke der Bagatellbestimmung eingewechselt werden könnten43 ; wie zu zeigen sein wird, ergeben sich hier Besonderheiten, die eine pauschale Bezugnahme verbieten. 6.31 Der Verschuldensmaßstab
Die Strafzumessungslehre geht bekanntlich von einer Dreiteilung der Hauptstrafzwecke in sühnenden Schuldausgleich, Spezial- und Generalprävention aus 44 • Nach § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB ist die Schuld des Täters 43 Das Bild vom Einwechseln der Strafzwecke in das Kleingeld der Strafzumessung geht auf Lange zurück. 44 Vgl. Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 196 f.
6.3 Bewertungsgesichtspunkte
267
Grundlage für die Zumessung der Strafe. Diese Grundlagenformel löst die Strafzweckantinomie insoweit auf, als sie dem Schuld-Sühneprinzip gegenüber den übrigen Strafzwecken den Vorrang einräumt. Das bedeutet vor allem, daß der Gesichtspunkt des gerechten Schuldausgleichs auf die übrigen Strafzwecke limitierend wirkt: nach der in ständiger Rechtsprechung vertretenen und auch von der Rechtslehre favorisierten 45 Spielraumtheorie ist in einer Zwischenstufe des Strafzumessungsvorganges zunächst innerhalb des Strafrahmens der engere Rahmen der noch schuld angemessenen Strafen zu ermitteln und anschließend innerhalb des Schuld rahmens die Endstrafhöhe nach Präventionsgesichtspunkten zu bestimmen46 • Die Präventionszwecke dürfen nicht dazu führen, die schuldangemessene Strafe zu überschreiten; als nachrangige Strafzwecke können sie ein übermaß in diesem Sinne niemals rechtfertigen 47 • Auch die Zulässigkeit einer Unterschreitung des Schuldrahmens aus Präventionserwägungen wird von Rechtsprechung und herrschender Lehre mit der Begründung abgelehnt, der Schuldausgleich bilde die Leitidee der Strafzumessung, von deren Zielsetzung sich die Strafmaßbestimmung nach unten wie nach oben hin nicht lösen könne48 • Einer Unterschreitung des Schuldrahmens stehen freilich weniger schwerwiegende Bedenken als dessen überschreitung entgegen; denn sie kann im Hinblick auf "die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind" (§ 46 Abs.l Satz 2 StGB) geboten sein und verwirklicht werden, ohne die Schutzfunktion des Schuldausgleichszwecks zu beeinträchtigen. Da schuldaus45 Vgl. die Grundsatzentscheidungen BGHSt 7, 28; 20, 267 sowie die übersicht zum Meinungsstand bei Bruns, Leitfaden, S. 85 ff. Die Stellenwerttheorie, die bei der Strafmaßbestimmung lediglich Schuldgesichtspunkte berücksichtigt wissen will, erscheint sowohl mit der gesetzlichen Regelung als auch mit der kriminalpolitischen Konzeption des heutigen Sanktionensystems unvereinbar, vgl. Müller-Dietz, Grundfragen, S. 28. 48 Dies gilt unabhängig davon, ob man innerhalb der Rahmenschuldstrafe einen echten objektiven Entscheidungsspielraum oder nur eine subjektive Ungewißheit über die richtige Bestimmung der einen schuld angemessenen Strafe annimmt. Die Punktstrafenidee läßt sich nach § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB nur so interpretieren, daß allenfalls eine geringfügige überschreitung der einen schuldangemessenen Strafe nach Präventionsgesichtspunkten zulässig ist; da auch hier die Schuld Grundlage des Zumessungsakts bleibt, stellt die Punktstrafenidee heute eine bloße Variation der Spielraumtheorie dar. Vgl. hierzu Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 270 f.; ders., Leitfaden, S. 87 f.; Roxin, Strafzumessung, S. 473. 47 Einhellige Meinung, vgl. etwa BGHSt 20, 267. 48 So BGHSt 24, 134; BGH NJW 1978, S.174. Nachweise zum Meinungsstand in der Rechtslehre bei Roxin, Strafzumessung, S. 474 f. Anders die Konzeption des § 59 Abs. 2 AE-StGB, die davon ausgeht, daß zum Rechtsgüterschutz auch eine unter dem Schuldmaß liegende Strafe ausreichend sein könne.
268
6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
gleichende Gerechtigkeit nicht um ihrer selbst willen zu üben ist40 , hat sie im Hinblick auf die spezialpräventive Aufgabe des Strafrechts zurückzutreten, wenn die Resozialisierung des Täters durch eine der Ausgleichsfunktion der Strafe voll entsprechende Sanktion gefährdet wäre; soweit die Schuldstrafe im konkreten Fall eine entsozialisierende Wirkung haben würde, nimmt daher eine im Vordringen befindliche Auffassung im Schrifttum die Zulässigkeit der Unterschreitung des Schuldrahmens aus spezialpräventiven Gründen an50 • Für unseren Problemzusammenhang spitzt sich der Meinungsstreit um die Zulässigkeit der Unterschreitung des Schuldrahmens dahin zu, ob die Geringfügigkeit der Schuld notwendige Bedingung für die Bestimmung der Bagatellisierungswürdigkeit im Zumessungszusammenhang ist, oder ob trotz nicht unerheblichen Verschuldens eine Bagatellisierung allein schon auf Grund spezialpräventiver Bewertungsgesichtspunkte in Betracht kommt. Bei der Beantwortung dieser Frage wird man sich nicht von dem unergiebigen Wortlaut der Grundlagenformel des § 46 Abs.l Satz 1 StGB, sondern von deren straftheoretischem Hintergrund leiten lassen müssen. Straftheoretisch fällt entscheidend ins Gewicht, daß sich das unumstrittene Verbot einer überschreitung des Schuldrahmens aus Präventionsgesichtspunkten nur rechtfertigen läßt, wenn der Schuldausgleich als ein inhaltlich maßgebendes Prinzip strafrechtlicher Haftung begriffen wird. Die Schuld bildet nicht nur die Basis, den Ausgangspunkt für die Strafzumessung, sondern auch ihren Maßstab; sie kann nur deshalb die Strafhöhe nach oben hin begrenzen, weil sie anzeigt, was der Täter durch seine Tat verdient hat. Doch was er verdient hat, das hat er nicht nur höchstens, sondern auch mindestens verdient51 • Freilich gibt es Ausnahmefälle, in denen das Gesetz den grundsätzlich gebotenen Schuldausgleich hinter präventive Belange zurücktreten läßt. So dürfen nach § 47 StGB Freiheitsstrafen unter sechs Monaten ohne Rücksicht auf die Schuld des Täters nur dann verhängt werden, wenn besondere Umstände dies zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerläßlich machen. Auch darf nach § 56 StGB die spezialpräventiv indizierte Strafaussetzung zur Bewährung bei Freiheitsstrafen unter sechs Monaten überDarauf wird später zurückzukommen sein. Vgl. Jescheck, Strafrecht AT, § 79 III. 3.; Blei, Strafrecht I, § 112 UI.; Lackner, Strafgesetzbuch, Anm. 3. b) zu § 46; ders., über neue Entwicklungen, S. 23; Roxin, Strafzumessung, S.475, 477. So auch § 59 Abs.2 AE-StGB. 51 Bockelmann, Strafrecht AT, § 29 II. 1. b) bb). Dies fOlgt bereits aus den vom Bundesverfassungsgericht aus dem Grundgesetz abgeleiteten Thesen, wonach die Strafe nicht nur überhaupt Schuld voraussetzt (BVerfGE 9, 169), sondern in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Täters stehen muß (BVerfGE 6, 439; 20, 331; 25, 286). Vgl. auch Bruns, Leitfaden, S.76: "Die Strafgröße muß auch in der unteren Dimension durch den Zusammenhang mit der Schuld des Täters legitimiert sein." 40
so
6.3 Bewertungsgesichtspunkte
269
haupt nicht und bei Strafen zwischen sechs Monaten und einem Jahr nur dann versagt werden, wenn die Verteidigung der Rechtsordnung eine Vollstreckung gebietet. Die Aussetzung des Strafrestes nach § 57 StGB und die Verwarnung mit Strafvorbehalt nach § 59 StGB richten sich ausschließlich nach spezialpräventiven Bedürfnissen; der Gesichtspunkt des Schuldausgleichs hat bei solchen Entscheidungen der Strafzumessung im weiteren Sinne keine Rolle zu spielen52• Aus diesen Vorschriften den Grundsatz zu abstrahieren, das Gesetz gestatte generell die Unterschreitung der schuldangemessenen Rechtsfolge nach präventiven Bedürfnissen, wäre jedoch verfehlt; mit gleichem Recht läßt sich die gegenteilige These aufstellen, der Tatrichter dürfe auf den Schuld ausgleich nur insoweit verzichten, als das Gesetz ihm dies ausdrücklich gestattet53• Streng genommen handelt es sich bei den erwähnten Strafzumessungsentscheidungen im weiteren Sinne gar nicht um Unterschreitungen der schuldangemessenen Rechtsfolge 54, sondern um FoZgeentscheidungen, die sich an die unter Beachtung des Schuldausgleichsgebots getroffenen echten Strafzumessungsentscheidungen anschließen. Bei solchen Folgeeentscheidungen gilt das Schuldausgleichsgebot generell nicht; hier sind allein Präventionszwecke bestimmend55• Dem Schuldausgleichsgebot ist bereits im Vorfeld der präventiv ausgerichteten Folgeentscheidungen vollständig Rechnung getragen; denn die Folgeentscheidungen nach §§ 47 ff. StGB haben sämtlich bestimmte Strafgrößen zur Voraussetzung, die nach Maßgabe des § 46 StGB - und das heißt: vorrangig nach Schuldausgleichsgesichtspunkten - zu bemessen sind58• Der im Einzelfall entsozialisierenden Wirkung einer schuldangemessenen Strafe kann regelmäßig im Rahmen der Folgeentscheidungen der §§ 47 ff. StGB hinlänglich begegnet werden, etwa indem von der Freiheitsstrafe auf die Geldstrafe ausgewichen, Ratenzahlungen zugebilligt, Strafaussetzung zur Bewährung gewährt oder gar eine Verwarnung mit Strafvorbehalt ausgesprochen wird. Dennoch läßt sich die Gefahr einer Desozialisierung des Täters durch schuldangemessene Strafen im Wege der Folgeentscheidungen nicht vollständig bannen, etwa wenn die hohe Geldstrafe trotz Ratenzahlungsbewilligung zu einer Existenzgefährdung führte oder die nicht mehr aussetzungsfähige lange Freiheitsstrafe einer Wiedereingliederung Vgl. Bruns, Leitfaden, s. 91 ff.; Roxin, Prävention, S. 192 f. So Müller-Dietz, Grundfragen, S. 29. 54 So aber Roxin, Strafzumessung, S.476. 55 Insofern ist die Stellenwerttheorie einleuchtend, vgl. Bruns, Leitfaden, S.91. 58 Bruns, Leitfaden, S. 91. 51 53
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
des Täters in die Gesellschaft im Wege stünde57• Hier - und hier allein - kommt eine Unterschreitung des Schuld rahmens aus der Erwägung in Betracht, daß der Schuldausgleich nicht um seiner selbst willen geboten, sondern nur insoweit gerechtfertigt ist, als er zugleich das notwendige Mittel zur Erfüllung präventiver Zwecke des Strafrechts darstellt 58• Indes weisen bereits die in Frage kommenden Fallgestaltungen darauf hin, daß die Unterschreitung des Schuld rahmens lediglich ein Zurückbleiben hinter der schuldangemessenen Strafe, nicht hingegen einen völligen Strafverzicht stützen kann 59 • Die Konzeption einer "Schuldstrafe mit spezialpräventivem Vorbehalt" 80 rechtfertigt eine Herabsetzung des Strafmaßes zur Vermeidung spezialpräventiv schädlicher Folgen, keinesfalls aber einen Strafverzicht allein aus spezialpräventiven Erwägungen. Spezialpräventive Gesichtspunkte können in besonders gelagerten Fällen ausnahmsweise Anlaß geben, den grundsätzlich gebotenen Schuldausgleich der Höhe nach zu reduzieren; das Schuldausgleichsgebot dem Grunde nach außer Kraft setzen können sie nicht. Zwischen herrschender Meinung und der abweichenden Theorie der Schuldstrafe mit spezialpräventivem Vorbehalt läßt sich insoweit Übereinkunft erzielen, als das Schuldausgleichsgebot jedenfalls bei der Prüfung der Notwendigkeit des Strafausspruchs nicht vernachlässigt werden kann; die Entscheidung über die Strafbedürftigkeit bzw. fehlende Strafbedürftigkeit wegen Geringfügigkeit muß in Ansehung des Ausmaßes individuellen Verschuldens getroffen werdens1 . Demnach erweist sich der Schuldausgleich als notwendiger Bewertungsgesichtspunkt der Bagatellbestimmung. Mögen spezialpräventive 57 Roxin, Strafzumessung, S.478; ähnliche Fallgestaltungen erwähnt Blei, Strafrecht I, § 112 II!. 58 Diese Erwägung stellt auch Bruns, Leitfaden, S. 72 an, obgleich er im Ergebnis ein Unterschreiten des Schuldrahmens für nicht zulässig erachtet; eine ähnliche Formulierung findet sich in BGHSt 24, 42. 59 Vgl. Jescheck, Strafrecht AT, § 79 II!. 3., der betont, daß die Ausgleichsfunktion der Strafe auch bei Unterschreitung des Schuldrahmens nicht unberücksichtigt bleibe, sondern ihren Ausdruck im Strafausspruch selbst finde. 00 So Roxin, Strafzumessung, S.475; ähnlich Blei, Strafrecht I, § 112IH.; Bockelmann, Strafrecht AT, § 2911.1. b) bb); Jescheck, Strafrecht AT, § 79 H1. 3. 81 Darin zeigt sich die Gemeinsamkeit der Bagatellisierung mit dem Absehen von Strafe gemäß § 60 StGB. Obgleich die Möglichkeit des Absehens von Strafe sich weder auf Bagatelltaten beschränkt noch sich überhaupt an das Bagatellprinzip anlehnt, sondern Ausprägung des Humanisierungsgedankens im Strafrecht ist, bewirkt sie wie die Bagatellisierung einen Strafverzicht, der sich unter dem Gesichtspunkt des Schuldausgleichs als angeme!sen erweisen muß, vgl. BGH MDR 1973, S. 900; Müller-Dietz, Absehen, S. 315. Daher ist das Absehen von Strafe nach § 60 StGB im Gegensatz zur Verwarnung mit Strafvorbehalt nach § 59 StGB keine Folgeentscheidung, sondern eine echte Strafzumessungsentscheidung, vgl. Bruns, Leitfaden, S. 95. Zu § 60 StGB neuerdings auch Hassemer, Das Absehen, S. 65 ff.
6.3 Bewertungsgesichtspunkte
271
Belange noch so sehr eine Bagatellisierung nahelegen: ein strafbares Verhalten ist nur dann bagatellisierungswürdig, wenn sich die Schuld des Täters als geringfügig darstellt. Die Geringfügigkeit des Verschuldens ist eine irreduzible Komponente von Bagatelldelikten im Funktionszusammenhang der Strafzumessung, über die aus Präventionsgesichtspunkten nicht hinweggegangen werden kann. Der Bewertungsgesichtspunkt des Schuldausgleichs ist sowohl für die Feststellung der grundsätzlichen Bagatellisierungswürdigkeit als auch für die Wahl der konkreten bagatellarischen Rechtsfolgeanordnung maßgeblich. Allein bei den Folgeentscheidungen der Strafzumessung im weiteren Sinne nach §§ 47 ff. StGB läßt sich die völlige Verdrängung des Schuldausgleichsaspekts begründen62 • Bei der Bemessung der bagatellarischen Rechtsfolge handelt es sich jedoch nicht um eine Folgeentscheidung der Strafzumessung im weiteren Sinne, sondern wie bei der Strafmaßbestimmung um einen Akt primärer strafrechtlicher Rechtsfolgenzumessung, für den das Schuldausgleichsgebot uneingeschränkt Gültigkeit beansprucht63 • Die graduellen Abstufungen der Schuldschwere, nach denen sich die Bagatellisierungswürdigkeit bemißt, geben daher auch den Maßstab für die bagatellarische Rechtsfolgenbestimmung ab: ein äußerst leichtes Verschulden gibt zu einer unbedingten, folgenlosen Bagatellisierung Anlaß; ein geringfügiges, aber nicht völlig belangloses Verschulden rechtfertigt die Wahl einer sanktionierenden bagatellarischen Rechtsfolge. Wegen der möglichen Bandbreite des Schuldrahmens ist freilich denkbar, daß sich im Einzelfall sowohl eine unbedingte wie auch eine sanktionierende Bagatellisierung als gerade schon bzw. soeben noch schuldangemessen erweisen; dann - aber auch nur dann - richtet sich die Konkretisierung der bagatellarischen Rechtsfolgeanordnung im Ergebnis allein nach Präventionsgesich tspunkten 64. Damit stellt sich mit aller Dringlichkeit die bislang ausgeklammerte Frage, wonach sich die Geringfügigkeit des Verschuldens bemißt. Diese Frage läßt sich im Hinblick auf den erarbeiteten Gegensatz zwischen Strafbegründungsschuld und Strafzumessungsschuld65 beantworten. Wir Bruns, Leitfaden, S.91. Für eine Unterschreitung des Schuldrahmens nach spezialpräventiven Gesichtspunkten besteht hier kein Bedürfnis, beinhalten doch die sanktionierenden bagatellarischen Rechtsfolgeanordnungen im Gegensatz zur Kriminalstrafe keinen sozialen Ächtungsanspruch, aus dem sich die Gefahr einer Desozialisierung des Täters ergeben könnte; unzumutbaren finanziellen Belastungen kann im Rahmen der schuldangemessenen Zahlungsverpflichtung durch Fristverlängerung oder Ratenzahlungsgewähr hinlänglich begegnet werden. 64 Dazu später ausführlich. 65 Vgl. oben Kap. 4.1, S. 194 ff. 62
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
haben verdeutlicht, daß bei der Haftungsbegründung durch Schuldzurechnung ein unbedingter Schuldvorwurf ethisch-normativ zugeschrieben, bei der Schuldbemessung im Zumessungszusammenhang dagegen das Ausmaß individueller Schuld nach Schweregesichtspunkten quantifiziert wird 86 • Dies bedarf nunmehr einer genaueren Analyse. Bei der Strafbegründungsschuld geht es um die Verantwortungszuweisung auf der Basis eines normativ gesetzten, nach kriminalpolitischen Maßstäben definierten Andershandelnkönnens 87 • Der Schuldvorwurf besteht nicht in einem spekulativen Urteil über das tatsächliche Andershandelnkönnen des Täters in der konkreten Situation, sondern in dem Urteil über das Zurückbleiben des Täters hinter strafrechtlich gestützten Verhaltensstandards trotz normativer Ansprechbarkeit; der Schuldspruch begründet keinen gegen den Täter zu erhebenden individuellen Tadel, sondern rechnet dem Täter soziale Verantwortung normativ zu, um dadurch Verantwortungsappelle an die Allgemeinheit zu entsenden88 • Die Strafbegründungsschuld ist damit nicht eigentlich täterbezogen, sondern gesellschafts bezogen: der Täter ist nur Objekt, nicht Adressat der Schuldzurechnung8°, seine persönliche Verantwortlichkeit ist bloß ein Reflex der sozialen Verantwortungszuweisung im generalpräventiven Interesse der Normbewährung. Wohlgemerkt geht es bei dieser gesellschaftsbezogenen Deutung der Strafbegründungsschuld um Normbewährung, nicht um rigorose Exempelstatuierung, die eine "primitive Abschreckungsdressur" um jeden Preis betreibt; der mit der Schuldzurechnung intendierte soziale Verantwortungsappell schlüge ja gerade in sein Gegenteil um, wollte man damit etwa den normativ nicht ansprechbaren Täter zur Rechenschaft ziehen70 • NormOben Kap. 4.1, S. 195 f. Daß es nicht auf die Feststellung eines die Willensfreiheit voraussetzenden individuellen Dafür-Könnens ankommt, wird heute kaum noch bestritten, vgl. Roxin, Zur jüngsten Diskussion, S.291. Vgl. dazu auch die Nachweise oben bei Kap. 4.1, Fn. 5. 68 Krümpelmann, Die Neugestaltung, S.30; vgl. auch Jakobs, Schuld, S.9. Roxin, Zur jüngsten Diskussion, S. 295 Fußnote 53 weist darauf hin, daß etwa die Bestrafung unbewußter Fahrlässigkeit sich von vornherein nur bei einer generalpräventive Notwendigkeiten einbeziehenden Betrachtungsweise mit dem Schuldprinzip in Einklang bringen lasse. 69 Jakobs, Schuld, S.33 spricht von dem "guten Bürger" als dem Adressaten von Schuld und Schuldstrafe. Ganz in diesem Sinne meint Luhmann, Rechtssoziologie, Bd.l, S.53, daß Straftaten rechtlich festgesetzte Erwartungen in einer Weise gefährden, daß über den Schadensersatz hinaus "symbolische Prozesse der Darstellung des Erwartens" erforderlich seien. 70 Der gegen die gesellschafts bezogene Deutung der Strafbegründungsschuld von Burkhardt, Das Zweckmoment, S. 336 f. und Schöneborn, Grenzen, S. 689, 694 f. vorgebrachte Einwand, rigorose Normbewährung dränge zur weitestgehenden Ausdehnung strafrechtlicher Verantwortlichkeit und zur Suspendierung des Schuldprinzips, geht fehl. Die Verhängung von Strafe für Krankheit wäre keine effektive Normbewährung, sondern ihr Gegenteil: sie würde 88
17
6.3 Bewertungsgesichtspunkte
273
bewährung durch Schuldzurechnung ist nur möglich, wenn der Täter über die Tatumstände verfügen kann71 ; diesem Gesichtspunkt der Normbewährung ist immanent, die Anforderungen nicht so hoch zu stecken, daß selbst der Gutwillige überfordert wäre 72 • Nichtsdestotrotz ist die Schuldzurechnung ein Akt einseitiger Verantwortungszuweisung nach generellen Verhaltensmaßstäben im Interesse einer generalpräventiven Verhaltenssteuerung, der individuellen Umständen nur insoweit Rechnung trägt, als die Zurechnung von vornherein auf den durch Strafnormen motivationsfähigen Personenkreis, auf vermeidbare Erfolge und auf zumutbare Erfolgsabwendungen beschränkt bleibt73 • Während demnach die Zweckrichtung der Strafbegründungsschuld in der generalpräventiven Verhaltenssteuerung durch Bestätigung normativ gesetzter Verhaltenserwartungen besteht, scheint die Strafzumessungsschuld zweckfrei zu sein; insofern die Strafzumessungsschuld den gerechten Schuldausgleich im Einzelfalle herzustellen sucht, scheint sie ihre Rechtfertigung in sich zu tragen und keines Richtmaßes außerhalb ihrer selbst zu bedürfen. Diese auf den ersten Blick plausible Annahme ist unzutreffend: ein adäquater Gegen-Wert für das individuelle Täterverschulden läßt sich nur ausmachen, wenn man die schuldangemessene Rechtsfolgenbestimmung nicht als zweckfreien Ausgleich nach dem Talionsprinzip versteht, sondern als Instrument im Dienste eines spezifischen sozialpolitischen Zwecks begreift. Auch die Strafzumessungsschuld ist nicht zweckfrei; wenn strafrechtliche Rechtsfolgen nach dem Maße der Schuld bestimmt werden, dann hat dies den sozialpolitischen Zweck, den gestörten Rechtsfrieden wiederherzustellen und das Rechtsbewußtsein zu festigen, indem der Täter für seine Tat mit der Sanktion belegt wird, die er "verdient" hat, das heißt die der Schwere seines Deliktes entspricht; was aber "verdient" ist, steht nicht in den Sternen eines zweckfreien metaphysischen Schuldbegriffs geschrieben, sondern es ist das Ergebnis eines wandelbaren sozialvom rechtstreuen Bürger als Zumutung empfunden und sein soziales Verantwortungsbewußtsein nachhaltig schwächen. Der Hinweis auf die amerikanische strict-liability-Doktrin, die bei einzelnen Deliktsgruppen auch die Bestrafung unverschuldeter Taten aus "pragmatischen" Erwägungen zuläßt, ist kein Gegenbeweis; diese Doktrin muß einem modernen Strafrechtsdenken als archaisch erscheinen und trifft auch in Amerika auf scharfe Kritik, so Roxin, Zur jüngsten Diskussion, S. 300 f.; vgl. auch Jakobs, Schuld, S.17. 71 Vgl. Ellscheid/Hassemer, Strafe, S. 47 f. 72 Jakobs, Schuld, S. 24. 73 Ob damit das Schuldprinzip als Teilmoment einer es präventiv überformenden Verantwortlichkeit seine Eigenständigkeit bewahrt oder ob es völlig in einer generalpräventiven Zweckbestimmung aufgeht, kann in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben. Für ersteres Roxin, Zur jüngsten Diskussion, S. 285,298,303; für letzteres Jakobs, Schuld, S.8. 18 Kunz
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
psychologischen Wertungsvorganges, eines Urteils der Rechtsgemeinschafe4 • Die Forderung, die strafrechtliche Rechtsfolge müsse dort, wo eine Haftungsbegründung durch Schuldzurechnung möglich sei, dem Ausmaß des in der Tat zum Ausdruck kommenden individuellen Verschuldens entsprechen75 , ist in dieser Verkürzung unzutreffend. Das Ausmaß des Verschuldens ist keine objektiv vorhandene Bezugsgröße - weder im Sinne eines metaphysischen Phänomens sui generis 76 noch im Sinne einer der Tat oder dem Täter anhaftenden Eigenschaft77 - aus der Art und Umfang der strafrechtlichen Rechtsfolge unvermittelt entnommen werden könnten. Die Berechtigung zum Strafausspruch und die Höhe der Strafe leiten sich nicht unmittelbar aus einem imaginären Quantum an Verschulden ab, das als solches konstatierbar wäre, vielmehr entspricht die Höhe der Schuld einer Gradstelle auf dem Barometer des sozialpsychologisch sehr realen, wenn auch nicht eindeutig meßbaren gesellschaftlichen Integrationsbedürfnisses, das zur präventiven Bestärkung der verletzten Norm vom Straftäter einen Tribut fordert und so seinerseits den Spielraum strafrechtlicher Rechtsfolgenbestimmung vorgibt78 • Die Intensität strafrechtlicher Zwangsmaßnahmen richtet sich nach dem durch die Notwendigkeit staatlicher Übelszufügung zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens begrenzten gesellschaftlichen Strafverlangen und findet eben darin - nicht etwa in einem zweckfrei verstandenen Schuldausgleichsprinzip - ihre Rechtfertigung. Exakt die strafrechtliche Rechtsfolge ist im Einzelfall schuldangemessen, welche erforderlich ist, um blindwütige gesellschaftliche Spontanreaktionen gegen den Täter abzuwenden und die geeignet ist, die in der Verhotsnorm negativ ausgedrückte soziale Verhaltenserwartung positiv zu bestärken79 ; der gerechte "Schuld"-ausgleich ist in Wahrheit nichts anderes 74 Roxin, Strafzumessung, S. 466 f.; vgl. auch ders., Zur jüngsten Diskussion, S. 305 f. Anders Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, S. 65, der auch das Maßprinzip der Strafzumessungsschuld als metaphysisch begründet erachtet. 75 Vgl. etwa BVerfGE 6, 439; 20, 331; 25, 286. 78 So aber Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, S. 65. 77 Dies ist der gemeinsame Nenner der im übrigen konträren Positionen von "Tatschuld" oder "Lebensführungsschuld"; Luhmann, Rechtssoziologe 1, S. 55 ff. stellt dazu fest, daß Juristen dazu neigen, den von ihnen normativ gesetzten Zurechnungsgrund als eine "Fähigkeit" des Täters aufzufassen, so daß die Selektion des Täters von ihm selbst und nicht von der Zurechnung her bestimmt erscheint; die Negativbewertung des "Inneren" des Täters, seiner "Schuld", sei ein Symptom dafür, daß die Norm gegen Kritik geschützt werden solle. 78 Dazu bereits oben Kap. 3.5, S. 187 ff. 79 Prägnant Seelmann, Strafzwecke, S. 54: "Staatliches Strafen soll ... einen Rückfall ins Faustrecht verhindern, es soll die Auseinandersetzung mit dem Rechtsbruch und dem Rechtsbrecher unter Kontrolle bringen." Plack, Plädoyer, S. 120 ff. bezeichnet die Vermeidung von Lynchjustiz als einen "ver-
6.3 Bewertungsgesichtspunkte
275
als der Ausgleich zwischen dem gesellschaftlichen Normbewährungsinteresse - das heißt dem Interesse an Stärkung des allgemeinen Vertrauens in die Bestands- und Durchsetzungskraft der Strafrechtsordnung und dem widerstreitenden Interesse des Täters an möglichst schonender Behandlung nach Maßgabe der Geeignetheit und Erforderlichkeit der Maßnahme zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens. Der spezifische sozialpolitische Zweck des Schuldausgleichsprinzips im Strafrecht ist darum der der Generalprävention, genauer: der Integrationsprävention; die schuldangemessene Strafe ist diejenige, die bewirkt, daß das Urteil von der Rechtsgemeinschaft als angemessen akzeptiert wird Bo und so einen Beitrag zur Stabilisierung des allgemeinen Rechtsbewußtseins leistet81 • Strafbegründungsschuld und Strafzumessungsschuld sind deshalb gleichermaßen generalpräventiv zweckbestimmt; während die Strafbegründungsschuld jedoch individuelle Täterbelange ausblendet und sich einseitig von dem Interesse an gesellschaftlicher Verhaltenssteuerung leiten läßt, geht es bei der Strafzumessungsschuld um die Herstellung eines Interessenausgleichs dergestalt, daß auch das Täterinteresse zu seiner jeweils noch möglichen Verwirklichung kommtB 2 • Die Bemessung der Strafzumessungsschuld ist von einer Reziprozität individueller und gesellschaftlicher Perspektiven bestimmt: was die Gemeinschaft der Rechtstreuen vom Straftäter an Buße fordert, muß jedem einzelnen Rechtstreuen auferlegt werden können, wenn dieser sich normwidrig verhält. Die individuelle Konfliktsituation des Täters erfordert in dem Maße Berücksichtigung, wie der Rechtstreue selbst in schwiegenen Strafgrund". Indes handelt es sich bei diesem Anliegen um nichts anderes als die negative Formulierung des Anliegens der Integrationsprävention, so Müller-Dietz, Wie ist beim Mord, S. 95 f. Zur generalpräventiven Deutung des Schuldausgleichs aus tiefenpsychologischer Sicht vgl. Streng, Schuld, S. 648, 656 f. 80 Daraus folgt zugleich eine spezifische spezialpräventive Funktion der Schuldstrafe: denn da der Delinquent selbst Mitglied der Rechtsgemeinschaft ist, wird er eine von der Allgemeinheit als gerecht empfundene Strafe auch seinerseits noch am ehesten annehmen und ihrem Appell zugänglich sein, so Roxin, Zur jüngsten Diskussion, S. 305. 81 So Jakobs, Schuld, S.9; Roxin, Strafzumessung, S.467; ders., Zur jüngsten Diskussion, S. 304 f.; ders., Prävention, S. 196 f. Vgl. auch Müller-Dietz, Grundfragen, S.30: "Sozialpsychologische Erfahrungen rechtfertigen die Annahme, daß die Verhängung einer schuldangemessenen Strafe zugleich den Erfordernissen der Integrationsprävention hinreichend Rechnung trägt. Denn die allgemeine Rechtsüberzeugung wird ja gerade dadurch gestärkt, daß der Täter die seiner Tatschuld entsprechende Strafe erhält ... Bereits die schuldangemessene Strafe entfaltet die notwendige Wirkung der sozialen Verhaltensregulierung und Einstellungsstabilisierung." Darauf wird beim Bewertungsgesichtspunkt der Generalprävention qua Abschreckungsprävention zurückzukommen sein. 82 Dieser Gedanke klang bereits oben in Kap. 3.5, S. 188 an. IS·
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
Konfliktsituationen Verständnis und Nachsicht erwarten darf; reziproke Erwartungssicherheit verlangt eine strafrechtliche Rechtsfolgenbemessung, die - auf Kosten der Effizienz rein repressiver Abschreckung die auf den Straftäter projizierte eigene Innensicht des Rechtstreuen zum generalisierten Maßstab nimmtB3 . Insofern übernimmt der Rechtstreue in seinem wohlverstandenen eigenen Interesse bei der Schuldbemessung gleichsam die Rolle eines "Schutzpatrons"B4 für den Straftäter: die reziprok zugestandene Innensicht des Rechtstreuen bindet das gesellschaftliche Repressionsbedürfnis an wechselseitig konzedierte Handlungsintentionen und -motive und schränkt das Verlangen nach rigoroser Normbewährung auf das Maß des zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens Unerläßlichen einB5 . Die Durchsetzung des Normbewährungsinteresses steht bei der Schuldzumessung unter dem Vorbehalt seiner Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens; dieser Vorbehalt gereicht als verläßlich erwartbare strafrechtliche Reaktionsmaxime jedem einzelnen Bürger zum Vorteil und wird dadurch akzeptabel. Maßstab für die Schuldminderung im Zumessungszusammenhang ist darum dasjenige, was der rechtstreue Bürger sich selbst bei einer möglichen zukünftigen Verstrickung in Straftaten als honorierungswürdig zugesteht; schuldmindernd in Ansatz zu bringen sind alle mit der Straftat und der Täterpersönlichkeit in Zusammenhang stehende Tatsachen, die aus der Sicht des Rechtstreuen als Benefiz in Rechnung zu stellen sind. Die Annahme geringfügigen Verschuldens ist angezeigt, wenn honorierungswürdige Umstände in der Tatsituation oder der Täterpersönlichkeit in einer solchen Intensität vorhanden sind, daß die Normbewährung durch Verhängung von Kriminalstrafe zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens entbehrlich wird. Das delinquente Verhalten enttäuscht hier zwar die generell gesetzten Verhaltenserwartungen, wird aber aus der auf den Straftäter projizierten Innensicht des Rechtstreuen nicht eigentlich als fehlerhaft empfunden, sondern fordert
B3 Schöneborn, Grenzen, S. 691. Die "Innensicht" des Rechtstreuen ist freilich keine in der Person als autonomes Subjekt vorhandene, sie bildet sich vielmehr erst in der intersubjektiven Verständigung von Ego und Alter über wechselseitig anerkannte Selbstdeutungen. Darin unterscheidet sich diese interaktionistische Rekonstruktion des Schuldausgleichsprinzips von idealistischen Erklärungsversuchen, die auf der Vorstellung autonom agierender Subjekte beruhen und deshalb die Normabweichung als personale Verstrickung des Täters in Schuld deuten, die zur Wiederherstellung der Autonomie des Subjekts zweckfrei vergolten und gesühnt werden muß. Zur übertragung interaktionistischer Ansätze auf die Strafrechtswissenschaft grundlegend Backes, Strafrechtswissenschaft; vgl. auch Luhmann, Rechtssoziologie 1, S. 31 ff.
B4 Hellmer, über die Glaubwürdigkeit, S. 156 spricht von dem Staat als dem Schutzpatron des einzelnen. B5 Vgl. Schöneborn, Grenzen, S.691, 697.
6.3 Bewertungsgesichtspunkte
277
nachgerade eine Solidarisierung mit dem Täter trotz entschiedener Distanzierung von der Tat; geringfügiges Verschulden ist dadurch gekennzeichnet, daß die bei der Schuld bemessung maßgebliche zwischenmenschliche Perspektive des anteilnehmenden Begreifens und miterleidenden Nachvollziehens von Handlungssituationen aus der individuellen Motivationslage des Täters den Rechtsbruch im doppelten Wortsinne verständlich macht: nicht nur verstandesmäßig begreiflich, sondern auch verständnismäßig verzeihlich. Psychologisch nachvollziehbare und plausible Motive, Unachtsamkeiten bei leichter Fahrlässigkeit, die jedem einmal unterlaufen können, Handeln aus Not oder in besonderen Konfliktsituationen, Versuchungen, denen selbst der Gutwillige schwerlich hätte widerstehen können und ähnliches mehr können das grundsätzlich vorhandene Interesse an Normbewährung durch Kriminalstrafe derart überformen, daß die Rechtsgemeinschaft einen Strafverzicht als sinnvoll und geboten akzeptiert. Wie dieser Maßstab für die Geringfügigkeit des Verschuldens durch fallgruppenbezogene Anreicherung konkrete Gestalt gewinnt, wird später darzulegen sein. 6.32 Der Präventionsmaßstab
Im vorangehenden Kapitel wurde gezeigt, daß die Geringfügigkeit des Verschuldens eine notwendige Bedingung der Bagatellisierungswürdigkeit eines strafbaren Verhaltens ist; präventive Belange allein können die Bagatellisierung nicht rechtfertigen. Es fragt sich, ob präventiven Gesichtspunkten bei der Prüfung der Bagatellisierungswürdigkeit überhaupt Bedeutung zukommt oder ob die Bagatellisierungswürdigkeit sich einzig nach Verschuldensgesichtspunkten bemißt, die Geringfügigkeit des Verschuldens mithin nicht nur notwendige, sondern auch hinreichende Bedingung der Bagatellisierung ist. Ausgangspunkt der überlegung ist die Vorrangigkeit des Schuldausgleichszwecks gegenüber präventiven Zweckgesichtspunkten, genauer: das für die Bagatellisierungsentscheidung als verbindlich erkannte Verbot einer über- wie einer Unterschreitung des' Schuldrahmens auf Grund präventiver Bedürfnisse. Aus dem Verbot einer Unterschreitung des Schuldrahmens folgt, daß eine Bagatellisierung ausgeschlossen ist, wenn der Schuldrahmen erhebliches, strafbedürftiges Verschulden umfaßt. Aus dem Verbot einer überschreitung des Schuldrahmens folgt, daß eine Bagatellisierung zwingend geboten ist, wenn das Verschulden sich im Rahmen des Geringfügigen, nicht Strafbedürftigen bewegt. Eine eigenständige Bedeutung von Präventionsgesichtspunkten für die Prüfung der Bagatellisierungswürdigkeit käme deshalb nur in Betracht, wenn der Schuldrahmen eine Bandbreite abdecken
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
könnte, die im Einzelfall sowohl für die Annahme geringfügigen, nicht strafbedürftigen Verschuldens als auch für die Annahme erheblichen, das heißt strafbedürftigen Verschuldens Raum ließe. Dies ist freilich sachlogisch ausgeschlossen. Zwar lassen sich die äußersten Grenzen des Rahmenschuldspielraums schwerlich punktmäßig fixieren; eine mathematisch-exakte Angabe ist weder wegen der Komplexität des auf die Wiederherstellung des Rechtsfriedens ausgerichteten Bewertungsvorganges möglich noch revisionsrechtlich geboten, läßt sich doch trotz fließender Grenzen des Schuldrahmens dessen merkliche Überschreitung und damit negativ die Unvereinbarkeit der Rechtsfolge mit dem Schuldausgleichsprinzip rügen 88 • Mag aber der Spielraum der zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens erforderlichen "schuldangemessenen" Rechtsfolgen noch so weit gefaßt sein und noch so unscharfe Grenzen nach oben und nach unten hin aufweisen; gleichzeitig in den Bereich des Strafbedürftigen und des nicht Strafbedürftigen hineinragen kann er nicht. Entweder gebietet die Wiederherstellung des Rechtsfriedens eine Bestrafung des Täters oder sie gebietet es nicht: tertium non datur. Ob honorierungswürdige tat- und täterbezogene Umstände das Normbewährungsinteresse derart überlagern, daß ein Strafbedürfnis entfällt, läßt sich gewiß nicht mit dem Anspruch absoluter objektiver Gültigkeit beantworten; das sozialpsychologische Beziehungsgeflecht zwischen grundsätzlichem Repressionsverlangen und zwischenmenschlicher Verständigungsbereitschaft für die individuelle Tat- und Tätersituation ist so diffizil, daß bei aller behutsamen Abwägung die Entscheidung zwangsläufig mit subjektiven Ungewißheiten belastet bleibt87 • Dennoch muß am Ende eine klare Entscheidung gefällt werden: die Frage der Notwendigkeit der Verhängung von Kriminalstrafe zur Normbewährung verlangt eine eindeutige - positive oder negative - Antwort. Damit erweist sich die Geringfügigkeit des Verschuldens als notwendige und hinreichende Bedingung der Bagatellisierung. Die Prüfung der grundsätzlichen Bagatellisierungswürdigkeit im Zumessungszusammenhang richtet sich allein nach Verschuldensgesichtspunkten; für die Berücksichtigung von Präventiansgesichtspunkten ist erst nach Feststellung der Bagatellisierungswürdigkeit bei der anschließenden Bemessung der konkreten bagatell arischen Rechtsfalge Raum. 86 Vgl. Bruns, Leitfaden, S. 88 f.; dementsprechend begnügt sich die Revisionsrechtsprechung mit der Feststellung, daß ein bestimmtes Strafmaß "jedenfalls" die Schuldgrenze überschreitet oder hinter ihr zurückbleibt, ohne letztere positiv zu bestimmen, vgl. etwa BGHSt 7, 28; 20, 267. 87 Insofern gilt uneingeschränkt das gleiche, was wir für die Geringfügigkeitsbestimmung des Unrechts festgestellt haben, vgl. oben Kap. 5.22, S. 248 ff.
6.3 Bewertungsgesichtspunkte
279
Zu klären bleibt, welche Maßstäbe bei der bagatellarischen Rechtsfolgeanordnung innerhalb des Schuldrahmens Beachtung verdienen. Sicher ist, daß spezialpräventive Gesichtspunkte insoweit unbeschränkt zulässig sind88 ; in Betracht kommen hier die Modifikationen der Spezialprävention in Form von individuell-täterbezogener Abschreckung und Sozialisation89•
Täterbezogene Abschreckung und Sozialisation verfolgen das gleiche Einwirkungsziel - die Bewirkung späteren normkonformen Verhaltens - unterscheiden sich jedoch in der Einwirkungsintensität. Die Abschreckung fügt in das Bild der verbrechenshemmenden und zum Verbrechen treibenden Faktoren nur einen Gegenfaktor: die abschrekkungsorientierte Sanktion ein und schafft allein dadurch eine Gegenmotivation gegen weitere Tatbegehungen. Die sozialisierende Einwirkung nimmt dagegen weiterreichenden Einfluß auf die Motivationskräfte des Täters, indem sie die Motivationssituation durch Minderung von Verbrechensanreizen und Schaffung neuer bzw. Intensivierung vorhandener Gegenfaktoren umfassend - wenn auch mit notwendig sektoralen Maßnahmen - umzugestalten trachtet 90 • Wegen des weiterreichenden Einflusses auf die Handlungsfreiheit des Täters ist das Sozialisierungsanliegen gegenüber dem täterbezogenen Abschreckungsanliegen auch dann subsidiär, wenn die in Betracht kommende sozialisierende Maßnahme im Einzelfall weniger einschneidend als die gleichermaßen zu Gebote stehende Abschreckungssanktion ist; Abschreckung und Sozialisation stehen zueinander in einer Stufenfolge, wonach der nächstfolgende Zweck erst dann zum Zuge kommt, wenn sich der vorhergehende eindeutig als nicht genügend erwiesen hat91 • Dem Staat steht auch innerhalb der Schuldschranken allenfalls dann das Recht zu, den erwachsenen Straftäter nach Maßgabe herrschender Ideale umund nachzuerziehen, wenn eine die autonome Lebensgestaltung des Täters grundsätzlich respektierende rein abschreckungsorientierte Sanktion sich zur Bewirkung späteren normkonformen Verhaltens nicht als erfolgversprechend erweist. Entgegen des ersten Anscheins ist der an sich einleuchtend motivierte Besserungszweck gerade im Bagatellbereich nicht "humaner" als der individualpräventive Abschreckungszweck; weil die staatlich verordnete Sozialisation Menschenwürde und Selbstbestimmungsrecht des Täters ungleich stärker berührt als die nur 88 Die Legitimität der Berücksichtigung spezialpräventiver Belange innerhalb des Schuldrahmens ist nachgerade selbstverständlich. 89 Der weitere spezialpräventive Gesichtspunkt der Sicherungsbedürftigkeit des Täters kommt nur bei Freiheitsstrafen zum Tragen. 90 Vgl. Zipf, Die Strafmaßrevision, S. 114 f. 91 So Bruns, Leitfaden, S. 77.
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
punktuelle Handlungsmöglichkeiten beschneidende individualpräventive Abschreckung, ist letztere gegenüber der ersteren vorrangige!. Durchforstet man das Spektrum möglicher bagatellarischer Rechtsfolgeanordnungen nach diesen Gesichtspunkten, so zeigt sich, daß nur die Verpflichtung zur Zahlung eines Geldbetrages an die Staatskasseu den Präventionszweck reiner Abschreckung verfolgt; neben dem Schuldausgleichsinteresse ist hier das Interesse an Verhinderung neuer Taten allein unter dem Eindruck der der Allgemeinheit zu entrichtenden Buße sanktionsbestimmend. Das Mittel zur erstrebten Verhaltensänderung des Täters erschöpft sich in der symbolischen Beschwichtigung aller potentiell Verletzten94 durch die Auferlegung einer Zahlungsverpflichtung als Geste der Unterwerfung des Täters unter die Staatsautorität. Insofern die Unterwerfung unter die Staatsautorität auch dem rechtstreuen Bürger abverlangt wird, erleidet die personale Integrität des Täters durch die Erfüllung der auferlegten Zahlungsverpflichtung keinerlei Einbuße 95 • Anders bereits, wenn die Zahlung an eine gemeinnützige Einrichtung98 zu leisten ist. Die Auferlegung der Zahlungsverpflichtung birgt hier jedenfalls dann eine sozialisierende Komponente, wenn das TätigkeitsfeId der Einrichtung eine Beziehung zur Tat oder zum Täter aufweist, also etwa der Geldbetrag bei Tierquälerei einem Tierschutzverein, bei unterlassener Hilfeleistung einem Rettungsdienst zukommen so1l97. Durch die Begünstigung einer Einrichtung mit einem bestimmten Aufgabenkreis wird eine besondere Obliegenheit des Täters gegenüber speziellen Belangen begründet und damit eine Umerziehung im Sinne einer künftigen verstärkten Beachtung eben dieser Belange angestrebt. Dies mag im Einzelfall legitim und geboten sein: der zweckgerichteten Zahlung zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung kann der Täter eher als den gemeinhin bloß lästig empfundenen vielfältigen Zahlungsverpflichtungen zugunsten der Staatskasse einen handgreiflich positiven, wohltätigen Sinn abgewinnen; zudem läßt sich durch die tat- und 92 Dazu grundlegend Zipf, Die Strafmaßrevision, S.115; vgl. auch Bruns, Leitfaden, S.75. 93 Gesetzlich normiert in § 153 a Abs. 1 Nr. 2 StPO. 94 Vgl. hierzu Jung, Die Stellung, S. 6. 95 Wohl aber unter Umständen durch die Stigmatisierungswirkung des Strafverfahrens als solche; die Stigmatisierungswirkung des Strafverfahrens ist jedoch von Art und Ausmaß der Sanktion unabhängig, sie läßt sich nicht einmal bei einem Freispruch gänzlich ausschließen. 96 Diese Möglichkeit ist ebenfalls in § 153 a Abs. 1 Nr. 2 StPO vorgesehen. 97 Verbreiteter Auffassung zufolge sollte bei der Auswahl der betreffenden Einrichtung versucht werden, eine solche Beziehung herzustellen, vgl. etwa Meyer-Goßner, in: Löwe/Rosenberg, Strafprozeßordnung, 23. Aufl., Rdnr.31 zu § 153 a.
6.3 Bewertungsgesichtspunkte
281
täterbezogene Auswahl der Einrichtung das soziale Verantwortungsbewußtsein des Täters gezielt in die Richtung lenken, die sich durch die Tatbegehung als defizitär erwiesen hat. Im Zusammenhang spezialpräventiver Zweckbestimmung ist freilich entscheidend, daß dem Täter nur das an Sanktion auferlegt werden darf, was er braucht, um künftigen - nicht nur gleichartigen - Tatanreizen zu widerstehenD8 • Bei der Zahlungsverpflichtung zugunsten der Staatskasse wird der Täter durch die finanzielle Einbuße als solche zu einem normkonformen Verhalten motiviert; die Zahlungsverpflichtung zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung beinhaltet ein Mehr; sie sendet darüber hinaus spezielle Verhaltens appelle an den Täter und zielt auf eine Umorientierung seiner Verhaltensgewohnheiten gemäß dem in der Zweckrichtung der Einrichtung ausgedrückten sozialen Leitbild. Die Anordnung der Zahlung an eine gemeinnützige Einrichtung setzt also voraus, daß im Zeitpunkt der Anordnung noch Einstellungsdefizite vorhanden sind, die es zur Ermöglichung künftigen straffreien Lebens erforderlich machen, einen Lernprozeß bezüglich eines ganz bestimmten sozialen Verhaltens in Gang zu bringen; sofern es zur individuellen Verbrechensprophylaxe ausreicht, im Bewußtsein des Täters einen generellen Merkeffekt zu verankern, darf die Zahlung nur zugunsten der Staatskasse auferlegt werden. Noch deutlicher zeigt sich die sozialisierende Zweckrichtung bei der Auflage, sonstige gemeinnützige LeistungenU9 wie etwa Hilfsdienste in Krankenhäusern bzw. Heimen oder Reinigungsarbeiten zur Pflege von öffentlichen Straßen, Wegen, Parks und Wäldern zu erbringen10o • Wegen des weitreichenden Eingriffs in die Lebensgewohnheiten des Delinquenten kann die Verpflichtung zu Arbeits- bzw. Dienstleistungen nicht das probate Sanktionsmittel sein, um die Kleinkriminalität solcher Personen zu ahnden, die zu einer Geldzahlung angeblich nicht in der Lage sind101 • Dem berechtigten Anliegen, den Vorzug der bedingten Bagatellisierung nicht nur Privilegierten zukommen zu lassen, kann durch einkommensentsprechende Bemessung der Geldauflage und Ratenzahlungsbewilligung hinlänglich Rechnung getragen werden; bei einkommensschwachen Bürgern der Auflage gemeinnütziger Leistungen gegenüber der Geldauflage den Vorzug einzuräumen hieße, jenes Anliegen durch Schaffung einer Bagatellisierung zweiter Klasse für MinVgl Bruns, Leitfaden, S. 75; Zipf, Die Strafmaßrevision, S. 114. Nach geltendem Recht in § 153 a Abs. 1 Nr.3 StPO vorgesehen. 100 Vgl. Meyer-Goßner, in: Löwe/Rosenberg, Strafprozeßordnung, 23. Aufl., Rdnr.35 zu § 153 a; Dreher/Tröndle, Strafgesetzbuch, Rdnr.8 zu § 56 b. 101 So aber offenbar Meyer-Goßner, in: Löwe/Rosenberg, Strafprozeßordnung, 23. Aufl., Rdnr. 34 zu § 153 a. 98 99
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
derbemittelte in sein Gegenteil zu verkehren102 • Angesichts des die persönliche Lebensgestaltung unmittelbar regulierenden Charakters solcher Auflagen erscheint deren Verhältnismäßigkeit im Bagatellbereich überhaupt zweifelhaft103 ; die Subsidiarität des Sozialisierungszwecks gegenüber dem spezialpräventiven Abschreckungszweck gebietet jedenfalls, die Verhängung gemeinnütziger Leistungen als ultima ratio für den extrem seltenen Fall vorzubehalten, in welchem der Delinquent zur Gewährleistung künftigen straffreien Lebens zwingend einer positiven Einstellung gegenüber gemeinnütziger Arbeit bedarf10'. Für die Auflage der Wiedergutmachung des dem Verletzten entstandenen Schadens und die Weisung, Unterhaltspflichten nachzukommenlOS, gelten andere als rein spezialpräventive Maßstäbe; darauf wird im Rahmen des gesondert zu erörternden Bewertungsgesichtspunkts der Schutzbedürftigkeit des Verletzten zurückzukommen sein. Abgesehen von Rechtsfolgen, die sich auf das Interesse an Schadloshaltung des Verletzten beziehen, ergibt sich somit innerhalb des Spektrums sanktionierender bagatellarischer Rechtsfolgeanordnungen nach Maßgabe spezialpräventiver Reaktionsbedürftigkeit eine zwingend einzuhaltende Rangfolge für die Wahl der einzelfallgerechten Reaktionsart. Soweit der Schuldrahmen sich nicht ausnahmsweise auf die unbedingte folgenlose Bagatellisierung verengt, ist die Verhängung einer sanktionierenden bagatellarischen Rechtsfolgeanordnung in Betracht 102 Das abschreckende historische Beispiel der "Zwangsarbeit" während der NS-Zeit sollte zu denken geben; ein Zustimmungserfordernis des Beschuldigten, wie es nach geltendem Recht vorgesehen ist, ändert nichts an dem Zwangscharakter der Arbeitsauflage, vgl. oben Kap. 1.1. Die vorgebrachten Bedenken beziehen sich freilich ausschließlich auf die Anordnung einer Arbeitsverpflichtung als Reaktion auf Bagatellkriminalität Erwachsener. Die Arbeitsweisung des § 10 Abs. 1 Nr. 4 JGG ist wegen des im Jugendstrafrecht vorrangigen Reaktionszwecks der Erziehung bzw. Sozialisation unbedenklich. Auch läßt sich im Bereich der gravierenden Delinquenz Erwachsener erwägen, die Arbeitsstrafe als minder schweres Surrogat der Freiheitsstrafe zu einer echten Hauptstrafe zwischen Geld- und Freiheitsstrafe auszubauen, vgl. hierzu Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, S. 274. 103 Andere, die autonome Lebensgestaltung des Delinquenten noch stärker beschränkende Maßnahmen, wie sie etwa als Bewährungsweisungen in § 56 c Abs. 2 Nr. 1 bis 4 StGB vorgesehen sind, sind im Bagatellbereich jedenfalls unverhältnismäßig; dementsprechend interpretiert die h. M. den in § 153 a Abs.l StPO aufgeführten Katalog von Auflagen und Weisungen als abschließend, vgl. etwa Meyer-Goßner, in: Löwe/Rosenberg, Strafprozeßordnung, 23. Aufl., Rdnr. 25 zu § 153 a. 104 Die in § 10 Abs. 1 Nr.4 JGG vorgesehene Arbeitsweisung gegenüber jugendlichen Straftätern ist entgegen der gängigen Sanktionspraxis der Jugendgerichte gleichermaßen nur dann zulässig, wenn erzieherische Belange es erfordern, den Jugendlichen an geordnete Arbeit (freilich nicht nur an gemeinnützige Arbeit) heranzuführen. 105 Nach geltendem Recht in § 153 a Abs. 1 Nr. 1 und 4 stPO verankert.
6.3 Bewertungsgesichtspunkte
283
zu ziehen. Eine Sanktionierung von Bagatelldelikten ist geboten, wenn nach Schuldausgleichsgesichtspunkten zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens eine Beschneidung von Dispositionsmöglichkeiten des Täters erforderlich ist und/oder zur spezialpräventiven Einwirkung auf den Täter die förmliche Mißbilligung des Tatverhaltens allein nicht genügt, um künftigen Verbrechensanreizen entgegenzuwirken. Die Zahlungsverpflichtung zugunsten der Staatskasse ist der Prototyp der sanktionierenden bagatellarischen Rechtsfolgeanordnung; sie tut Schuldausgleichsbedürfnissen und regelmäßig auch spezialpräventiven Erfordernissen Genüge. Die Höhe des an die Staatskasse zu entrichtenden Betrages ist innerhalb des Schuldrahmens so zu bemessen, daß im Täter ein wirksames Gegenmotiv gegen weitere Tatbegehungen geschaffen wird. Die Zahlungsverpflichtung zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung ist gegenüber derjenigen zugunsten der Staatskasse subsidiär; sie kann nur angeordnet werden, wenn der Täter durch die finanzielle Einbuße als solche nicht zu einem normkonformen Verhalten motiviert werden kann, weil im Zeitpunkt der Maßnahmeergreüung noch Sozialisationsdefizite vorhanden sind, die es erforderlich machen, durch gezielte Auswahl der zu begünstigenden Einrichtung im Täter einen Lernprozeß bezüglich eines ganz bestimmten sozialen Verhaltens in Gang zu bringen. Die Verpflichtung zur Erbringung nichtfinanzieller gemeinnütziger Leistungen muß als ultima ratio bagatellarischer Rechtsfolgeanordnung eng umgrenzten spezialpräventiv indizierten Ausnahmefällen vorbehalten bleiben. Andere, noch intensiver in die Lebensgestaltung des Delinquenten eingreifende Maßnahmen sind als Reaktion auf Bagatellkriminalität unverhältnismäßig und kommen als bagatellarische Rechtsfolgeanordnungen nicht in Betracht. Gegen dieses Ergebnis läßt sich vorbringen, es sei allein unter Berücksichtigung des Schuldausgleichsgebots und spezialpräventiver Belange zustande gekommen. Der Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung konnte als ein die Bagatellisierungsentscheidung beeinflussender Faktor in diesem Zusammenhang vernachlässigt werden: da das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung mit dem Interesse an sachgemäßer Ausübung des prozessualen Opportunitäts· ermessens identisch istl06 , gewinnt dieser Gesichtspunkt erst an Bedeutung, wenn die Würfel zugunsten des Regelungsmodells eines prozessualen Verfolgungsverzichts ohne förmliche Schuldfeststellung gefallen sind. Anders der kriminalpolitische Gesichtspunkt der Verhinderung von Folgetaten durch Allgemeinabschreckung. In der Tat wurde die Generalprävention als eigenständiger Bewertungsmaßstab außer Betracht gelassen; der negative Aspekt der Generalprävention: die Ab108
Vgl. oben Kap. 1.1 m. w. N. in Fußnote 68.
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
schreckung potentieller Täter findet in der vorgestellten Konzeption keinerlei Beachtung. Dies erklärt sich aus der den Ausführungen zugrundegelegten Theorie der Schuldstrafe mit spezialpräventivem VorbehaW 07 . Danach ist innerhalb des Schuld rahmens lediglich Raum für die Berücksichtigung spezialpräventiver GesichtspunkteloB. Der positiven Komponente der Generalprävention - der Integrationsprävention - ist bereits beim Schuldausgleich Rechnung getragen, insofern dieser sich nach dem gesellschaftlichen Integrationsbedürfnis bemißtl09 . Die Allgemeinabschrekkungsprävention hingegen ist als Strafzumessungsmaßstab ungeeignet 110 . Der Rechtsfolgenausspruch darf sich nur danach richten, was der Täter zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens verdient und was er braucht, um zu einem künftigen straffreien Leben zu finden. Repression zur Statuierung eines Exempels, um durch die Härte der gegen den Täter verhängten Rechtsfolge bei Dritten den Antrieb zur Deliktsbegehung durch Furcht niederzuhalten, ist illegitim, weil sie auf die im Strafrecht prinzipiell gebotene (Mit-)Berücksichtigung täterbezogener BelangeU! verzichtet und den Täter zum bloßen Objekt strafrechtlichen Eingriffs werden läßt. Die Allgemeinabschreckung als Strafzumessungsmaßstab findet schon im geltenden Recht keinerlei Stütze, im Gegenteil: die allgemeinen Strafzumessungsgrundsätze des § 46 Abs. 1 StGB erwähnen neben der Schuld allein die SpezialpräventionU!; der bindenden Anordnung des § 46 Abs. 1 Satz 2 StGB " ... sind zu berücksichtigen" würde zuwidergehandelt, wenn die "Wirkungen ... für das 107 Vgl. oben Kap. 6.31 m. w. N. in Fußnote 60. lOB Müller-Dietz, Grundfragen, S. 29 meint, dies klinge revolutionärer, als es tatsächlich ist. 109 Oben Kap. 6.31, S. 272 ff. Daneben kommt der Integrationsprävention bei dem hier nicht interessierenden Merkmal der "Verteidigung der Rechtsordnung" (§§ 47, 56 Abs.3 StGB) Bedeutung zu; daß dieses Merkmal die Integrations- und nicht die Abschreckungsprävention meint, ist inzwischen unumstritten, dazu näher Müller-Dietz, Grundfragen, S. 29 f., 41 f.; Roxin, Strafzumessung, S. 477 f., 480. 110 Anders Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 205 ff., 237 ff. sowie die herrschende Rechtsprechung, vgl. etwa BGHSt 7, 32: "Wenn der Tatrichter in einem solchen Fall von den verschiedenen schuldangemessenen Strafen, zwischen denen er wählen kann, aus dem Gedanken allgemeiner Abschreckung die schwerste Strafe wählt, so bedeutet das keinen Rechtsirrtum." U! Auch bei der integrationspräventiven Bemessung des Schuldausgleichs werden täterbezogene Belange mitberücksichtigt, insofern der Schuldausgleich durch den Ausgleich zwischen gesellschaftlichem Normbewährungsinteresse und dem Täterinteresse an möglichst schonender Behandlung herzustellen ist. vgl. oben Kap. 6.31, S. 275. 112 Müller-Dietz, Grundfragen, S. 29; vgl. auch Bockelmann, Strafrecht AT, § 29 II. 3.
6.3 Bewertungsgesichtspunkte
285
künftige Leben des Täters" um eines isolierten Abschreckungseffekts willen unberücksichtigt blieben, obwohl der Spielraum der Schuldstrafe ihre Berücksichtigung gestattet hätte l13 • Auch kriminalpolitisch besteht kein Bedürfnis, den Täter auf dem Altar einer Allgemeinabschreckung zu opfern, deren Wirksamkeit empirisch ebenso unabgesichert ist wie die Abschreckungswirkung der Todesstrafe 114 • Denn wenn eine bestimmte Maßnahme ausreicht, um den durch die Tat gestörten Rechtsfrieden wiederherzustellen und den Täter zu einem künftigen normkonformen Verhalten zu motivieren, dann entfaltet eben diese Maßnahme die notwendige Wirkung der sozialen Verhaltensregulierung und Einstellungsstabilisierung115• Der Allgemeinabschreckungseffekt ist eine bloße Reflexwirkung der gesetzlichen Strafandrohung und ihrer Durchsetzung nach Maßgabe des Schuldausgleichsgebots und spezialpräventiver Erfordernisse; für einen "Zuschlag" zur schuldangemessenen und spezialpräventiv indizierten Rechtsfolge um der Exempelstatuierung willen ist kein Raum. 6.33 Die Scbutzbedürftigkeit des Verletzten
Wir haben eingehend belegt, daß der Staat auch im Bereich der Bagatellkriminalität das Heft pönaler Ahndungskompetenz nicht aus zugunsten einer Privat justiz des Verletzten ist eindeutig abzulehnen, der Hand geben darf; die Rücknahme des staatlichen Gewaltmonopols weil dadurch fragwürdige private Sanktionspraktiken von Rechts wegen gebilligt und ausgeweitet und rechtsstaatliche justizförmige Verfahrensgarantien abgebaut würden116.Der unannehmbaren "Übermacht" des Verletzten bei der Privatjustiz entspricht bei der staatlichen Monopolisierung und Kanalisierung strafrechtlicher Sanktionsgewalt seine weitgehende "Entmachtung". Das Bestreben der Überwindung privaten Vergeltungsdenkens zieht sich als roter Faden durch die Geschichte der Strafrechtspflege; das ursprünglich die Strafe bestimmende private Rache- und Reparationsverlangen gerinnt in komplexeren GesellschaftsRoxin, Strafzumessung, S.471. Roxin, Strafzumessung, S. 471. Die empirischen Aussagen über die Abschreckungswirkung der Todesstrafe variieren erheblich, wobei die Auffassung vorherrscht, daß sich die Abschaffung der Todesstrafe auf die Entwicklung der Mordkriminalität nicht oder jedenfalls nicht negativ auswirkt, daß also die Mordraten durch die Strafdrohungen nicht beeinflußt werden; dazu im einzelnen Müller-Dietz, Wie ist beim Mord, S. 100 ff. m. w. N. 115 Müller-Dietz, Grundfragen, S.30. Bruns, Leitfaden, S.78 Fußnote 31 faßt das Ergebnis einer Göttinger Dissertation zur Funktion generalpräventiver Gesichtspunkte bei der Strafzumessung in dem Satz zusammen: die schuldangemessene Strafe ist die generalpräventiv wirksamste! 118 Oben Kap. 3.43, S. 182 ff. 113 114
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
formen zum bloß symbolischen Beschwichtigungsbedürfnis der Rechtsgemeinschaft als der ideellen Vereinigung aller potentiell Verletzten. Im materiellen Strafrecht rückt die Gemeinschädlichkeit des Normverstoßes in den Vordergrund. Auch wo es um den Schutz individueller Rechtsgüter geht, werden diese nicht um ihrer Persongebundenheit willen, sondern wegen ihrer institutionellen Anerkennung durch die Gemeinschaft geschützt117 ; der Verletzte als Rechtsgutsträger wird damit im Rechtsgutsbegriff objektiviert und anonymisiert. Im Strafprozeßrecht ist die Prüfung der Berechtigung des staatlichen Strafanspruchs gegenüber dem Beschuldigten bestimmend; in der bipolaren Auseinandersetzung zwischen staatlichem Strafanspruch und Freiheitsrechten des Beschuldigten wird der Verletzte in die zweite Reihe der Verfahrensbeteiligung abgedrängt118• Überspitzt, doch pointiert ausgedrückt: in dem Maße, wie das Strafrecht Tätern zugesteht, das Opfer - wenn auch selbstverschuldeter - Verstrickungen zu sein, läuft es Gefahr, die verhängnisvolle Schicksalshaftigkeit des Tatgeschehens für das eigentliche Verbrechensopfer zu verdrängen. Die mit der staatlichen Monopolisierung pönaler Ahndungskompetenz einhergehende Umdeutung des sozialen Konflikts zwischen Täter und Opfer in einen solchen zwischen Staat und Beschuldigtem läuft Gefahr, die Konfliktlösung dem durch die Tat unmittelbar berührten Opfer zu entfremden. Die unparteiische, dem Gemeinwohl verpflichtete Staatsautorität muß gegenüber der Konfliktsituation eine externe Haltung einnehmen und rechtsförmlich - das heißt zu einem gewissen Grade notwendig unpersönlich - reagieren; das gestörte Beziehungsgefüge zwischen Täter und Opfer läßt sich in seiner Subtilität aus der Distanz einer auf Überparteilichkeit und Rechtsförmlichkeit bedachten Entscheidungsinstanz nur grob entwirren. Wenn der Staat die Konfliktregelung an sich zieht, ist die Ebene solidarischer zwischenmenschlicher Beziehungen mit der kreativen Eigendynamik ihres spontanen, der Initiative der Betroffenen überlassenen Konfliktlösungspotentials schon verlassen und die Möglichkeit einer Krisenverarbeitung und -bewältigung durch die unmittelbar Betroffenen vertan; das ist der Preis, der für das von uns auch im Bagatellbereich als zwingend erachtete strafrechtliche Ahndungsmonopol des Staates gezahlt werden muß 119 • 117 Vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz, S. 194 f.; Hassemer, Theorie, S. 17; darauf wurde bereits in Kap. 3. hingewiesen (S. 143 f.). 118 Dazu insgesamt Jung, Die Stellung, S. 1151. 119 Dazu grundlegend Ellscheid, Die Verrechtlichung, S. 44 ff. Selbst wenn man mit Rottleuthner, Zur Soziologie, S. 60 ff. das spezifische Anliegen des justizförmigen Verfahrens in der Herstellung eines "herrschaftsfreien Diskurses" erblick:t- und damit von den prozessualen Zwangsmitteln, die Herrschaftsfreiheit erst garantieren, abstrahiert -, kann das Strafverfahren doch
6.3 Bewertungsgesichtspunkte
287
Gleichwohl ist die Befriedung der durch die Tat gestörten zwischenmenschlichen Beziehung zwischen Täter und Opfer eine - wenn auch mit Mitteln des Strafrechts allein nicht vollständig einlösbare - Zielvorgabe staatlicher Strafgewalt. Insofern Rechtsfrieden nur erreicht werden kann, wenn alle durch die Tat berührten Interessen im Entscheidungsprozeß repräsentiert sind, muß das mit dem Gemeinschaftsinteresse nicht unbedingt deckungsgleiche partikulare Opferinteresse als eigenständiger Orientierungsmaßstab in den strafrechtlichen Entscheidungsprozeß eingebracht werden; dem Verletzten nicht nur die Sanktionsgewalt zu versagen, sondern sich zudem über die individuellen Belange des Verletzten hinwegzusetzen, verstieße gegen die sozialpsychologische Binsenweisheit, wonach soziale Konflikte sich nur unter Beteiligung aller Betroffenen regeln lassenl2o • Gerade im Bagatellbereich gewinnt der Orientierungsmaßstab des Opferinteresses herausragende Bedeutung, geht doch hier regelmäßig die Sozialschädlichkeit der Tat in der Verletzung gesellschaftlich anerkannter individueller Opferinteressen restlos auf und ist doch vielfach dem Rechtsfrieden der Allgemeinheit schon mit der Befriedigung des Schutzbedürfnisses des Verletzten Genüge getanl21 • Je weniger die Rechtsgemeinschaft als solche von dem Normverstoß berührt wird, desto mehr muß ihr daran gelegen sein, dem Schutzbedürfnis des Verletzten Geltung zu verschaffen und dadurch den Konflikt im sozialen Nahraum seiner Entstehung einer Lösung zuzuführenl22 • Bei der Berücksichtigung der schutzwürdigen Belange des Verletzten im Strafrecht ist zwischen privatem Vergeltungs- oder Genugtuungsinteresse und privatem Reparations- oder Schadensausgleichsinteresse zu unterscheiden. Das private Genugtuungsinteresse hat in dem auf gesellschaftliche Normbewährung ausgerichteten materiellen Strafrecht keine Bedeutung; ihm kann bei der formalisierten, auf die Verhinderung eines Rückfalls ins Faustrecht abzielenden strafrechtlichen Konfliktverarbeitung nur durch Einräumung prozessualer Handlungsbefugnisse Raum gegeben werden. Das geltende Recht beschränkt die Entfaltung des privaten Genugtuungsinteresses demgemäß auf die Befugnis zur Betreibung des Privatklageverfahrens und beim Offizialverfahren auf die Initiativbefugnisse von Strafantrag und Klageerzwinnur in dem Maße Residuum herrschaftsfreier Kommunikation sein, wie diese unter dem Primat der Rechtsförmlichkeit kraft richterlicher Autorität herstellbar und notfalls erzwingbar ist. 120 Jung, Die Stellung, S. 1152; vgl. auch Rieß, Prolegomena, S. 204. 111 Dazu bereits oben Kap. 3.43, S. 185 f. 122 Vgl. Christie, Konflikte; Jung, Die Stellung, S. 1154, 1161; Wulf, Opferausgleich, S. 209. Dazu nunmehr grundsätzlich Sessar, Schadenswiedergutmachung.
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
gung sowie auf die Beteiligungsbefugnis der Nebenklage. Die Nebenklage (§§ 395 ff. StPO) spielt im Bagatellbereich keine Rolle und kann deshalb außer Betracht bleiben. Das auf die Überprüfung staatsanwaltlicher Einstellungsentscheidungen zielende Klageerzwingungsverfahren schließt die inhaltliche Kontrolle von Einstellungen wegen Geringfügigkeit ausdrücklich aus (§ 172 Abs. 2 Satz 3 StPO)123; eine Erweiterung der Klageerzwingungsbefugnis auf Bagatellisierungsentscheidungen wäre kaum praktikabel und liefe angesichts der Entscheidungsspielräume bei der Geringfügigkeitsbestimmung weitgehend leer124 • Der Strafantrag erfüllt im Bagatellbereich neben Privatklage und Strafanzeige keine eigentständige Funktion1!5, insbesondere nicht im Sinne einer Siebwirkung zum Ausschluß einer dem Verletzten aufgedrängten Strafverfolgung: wer Strafanzeige erstattet, wird regelmäßig auch Strafantrag stellen; in Zweifelsfällen läßt sich in die Strafanzeige ein Strafantrag hineinlesen12G • Die Privatklage (§§ 374 ff. StPO) erscheint im Hinblick auf die geringe Verurteilungsquote ineffektiv, erfüllt aber gleichwohl durch das regelmäßig vorgeschaltete Sühneverfahren eine bedeutsame Entlastungsfunktion der Strafjustiz127 . Mehr noch fällt ihre Ventilfunktion für das Genugtuungsverlangen des Verletzten ins Gewicht. Allein schon die Möglichkeit, vor einer unabhängigen, auf Streitschlichtung bedachten Instanz in kontradiktorischer Rede und Gegenrede Gehör zu finden, ist ein Ventil für die aufgestauten Ressentiments und einer Wiederherstellung des Rechtsfriedens in den engen Bindungen persönlicher oder nachbarlicher Beziehungen zuträglich. Die in jüngerer Zeit verstärkt einsetzende Diskussion um eine De-Formalisierung und Re-Privatisierung strafrechtlicher Konfliktbewältigung128 lehrt, daß der Projektion des persönlichen Genugtuungsverlangens auf die Rechtsgemeinschaft auch in der modernen Massengesellschaft Grenzen gesetzt sind. Angesichts der Vorbehalte gegen Privatjustizmodelle bleibt nur der Weg, bei Kriminalitätsformen, die ihr besonderes Gepräge 123 Dazu bereits oben Kap. 1.1 m. w. N. in Fußnote 61. 124 Jung, Die Stellung, S. 1166. 125 Jung, Die Stellung, S. 1163. 126 Vgl. oben Kap. 1. m. w. N. in Fußnoten 10 bis 13. 127 Die Verurteilungsquote liegt nach Hirsch, Gegenwart, S. 815 zwischen 2 und 3 %. Einer anderen Studie zufolge waren im Jahre 1975 über die Hälfte der Sühneverfahren erfolgreich; da die Zahl der erfolgreichen inoffiziellen Beratungen die Zahl der offiziellen Sühneversuche fast erreichen dürfte und in nur rund der Hälfte der erfolglosen Sühne versuche die Privatklage tatsächlich betrieben wird, ergibt sich hier ein bedeutsamer Abschirmeffekt, vgl. Jung, Die Stellung, S. 1158 m. w. N. Dazu neuerdings Schauf, Entkriminalisierungsdiskussion, S. 196 ff., 207 ff. 128 Vgl. etwa Christie, Konflikte; Eser, Gesellschaftsgerichte, S. 48 ff.; Herriger, Gemeindebezogene Konzepte mit einer übersicht des einschlägigen Schrifttums in den USA (S. 20 ff.).
6.3 Bewertungsgesichtspunkte
289
durch die Verletzung zwischenmenschlicher Nahbeziehungen erhalten, dem Genugtuungsverlangen des Verletzten durch die Möglichkeit der Betreibung eines auf diese Kriminalitätsformen zugeschnittenen besonderen Verfahrens Rechnung zu tragen. Da das überkommene Modell des Privatklageverfahrens mit regelmäßig vorgeschaltetem Sühneversuch eine in unserem Rechtskreis verwurzelte und von der Gemeinschaft traditionell akzeptierte Form der Streiterledigung im sozialen Nahbereich darstellt, um deren Institutionalisierung andernorts noch gerungen wird, sollte die grundsätzliche Konzeption des Privatklage verfahrens nicht in Frage gestellt werden l20 ; auf eventuell erforderliche Modifikationen wird später zurückzukommen sein. Im Gegensatz zum privaten Genugtuungsinteresse kommt dem privaten Schadensausgleichsinteresse nicht als Begründung prozessualer Aktionsbefugnisse, sondern als materieller Bewertungsgesichtspunkt der strafrechtlichen Rechtsfolgeentscheidung Bedeutung zu. Der Wiedergutmachungsgedanke erlebt als Strafzweck gegenwärtig eine Renaissancel30 • Nicht nur die absoluten Straftheorien, auch und gerade die dieser Arbeit zugrundegelegte Lehre von der Integrationsprävention läßt sich auf ein spezifisch strafrechtliches Wiedergutmachungskonzept zurückführen, ist doch ihr Ziel wie bei der Sühnetheorie die Versöhnung des Täters mit dem Opfer und der Gesellschaft durch einen Tribut an deren Ausgleichsbedürfnisl3l • Für die interpersonelle zivilrechtliche Wiedergutmachungsverpflichtung ist dieses spezifisch strafrechtliche gesellschaftliche Wiedergutmachungsverlangen unbeachtlich, nicht aber gilt umgekehrt, daß das zivilrechtliche Wiedergutmachungsverlangen bei der Bemessung der strafrechtlichen Wiedergutmachungsverpflichtung außer Ansatz bleiben darf. Die vom Täter gegenüber dem Opfer erbrachte Schadensersatzleistung dient zumindest partiell dem strafrechtlichen Anliegen der Wiederherstellung des kollektiven Rechtsfriedens, insofern die Befriedung der zwischenmenschlichen Beziehungen der unmittelbar von der Tat Betroffenen ein wesentlicher Teilaspekt des gesamtgesellschaftlichen Befriedungsanliegens des Strafrechts ist. Der zivil rechtliche Ausgleich des durch eine Straftat verursachten Schadens erfüllt eine mit dem strafrechtlichen Schuldausgleich parallel laufende rechtsfriedensstiftende Funktion und verdient deshalb bei der strafrechtlichen Rechtsfolgenbemessung Beachtung132• 129 So Hirsch, Gegenwart, S. 827 ff.; Jung, Die Stellung, S.1167. Vgl. auch Baumann u. a., AE-Novelle zur Strafprozeßordnung, wo in Vorbemerkung zu §§ 374 ff. für eine grundsätzliche Beibehaltung des Privatklageverfahrens plädiert wird. Differenzierend mit eigenständigem Lösungsvorschlag Schauf, Entkriminalisierungsdiskussion. 130 Jung, Die Stellung, S. 1152; dazu grundlegend Seelmann, Strafzwecke. 131 Seelmann, Strafzwecke, S. 51. 132 Ähnlich Havekost, Die Wiedergutmachung, S. 308.
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
Es ist darum durchaus folgerichtig, wenn das geltende Recht die Auflage der Schadenswiedergutmachung und die Weisung, Unterhaltspflichten nachzukommen, als eigenständige bagatellarische Rechtsfolgemöglichkeiten vorsieht, die isoliert oder in Verbindung mit anderen Maßnahmen verhängt werden können133 • In Betracht kommt jede Art der Wiedergutmachung, also neben der finanziellen auch eine ideelle Wiedergutmachung durch förmliche Entschuldigung, Abbitte oder Abgabe einer Ehrenerklärung134 • Nichts spricht dagegen, solche Wiedergutmachungsverpflichtungen in den Katalog bagatell arischer Sanktionen aufzunehmen. Der Einwand, es handele sich dabei um gar keine strafrechtlichen Sanktionen, weil die zivilrechtliche Schadensausgleichspflicht ohnehin bestehe und die Erfüllung zivilrechtlicher Forderungen eine Selbstverständlichkeit sei, die keiner besonderen Aktzentuierung mit Mitteln des Strafrechts bedürfe135 , verfängt nicht. Zum einen bringt die im Strafverfahren auferlegte materielle Schadensausgleichsverpflichtung für den Täter mitunter erhebliche finanzielle Belastungen mit sich und wird von diesem als eine durch die Tat veranlaßte und mit dem Ernst des strafrechtlichen Vorwurfs verknüpfte Beschränkung finanzieller Dispositionsmöglichkeiten empfunden. Zum anderen besitzt die im Wege des Strafrechts verordnete Schadensausgleichsverpflichtung über den bloßen Schadensausgleich hinaus Symbolkraft für die Rechtsgemeinschaft, insofern sie die Ungangbarkeit des mit der Tat beschrittenen Weges verdeutlicht und einen sozialpsychologischen Merkeffekt setzt. Der Sanktionscharakter der strafrechtlich auferlegten Schadensausgleichspflicht zeigt sich im übrigen in den spezifisch strafrechtlichen Rechtsfolgen bei Nichterfüllung und in der Möglichkeit, auch die Wiedergutmachung eines solchen Schadens anzuordnen, der nach bürgerlichem Recht nicht zu ersetzen wäre138 • Die Wiedergutmachungsverpflichtung bietet sich gerade im Bagatellbereich als geeignetes strafrechtliches Sanktionierungsinstrument an. Anders als bei der mittleren und schweren Kriminalität erreicht hier das Ausmaß des verschuldeten Tatunrechts keine spezifisch gemeinschädliche Dimension, vielmehr erschöpft sich die soziale Destruktivität eines gegen individuelle Rechtsgüter gerichteten Bagatelldelikts in der Verletzung rechtlich anerkannter Interessen des Opfers137 • Mit der AbVgl. § 153 a Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 4 stPO. Meyer-Goßner, in: Löwe/Rosenberg, Strafprozeßordnung, 23. Aufl., Rdnr. 29 zu § 153 a. 135 Vgl. OLG Stuttgart MDR 1971, S. 1025. 138 Etwa wenn zivilrechtlich nach der dort herrschenden Adäquanztheorie keine Kausalität anzunehmen ist oder die Schadensersatzforderung verjährt ist, vgl. Meyer-Goßner, in: Löwe/Rosenberg, Strafprozeßordnung, 23. Aufl., Rdnr. 27, 28 zu § 153 a. 137 Dazu bereits oben Kap. 3.43 am Ende. 133
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6.3 Bewertungsgesichtspunkte
291
geltung des durch die Tat zugefügten Schadens ist daher regelmäßig nicht nur dem Verletzten138, sondern auch der Rechtsgemeinschaft Genüge getan. Strafrechtliche Reaktion zielt zwar grundsätzlich nicht unmittelbar auf individuellen Schadensausgleich, sondern auf den Ausgleich sozialer Erschütterung139 ; wo aber die soziale Erschütterung nur ein Reflex individueller Schädigung ist, vermag die gegen den Täter aus Anlaß der Tat aufwallende gesellschaftliche Empörung allein schon durch Schadensreparation hinlänglich besänftigt zu werden. Im BagateIlbereich verlangt die Rechtsgemeinschaft bei der Verletzung von Individualrechtsgütern vom Täter keinen höheren Tribut, als zur Befriedigung des Verletzten notwendig ist. Da die Wiederherstellung des Rechtsfriedens eine zusätzliche Ahndung nicht verlangt, kann der Strafanspruch des Staates hinter dem Ausgleichsanspruch des Opfers zurücktreten bzw. sich in ihm erschöpfen140 • Insofern ist in Bezug auf die Individualrechtsgüter verletztende Bagatellkriminalität der für die mittlere und schwere Kriminalität nicht akzeptierbaren Auffassung von Plack zuzustimmen, der meint: "Wenn gar der Verletzte einwilligt, um des Rechtsfriedens willen mit einer mäßigen Entschädigung sich zufriedenzugeben, was will da noch der Zorn der Unbeteiligten, der ,harte Vergeltung' fordert 141 ?" Gegenüber konventionellen strafrechtlichen Sanktionen bietet die Wiedergutmachungs"sanktion" den entscheidenden Vorzug, dem symbolischen Beschwichtigungsbedürfnis der Rechtsgemeinschaft und dem konkreten Schadensausgleichsbedürfnis des Verletzten zugleich Rechnung zu tragen. Die gesellschaftliche Normbewährung durch Strafe oder strafähnliche Sanktion gibt dem Verletzten Steine statt Brot. Nicht bloß, daß der Tribut an die Rechtsgemeinschaft das finanzielle Leistungsvermögen des Täters beeinträchtigt und dadurch die Schadenswiedergutmachung erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht; der symbolische Charakter der an den Staat zu entrichtenden Buße erschwert es zudem, dem von verständlichen materiellen Eigeninteressen geleiteten Opfer der Straftat sich mit der strafrechtlichen Konfliktbewältigung abzufinden und sie als einen Akt zur Wiederherstellung 138 Empirische Untersuchungen belegen, daß die Opfer von Eigentums- und Vermögensdelikten typischerweise kein Interesse an einer über den Schadensersatz hinausgehenden Belangung des Täters besitzen; vgl. dazu und zu der auch im übrigen überraschend rationalen Attitüde von Verbrechensopfern Sessar, Rolle, S.335 m. w. N. 139 Oben Kap. 3.43; aus der Sicht des Zivilrechts dazu J. Schmidt, Schadensersatz, insbes. S. 48 ff. Insofern kann man nur metaphorisch von einem dem zivilrechtlichen Anspruch vergleichbaren staatlichen Strafanspruch reden, vgl. Rieß, Prolegomena, S. 188. 140 Vgl. Sessar, Rolle, S.336; in diesem Sinne auch Jung, Die Stellung, S. 1170 ff. Schauf, Entkriminalisierungsdiskussion, S. 148 ff., 235 ff. 141 Plack, Plädoyer, S. 123.
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
zwischenmenschlichen Rechtsfriedens zu akzeptieren. Insofern die strafrechtlich verfügte Wiedergutmachungsverpflichtung im Bagatellbereich individuelle wie kollektive Ausgleichsbedürfnisse befriedigt, kommt ihr eine gesellschaftspolitische Wirksamkeit zu, vor der konventionelle strafrechtliche Sanktionen als beschränkte, einseitigem justiziellem Ressortdenken verhaftete Teillösungen erscheinen müssen. Als Sanktion, oder genauer: anstelle einer anderen Sanktion verhängt, verspricht die Wiedergutmachungsverpflichtung zudem eine intensive therapeutische Wirkung. Während konventionelle Sanktionen individualpräventiv vornehmlich auf die Unterdrückung kriminogener Neigungen durch Furcht vor erneuter härterer Belangung setzen142 , baut die Wiedergutmachungsverpflichtung auf die positive Stimulierung des Täters durch Weckung seines sozialen Verantwortungsbewußtseins. Unter dem Eindruck des Strafverfahrens verdrängt der Täter nur allzu leicht die Ursachen der Tatbegehung; nach der Verurteilung auf die Tat angesprochen weigern sich Delinquenten regelmäßig, das Taterlebnis nochmals aufzugreifen. Eine mentale Konfliktverarbeitung zum Zwecke eines Lernerfolges für künftiges soziales Verhalten läßt sich so nur schwer erreichen. Die anstelle einer anderen Sanktion auferlegte Wiedergutmachungsverpflichtung drängt den Täter dazu, sich erneut mit dem Tatgeschehen auseinanderzusetzen, die Tat auch einmal aus der Sicht des Verletzten nachzuvollziehen und daraus aus eigener besserer Einsicht eine Lehre zu ziehen143• Daraus folgt, daß der Wiedergutmachungsverpflichtung gegenüber allen anderen sanktionierenden bagatellarischen Rechtsfolgeanordnungen der Vorrang gebührt; sofern sich unter Schuldausgleichsgesichtspunkten bzw. spezialpräventiven Erwägungen eine Sanktionierung als notwendig erweist, ist zur Herstellung des Schuld ausgleichs und zur präventiven Einwirkung auf den Täter bei der bagatellarischen Verletzung von Individualrechtsgütern zwingend eine Wiedergutmachungsverpflichtung anzuordnen. Davon abzusehen ist nur, wenn der Schaden ohnehin bereits repariert ist144 oder sich die Schadenshöhe nicht einmal annäherungsweise beziffern läßt. Die Verpflichtung ist auf eine bestimmte, fristgebundene und dem Täter fristgerecht zumutbare Leistung zu präzisieren14S, wobei darauf hinzuweisen ist, daß mit der Erbringung der strafrechtlich auferlegten Leistungsverpflichtung evenVgl. Zipf, Die Strafmaßrevision, S. 115. Ähnlich Sessar, Rolle, S. 336 f. unter Verweis auf die therapeutisch überaus positiven Erfahrungen mit der Sanktionierung durch Wiedergutmachungsverpflichtung in England und Amerika. 144 Dazu sogleich ausführlich. 145 So schon das geltende Recht. 142
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6.3 Bewertungsgesichtspunkte
293
tuell weitergehende zivilrechtliche Ansprüche nicht abgegolten sind148 • Die Präzisierung auf eine bestimmte, mindestens geschuldete Leistung entbindet die Strafjustiz in Zweifelsfällen von der mitunter umständlichen und zeitraubenden Prüfung der exakten Höhe des Anspruchs147 und bringt im Gegensatz zu dem nicht praxisgerechten strafrechtlichen Adhäsionsverfahren (§§ 403 ff. StPO)148 keine nennenswerte Mehrbelastung der Strafjustiz mit sich; gleichwohl dürfte sich im Wege strafrechtlich auferlegter Wiedergutmachungsverpflichtungen eine beträchtliche Entlastung der Zivilgerichtsbarkeit erzielen lassen. Wird neben der Wiedergutmachungsverpflichtung nach Maßgabe der im vorangehenden Kapitel aufgestellten Grundsätze eine weitere Sanktion verhängt, so ist dabei die Höhe der Wiedergutmachungsverpflichtung in Anrechnung zu bringen und die Sanktion dementsprechend zu ermäßigen. Das Bedürfnis für eine zusätzliche Sanktionierung kann sich nur aus spezialpräventiven Erfordernissen ergeben; bei der bagatellarischen Verletzung von Individualrechtsgütern, die allein interpersonell wiedergutmachungsfähig sind, ist dem gesellschaftlichen Schuldausgleichsverfahren bereits mit dem individuellen Schadens ausgleich Genüge getan. Wann spezialpräventive Gesichtspunkte eine zusätzliche Sanktionierung indizieren, ist eine Tatfrage, für die sich generelle Maßstäbe nicht finden lassen. Zu denken ist insbesondere an Fälle, in denen der Täter die mit leichter Hand zu erbringende Wiedergutmachung als Freibrief und Einladung zu weiteren Rechtsbrüchen mißverstünde. Von der bagatellarischen Rechtsfolgeanordnung der Wiedergutmachungsverpflichtung zu unterscheiden ist der Zumessungsgesichtspunkt der bereits erbrachten Wiedergutmachung als möglicher Bagatellisierungsgrund. Die vor der strafrechtlichen Rechtsfolgenbestimmung erbrachte Wiedergutmachung bzw. die verbindlich erklärte Bereitschaft hierzu ist als Strafmilderungsgrund schon lange anerkannt14U ; das Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, findet in § 46 Abs. 2 StGB ausdrücklich Erwähnung. Rechtfertigen demnach die Umstände, daß 148 Dieser Hinweis ist, wiewohl an sich selbstverständlich, geboten, um eventuelle Mißverständnisse auszuschließen. 147 Daher kann die Verpflichtung unter Umständen auch dann ausgesprochen werden, wenn zivilprozessual nur ein Urteil über den Grund des Anspruchs möglich wäre. 148 Obschon dem Adhäsionsverfahren in der Theorie seit jeher Bestnoten erteilt werden, wird es wegen seiner Aufwendigkeit von der Strafjustiz als ein Stück aus dem prozessualen Raritätenkabinett empfunden, so Jung, Die Stellung, S. 1158. UD Bruns, Leitfaden, S.208. Schon das Criminalgesetzbuch Sachsens von 1838 sah in Art. 65 Rückgabe und Schadensersatz bei Eigentums- und Vermögensdelikten als gesetzlich ausdrücklich zugelassenen Strafmilderungsgrund an.
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
infolge der Wiedergutmachung kein Dauerschaden entstanden ist und der Täter mit der Schadensreparation ehrliche Reue zeigt, für sich genommen lediglich eine Strafmilderung, so müssen für die Annahme einer Bagatellisierung weitere Umstände hinzutreten, die eine Bestrafung im Hinblick auf die erfolgte Wiedergutmachung bzw. die erklärte Bereitschaft hierzu als unangemessen erscheinen lassen. Die Bestimmung des § 371 AO verspricht hier weiterführende Erkenntnisse. Danach wird nicht wegen Steuerhinterziehung bestraft, wer unrichtige oder unvollständige Angaben bei der Finanzbehörde berichtigt oder ergänzt oder unterlassene Angaben nachholt. Straffreiheit tritt jedoch nicht ein, wenn vorher ein Betriebsprüfer oder Steuerfahnder erchienen, dem Täter die Verfahrenseinleitung bekanntgegeben worden ist oder die Tat schon entdeckt war und der Täter dies wußte oder damit rechnen mußte. Soll diese Vorschrift nicht auf eine ungerechtfertigte Privilegierung des Steuers traftäters hinauslaufen, wird man ihr unter dem Gesichtspunkt des strafbefreienden Rücktritts von einem vollendeten Delikt durch tätige Reue den allgemeinen Rechtsgedanken entnehmen müssen, daß bei freiwilliger Schadenswiedergutmachung bzw. vertraglicher Verpflichtung hierzu vor Kenntnisnahme des Täters von der Registrierung der Tat durch die Strafverfolgungsbehörden Straffreiheit zu gewähren ist l50 ; das österreichische Strafrecht sieht in § 167 des Gesetzes über die mit Strafe bedrohten Handlungen vom 23.1. 1974151 insbesondere für Eigentums- und Vermögens delikte bereits eine dementsprechende Regelung vor. Solange der Gesetzgeber sich nicht zu einer solch konsequenten grundsätzlichen Regelung entschließt, die Wiedergutmachung vor offizieller Tatregistrierung als generellen Strafaufhebungsgrund zu berücksichtigen, ist in derartigen Fällen eine Bagatellisierung geboten. Die erfolgte Wiedergutmachung bzw. die verbindlich erklärte Bereitschaft hierzu rechtfertigen zwingend eine unbedingte, folgenlose Bagatellisierung, wenn die Leistung erbracht bzw. die Verpflichtung hierzu eingegangen wurde, bevor der Täter von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen ihn Kenntnis nahm oder damit rechnen mußte. Die zu einem späteren Zeitpunkt erfolgte Wiedergutmachung ist für die Bagatellbestimmung keineswegs bedeutungslos; sie ist bei der Prüfung der Bagatellisierungswürdigkeit in Rechnung zu stellen und kann in Verbindung mit weiteren mildernden Umständen - freilich nicht schon für sich genommen - zu einer Bagatellisierung 150 Dazu eingehend Havekost, Die Wiedergutmachung, S. 308 f. m. w. N. Vgl. auch die Sonderbestimmungen der §§ 98 Abs. 2 Satz 2, 163 Abs. 2, 310, 311 c Abs. 3 StGB, die unter dem Gesichtspunkt der tätigen Reue zur Strafaufhebung führen. 151 Der Wortlaut der Bestimmung ist abgedruckt bei Havekost, Die Wiedergutmachung, S. 309.
6.4 Unwägbarkeiten
295
Anlaß geben. Die Möglichkeit der Kombination für sich genommen lediglich strafmildernd wirkender Bemessungsfaktoren zu einem Gesamtbild, das in der kumulativen Häufung für den Täter sprechender Umstände die Strafbedürftigkeit entfallen läßt, wird im folgenden Kapitel darzustellen sein.
6.4 Unwägbarkeiten beim Nachweis der Geringfügigkeit im Einzelfall Bislang wurde der methodische Rahmen abgesteckt, in dem die Geringfügigkeitsbestimmung im Zumessungszusammenhang sich bewegt; durch inhaltliche Anreicherung der im Grundsatz vorgestellten Maßstäbe ist es darüber hinaus punktuell gelungen, die erarbeiteten Entscheidungsprinzipen für die Anwendung im Einzelfall zu konkretisieren. Wann sich die Unsicherheit des von einer Vielzahl beliebig kombinierbarer Zumessungsfaktoren abhängigen Geringfügigkeitsurteils im Einzelfall zur Gewißheit verdichtet, läßt sich generell allenfalls für Extremfälle - wie demjenigen der Schadenswiedergutmachung vor offizieller Tatregistrierung - bestimmen; die Geringfügigkeitsbeurteilung im Zumessungszusammenhang ist zu komplex, als daß sich abschließend angeben ließe, bei welcher Konstellation welcher zumessungsrelevanter Gesichtspunkte im Einzelfall eine Bagatellisierung mit welcher Rechtsfolgeanordnung geboten ist. Maßstäbe der Strafzumessung sind Wegweiser, aber keine Meßgeräte152 ; mehr noch als im Unrechtszusammenhang gilt im Zumessungszusammenhang die Einsicht, daß die strafrechtsdogmatische Analyse des Bagatellprinzips die Bagatellisierungsentscheidung nur inhaltlich anleiten, nicht vorwegnehmen oder gar ersetzen kann. Angesichts der Unmöglichkeit einer generellen Vorbestimmung des Geringfügigkeitsurteils bleibt nur die Möglichkeit, die irreduziblen Unwägbarkeiten der Entscheidungsfindung im Zumessungszusammenhang zu präzisieren und eben dadurch methodisch unter Kontrolle zu bringen. 6.41 Die beschränkte Kategorisierbarkeit entlastender Umstände Da Bagatellisierungsgründe ins Extrem gesteigerte Strafmilderungsgründe sind, liegt es nahe, aus der Gesamtmenge der Strafzumessungsgründe die Teilmenge der Strafmilderungsgründe auszugrenzen und durch Zusammenstellung der einzelnen strafmildernden Umstände einen Katalog grundsätzlich bagatellisierungstauglicher Faktoren auf152
Bruns, Leitfaden, S. 20.
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
zustellen. Dies hätte den unschätzbaren praktischen Vorteil, daß der Rechtsanwender aus dem Vorhandensein oder Fehlen strafmildernder Umstände im konkreten Fall ersehen könnte, ob überhaupt eine Bagatellisierung im Zumessungszusammenhang in Betracht kommt; das Verfahren ließe sich schematisieren und sogar im Wege der elektronischen Datenverarbeitung durchführen, indem die Informationen des Falles in eine mit dem Katalog bagatellisierungstauglicher Faktoren gefütterte Datenverarbeitungsanlage eingegeben werden. Dadurch könnte die Fülle der Fälle, in denen eine Bagatellisierung nach Zumessungsgesichtspunkten von vornherein ausscheidet, eindeutig und arbeitssparend ausgewiesen werden. Indes läßt sich nicht generell und abschließend angeben, welche realen im Fall repräsentierten Umstände mildernd zu bewerten sind. Reale Strafzumessungsgründe oder Strafzumessungstatsachen, wie sie in § 46 Abs. 2 StGB beispielhaft aufgeführt sind, sind in ihrer Bewertungsrichtung regelmäßig ambivalent: ob sie schärfend oder mildernd ins Gewicht fallen, läßt sich meistens nicht generell, sondern nur für den Einzelfall beantworten153• Die unter Praktikern geläufige Vorstellung, daß Strafzumessungstatsachen ihre Bewertungsrichtung schon mitliefern, ist irrig. Auch eine deliktbezogene Differenzierung hilft nicht entscheidend weiter. Zwar tendiert die Rechtsprechung dazu, etwa bei Beleidigungsdelikten die Angetrunkenheit des Täters mildernd zu berücksichtigen; bei Verkehrsdelikten kann sich hingegen die Trunkenheit hinsichtlich der fahrlässigen Tötung im Verkehr schärfend, hinsichtlich der anschließenden Unfallflucht dagegen mildernd auswirken154 • Ja es ist gar zulässig, daß der Richter eine Strafzumessungstatsache unter Schuldgesichtspunkten erschwerend, unter Präventionsgesichtspunkten hingegen mildernd würdigt oder aus ein und demselben Umstand Schuld- bzw. Präventionssteigerungs- wie -minderungs elemente entnimmtl55 • Daß durch den Unfall mehrere Menschen zu Tode gekommen, zahlreiche Personen verletzt worden sind, ist unter dem Gesichtspunkt der verschuldeten schweren Tatfolgen als Strafverschärfungsgrund anerkanntl58 ; anderseits hat die höchstrichterliche Rechtsprechung mehrfach darauf hingewiesen, daß die Zahl der Verkehrsopfer als Folge vorschriftswidriger Fahrweise des Täters meist wesentlich vom Zufall Dazu grundsätzlich Bruns, Strafzumessungsrecht, S.48. m BGH VRS 5, 279. Nicht einmal bei der Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB) ist die Bewertungsrichtung eindeutig: während sich im mittleren Bereich der gegenüber der absoluten Fahruntüchtigkeit gesteigerten Alkoholisierungsgrade die Trunkenheit strafschärfend auswirkt, wirkt sie im oberen Bereich der die eingeschränkte Schuldfähigkeiterreichenden Alkoholisierungsgrade mildernd. 155 Bruns, Leitfaden, S.213. 156 BGH VRS 21, 359; 23, 231. 153
6.4 Unwägbarkeiten
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bestimmt wird und dieser Umstand als strafmilderndes Gegengewicht gegen die strafschärfende Häufung verschuldeter Tatfolgen zu berücksichtigen ist157 • Eine auch nur annähernd vollständige Kategorisierung von Strafzumessungstatsachen nach ihrer Bewertungsrichtung läßt sich nicht erbringen. Die übliche Redewendung, daß bestimmte tatsächliche Umstände für oder gegen den Täter "sprechen", spricht ihrersei ts keine eindeutige Sprache; es gibt eben keine generell strafmildernden Tatsachen, sondern immer nur Strafzumessungstatsachen, die in Anbetracht der jeweiligen Besonderheit des Einzelfalles als mildernd bewertet werden u8 . Eine kasuistische Aufzählung der von der Rechtsprechung im Einzelfall mildernd bewerteten tatsächlichen Umstände bleibt unergiebig, solange die Besonderheit der jeweiligen Einzelfälle nicht mit geschildert wird; geschähe dies, so erschöpfte sich die Darstellung in einer für unsere Zwecke unbrauchbaren, weil zusammenhanglosen und zufälligen Aneinanderreihung von Fallschilderungen159 • Immerhin lassen sich aus dem schier unabsehbaren Spektrum meist ambivalenter Strafzumessungstatsachen einige ausgrenzen, deren Bewertungsrichtung homogen ist. Insbesondere folgende tatsächlichen Umstände kommen als für den Täter generell entlastend in Betracht: die verständliche Tatmotivation, die eingeschränkte Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens, die eingeschränkte individuelle Vorhersehbarkeit bei Fahrlässigkeitsdelikten, die Sorgfaltspflichtverletzung aus bloßer Unachtsamkeit bei leichter Fahrlässigkeit, das deliktische Handeln in Not-, Konflikt- oder Versuchungssituationen, die Eigenschädigung des Täters durch die Tat, die Schadenswiedergutmachung, die gute Führung, das Geständnis, das Mitverschulden des Verletzten, das fehlende Verfolgungsinteresse des Verletzten und der erhebliche Zeitablauf zwischen Tatbegehung und Entscheidung. Ähnlich entlastend pflegt man kurzerhand die Umstände, die das Vorliegen eines minder schweren Falles und die Annahme eines besonderen gesetzlichen Milderungsgrundes stützen, auf den § 49 StGB Bezug nimmt, zu beurteilen, obschon es dabei zunächst um eine Strafrahmenänderung geht und jeweils offen ist, wann BGH VRS 13, 24; 14, 285; 23, 231. Mit Bedacht verzichtet deshalb die Bestimmung des § 46 Abs. 2 StGB auch bei den ausdrücklich erwähnten zumessungsrelevanten Tatsachen auf die Angabe der Bewertungsrichtung; dies entspricht der herrschenden Lehre, die eine generelle Fixierung der Bewertungsrichtung von Strafzumessungstatsachen für nicht angebracht, ja verfehlt erachtet, vgl. hierzu etwa Bruns, Leitfaden, S. 213 m. w. N. 159 Eine in ihrer Übersichtlichkeit zur ersten Orientierung zweckdienliche Aufstellung von vom BGH anerkannten Milderungsgründen findet sich bei Bruns, Leitfaden, S. 214 f.; freilich verdient auch hier Beachtung, daß die beispielhaft erwähnten Umstände strafmildernd ins Gewicht fallen können, es aber keineswegs immer müssen. 157
158
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
solche Umstände innerhalb des Sonderstrafrahmens zusätzlich als Strafmilderungsgründe Beachtung verdienen. Die letztgenannten Milderungsmöglichkeiten verdeutlichen, daß es mit der Feststellung der Entlastungswirkung nicht getan ist; entscheidend ist immer, ob dem Umstand im jeweiligen Einzelfall eine Entlastungswirkung beizumessen ist180• So dürfte die erbrachte Schadenswiedergutmachung nicht entlastend wirken, wenn sie vom Gläubiger zwangsweise beigetrieben wurde, das Geständnis unbeachtlich sein, wenn es nicht auf Reumütigkeit schließen läßt, unter erdrückenden Beweisen oder erst auf eindringlichen Vorhalt abgegeben wurde 161 , die Verfahrensdauer belanglos sein, wenn eingetretene Verzögerungen durch den Täter selbst veranlaßt wurden, dem Mitverschulden des Verletzten keine Bedeutung beizumessen sein, wenn der Täter das Fehlverhalten des Verletzten voraussehen und sich darauf einrichten konnte 162• Auch die Strafzumessungstatsachen mit entlastender Bewertungsrichtung wirken sich nicht generell strafmildernd aus, sondern nur unter je spezifischen Randbedingungen, die sich nicht abschließend fixieren lassen. Ebensowenig wie das Geständnis in jedem Falle zur Strafmilderung zwingt, gilt dies für das reumütige Geständnis: mit ihm könnte ja der Nebenzweck verfolgt worden sein, die unbekannt gebliebenen Teilnehmer zu schützen, später eine schwerere Tat besser leugnen zu können und so fort 183• Um zu wissen, welche realen Umstände unter welchen Randbedingungen zur Milderung Anlaß geben, müßte die Differenzierung so weit getrieben werden, daß man auf der abstrakt nicht mehr kategorisierbaren Ebene realer Geschehensabläufe und ihrer einzelfallbezogenen Bewertung angelangt wäre. Die Homogenität der Bewertungsrichtung der erwähnten Zumessungstatsachen besagt nur, daß sie sich - wenn überhaupt - nur entlastend, nicht belastend auswirken können; ob sie aber realiter entlastend zu würdigen sind, kann immer nur einzelfallbezogen sachgerecht beurteilt werden. Wann die Tatmotivation als verständlich gilt, wann dem Täter eine Konfliktsituation zugute gehalten werden kann, wann der Zeitablauf das Strafbedürfnis mindert usw. läßt sich nur in Anbetracht der je konkreten Umstände entscheiden und verschließt sich der generellen Vorbestimmung. Globale Bezeichnungen für zumessungsrelevante tatsächliche Umstände wie Schadenswiedergutmachung usw. sind streng genommen keine Vgl. Bruns, Leitfaden, S.212. Bruns, Leitfaden, S. 202. 182 Ständige höchstrichterliche Verkehrsrechtsprechung, Nachweise bei Bruns, Leitfaden, S. 141. 183 In derartigen Fällen wirkt auch das reumütige Geständnis nicht strafmildernd, vgl. Bruns, Leitfaden, S. 202. 160 181
6.4 Unwägbarkeiten
299
Strafzumessungstatsachen, vielmehr Oberbegriffe für Merkmalsgruppen von Strafzumessungstatsachen; nicht die Schadenswiedergutmachung als solche, sondern die im Einzelfall unter je spezifischen Bedingungen erbrachte und von diesen Bedingungen individuell geprägte Wiedergutmachung ist Bewertungsgegenstand der Zumessungsentscheidung. Die Kategorisierung zumessungsrelevanter Fallaspekte in Merkmalsgruppen ist, wie sogleich deutlich werden wird, unerläßlich, abstrahiert jedoch von dem "blutvoll Einmaligen" der Verwirklichung des Merkmals im konkreten Fall und kann deshalb nicht als Beurteilungsgrundlage der Zumessungsentscheidung dienen184 •
Damit erweist sich als unmöglich, die tatsächlichen Umstände, die bei der Rechtsfolgenzumessung zugunsten des Täters zu würdigen sind und die zu einer Bagatellisierung im Zumessungszusammenhang Anlaß geben können, mehr als nur exemplarisch und indiziell zu benennen. Im Gegensatz zur Geringfügigkeitsbestimmung im Straftatzusammenhang der Unrechtsbetrachtung, die ihre Bemessungsgrundlage vom Gesetz in der abstrakten Begrifflichkeit unrechts begründender Merkmale fertig vorgegeben erhält, ist die Beurteilungsmaterie der Geringfügigkeitsbestimmung im Zumessungszusammenhang eine prinzipiell unfertige, von der unabsehbaren Vielfalt situationsgerechter Deutungsmöglichkeiten je singulärer Handlungen abhängige. 6.42 Die beschränkte Rekonstruierbarkeit des Geringfügigkeitsurteils
Nicht bloß die Eingrenzung der Beurteilungsmaterie der Geringfügigkeitsbestimmung im Zumessungszusammenhang, auch der Beurteilungsvorgang selbst unterliegt irreduziblen Unwägbarkeiten. Wenn wir uns grundsätzlich entschlossen haben, eine bestimmte Strafzumessungstatsache zugunsten des Täters in Ansatz zu bringen, ist erst die Bewertungsrichtung eines Fallaspekts angegeben, die Bewertung des Falles aber noch nicht vollzogen. Zum einen wissen wir nicht, wie ausgeprägt die merkmalsgruppenspezifische Entlastungswirkung der mildernd zu berücksichtigenden Tatsache ist, wie gewichtig also etwa die Ver184 Dazu Rolinski, Die Prägnanztendenz, S. 91: "Es ist aber sehr schwierig, ja beinahe unmöglich, rein deskriptiv Verbrechen und Verbrecher in ihren Erscheinungsformen zu beschreiben. Ich glaube daher nicht, daß Psychologie und Kriminologie in der Lage sind, eine solche Ordnung dieser seelischen Wirklichkeiten vorzunehmen, und zwar in einer so differenzierten Weise, daß die Klassifikation als Richtschnur für die Strafbemessung dienen kann. Eine solche Gruppierung der seelischen Phänomene und sonstigen Tatumstände müßte übersichtlich sein. übersichtlichkeit bedeutet aber in diesem Fall Vergröberung der Einteilung, und diese wiederum heißt nichts anderes als Verlust individualisierender Gerechtigkeit. Der konkrete Fall, das blutvoll Einmalige an einer strafbaren Handlung eines bestimmten Täters würde nicht erfaßt werden."
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
suchungssituation, in der sich der Täter bei der Tatbegehung befand, im Verhältnis zu anderen denkbaren Versuchungssituationen zu veranschlagen ist. Zum anderen wissen wir nicht, wie die übrigen im Fall repräsentierten tatsächlichen Umstände zu bewerten sind, die anderen Merkmalsgruppen angehören, ob der eine mildernde Umstand durch schärfende Faktoren aufgewogen und kompensiert wird oder andere Milderungsgrunde die entlastende Wirkung verstärken. Das erstgenannte Problem ist ein solches der Merkmalstärke eines Fallaspekts im Verhältnis zu anderen denkbaren Fallaspekten derselben Merkmalsgruppe, das zweite ein solches der Wertigkeit einer Merkmalsgruppe im Verhältnis zu anderen Merkmalsgruppen. Die Bemessung des Stellenwerts eines mildernden Umstandes bedarf der bewertenden Auslotung in beiden Dimensionen: nach der graduellen Ausprägung seiner Merkmalstärke in der Tiefe und nach der Wertigkeit seiner Merkmalsgruppe zu derjenigen der übrigen im Fall repräsentierten Umstände in der Breite. Die Komplexität des Bemessungsvorganges potenziert sich dadurch, daß diese zweidimensionale Bewertung jeweils nach Schuld ausgleichs- und Präventionsgesichtspunkten zu erfolgen hat, also auf das "doppelte Strafzweck-Koordinatensystem" des Schuldausgleichs und der Prävention bezogen werden muß185• Betrachten wir zunächst das Problem der Bestimmung der Merkmalstärke. Versuchungssituationen können so ausgeprägt sein, daß sie sich aus der Perspektive des in ihnen befangenen Täters als schier unüberwindbares Hindernis vor dem von der Rechtsordnung abverlangten normkonformen Verhalten auftürmen; sie können sich auch als so schwach erweisen, daß der Täter ihnen ohne weiteres erfolgreich zu widerstehen vermag. Dazwischen liegen unzählige Variationsmöglichkeiten mehr oder weniger intensiv auf den Täter einwirkender und ihm zum Verbrechen verführender äußerer Umstände. Versuchungssituationen sind in ihrer Intensität graduell abstufbar und geben bei zunehmender Stärke zu einer proportional zunehmenden Honorierung Anlaß; das gleiche gilt für sämtliche mildernde Umstände, die ja durch ihre Steigerungsfähigkeit gekennzeichnet sind166 • Um zu wissen, wie entlastend der verführerische Tatanreiz im Einzelfall zu veranschlagen ist, müssen die zur Tatbegehung verleitenden Umstände zu anderen denkbaren Versuchungssituationen in Bezug gesetzt werden; die Aussage, der Tatanreiz wirke stark entlastend, ergibt nur dann einen Sinn, wenn der Tatanreiz in ein Verhälnis zu anderen Tatanreizen gesetzt wird, die weniger stark entlastend zu veranschlagen sind. Dieses Verhältnis kommt sprachlich korrekt durch den Komparativ "stärker als" 165 188
Bruns, Leitfaden, S. 224. Vgl. oben Kap. 6.1, S. 255 f.
6.4 Unwägbarkeiten
301
zum Ausdruck. Die Verwendung des Positivs "stark" ist nur insofern gerechtfertigt, als auf Grund der relationalen Beziehung der Entlastungsstärke eine geschlossene Rangordnung von Versuchungssituati0nen mit kontinuierlich zunehmender Entlastungswirkung gedacht wird; durch nachträgliches Zerschneiden dieser Rangordnung in Segmente läßt sich eine Einteilung in einzelne voneinander abgestufte Rangstellen erzielen, die dann mit positiven Bezeichnungen wie "fast unüberwindbar", "sehr stark", "stark", "weniger stark", "schwach" oder ähnlich benannt werden können187 . Diese positive Benennung der Merkmalstärke ist nicht nur um der Plastizität der Darstellung willen hilfreich. Da der Zumessungsvorgang im Ergebnis in eine positive und absolute Aussage über die einzelfallgerechte Rechtsfolge mündet, bildet der positive Ausdruck der relational bestimmten - und daher an sich in der Form des Komparativs auszudrückenden - Merkmalstärke einen notwendigen Zwischenschritt auf dem Wege zur Konkretisierung der Rechtsfolge. Die Umsetzung des relationalen Begriffs der Merkmalstärke in einen positiven Ausdruck folgt der im Zumessungsakt fortschreitend zunehmenden "Prägnanztendenz"188 von zunächst rein relationalen und daher höchst unpräzisen Aussagen bis hin zur absolut eindeutigen Aussage über die zu verhängende Rechtsfolge. Durch die Aufteilung der relationalen Rangordnung in positiv benennbare Segmente werden in die kontinuierlich ansteigende Kurve zunehmender Merkmalstärke Stufen eingeschlagen: die fließend und übergangslos zunehmende Ausprägung des Stärkegrades wird in ein Tableau übersetzt, das die einzelnen Merkmalstärken auf Rangstufen einer treppenförmig ansteigenden Rangskala abbildet; diese Übersetzung erlaubt es, die Stärke des konkreten Tatanreizes eine bestimmte Stufe der Rangskala zunehmend entlastender Tatanreize eindeutig zuzuordnen. Gerade diese Eindeutigkeit gibt freilich zu einem Mißverständnis Anlaß: das Mißverständnis, die Eindeutigkeit bezöge sich nicht bloß auf die formale Zuordnung des Fallaspekts zu einer Rangstelle der Skala, sondern zugleich auf die inhaltliche Begründung der Merkmalstärke. Der Trugschluß, die Präzision im Darstellungsbereich bedeute auch Exaktheit im Herstellungsbereich169 , verleitet zu der Fehleinschätzung einer strengen Rationalisierbarkeit der Zumessungsentscheidung durch "Errechenbarkeit" der Rechtsfolge. Den Bemühungen um eine "ratio161 Dazu grundlegend Krümpelmann, Die Bagatelldelikte, S. 40 f. unter Verweis auf Hempel/Oppenheim. 188 Vgl. Rolinski, Die Prägnanztendenz. 169 Hasserner, Die Formalisierung, S. 91.
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
nale Strafzumessung", die auf ein "berechenbares Strafmaß" abzielen170, liegt - vereinfacht - folgendes Schema zugrunde: Nachdem die zumessungsrelevanten Aspekte des Einzelfalles aufgelistet und in Merkmalsgruppen geordnet sind, wird jede Merkmalsgruppe durch Festlegung einer maximal erreichbaren Punktzahl in ihrer Bedeutung für die Zumessungsentscheidung gewichtet und anschließend für die Merkmalstärke jedes Fallaspekts eine bestimmte Punktzahl innerhalb der festgelegten Maximalpunktzahl der zugehörigen Merkmalsgruppe vergeben; auf welche Merkmalsgruppen es wie intensiv ankommt, ist nach Tatbeständen verschieden zu beurteilen. Die zu verhängende Rechtsfolge ergibt sich folglich aus der rechnerischen Verarbeitung der ermittelten Punktzahlen gemäß einer tatbestandsspezifischen arithmetischen Verknüpfungsregel. Das Verdienst jener Bemühungen um eine formale Rationalisierung strafrechtlicher Rechtsfolgenbemessung besteht in der analytischen Präzisierung und Differenzierung der einzelnen Komponenten und Stadien der Strafzumessungsentscheidung; ein höheres Maß oder gar eine völlig neue Art von Rationalität in die Zumessungsentscheidung einzubringen vermögen sie freilich nicht. Numerische Auszeichnungen der Merkmalstärke durch Punktzahlen weisen gegenüber umgangssprachlichen Attributionen eine größere Präzision der Benennung auf, der jedoch keine größere Exaktheit der begrifflichen Bedeutung entspricht. Die Bedeutung bezieht sich allemal auf das relationale Verhältnis unterschiedlich ausgeprägter Merkmalstärken zueinander; dieses Verhältnis läßt sich durch Abstufungen wie "stark" und "schwach" gleichermaßen unmißverständlich wie durch Punktzahlen ausdrücken. Die Punktzahl als Voraussetzung einer "Errechnung" der Rechtsfolge lenkt von den eigentlichen Problemen der Zumessungsentscheidung ab und täuscht eine Exaktheit der Bewertung vor, die in Wahrheit nicht besteht. Die "Güte" der vergleichenden Bewertung richtet sich nach der wirklichkeitsnahen und vollständigen Auswahl der vergleichenden Umstände und der argumentativen Begründung der angenommenen Rangordnung. Wie im Rechtswidrigkeitszusammenhangl71 ist auch im Zumessungszusammenhang eine eigenschöpferische und letztlich eigenverantwortliche normative Beurteilung unabdingbar; wie dort richtet sich auch hier die Verbindlichkeit der Beurteilung danach, ob sie allgemein geteilten Werterfahrungen entspricht und daraus argumentativ begründet werden kann. Im Zumessungszusammenhang ist die mangelnde absolute Richtigkeitsgewähr der Entscheidung nur insofern schwerer zu akzeptieren, als das Entschei170 Dazu namentlich die programmatischen Arbeiten Haag, Rationale Strafzumessung sowie von Linstow, Berechenbares Strafmaß. 171 Oben Kap. 5.22, S. 233 f., 237, 248 ff.
6.4 Unwägbarkeiten
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dungs ergebnis hier numerisch - also mit der höchsten Präzision, die unsere Sprache kennt - formuliert werden muß, und dies unerfüllbare Hoffnungen auf die formale Präzisierbarkeit der Entscheidungsgewinnung weckt172 • Aus der Notwendigkeit, das Ergebnis der Zumessungsbetrachtung numerisch eindeutig zu formulieren, resultiert aber nicht die Möglichkeit seiner rechnerisch eindeutigen Herleitung: mit der Anwendung des Rechenschiebers läßt sich das Strafmaß gerade nicht fixieren 173, Versuche, die einzelfallgerechte Rechtsfolge aus Punktzahlen zu errechnen, blenden die normative Dimension der Ermittlung und Begründung der in Punktzahlen ausgedrückten Zwischenergebnisse des Zumessungsvorganges aus; dies bewirkt eine unangemessene Problemverkürzung, insofern sich die Kriterien einzelfallgerechter Rechtsfolgenbemessung der formalen Prüfung nur unvollständig erschließen174 • Noch weniger als die numerische Auszeichnung der Merkmalstärke läßt sich die in glatten Zahlen ausgedrückte Wertigkeit der einzelnen Merkmalsgruppen als Grundlage einer Rechenoperation nehmen, an deren Ende die einzelfallgerechte Zumessungsentscheidung steht. Es gibt kein festes Ranggefüge von Merkmalsgruppen, das für alle Fallgestaltungen gleichermaßen verbindlich wäre; die Wertigkeit jeder Merkmalsgruppe ist stets variabel und muß in jedem Anwendungsfall auf Grund individueller Wertung festgelegt werden175• Eine numerische Vergleichsmöglichkeit besteht nicht, weil der Vergleich auf einer normativen Beurteilung beruht, der kein empirisches Äquivalent entspricht. Das mühselige Unterfangen, belastende Vorstrafen gegen entlastende Motive, schwere Tatfolgen gegen leichte Unachtsamkeit aufzuwägen, kann durch Vergabe unterschiedlicher Maximalpunktzahlen für einzelne Merkmalsgruppen nicht erleichtert werden. Ob die Vorstrafenbelastung größere Beachtung als die verständliche Tatmotivation verdient, läßt sich nur für den Einzelfall verbindlich entscheiden, und auch hier ist die Entscheidung nur in dem Maße verbindlich, wie ihre diskursive Begründung in der juristischen Meinungsbildung Anerkennung und Bestätigung findet. Das Fehlen eines empirischen Äquivalents für die unterschiedliche Wertigkeit von Merkmalsgruppen macht eine objektiv eindeutige Bestimmung mit absoluter Richtigkeitsgewähr auch im Einzelfall unmöglich. Das Problem, Schweine gegen Esel gerecht zu tauschen, kann durch die Einführung des Geldes gelöst werden, insofern Hassemer, Die Formalisierung, S. 86. Bruns, Leitfaden, S. 20. 174 So der übereinstimmende Tenor der ablehnenden Stellungnahmen zu den Versuchen einer rechnerischen Ermittlung des Strafmaßes, vgl. Bruns, Literaturbericht, S. 736 ff.; Händel, Besprechung, S. 664; Hassemer, S. 74, 90 ff.; von Hippel, Die Strafzumessung, S. 291 ff. 175 Zipf, Die Strafmaßrevision, S. 210. 172
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
der auf dem Markt jeweils erzielbare Erlös für Schweine und Esel eindeutige empirische Vergleichswerte abgibt. Anders bei der Gewichtung zumessungsrelevanter Merkmalsgruppen, deren Wertigkeit ausschließlich von der normativen Beurteilung abhängt. Gewiß läßt sich das Ergebnis der Beurteilung, wenn es einmal feststeht, in objektiver eindeutiger Weise etwa durch Punktzahlen ausdrücken; aber die numerische Benennung des Ergebnisses macht die Beurteilung nicht präziser, sondern verschleiert bloß deren normatives Zustandekommen. Bezeichnenderweise ist die Anwendbarkeit rechnerischer Zumessungskonzepte lediglich am Beispiel "typischer" Verkehrsdelikte belegt worden178 , die sich durch eine einfache tatbestandliche Struktur mit wenigen signifikanten Merkmalen, eine Uniformität der Tathandlungen und eine schematisierte, taxenmäßige Ausrichtung der Rechtsfolgeentscheidungen auszeichnen. Eine homogene Wertskala von Merkmalsgruppen besteht auch hier nicht; sie wird erst hergestellt, indem das "blutvoll Einmalige" des individuellen Tatgeschehens zugunsten einer schablonenhaften Entscheidungsfindung bewußt vernachlässigt und deshalb die Wertigkeit der einzelnen Merkmalsgruppen konstant gesetzt wird. Eine solche Unterwerfung der Strafzumessungsentscheidung unter das Bedürfnis nach einfach handhabbaren schematisierten Entscheidungsregeln, wie sie die Bußgeldbemessung im Ordnungswidrigkeitenrecht bestimmen, mag im Bereich der Trunkenheit im Verkehr und vielleicht noch bei einigen anderen Verkehrsdelikten hinnehmbar sein; auf die Strafzumessung generell übertragen läßt sich ein solches Konzept nicht177• Demnach bleibt es dabei: die Abwägung der Zumessungstatsachen und die Umsetzung der dabei gewonnenen relationalen Aussagen in die absolute Aussage über die zu verhängende Rechtsfolge beruhen auf normativen Beurteilungen, die sich in ihrem erkenntnisleitenden Interesse an Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit nicht präjudizieren oder auch nur mehr als durch Angabe der Beurteilungsschritte und der zu berücksichtigenden normativen Maßstäbe anleiten lassen. Dieser für die Zumessungsproblematik generell entwickelte Gedanke gilt uneingeschränkt für die Bagatellisierungsentscheidung im Zumessungszusammenhang, die sich von der Strafzumessungsentscheidung ja nur im Ergebnis, nicht aber in deren methodischem Zustandekommen unterscheidet. Auch die im Ergebnis zu einer Bagatellrechtsfolge gelangende Zumessungsentscheidung muß die einzelnen Fallaspekte nach dem Grad 178 von Linstow, Berechenbares Strafmaß, S. 143 ff.; Bruns, Literaturbericht, S. 739 meint, dies spreche durchschlagend gegen die Arbeit. 177 So auch Bruns, Literaturbericht, S. 739.
6.4 Unwägbarkeiten
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ihrer Merkmalstärke gewichten und die im Fall repräsentierten Merkmalsgruppen in ihrem Rangverhältnis zueinander bestimmen. Die Bagatellisierungswürdigkeit leitet sich nicht bereits aus der besonders intensiven Ausprägung eines mildernden Umstandes ab, sondern resultiert erst aus der geschilderten zweidimensionalen Bezugsetzung aller im Einzelfall relevanter Tatsachen zu Rangstufen graduell abgestufter Merkmalsgruppen, die ihrerseits in ihrer Rangfolge untereinander bestimmt werden müssen. Ein Fallaspekt für sich genommen kann eine Bagatellisierung nicht stützen. Der Zumessungsakt besteht notwendig in einer Saldierung des Gesamtbildes des tat- und täterrelevanten Geschehens; einem Ausschnitt des zur Beurteilung stehenden Lebensvorganges alleinige Bedeutung beizumessen hieße, die anderen Umstände außer Betracht zu lassen und damit die Beurteilungsgrundlage durch sektorale Verengung zu verfälschen. Gewiß können bestimmte Fallaspekte das Gesamtzumessungsbild derart ausschlaggebend prägen, daß demgegenüber die Bedeutung anderer Umstände verblaßt und diese zu einer quantite negligeable werden; wann dies der Fall ist, zeigt sich aber immer erst nach Abwägung aller Umstände im Einzelfall und ist vorher nicht gewußt178• Daß die Schadenswiedergutmachung vor offizieller Tatregistrierung ohne Rücksicht auf andere im Fall verwirklichte Umstände eine unbedingte Bagatellisierung rechtfertigtl7D , kann nicht als Gegenargument ins Feld geführt werden. Andere Umstände bleiben hier nur deshalb unberücksichtigt, weil die Schadenswiedergutmachung vor offizieller Tatregistrierung einen besonderen Strafaufhebungsgrund abgibt, der gesetzlich verankert werden müßte und das Fehlen einer solchen gesetzlichen Regelung dazu zwingt, die strafaufhebende Wirkung durch Bagatellisierung herbeizuführen. Materiell betrachtet handelt es sich dabei um keine Bagatellisierungsentscheidung im Zumessungszusammenhang, sondern um eine der Zumessungsebene vorgelagerte gesetzesvertretende Entscheidung über die mangelnde Strafbarkeitsbegründung. Die Frage, welche zumessungsrelevanten Umstände eine Bagatellisierung rechtfertigen, läßt sich deshalb korrekt nur so beantworten: keiner für sich alleine. Weil erst das kumulative Ineinandergreifen aller Umstände das Gesamtzumessungsbild formt, aus dem sich die Berechtigung zur Bagatellisierung ergibt, erweist sich die Unmöglichkeit der Benennung bagatellisierungsbedürftiger Umstände als zwangsläufige Folge der Komplexität des Zumessungsvorgangs. Der Versuch, einzelne entlastende Umstände bei einer bestimmten Intensität der Entlastungswirkung als bagatellisierungswürdig auszuweisen, ist von Anbeginn 178 179
Vgl. von Weber, Die richterliche Strafzumessung, S. 14. Vgl. oben Kap. 6.33, S. 293 ff.
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6. Geringfügigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten
zum Scheitern verurteilt, weil schon seine Prämisse falsch gestellt ist. Die Suche nach bagatellisierungswürdigen Umständen suggeriert fälschlich, daß ein Umstand für sich genommen vor der Bestimmung seines jeweiligen Stellenwerts im Einzelfall als bagatellisierungsrelevant ausgewiesen werden kann und verstellt dadurch den Blick auf die Notwendigkeit der Gesamtwürdigung aller im Fall repräsentierten Umstände, die alleine der Singularität des Einzelfalles gerecht zu werden vermag. Ebensowenig wie es möglich ist, im Vorhinein anzugeben, ob eine bestimmte Tatsache entlastend zu würdigen ist, ist es möglich, im Vorhinein zu bestimmen, welchen entlastenden Tatsachen wann eine Bagatellisierungswirkung beizumessen ist. Auch hier gilt die in anderem Zusammenhang entwickelte Einsicht, daß dem sozialen Geschehen keine inhärente Wert- oder Unwerthaftigkeit innewohnt, die das Geschehen unabänderlich kennzeichnet und daher in dem Geschehen vorgefunden werden könnte18o • Es ist keineswegs so, daß zur Bagatellisierung zwingende Zumessungstatsachen an sich existieren und nur von uns nicht deutlich erkannt werden können; es gibt schlechterdings keine Zumessungstatsachen, denen per se das Gütezeichen der Bagatellisierungswürdigkeit anhaftet. Nicht die Begrenztheit des menschlichen Erkenntnisvermögens, sondern bereits die Konstitution der Zumessungsmaterie schließt die Möglichkeit aus, die entscheidungs maßgeblichen Tatsachen danach aufzuteilen, ob sie als bagatellisierend oder bloß strafmindernd zu bewerten sind. Die Bewertung kann erst in der konkreten Entscheidungssituation vollzogen werden, in der es um die Beurteilung nicht eines tatsächlichen Umstandes, sondern eines Bündels der im Fall zusammentreffenden Umstände geht. Weil jeder zur Beurteilung stehende Fall prinzipiell einmalig ist, setzt die ergangene Zumessungsentscheidung kein Präjudiz für künftige Entscheidungen; die Ausrichtung der Zumessungsentscheidung an unbedingter Einzelfallgerechtigkeit verbietet es, aus der vorrangigen Berücksichtigung eines Umstandes in dem einen Fall auf dessen Vorrangigkeit in anderen Fällen zu schließen. Bei jeder Zu messungs entscheidung werden die Karten neu verteilt, und es wird neu bestimmt, welche Karte wieviel zählt und welcher Trumpf sticht. Nur die Spielregel, nicht der Spielverlauf selbst kann im Vorhinein festgelegt werden. Milderungsgründe welchen Intensitätsgrades vorliegen müssen und in welchem Maße diese Gründe andere Gründe überwiegen müssen, damit das Gesamtzumessungsbild die Grenzmarke der Bagatellisierungswürdigkeit erreicht, läßt sich darum generell nicht angeben. Bagatelldelikte im Zumessungszusammenhang sind keiner begrifflichen Erfassung der180
Oben Kap. 3.2, S. 145 f.
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gestalt zugänglich, daß der Begriff in einzelne exakte Bausteine zerlegt werden könnte181 • Welche Konfigurationen entlastender heller und belastender dunkler Bausteinchen in welchen Schattierungen und in welcher ihrer Wertigkeit entsprechenden Größe vorhanden sein müssen, damit das Mosaikbild des Zumessungsgeschehens dem Betrachter den Eindruck der Bagatellisierungswürdigkeit vermittelt, entzieht sich der globalen Vorbestimmung.
181 So auch Zipf, Die mangelnde Strafwürdigkeit, S. 24, für die Geringfügigkeit des Verschuldens.
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7. Zusammenfassende Thesen zur strafrechtsdogmatischen Realisierung des Bagatellprinzips Die methodische Betrachtung der Bagatelldelikte und der Möglichkeit ihrer systematischen Bestimmung hat eine Vielzahl von Gesichtspunkten zutage gefördert, die als übergreifende strafrechtsdogmatische Leitlinien für Gesetzgeber und Rechtsanwender gleichermaßen verpflichtend sind. Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Aus der Einsicht, daß die Kriminalstrafe als schärfste Waffe der
Sozialkontrolle zuletzt einzusetzen ist, resultiert die Forderung einer Begrenzung des Strafbarkeitsbereichs nach Maßgabe der Gebotenheit der Straffolge.
a) Die Maxime, nur wirklich strafbedürftige Verhaltensweisen unter Strafe zu stellen, läßt sich wegen der Unschärfe der begrifflich-abstrakten Fassung von Straftatbeständen nicht durchgängig verwirklichen. Weil die strafrechtliche Verbotsmaterie zwangsläufig auch nicht strafbedürftige Fallgestaltungen umfaßt, sind mit der Entscheidung für die strafrechtliche Schutzwürdigkeit eines Guts Art und Umfang der Gestaltung des Strafrechtsschutzes noch nicht ausgemacht. b) Das strafrechtliche Bagatellprinzip gibt die Bedingungen an, die erfüllt sein müssen, damit trotz grundsätzlicher Schutzwürdigkeit eines gesellschaftlich anerkannten Guts auf den Einsatz des Schutzinstruments der Kriminalstrafe verzichtet werden kann. Das Bagatellprinzip liefert damit das Rüstzeug für eine differenzierte Gestaltung der strafrechtlichen Schutztechnik, die auf eine Auslese strafunwürdiger Vorgänge sowohl auf der Ebene der strafrechtlichen Verbotsnormen wie auf derjenigen ihrer Durchsetzung mit Mitteln der Kriminalstrafe abzielt. 2. Bagatelldelikte sind diejenigen von einer strafrechtlichen Verbotsnorm umfaßten Verhaltensweisen, die keiner Ahndung durch Kriminalstrafe bedürfen. a) Für den strafrechtlichen Begriff des Bagatelldelikts ist die formelle Strafrechtswidrigkeit konstitutiv; der Rahmen der strafrechtlichen Verbotsmaterie, dem auch die geringfügigen Delikte unterfallen, wird allein durch das positive Recht abgesteckt.
7. Zusammenfassende Thesen
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b) Bagatelldelikte sind vom Ergebnis her durch die Gebotenheit einer bagatellarischen Reaktion bestimmt; wir definieren Straftaten als Bagatellen, wenn wir uns entschlossen haben, auf sie anders und milder als durch Verhängung von Kriminalstrafe zu reagieren. c) Die Voraussetzungen bagatellarischer Reaktion sind nicht beliebig, sondern spiegelbildlich durch die legitimen Voraussetzungen der Verhängung von Kriminalstrafe vorgezeichnet. 3. Ein formell strafrechtswidriges Verhalten kann sich auf der Ebene des Unrechtstatbestandes und auf derjenigen der Rechtsfolgenzumessung als geringfügig erweisen. Demgemäß müssen wir zwischen Bagatelldelikten im Funktionszusammenhang des Straftatsystems und Bagatelldelikten im Funktionszusammenhang der Strafzumessung unterscheiden. Die Zweiteilung der Kriterien mangelnder Strafbedürftigkeit wegen Geringfügigkeit danach, ob sie im Rahmen des Unrechtstatbestandes oder (erst) der Rechtsfolgenzumessung angebbar sind, ist die wichtigste Voraussetzung einer Rationalisierung des Geringfügigkeitsurteils. a) Im Zumessungszusammenhang geht es um eine umfassende Strafbedürftigkeitsbeurteilung aller tat- und täterbezogenen Umstände unter dem leitenden Interesse der ergebnisbezogen sachrichtigen Behandlung geringfügiger Fälle; im Straftatzusammenhang werden dagegen nur diejenigen Umstände als Grundlage der Strafbedürftigkeitsbestimmung zugelassen, die im Unrechtstatbestand vertypt sind und sich auf den Handlungs- bzw. Erfolgsunwert der Tat beziehen. Sowohl Handlungs- als auch Erfolgsunwert müssen geringfügig sein, um eine Bagatellisierung im Straftatzusammenhang zu stützen. b) Durch die Zweiteilung der Geringfügigkeitskriterien reduziert sich die Unsicherheit des Geringfügigkeitsurteils auf die Ungewißheit, die bei der Prüfung auslegungsbedürftiger Begriffe im Unrechtstatbestand und bei der strafrechtlichen Rechtsfolgenzumessung immer vorhanden ist. c) überlegungen zur Strafbedürftigkeit nach Zumessungsgesichtspunkten greüen erst Platz, wenn feststeht, daß nicht schon die Tat angesichts ihres geringen Unrechtsgehalts als bagatellarisch zu qualifizieren ist; die Feststellung, daß die Tat Bagatellunrecht verkörpert (dazu unten Ziffern 4. bis 8.), präkludiert die weitere Erörterung von Zumessungsgesichtspunkten (unten Ziffern 9. bis 13.). 4. Bagatelldelikte im Funktionszusammenhang des Straftatsystems sind durch die Geringfügigkeit des materiellen Unrechtsgehalts eines formell strafrechtswidrigen Verhaltens gekennzeichnet.
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7.
Zusammenfassende Thesen
a) Nicht schon die formelle Strafrechtswidrigkeit, vielmehr erst die materielle Wertwidrigkeit macht den gattungsspezifischen Unrechtsgehalt der Straftat aus. b) Im Gegensatz zur formellen Rechtswidrigkeit ist die materielle Wertwidrigkeit graduell abstufbar und erlaubt eine unterschiedliche Unrechtsbewertung gleichermaßen strafrechtswidriger Verhaltensweisen. c) Die Geringfügigkeit des Unrechts ist notwendige und hinreichende Bedingung für die Einstufung einer Straftat als Bagatelldelikt. Die Strafbegründungsschuld ist mangels Quantifizierbarkeit für die Geringfügigkeitsbeurteilung unmaßgeblich. Die Schuldzurechnung modifiziert das Ergebnis der quantifizierenden Unrechtsbetrachtung nicht und steuert ihm keine neuen Gesichtspunkte bei; die Kriterien, nach denen sich die Geringfügigkeitsbeurteilung im Straftatsystem bemißt, bleiben nach erfolgter Schuldzurechnung unverändert in dem Zuschnitt, der ihnen auf der Ebene des Unrechts gegeben worden ist. 5. Die strafbewehrten Normen des positiven Rechts verkörpern typ ischerweise erhebliches, gemeinhin strafbedürftiges Unrecht; die Annahme nicht strafbedürftigen Bagatellunrechts stützt sich darauf, daß der Unrechtsgehalt der unter einen Deliktstatbestand subsumierbaren Tat hinter der vom Tatbestand anvisierten deliktstypischen Erheblichkeit zurückbleibt. a) Die materielle Wertwidrigkeit einer Straftat läßt sich nicht unabhängig von den positiven Strafnormen apriorisch-wesensmäßig fassen; es gibt keine vorpositive Rechtsgüterwelt oder sozialethische Wertordnung, die das positive Recht auf bestimmte Inhalte des Verbrechensbegriffs festlegen könnte. b) Das positive Recht gibt in der begrifflich-abstrakten Umschreibung der Verbotsmaterie die Gesichtspunkte vor, nach denen sich die Strafrechtsrelevanz von Lebenssachverhalten bestimmt; die Deliktstatbestände des Gesetzes sind deshalb die alleinige Ausgangsbasis für die Bestimmung des Grades der Wertwidrigkeit eines strafrechtswidrigen Verhaltens. c) Das Gesetz intendiert in seinen Deliktsbeschreibungen die Erfassung nur erheblichen, gemeinhin strafbedürftigen Verhaltens, kann diese Zielvorgabe wegen der relativen Unbestimmtheit seiner sprachlichen Begriffe aber nicht vollständig erreichen, sondern nur typologisch anpeilen. Nicht der Deliktstatbestand, sondern der Deliktstypus, welcher eine Konkretion des Tatbestandes nach Maßgabe der Erheblichkeit und Strafbedürftigkeit darstellt, gibt den Maßstab für die Bestimmung von Bagatellunrecht ab.
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6. Nicht alle Deliktstatbestände können in einer Weise verwirklicht werden, die den Unrechtsgehalt der Tat als geringfügig erscheinen läßt. a) Verbrechenstatbestände sind bagatellfrei. Das gesellschaftliche Strafverlangen ist bei Verbrechen derart massiv und unbedingt, daß sich Überlegungen zur mangelnden Strafbedürftigkeit der verbrecherischen Tat von vornherein verbieten. b) Tötungsdelikte können - auch soweit sie als Vergehen eingestuft sind - kein Bagatellunrecht beinhalten. Die rechtswidrige Tötung verkörpert angesichts des gravierenden Erfolgsunwerts kein Bagatellunrecht; die Absolutheit des Rechtsguts Leben verbietet eine Quantifizierung des Unrechts. c) Bei qualifizierten Vergehenstatbeständen, deren Merkmale eine Steigerung der Unrechtsschwere ausdrücken, entfällt die Möglichkeit geringfügiger Unrechtsverwirklichung. Der Unrechtsgehalt einer Tat kann sich nur in Ansehung des typischen strafrechtlichen Unrechts als geringfügig erweisen; wo von vornherein atypisch gesteigertes Unrecht vorliegt, geht die Vergleichsbasis für Bagatellunrecht verloren. 7. Welches Verhalten deliktstypisch erhebliches und welches atypisch gemindertes, geringfügiges Unrecht verkörpert, zeigt sich erst in der einzelfallbezogenen Auslegung des Unrechtstatbestandes und ist abstrakt nicht gewußt. a) Es gibt keine den Deliktstatbeständen als solche entnehmbare typische Fälle, sondern immer nur Fälle, die sich bei der einzelfallbezogenen Auslegung der Tatbestände als deren typisierende Konkretion erweisen. b) Die den Tatbestand auf Einzelfälle hin typisierende Auslegung beruht auf einer vom Gesetz nicht voll determinierbaren, letztlich eigenverantwortlichen Wertentscheidung des Rechtsanwenders. c) Diese Wertentscheidung ist in dem Maße verbindlich, wie sie allgemein geteilten Werterfahrungen entspricht und in der juristischen Meinungsbildung Bestätigung findet; eine objektiv eindeutige Bestimmung der Inhalte erheblichen und bagatellarischen Strafunrechts ist nicht möglich. 8. Die atypische, zu einer Bagatellisierung Anlaß gebende Unrechtsminderung ist ein Grenzfall der Subsumierbarkeit unrechtsbegründender Merkmale eines Deliktstatbestandes. a) Rechtswidrigkeitsfeststellung und Unwertbestimmung kommen in einem gleichermaßen typologischen, die Bedeutung unrechts-
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begründender Merkmale im Hinblick auf gesellschaftliche Werterfahrungen aktualisierenden Verfahren zustande; bei der Unwertbestimmung werden dieselben typisierenden Auslegungsgesichtspunkte wiederaufgegriffen und nunmehr nach Strafbedürftigkeitsrelevanzen thematisiert, die bereits bei der Prüfung der Strafrechtswidrigkeit maßgeblich waren. b) Das typologische Verfahren der Rechtswidrigkeitsprüfung kontrastiert mit deren klassifikatorischem Ergebnis. Die Feststellung der Strafrechtswidrigkeit zwingt zu einer kategorialen EntwederOder-Entscheidung, die der nuancenreichen Subtilität und Komplexität sozialer Bewertungsgesichtspunkte nicht gerecht werden kann; erst die Einsicht, daß ein Verhalten, welches die Schwelle strafrechtlicher Mißbilligung nur unbedeutend überschreitet, eben aus diesem Grunde nicht strafbedürftig ist, macht die Folgen solch kategorialen Entscheidungszwanges erträglich. e) Bagatellunrecht ist im Grenzbereich der Subsumtion unrechtsbegründender Merkmale zur Straflosigkeit hin angesiedelt. Rechtlicher Dissens über die von sozialen Bewertungsgesichtspunkten abhängige Beurteilung der Strafrechtswidrigkeit impliziert Konsens über die Beurteilung mangelnder Strafbedürftigkeit. 9. Bagatelldelikte im Funktionszusammenhang der Strafzumessung zeichnen sich dadurch aus, daß der anzuwendende Strafrahmen eine einzelfallgerechte Reaktion nicht zuläßt, weil nach allgemeinen Zumessungsgesichtspunkten schon die Verhängung der gesetzlichen Mindeststrafe im Einzelfall unangemessen überhöht wäre. a) Ein strafrechtswidriges Verhalten, welches nicht im Unrechtsgehalt als bagatellarisch ausgewiesen ist, kann sich unter Zumessungsgesichtspunkten als geringfügig erweisen. Trotz deliktstypisch erheblichen Unrechtsgehalts kann bei allen als Vergehen strafbaren Handlungen nach Maßgabe individualisierender Zumessungsgesichtspunkte eine bagatellarische Behandlung angezeigt sein. b) Die untere Grenze des Strafrahmens schließt nur die Möglichkeit einer weiteren Minderung der Strafe, nicht hingegen die Möglichkeit des bagatellisierenden Strafverzichts aus. Die gesetzliche Mindesstrafe ist unter dem Vorbehalt der Strafbedürftigkeit für den Rechtsanwender verpflichtend; wenn sich das strafbare Verhalten als strafbedürftig erweist, dann - und nur dann - ist er an die Mindeststrafe gebunden. e) Der Zumessungsvorgang besteht in einem prinzipiell dreiaktigen Entscheidungsverfahren: nach der Ermittlung des anzuwendenden Strafrahmens und vor der konkreten Rechtsfolgenbemessung muß
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bestimmt werden, ob der Strafrahmen zumindest in seiner Untergrenze eine einzelfallgerechte Reaktion zuläßt. Die Feststellung der Verbindlichkeit des Strafrahmens im Einzelfall ist ein selbständiger Zumessungsschritt, der die Weichen dafür stellt, ob die Rechtsfolge dem Strafrahmen oder einern Spektrum bagatellarischer Rechtsfolgeanordnungen zu entnehmen ist. 10. Anders als im Unrechtszusammenhang ist es im Zumessungszusammenhang geboten, Bagatellisierungsmöglichkeiten mit unterschiedlichen Rechtsfolgeanordnungen zu eröffnen. a) Erweist sich ein strafrechtswidriges Verhalten im Unrechtsgehalt als geringfügig, kommt einzig eine unbedingte, folgenlose Bagatellisierung in Betracht; die Verneinung auch der materiell gedeuteten Tatbestandsmäßigkeit kann nur die Rechtsfolge "Null" nach sich ziehen. b) Erweist sich dagegen ein strafbares Verhalten im Zumessungszusammenhang als geringfügig, so ist damit nur vorentsch.ieden, daß die Rechtsfolge nicht der Wertskala des Strafrahmens, sondern einern näher einzugrenzenden Spektrum bagatellarischer Rechtsfolgeanordnungen zu entnehmen ist. Das bei der Zumessungsentscheidung maßgebende Interesse an unbedingter Einzelfallgerechtigkeit gebietet, nach dem Ausmaß der Geringfügigkeit abgestufte Rechtsfolgeanordnungen bereitzustellen. c) Mangelnde Strafbedürftigkeit im Zumessungszusammenhang ist nicht unbedingt identisch mit mangelnder Reaktionsbedürftigkeit. Der Bagatellbereich teilt sich in die kriminologischen Kategorien der nicht reaktionsbedürftigen Kleinstkriminalität und der Kleinkriminalität, die zwar keiner Ahndung durch Strafe, wohl aber einer nichtdiskriminierenden bagatellarischen Sanktion bedarf. 11. Die Prüfung der grundsätzlichen Bagatellisierungswürdigkeit im Zumessungszusammenhang richtet sich allein nach dem Ausmaß des Verschuldens. Die Wahl der bagatellarischen Rechtsfolge bemißt sich innerhalb des Schuldrahmens nach der spezialpräventiven Reaktionsbedürftigkeit. a) Die Geringfügigkeit des Verschuldens ist notwendige und hinreichende Bedingung für die Bagatellisierung im Zumessungszusammenhang; für die Berücksichtigung spezialpräventiver Belange ist erst bei der Bemessung der bagatellarischen Rechtsfolge Raum. b) Maßstab für die Schuldminderung im Zumessungszusammenhang sind diejenigen Umstände, die aus der reziprok zugestandenen Innensicht des Rechtstreuen als honorierungswürdig gelten; die Annahme geringfügigen Verschuldens ist angezeigt, wenn honorie-
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rungswürdige Umstände in einer solchen Intensität vorhanden sind, daß die Wiederherstellung des Rechtsfriedens einer symbolischen Normbekräftigung durch Kriminalstrafe nicht bedarf. e) Der Gesichtspunkt der Verhinderung von Folgetaten durch Allgemeinabschreckung ist kein tauglicher Maßstab für die strafrechtliche Rechtsfolgenbestimmung und hat daher bei der Bemessung der bagatellarischen Rechtsfolge außer Betracht zu bleiben. 12. Die Gesichtspunkte des Schuld ausgleichs und - innerhalb des Schuldrahmens - der spezialpräventiven Reaktionsbedürftigkeit geben die Inhalte möglicher Bagatellrechtsfolgen vor. a) Soweit zur Herstellung des Schuldausgleichs bzw. zur spezialpräventiven Einwirkung auf den Täter eine bagatellarische Sanktionierung geboten ist, ist bei der Verletzung von Individualrechtsgütern eine Wiedergutmachungsverpflichtung anzuordnen. Mit dem interpersonellen Schadensausgleich ist im Bagatellbereich dem gesellschaftlichen Schuldausgleichsverlangen Genüge getan; ein Bedürfnis nach darüber hinausgehender Sanktionierung kann sich nur aus spezialpräventiven Erfordernissen herleiten. b) Ist zur spezialpräventiven Einwirkung auf den Täter neben der Wiedergutmachungsverpflichtung eine zusätzliche Sanktionierung angezeigt, so kommt primär die Verhängung einer Zahlungsverpflichtung zugunsten der Staatskasse in Betracht. e) Die Zahlungsverpflichtung zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung und die Verpflichtung zur Erbringung nichtfinanzieller gemeinnütziger Leistungen sind nur zulässig, soweit es zur Delinquenzprophylaxe erforderlich ist, im Täter einen Lernprozeß bezüglich eines bestimmten sozialen Verhaltens in Gang zu setzen. Andere, noch intensiver in die Lebensgestaltung des Täters eingreifende Maßnahmen sind als Reaktion auf Bagatellkriminalität unverhältnismäßig. 13. Bagatellisierungsentscheidungen im Zumessungszusammenhang beruhen wie Strafzumessungsentscheidungen auf normativen Beurteilungen, die sich in ihrem erkenntnisleitenden Interesse an Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit nicht präjudizieren oder auch nur mehr als durch Angabe der Beurteilungsschritte und der zu berücksichtigenden normativen Maßstäbe inhaltlich anleiten lassen. a) Bagatellisierungsgründe unterscheiden sich von Strafmilderungsgründen durch die Intensität der Entlastungswirkung. Bei der Prüfung der Bagatellisierungswürdigkeit bedarf es zunächst der Bestimmung der be- oder entlastenden Bewertungsrichtung der
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zumessungsrelevanten Merkmale des Falles. Welche tatsächlichen Umstände entlastend zu bewerten sind, läßt sich generell nicht angeben; selbst Zumessungstatsachen, die sich - wenn überhaupt - nur mildernd auswirken können, sind nicht in jedem Fall entlastend zu bewerten, sondern nur unter bestimmten Randbedingungen, die sich nicht im Vorhinein fixieren lassen. b) Nach Einteilung der Fallmerkmale in be- oder entlastende Merkmalsgruppen müssen die Merkmale je einzeln nach dem Grad ihrer Merkmalstärke gewichtet und die im Fall repräsentierten Merkmalsgruppen in ihrem Rangverhältnis zueinander bestimmt werden. Auch diese Beurteilungsschritte entziehen sich der generellen Vorbestimmung; Merkmalstärke und Wertigkeit der Merkmalsgruppen sind in jedem Anwendungsfall auf Grund individueller Wertung festzulegen. c) Die unbegrenzte Vielzahl beliebig kombinierbarer zumessungsrelevanter Merkmale macht die Singularität des Zumessungssachverhalts aus; weil erst das kumulative Ineinandergreifen aller Fallmerkmale das Gesamtzumessungsbild formt, aus dem sich die Berechtigung zur Bagatellisierung ergibt, erweist sich die Unmöglichkeit der generellen Benennung bagatellisierungswürdiger Umstände als notwendige Folge der Komplexität des Zumessungsvorganges. 14. Aus der vorgestellten strafrechtsdogmatischen Systematik der Bagatelldelikte ergeben sich Empfehlungen für die gesetzliche Ausgestaltung der Reaktion auf Bagatelldelinquenz. a) Die strafrechtssystematische Betrachtung kann den kriminalpolitischen Diskurs um Angemessenheit und Praktikabilität gesetzlicher Regelungen nicht ersetzen, wohl aber aufzeigen, welche der diskutierten Regelungsmodelle eine den erarbeiteten Prinzipien entsprechende Entscheidung über Bagatellisierungswürdigkeit und bagatellarische Rechtsfolge erlauben, und welche die Eigenart des dogmatischen Bestimmungsvorganges von Bagatelldelikten verfälschen. Aus der begrenzten Zahl gesetzestechnischer Gestaltungsmöglichkeiten der Reaktion auf Bagatelldelinquenz lassen sich durch negative Auswahl diejenigen Regelungsmodelle eingrenzen, die eine dogmatisch regelgerechte Bagatellisierungspraxis gestatten. b) Welches gesetzliche Regelungsmodell angemessen ist, bemißt sich nicht allein nach seiner dogmatischen Stimmigkeit, sondern zugleich nach den sozialpsychologischen Folgewirkungen, die es auslöst. Eine abgeschwächte Reaktion gegenüber geringfügigen Taten läßt sich nur in dem Maße vertreten, wie die Gesellschaft dies zu tolerieren
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bereit ist und nicht zu Selbsthilfemaßnahmen gegenüber dem aus ihrem Empfinden zu schwach gemaßregelten Rechtsbrecher greift. Die rechtlich formalisierte Reaktion auf Bagatelldelinquenz muß zumindest insoweit sozialintegrativ wirken, als sie informelle soziale (über-)Reaktionen verhindert. e) Empfehlungen für die gesetzliche Ausgestaltung der Reaktion auf Bagatelldelinquenz lassen sich darum nur jeweils in Bezug auf eine bestimmte Gesellschaft mit einer je bestimmten Einstellung gegenüber abweichendem Verhalten aussprechen. Eine gesetzliche Regelung, die ihrer Zeit vorauseilend sich aus vermeintlich besserer Einsicht über das gesellschaftliche Reaktionsverlangen hinwegsetzte, verstärkte die Konflikte, die sie zu lösen bemüht ist. 15. Aus der Notwendigkeit, auf Bagatelldelikte anders als mit der für das Strafrecht typischen Reaktionsform Kriminalstrafe zu reagieren, resultiert nicht die Notwendigkeit, Bagatelldelikte tatbestandlich aus dem Strafrecht auszulagern. Trotz Nichtbestrafung von Bagatelldelikten müssen diese im Anwendungsbereich des Strafrechts verbleiben. a) Der legitime Anwendungsbereich des Strafrechts bemißt sich nach dem emotionalen gesellschaftlichen Strafwürdigkeitsempfinden. Auch die vom derzeit geltenden Strafrecht umfaßten geringfügigen Verhaltensweisen werden im Gegensatz zu Ordnungsverstößen von der Allgemeinheit nicht als bloße Nachlässigkeiten, sondern als symbolische Bedrohungen des gesellschaftlichen Grundkonsensus eingeschätzt, die Verunsicherung und Empörung auslösen. Eine rationale Gesetzung muß um der sozialintegrativen Funktion des Rechts willen dieser emotionalen Einschätzung Rechnung tragen, indem sie das Empörung und Verunsicherung auslösende Verhalten im Anwendungsbereich des Strafrechts beläßt und innerstrafrechtlich nach Maßgabe schutztechnischer Erforderlichkeit und Geeignetheit abgestufte Delinquenzreaktionen bereitstellt. Eine globale Entkriminalisierung von Bagatelldelikten etwa durch deren Herabstufung zu Ordnungswidrigkeiten überschritte die vom gesellschaftlichen Strafwürdigkeitsempfinden gesetzten Toleranzgrenzen und schüfe einen Rechtszustand, der schwer kontrollierbare gesellschaftliche Spontanreaktionen auszulösen geeignet ist. b) Zivilrechtliche Sanktionsverfahren für Bagatelldelikte etwa im Bereich des Kaufhausdiebstahls und der Betriebsdelinquenz kommen ebenfalls nicht in Betracht. Durch die Rücknahme des staatlichen Gewaltmonopols zugunsten einer sektoralen Privat- oder Gesellschaftsjustiz würden fragwürdige informelle Sanktionspraktiken von Rechts wegen gebilligt und ausgeweitet und rechtsstaat-
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liche justizförmige Verfahrensgarantien abgebaut; die Ersetzung der staatlichen durch eine private Sanktionskompetenz ist nur machbar in einem Konzept, welches den Verlust der generalpräventiven Wirkung des Strafrechts durch faktische Verschärfung der Reaktionen und Erschwerung der Verteidigungsmöglichkeiten ausgleicht. c) Eine Reaktion auf Bagatelldelikte, die systemstabilisierend und rechtsfriedensstiftend wirkt und zugleich täterorientierte Belange in einem rechtsstaatlich organisierten Verfahren berücksichtigt, läßt sich hier und heute nur innerstrafrechtlich sichern; nur unter der plakathaften Werttafel strafrechtlicher Verbotsnormen kann man sich leisten, auf Bagatelldelikte einzelfallgerecht zu reagieren, ohne einen Rückfall ins Faustrecht befürchten zu müssen. 16. Bagatelldelikte besitzen keine gattungsspezifische Besonderheit, die sich in materiellen - außerstrafrechtlichen oder innerstrafrechtlichen - Sondertatbeständen auf den Begrlif bringen ließe. Die Bagatellisierungswürdigkeit zeigt sich im Unrechts- wie im Zumessungszusammenhang erst in der einzelfall bezogenen Entscheidungssituation und ist einer inhaltlichen gesetzlichen Vorbestimmung durch deliktspezifische Sondertatbestände nicht zugänglich; nicht die geringfügigen Fälle, vielmehr bloß die Komponenten der Geringfügigkeitsbeurteilung können durch begrifflich-abstrakte Gesetzesmerkmale umschrieben werden. a) Eine materiellrechtliche Verselbständigung von Bagatelldelikten ist rein gesetzestechnisch nur sektoral bei Deliktstatbeständen mit zahlenmäßig graduierbaren Merkmalen wie dem wirtschaftlichen Wert des mit einem Eigentums- oder Vermögensdelikt erstrebten deliktischen Erfolges möglich. Die entscheidende Frage, bei welchem Wert die Schwelle zur Geringfügigkeit anzusiedeln ist, läßt sich jedoch nicht einmal dann befriedigend beantworten, wenn man den jeweiligen Geldwert und die bei dem jeweiligen Deliktstatbestand typischerweise zu erwartende Schadenshöhe in die Kalkulation einbezieht. Das Bestimmtheitsgebot verlangt eine exakte Grenzziehung, die sich bei minimaler über- oder Unterschreitung als unangemessen erweist; die Angemessenheit der Geringfügigkeitsbeurteilung für den Einzelfall geht verloren, sobald die Beurteilung durch verbindliche Vorgabe eines Grenzwerts präjudiziert wird. b) Entgegen ihres Anscheins ist eine feste Wertgrenze brüchig: je mehr man sich ihr nähert, um so fragwürdiger erweist sie sich. Um der einzelfallbezogenen Angemessenheit der Geringfügigkeitsbeurteilung willen müßte die Rechtsanwendung eine gesetzlich vorgegebene Wertgrenze flexibel auslegen und ihr so die Härte neh-
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men; damit würde das mit der gesetzlichen Wertgrenzenvorgabe verbundene Anliegen einer exakten Prognostizierbarkeit der Bagatellisierungsen tscheid ung preisgegeben. c) Die Schaffung wertgrenzenmäßig bestimmter strafrechtlicher oder außerstrafrechtlicher Bagatelltatbestände im Bereich der Eigentums- und Vennögensdelikte verbaute die Möglichkeit einer durchgängigen, konsistenten Sonderbehandlung von Bagatelldelikten und schüfe kasuistische Ungleichheiten sowie eine sachwidrige Zersplitterung der Reaktion auf Bagatelldelinquenz. 17. Als strafrechtsdogmatisch stimmig und sozialpsychologisch vertretbar erweist sich darum entweder eine gegenüber den geltenden Vorschriften modifizierte Regelung im Prozeßrecht oder eine kombinierte materiellrechtlich-prozessuale Lösung, die ein vereinfachtes Verfahren für Bagatelldelikte vorsieht, deren Bestimmung im Einzelfall nach einem in den Allgemeinen Teil des materiellen Strafrechts aufzunehmenden Schlüssel zu erfolgen hat. Wie im abschließenden Kapitel zu zeigen sein wird, ist letztere Regelungsmöglichkeit vorzugswürdig.
8. Der rechts politische Reformvorschlag Den erarbeiteten strafrechtssystematischen Einsichten läßt sich auf der Grundlage des derzeitigen Rechtszustandes nur unzureichend Geltung verschaffen; wiewohl die Ergebnisse der Untersuchung großteils in eine dogmatisch stimmige Anwendung des geltenden Rechts eingebracht werden können\ fordern sie in ihrer Gesamtheit doch eine Neugestaltung der gesetzlichen Bagatellisierungsregelung. Gewissermaßen als Nebenprodukt der strafrechtssystematischen Erörterungen sind die Schwachstellen der geltenden Bagatellbestimmungen aufgezeigt worden; auch ist der Rahmen, in dem sich die Suche nach alternativen Regelungen zu bewegen hat, durch negative Auslese der nicht in Betracht kommenden Kodifikationsmodelle abgesteckt. Was an den §§ 153, 153 a StPO änderungsbedürftig ist und welche Richtung die rechtspolitischen Reformüberlegungen einzuschlagen haben, um den dargelegten Inhalten des Bagatellprinzips angemessener Rechnung zu tragen, läßt sich in dem Maße präzise angeben, wie überhaupt über die Angemessenheit kriminalpolitischer Vorschläge präzise zu befinden ist. Die Erwartung, als Ergebnis der Arbeit einen kodifikationsfähigen Gesetzeswortlaut für "die neue" Bagatellisierungsregelung zu präsentieren, muß dagegen enttäuscht werden. Das strafrechtliche Bagatellprinzip methodisch zu erarbeiten und den kriminalpolitischen Rahmen zu seiner Verwirklichung abzustecken, ist eine Sache; die Umsetzung dieser Erkenntnisse in einen gesetzestechnisch durchkonstruierten Regelungsvorschlag ist eine grundlegend andere Sache. Beide Unterfangen bewegen sich auf völlig unterschiedlichen Argumentationsebenen: ersteres auf derjenigen der Bereitstellung systemstimmiger Lösungsmöglichkeiten für kriminalpolitische Zielvorgaben, letzteres auf derjenigen der eigenschöpferischen Auswahl der konkreten begrifflichen Gestaltungsform. Welche Formulierung methodische Einsichten am Besten zum Ausdruck bringt, läßt sich den Einsichten selbst nicht entnehmen; wie die Einzelfallentscheidung ist die Entscheidung für eine bestimmte Gesetzesfassung ein Akt autonomer, letztlich dezisionistischer Setzung, der methodisch zwar angeleitet, nicht aber vorab entschieden werden kann. Selbst wenn das Ergebnis der Arbeit sich auf eine einzige Regelungsmöglichkeit verdichtete, ließe sich der konkrete Wortlaut der 1
Vgl. etwa oben Kap. 4.2, S. 201.
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Regelung aus dem methodischen Ergebnis nicht einfach herausdestillieren: strafrechtsdogmatische und kriminalpolitische Einsichten gehen eben nicht ohne Rest in der Starrheit begrifflich festgelegter Gesetzesbestimmungen auf. Der hier zu unterbreitende rechtspolitische Reformvorschlag muß sich deshalb im Wesentlichen mit der Beurteilung bescheiden, welche der in Betracht bleibenden grundsätzlichen Regelungsalternativen mit welchen umrißartig zu skizzierenden Inhalten am ehesten geeignet ist, die sich aus dem methodischen Ertrag der Arbeit abzeichnenden kriminalpolitischen Leitvorstellungen einzulösen. Die prozessuale Lösung des geltenden Rechts eröffnet bei aller unbestreitbaren Problematik der rechtsstaatlichen Sicherung, des systematischen Standorts und der dogmatischen Konstruktion einen strafrechtsimmanenten Weg zu einer abgestuften Reaktion auf Bagatelldelinquenz ohne die diskriminierende Wirkung der Kriminalstrafela, der sich gegenüber Versuchen einer sondertatbestandlichen Verselbständigung von Bagatelldelikten als vorzugswürdig erweist; wiewohl der Gesetzgeber mit den unter tagespolitischem Zugzwang und ohne hinlängliche wissenschaftliche Anleitung geschaffenen! §§ 153, 153 a StPO nicht neben der Sache liegt, läßt sich nicht behaupten, daß er damit die Natur der Sache des Bagatellprinzips getroffen und rechtsstaatlich wie kriminalpolitisch angemessen umgesetzt hat, zumal der Gesetzgeber selbst die Erprobungsbedürftigkeit und damit den Versuchscharakter der Regelung betont3• Es wurde belegt, daß sich die geltende Regelung in vielerlei Hinsicht als rechtsstaatlich und kriminalpolitisch unbefriedigend erweist: Mit den §§ 153, 153 a StPO ist ein neuer Verfahrenstyp geschaffen, der Ermittlungs-, Entscheidungs- und Sanktionsverhängungsfunktion in der Person des Staatsanwalts vereinigt, die Einleitung und Durchführung auch des zur Sanktionierung führenden Verfahrens Opportunitätserwägungen unterstellt und durch die Entscheidungskompetenz des Staatsanwalts über die mangelnde Strafbedürftigkeit trotz begründeten Verdachts der Strafrechtswidrigkeit diesem die inhaltliche Vor-Auswahl des richterlichen Zuständigkeitsbereichs überläßt. Die Drucksituation des Beschuldigten bei der Abgabe der Zustimmungserklärung zu der in Aussicht genommenen Einstellung, das die Strafrechtspflege diskreditierende Feilschen um die Straffreiheit, die Gefahr sachwidriger Ermessensausübung, der Ausschluß inhaltlicher Rechtsmittelkontrolle, die auslagenrechtliche Gleichbehandlung der Einstellung ohne förmliche la Rieß, Gesamtreform, S. 71. Vgl. oben Kap. 1., S.49. 3 Vgl. schriftlicher Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtssachen, BT-Drucksache, 7/1261, S.28. 2
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Schuldfeststellung mit der Verurteilung, der justizinterne Machtzuwachs des Staatsanwalts zu Lasten des Richters und vieles andere mehr4 läßt die geltende Regelung als eine auf Dauer nicht akzeptable Notlösung erscheinen. Hier Abhilfe zu schaffen ist auf zweierlei unterschiedliche Weise möglich. Zum einen läßt sich unter Beibehaltung der rein prozessualen Konzeption des geltenden Rechts durch partielle Modifikation der gesetzlichen Bestimmungen und flankierende richtlinienmäßige Auslegungshilfen die Problematik der derzeitigen Regelung wenn nicht beseitigen, so doch entschärfen; zum anderen läßt sich eine grundsätzliche Umgestaltung der gesetzlichen Grundlage durch Schaffung einer materiellen Regelung im Allgemeinen Teil des StGB ins Auge fassen. Es liegt auf der Hand, daß die weiterreichende materiellrechtliche Konzeption wegen der damit verbundenen einschneidenden Änderungen eher geeignet ist, den vorgebrachten Einwänden Rechnung zu tragen. Eine rundweg überzeugende und unanfechtbare Patentlösung darf man freilich auch hier nicht erwarten; die Vielschichtigkeit des Bagatellproblems im Spannungsfeld zwischen justizökonomischem Vereinfachungs- und Beschleunigungsbedürfnis, general präventivem Rechtsgüterschutz und Einzelfallgerechtigkeit in einem rechtsstaatlich organisierten Verfahren macht eine gleichzeitige optimale Verwirklichung sämtlicher Zielvorgaben unmöglich5 • Zudem muß man dessen gewahr sein, daß auch eine materiellrechtliche Bagatellisierungsregelung, für die eine richterliche Alleinzuständigkeit begründet wird, einer sachgerechten Entscheidungspraxis nur begrenzt den Weg bereiten kann. Die Nöte der mit Massensachen überhäuften Strafjustiz entfalten eine Eigengesetzlichkeit, die sich an der Optimierung von Aufwand und Ertrag richtet; die Notwendigkeit, bei als geringfügig einzustufenden Delikten auch den Bearbeitungsaufwand gering zu halten, erzwingt eine weniger auf strikte Einhaltung gesetztlicher Vorschriften denn auf Effizienz bedachte Bagatellisierungspraxis, die die Unterschiede gesetzlicher Regelungen verwischt oder doch stark relativiert. Die auf Bagatellvorschriften beschränkte Gesetzesreform vermag eben nur auf die normativen Entscheidungskriterien, nicht auf die faktischen Handlungsbedingungen der Bagatellisierungspraxis Einfluß zu nehmen; solange die Strafjustiz ihre Effizienz durch möglichst hohe Erledigungen zu belegen hat und eine spürbare Entlastung durch beträchtliche Aufstockung von Personal- und Sachmitteln nicht in Sicht ist, muß jegliche Gesetzesreform im Bereich der Bagatellkriminalität Stückwerk bleiben8 • , Dazu näher oben Kap. 1.1, S. 57 ff., Kap. 1.2, S. 71 ff., 114 f. 5 So schon oben Kap. 0.2, S. 48. 8 Vgl. Kunz, Die Einstellung, S. 95. 21 Kunz
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8. Rechtspolitischer Vorschlag
Des ungeachtet läßt sich schwerlich prognostizieren, welche Innovationen auf gesetzlicher Ebene in einem so unmittelbar den Alltag der Strafjustiz prägenden Bereich zumutbar und verkraftbar sind. Einerseits wäre es um der gebotenen Kontinuität normativer Handlungsanleitungen willen nachteilig, eine Regelung, auf die sich die Rechtsanwendungspraxis soeben erst eingespielt hat, nunmehr durch eine völlig anders geartete zu ersetzen; andererseits wird eine als unzulänglich erkannte Regelung nicht dadurch erträglicher, daß man sie im Grundsatz beibehält und lediglich mit Randkorrekturen versieht. Erscheint eine modifizierte prozessuale Lösung als ein bloßes Kurieren an Symptomen, so läuft eine materiellrechtliche allgemeine Bagatellbestimmung Gefahr, das um der Funktionstüchtigkeit der Strafjustiz willen berechtigte Interesse des Justizapparates an Beibehaltung eingefahrener Entscheidungsmuster zu übergehen. Wie man hier Stellung bezieht, wird entscheidend davon abhängen, welche der aufgewiesenen Unzuträglichkeiten unter grundsätzlicher Beibehaltung des vom Gesetzgeber eingeschlagenen rein prozessualen Lösungsweges reparabel sind; aber selbst wenn wir dies wissen, kann die Stellungnahme nicht objektiv eindeutig ausfallen, hängt doch die Beurteilung letztendlich von der subjektiven Einschätzung darüber ab, ob wir "die übel, die wir haben, lieber ertragen (sollen), als zu unbekannten fliehn"7. 8.1 Die Unzulänglichkeit einer modifizierten prozessualen Bagatellbestimmung
Eine pragmatische Haltung, die sich darauf einstellt, mit dem vom Gesetzgeber gewählten prozessualen Lösungsweg zu leben, muß die aus der Unbestimmtheit der Bagatellisierungsvoraussetzungen und dem Opportunitätsermessen resultierenden Gefahren einer ungleichmäßigen und willkürlichen Handhabung der Einstellungsvoraussetzungen zu reduzieren trachten. Ein erster Schritt in diese Richtung ist die vorgeschlagene8 Abhebung des Opportunitätsermessens vom verwaltungsrechtlichen Ermessen und seine Deutung als Akt konkretisierender Rechtsanwendung. Wenn das die Opportunität charakterisierende Ermessen nicht einen Spielraum eröffnet, der die ungebundene Wahl zwischen mehreren gleich "richtigen" Entscheidungen ermöglicht, sondern nur Ausdruck der Notwendigkeit einer generell nicht präjudizierbaren Einzelfallbewertung ist, handelt es sich bei den Einstellungs7 So Sarstedt auf dem 52. Deutschen Juristentag, zitiert nach Meyer-Goßner, Abschaffung, S. 197. 8 Vgl. oben Kap. 1.24, S. 100 ff., Kap. 1.25, S. 107 ff.
8.1 Modifizierte prozessuale Lösung
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voraussetzungen der §§ 153, 153 a StPO der Sache nach um echte Verfahrensvoraussetzungen, bei deren Vorliegen eine Bagatellisierung zwingend zu ergehen hat9• Es empfiehlt sich, dieser Einsicht durch Abänderung des Gesetzeswortlauts der §§ 153, 153 a StPO in Muß-Bestimmungen Rechnung zu tragen. Darüber hinaus sind die Einstellungserfordernisse des Nichtbestehens eines öffentlichen Verfolgungsinteresses in § 153 StPO und der Beseitigung des öffentlichen Verfolgungsinteresses in § 153 a StPO ersatzlos zu streichen; da das öffentliche Interesse in diesem Zusammenhang nichts weiter als die sachgerechte Ausübung des Opportunitätsermessens meint10 , ist seine Erwähnung überflüssig und mißverständlich. Eine zweite unabdingbar erscheinende Modifikation ist die Einführung eines Begründungszwanges für sämtliche Bagatellisierungsentscheidungen. Wenn es keine andere Richtschnur zur Verifikation von Bagatellisierungsentscheidungen als diejenige diskutabler Begründung und argumentativer Überzeugung gibtl l , ist die Begründungsbedürftigkeit eine notwendige Bedingung der Legitimität und Akzeptabilität von Bagatellisierungsentscheidungen. Die gesetzlich statuierte Notwendigkeit einer Begründung übt auch ohne die Möglichkeit inhaltlicher Rechtsmittelkontrolle einen heilsamen Zwang auf den Rechtsanwender aus, den übrigen Verfahrensbeteiligten und sich selbst Rechenschaft über die Gebotenheit der Bagatellisierung abzulegen; insofern die Begründungsbedürftigkeit den Schein vermeintlich unproblematischer Subsumtion zerstört und den rechtsschöpferischen, innovatorischen Charakter von Bagatellisierungsentscheidungen unterstreicht, schafft sie die Voraussetzung für eine dogmatisch reflektiert und kriminalpolitisch zielbewußt betriebene Bagatellisierungspraxis12 • In einem dritten Schritt sind der Praxis durch Konturierung und Ausfüllung der Anwendungsvoraussetzungen der §§ 153, 153 a StPO Orientierungshilfen zu geben. Das im Gesetz erwähnte Merkmal der geringfügigen Schuld, welches nur einen Teilbereich der legitimen Bagatellisierungsvoraussetzungen abdeckt, ist durch eine umfassende Vorgabe der Kriterien der Geringfügigkeitsbeurteilung zu ersetzen. Wie weit die erarbeiteten methodischen Kriterien der Bagatellbestimmung im Gesetz begrifflich Ausdruck finden können, ohne daß die Anschaulichkeit und Prägnanz der Sprache leidet, ist eine offene Frage; eine perfektionistische Regelung, die sämtliche Gesichtspunkte in ihrer vollen DifferenzieVgl. oben Kap. 1.24 m. w. N. in Fußnoten 207 bis 209, 214. Vgl. oben Kap. 1.1 m. w. N. in Fußnote 68. U Oben Kap. 5.22, S. 235 ff., 248 ff. 12 Zur Fragwürdigkeit der derzeit üblichen begründungs losen Einstellung vgl. bereits Kunz, Die Einstellung, S. 32 f., 39. 9
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rung fixiert, wäre ebensowenig akzeptabel wie eine generalklauselartige Bestimmung, die Alles und Nichts besagt. Sachgerecht erscheint ein Mittelweg, der die wesentlichen methodischen Gesichtspunkte in knapper Form im Gesetz anspricht und im übrigen zur Auslegung auf Materialien bzw. Richtlinien verweist. In der Gesetzesnovelle Ausdruck finden müßten namentlich die erarbeiteten Bagatellisierungsmöglichkeiten sowohl aus Unrechts- als auch aus Zumessungsgesichtspunkten. Bei der Bagatellisierung aus Unrechtsgesichtspunkten empfiehlt sich der Hinweis, daß diese bei als Vergehen eingestuften Tötungsdelikten und bei qualifizierten Vergehenstatbeständen ausgeschlossen ist, bei Geringwertigkeit des mit einern gegen fremdes Vermögen gerichteten Vergehen verursachten oder erstrebten Schadens hingegen regelmäßig in Betracht zu ziehen ist. Als Maßstab der Bagatellisierung aus Unrechtsgesichtspunkten könnte angesprochen werden, daß der Unwertgehalt der Tat den im Vergehenstatbestand vorausgesetzten deliktstypischen Unwertgehalt deutlich unterschreiten muß. Bei der Bagatellisierung aus Zumessungsgesichtspunkten sollte deren ausschließliche Abhängigkeit von der Geringfügigkeit des (zumessungsrelevanten) Verschuldens erwähnt werden, verbunden mit der Auslegungshilfe, daß geringfügiges Verschulden anzunehmen ist, sofern im Einzelfall die Verhängung der gesetzlichen Mindesstrafe nicht mehr schuld angemessen wäre. Die Bagatellisierung nach Erfüllung von Auflagen bzw. Weisungen sollte in ihren Voraussetzungen dahin präzisiert werden, daß sie immer dann und nur dann Platz greift, wenn trotz geringer (Zumessungs-)Schuld zur Herstellung des Schuldausgleichs bzw. zur spezialpräventiven Einwirkung die Erbringung von Schadenswiedergutmachungsleistungen, Geldzahlungen an die Staatskasse oder eine gemeinnützige Einrichtung, von sonstigen gemeinnützigen Leistungen oder die Erfüllung von Unterhaltspflichten in einer bestimmten Höhe erforderlich und geeignet ist. Innerhalb des Auflagenkatalogs sollte eine Abstufung dergestalt erfolgen, daß bei der Verletzung von Individualrechtsgütern primär eine Schadenswiedergutmachungsverpflichtung und nur bei zwingendem spezialpräventivem Erfordernis daneben weitere Auflagen in Betracht kommen; die Subsidiarität der Zahlungsverpflichtung zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung und erst recht der Verpflichtung zur Erbringung sonstiger gemeinnütziger Leistungen könnte kenntlich gemacht werden durch den Hinweis, daß diese Auflagen ausnahmsweise zur Erzielung eines zur Delinquenzprophylaxe unumgänglichen sozialen Lernerfolges zulässig sind. Nicht nur die in dieser Arbeit entwickelte strafrechtsdogmatische Fundierung des Bagatellprinzips, auch die andernorts13 durchgeführte 13
Kunz, Die Einstellung.
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kriminalsoziologische Untersuchung des Bagatellisierungsverhaltens nach geltendem Recht erlaubt eine präzisierende Eingrenzung der gesetzlichen Bagatellisierungsvoraussetzungen. Die Rekonstruktion der Rechtswirklichkeit, die durch das von der derzeitigen Regelung nur vage angeleitete Bagatellisierungsverhalten geschaffen wird, wirft Licht auf die außergesetzlichen Entscheidungsmaßstäbe und erlaubt deren Prüfung im Hinblick auf Angemessenheit und Änderungsbedürftigkeit. Der Aufweis, wie das vom Gesetzgeber gewissermaßen ohne Gebrauchsanleitung gelieferte Bagatellisierungsinstrument faktisch gehandhabt wird, läßt Rückschlüsse darauf zu, welche Gebrauchsanweisung normativ vorgegeben werden muß, um die Entscheidungsinstanzen auf eine angemessene Bagatellisierungspraxis festzulegen. Obgleich nach geltendem Recht bei der Einstellung nach § 153 a Abs. 1 StPO die Höhe der Geldauflage nach oben nicht begrenzt ist, setzt sich die Staatsanwaltschaft hier einen relativ engen Rahmen, wobei insbesondere die Zurückhaltung bei der Festsetzung von Auflagen über 300 DM auffällig ist14• Um die als bedenklich erkannte Sanktionsverhängungskompetenz der Staatsanwaltschaft und die faktische Pression zum "Freikauf" von der Strafe im Ermittlungsverfahren in Grenzen zu halten, bietet es sich an, die weise Selbstbeschränkung der Staatsanwaltschaft bei der Festsetzung der Auflagenhöhe gesetzlich festzuschreiben und so die Problematik des § 153 a Abs. 1 StPO durch eine Begrenzung der gesetzlich zulässigen Geldauflage auf höchstens 300 DM de lege ferenda zu entschärfenl5 • Durch die Begrenzung der Höhe des Rechtsfolgenausspruchs ist zumindest ansatzweise sichergestellt, daß die staatsanwaltliche Bagatellisierung im Ermittlungsverfahren auf Fälle deutlich geringfügiger Art beschränkt bleibt; eine für die Ermittlungsbehörde bequeme "Bereinigung" eminent sozialschädlicher, aber beweisschwieriger Vorgänge durch die staatsanwaltliche Verfügung horrender Bußzahlungen, wie sie in Presseveröffentlichungen bekannt wurdenl8 , wird damit - insbesondere in Verbindung mit dem im Anschluß präsentierten Vorschlag - ausgeschlossen. Eine Limitierung der gerichtlich festzusetzenden Geldauflagenhöhe erscheint dagegen nicht sachgerecht. Die Einführung eines Anklagezwanges in Fällen, deren Reaktionsbedürftigkeit sich über der vorgeschlagenen staatsanwaltlichen 14 Nach meiner Untersuchung wurde in nur 8,2 % aller staatsanwaltlichen Geldauflagenfestsetzungen diese Wertgrenze überschritten, näher dazu Kunz, Die Einstellung, S. 74 f., 104. 15 So bereits Kunz, Die Einstellung, S. 104; Vorschlag neuerdings aufgegriffen von Weigend, Strafzumessung, S.25. Bei Anhebung der Auflagenobergrenze auf 500 DM würden ohnedies 98 % aller von der Praxis verhängten Auflagen umfaßt, vgl. Hertwig, Die Einstellung, S. 130. 18 Vgl. oben Kap. 1.1 mit Nachweisen in Fußnote 80.
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8. Rechtspolitischer Vorschlag
Geldauflagengrenze bewegt, kehrt hinlänglich den Ausnahmecharakter und die besondere, regelmäßig im Rahmen der mündlichen Hauptverhandlung zu überprüfende Begründungsbedürftigkeit einer Bagatellisierung solcher Fälle hervor. Eine pauschale Begrenzung auch der gerichtlich zu verhängenden Geldauflage verhinderte hingegen eine einzelfallgerechte Reaktion, wo die Höchstgrenze der Geldauflage nicht mehr und die Kriminalstrafe noch nicht angemessen ist und verkürzte die nach geltendem Recht bestehende, in vollem Umfang kriminalpolitisch angezeigte Entkriminalisierungsmöglichkeit. Einschlägige empirische Untersuchungen kommen übereinstimmend zu dem Befund, daß Bagatellisierungen trotz zum Teil eminent hohen deliktisch verursachten Schadens vorgenommen werden; nach meiner Untersuchung beläuft sich die durchschnittliche Schadenshöhe bei den von der Staatsanwaltschaft nach § 153 Abs. 1 StPO erledigten Verfahren auf 421,87 DM, bei den gemäß § 153 a Abs. 1 StPO abgeschlossenen Verfahren auf 984,69 DM17 • Diese von allen Richtwerten abweichenden1A Bagatellisierungen ungeachtet einer beträchtlichen Schadenshöhe sind jedenfalls im Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte unerträglich. Obgleich die wirtschaftliche Geringwertigkeit des mit einem Eigentums- bzw. Vermögensdelikt erlangten oder erstrebten deliktischen Erfolgs nur ein Maßstab unter mehreren zu berücksichtigenden Indikatoren für die Bagatellisierung darstellt, die Bagatellisierung also ungeachtet eines erheblichen Schadens aus anderen Gesichtspunkten geboten sein kann, besteht Grund zu der Annahme, daß die Praxis der Schadenshöhe insbesondere bei der Bagatellisierung von Unterschlagungen und Wirtschaftsstraftaten überhaupt keine Beachtung schenkt19 • Da eine gesetzliche Festsetzung einer Geringwertigkeitsgrenze als Bagatellisierungsvoraussetzung nicht in Betracht kommt20 , bietet sich zur überprüfung der Sachhaltigkeit von Einstellungsentscheidungen trotz hohen Schadens eine institutionalisierte Kontrolle jener Entscheidungen derart an, daß bei überschreitung einer etwa auf 500 DM festzulegenden Toleranzgrenze nicht mehr die Staatsanwaltschaft, sondern nur das 17 Kunz, Die Einstellung, S. 70 f.; ähnliche Befunde bei Blankenburg u. a., Die Staatsanwaltschaft, S.l11; Ahrens, Die Einstellung, S.147 ff.; Sessar, zitiert nach Albrecht, Bericht, S. 1095; Hertwig, Die Einstellung, S. 165 ff., 254. 18 Nachweise in Kap. 5.21 Fußnote 67 sowie bei Kausch, Der Staatsanwalt, S. 195 ff., 200 f. 19 Nach meiner Untersuchung liegt die Schadenshöhe der bagatellisierten Unterschlagungen und Wirtschaftstaten in allen Fällen im Bereich zwischen 100 DM und 50000 DM (!), vgl. Kunz, Die Einstellung, S.73; nach Sessar, zitiert nach Albrecht, Bericht, S. 1095 beträgt die durchschnittliche Schadenshöhe von wegen Geringfügigkeit eingestellter Unterschlagungen 1224 DM. 20 Vgl. oben Kap. 5.21, S. 227 f.
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Gericht zur Einstellung wegen Geringfügigkeit befugt ist 21 • Die richterliche, regelmäßig in der mündlichen Hauptverhandlung ergehende Entscheidung erscheint unabdingbar; die nach geltendem Recht ohnehin erforderliche gerichtliche Zustimmung und die geforderte Begründungsbedürftigkeit auch der staatsanwaltlichen Einstellung wegen Geringfügigkeit sind nicht ausreichend, um den Ausnahmecharakter und den verstärkten Begründungszwang von Bagatellisierungsentscheidungen trotz hohen Schadens deutlich zu machen. Schließlich sind bundes einheitliche BagatellisierungsrichtZinien zu erlassen und in den RiStBV zu verankern. In die Richtlinien aufzunehmen sind diejenigen methodischen Gesichtspunkte, die sich einer gesetzlichen Fixierung sperren. Insbesondere müssen deliktspezifische Schadensobergrenzen in die Richtlinien eingehen, bei deren Unterschreitung eine Bagatellisierung unter dem Gesichtspunkt der Geringwertigkeit des mit einem Eigentums- bzw. Vermögensdelikt erlangten oder erstrebten Schadens in Betracht zu ziehen ist; die Wertgrenzen sind unter Berücksichtigung des bei den einzelnen Delikten typischerweise zu erwartenden Schadensniveaus und unter regelmäßiger Anpassung an die jeweilige Geldwertentwicklung als unverbindliches Entscheidungsrichtmaß vorzugeben22 • Die verschiedentlich auf regionaler Ebene erlassenen ministeriellen oder behördlichen Anweisungen zur Handhabung der Einstellung wegen Geringfügigkeit sind wegen ihrer inhaltlichen Abweichungen einer überregional gleichförmigen Bagatellisierungspraxis abträglich23 und deshalb durch bundeseinheitliche Richtlinien zu ersetzen. Diese Vorschläge offenbaren, wie beschränkt der kriminalpolitische Handlungsspielraum unter grundsätzlicher Beibehaltung der vom geltenden Recht gewählten prozessualen Einstellungslösung ist. Gewiß läßt sich punktuell an weitergehende Modifikationen denken, etwa indem unter Abänderung von § 172 Abs. 2 Satz 3 StPO eine inhaltliche Rechtsmi ttelkontrolle staatsanwaltlicher Einstell ungsverfügungen wegen Geringfügigkeit eröffnet und die staatsanwaltliche Ein21 So bereits Kunz, Die Einstellung, S. 103. Die vorgeschlagene Schadensgrenze von 500 DM erscheint justizökonomisch sachgerecht, insofern sie nach meiner Untersuchung in nur 6,4 Ofo aller bagatellisierten Fälle erreicht oder überschritten wird und damit der mit dem Vorschlag verbundene verfahrensmäßige Mehraufwand nicht entscheidend zu Buche schlägt; andererseits gewährleistet sie, daß "spektakuläre" Fälle der gerichtlichen Entscheidungszuständigkeit vorbehalten bleiben. 22 Oben Kap. 5.21, S.228; dazu bereits Kunz, Die Einstellung, S. 104 ff., wo namentlich vorgeschlagen wird, für den Bereich des einfachen Diebstahls eine einheitliche Schadensobergrenze festzulegen. 23 Oben Kap. 1.1 mit Nachweisen in Fußnote 60. Neuerdings auch Rieß, Statistische Beiträge, S.283. '
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stellungsmöglichkeit ohne gerichtliche Zustimmung (§§ 153 Abs. 1 Satz 2, 153 a Abs. 1 Satz 6 StPO) abgeschafft wird. Beide denkmöglichen Vorschläge werden mit Bedacht nicht aufgegriffen: eine Rechtsmittelkontrolle wäre kaum praktikabel und liefe angesichts der beschränkten überprüfbarkeit von Bagatellisierungsentscheidungen in tatsächlicher Hinsicht weitgehend leer 24 ; der unterbreitete Regelungsvorschlag sieht bei Geringwertigkeit des Vermögensschadens nur die unbedingte, folgenlose staatsanwaltliche Bagatellisierung ohne gerichtliche Mitwirkung vor und begegnet deshalb im Gegensatz zum geltenden Recht, das die Sanktionsverhängung ohne gerichtliche Zustimmung ermöglicht, weniger durchgreifenden Bedenken25 • Trotz solcher in Randbereichen möglichen Korrekturen lassen sich drei aus dem Grundsatzentscheid für eine prozessuale Lösung folgende Konsequenzen nicht vermeiden: erstens die Zubilligung einer staatsanwaltlichen Bagatellisierungs- und Sanktionsverhängungsbefugnis im Ermittlungsverfahren; zweitens die Zulässigkeit auch der sanktionierenden Bagatellisierung schon bei bloßem Tatverdacht; und schließlich drittens die Entscheidung im Vor- und Zwischenverfahren regelmäßig nach Aktenlage. Wie immer die staatsanwaltliche Entscheidungs- und Sanktionsverhängungskompetenz im Bagatellbereich restringiert werden mag durch Abhängigkeit von der Zustimmung des Beschuldigten und des Gerichts, durch Einführung einer Rechtsmittelkontrolle, durch Verpflichtung zur Entscheidungsbegründung, durch Präzisierung der Bagatellisierungsvoraussetzungen oder durch Vorgabe von Schadens- und Auflagengrenzen - aufheben läßt sie sich im Rahmen eines prozessualen Reaktionsmodells prinzipiell nicht. Die prozessuale Lösung zehrt von der Möglichkeit, die überwiegende Mehrzahl bagatellisierungswürdiger Fälle schon im Ermittlungsverfahren zu selektieren und dadurch die Gerichte zu entlasten. Der tragende Gesichtspunkt des justizökonomischen Entlastungseffekts wird im prozessualen Modell durch die staatsanwaltliche Verfahrensbeendigung im Vorverfahren realisiert28 ; die 24 So auch Jung, Die Stellung, S. 1166; Rieß, Die Zukunft, S.9 plädiert auch de lege ferenda für den Ausschluß des Klageerzwingungsverfahrens bei Einstellungen mit gerichtlicher Zustimmung. 25 Der Ausschluß richterlicher Mitwirkung nur bei der unbedingten Bagatellisierung resultiert zwingend aus der methodischen Einsicht, daß die Geringwertigkeit des Vermögensschadens zur Annahme von Bagatellunrecht führt und die Geringfügigkeit des Unrechts eine unbedingte Bagatellisierung erzwingt. 28 Nach RieB, Statistische Beiträge, S.307, 316 ergingen 1978 69196 staatsanwaltliche und 41831 gerichtliche Bagatellisierungsentscheidungen; die immense Bedeutung der staatsanwaltlichen Einstellung wegen Geringfügigkeit erhellt auch daraus, daß von sämtlichen staatsanwaltlichen Verfahrenseinstellungen 21 % nach § 153 a Abs. 1 stPO und 18,2 % nach § 153 Abs. 1 StPO erfolgten. Neuere Daten bei Rieß, Entwicklung, S. 93 ff.
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staatsanwaltliche Bagatellisierungskompetenz unter Beibehaltung einer prozessualen Bagatellreaktion aufzuheben hieße, das prozessuale Reaktionsmodell seines spezifischen Entlastungsinstruments zu berauben. Schon gesetzessystematisch erzwingt eine wie immer geartete rein prozessuale Bagatellisierungsregelung die Entscheidungskompetenz des Staatsanwalts. Sollen Geringfügigkeitsbeurteilungen dem Gericht vorbehalten bleiben, so ist im Prozeßrecht nur für die Regelung der Zuständigkeit und der verfahrensmäßigen Abwicklung, nicht aber für eine inhaltliche Anleitung von Bagatellisierungsentscheidungen Raum; da es sich bei Bagatellisierungen inhaltlich um materielle, dem Prozeßrecht an sich fremde Sachentscheidungen über die mangelnde Strafbedürftigkeit handelt, ist bei einem Votum für die alleinige gerichtliche Entscheidungskompetenz die Einführung einer materiellrechtlichen Bagatellisierungsregelung zwingend. Nur solange Bagatellisierungen primär dem Funktionsbereich der Staatsanwaltschaft zugeordnet sind, kann auf eine materielle Regelung der Geringfügigkeitsbeurteilung verzichtet werden, insofern die materiellen Bagatellisierungsvoraussetzungen sich umformulieren lassen in prozessuale Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Durchbrechung des Legalitätsprinzips, das als Adressaten die Anklagebehörde und als Normbefehl die Anklageerhebung zum Inhalt hatZ7 • Weil die inhaltliche Anleitung von Geringfügigkeitsbeurteilungen nur durch solche prozessualen Vorschriften möglich ist, die Ausnahmen von der staatsanwaltlichen Verfolgungs- und Anklagepflicht statuieren, steht und fällt die Angemessenheit einer rein prozessualen Bagatellisierungsregelung mit der Angemessenheit der Bagatellisierungskompetenz des Staatsanwalts. Sicher hat die staatsanwaltliche Bagatellisierungskompetenz wesentlichen Anteil an der justizförmigen Bewältigung der massenhaften Kleinkriminalität und damit an der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege insgesamt28 ; aber ebenso sicher werden damit bedeutende Einbußen an formeller und materieller Rechtsstaatlichkeit erkauft 29 • Auch ist die durch hohe Erledigungsquoten ausgewiesene Effizienz angesichts der faktischen Drucksituation des Beschuldigten bei Abgabe der 27 Die gerichtliche Bagatellisierungskompetenz kann demgemäß in einem rein prozessualen Reaktionsmodell immer nur eine subsidiäre sein, die nach Anklageerhebung als Auffangmöglichkeit solcher Fälle in Betracht kommt, deren Bagatellisierungswürdigkeit die Staatsanwaltschaft im Vorverfahren nicht erkannt hat oder nicht erkennen konnte; in ihren inhaltlichen Voraussetzungen muß sich die gerichtliche Geringfügigkeitsbeurteilung aus der staatsanwaltlichen ableiten gemäß der Vorstellung, daß die primär den Staatsanwalt betreffenden Ausnahmen vom Legalitätsprinzip in den gerichtlichen Bereich hineinwirken, vgl. Rieß, Die Zukunft, S. 3. 28 Dazu eingehend Kunz, Die Einstellung, S. 27 ff. 29 Oben Kap. 1.1, 1.2.
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8. Rechtspolitischer Vorschlag
Zustimmungserklärung kein Indikator für die Bereitschaft der Betroffenen, die staatsanwaltliche Entscheidung wirklich zu akzeptieren, weil selbst unschuldig Betroffene aus verständlichen Gründen die Versagung der Zustimmung scheuen30 • Womöglich läßt sich durch ein - ungleich rechtsstaatlicheres - vereinfachtes gerichtliches Bagatellisierungsverfahren ein vergleichbarer justizökonomischer Entlastungseffekt erzielen, und womöglich muß gar der begrenzte Mehraufwand einer vereinfachten gerichtlichen Entscheidungsprozedur hingenommen werden, insofern hier anders als beim staatsanwaltlichen Bagatellisierungsverfahren die Anliegen der Prozeßökonomie und der Rechtsstaatlichkeit eine weitreichende gemeinsame Wegstrecke haben31 • Wegen des Gewichts derwenn auch nicht den Grad der Verfassungswidrigkeit erreichenden rechtsstaatlichen Bedenken gegen die staatsanwaltliche Entscheidungsund Sanktionsverhängungsbefugnis im Bagatellbereich muß deren justizökonomische Erfolgsbilanz als Pyrrhussieg der Strafjustiz3! erscheinen. 30 Oben Kap. 1.1, S. 61 ff. Abhilfe wäre hier nur durch Einführung eines grundsätzlichen Verschlechterungsverbots dergestalt möglich, daß das vom Staatsanwalt mit Zustimmung des Richters abgegebene Auflagenangebot bei Versagung der Zustimmung des Beschuldigten zugleich die Obergrenze der zu verhängenden Strafe darstellen würde; dieser von Weigend, Strafzumessung, S. 29 unterbreitete Vorschlag ist nicht praxisgerecht, weil Staatsanwalt und Richter sich mit Grund hüten werden, im Stadium vorläufiger Tatbewertung eine sie später bindende Erklärung abzugeben. Zudem ist der Vorschlag mit der generellen Einschränkung des Verschlechterungsverbots bei summarischer Sachaufklärung unvereinbar. 81 Davon gehen auch Baumann u. a., AE-Novelle zur Strafprozeßordnung aus, die unter Abschaffung von § 153 a stPO ein gerichtliches Verfahren mit nichtöffentlicher Hauptverhandlung fordern, vgl. Begründung, S.6: "So ist § 153 a StPO zwar ein praktikables Instrument zur Entlastung der Strafverfolgungsorgane. Unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten aber ist diese Vorschrift überaus bedenklich, weil sie in weiten Bereichen der Strafrechtspflege die Entscheidungsmacht ganz oder überwiegend von der Rechtsprechung auf die Staatsanwaltschaft verlagert, weil sie Rechtsfolgen an mindere Verdachtsgrade knüpft, weil sie zu einer Kommerzialisierung der Strafrechtspflege führt und weil sie den Beschuldigten durch das Druckmittel einer drohenden Kriminalstrafe einer nötigungsähnlichen Pression aussetzt." Uneingeschränkt zustimmend Engels/Frister, Nichtöffentliches Verfahren, S. 112. Ähnlich Naucke, Gutachten, D 114 f. Hertwig, Die Einstellung, S. 269 f. lehnt ein gerichtliches Bagatellisierungsverfahren im wesentlichen deshalb ab, weil seine Erhebung belegt, daß die richterliche Handhabung der §§ 153, 153 a StPO weit mehr Anlaß zur Beanstandung bietet als die staatsanwaltliche. Dieser Befund liefert indes Munition gegen die geltende Regelung, nicht aber gegen die richterliche Entscheidungszuständigkeit in einem modifizierten Bagatellisierungsverfahren, welches sich weniger als "Notbremse" bei Beweisschwierigkeiten eignet; dazu im Folgenden ausführlich. 82 Dieses Wort stammt von Eser, Das rechtliche Gehör, S.666 und ist dort auf die nicht angefochtenen Strafbefehle gemünzt; vgl. dazu auch Hünerfeld, Kleinkriminalität, S.923. Freilich geht der generelle Trend auch jenseits des Bagatellbereichs eindeutig in Richtung auf eine Aufgabenverschiebung vom Richter zum Staatsanwalt, dazu eingehend Kunz, Die Verdrängung, S. 39 ff.
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Dieser Eindruck vertieft sich, wenn man die weiteren aus dem Grundsatzentscheid für eine rein prozessuale Bagatellisierungsregelung folgenden Konsequenzen bedenkt. Wenn in einem prozessualen Reaktionsmodell die staatsanwaltliche Bagatellisierungsbefugnis unabdingbar ist, muß selbst die sanktionisierende Bagatellisierung zwingend ohne förmlichen Schuldnachweis ergehen. Für staatsanwaltliche Einstellungen wegen Geringfügigkeit ergibt sich dies schon daraus, daß die Staatsanwaltschaft gar nicht zu einer förmlichen Schuldfeststellung befugt ist. Aber auch mit gerichtlichen Einstellungsentscheidungen wegen Geringfügigkeit wird kein förmlicher Schuldnachweis erbracht, leiten sich doch die inhaltlichen Voraussetzungen der gerichtlichen Geringfügigkeitsbeurteilung in einem prozessualen Reaktionsmodell notwendig aus den staatsanwaltlichen Beurteilungsmaßstäben ab und sind mit diesen deckungsgleich33 • Weil damit nicht die Schuldfeststellung, sondern die einverständliche Bereitschaft der Verfahrensbeteiligten zur vorzeitigen Verfahrensbeendigung als alleinige Legitimationsgrundlage prozessualer Bagatellisierungsentscheidungen dientM, rückt die prozessuale Einstellungslösung systembedingt in bedenkliche Nähe zu einem pleaguilty-Verfahren, das ein deklaratorisches Schuldeingeständnis zum Anlaß für den Verzicht auf eine objektive Überprüfung des tatsächlichen Verschuldens nimmt und damit gegen das Schuldprinzip verstößt35 • Unverkennbar ist freilich der Unterschied, daß zur Vermeidung eines Verstoßes gegen das verfassungsmäßig garantierte Schuldprinzip Ermittlungen über die Wahrscheinlichkeit bzw. Hinlänglichkeit des Tatverdachts angestellt werden müssen. Aber das Ergebnis dieser Ermittlungen erschöpft sich in der Feststellung eines bloßen Verdachts, der nicht als Rechtfertigung eines Strafverzichts - schon gar nicht verbunden mit einer Sanktionsverhängung - herangezogen werden kann; wie beim plea-guilty-Verfahren wird das Defizit an größtmöglicher Wahrheitserforschung durch die Zustimmung des Betroffenen kompensiert. Dem läßt sich nur abhelfen, indem die Bagatellisierung mit einer förmlichen Schuldfeststellung verbunden wird, die allein durch das Gericht ausgesprochen werden kann. Und schließlich krankt ein rein prozessuales Bagatellisierungskonzept daran, daß die Entscheidungsfindung jedenfalls im Vor-, aber auch im Zwischenverfahren in aller Regel nach Aktenlage erfolgen muß. Die Arbeitspensen des Staatsanwalts und des Richters im Vorfeld der Hauptverhandlung erzwingen im Bereich der massenhaften Kleinkriminalität den Verzicht auf eigene Sachaufklärung und die Beschrän33 34
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Vgl. oben in diesem Kapitel Fußnote 27. Dazu oben Kap. 1.21, S. 74. Vgl. oben Kap. 1.23 Fußnoten 90 und 141.
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kung auf eine rechtsfolgenorientierte Aufbereitung des von der Polizei vorstrukturierten Akteninhalts 3e • Nach allem, was wir über die Wiedergabeungenauigkeit von Akten, die in der Verkürzung verzeichnende Sachdarstellung, die wenig authentischen Vernehmungs protokolle und die perspektivische Rekonstruktion des Geschehensablaufs vom polizeilichen Ermittlungsergebnis her wissen37, ist der Akteninhalt als alleinige Informationsgrundlage für Bagatellisierungsentscheidungen typischerweise ungeeignet. Indem Staatsanwalt und Richter sich ihre Vorstellung von Tatgeschehen und Täterpersönlichkeit ausschließlich auf Grund des Akteninhalts bilden, machen sie sich die in den Akten enthaltene Sichtweise unüberprüft zu eigen und schreiben diese in ihren Entscheidungen fest38 • Dem durch eine Verstärkung der staatsanwaltlichen Ermittlungstätigkeit abzuhelfen, ist solange unrealistisch, wie eine beträchtliche Aufstockung des Stellenplans nicht in Sicht ist; bei der gegebenen Arbeitsbelastung der Staatsanwälte dem einzelnen Sachbearbeiter mehr Ermittlungsinitiative bei Kleinkriminalität abzuverlangen, wäre unzumutbar 38 • Ein authentischer eigener Eindruck von Tatgeschehen und Täterpersönlichkeit, der als Grundlage der Geringfügigkeitsbeurteilung in der Regel unerläßlich ist, läßt sich mittelfristig nur durch mündliche Verhandlung erzielen, die auf gerichtlicher Ebene lokalisiert werden muß. Der Aufwand einer mündlichen gerichtlichen Verhandlung ist im Vergleich zu der auf unabsehbare Zeit nicht einlösbaren Forderung nach staatsanwaltlicher Ermittlungstätigkeit im Bagatellbereich gering. Der Einwand, ein mündliches Verfahren für Fälle, in denen eine Bagatellisierung in Betracht komme, sei unangemessen, weil auch das zur Verhängung von Kriminalstrafe führende Strafbefehlsverfahren akten mäßig abgewickelt werde, verfängt nicht. Der prozessuale Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet nicht nur einen den möglichen Rechts36 Näher dazu Kunz, Die Einstellung, S. 60 f.; neuerdings auch Feltes, Die Erledigung, S. 51 ff. 37 Vgl. Blankenburg u. a., Die Staatsanwaltschaft, S.63; Blankenburg, Die Staatsanwaltschaft im System, S. 263 f.; Steffen, Analyse, S. 89 f.; Barton, Staatsanwaltschaftliche Entscheidungskriterien, S. 206 ff.; Kunz, Die Einstellung, S.49. Die Skepsis gegenüber der Zuverlässigkeit polizeilicher Vernehmungsprotokolle macht sich auch der Gesetzgeber insofern zueigen, als er sie von der Möglichkeit des Urkundenbeweises mit Protokollen (§ 251 StPO) ausschließt. 38 Staatsanwaltliche Rückverfügungen an die Polizei zur weiteren Sachaufklärung dienen nicht primär der Erhellung des Tatgeschehens, sondern resultieren aus der Antizipation von Begründungsnotwendigkeiten vor Gericht, vgl. Blankenburg, Die Staatsanwaltschaft im System, S. 264. 39 Dazu Kunz, Die Einstellung, S. 99. Eine partielle Rückverlagerung staatsanwaltlicher Entscheidungsbefugnisse auf die Polizei analog dem anglo-amerikanischen Vorbild, wie von Feltes, Die Erledigung, S. 60 vorgeschlagen, hieße freilich den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben.
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folgen, sondern auch einen der Komplexität der Beurteilungsgrundlage entsprechend abgestuften Verfahrensaufwand; während das schriftliche Strafbefehlsverfahren für nach Aktenlage eindeutige Fälle vorbehalten ist, muß das Bagatellisierungsverfahren sich auch auf die Vielzahl der uneindeutigen Fälle erstrecken, in denen zur Wahrheitsfindung eine weitere Aufklärung durch mündliche Verhandlung geboten ist. Auch besteht bei der Bagatellisierung anders als bei der Kriminalisierung durch Strafbefehl das kriminalpädagogische Bedürfnis, dem sozusagen mit einem blauen Auge davongekommenen Täter die Geltungskraft des Strafrechts im Vor-Gericht-Stehen eindrucksvoll sichtbar zu machen40 • Gewiß begegnet auch das schriftliche Strafbefehlsverfahren im Hinblick auf die Wiedergabeungenauigkeit von Akten Bedenken; und gewiß gibt es auch im Bagatellbereich Fälle mit aktenmäßig er faßten standardisierten Merkmalen, in denen ein Vor-GerichtStehen kriminalpädagogisch nicht zwingend erforderlich ist und deren Bagatellisierung nach Aktenlage nicht problematischer ist als der Strafbefehlserlaß 41 • In solchen - aber auch nur in solchen - Fällen erscheint die Forderung nach gleichförmiger Ausgestaltung des Bagatellisierungsverfahrens und des summarischen Kriminalisierungsverfahrens plausibel. So erstrebenswert es um einer optimalen Wahrheits forschung willen wäre, für sämtliche gerichtliche Sachentscheidungen obligatorisch eine mündliche Verhandlung vorzusehen, so undurchführbar ist dies aus justizökonomischen Gründen; alleine die bislang im Strafbefehlswege erledigten Verfahren künftig auf Grund mündlicher Verhandlung zu entscheiden, würde die Belastung der Strafrichter mehr als verdoppeln42 • Demnach kann auf die schriftliche Erledigung in tatsächlicher Hinsicht einfach gelagerter Fälle von Kleinkriminalität nicht verzichtet werden48 • Freilich muß die schriftliche Verfahrensform beschränkt werden auf nach Aktenlage wirklich eindeutige Fälle, in denen eine weitere AufVgl. Vogler, Möglichkeiten, S. 169. Etwa wenn der von der Polizei registrierte Schaden bei Eigentums- und Vermögens delikten eindeutig geringwertig ist. 42 Rieß, Vereinfachte Verfahrensvorschriften, S. 227. Zum Umfang der durch Strafbefehl erledigten Verfahren bei den Amtsgerichten vgl. auch Rieß, Statistische Beiträge, S.300. 43 Davon gehen sämtliche kriminalpolitischen Vorschläge zu einer Gesamtreform der prozessualen Behandlung minder schwerer Kriminalität aus, vgl. Diskussionsentwurf für ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen (DE) der Bund-Länder-Arbeitsgruppe Strafverfahrensreform vom Dezember 1975, Art. 1, §§ 288 ff.; Baumann u. a., AE-Novelle zur Strafprozeßordnung, S. 51 ff.; Tröndle, Zur Reform, S.75; Rieß, Gesamtreform, S.217. Zu fordern ist freilich eine Vergrößerung der Einflußmöglichkeiten des Beschuldigten auf das schriftliche Verfahren, insbesondere eine Verbesserung des rechtlichen Gehörs, vgl. Eser, Das rechtliche Gehör, S.668; Hünefeld, Kleinkriminalität, S. 923 ff.; Gössel, überlegungen, S. 243. Dies wird bei dem Gesetzesvorschlag für das schriftliche Bagatellisierungsverfahren zu berücksichtigen sein. 40 41
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klärung nicht erforderlich ist und die polizeilichen Ermittlungen eine zuverlässige Entscheidungsgrundlage abgeben44 • Ein prozessuales Reaktionsmodell auf Bagatellkriminalität bietet hierfür keinerlei Gewähr: da im Vor- und im Zwischenverfahren Bagatellisierungen praktisch ausnahmslos 45 nach Aktenlage ergehen, bemißt sich die Schriftlichkeit oder Mündlichkeit des Bagatellisierungsverfahrens beim prozessualen Reaktionsmodell nicht nach dem sachlichen Erfordernis weiterer Aufklärungsbedürftigkeit, sondern nach dem sachwidrigen Kriterium des Verfahrensabschnittes, in dem sich die Frage der Bagatellisierungswürdigkeit stellt. Eine prozessuale Bagatellbestimmung ist nicht einmal tendenziell geeignet, das Bagatellisierungsverfahren derart zu steuern, daß nur die aktenmäßig klaren Fälle und diese erschöpfend der schriftlichen Erledigung zugeführt werden. Unter dem Zwang ökonomischer routinemäßiger Aktenbearbeitung müssen schriftliche Bagatellisierungsentscheidungen im Ermittlungsverfahren trotz oder vielmehr gerade wegen der unzureichenden polizeilichen Ermittlungsarbeit auch dort ergehen, wo die Bagatellisierungswürdigkeit nach Aktenlage noch keineswegs ausgemacht ist und eine weitere Aufklärung womöglich zur Anklageerhebung oder zur Einstellung mangels Nachweises geführt hätte 46 • Weil ein prozessuales Bagatellisierungskonzept an bloße Verdachtsgrade anknüpft, deren Vorliegen unterschiedlichen Ausdeutungen zugänglich und kaum überprüfbar ist, wird die Praxis in einem derartigen Konzept zwangsläufig auch solche Fälle der unaufwendigen schriftlichen Erledigung zuführen, deren sachgerechte Behandlung weiterer Aufklärung bedürfte. Der Vorschlag, das schriftliche Bagatellisierungsverfahren in Anlehnung an das Strafbefehlsverfahren für nicht weiter aufklärungsbedürftige Sachverhalte vorzubehalten, in denen eine richterliche Schuldfeststellung nach Aktenlage möglich ist, und im übrigen eine mündliche richterliche Verhandlung vorzusehen, bringt gegenüber der derzeitigen Praxis eine justizielle Mehrbelastung mit sich, die durch flankierende Maßnahmen weitgehend ausgeglichen werden kann. Zu denken ist in 44 Hier verbleibt insofern ein Unbehagen, als die Zuverlässigkeit polizeilicher Ermittlungen sich streng genommen erst durch deren Überprüfung herausstellen kann. Indes wird man darauf vertrauen können (und mangels praktikabler Alternativen müssen), daß der versierte Praktiker zwischen den Zeilen des polizeilichen Ermittlungsberichts zu lesen versteht und auf Grund seines Erfahrungswissens die Zuverlässigkeit polizeilicher Ermittlungen zutreffend einzuschätzen versteht; dazu näher Kunz, Die Einstellung, S. 63 f. 45 In den von mir untersuchten Fällen wurden nie justizielle Ermittlungen angestellt. 46 Vgl. Kunz, Die Einstellung, S. 63; demgemäß wird die staatsanwaltschaftliche Einstellung wegen Geringfügigkeit in der kriminologischen Literatur als eine verkappte Einstellung mangels Nachweises bezeichnet, vgl. Blankenburg u. a., Die Staatsanwaltschaft, S. 315.
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erster Linie an eine Vereinfachung und Straffung des amtsgerichtlichen Verfahrens vor dem Einzelrichter insgesamt, das bislang durch eine übermäßige, am Leitbild "großer" Strafprozesse ausgerichtete Formstrenge gekennzeichnet ist. Das mündliche richterliche Bagatellisierungsverfahren läßt sich - wie in der Folge zu zeigen ist - integrieren in einen neuen vereinfachten Verfahrenstyp mit einzelrichterlicher Zuständigkeit, wie er im mündlichen Strafbescheidverfahren des Diskussionsentwurfs 47 und in dem vom Alternativkreis vorgeschlagenen Strafverfahren mit nichtöffentlicher Hauptverhandlung48 vorgesehen ist. Auch durch die dringend notwendige Reform des gerichtlichen Ordnungswidrigkeitenverfahrens 48 können Kapazitäten freigesetzt und umverteilt werden50 • Der Umfang der Justizgewährung in Bußgeldsachen steht in keinem Verhältnis zur Bedeutung des Verfahrensgegenstandes und zum bewußt summarischen Charakter der Vorermittlungen; eine Fortschreibung der summarischen Gesamtkonzeption des Bußgeldverfahrens auf gerichtlicher Ebene erzwingt eine beträchtliche Reduzierung des derzeit gebotenen Verfahrensaufwandes, eine Erschwerung der Einspruchseinlegung und eine Verhinderung ihrer mißbräuchlichen Wahrnehmungs1 • Beim Wildwuchs des gerichtlichen Bußgeldverfahrens, 47 Vgl. oben Fußnote 43. Der Diskussionsentwurf will freilich die §§ 153, 153 a StPO neben dem mündlichen Strafbescheidverfahren beibehalten. Kritisch dazu Naucke, Gutachten, D 113 Fußnote 348: "Das ist nicht ganz folgerichtig und müßte noch einmal sorgfältig erörtert werden. Nach dem Konzept des DE-Rechtsmittelgesetz läge das Aufgeben der sog. prozessualen Lösung für den Bagatellbereich zu Gunsten einer materiellrechtlichen Lösung näher." 48 Baumann u. a., AE-Novelle zur Strafprozeßordnung. Zu Unrecht werfen Engels/Frister, Nichtöffentliches Verfahren, S.113 der AE-Novelle vor, sie ersetze § 153 a StPO ausschließlich durch das Strafbefehls verfahren. Die AENovelle liegt vielmehr auf der Linie des hier unterbreiteten Vorschlags, neben einem schriftlichen, dem Strafbefehlsverfahren angeglichenen richterlichen Bagatellisierungsverfahren (§ 408 Abs. 3 AE-StPO) die Entscheidung auf Grund mündlicher Verhandlung über die Bagatellisierungswürdigkeit zu eröffnen (§§ 407 b, 407 g AE-StPO). Freilich will die AE-Novelle nur da,s Verfahren nach § 153 a StPO ersetzen, die folgenlose Bagatellisierungsmöglichkeit nach § 153 StPO dagegen beibehalten; dies erscheint mangels prinzipiellen Unterschiedes der methodischen Voraussetzungen und wegen der damit verbundenen Aufsplitterung der prozessualen Behandlung von Bagatelldelinquenz in zwei völlig heterogene Verfahren mit unterschiedlicher Zuständigkeit nicht sachgerecht. 49 Vgl. Referentenentwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze vom 17. 12. 1980. 50 Laut Anlage zum Referentenentwurf entfallen über 40 % der bei den Amtsgerichten erledigten Straf- und Bußgeldsachen auf Ordnungswidrigkeiten, davon wurden 1979 31,4 % durch Einstellung erledigt und blieben damit sanktionslos. 51 Dazu Krüger, Probleme, S. 1647 ff. m. w. N.; dementsprechend sieht der Referentenentwurf u. a. eine Einschränkung des Umfangs der Beweisaufnahme (§ 77) und die Möglichkeit der Verlesung polizeilicher Erklärungen über dienstliche Wahrnehmungen (§ 77 a) auch gegen den Willen des Betrof-
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8. Rechtspolitischer Vorschlag
das tendenziell nur noch die Dummen und die Ehrlichen sanktioniert5!, den Rotstift anzusetzen ist ungleich angebrachter als ein prozessuales Bagatellisierungskonzept beizubehalten, das aus rein justizökonomischen Gründen auf die mündliche Verhandlung als Grundlage der Strafbedürftigkeitsbeurteilung weitestgehend verzichtet. Wo es um die einschneidende Entscheidung über die Notwendigkeit der Verhängung von Kriminalstrafe geht, die Justizorgane im Vertrauen auf die Verläßlichkeit polizeilicher Ermittlungen regelmäßig auf den Akteninhalt als alleinige Informationsgrundlage zu verweisen heißt, den Rechtsstaat an einer Stelle abzuspecken, wo er an Substanz verliert. 8.2 Die materiellrechtliche allgemeine Bagatellbestimmung und ihre Anwendung in einem vereinfachten einzelrichterlichen Verfahren Mit dem Nachweis der einer prozessualen Bagatellisierungsregelung systembedingt anhaftenden Unzuträglichkeiten wurde zugleich der Beleg erbracht, daß diese Unzuträglichkeiten bei einer materiellrechtlichen allgemeinen Bagatellbestimmung nicht vorhanden sind oder soweit sie aus justizökonomischen Sachzwängen nicht völlig eliminiert werden können - sich wenigstens minimieren lassen. Gegen die Einführung einer materiellrechtlichen allgemeinen Bagatellbestimmung bestehen auch ansonsten keine durchgreifenden Bedenken. Eine Bagatellisierungsregelung im Allgemeinen Teil des Strafrechts verfügt über die notwendige Flexibilität, um in Abstimmung mit informellen Maßnahmen sozialer Kontrolle die aus der jeweiligen kriminalpolitischen Sicht bestmögliche Behandlung von Bagatellkriminalität zu gewährleisten, ohne dabei rechtsstaatliche Zielsetzungen preiszugeben53 • Die Abschreckungswirkung des Strafrechts erleidet durch eine materiellrechtliche allgemeine Bagatellbestimmung keine Einbußen. Zwar ist die Publizitätswirkung des materiellen Strafrechts ungleich größer als die des Prozeßrechts. Indes beschränkt sich das Alltagswissen vornehmlich auf die besonderen Deliktstatbestände, insbesondere soweit sie dem Bereich der "klassischen" Kriminalität zuzuordnen sind; Vorschriften fenen (§ 77 Abs. 2) vor; Krüger fordert weitergehend insbesondere eine Pflicht zur Einspruchsbegründung und erweiterte Ablehnungsmöglichkeiten verspäteter Beweisanträge (8. 1648). 52 Krüger, Probleme, 8. 1649, vgl. auch das exemplarische Fallbeispiel 8.1642.
53 Insofern eine allgemeine Regelung zur Bestimmung der Bagatellisierungswürdigkeit auf gesellschaftliche Werterfahrungen verweist, kann und muß ihre Auslegung sich gewandelten sozialen Anschauungen nahtlos anpassen und vermag kriminalpolitische Akzentverlagerungen unmittelbar in juristische Entscheidungen umzusetzen.
8.2 Materiellrechtliche allgemeine Lösung
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des Allgemeinen Teils sind der Bevölkerung kaum bekanntM • Selbst wenn man davon ausgeht, daß allein schon durch die Gesetzesreform und ihr Widerhall in den Medien die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit sich auf die Bagatellisierungsregelung richtete, beeinträchtigte dies die abschreckende Wirkung der Straftatbestände nicht. Die in den Strafbestimmungen der besonderen Deliktstatbestände ausgesprochenen plakathaften Grundsatzverbote werden durch eine im Allgemeinen Teil verankerte Bagatellisierungsregelung nicht berührt: die materiellrechtliche allgemeine Bagatellbestimmung vermittelt der Allgemeinheit lediglich den zutreffenden und generalpräventiv unschädlichen Eindruck, daß nicht alle Straftaten zwangsläufig mit Strafe geahndet werden, ohne für den Einzelnen die Gewißheit zu begründen, bei dieser oder jener Tat nicht mit Strafe belangt zu werden. Insofern die Feststellung der Bagatellisierungswürdigkeit auf Grund einer materiellen Bestimmung mit einer richterlichen Schuldfeststellung verbunden ist, ist eine materielle Bagatellisierungsvorschrift spezial präventiv weit wirkungsvoller als die bisherige Regelung, zumal wenn die Schuldfeststellung auf Grund mündlicher Verhandlung ergeht. Auch die bei einer richterlichen Schuldfeststellung unumgängliche Registrierung'5 übt spezialpräventiv eine heilsame Wirkung aus. Zur Verstärkung dieses spezialpräventiven Effekts bietet es sich an, die Schuldfeststellung mit einer förmlichen richterlichen Verwarnung 58 zu verbinden. Für eine überführung der Bagatellisierungsvorschriften ins materielle Strafrecht spricht durchschlagend, daß es sich bei der Entscheidung über die mangelnde Strafbedürftigkeit wegen Geringfügigkeit um eine materielle Sachentscheidung handelt, die nach einer materiellrechtlichen Regelung verlangt. Obgleich Bagatellisierungsvorschriften den Rechtsunterworfenen keine Pflichten auferlegen und darum nicht als primäre materielle Normen zu verstehen sind, handelt es sich dabei doch nicht um sekundäre prozessuale, sondern um sekundäre materielle Normen im Sinne von Hart 57 • 54 Vgl. Smaus, Das Bild, S. 8 ff. 55 Nach bisherigem Recht werden Einstellungen wegen Geringfügigkeit nur in dem Sonderfall der Einstellung gegen Auflagen bei Verkehrsstraftaten in das Verkehrszentralregister aufgenommen (§ 28 Nr. 1 a StVG i. V. m. § 13 Abs. 1 Nr. 3 a StVZO). Eine bundesweite Registrierung von Bagatellisierungsentscheidungen erscheint unabdingbar; die Einführung eines gesonderten, gegenüber dem Bundeszentralregister abgesetzten Bagatellregisters ist nicht zwingend erforderlich, da ein richterlicher Schuldspruch keine Aufnahme in das Führungszeugnis findet (§ 30 Abs. 2 BZRG). Zu denken wäre freilich an eine Ermäßigung der Tilgungsfrist des § 44 BZRG auf drei Jahre und an die Nichtanwendbarkeit des § 45 Abs. 3 Satz 1 BZRG auf Bagatellisierungsentscheidungen, so für das von ihm vorgeschlagene schriftliche Verfahren Gössel, überlegungen, S. 244. 58 Entsprechend § 13 Abs. 2 Ziffer 1 JGG. 57 Vgl. Hart, Der Begriff, S. 115 ff. Den Unterschied zwischen primären und sekundären Regeln kennzeichnet Hart so (S. 117): "Durch die Regeln des einen
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8. Rechtspolitischer Vorschlag
Neben den primären Verpflichtungsregeln, die die Einhaltung der von den strafrechtlichen Verbotsnormen gestützten Verhaltenserwartungen sichern, kennt das materielle Strafrecht sekundäre Regeln, die bei Verletzung der Verpflichtungs regeln Art und Ausmaß der strafrechtlichen Reaktion bestimmen; das materielle Strafrecht erschöpft sich nicht in einer undifferenzierten Vorgabe der von der strafrechtlichen Verbotsmaterie umfaßten Verhaltensweisen, sondern nimmt innerhalb dieser primären Verbotsmaterie mittels sekundärer Regeln vielfältige Abstufungen im Hinblick auf die Reaktionsbedürftigkeit vor 8• Diese die Verpflichtungsregeln ergänzenden sekundären materiellen Regeln haben mit den sekundären prozessualen Entscheidungsregeln, die judizielle Befugnisse übertragen und das zu befolgende Verfahren definieren, nichts gemein59 • Eine solche Abstufung mittels sekundärer materieller Regeln besteht in der wertungsmäßigen Differenzierung zwischen Verbrechen als unbedingt strafbedürftigen Delikten, strafbedürftigen Vergehen und nicht strafbedürftigen, geringfügigen Vergehen. Der Bereich der mangels Strafbedürftigkeit bagatellisierungswürdigen Vergehen besitzt einen selbständigen Stellenwert im strafrechtlichen Bewertungssystem, der im materiellen Strafrecht durch eine definitorische Abschichtung gegenüber den übrigen beiden Kategorien strafbedürftiger Kriminaldelikte ausgefüllt werden muß. Auf die im Rahmen der ThemensteIlung nicht abschließend zu beantwortende Frage, in welcher sprachlichen Form der systematische Ertrag der Arbeit in der Gesetzesfassung Ausdruck zu finden hat, wurde bereits eingegangen; was die Einbringung der methodischen Einsichten in den Wortlaut der materiellrechtlichen allgemeinen Bagatellbestimmung anbetrifft, kann deshalb vollinhaltlich auf die diesbezüglichen Hinweise für eine modifizierte prozessuale Bagatellisierungsregelung59a verwiesen werden. Gesetzessystematisch ist die vorgeschlagene Bagatellbestimmung in den zweiten Abschnitt des Allgemeinen Teils des StGB einzufügen; Typs, den wir durchaus als den grundlegenden oder den primären Typ betrachten können, werden menschliche Wesen dazu angehalten, gewisse Handlungen zu tun oder zu unterlassen, ob sie dies wünschen oder nicht. Die Regeln des anderen Typs sind in einem Sinn parasitär oder sekundär gegenüber denen des ersten: denn sie bestimmen, daß menschliche Wesen, indem sie gewisse Dinge tun oder sagen, neue Regeln des ersten Typs einführen, alte aufheben oder modifizieren und auf verschiedene Arten deren Vorkommen bestimmen bzw. deren Wirkung kontrollieren." 58 Man denke nur an die unterschiedlichen Strafrahmen, die besonders schweren und die minder schweren Fälle, die Strafschärfung bei Rückfall und die besonderen gesetzlichen Milderungsgründe. Solche sekundären materiellen Regeln kennzeichnen nach Hart die Differenziertheit eines Rechtssystems, vgl. Hart, Der Begriff, S. 139. 59 Vgl. Hart, Der Begriff, S. 138 f. 59a Oben Kap. 8.1, S. 324 f.
8.2 Materiellrechtliche allgemeine Lösung
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insofern die Vorschrift die tatbestandlichen Merkmale nicht strafbedürftiger Delikte und damit eine besondere, gegenüber Verbrechen und strafbedürftigen Vergehen abgeschichtete Deliktskategorie auszuweisen hat, ist ihre Ansiedlung im zweiten, mit der Straftat befaßten Abschnitt zwingend. Ob dagegen die Bagatellrechtsfolgen gesondert in den dritten Abschnitt (Rechtsfolgen der Tat) einzubringen oder mit der tatbestandlichen Bestimmung der Bagatelldelikte in einer einheitlichen Vorschrift zu regeln sind, ist eine rein gesetzestechnische Frage, die hier keiner Beantwortung bedarf. Innerhalb des zweiten Abschnitts bietet es sich an, die Bagatellbestimmung im Anschluß an § 12 StGB zu verankern, in dem die übrigen Deliktskategorien geregelt sind. Der Vorschlag von Hirsch, für Bagatelldelikte in § 12 StGB eine als "Verfehlungen" zu bezeichnende dritte Deliktskategorie aufzunehmen 80, erscheint nicht sachgerecht. Zum einen ist der Begriff der Verfehlung damit belastet, daß andere mit ihm selbständige privilegierte Sondertatbestände bezeichnen61 ; zum anderen setzt seine Übernahme in § 12 StGB den unzutreffenden Anschein, als ob es mit der materiellrechtlichen allgemeinen Bagatellbestimmung um die Wiederbelebung der dritten Deliktskategorie der Übertretungen ginge, über die das Rad der Rechtsgeschichte gerade erst hinweggegangen ist·2 • Um deutlich zu machen, daß der Deliktskategorie der Bagatelldelikte im Unterschied zu derjenigen der Verbrechen und Vergehen keine spezifischen Deliktstatbestände im Besonderen Teil entsprechen, vielmehr ihre Bestimmung in der richterlichen Einzelfallentscheidung auf Grund der Verwirklichung eines Vergehenstatbestandes zu erfolgen hat, könnte diese Deliktskategorie als "geringfügige Vergehen (Bagatelldelikte)" bezeichnet und in einer selbständigen Vorschrift (§ 12 a StGB) gegenüber den in § 12 StGB geregelten übrigen Deliktskategorien abgesetzt werden. Die vorgeschlagene materiellrechtliche allgemeine Bagatellbestimmung ist - soweit ersichtlich - ohne Vorbild; insbesondere unterscheidet sie sich grundlegend von der österreichischen Bagatellisierungsvorschrift des § 42 öStGB. Zwar sieht auch diese Bestimmung einen dem Richter vorbehaltenen Strafverzicht wegen Geringfügigkeit nach Maßgabe allgemeiner materiellrechtlicher Entscheidungskriterien vor. Indes knüpft die richterliche Feststellung mangelnder Strafbedürftigkeit nach § 42 öStGB an das Bestehen eines bloßen Tatverdachts an und ist mit keinem förmlichen Schuldnachweis verbunden; dies erweist sich Hirsch, Zur Behandlung, S. 247. So etwa Rössner, Bagatelldiebstahl, S. 214 f., 225. 82 Dreher, Die Behandlung, S. 926. Dagegen auch Hirsch, Zur Behandlung, S. 247 f. BO
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8. Rechtspolitischer Vorschlag
als methodisch unstimmig, insofern die Entscheidung auf der Basis einer Verdachtslage nicht den Strafverzicht, sondern nur den Verfolgungsverzicht rechtfertigt82a und darüber hinaus nicht einsichtig ist, wieso eine Entscheidung ohne förmlichen Schuldnachweis dem Richter vorbehalten sein soll82 b. Die Divergenz der österreichischen Vorschrift zu dem hier unterbreiteten Regelungsvorschlag wird noch deutlicher, wenn man auf die übrigen Anwendungsvoraussetzungen und die Rechtsfolgemöglichkeiten abstellt. § 42 öStGB kennt allein die unbedingte, folgenlose Bagatellisierung und verengt darum das Rechtsfolgenspektrum auf die unzulängliche 62C Alternative: Bestrafung oder völliger Sanktionsverzicht - ein Umstand, der auch im österreichischen Schrifttum als Manko empfunden wird 62d • Zudem erfaßt die Vorschrift nur einen Teilbereich der Fälle, in denen eine unbedingte, folgenlose Bagatellisierung methodisch geboten ist. Ihr formeller Anwendungsbereich bezieht sich auf Offizialdelikte, deren Begehung mit Geldstrafe, nicht mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe oder mit einer solchen Freiheitsstrafe und Geldstrafe bedroht ist. Daß Privatanklagedelikte generell von der Bagatellisierung ausgenommen sind, steht im Widerspruch zu ihrem oftmals geringen deliktischen Gehalt; neben der Forderung nach Einbeziehung dieser Deliktsgattung in den Anwendungsbereich der Vorschrüt82e wird verbreitet verlangt, § 42 öStGB auf sämtliche Vergehen auszudehnen62f• Die materiellen Anwendungsvoraussetzungen - Geringfügigkeit des Verschuldens, keine oder nur unbedeutende Tatfolgen, weder individual- noch generalpräventiv begründete Strafbedürftigkeit - beschränken die Reichweite der Bestimmung auf Bagatelldelikte im Zumessungszusammenhang; eine Bagatellisierung aus Unrechtsgesichtspunkten läßt sich auf § 42 öStGB nicht stützen62g • Dies ergibt sich daraus, daß nach h. M. geringe Schuld hier allein die Geringfügigkeit des zumessungsrelevanten Verschuldens meint62h , die 82a Vgl. oben Kap. 8.1, S.331. Dazu eingehend Moos, Die mangelnde Strafwürdigkeit, S. 178 ff. 62b Zu dieser Unstimmigkeit der österreichischen Regelung Müller-Dietz, Das Bagatellprinzip, S.534; Zipf, Die mangelnde Strafwürdigkeit, S.16 jeweils m. w. N. 62C Vgl. oben Kap. 7., These 10., S. 313. 62d Etwa bei Steininger, Der Ladendiebstahl, S. 32. Kritisch auch Hirsch, Zur Behandlung, S. 239; Zipf, Kriminalpolitik, S. 122. 82 e Müller-Dietz, Das Bagatellprinzip, S. 530. 82f So etwa Zipf, Kriminalpolitik, S. 122. 62g Moos, Die mangelnde Strafwürdigkeit, S.176, 200. Freilich verwendet auch das österreichische Strafrecht deliktspezifische Erheblichkeitsschwellen zur Ausfilterung von Bagatellunrecht (etwa in §§ 188, 189 Abs.2, 216, 218, 222 Abs. 1, 305 Abs. 2 öStGB). 62h Zur Auslegung wird auf die allgemeinen Strafzumessungsgrundsätze des § 32 öStGB verwiesen, vgl. etwa Zipf, Die mangelnde Strafwürdigkeit, S.23 m.w.N.
8.2 Materiellrechtliche allgemeine Lösung
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übrigen materiellen Anwendungsvoraussetzungen rein zumessungsbezogen sind und die Vorschrüt in den Gesamtabschnitt der Strafbemessung (4. Abschnitt, §§ 32 ff.) eingegliedert ist. Aber selbst die Bagatellisierung aus Zumessungsgesichtspunkten erfährt in § 42 öStGB eine methodisch nicht gebotene Einschränkung. Da die Bagatellisierungswürdigkeit sich im Zumessungszusammenhang allein nach dem Ausmaß des Verschuldens richtet6!1, § 42 öStGB jedoch den Strafverzicht von weiteren Voraussetzungen abhängig macht, die zum geringfügigen Verschulden kumulativ hinzukommen müssen, beschneidet die Vorschrift den strafrechtsdogmatisch gebotenen Bagatellisierungsbereich im Zumessungszusammenhang und erzwingt - insbesondere aus präventiven Gesichtspunkten - eine Bestrafung in Fällen, die sich in Anbetracht des unerheblichen Verschuldens als nicht strafbedürftig erweisen. Dies wird besonders augenfällig bei § 42 Abs. 1 Z. 3 öStGB, wonach der Strafverzicht ausgeschlossen ist, soweit eine Bestrafung aus Gründen der Allgemeinabschreckung indiziert erscheint (" um der Begehung strafbarer Handlungen durch andere entgegenzuwirken"). Der Gesichtspunkt der Verhinderung von Folgetaten durch Allgemeinabschreckung ist als Bagatellisierungsmaßstab doppelt illegitim: zum einen, insofern die Allgemeinabschreckung bei der Einzelfallentscheidung generell außer Betracht zu bleiben hat62j ; zum anderen, insofern präventive - selbst spezialpräventive - Belange für die Bagatellisierungswürdigkeit keine Rolle spielen62k • Da der österreichische Gesetzgeber mit der Einbringung der Geringfügigkeitskriterien in eine materiellrechtliche allgemeine Bagatellbestimmung legislatives Neuland betreten hat, ist es verständlich, daß er die Bagatellisierungsvoraussetzungen möglichst restriktiv zu fassen suchte. Die ihm dabei unterlaufenen methodischen Unstimmigkeiten erklären sich aus dem wohlbegründeten, im Ergebnis jedoch überzogenen Bemühen nach allseitiger Absicherung durch Erfassung bloß des Bagatellverhaltens mit dem geringsten Gewicht, dessen mangelnde Strafbedürftigkeit außer Zweüel steht621 • Insofern die Arbeit den Nachweis erbringt, daß auch eine dogmatisch konsistente, das gesamte Spektrum der Bagatellkriminalität abdeckende Bagatellisierungsregelung keineswegs uferlos sein muß, kann sie auch im österreichischen Rechtsbereich Anstöße zu kriminalpolitischen Reformen geben. Vgl. oben Kap. 7., These 11., S. 313 f. Vgl. oben Kap. 7., These 11. c), S.314. 6!k Vgl. oben Kap. 7., These 11. a), S. 313. 621 Vgl. Müller-Dietz, Das Bagatellprinzip, S.542. Insofern ist Zipf, Kriminalpolitik beizupflichten, der die "engherzige Anwendung" der Vorschrift durch deren "Geburtsfehler" vorprogrammiert sieht (S.122) und meint, die Realisierung der Vorschrift in der gerichtlichen Praxis seit 1975 habe sicher die Gegner eines solchen Reformschritts nicht beunruhigt, aber die Befürworter enttäuscht (S. 121). 621 62j
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8. Rechtspolitischer Vorschlag
Die prozessuale Ausgestaltung des mündlichen Bagatellisierungsverfahrens ist einzubetten in einen neuen vereinfachten Verfahrenstyp mit einzelrichterlicher Zuständigkeit, wie er im vorangehenden Kapitel angedeutet worden ist. Dieser auf einfach gelagerte Fälle minderer Kriminalität zugeschnittene Verfahrenstyp schließt die Lücke, die nach geltendem Recht zwischen dem Strafbefehlsverfahren, das für nach Aktenlage hinlänglich aufgeklärte und kriminalpädagogisch nicht mündlich verhandlungsbedürftige Fälle vorbehalten ist, einerseits und dem förmlichen ordentlichen Hauptverfahren andererseits klaffte!. Aufklärungsdefizite durch förmliche Beweisprozeduren auszugleichen und eine kontradiktorische Verhandlung zu eröffnen, in der der Angeklagte gegen den Tatvorwurf ankämpft, kann nicht der Sinn dieses auf justizökonomische Effizienz angelegten vereinfachten mündlichen Verfahrenstyps sein; dies ist auch nicht nötig, da in der erdrückenden Mehrzahl der, Vom Einzelrichter abgewickelten Fälle minderer Kriminalität der Sachverhalt nicht ernstlich umstritten und die Akzeptabilität des Richterspruches hoch ist8'. Worauf es ankommt ist, dem ordentlichen Hauptverfahren ein weniger formstrenges und darum weniger arbeitsintensives mündliches Verfahren vorzuschalten, in dem Unstimmigkeiten der polizeilichen Sachverhaltsaufklärung ohne großen Aufwand durch unmittelbare richterliche Kognition und Kommunikation mit den Betroffenen aufgedeckt werden, der Beschuldigte die Chance zur Selbstdarstellung vor dem Richter erhält und durch die mündliche Verhandlung auf den überführten Täter nachhaltig spezialpräventiv eingewirkt wird. Der Umfang der Beweisaufnahme im vereinfachten Verfahren ist losgelöst von den Regeln des Strengbeweises zu bestimmen. Unbeschadet der Aufklärungspflicht des § 244 Abs. 2 StPO ist der Richter deshalb nicht an die strengen Regeln der Ablehnung eines Beweisantrags (§ 244 Abs.3 bis 6 StPO) zu binden8s • Auch ist er im vereinfachten Verfahren im Interesse einer zügigen und kostensparenden Abwicklung von der Einhaltung der §§ 249 bis 256 StPO freizustellen, so daß insbesondere die Möglichkeit der Verlesung staatsanwaltlicher und polizeilicher Ver83 Ein derartiges vereinfachtes Verfahren wird im Schrifttum zunehmend befürwortet, vgl. Ahrens, Die Einstellung, S.248; Hirsch, Zur Behandlung, S. 245 f.; Meyer-Goßner, Abschaffung, S. 208 f.; Naucke, Gutachten, D 112; Peters, Gutachten, C 19 ff.; Rieß, Prolegomena, S. 217; Tröndle, Zur Reform, S. 102 ff.; Vogler, Möglichkeiten, S.169. Das von der Praxis vernachlässigte beschleunigte Verfahren nach §§ 212 ff. StPO kann diese Lücke nicht füllen; für eine Aktivierung des beschleunigten Verfahrens nur R. Schmitt, Strafverfahren. Für ein rein schriftliches vereinfachtes Verfahren nur Gössel, überlegungen, S. 243. 84 Nach Tröndle, Zur Reform, S. 102 erwachsen fünf von sechs einzelrichterlichen Urteilen in Rechtskraft, ohne angegriffen zu werden. es Ähnlich bereits § 384 Abs. 3 stPO.
8.2 Materiellrechtliche allgemeine Lösung
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nehmungsprotokolle eröffnet wird66 • Der Skepsis gegenüber der Wiedergabegenauigkeit polizeilicher Protokolle kann durch deren Problematisierung in der mündlichen Verhandlung und gegebenenfalls durch weitere Beweiserhebung hinlänglich Rechnung getragen werden. Der generalpräventiv nicht gebotenen und spezialpräventiv eher schädlichen Bloßstellung des Angeklagten in einem ordentlichen Hauptverfahren ist durch Nichtöjjentlichkeit des vereinfachten Verfahrens zu begegnen67 • Den Grundsatz der Öffentlichkeit im vereinfachten Verfahren außer Kraft zu setzen, ist rechtsstaatlich unbedenklich. Als durchgängiges Prinzip ist dieser Grundsatz längst nicht mehr anerkannt 6s • Soweit das Öffentlichkeitsprinzip das Informationsinteresse der Allgemeinheit verbürgt69 , hat dieses Interesse bei einer Kollision mit dem Diskretionsinteresse des Beschuldigten zurückzutreten. Gerade in Fällen leichterer Alltagskriminalität, die schon nach geltendem Recht durch Strafbefehl oder Einstellung wegen Geringfügigkeit weitestgehend nichtöffentlich abgewickelt werden, ist es angezeigt, dem regelmäßig vorhandenen Diskretionsinteresse des Beschuldigten Geltung zu verschaffen; der Beschuldigte, dem ein nicht allzu gravierender Vorwurf zur Last gelegt wird, wird es zu schätzen wissen, wenn er ohne ungebetene Zuhörer sprechen kann und ihm die stigmatisierenden Wirkungen eines öffentlichen Tribunals erspart bleiben. Ein über das bloße Informationsbedürfnis hinausgehendes Kontrollbedürfnis der Öffentlichkeit besteht nur dort, wo entweder die Rechtsfolgen der Verurteilung besonders einschneidend oder die tatsächlichen Grundlagen des Urteils zwischen den Verfahrensbeteiligten . ernstlich umstritten sind. Die Kontrollfunktion des Öffentlichkeitsprinzips ist ein Korrelat des kontradiktorischen Verfahrens, in dem es um die Verhängung freiheitsentziehender Maßnahmen geht; wo dies nicht der Fall ist, hat der Beschuldigte eher Anlaß, die Öffentlichkeit als die Justiz zu fürchten. Sofern das vereinfachte Verfahren in seinem Anwendungsbereich auf nicht ernstlich umstrittene Fälle minderer Kriminalität beschränkt wird und der Beschuldigte in jeder Lage des Verfahrens die Möglichkeit erhält, den übergang vom vereinfachten zum ordentlichen Hauptverfahren zu erzwingen, steht die Nichtöffentlichkeit des vereinfachten Ver66 So Baumann u. a., AE-Novelle zur Strafprozeßordnung, § 407 e Abs. 6 mit Begründung S.33; vgl. auch Meyer-Goßner, Abschaffung, S.203. 67 So auch Baumann u. a., AE-Novelle zur Strafprozeßordnung sowie der Diskussionsentwurf für ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen, der in Art. 1, §§ 288 ff. ein nichtöffentliches mündliches Strafbescheidverfahren vorsieht. 68 Man denke nur an die Ausschlußmöglichkeiten der §§ 171 a, 172, 173 Abs. 2 GVG sowie an die Nichtöffentlichkeit in Jugendsachen (§ 48 JGG). 69 Nach Franke, Die Bildberichterstattung, S. 26 ff., 70 f. erschöpft sich darin das Öffentlichkeitsprinzip.
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8. Rechtspolitischer Vorschlag
fahrens mit den Vorstellungen eines rechtsstaatlichen Resozialisierungsstrafrechts in vollem Einklang 70 • Um zu sichern, daß das vereinfachte Verfahren für Fälle minderer Kriminalität vorbehalten bleibt, bietet es sich an, bei der Zulässigkeit des vereinfachten Verfahrens auf die Straferwartung abzustellen71 • Das im Diskussionsentwurf vorgesehene mündliche Strafbescheidverfahren soll in Betracht kommen, wenn die Verhängung von Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen oder von Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr zu erwarten ist72 • Die AE-Novelle zur Strafprozeßordnung beschränkt den Anwendungsbereich des nichtöffentlichen Verfahrens auf Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird73 • Andere wollen nur Geldstrafe bis zu einer gewissen Höhe zugelassen wissen74 • Der Vorschlag des Alternativentwurfs erscheint am sachgerechtesten, insofern er einerseits der vereinfachten Verfahrensgestaltung mit nichtöffentlicher Verhandlung im Interesse einer spürbaren justizökonomischen Entlastung und einer für die Beschuldigten vorteilhaften diskreten Erledigung ein breites Anwendungsfeld sichert, andererseits aber die Verhängung einer zu verbüßenden Freiheitsstrafe in einem der öffentlichen Kontrolle entzogenen Verfahren ausschließt. Als weitere Zulässigkeitsvoraussetzungen des vereinfachten Verfahrens sind neben dem Bestehen hinreichenden Tatverdachts zu verlangen, daß der Beschuldigte hinsichtlich der Schuldfrage im Wesentlichen geständig ist und in die Durchführung des vereinfachten Verfahrens einwilligt75. Das - bis zur Urteilsfällung jederzeit widerruf70 Baumann u. a., AE-Novelle zur StrafprozeBordnung, Begründung, S.7. Vgl. auch Tröndle, Zur Reform, S. 103 f., der ergänzend darauf hinweist, daB Strafbefehle vermutlich allein deshalb so oft rechtskräftig werden, weil viele Beschuldigte die Publizität des öffentlichen Verfahrens scheuen. Die von Engels/Frister, Nichtöffentliches Verfahren, S. 114 f. vertretene Gegenansicht, Kontrolle durch Öffentlichkeit müsse auch gerade dort stattfinden, wo über die Voraussetzungen des unkontrollierten Verfahrens entschieden werde, verkennt die unterschiedliche Ausprägung des Kontrollbedürfnisses je nach Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen und vernachlässigt das Diskretionsbedürfnis des Beschuldigten. 71 Insoweit stimmen sämtliche Vorschläge für ein vereinfachtes Verfahren überein. Nach Naucke, Gutachten, D 114 stellt der Versuch, die Regelung des Verfahrens nicht mehr an den einzelnen Instanzen, sondern an der Schwere des strafrechtlichen Vorwurfs zu orientieren, die Wiederaufnahme einer traditionsreichen prozessualen Denkform dar. 72 Diskussionsentwurf, Art. 2, Ziffer 1. 73 Baumann u. a., AE-Novelle zur StrafprozeBordnung, §§ 407 Abs.1, 407 a Stpo. 74 RieB, Prolegomena, S. 217: Geldstrafe bis zu 90 Tagessätzen. Noch enger: Peters, Gutachten, C 19 ff. 75 Ebenso Baumann u. a., AE-Novelle zur StrafprozeBordnung, § 407 AEStPO, vgl. auch Begründung, S. 21.
8.2 Materiellrechtliche allgemeine Lösung
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liche - Einverständnis des Beschuldigten erscheint angesichts der Nichtöffentlichkeit und der weniger formstrengen Beweiserhebung im vereinfachten Verfahren unabdingbar. Gleiches gilt für das Erfordernis des Geständnisses bezüglich der Strafbarkeitsvoraussetzungen der wesentlichen Tatteile. Der Beschuldigte, der die Einlassung verweigert oder "alles" bestreitet, hat Anspruch darauf, vor den Augen der Öffentlichkeit mit allen im förmlichen ordentlichen Hauptverfahren zulässigen Mitteln gegen den Tatvorwurf anzukämpfen. Für aufwendige Beweiserhebungen und eine antithetische Verhandlung ist im vereinfachten Verfahren kein Raum; das vereinfachte Verfahren kann nur dann zügig abgewickelt werden und mit dem unaufwendigen Strafbefehlsverfahren konkurrieren, wenn es auf Sachverhalte Anwendung findet, in denen der Tatnachweis unproblematisch ist und es im Wesentlichen um die Erhellung von für die Rechtsfolgenbemessung maßgeblichen Umständen geht. Dennoch rückt das vereinfachte Verfahren damit im Gegensatz zum derzeitigen Einstellungsverfahren wegen Geringfügigkeit nicht in die Nähe eines plea guilty: unabhängig vom Geständnis muß das Verschulden mit einer zur Verurteilung ausreichenden Sicherheit festgestellt werden. Auch besteht anders als beim Einstellungsverfahren für den Beschuldigten kein Druck zur Akzeptierung des vereinfachten Verfahrens, da der Beschuldigte durch die Verweigerung seines Einverständnisses keinerlei Rechtsnachteile erleidet und faktisch nichts verschenkt78 • Soweit sich während der Verhandlung oder auf Grund ihres Ergebnisses herausstellt, daß die Voraussetzungen des vereinfachten Verfahrens nicht gegeben sind, der Angeklagte unentschuldigt der Verhandlung fernbleibt oder sein Einverständnis zum vereinfachten Verfahren widerruft, ist die Sache an das für das ordentliche Verfahren zuständige Gericht zu verweisen77 • Im Bereich der auf absehbare Zeit nicht ersetzbaren78 Privatklage ist eine Kombination beider Verfahrensarten anzustreben. Das unmittelbar auf den Ausgleich interpersoneller Beziehungen im sozialen Nahraum bedachte Privatklageverfahren berührt die Belange der Allgemeinheit 78 Die gegenteilige Auffassung von Engels/Frister, Nichtöffentliches Verfahren, s. 115 verkennt, daß sich der Druck auf den Beschuldigten beim Einstellungsverfahren aus dem Zwang ergibt, zwischen der sicheren Einstellung wegen Geringfügigkeit und den ungewissen Rechtsfolgen bei Fortsetzung des Verfahrens zu wählen. Ein nur annähernd vergleichbarer Anreiz zur Einwilligung in das vereinfachte Verfahren besteht nicht. Es ist deshalb unzutreffend anzunehmen, die Medizin des nichtöffentlichen Verfahrens sei schlimmer als die Krankheit, die sie heilen sollte, so Weigend, Strafzumessung, S. 10 m. w. N.; skeptisch freilich auch Hertwig, Die Einstellung, S. 269 f. 77 Vgl. § 407 f AE-StPO, in dem § 270 Abs. 2 bis 4 stPO für entsprechend anwendbar erklärt wird. 78 Vgl. oben Kap. 6.33, S. 288 ff.
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8. Rechtspolitischer Vorschlag
kaum. Gerade hier ist es ratsam, die Möglichkeit der Streitschlichtung zwischen den Betroffenen unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu eröffnen; die derzeit zwingend öffentliche Verhandlung in Privatklagesachen bewirkt nur allzu oft eine Eskalation des Konflikts durch die Resonanz auf der Zuschauerbank und gießt Öl ins Feuer, weil die Parteien aus Angst vor einem Gesichtsverlust gegenüber "ihren" Zuschauern die nötige Einsicht und Ausgleichsbereitschaft vermissen lassen. Auch muß dem eines Privatklagedelikts Beschuldigten recht sein, was dem eines in der Regel schwereren Offizialdelikts Angeschuldigten billig ist. Deshalb ist im Einverständnis des geständigen Beschuldigten und nach Anhörung des Privatklägers das Privatklageverfahren als vereinfachtes nichtöffentliches Verfahren durchzuführen7D • Das schriftliche Bagatellisierungsverfahren ist anzugleichen an das Strafbefehlsverfahren, indem die Zulässigkeit einer Bagatellisierung mit oder ohne Sanktionsfolge im Strafbefehlswege vorgesehen wird. Zur Verstärkung des rechtlichen Gehörs auch hinsichtlich der von der Staatsanwaltschaft ins Auge gefaßten Rechtsfolgen ist vor Beantragung des Strafbefehls dem Beschuldigten Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben80• Um sicherzustellen, daß das Strafbefehlsverfahren für nach Aktenlage hinlänglich aufgeklärte Sachverhalte vorbehalten bleibt, empfiehlt es sich, diese Forderung im Gesetz ausdrücklich zu verankern.
79 So auch Baumann u. a., AE-Novelle zur Strafprozeßordnung, §§ 377 Abs. 2, 383 Abs. 1 AE-StPO, vgl. auch Begründung, S. 69. Für die Integration des Privatklageverfahrens in ein vereinfachtes Verfahren bereits Hirsch, Gegenwart, S. 827 ff. 80 Ebenso Baumann u. a., AE-Novelle zur Strafprozeßordnung, § 408 Abs.4 AE-StPO.
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