Das Staatsziel Finanzmarktstabilität: Verfassungs- und europarechtliche Vorgaben für die Stabilität der Finanzmärkte [1 ed.] 9783428582808, 9783428182800

Die weltweite Finanz- und Eurokrise in Folge des Zusammenbruchs des amerikanischen Immobiliensektors im Jahr 2007 führte

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Das Staatsziel Finanzmarktstabilität: Verfassungs- und europarechtliche Vorgaben für die Stabilität der Finanzmärkte [1 ed.]
 9783428582808, 9783428182800

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1457

Das Staatsziel Finanzmarktstabilität Verfassungs- und europarechtliche Vorgaben für die Stabilität der Finanzmärkte Von

Jan-Ole Alpha

Duncker & Humblot · Berlin

JAN-OLE ALPHA

Das Staatsziel Finanzmarktstabilität

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1457

Das Staatsziel Finanzmarktstabilität Verfassungs- und europarechtliche Vorgaben für die Stabilität der Finanzmärkte

Von

Jan-Ole Alpha

Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin hat diese Arbeit im Jahr 2020 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-18280-0 (Print) ISBN 978-3-428-58280-8 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit entstand während meiner Zeit als Wissenschaft­ licher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin. Sie wurde im April 2020 fertiggestellt, Literatur und Rechtsprechung konnten bis zu diesem Zeitpunkt berücksichtigt werden. Meinem Doktorvater Professor Dr. Markus Heintzen möchte ich für die stets engagierte Betreuung, wertvolle Hinweise zur Erstellung meiner Arbeit und die kritische Durchsicht des Manuskripts danken. An seinem Lehrstuhl habe ich vier schöne Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter verbracht. Pro­ fessor Dr. Christian Calliess danke ich für die schnelle und gründliche Zweit­ begutachtung. Prisca Feihle und Georg Fritz danke ich für die Teilnahme am Prüfungskolloquium. Ein besonderer Dank gilt Natalie Kowalczyk für die Durchsicht, wertvolle stilistische Anregungen und sämtliche Unterstützung während der Entstehung dieser Arbeit. Ohne ihre Unterstützung wäre diese Arbeit nicht zustande ge­ kommen. Weiterhin danke ich Christoph Michael Weber für hilfreiche Anre­ gungen, Kritik und viele Stunden in der Bibliothek. Für weitere Unterstüt­ zung und wichtige Hinweise danke ich Dr. Elmira Mamedowa, Laura Behr und Nikolaus Scheffel sowie Anne Diestelhorst, Dr. Lena Riemer und Franz Baer. Zuletzt möchte ich mich ganz besonders bei meinen Eltern bedanken, die mir während der gesamten Zeit mit viel Verständnis und Geduld zur Seite standen. Berlin, Mai 2021

Jan-Ole Alpha

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1. Kapitel

Die Doppelkrise 

27

A. Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Finanzkrise in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Geldpolitik und Immobilienblase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausbruch der Finanzkrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Euro- und Staatsschuldenkrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verlauf der Krise in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rolle der Staatsschulden  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die unausgeglichenen Leistungsbilanzen der Eurostaaten . . . . . . . . . 4. Weitere Ursachen der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27 28 28 33 36 36 37 38 39 41

B. Die Risikoneigung des Finanzsektors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Größe der Finanzmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Auswirkungen der Globalisierung auf das Finanzsystem . . . . . . . . III. Informationsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Hochfrequenzhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Leerverkäufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Hedgefonds und Private Equity . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Der Begriff des Systemrisikos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Systemische Risiken durch Anlagestrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Systemrisiko durch Systemrelevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Bedeutung des Bankensystems  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Spekulation als Systemrisiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Verwirklichung systemischer Risiken im Rahmen der letzten Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42 42 46 47 48 49 50 53 53 57 57 60 64 65

C. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

8 Inhaltsverzeichnis 2. Kapitel

Staat und Finanzmärkte 

68

A. Die Rolle des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 B. Finanzmarktstabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 C. Der Begriff der staatlichen Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Terminologische Grundfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Abgrenzung von Staatszwecken, -zielen und -aufgaben . . . . . . . a) Staatszwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Staatsziele und Staatszielbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Staatsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Der Begriff der staatlichen Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Finanzmarktstabilität als öffentliches Gut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Zusammenfassung und Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Finanzmarktstabilität als Staatsziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Verhältnis von Staat und Finanzmärkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gegenseitige Abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Verschärfung der Interdependenzen durch große Institute . . . c) Staatsverschuldung und Finanzmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Rolle der Ratingagenturen und deren Ratings . . . . . . . . . . . . 2. Die Rolle des Rechts für die Finanzmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74 74 75 75 77 81 83 86 91 93 94 95 95 98 99 100 102 106

3. Kapitel

Gemeinwohl und Finanzmärkte 

A. Die Begründung eines Staatszieles aus dem Gemeinwohl . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Gemeinwohl als Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Konstitution des Gemeinwohls aus öffentlichen und privaten Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Ausprägungen des Gemeinwohls in Gesetz und Rechtspre­ chung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Gemeinwohl in der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Gemeinwohl in der Rechtsprechung des Bundesverfas­ sungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

108 108 110 111 113 113 116 119

B. Finanzmarktstabilität als Gemeinwohlbelang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

Inhaltsverzeichnis9 4. Kapitel

Die verfassungsrechtlichen Vorgaben 

A. Methodische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Auslegung der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Begrenzende Prinzipien der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vom Bedeutungswandel zum Verfassungswandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Verfassungsinterpretation und Staatsziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

124 124 127 131 132 138

B. Die Auslegung des Grundgesetzesunter dem Gesichtspunkt der Finanz­ marktstabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 I. Die Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 1. Die „offene“ Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . 142 2. Staatliche Verantwortung für das Wirtschaftswachstum . . . . . . . . . . . 146 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 II. Staatliche Verantwortung durch Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 III. Staatliche Verantwortung durch europarechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . 154 IV. Art.  70 ff. GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 1. Der materielle Gehalt der Kompetenzbestimmungen . . . . . . . . . . . . . 155 2. Art. 73 Abs. 1 Nr. 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 3. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 a) Das Recht der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 b) Folgerungen für die Finanzmarktstabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 4. Ergebnis zur Auslegung der Art. 70 ff. GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 V. Art. 88 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 1. Die Bundesbank und die Stabilität der Finanzmärkte . . . . . . . . . . . . 166 a) Ansatz von Thiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 b) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 2. Die Bundesbank als „Hüterin der Währung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 3. Preisstabilität als Staatsziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 a) Preisstabilität und Finanzmarktstabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 b) Verpflichtung auf Finanzmarktstabilität als Bedeutungswandel des Art. 88 GG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 VI. Die Finanz- und Haushaltsverfassung des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . 176 1. Art. 109 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 a) Das „magische Viereck“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 b) Das Bekenntnis zu Keynes und seine Bedeutung für die Finanzmarktstabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 c) Auswirkungen der Föderalismusreform II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 aa) Keynes nach der Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 bb) Die Bedeutung des Verweises auf die Kriterien des Stabili­ täts- und Wachstumspaktes für die Finanzmarktstabilität . . . 188

10 Inhaltsverzeichnis d) Zwischenergebnis zur Auslegung des Art. 109 Abs. 2 GG . . . . . . 189 2. Art. 109 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 a) Das Neuverschuldungsverbot und die Finanzmarktstabilität . . . . 191 b) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 c) Finanzkrisen als Ausnahmen vom Neuverschuldungsverbot? . . . 199 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 3. Die Kreditaufnahme des Bundes und ihre Verbindung zu den Finanzmärkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 a) Kreditaufnahme des Bundes, Art. 115 Abs. 1 GG  . . . . . . . . . . . . 204 b) Nachhaltigkeit und Finanzmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 4. Ergebnis zur Auslegung der Vorschriften der Finanz- und Haus­ haltsverfassung unter dem Gesichtspunkt der Finanzmarktstabilität . 209 VII. Das Sozialstaatsprinzip und seine Verbindung zur Stabilität der Finanzmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 1. Soziale Gleichheit und Finanzkrisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 2. Soziale Sicherheit und Finanzkrisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 3. Existenzminimum und Finanzkrisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 VIII. Die Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 1. Die Funktionen der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 2. Die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG als Auftrag zur Stabilisierung der Finanzmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 a) Die Abwehr systemischer Risiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 b) Die Verpflichtung zur Wahrung einer stabilen Geldordnung . . . . 226 c) Zwischenergebnis zu Art. 14 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 3. Die Berufsfreiheit Art. 12 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 a) Schutzpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 b) Art. 12 GG als Grundrecht auf Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 c) Zwischenergebnis zu Art. 12 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 4. Weitere grundrechtliche Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 5. Grundrechte und Finanzierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 6. Ergebnis zu den Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 C. Ergebniszur Auslegung des Grundgesetzes unter dem Gesichtspunkt der Finanzmarktstabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 5. Kapitel

Folgerungen für das staatliche Handeln 

235

A. Staatliche Handlungspflichtenzur Herstellung und Bewahrung von Finanz­ marktstabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 I. Die Verpflichtungswirkung von Staatszielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

Inhaltsverzeichnis11 II.

Staatliche Handlungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 1. Finanzmärkte und Untermaßverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 2. Finanzmarktrechtliches Vorsorgeprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242

B. Exkurs: Krise und Demokratieprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 6. Kapitel

Europarechtliche Vorgaben zur Sicherung der Finanzmarktstabilität  248

A. Die Verantwortung der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 I. Die Begründung von Unionszielen und -aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 II. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 B. Gemeinwohlverpflichtung der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 C. Die Europäische Union als Stabilitätsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 I. Art. 3 Abs. 3 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 1. Die Verpflichtung der Europäischen Union auf das Ziel der Einhal­ tung von Preisstabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 a) Die Erweiterung des Zieles auf die Finanzmarktstabilität . . . . . . 262 b) Die „gesunden monetären Rahmenbedingungen“ als Verpflich­ tung auf die Finanzmarktstabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 2. Das Ziel eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums . . . . . . . . . . . . 264 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 II. Die Gewährleistung eines gemeinsamen Binnenmarktes . . . . . . . . . . . . 266 1. Binnenmarkt und Finanzmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 2. Die Grundfreiheiten und ihre Verbindung zur Finanzmarktstabilität . 268 3. Speziell: Kapitalverkehrsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 4. Grundfreiheitliche Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 III. Die soziale Marktwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 IV. Die Kompetenzproblematik der Europäischen Wirtschaftspolitik  . . . . . 273 V. Der Auftrag zur Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion . . . 275 1. Das Verbot übermäßiger Verschuldung, Art. 126 AEUV . . . . . . . . . . 276 a) Die Union als Fiskalunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 b) Bedeutung für die Finanzmarktstabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 c) Das Bail-out Verbot des Art. 125 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 2. Art. 136 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 a) Haushaltsdisziplin und präventiver Krisenmechanismus . . . . . . . 281 b) Der Europäische Stabilitätsmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 c) Die Möglichkeit eines neuen Stabilitätsmechanismus . . . . . . . . . 283 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 3. Die Möglichkeit des finanziellen Beistandes gem. Art. 122 Abs. 2 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284

12 Inhaltsverzeichnis VI. Die Aufgaben der Europäischen Zentralbank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 1. Die Europäische Zentralbank und Finanzmärkte . . . . . . . . . . . . . . . . 286 2. Die einzelnen Aufgaben und deren Verbindung zur Finanzmarkt­ stabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 a) Die geldpolitischen Instrumente und ihr Einfluss auf die Finanzmarktstabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 aa) Offenmarktgeschäfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 bb) Ständige Fazilitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 cc) Mindestreservepolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 dd) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 b) Die weiteren Aufgaben gem. Art. 127 Abs. 2 und deren Einfluss auf die Finanzmarktstabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 aa) Devisengeschäfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 bb) Der reibungslose Ablauf der Zahlungssysteme . . . . . . . . . . . 294 c) Insbesondere: Die Aufsicht über Kreditinstitute nach Art. 127 Abs. 5 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 d) Die „besonderen Aufgaben“ nach Art. 127 Abs. 6 AEUV . . . . . . 298 e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 D. Die Bedeutung der Europäischen Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Funktionen der Europäischen Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Herleitung von Aufgaben aus europäischen Grundrechten . . . . . . . III. Eigentumsgarantie, Art. 17 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Berufsfreiheit und unternehmerische Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ergebnis zu den Europäischen Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

301 302 304 304 306 306

E. Ergebnis zur Auslegung des europäischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Ergebnis und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343

Abkürzungsverzeichnis ABS

Asset Backed Security

a. E.

am Ende

a. F.

alte Fassung

AIF

Alternative Investmentfonds

AIG

American International Group

BaFin

Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht

BIP Bruttoinlandsprodukt BMI

Bundesministerium des Inneren

BMJ (jetzt BMJV) Bundesministerium der Justiz BRRD

Banking Recovery and Resolution Directive

BSP Bruttosozialprodukt CDO

Collateralized Debt Obligation

CDS

Credit Default Swap

EAPP

Expanded Asset Purchase Programme

EBA

European Banking Authority

EFSF

European Financial Stability Facility

ESM

European Stability Mechanism

ESZB

Europäisches System der Zentralbanken

EZB

Europäische Zentralbank

FED

Federal Reserve System

FMSA

Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung

Hrsg. Herausgeber IKB

Deutsche Industriebank

IOSCO

International Organization of Securities Commissions

IWF

Internationaler Währungsfonds

KAGB Kapitalanlagegesetzbuch MBS

Mortgage Backed Security

NINJA

No Income No Jobs or Assets

OMT

Outright Money Transactions

PSPP

Public Sector Purchase Programme

S & P SEC

Standard & Poor’s United States Securities and Exchange Commission

14 Abkürzungsverzeichnis SMP SoFFin SPV VSKS WTO

Securities Market Programme Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung Special Purpose Vehicle Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion World Trading Organization

Einleitung Im Rahmen einer kleinen Anfrage im Bundestag beantwortete die Bundes­ regierung Ende 2018 die Frage nach der Summe der Kosten der Banken­ rettungen nach der Finanzmarktkrise ab 2008. In Deutschland kostete die Finanzkrise den Steuerzahler bis Ende 2018 ca. 59 Milliarden Euro, wobei die Bundesregierung davon ausgeht, dass es mindestens 68 Milliarden Euro werden.1 Diese Summe umfasst nur die Rettung von Banken mit Sitz in der Bundesrepublik und zeigt, dass die Folgen der Krise weiterhin im politischen Alltag auftreten. Der Ursprung der Krise lag im US-amerikanischen Immobilienmarkt. In­ folge der Insolvenz der Investmentbank Lehman Brothers brach der Finanz­ sektor in den USA im Jahr 2008 zusammen und verursachte eine weltweite Wirtschaftskrise, die in Europa mitverantwortlich für den Ausbruch der Euro- und Staatsschuldenkrise war. Zur Bewältigung der Krise wurden von Parlamenten und Regierungen weltweit milliardenschwere Rettungspakete geschnürt. Ihre Langzeitfolgen sind heute noch spürbar, die Kosten der Ret­ tungspakete und Gewährleistungsübernahmen belasten die Staatshaushalte weiterhin. Steuerfinanzierte Rettungsmaßnahmen kamen systemrelevanten Banken („too big to fail“ oder auch „too interconnected to fail“) zugute.2 Die Euro­ päische Zentralbank stellte unmittelbar nach der Krise ca. 70 Milliarden Euro Liquidität zur Verfügung.3 In Deutschland war es, unmittelbar nach dem Zusammenbruch von Lehman, die Deutsche Industriebank (IKB), die infolge des massiven Einbruchs der von ihr gehaltenen Wertpapiere nur durch staat­ liche Hilfsmaßnahmen zu retten war. Die Hypo Real Estate, der größte Sa­ nierungsfall, musste bis heute mit ca. 130 Mrd. Euro an Garantien gestützt

1  Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis90/Die Grünen im Deutschen Bundestag, siehe http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/042/1904243.pdf (zuletzt abgerufen am 30.04.2020). 2  Beispielhaft genannt seien in Deutschland die WestLB und die Hypo Real Estate; insgesamt kostete die Bankenrettung ca. 236 Milliarden Euro, siehe http://deutschewirtschafts-nachrichten.de/2015/04/05/banken-rettung-kostet-deutsche-steuerzahler236-milliarden-euro/ vom 23.06.2015 (zuletzt abgerufen am 30.04.2020). 3  Heun, JZ 2010, S. 53.

16 Einleitung

und teilweise von der Bundesrepublik aufgekauft werden.4 Anteile der Bank werden heute noch vom Bund gehalten. Im Ursprungsland der Krise, den USA, wurde für die Banken ein steuer­ finanziertes Rettungspaket in Höhe von 700 Mrd. Euro sowie ein Konjunk­ turprogramm für die Wirtschaft in Höhe von 800 Mrd. Euro verabschiedet. In Deutschland wurden ähnliche Summen erreicht: Für den Bankensektor sah das Finanzmarktstabilisierungsgesetz5 (FmStG) Unterstützung in Höhe von 480 Mrd. Euro vor, welches durch Konjunkturprogramme in Höhe von 80 Mrd. Euro flankiert wurde6. Zur Ergänzung wurde das Finanzmarktstabi­ lisierungsergänzungsgesetz7 (FMStGErgG) erlassen. Das Zweite8 und Dritte9 Finanzmarktstabilisierungsgesetz erweiterte den zeitlichen Anwendungsbe­ reich der kurzfristigen Krisenbekämpfungsmaßnahmen des ersten FmStG bis zum 31.12.2014.10 Auf Grundlage der Stabilisierungsgesetze wurde zugleich der Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung (SoFFin) gegründet, der Liquidi­ tätshilfen zur Verfügung stellte. Die Aufarbeitung und die Bewältigung von Krisen durch Stabilisierungs­ gesetze des Staates ist historisch kein Einzelfall, sondern reiht sich ein in eine lange Liste von Notgesetzen zur Finanzmarktstabilisierung wie das Verbot des Terminhandels der niederländischen Ostindien-Kompanie (1610), das Gesetz über den sog. Bubble Act (1720), die Weimarer Notverordnung vom 5. Juni 1931 „Zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen“ und der Sarbanes-Oxley Act (2002).11 Die Aufzählung der Notgesetze zeigt einerseits grundlegend den Umgang mit Finanzmarktkrisen, die vom Staat ein zügiges und entschiedenes Eingreifen verlangen. Andererseits, dass Finanzmarktkri­ sen, wie diejenige seit 2007, kein neues oder einzigartiges Ereignis darstel­ len, sondern Staaten, deren handelnde Organe und damit auch das Recht immer wieder vor Herausforderungen stellen. 4  Hierzu Servatius, in: Roth (Hrsg.), Europäisierung des Rechts, S. 243, 245 f. und weitergehend M. Müller, Finanzmarktstabilisierung und Anlegereigentum, S. 30 ff. 5  Finanzmarktstabilisierungsgesetz v. 17.10.2008, BGBl. I, S. 1982. 6  Konjunkturpaket I: Gesetz zur Umsetzung steuerrechtlicher Regelungen des Maß­ nahmenpakets „Beschäftigungssicherung durch Wachstumsstärkung“ v. 21.12.2008, BGBl. 2008 I, S. 2896; Konjunkturpaket II: Gesetz zur Sicherung von Beschäftigung und Stabilität v. 02.03.2009, BGBl. 2009 I, S. 406. 7  Finanzmarktstabilisierungsergänzungsgesetz vom 7.4.2009, BGBl. I, S. 725. 8  Zweites Gesetz zur Umsetzung eines Maßnahmenpaketes zur Stabilisierung des Finanzmarktes v. 24.02.2012, BGBl. 2012 I, S. 206. 9  Drittes Gesetz zur Umsetzung eines Maßnahmenpaketes zur Stabilisierung des Finanzmarktes v. 20.12.2012, BGBl. 2012 I, S. 2777. 10  Egidy, Finanzkrise und Verfassung, S. 321. 11  Die Aufzählung ist Hopt/Fleckner/Kumpan/Steffek, WM 2009, S. 821, 821 ent­ nommen; ferner zu Regulierungsmaßnahmen, insbesondere dem Aufbau der Banken­ aufsicht im Nachgang von Finanzkrisen, Pahlow, Der Staat 50 (2011), S. 621, 623 ff.

Einleitung17

Aus der Wirtschafts- und Finanzkrise entwickelte sich in der Europäischen Union ab 2009 die Euro- und Staatsschuldenkrise. Staaten wie Irland und Spanien, in denen nach der Finanzkrise eine Immobilienblase platzte, muss­ ten wiederum umfangreiche Finanzhilfen zur Rettung ihres Bankensystems bereitstellen. In Irland stieg die Staatsschuldenquote von 25 % im Jahr 2007 auf 109 % im Jahr 2011. Den Höhepunkt der Krise bildete der beinahe Staatsbankrott Griechenlands, der zu Vertrauensverlusten auf dem Inter­ bankenmarkt führte und innerhalb Europas den Kapitalmarkt zwischen den Banken ein weiteres Mal austrocknete.12 Innerhalb der gesamten Europäi­ schen Union mussten Banken im Wege des sog. Bail-out vor der Insolvenz gerettet werden. Bail-out bezeichnet die Tilgung der Schulden oder die Haf­ tungsübernahme durch einen Dritten, im Zuge der Finanzkrise waren dies größtenteils die Nationalstaaten. Die Finanzkrise und die Euro- und Staatsschuldenkrise entwickelten nega­ tive Synergieeffekte und verstärkten sich so gegenseitig.13 Instrumente wie der vorübergehende Europäischen Finanzierungsmechanismus (European Financial Mechanism – EFSM)14 und die vorläufige europäische Finanz­ stabilitätsfazilität (European Financial Stability Facility – EFSF) sollten der Staatsschuldenkrise beikommen, indem sie Finanzierungshilfen an Staaten ermöglichten und stabilisierend auf den Eurokurs wirken sollten.15 Der EFSF hat ein Volumen von 726 Mrd. Euro. Inwiefern diese Instrumente helfen und krisenfest sind, wird sich im Laufe der Jahre zeigen. Die Geschichte zeigt: Krisen der Finanzmärkte bleiben und müssen bewäl­ tigt werden. Die Märkte sind in der Zeit nach der Krise nicht klüger gewor­ den und funktionieren auch nicht grundlegend anders als vorher. Dies führt zu einer dauernden Instabilität des Finanzsystems und einem anhaltenden Misstrauen in Finanzinstitutionen. Nach Ausbruch der Krise wurde deutlich, dass sich das Verfassungsrecht neuen Herausforderungen entgegensieht, aber in der Frage der Krisenbewäl­ tigung und Krisenprävention eine „geringe Steuerungskraft“ aufweist.16 Die Frage, wie das Verfassungsrecht sich in der Krise bewährt, ist weiterhin nicht eindeutig geklärt. Während der Zeitpunkt einer Finanzkrise unvorhersehbar bleibt, ist es vorhersehbar, dass eine solche früher oder später ausbrechen wird. Es muss geklärt werden, ob das Verfassungsrecht tatsächlich so wenig 12  Sachverständigenrat, Jahresgutachten 2011/2012, S. 1. Ausführlich zum Begriff des Vertrauens und dessen Bedeutung für das Finanzmarktrecht Mülbert/Sajnovits, ZfPW, S. 1, 4 ff. 13  Sachverständigenrat, Jahresgutachten 2011/2012, S. 135 ff. 14  Verordnung (EU) Nr. 407/2010 v. 11.5.2010, ABl. EU L 118/1. 15  Siehe hierzu Hild, Die Staatsschuldenkrise in der EWU, S. 93 ff. 16  Ruffert, NJW 2009, S. 2093, 2097; siehe auch Papier, WM 2009, S. 1869, 1869.

18 Einleitung

Anhaltspunkte enthält, also kaum Steuerungskraft im Hinblick auf die Fi­ nanzmarktstabilisierung entfaltet. Vor diesem Hintergrund ist es erforderlich, das grundsätzliche Verhältnis zwischen der Verfassung und den Finanzmärk­ ten aufzuarbeiten. Um in der Zukunft einer Finanzkrise nicht erneut unvorbereitet entgegen zu stehen, werden vermehrt präventive staatliche Maßnahmen in Betracht gezogen. Rettungsaktionen vermögen an den Ursachen der Krise nichts zu verbessern, sie verschieben die Probleme; zwar werden Zinslasten gesenkt, aber zugleich erhöhen sich die Staatsschulden kreditfinanziert.17 Eine solche Krise sollte in Zukunft durch bessere Präventionsmaßnahmen vermieden werden. Zugleich ist evident, dass in Zeiten einer globalisierten Finanz- und Weltwirtschaft rein nationale Maßnahme nicht ausreichen werden, sondern es wegen des grenzüberschreitenden Bankengeschäfts einer möglichst einheit­ lichen Regelung, zumindest auf der Ebene der Europäischen Union, bedarf. Um einer erneuten Bankenkrise besser entgegentreten zu können und die geschilderten systemgefährdenden Folgen zu verhindern, hat die Europäische Union die Bildung einer Bankenunion bestehend aus drei Säulen in Angriff genommen. Die erste Säule – der einheitliche Aufsichtsmechanismus (single supervisory mechanism – SSM) wurde durch die SSM-Verordnung18, die am 03.11.2013 in Kraft trat, errichtet. Die zweite Säule bildet der einheitliche Abwicklungsmechanismus (single supervisory mechanism – SRM), der in der SRM-Verordnung19 ausgestaltet ist. Die dritte Stufe soll ein – weiterhin dis­ kutiertes – europäisches Einlagensicherungssystem (EDIS) bilden. Wie die andauernden Maßnahmen zeigen, ist die Krise keinesfalls vollständig vorbei. Seit 2012 hat die Stabilität der Finanzmärkte im Euroraum zwar wieder zu­ genommen, dies bedeutet aber nur, dass es keinen akuten Krisenzustand mehr gibt.20 17  P. Kirchhof,

NJW 2013, S. 1, 2. (EU) Nr. 1024/2013, ABl. EU L 287/63 v. 29.10.2013 19  VO (EU) Nr. 806/2014, ABl. EU L 225 v. 30.07.2014. 20  So Hellwig, Yes Virginia, There is a Banking Union! But It May not Make Your Wishes Come True, S. 6, abrufbar unter https://www.coll.mpg.de/pdf_dat/2014_12 online.pdf (zuletzt abgerufen am 30.04.2020); ferner Wojcik, in: von der Groeben/ Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 63 AEUV Rn. 82, der von „beträcht­ lichen regulatorischen Herausforderungen“ durch die Finanz- und Wirtschaftskrise ausgeht, die immer noch „anhalten“. Ähnlich argumentiert auch Adam Tooze, ­Crashed, S. 19 f., der beschreibt, dass der Krisenzustand zwar 2012 bewältigt schien, sich aber im Nachhinein herausgestellt habe, dass die Krise damals noch nicht überstanden gewesen sei, sondern sich zwischen 2013 und 2017 zu einer politischen Krise gewan­ delt habe. Auch Stelter, Zehn Jahre Finanzkrise: Nichts dazugelernt (13.09.2018), Cicero, abrufbar unter https://www.cicero.de/wirtschaft/finanzkrise-lehman-brothersbanken-schulden-zinsen (zuletzt abgerufen am 30.04.2020), geht davon aus, dass die Krise jederzeit wieder ausbrechen könnte; von „Folgewirkungen“ spricht Egidy, Fi­ 18  VO

Einleitung19

Bei allen Maßnahmen, die ergriffen werden, um krisenauslösende Fakto­ ren in Zukunft gering zu halten, stellt sich die Frage nach einer staatlichen Verantwortung für die Abwendung von Finanzkrisen. Die handelnden Staaten setzen diese häufig als bestehend voraus. Die Stabilität der Finanzmärkte gilt als Argument für die Einschränkung anderer verfassungsmäßiger Rechte.21 Ob das geltende Verfassungsrecht derartige Konstruktionen stützt, ist nicht ohne weiteres ersichtlich. Selbiges gilt für den verfassungsrechtlichen Rang eines solchen Zieles, der schon aus dem Grund bestimmt werden muss, dass präventive staatliche Maßnahmen in Grundrechte eingreifen und ein solcher Eingriff der Rechtfertigung aufgrund eines legitimen Regelungszieles bedarf. Es stellt sich daher die Frage nach der Legitimität staatlicher Krisenpräven­ tion. Nach der Finanzmarktkrise 2008 kam es zu einer regelrechten Flut von Vorschriften zur Regulierung und Beaufsichtigung der Finanzmärkte.22 Fi­ nanzmarktstabilität gilt nicht ohne weiteres als Argument. Geht es um Grundrechte, reicht für die Rechtfertigung eines Eingriffes nicht ein beliebiges Ziel aus. Eine Diskussion über die Eingriffsintensität der Aufsichtsbefugnisse und Eigenkapitalanforderungen und dem entgegenste­ hende Rechtsgüter findet kaum statt.23 Dass die Finanzmarktstabilität als Rechtsgut überhaupt fähig ist, den Eingriff in Grundrechte zu rechtfertigen, wird durch den Gesetzgeber stillschweigend vorausgesetzt und dabei auf ihre Wichtigkeit für Wirtschaft und Staat hingewiesen. Welchen Wert das Grund­ gesetz und die europäischen Verträge der Finanzmarktstabilität eigentlich beimessen, ist dagegen offen. Maßnahmen, die den Finanzsektor betreffen, um Krisen präventiv zuvor­ zukommen, werfen die Frage eines staatlichen Handlungsauftrages zur Her­ stellung von Finanzstabilität auf. Wichtig ist dies nicht nur wegen des Ge­ wichts eines solchen Belanges in der Abwägung mit den Grundrechten, sondern vor allem auch im Hinblick darauf, ob der Staat einerseits verpflich­ tet ist, präventiv gegen die Entstehung von Instabilität auf dem Finanzmarkt tätig zu werden, und andererseits, wenn er dies tut, ob diesem Belang ein verfassungsrechtlicher Rang gebührt. nanzkrise und Verfassung, S. 1; anders Sachverständigenrat, Jahresgutachten 2015/16, Rn.  185 ff.; M. Müller, Finanzmarktstabilisierung und Anlegereigentum, S. 1. 21  Exemplarisch BVerfGE 147, 50 ff. für die Finanzmarktstabilität als Belang des Staatswohles, der geeignet sei, parlamentarische Untersuchungsrechte einzuschrän­ ken. 22  Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, § 14 Rn. 176; Mülbert, ZHR 176 (2012), S. 369 ff.; Schaffelhuber, GWR 2011, S.  488 ff.; Schemmel, Europäische Finanzmarktverwaltung. S. 1 sprechen von einem „Regelungs-Tsunami“. 23  Von einer „mitunter hohen Eingriffstiefe“ geht Egidy, Finanzkrise und Verfas­ sung, S. 7, aus.

20 Einleitung

Gleichsam ist in Zeiten globalisierter Finanz- und Weltwirtschaft zu be­ denken, dass rein nationale Maßnahmen nur begrenzten Erfolg versprechen können. Erfolgsversprechender erscheinen Maßnahmen im Rahmen der Eu­ ropäischen Union, wie sie mit der Bildung einer Bankenunion zur Auflocke­ rung der gefährlichen Verbindung zwischen Banken- und Staatsschulden be­ reits begonnen wurden. An dieser Stelle stellt sich die Frage eines Hand­ lungsauftrages oder einer Verantwortung der Union zur Herstellung von ­Finanzmarktstabilität. Wesentliche Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist, welche Vorgaben das Verfassungsrecht und das Europarecht für die Finanzmarktstabilität auf­ stellen. Dabei geht es insbesondere um die Frage einer staatlichen Verant­ wortung für die Finanzmarktstabilität und darum, ob sich aus dem Grundge­ setz eine solche in Form eines Staatszieles herleiten lässt. Es geht sowohl um eine rein nationale als auch um eine europäische Verantwortung. Zwar lässt sich gegen eine nationale Verantwortung vorbringen, dass in Zeiten einer globalisierten Weltwirtschaft diese allein nicht genügen kann, um den Fi­ nanzmärkten Einhalt zu gebieten. Dennoch betätigt sich der deutsche Gesetz­ geber auch auf nationaler Ebene umfangreich mit regulierenden Gesetzen im Finanzsektor. Es ist nicht abschließend geklärt, inwieweit durch das Verfas­ sungsrecht dieser Regulierung und Aufsicht auch Grenzen gesetzt sind.24 Bei entsprechendem verfassungsrechtlichem Rang der Finanzmarktstabili­ tät sind die Mittel des Staates, in Abwägung mit den Grundrechten, deutlich umfangreicher.25 Eine Abwägung mit den Grundrechten hat schon deshalb stattzufinden, da wirtschaftslenkende und markteingreifende Gesetze einen Rechtfertigungsbedarf auslösen. Das Bundesverfassungsgericht spricht von Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung26, die aus Art. 12 Abs. 1 GG folge und auch für Unternehmen auf den Finanzmärkten gilt. Dies entfaltet einen Legitimationsdruck für Interventionen auf dem freien Markt, der zumindest „vertretbare und verfassungsrechtlich zulässige wirtschaftspolitische Ziele“ erfordert27. Ob die Finanzmarktstabilität ein solches wirtschaftspolitisches Ziel von Verfassungsrang ist, kann geklärt werden, indem das Grundgesetz auf Weisungsgehalte in diese Richtung hin untersucht wird. Geht man über die nationale Ebene hinaus, fällt die Europäische Union in den Blick, der es am ehesten zuzutrauen ist, einen gemeinsamen Konsens in Kadelbach, in: ders. (Hrsg.), Nach der Finanzkrise, S. 9, 11. formuliert schon Bull, Staatsaufgaben, S. 10, dass der Zweck der Maßnahme nicht gleichgültig sein kann, sondern „Maßnahmen zur Durchsetzung von Zielen, die nicht zu den zulässigen staatlichen Aufgaben gehören, sind ohne weiteres unverhält­ nismäßig“. 26  BVerfGE 25, 1, 23; 50, 290, 361. 27  R. Schmidt, Öff. Wirtschaftsrecht AT, S. 79. 24  So 25  So

Einleitung21

der Finanzmarktstabilisierung zu finden und auf deren Rechtsgrundlagen mehrere umfangreiche Maßnahmen der Krisenbewältigung erlassen wurden. Auf Ebene der Europäischen Union gilt gleichermaßen, dass eine Verantwor­ tung für einen bestimmten Sektor nicht ohne weiteres besteht. Wegen des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EUV) be­ stehen Kompetenzen der Union immer nur im Zusammenspiel mit den Mit­ gliedstaaten. Sollte sich eine Verantwortung schon aus dem deutschen Ver­ fassungsrecht ergeben, hätte dies daher Auswirkungen auf eine gesamteuro­ päische Verantwortung. Gleichermaßen trifft dies im umgekehrten Fall zu. Wenn sich aus dem deutschen Recht keine solche Verantwortung ergibt, ist fraglich, ob die Europäische Union eine solche ohne weiteres für sich bean­ spruchen kann oder gar, ob die Mitgliedstaaten aus dem europäischen Recht heraus verpflichtet sind, die Finanzmärkte zu stabilisieren. Trotz der Internationalisierung der Märkte durch globale Vernetzung nimmt auch der einzelne Staat eine wichtige Rolle ein, so dass von nationa­ ler Verantwortung gesprochen werden kann.28 Der einzelne Staat ist es näm­ lich, der im Fall einer sich anbahnenden Krise schnell handeln kann und muss. Dies zeigte sich auch in der jüngeren Vergangenheit, als zwei italieni­ sche Banken durch nationale Maßnahmen gerettet wurden. Solche Aktionen sind in einem Verbund aus mehreren Staaten nur bedingt möglich, zumindest die Europäische Union ist nach ihrer gegenwärtigen Konzeption dazu nicht unmittelbar in der Lage. Sie verfügt über keine eigenen Mittel und kann keine eigenen Rettungspakete zur Verfügung stellen, sondern nur die Ret­ tungsaktionen der Mitgliedstaaten koordinieren. Anders als einzelne Staaten kann die Union dagegen effektive Regulierungsmaßnahmen auf den Finanz­ märkten durchsetzen, da diese aufgrund der Internationalisierung nicht auf das Gebiet eines Staates beschränkt sind, dem damit für Regulierung und Aufsicht natürliche Grenzen gesetzt sind. Supranationale Maßnahmen sind daher präventiv zur Verhinderung zukünftiger Krisen besser geeignet als rein nationale Maßnahmen. Zur Bewältigung einer bereits ausgebrochenen Krise dagegen werden auch nationale Maßnahmen neben supranationalen Maßnah­ men bedeutsam, da die Wirklichkeit der politischen Maßnahmen zeigt, dass die Konsensfähigkeit auf nationaler Ebene am höchsten ist und Finanzinsti­ tutionen mit Rettungspaketen aus ganz oder zum großen Teil nationalen Quellen gestützt werden. Gleichermaßen angesprochen ist hiermit das Problem des Inhalts einer möglicherweise bestehenden Verantwortung und der Auswirkungen, die eine solche Verantwortung für die Interpretation anderer Normen der Verfassung und des einfachen Gesetzesrechts haben könnte. Problematisch ist schon, dass es ein Wesensmerkmal von funktionsfähigen Finanzmärkten ist, dass 28  Voßkuhle,

VVDStRL 62 (2003), S. 266, 272 f.

22 Einleitung

Anleger die Freiheit haben, Risiken einzuschätzen und einzugehen.29 Wie weit darf diese Freiheit zugunsten von Sicherheit und Stabilität beschnitten werden? Bedeutet die Wahrnehmung der Verantwortung beispielsweise eine rechtlich verbindliche Pflicht zur Rettung von in Schieflage geratenen Finanz­ instituten? Die Entscheidung der US-amerikanischen Regierung, die taumelnde Lehman Brothers Bank nicht zu retten, löste die Kettenreaktion zum Ausbruch der Krise aus. Diese Entscheidung kann daher negativ gesehen werden. An­ dererseits lässt sich argumentieren, die Krise lag so tief im System verwur­ zelt, dass sie früher oder später mit Sicherheit ausgebrochen wäre, so dass es richtig war, die Bank nicht zu retten. Gleiches galt im umgekehrten Fall, als die Rettung zweier italienischer Banken im Frühjahr 2017 mit Kosten in Höhe von 17 Mrd. Euro gleichermaßen Kritik hervorrief. Klärungsbedürftig ist daher, welchen Inhalt ein Staatsziel hätte und ob sich diesem eine Hand­ lungspflicht entnehmen ließe. Gleichermaßen stellt sich die Frage, ob nach den Erfahrungen der letzten Krise, eine staatliche Verantwortung für die Fi­ nanzmarktstabilität bedeutet, dass der gesamte Finanzsektor reguliert werden muss. Präventive Maßnahmen müssen schon deshalb angedacht werden, da im Nachhinein sowohl bei einer Entscheidung für eine Bankenrettung als auch bei Entscheidung für die Nichtrettung die Staatskasse in weit höherem Maße belastet wird als bei vorbeugenden Maßnahmen. Im Rettungsfall durch dessen Kosten, im anderen Fall durch die makroökonomischen Folgen einer Bankenpleite, die unabsehbar sind und daher ein großes Risiko bergen. Der Staat wird durch die finanziellen Kosten der Maßnahmen zur Bewäl­ tigung von Krisen gedrängt, nicht erst nach Ausbruch der Krise zu reagieren, sondern Fehlentwicklungen vorherzusehen und durch Gegensteuerung Ge­ fahren für die Finanzmärkte im Keim zu ersticken.30 Dabei hat die letzte Finanzkrise gezeigt, dass der Handlungsdruck auf die staatlichen Organe Ausmaße erreicht, die Maßnahmen als alternativlos und eine verfassungs­ rechtliche Begrenzung als unmöglich erscheinen ließen.31 Die staatliche Entscheidungsfindung durch das Parlament kann bei Rettungsmaßnahmen, die quasi „übers Wochenende“ und von kleinen Gremien32 beschlossen wer­ den, nicht gewährleistet werden. Hinzu kommt, dass die Finanzmärkte über 29  Blaurock,

JZ 2012, S. 226, 227. Grimm, in: ders. (Hrsg.) Staatsaufgaben, S. 613, 625; Siekmann, in: Möl­ lers/Zeitler, Europa als Rechtsgemeinschaft, S. 101, 112. 31  J. Ipsen, Der Staat der Mitte, S. 248. 32  Eine Praxis, die nach BVerfGE 130, 318 ff. wegen Nichtbeachtung parlamenta­ rischer Beteiligungsrechte nach Art. 38 Abs. 1 GG verfassungswidrig war. Siehe auch Nettesheim, NJW 2012, S. 1409 ff., der auf die „Funktionsgegebenheiten der Euroret­ tungspolitik“ verweist, denen sich auch der Deutsche Bundestag nicht entziehen könnte. 30  Vgl.

Einleitung23

globale Ansteckungskanäle zwar internationale Krisen auslösen können, die Krise aber oft national ausbricht. So entstand die Finanzkrise 2007 zunächst in den USA, mitverursacht durch die nationale Politik, die Transformation zur Eurokrise hat ebenfalls ihre Ursachen in Versäumnissen nationaler Poli­ tik. Die Thematik bleibt aktuell. Finanzmärkte und Staaten bleiben miteinan­ der verwoben. Die BaFin warnt mehr als zehn Jahre nach Ausbruch der Krise vor einer erneuten Deregulierung.33 Auch die Bundesbank warnt weiterhin vor den möglichen Auslösern und Folgen einer weiteren Krise.34 Weiterhin bergen Italiens Staatsschuldenproblem sowie der bevorstehende Brexit inner­ halb des Raumes der Europäischen Union Krisenpotential. Der Brexit hat weitreichende Folgen für die Bundesländer, insbesondere das Saarland ist betroffen.35 Die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronakrise könnten ebenfalls eine Wirtschaftskrise auslösen, die auch die Finanzmärkte beträfe. Neuerdings entwickelt sich ein Konflikt zwischen Kleinanlegern in Internet­ foren und Hedge-Fonds, der im Januar 2021 so weit ging, dass Melvin Capi­ tal, ein US-amerikanischer Hedge-Fonds, mit 2,75 Mrd. US-Dollar gerettet werden musste. In Deutschland zeigten sich 2016 Anzeichen einer kleineren bis mittleren Bankenkrise wegen der Vergabe fauler Schiffskredite durch mehrere deutsche Banken.36 Bemerkenswert sind zum einen die NordLB, die für 1,5 Milliarden Euro Schiffskredite verkauften musste.37 Zum anderen die HSH Nordbank, die Schiffskredite in Höhe von 5 Milliarden Euro an Gesell­ schaften der Länder Schleswig-Holstein und Niedersachsen übertragen musste, um die prekäre Lage nicht weiter zu verschlechtern. Finanziert wurde der Kauf der faulen Schiffskredite durch eine andere Bank, wiederum mit­ hilfe eines Staatsfonds. Das Recht ist für Finanzmärkte von elementarer Bedeutung. Finanzkrisen bedürfen effektiver staatlicher Regulierung und Intervention. Dass Finanz­ märkte generell instabil seien und Wirtschaftskrisen aufgrund der zyklischen Schwankungen früher oder später sowieso ausbrechen, kann kein Argument sein, sich nicht mit dem umrissenen Thema auseinanderzusetzen. So zeigt 33  http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/bafin-warnt-10-jahre-nach-beginn-derfinanzkrise-vor-deregulierung-a-1238077.html (zuletzt abgerufen am 30.04.2020). 34  http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/bundesbank-warnt-vor-gefahren-fuerdie-finanzstabilitaet-a-1238372.html (zuletzt abgerufen am 30.04.2020). 35  Siehe https://www.sr.de/sr/home/nachrichten/politik_wirtschaft/brexit_vorberei tungen_im_saarland100.html (zuletzt abgerufen am 30.04.2020). 36  Siehe http://www.faz.net/aktuell/finanzen/nord-lb-dvb-bank-und-co-leiden-unterschifffahrtskrise-14476604.html (zuletzt abgerufen am 30.04.2020). 37  http://www.handelsblatt.com/unternehmen/banken-versicherungen/landesbanken banken-nordlb-verkauft-schiffskredite-an-kkr/14438828.html (zuletzt abgerufen am 30.04.2020).

24 Einleitung

das Beispiel Kanadas im Rahmen der letzten Krise, dass vorbeugende Maß­ nahmen helfen können; kein kanadisches Finanzinstitut musste Insolvenz anmelden oder benötigte staatliche Hilfe, was im Wesentlichen auf die kom­ plexen Regulierungsstrukturen zurückzuführen war.38 Um dies zu ermögli­ chen, muss das Recht die geeigneten Mittel bereitstellen und die staatlichen Organe zur Durchsetzung dieser Mittel berechtigen. Über die Rechtmäßigkeit vergangener Rettungsmaßnahmen zu diskutieren, kann allein nur einen klei­ nen Beitrag zur Entwicklung des Rechts der Finanzmärkte liefern. Dies lie­ fert aber wenig Handlungsimpulse für neue Rechtsetzung. Die Finanzmarkt­ krise hat grundlegende Fragen aufgeworfen: Zum einen, inwiefern das Grundgesetz solche Ausnahmesituationen auf demokratischem Wege regelt und welche Rolle die Grundrechte hierbei spielen. Zum anderen stellt die Krise das europäische Recht in Frage, welches im Hinblick auf die Finanz­ marktstabilität aus seiner „unglückseligen Lage“ herausfinden muss.39 Einen Beitrag zu der Frage zu leisten, in welchem Maße dies möglich ist, ist Ziel der vorliegenden Arbeit. In der Literatur wurde im Nachgang der Krise überwiegend von einer Verantwortung des Staates ausgegangen, wobei keine vollständige Untersu­ chung der verfassungsrechtlichen Herleitung vorliegt.40 Dabei stechen die Untersuchungen von Kaufhold41 und Thiele42 heraus, die sich mit der Auf­ sicht über Finanzinstitute auseinandersetzen und in diesem Rahmen untersu­ chen, inwiefern den Staat aufgrund verfassungsrechtlicher Vorschriften eine Handlungspflicht trifft. Beide kommen nicht zu übereinstimmenden Ergeb­ Ittner, in: Dombret/Lucius, Stability of the Financial System, S. 180, 184 f. Der Staat 51 (2012), S. 357, 385; ähnlich Ruffert, ZG 2013, S. 1, 2. 40  So z. B. D. Bauer, DÖV 2010, S. 20, 28, nach der der Staat zur Eindämmung systemischer Risiken „verpflichtet“ ist; ferner Blaurock, JZ 2012, S. 226, 226 „ele­ mentare Staatsaufgabe“; Höfling, Gutachten F zum 68. Deutschen Juristentag, S. 9 f.: „zentrales öffentliches Interesse“ und „elementare Staatsaufgabe“; R. Schmidt, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. XI, § 252 Rn. 46 „es sind staatliche Vorschriften zu schaffen, (…); Schorkopf, VVDStRL 71 (2012), S. 183, 196 ff., der die Finanzmarktstabilität auf die gleiche Stufe stellt wie die anerkannten Staatziele der Gewährleistung von Preisstabilität und des Wettbewerbs; Siekmann, in: Möllers/ Zeitler (Hrsg.), Europa als Rechtsgemeinschaft, S. 101, 112 „Aufgabe der Gefahren­ abwehr“; für die Europäische Union Tuori/Tuori, The Eurozone Crisis, S. 183 f.; zu­ rückhaltend Klingenbrunn, Produktverbote zur Gewährleistung von Finanzmarkt­ stabilität, S. 283; ablehnend Heun, JZ 2010, S. 53, 59; Schott, Reaktionen des Staates, S. 94, 107; Wißmann, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, § 15 Rn. 12a. Ausführlicher auch zur verfassungsrechtlichen Herleitung vor allem Calliess, VVDStRL 71 (2012), S. 113, 117 ff.; Egidy, Finanzkrise und Verfas­ sung, S.  84 ff.; Kaufhold, Systemaufsicht, S. 193 ff.; Thiele, Finanzaufsicht, S. 237 ff. 41  Kaufhold, Systemaufsicht, S. 193 ff. 42  Thiele, Finanzaufsicht, S. 237 ff., 363 ff., der eine ablehnende Ansicht zu einer solchen Verantwortung entwickelt. 38  Vgl.

39  Joerges,

Einleitung25

nissen, so dass auch dieser Komplex nicht hinreichend geklärt ist. Hinsicht­ lich der europäischen Vorgaben gibt es weniger Untersuchungen, die sich mit diesen auseinandersetzen.43 Eine Ausnahme sind die Dissertationen von Klingenbrunn44 und Mendelsohn45, die anders als die vorliegende Arbeit den Schwerpunkt nicht auf das Verfassungsrecht legen. Einen besonderen Schwerpunkt auf das Eigentumsrecht legt die 2019 veröffentlichte Untersu­ chung von M. Müller46, einen Schwerpunkt auf das Finanzkrisenmanagement vor dem Hintergrund des Demokratieprinzips legt die Untersuchung von Egidy47. Während Egidy die Problematik unter dem Gesichtspunkt eines Legitimationsdefizits bei Bewältigung der Krise behandelt, betrachtet die vorliegende Arbeit verfassungs- und europarechtliche Anknüpfungspunkte für die Begründung eines Staatszieles. Die beiden letztgenannten Untersu­ chungen aus dem Jahr 2019 verdeutlichen, dass die Problematik auch gut zehn Jahre nach der Krise nicht ausdiskutiert ist. Verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zu dem Komplex gibt es kaum. Zu erwähnen ist die Ent­ scheidung des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Belange der Finanz­ marktstabilität dem Staatswohl zugehören und damit geeignet sind, Unter­ suchungsrechte des Bundestages einzuschränken.48 Literatur und Rechtsprechung haben zu der Frage der verfassungsrecht­ lichen Vorgaben daher noch keine einheitliche Auffassung gebildet, welche vor einer erneuten Krise vor verfassungsrechtlicher Unsicherheit schützen könnte. Im ersten Kapitel sollen zunächst überblickartig Ursachen und Verlauf der Finanzkrise seit 2007 beschrieben werden. Auf dieser Grundlage kann aufge­ zeigt werden, warum gerade der Finanzsektor besonders krisenanfällig ist. Im zweiten Kapital kann darauf aufbauend untersucht werden, inwiefern Staat und Finanzmärkte voneinander abhängen und gefährliche Verbindungs­ linien aufgezeigt werden. Hieraus ist zu entwickeln, ob die Finanzmarktstabi­ lität durch die Krise in den Rang eines Staatszieles aufgerückt sein kann. Zu diesem Zweck sind terminologische Grundfragen abzuhandeln und ist im 43  Hierzu wiederum Kaufhold, Systemaufsicht, S. 205, mit ablehnendem Ergebnis und Klingenbrunn, Produktverbote zur Gewährleistung von Finanzmarktstabilität, S. 12 ff., der sich auf ca. zehn Seiten mit einigen Normen der europäischen Verträge befasst und ebenfalls eine Verantwortung ablehnt; ferner Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Bankensektor, S. 151, die davon ausgeht, dass „Finanz­ marktstabilität (noch) nicht zu den Zielen der Europäischen Union“ gehört. 44  Klingenbrunn, Produktverbote zur Gewährleistung von Finanzmarktstabilität. 45  Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Bankensektor. 46  M. Müller, Finanzmarktstabilisierung und Anlegereigentum. 47  Egidy, Finanzkrise und Verfassung. 48  BVerfGE 147, 50 ff.

26 Einleitung

dritten Kapitel zu prüfen, ob die Finanzmarktstabilität berechtigterweise als Gemeinwohlbelang gelten kann sowie welche Schlüsse hieraus gezogen wer­ den können. Das vierte Kapitel behandelt die Frage, welche Vorgaben das Grundgesetz für die Finanzmarktstabilität gibt. Hierzu sind einzelne Vorschriften auf Wei­ sungsgehalte hin auszulegen, die auf ein Ziel der Finanzmarktstabilität deu­ ten. Das fünfte Kapitel behandelt die Frage des Inhalts eines Staatszieles und die Schwelle für die Wahrnehmung der Verantwortung durch den Staat. Im sechsten Kapitel werden abschließend die europarechtlichen Vorgaben hinsichtlich der Finanzmarktstabilität untersucht.

1. Kapitel

Die Doppelkrise A. Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 Ausgangspunkt der Entwicklung ist die weltweite Finanz- und Wirtschafts­ krise ab 2007, die auch heute noch das Denken von Politik und Wissenschaft beeinflusst. Die Finanzkrise zeichnet sich zunächst durch drei grundlegende Merkmale aus: Sie entstand auf dem Immobilienmarkt, breitete sich schnell auf die Finanzmärkte aus und übertrug sich auf die übrige Wirtschaft, was weltweit eine schwere Rezession auslöste. Zur Ermittlung, ob staatliche Maßnahmen folgende Krisen vermeiden kön­ nen oder zumindest eindämmen, kann ein kurzer Rückblick auf die Gescheh­ nisse, Ursachen und Folgen rund um die Finanzmarktkrise und folgende Eurokrise von 2007 bis 2009 hilfreich sein. Voranzustellen ist, dass eine exakte Ursachenforschung bei einer Krise nicht möglich ist und eine detaillierte Untersuchung aller ausgemachten Ur­ sachenquellen den Rahmen einer verfassungs- und europarechtlichen Unter­ suchung sprengen würde. Die genauen Ursachen der Entstehung der Krise sind auch unter Wirtschaftswissenschaftlern nicht unumstritten.1 Anerkannt ist zumindest, dass die Krise sowohl auf kurzfristigen mikroökonomischen Entwicklungen als auch auf langfristigen makroökonomischen Faktoren be­ ruhte.2 Hier wird daher ein Überblick über Faktoren gegeben, die Entste­ hung und Verlauf der Krise zumindest beeinflusst haben. Voranzustellen ist, dass Schwankungen auf dem Finanzmarkt zur Normalität einer Markwirt­ schaft dazugehören und nicht notwendig mit einem Versagen von Marktteil­ nehmern und Staat erklärt werden müssen.3

1  Guter Überblick bei Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Ban­ kensektor, S.  57 ff. 2  Möschel, ZRP 2009, S. 129 f.; Tuori/Tuori, The Eurozone Crisis, S. 61 ff., 71 ff. 3  Ohler, Bankenaufsicht, § 4 Rn. 1, m. w. N.

28

1. Kap.: Die Doppelkrise

I. Finanzkrise in den USA4 Die Krise in den USA beruhte im Wesentlichen auf einer andauernden Phase der Deregulierung des Finanzsektors seit den 1970er Jahren, der Geld­ politik im Zusammenhang mit dem Platzen der Dotcom-Blase im März des Jahres 2000 und dem Terroranschlag auf das World Trade Center am 11. Sep­ tember 2001 sowie einer sich daraus entwickelnden Immobilienblase, die bei den Banken durch geschickte Kreation von neuen Finanzprodukten zunächst zu Rekordgewinnen führte. 1. Geldpolitik und Immobilienblase Die skizzierten Krisenursachen hatten ihrerseits wiederum tiefere Ursa­ chen, die folgend skizziert werden sollen. Als ein Auslöser der Krise wurde die Geldpolitik der US-amerikanischen Notenbank Federal Reserve, unter Führung des Notenbankpräsidenten Alan Greenspan, in Form niedriger Darlehenszinsen ausgemacht. Die expansive Geldpolitik geht auf die Regierungszeit von Bill Clinton5 zurück und trug bereits zum Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000 bei. Anzumerken ist, dass Geldwertstabilität für die US-Notenbank, anders als für Bundesbank und Europäische Zentralbank, kein primäres Ziel ist.6 Die bereits niedrigen Zinsen nach dem Platzen der Blase sanken nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 noch weiter7, um den Bürgern nach dem Anschlag durch den Bau eines Eigenheimes ein Gefühl der Sicher­ heit zu ermöglichen. Hand in Hand mit dieser politischen Maxime wurden durch Banken und Unterhändler Häuserdarlehen an eigentlich nicht kredit­ würdige Darlehensnehmer gegeben (sog. Subprime-Darlehen) und die Darle­ hen mit Grundstückshypotheken besichert. Die Darlehen wiesen eine Eigen­ 4  Zum Ganzen: Heun, JZ 2010, S. 53, 55; Mendelsohn, Systemrisiko und Wirt­ schaftsordnung im Bankensektor, S. 38 ff.; Möschel, ZRP 2009, S. 129 ff.; Ohler, Staat und Markt als interdependente Systeme, in: Hochhuth (Hrsg.), Rückzug des Staates und Freiheit des Einzelnen, S. 151, 153 ff.; Ulrich, Verfassungs- und europa­ rechtliche Grenzen der Finanzmarktstabilisierung, S. 5 ff.; aus dem wirtschaftswissen­ schaftlichen Schrifttum: Reinhart/Rogoff, Dieses Mal ist alles anders, S. 289 ff.; Rudolph, ZGR 2010, S. 1 ff., 4 ff. 5  Verursacht durch den Community Reinvestment Act, vgl. Heun, JZ 2010, S. 53, 55; Müller-Graff, EWS 2009, S. 201, 202. 6  Section 2A, Federal Reserve Act; siehe auch Möschel, WuW 2008, S. 1283, 1286. 7  So betrug der Leitzins im Jahr 2003 kurzfristig nur 1 % und stieg erst im Jahr 2005 wieder auf 3 % an, siehe http://www.finanzen.net/leitzins/USA@historisch@ intpagenr_2 (zuletzt abgerufen am 30.04.2020); ausführlich Rudolph, ZGR 2010, S.  1, 6 f.



A. Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise ab 200729

finanzierung von weniger als 20 % auf, die Banken beliehen die Grundstücke mit deutlich mehr als 100 % des Grundstückswertes.8 Durch die niedrigen Zinsen und die hohen Beleihungswerte entstand eine stetig wachsende Blase auf dem US-amerikanischen Häusermarkt. Die Banken bündelten die Hypotheken dann in Anleihen, den sog. Mortgage Backed Securities (MBS), und machten damit hohe Gewinne9. MBS sind ein in den 1980er Jahren entwickeltes Finanzprodukt, ursprünglich ent­ wickelt zur Geldanlage. Seit ihrer Entstehung gewann diese Art eines Wert­ papieres immer mehr an Bedeutung und stellte in den letzten Jahren vor der Krise das größte Segment des amerikanischen Anleihenmarktes.10 Im Gegen­ satz zu deutschen Hypothekenpfandbriefen haftet die ausgebende Bank für ausgegebene MBS nicht unmittelbar, sondern es werden lediglich Ansprüche gegen den Kreditschuldner, der in der Regel die Geldmittel nicht aufbringen konnte, und dessen Immobilie begründet.11 Die Hypotheken wurden an Zwi­ schengesellschaften, sog. Special Purpose Vehicles (SPVs) (Anlagevehikel) genannt, verkauft und mit anderen Hypotheken in einem Wertpapier gebün­ delt. Diese wiederum wurden dann von den SPVs an Anleger veräußert, um den Kauf zu finanzieren. Das finanzielle Risiko für die Anleger ergab sich nun daraus, dass weder die ursprünglich kreditvergebende Bank noch die emittierende Zwischengesellschaft, wegen der geringen Eigenkapitalausstat­ tung, hafteten.12 Diese Konstruktion lief zunächst gut, und die Banken machten hohe Ge­ winne. Durch die hohe Nachfrage auf dem Immobilienmarkt steigerte sich der Wert der Grundstücke von 2002 bis 2006 um rund 20 %.13 Eigentümer verschuldeten sich immer weiter, die Nachfrage stieg an und das Investi­ tionsvolumen auf dem Immobilienmarkt wuchs.14 2006 erreichten die Immo­ bilienpreise ihren Höchststand. Möglich wurde die ausufernde Darlehensver­ 8  Heun, JZ 2010, 53, 55; Kaufhold, Systemaufsicht, S. 71; Müller-Graff, EWS 2009, S. 201, 202. 9  Von 2001–2005 wurden 34 % der Gewinne in den gesamten USA durch den Bankensektor erzielt, zum Vergleich: Von 1950–990 waren es lediglich 10 %, Heun, JZ 2010, S. 53, 56. Die Gewinne gehen bei den US-Banken seit der kurzen Talfahrt infolge der Finanzkrise nun wiederum in die Höhe, so waren 2014 Rekordgewinne zu verzeichnen. 10  Rudolph, ZGR 2010, S. 1, 5 f. 11  Höfling, Gutachten F zum 68. Deutschen Juristentag, S. 53. 12  Hierzu N. Horn, BKR 2008, S. 452, 457. 13  Möschel, WuW 2008, S. 1283, 1286; siehe auch Schmitz, in: Depenheuer (Hrsg.), Eigentumsverfassung und Finanzkrise, S. 39, 42, nach dem die Häuserpreise zwischen 2000 und 2006 um nominal 80 % stiegen. 14  Vgl. Hemmelgarn, Steuern und Abgaben im Finanzsektor, S. 8; Kaufhold, Sys­ temaufsicht, S.  70 f.

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1. Kap.: Die Doppelkrise

gabe auch durch die Zinssätze, welche die Banken im Zusammenhang mit der Darlehensvergabe anwendeten. Anders als in Deutschland waren die Darlehen nicht mit einem langfristigen Zinssatz ausgestattet, sondern mit flexiblen Sätzen, die mit fortschreitender Zeit anstiegen. Sie waren so struk­ turiert, dass sie mit einem zunächst festen, in der Regel niedrigen Zinssatz begannen. Nach zwei bis drei Jahren trat der flexible Zinssatz in Kraft, der wegen der schlechten Bonität vieler Darlehensnehmer so hoch war, dass diese nicht mehr refinanzieren konnten. Die Vielzahl der Darlehensnehmer mit schwacher Bonität war ebenfalls ein hausgemachtes Problem der USamerikanischen Politik. Nach dem Community Investment Act mussten Kredite gleichmäßig an alle Bevölkerungsgruppen vergeben werden, was bei Nichtbeachtung durch die Bankenaufsicht sanktioniert werden konnte. Um Sanktionen zu entgehen, verteilten Banken sog. NINJA-Darlehen (No In­ come, No Jobs or Assets). Um die Verhältnisse der Kreditnehmer zu verdeut­ lichen, hilft ein Blick in die Kriterien, die ein Kreditnehmer erfüllen musste, um unter die Subprime Sparte zu fallen: Ein Zahlungsrückstand auf die Kreditkartenrechnung von 30 Tagen in den letzten 12 Monaten oder von 60 Tagen in den letzten 24 Monaten, Zwangsversteigerung oder Zwangsent­ eignung in den letzten 24 Monaten, Insolvenz in den letzten fünf Jahren, ei­ nen FICO-Score15 von unter 660 oder eine Schuldenrate im Verhältnis zum Einkommen von über 50 %.16 Nachdem ab 2004 die Niedrigzinsphase zu Ende ging, hatte dies Auswirkungen auf den Immobilienmarkt. Im Jahr 2005 gab es eine erste kleine Rezession, welche die FED dazu veranlasste, die Zinsen leicht anzuheben. Ab 2006 schnellten die Hypothekenausfälle in die Höhe, das System begann zu bröckeln.17 Aus der Krise auf dem US-amerika­ nischen Häusermarkt wurde durch die verbrieften Hypothekendarlehen in den MBS eine weltweite Finanzkrise, aus ihr entstand eine weltweite Wirt­ schaftskrise, welche die schwerste Rezession seit der Weltwirtschaftskrise in Folge des Black Friday 1929 und der im Jahr 1931 folgenden Bankenkrise auslöste.18 Die Ursachen für die schnelle Ausbreitung der Krise auf den ge­ samten Finanzmarkt und die Weltwirtschaft sind vielfältig. 15  Der FICO-Score wird in den USA genutzt, um die Kreditwürdigkeit einer Per­ son zu beurteilen und ist insofern mit der deutschen Schufa vergleichbar. Die Reich­ weite der Skala reicht von 300 bis 850, wobei ein höherer Wert eine höhere Kredit­ würdigkeit indiziert. Als Vergleichsgröße bietet sich der durchschnittliche Score im Jahr 2011 an, dieser betrug 711 (siehe https://en.wikipedia.org/wiki/Credit_score_in_ the_United_States#cite_ref-11(zuletzt abgerufen am 30.04.2020)). Der Name FICO leitet sich von dem ehemaligen Namen des Unternehmens Fair, Isaac, and Company ab. 16  Gorton, Slapped by the Invisible Hand, S. 68 f. 17  Ulrich, Verfassungs- und europarechtliche Grenzen der Finanzmarktstabilisie­ rung, S.  17 m. w. N. 18  Sachverständigenrat, Jahresgutachten 2008/09, S. 17 ff.



A. Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise ab 200731

Da der Hypothekenmarkt als besonders sicher galt, bekamen die Hypothe­ kenanleihen von den Ratingagenturen (im Wesentlichen: Standard & Poor, Moody’s und die wesentlich kleinere Agentur Fitch) ohne umfangreichere Prüfung die beste, d. h. eine Triple-A Bewertung. Sie galten damit als so si­ cher wie Staatsanleihen, versprachen aber höhere Rendite und verbreiteten sich dementsprechend schnell. Als die Hypotheken nicht mehr bezahlt wur­ den, auszufallen begannen und das Rating sich verschlechterte, sorgte dies jedoch zunächst noch nicht für fallende Kurse auf dem Häusermarkt, so dass die Maschinerie noch weiterlief. Vielmehr wandten die Finanzinstitute einen Trick an, um die Preise stabil zu halten und damit das System an sich zu erhalten. Sie bündelten die ausfallbedrohten Anleihen (die oben beschriebe­ nen MBS) mit besser bewerteten Wertpapieren in einer sog. Collateralized Debt Obligation (CDO). Ein CDO ist ein sog. Derivat, also ein Finanzpro­ dukt, dass seinen Zeitwert von einem bestimmten Referenzprodukt ableitet19. Dies sind üblicherweise Wertpapiere wie Aktien oder Staatsanleihen sein, möglich ist aber auch die Koppelung an Rohstoffe. Die CDOs waren so auf­ gebaut, dass die Triple-A-Tranche der Anleihe zuerst bedient werden sollte, und erst danach die schlechter bewerteten Tranchen beliefert wurden. Die schlechter bewerteten Tranchen bargen zwar ein höheres Risiko, dafür aber auch höhere Gewinne, die das Ausfallrisiko für den Investor kompensieren sollten. Ein CDO ist ein synthetisches Finanzderivat, wobei das Wort synthe­ tisch ausdrücken soll, dass die Übereignung der dem Papier zugrunde liegen­ den Werte nicht zwingend erforderlich ist.20 Die Ratings orientierten sich jedoch weiterhin an der zuerst zu bedienenden Tranche, so dass 70 % der CDOs mit Triple-A bewertet wurden.21 Es verblieb jedoch nicht bei einzel­ nen CDOs, dafür hätten die Hypotheken auch gar nicht ausgereicht. Die Fi­ nanzinstitute entwickelten das Produkt dahingehend weiter, dass die CDOs in andere CDOs gebündelt wurden und so sog. synthetische CDOs (auch „CDO squared“ oder „CDO2“)22 entstanden. In den CDOs wurden darüber hinaus noch weitere Finanzprodukte gebündelt, wie beispielsweise die angesproche­ nen Kreditausfallversicherungen (Swaps), so dass sich trotz der Begrenztheit der Hypothekenanleihen unbegrenzt Finanzprodukte herstellen ließen. Ein Swap ist ein Derivat, mit dem ein Zinsvorteil gegenüber dem Vertragspartner erlangt werden soll, und damit ein Spekulationspapier.23 Diese wurden von den Ratingagenturen weiterhin mit Triple-A Ratings versehen. Die CDOs 19  Zum Begriff Derivat Veil, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 8 Rn.  15 ff. 20  Roberts, NJOZ 2010, S. 1717, 1717. 21  Heun, JZ 2010, S. 53, 56. 22  Gorton, Slapped by the Invisible Hand, S. 97. 23  Vgl. Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Bankensektor, S.  100 f.

32

1. Kap.: Die Doppelkrise

sorgten für eine derartige Verknüpfung und Potenzierung der Risiken, dass beim Zusammenbruch eine Katastrophe oder gar Apokalypse der Weltwirt­ schaft drohte. Gefördert wurden alle diese Tendenzen im Bankensektor durch die seit den 1970er Jahren andauernde Deregulierungspolitik, der mit dem Erstarken der neoklassischen ökonomischen Theorie eine fundierte wissenschaftliche Grundlage zur Seite stand24 und die Ende der 1990er Jahre während der Clinton-Administration vollendet wurde. 1999 schafften die USA den seit den 1930er Jahren geltenden Glass-Steagall Act ab, der die Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken festschrieb. Als Begründung diente ein Wettlauf der Finanzdienstleister, an der Wall Street wurden die letzten Über­ bleibsel der New-Deal Politik geopfert, um nicht hinter der City of London, Frankfurt oder Shanghai zurückzufallen.25 Die Bundesrepublik brachte im Gegenzug in den Jahren vor der Krise ebenfalls umfangreiche Deregulierungsgesetze auf den Weg, um den Ent­ wicklungen auf den angelsächsischen Finanzmärkten nicht weiter hinterher­ zulaufen. Hier ist insbesondere das Pfandbriefgesetz aus dem Jahr 200526 zu nennen, das den Finanzplatz Deutschland stärken sollte und den Banken er­ laubte, auch Forderungen, die durch Grundpfandrechte an Grundstücken in den USA gesichert waren, zur Absicherung der eigenen Forderungen zu verwenden27, was dann insbesondere die Hypo Real Estate in großem Um­ fang tat.28 Weiterhin ist an das 4. Finanzmarktförderungsgesetz29 aus dem Jahr 2002 zu erinnern, durch das § 764 BGB abgeschafft wurde. Die Norm hatte Differenzgeschäfte zu einer nicht durchsetzbaren Naturalobligation er­

24  Hellwig, Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Finanzsystems, in: Obst/Hint­ ner, Geld-, Bank- und Börsenwesen, S. 22 f.; Herring/Litan, Financial Regulation, S. 2 ff. mit einem Überblick der englischsprachigen Literatur zur Deregulierung; Kaufhold, Systemaufsicht, S. 33 ff.; Radtke, Liquiditätshilfen, S. 34; Siekmann, in: Möllers/Zeitler (Hrsg.), Europa als Rechtsgemeinschaft, S. 101, 105 ff.; Voßkuhle, Neuere Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voß­ kuhle, GVwR I, § 1 Rn. 57; zu Maßnahmen der Deregulierung in Deutschland siehe Roberts, NJOZ 2010, S. 1717 ff.; zum Versagen der Ratingagenturen T. M. J. Möllers, JZ 2009, S. 861 ff.; Siekmann, Die Neuordnung der Finanzmarktaufsicht, in: Baums (Hrsg.), S. 475, 482 ff.; eine wesentliche Schuld bei der Federal Reserve sehen Acharya/Richardson, Restoring Financial Stability, S. 13 f. 25  Adam Tooze, Crashed, S. 82. 26  Pfandbriefgesetz (PfandBG) vom 22.05.2005, BGBl. I 2005, S. 1373. 27  Siehe § 20 Abs. 1 Nr. 1 lit. d) PfandBG. 28  Siekmann, Staatsversagen und Marktversagen im Bereich der Finanzmärkte, in: Baums (Hrsg.), S. 637, 646 f. 29  BGBl. I 2002, 2010, 2059.



A. Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise ab 200733

klärt. Im Nachzug begann eine Flut neuer Finanzderivate, den Markt zu überschwemmen.30 Die Krise auf dem Immobilienmarkt weitete sich durch einen weiteren Faktor auf die übrige Finanzwelt aus. Anfang 2005 begannen andere Finanz­ institute, gegen die CDOs zu wetten, indem sie auf ihren Ausfall setzten. Möglich wurde dies durch Kreditausfallversicherungen, sog. Credit Default Swaps, die sich im Fall eines Ausfalls einer Anleihe in einen Anspruch gegen das emittierende Institut umwandeln sollten. Der CDS Markt erreichte im ersten Halbjahr 2008 ein Volumen von 54,6 Billionen Dollar. Zum Vergleich: Die übrige Weltwirtschaft hatte ein Volumen von 55 Billionen Dollar.31 Das Risiko, das in dem US-amerikanischen Häusermarkt seinen Ursprung hatte, war zu einem krisenauslösenden Faktor für die gesamte Weltwirtschaft ge­ worden. 2. Ausbruch der Finanzkrise Mit dem Zusammenbruch des Häusermarktes entstand eine – zunächst re­ gional auf die USA beschränkte – Bankenkrise. Auslöser waren der Zusam­ menbruch zweier Investmentfonds der Bank Bear Stearns, die Abstufung einiger Hypothekenanleihen um bis zu drei Stufen durch die Ratingagenturen und der Eintritt des Versicherungsfalls bei zahlreichen Credit Default Swaps32, Ereignisse, die alle miteinander verwoben waren. Im März 2008 geriet die Investmentbank Bear Stearns, die fünftgrößte Investmentbank der USA, die im ersten Quartal 2007 den ersten Verlust in ihrer Firmengeschichte hinnehmen musste, in finanzielle Schwierigkeiten, wurde aber durch finanzi­ elle Hilfen der Vereinigten Staaten gestützt und mit Unterstützung der Bank JPMorgan Chase & Co. aufgekauft. Die Krise erreichte auch die europäi­ schen Banken. Die UBS musste einen Hedgefonds schließen. Die Deutsche Industriebank (IKB) war infolge der Verluste am Immobilienmarkt am 30. Juli 2007 faktisch pleite und musste durch ein Konsortium mehrerer Ban­ ken, unter denen sich auch staatliche Banken befanden, gerettet werden. Dies war dennoch erst der Beginn der Ereignisse. Die Krise begann in der öffentlichen Wahrnehmung mit dem Zusammenbruch der Lehman Brothers Holdings Inc. Anders als Bear Stearns wurde Lehman Brothers, die viert­ größte Investmentbank der USA, zuvor noch mit A+ und A1-Rating versehen, nicht durch staatliche Hilfen gerettet. Das Institut musste am 15. September 2008, dem „schwarzen Montag“, Insolvenz anmelden. Dies löste einen massi­ 30  Paulus,

KTS 2013, S. 155, 160; Roberts, NJOZ 2010, S. 1717, passim. ZRP 2009, S. 129, 132. 32  Möschel, ZRP 2009, S. 129, 130. 31  Möschel,

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1. Kap.: Die Doppelkrise

ven Vertrauensverlust zwischen den Banken aus. Es folgte der Zusammen­ bruch des Interbankenhandels, die Krise brach auf den Finanzmärkten welt­ weit aus. Die Insolvenz führte zur Panik, da kein Akteur auf dem Finanzmarkt damit gerechnet hatte, dass die US-Politik ein systemrelevantes Institut wie Lehman Brothers nicht rettet. Die Bank hatte bis vor dem Zusammenbruch in ihrer 159-jährigen Geschichte schwarze Zahlen geschrieben. Nachdem der Interbankenmarkt zusammengebrochen war, machte sich die geringe Eigenkapitalquote der Banken bemerkbar. Die Gefahr der geringen Eigenkapitalisierung realisierte sich schon im Jahr 1931, als sie Auslöser der damaligen deutschen Bankenkrise war.33 Die Problematik ist damit nicht erst seit der Krise 2008 bekannt. Die Eigenkapitalquote der großen US-Invest­ mentbanken lag bei den ersten leisen Anzeichen der beginnenden Krise im Jahr 2006 bei 3,2–4,6 %. Dieses Problem war kein US-amerikanisches. Die bilanzielle Eigenkapitalquote der großen deutschen Banken (Deutsche Bank, Dresdner Bank und Commerzbank) lag sogar noch niedriger, bei 1,9–2,6 %. Gründe für diese Tatsache liegen in der Haftungsbeschränkung, die in der Rechtsform der Banken als limited corporation oder als deutsche Aktienge­ sellschaft begründet lag. Wesentlicher war das kontinuierliche Herunterfah­ ren der Eigenkapitalanforderungen im Bankensektor durch den Regulator.34 In den USA unterlagen Investmentbanken den Regelungen der US-Aufsicht United States Securities and Exchange Commission (SEC), die 2004 dahin­ gehend geändert wurden, dass eine Bank ihre Eigenkapitalquote nach eige­ nen Rechnungen aufstellen durfte. Das Interesse der Banken bestand nicht in der Stärkung der Widerstandsfähigkeit durch eine hohe Quote an Eigenkapi­ talmitteln, sondern in der Gewinnmaximierung, die durch eine niedrige Quote an Eigenmittel im Verhältnis zum Fremdkapital rechnerisch begünstigt wird.35 Zugleich wurde für die Aufstellung der Bilanzen das Prinzip der Marktpreisbilanzierung gewählt.36 Dies führt bei steigenden Preisen zu schnellen Bilanzgewinnen. Dagegen ist die Kapitalisierung der Banken an die Preisentwicklung an den Finanzmärkten gekoppelt. Zur Regulierung der Eigenkapitalquote wurde in den USA der Dodd Frank Wallstreet Reform Consumer Protection Act37 erlassen. In Europa dagegen galten die Mindestkapitalvorschriften der Abkommen Basel I38 (1988) und 33  Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Bankensektor, S. 231 und auf den folgenden Seiten mit einem Überblick über die Historie der Eigenkapitalisie­ rung. 34  Heun, JZ 2010, S. 53, 57; Kaufhold, Systemaufsicht, S. 74 f. 35  Kaufhold, Systemaufsicht, S. 75. 36  Kaufhold, Systemaufsicht, S. 72 f. 37  111th Congress Public Law 111–203. 38  Basel Committee on Banking Supervision, Basel I: International Convergence of Capital Measurement and Capital Standards, July 1988.



A. Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise ab 200735

seit 1.1.2008 Basel II39, an dem sich die EU-Staaten und andere westliche Länder, nicht aber die USA, beteiligten. Danach hat sich die Eigenkapital­ quote an mehreren Punkten zu orientieren, die unter anderem die Risikoge­ neigtheit eines Institutes miteinbeziehen. Danach galt: Je riskantere Geschäfte ein Institut tätigt, desto höher soll seine Eigenkapitalquote sein. Im Ergebnis wurde die Risikobewertung jedoch auch nach dem Basel II Abkommen im Wesentlichen der internen Berechnung der Banken überlassen. Im Jahr 2010 wurde dann das Basel III40 Abkommen verabschiedet, innerhalb der Euro­ päischen Union wurden zur Regulierung der Eigenkapitalquote die CRRVerordnung41 und die CRD-IV-Richtlinie42 erlassen.43 Die Geldpolitik der Federal Reserve allein kann nicht für die Krise verant­ wortlich gemacht werden. Sie führte zumindest nach dem Jahr 2000 zu einer Erholung der Wirtschaft, und es entstand keine neue Aktienblase. Zusam­ menfassend wird ihr nur ein geringer Beitrag bei Entstehung der Krise ange­ lastet.44 Dagegen ist das Entstehen der oben geschilderten Immobilienblase in höherem Maße als Ursache auszumachen. Als weiterer Faktor ist das exorbitante Volumen des sog. Schattenbanken­ systems zu beachten, das sich von 2002 bis 2007 von 26 auf 62 Billionen Dollar vermehrte. Dies sind 20–30 % des Volumens des gesamten Finanzsys­ tems.45 Der Markt für die eben beschriebenen Finanzprodukte wurde dadurch noch größer, zumal die Schattenbanken nicht der Aufsicht der SEC unter­ standen. Die Krise breitete sich wegen der engen Verflechtungen der Banken auch auf Europa aus. Wie sich herausstellte, hatten mehrere deutsche Banken, vor allem Landesbanken, die beschriebenen Hypothekenanleihen gekauft. Nach­ dem die Tranchen nicht mehr bedient wurden, gerieten die Landesbanken infolge massiver Abschreibungen ihrer Wertpapiere in den Bilanzen in Schieflage. Somit führte die internationale Verbreitung der Papiere auch zu 39  Basel Committee on Banking Supervision, Basel II: Revised international capital framework, June 2004. 40  Basel Committee on Banking Supervision, Basel III: A global regulatory frame­ work for more resilient banks and banking system, December 2010. 41  Verordnung (EU) Nr. 575/2013 v. 26.06.2013, ABl. L 176/1 v. 27.06.2014. 42  Richtlinie 2013/36/EU v. 26.06.2013, ABl. L 176/338 v. 27.06.2014. 43  Hierzu ausführlich: Görner, in Brauer/Schuster (Hrsg.), Nachhaltigkeit im Ban­ kensektor, S.  89 ff. 44  Heun, JZ 2010, S. 53, 54, mit Verweis auf Hans-Werner Sinn, Kasino-Kapitalis­ mus, S.  54 ff. 45  Rixen/Fichtner, Die dunkle Seite der Finanzmärkte, abrufbar unter http://www. bpb.de/politik/wirtschaft/finanzmaerkte/55549/offshore-finanzplaetze?p=all (zuletzt abgerufen am 30.04.2020); von einem Viertel geht auch Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Bankensektor, S. 74 aus.

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1. Kap.: Die Doppelkrise

einer schnellen internationalen Verbreitung der Krise.46 Psychologisch lag der Krise im Bankensektor ein unerschütterlicher Glaube an die Kontrollier­ barkeit der mit den Geschäften verbundenen Risiken zugrunde.47 Eine we­ sentliche Aufgabe zukünftiger staatlicher Reformbemühungen ist es, die Entwicklung hochriskanter Anlageklassen zu unterbinden. Diese beruhen auf der Hoffnung des Marktes, dass diese Risiken nicht eintreten, um dann ­Gewinne zu machen. Bei Eintreten der Risiken drohen dagegen hohe Ver­ luste.

II. Die Euro- und Staatsschuldenkrise48 1. Verlauf der Krise in Europa Die Krise weitete sich Ende 2008 auf Europa aus. Durch diese Formulie­ rung soll klargestellt werden, dass es sich um dieselbe Krise handelt, die aber eine andere Gestalt annahm; die Schuldenkrise ist aus der Bankenkrise in den USA entstanden.49 Island musste mithilfe des Internationalen Währungs­ fonds, des Vereinigten Königreichs und der Niederlande finanziell gestützt werden.50 Kurz danach nahmen auch Ungarn sowie Lettland finanzielle ­Hilfen in Anspruch.51 Trotz der Formulierung, dass die Eurokrise aus der Finanzkrise entstand, ist darauf hinzuweisen, dass die Krisen gerade in Is­ land, Irland und dem Vereinigten Königreich auch ohne die US-Finanzkrise ausgebrochen wären, also vollständig hausgemacht waren.52 Es ist zu trennen zwischen den Effekten der Eurokrise, die sich im Folgen­ den entwickelte, und den unmittelbaren Folgen des Zusammenbruchs von Lehman Brothers, der auch schon unmittelbare Folgen auf die Realwirtschaft in Europa hatte. Die Kreditvergabe, die vorher Wachstumsraten von 10–15 % 46  Ohler, Staat und Markt als interdependente Systeme, in: Hochhuth (Hrsg.), Rückzug des Staates und Freiheit des Einzelnen, S. 151, 158, 47  Vgl. Ohler, Staat und Markt als interdependente Systeme, in: Hochhuth (Hrsg.), Rückzug des Staates und Freiheit des Einzelnen, S. 151, 159 f.; eine (unvollständige) Aufzählung der Krisenursachen bei Siekmann, Die Finanzmarktaufsicht in der Krise, in: Baums (Hrsg.), S. 497, 499 f. 48  Zum Ganzen siehe Sharpf, ZSE 2011, S. 214 ff. 49  So treffend Siekmann, in: Möllers/Zeitler, Europa als Rechtsgemeinschaft, S. 101, 102; weiter Adam Tooze, Crashed, S. 7, 14. 50  Hierzu C. Proctor, The Law and Practice of International Banking, S. 292 ff. Rn.  13.17 ff. 51  Ulrich, Verfassungs- und europarechtliche Grenzen der Finanzmarktstabilisie­ rung, S. 29. 52  So Caprio Jr./Holohan, in: Berger/Molyneux/Wilson (Ed.), The Oxford Hand­ book of Banking, S. 700, 714.



A. Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise ab 200737

pro Jahr aufwies, sank schon ab Mai 2008 und kam im Mai 2009 zum Stag­ nieren.53 Es ist daher festzuhalten, dass sich auch durch die Finanzkrise unmittel­ bare Folgen für die Eurozone entwickelten, die Eurokrise vertiefte diese und schuf weitere. Die folgende Eurokrise, die sich zu einer Staatsschuldenkrise entwickelte, lag jedoch nur teilweise in der aus den USA überschwappenden Finanzkrise begründet. Der geschilderten Finanzkrise kann nur die Rolle des Auslösers zugesprochen werden. Die Ursachen sind vielschichtiger und lagen vor allem in der Struktur der Wirtschafts- und Währungsunion begründet. Am stärksten von der Krise betroffen waren vier Euro-Staaten: Griechenland, Irland, Spa­ nien und Portugal (danach als GIPS-Staaten bekannt geworden; teilweise wird auch Italien dazugezählt, dann als PIIGS-Staaten bezeichnet).54 Auch die sich weiter verschlechternde Lage in Italien liegt noch in der ursprüngli­ chen Eurokrise begründet. Die Gefahr, die eine erneute Krise in Italien für die weltweiten Finanzmärkte und die Weltwirtschaft bedeuten kann, darf nicht unterschätzt werden. 2. Die Rolle der Staatsschulden Die Krise entstand, trotz ihrer Bezeichnung als Staatsschuldenkrise, nicht nur aufgrund der zu hohen Staatsschulden der Mitgliedstaaten. Gerade Ir­ land, das 2008 den Zusammenbruch des Bankensektors verkraften musste, hatte zwischen 1999 und 2008 die Konvergenzkriterien des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes vollständig eingehalten, keine neuen Staatsschulden aufgenommen, sondern durchweg Haushaltsüberschüsse er­ wirtschaftet. Irland hatte seine Staatsschuldenquote auf 24,9 % im Jahr des Ausbruches der Finanzkrise (2007) senken können (zum Vergleich heute: 63,6 % des BIP).55 Die Ursache der Krise für Irland liegt vielmehr in dessen großem Finanzsektor begründet.56 Auch Spanien hatte in den meisten Jahren 53  Adam

Tooze, Crashed, S. 157 f. der ökonomischen Verhältnisse in diesen Staaten Tuori/Tuori, The Eurozone Crisis, S. 78 f. 55  In der gesamten Eurozone lag die Staatsverschuldung 2007 bei 66 % des BIP, siehe Tuori/Tuori, The Eurozone Crisis, S. 64 f. 56  So lag die Marktkapitalisierung börsennotierter Unternehmen in Irland 2007 bei rund 144 Mrd. US-Dollar und fiel 2008 auf rund 50 Mrd. US-Dollar; in Irland lag der Anteil des Finanzsektors an der gesamten Wertschöpfung nach 2005 immer bei über 10 %, zum Vergleich: in Deutschland lag der Anteil nie höher als 4,3 %; siehe Tabelle bei Hemmelgarn, Steuern und Abgaben im Finanzsektor, S. 22; ferner Kotz, ZBB 2012, S. 322, 325, der den raschen Anstieg der öffentlichen Schulden in Irland in dessen Bankensektor begründet sieht. 54  Darstellung

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1. Kap.: Die Doppelkrise

Haushaltsüberschüsse erwirtschaften können, so lag die Staatsschuldenquote 2007 bei lediglich 36,7 % (zum Vergleich heute: 97,6 % des BIP). Dass die Staatsschuldenquote bei der Ursachenerforschung nicht vollstän­ dig außer Betracht bleiben kann, zeigt sich in Griechenland. Hier war sie entscheidend, indem sie für den Verlauf der Krise in Griechenland als Kata­ lysator fungierte.57 Um aber zu verdeutlichen, dass die Staatsschuldenquote nicht alles alleine ausgelöst hat, lässt sich Deutschland anführen, das nun besser dasteht und sich vom „kranken Mann Europas“ zu einem Musterschü­ ler entwickelt hat. In den Jahren ab 2002 konnte das Konvergenzkriterium der Neuverschuldung von unter drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes nicht eingehalten werden. Die Staatsverschuldung lag im Jahr 2007 sogar bei 63,7 % des BIP, wobei zu bemerken ist, dass auch schon vor Einführung des Euro die Grenzen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes teilweise erheblich überschritten wurden.58 Im Ergebnis kann daher die Staatsverschuldung vor der Krise allein nicht der Auslöser der Eurokrise gewesen sein.59 3. Die unausgeglichenen Leistungsbilanzen der Eurostaaten Das ausschlaggebende Moment lag vielmehr in den Leistungsbilanzen der einzelnen Staaten begründet. Ab 2008 mussten infolge der Krise in ganz Europa Banken und Arbeitsplätze gerettet werden. Dies geschah durch Ret­ tungs- und Konjunkturpakete, durch welche die Staatsverschuldung in die Höhe stieg. Sie waren aber aus Sicht der handelnden Staaten notwendig, um den Zusammenbruch des Interbankenmarktes aufzufangen, ansonsten hätten die national ansässigen Bankinstitute in die Insolvenz gehen müssen. Für den Staatshaushalt bedeutete eine solche Welle von Insolvenzen aus der Sicht der handelnden Regierungen das größere Übel gegenüber den Rettungspaketen, obgleich die staatlichen Hilfen teilweise höher ausfallen als der Unterneh­ menswert.60 Banken, die trotzdem noch gefährdet waren, mussten mit Steu­ ergeldern rekapitalisiert werden. Die Maastrichter Konvergenzkriterien spiel­ ten kaum noch eine Rolle. Aus der Finanzkrise wurde in dem Moment die europäische Staatsschuldenkrise, als die Ratingagenturen infolge der anstei­ genden Staatsverschuldung begannen, die Bonität der Staaten herabzustufen. Unabhängig von den teilweise fragwürdigen Einstufungen fauler Papiere im Vorfeld der Finanzkrise hatten die neuen Ratings der Agenturen noch genug Kredibilität, dass die Abstufung für die Märkte weitere Turbulenzen mit sich 57  In Griechenland lag die Staatschuldenquote schon 1999, als die Wirtschaftsund Währungsunion startete, bei 94 % des BIP. 58  Vgl. Krupp/Cabos, in: Die Europäische Zentralbank, S. 173, 174. 59  Scharpf, ZSE 2011, S. 324, 329; Tuori/Tuori, The Eurozone Crisis, S. 66 f. 60  Pfab, BayVbl. 2010, S. 65, 65.



A. Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise ab 200739

brachte. Zuerst war Griechenland betroffen, in der Folge auch die anderen (G)IPS-Staaten. Die Abstufung lag darin begründet, dass die Wirtschaft die­ ser Staaten zum Ausgleich der Leistungsbilanzen vor allem auf Kapital­ importe angewiesen war, die nach dem Zusammenbruch des Interbanken­ marktes kaum zu annehmbaren Konditionen zu bekommen waren. Es ent­ stand also ein größeres Leistungsbilanzdefizit, das mit weiteren Kapitalim­ porten ausgeglichen werden musste. Staaten wie Belgien oder Deutschland, die von der Krise vergleichsweise weniger hart getroffen wurden, konnten dagegen positive Leistungsbilanzen61 aufweisen, während die Staatsverschul­ dung auch hier in die Höhe stieg62, aber keine vermehrten Kapitalimporte notwendig machte. Die Rettungsmaßnahmen der Euro-Staaten für Griechen­ land stellten nun wiederum eine Belastung für deren Haushalte dar, der erste Rettungsschirm für den gesamten Euro-Raum hatte ein Gesamtvolumen von 750 Milliarden Euro, zu dem Deutschland einen Anteil von bis zu 123 Milli­ arden beisteuerte.63 Das Primat des Vorrangs der nationalen Eigenverant­ wortung für den Haushalt wurde aufgeweicht, die No-Bail-out-Klausel des Art. 125 Abs. 1 AEUV umgangen. Das erste Rettungspaket für Griechenland, das die Europäische Union zusammen mit dem Internationalen Währungs­ fonds finanzierte, hatte ein heute vergleichsweise geringes Volumen von 80 Milliarden Euro. Die Finanzkrise bedeutete jedoch nicht nur für die EuroStaaten eine Verschlechterung der finanziellen und wirtschaftlichen Lage. Auch die nicht dem Euroraum zugehörigen Länder der Europäischen Union wie Ungarn, Rumänien und Lettland wurden, auf rechtlicher Grundlage von Art. 143 AEUV, finanziell gestützt. Die Krise Griechenlands ist von den Auswirkungen für die Eurozone her mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers und dessen Bedeutung für die Finanzmärkte vergleichbar. In beiden Fällen sanken die Kurse an den internationalen Börsenmärkten, beide waren der Auslöser einer systemischen Krise.64 4. Weitere Ursachen der Krise Wenn nun das Leistungsbilanzdefizit neben der Staatsverschuldung als we­ sentliche Ursache ausgemacht werden kann, ist zu klären, worin diese massi­ 61  Im Jahr 2007 erwirtschaftete Deutschland ein Leistungsbilanzplus von 7,5 % des BIP; dagegen stand in Griechenland ein Defizit von 15,2 % des BIP, in Spanien 10 % des BIP, in Irland 5,3 % des BIP; zu den Zahlen siehe: http://wko.at/statistik/eu/ europa-leistungsbilanzsalden.pdf; http://knoema.de/atlas/Griechenland/Leistungsbilanzpercent-des-BIP (zuletzt abgerufen am 30.04.2020). 62  Calliess, VVDStRL 71 (2012), S. 113, 116; Scharpf, ZSE 2011, S. 324, 329 f. 63  Nähere Schilderung der Ereignisse bei Oppermann, FS Möschel, S. 909 ff. 64  Vgl. Oppermann, FS Möschel, S. 909, 911; in Bezug auf die Lehman Pleite auch Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Bankensektor, S. 50.

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1. Kap.: Die Doppelkrise

ven Leistungsunterschiede begründet lagen und wie diesen beizukommen ist. Als Auslöser kommt die ursprüngliche Ausgestaltung der Wirtschafts- und Währungsunion in Betracht.65 Mit der Einführung des Euro sanken die Zinsen in der Eurozone durch den Wegfall des Wechselkursrisikos auf das deutsche Niveau. Im Rahmen ihrer wesentlichen Aufgabe, der Wahrung der Preisstabi­ lität (vgl. Art. 9.2 ESZB-Satzung, Artt.  127 Abs. 1, 282 Abs. 1 AEUV), obliegt der Europäischen Zentralbank auch die Geldpolitik der Union.66 In Ausübung ihrer Kompetenz hielt sie den Zinssatz auf kon­stant niedrigem Niveau.67 Da­ mit erfüllte sie zwar das Ziel der Preisstabilität, Nebenfolge war der Ausbruch der Eurokrise. Durch die einheitliche Geld­politik konnten die Währungen in Spanien und den anderen krisengezeichneten Ländern nicht abgewertet wer­ den, was Importe verteuert, Exporte verbilligt und so das Leistungsbilanzdefi­ zit verringert hätte.68 Gleichzeitig wurden in Deutschland ab dem Jahr 2002 durch die Agenda 2010 eine strikte Sparpolitik betrieben und mithilfe der Sparmaßnahmen Lohnsteigerungen vermieden sowie die Produktionskosten niedrig gehalten.69 Die Sparpolitik sorgte dafür, dass die Exportkraft Deutsch­ lands weiter gesteigert werden konnte, während die Importe stagnierten. Die deutschen Exporte profitierten von der Unterbewertung durch den Euro, wäh­ rend die Wirtschaftskraft der anderen Eurostaaten zunehmend überbewertet wurde.70 Die einheitliche Geldpolitik verhinderte Anpassungsmaßnahmen, so dass die Staatsverschuldung in einigen Euroländern unkontrollierbar wurde, da die zunehmende Verschuldung für die Staaten die einfachste Möglichkeit darstellt, Liquidität zu erhalten. Durch die zunehmende Staatsverschuldung und die weitere Zunahme infolge der Eurokrise wird diese Krise auch als tref­ fend als Staatsschuldenkrise bezeichnet. Aus politischer und ökonomischer Sicht wird weiterhin kritisiert, dass zwar die Geldpolitik durch die Wirtschafts- und Währungsunion vereinheit­ licht wurde, jedoch die Wirtschaftspolitik gänzlich in der Kompetenz der Mitgliedstaaten verblieb.71 Art. 127 Abs. 1 Satz 2 AEUV sieht lediglich vor, 65  Ausführliche Darstellung: Herdegen, Europarecht, § 23, Rn. 23  ff.; Selmayr, Das Recht der Wirtschafts- und Währungsunion, passim. 66  Siehe hierzu: Ohler, Bankenaufsicht, § 3 Rn. 1 ff.; Selmayr, in: von der Groe­ ben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 127 AEUV Rn. 12 ff. 67  Ab Mitte 2000 gab es bis 2008 keinen festen Zinssatz, der festgesetzte Min­ destsatz lag jedoch bis 2008 nicht höher als 4,75 % im Oktober 2000, zur Entwick­ lung: https://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Downloads/Statistiken/Geld_Und_ Kapitalmaerkte/Zinssaetze_Renditen/S510TTEZBZINS.pdf?__blob=publicationFile (zuletzt abgerufen am 30.04.2020). 68  Vgl. Scharpf, ZSE 2011, S. 324, 326. 69  Scharpf, ZSE 2011, S. 324, 329; Thiele, Das Mandat der EZB, S. 7. 70  Scharpf, ZSE 2011, S. 324, 329. 71  Calliess, NVwZ 2013, S. 97; Thiele, Das Mandat der EZB, S. 4; Risikoanalyse der gemeinsamen Währung vor Einführung des Euro bei: Junius/Kater/Meier/Müller,



A. Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise ab 200741

dass das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union unterstützt. Die Artt. 120–126 AEUV begrenzen insofern den Handlungsspielraum des ESZB, und die Artt. 119–121 AEUV (ex-Artikel 4–6 EGV) bestimmen die Zuständigkeit der Nationalstaaten für die Wirtschaftspolitik.72 Die Problema­ tik einer einheitlichen Geldpolitik ohne eine einheitliche Wirtschaftspolitik muss für diese Untersuchung jedoch nicht vertieft werden, es genügt, auf die Problematik im Zusammenhang mit der Entstehung der Eurokrise hinzuwei­ sen. 5. Zusammenfassung Zusammenfassend können die Struktur der Wirtschafts- und Währungs­ union, in Form der wirtschaftlichen Heterogenität der Mitgliedstaaten, sowie die Unmöglichkeit monetärer Abwertungen als wesentliche Auslöser der Krise ausgemacht werden.73 Die Frage nach einer grundlegenden Reformbe­ dürftigkeit wurde von den Mitgliedstaaten positiv beantwortet. Zur Rettung der Eurozone74 schuf die Europäische Union einen mehrjährigen vorüberge­ henden Rettungsfonds (European Financial Stability Facility – EFSF), der von Irland und Portugal in Anspruch genommen wurde. Ab dem Jahr 2013 wurde der Rettungsfonds dauerhaft unter dem Namen Europäischer Stabilitätsmechanismus (European Stability Mechanism – ESM75) mit einem Volu­ men von 700 Milliarden Euro errichtet. Die Finanzkrise sorgte für eine Re­ formation der Wirtschafts- und Währungsunion.76 Von den Organen der Europäischen Union trat vor allem die Europäische Zentralbank der Krise mit mehreren Maßnahmen im Rahmen ihrer geldpolitischen Kompetenz ent­ gegen.77 So begann sie im Jahr 2010, gestützt auf einen Beschluss des EZBRates, mit dem Securities Market Programme (SMP) Staatsanleihen von in finanzielle Probleme geratenen Eurostaaten aufzukaufen. Dies geschah nach Handbuch Europäische Zentralbank, S. 9 ff., 61 ff.: „Das EWU-Setting ist nicht un­ problematisch“, zeigt, dass die Risiken, die damals schon gesehen wurden, sich letzt­ endlich verwirklichten. 72  Bandilla, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 120 AEUV, Rn. 2; Yoo, in: Schwarze/ von der Groeben/Hatje, Europäisches Unionsrecht, vor Art. 120 AEUV, Rn. 4. 73  Thiele, Das Mandat der EZB, S. 2; Scharpf, ZSE 2011, S. 324, passim. 74  Ausführlich zu den staatlichen Rettungsmaßnahmen: Ulrich, Verfassungs- und europarechtliche Grenzen der Finanzmarktstabilisierung S. 31 ff. zu EU und USA; S. 40 ff. speziell zu Rettungsmaßnahmen in Deutschland. 75  Hierzu: Fassbender, NVwZ 2010, S. 799 ff. 76  So Ulrich, Verfassungs- und europarechtliche Grenzen der Finanzmarktstabili­ sierung, S. 30. 77  Generelle Übersicht über alle Maßnahmen und eine Untersuchung der Aufga­ ben einer Zentralbank in und vor Krisen bei Thiele, Das Mandat der EZB, S. 12 ff.

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1. Kap.: Die Doppelkrise

dem Vorbild der amerikanischen Zentralbank FED, die über ihre Quantitative Easing Programme 1 bis 3 von Ende 2008 bis 2014 Staatsanleihen im Wert von insgesamt ca. 1,3 Milliarden US-Dollar aufkaufte. Im Jahr 2012 wurde das SMP durch die Outright Monetary Transactions (OMT) ersetzt, welche die Ankäufe der Staatsanleihen an Voraussetzungen koppelt. Das OMT-Pro­ gramm wurde mittlerweile vom Europäischen Gerichtshof als mit den Verträ­ gen und vom Bundesverfassungsgericht als mit dem Grundgesetz vereinbar bestätigt.78 In diese Maßnahmen reiht sich nunmehr seit 2015 das Public Sector Purchase Programme (PSPP) zum Ankauf von Wertpapieren des öf­ fentlichen Sektors durch die EZB ein.79 Es fällt unter das bereits bestehende Expanded Asset Purchase Programme (EAPP), auf das an dieser Stelle aber nicht weiter eingegangen werden muss. Ein weiteres Mittel, mit dem die Europäische Zentralbank die Bewältigung der Krise anstrebt, ist die bestän­ dige Senkung des Leitzinses innerhalb der Eurozone auf seit dem März 2016 0,00 %, um den betroffenen Schuldenstaaten die Refinanzierung ihrer Kredite zu erleichtern.

B. Die Risikoneigung des Finanzsektors Durch die deskriptive Schilderung des Verlaufs und der Ursachen der letz­ ten großen Finanzkrisen wird noch nichts darüber ausgesagt, weshalb Fi­ nanzkrisen überhaupt ausbrechen und auf andere Wirtschaftszweige aus­ schlagen. Dies ist elementar für die folgende Untersuchung.

I. Die Größe der Finanzmärkte Die Risikoanfälligkeit der Finanzmärkte und die schnelle Ausbreitung von regionalen Krisen hängt zunächst mit der schieren Größe der Finanzmärkte zusammen. Die Größe der Finanzmärkte lässt sich als Gesamtwert der laufenden und noch nicht abgewickelten Ansprüche auf Zahlungen ausdrücken oder relativ als Größenverhältnis zwischen Finanzmarkt und Realwirtschaft.80 Im Jahr 2014 belief sich der Gesamtbetrag der laufenden Aktien nach einer Unter­ 78  Siehe EuGH, Urt. v. 16.6.2015, C-62/14, NJW 2015, S. 2013–2021; BVerfG, Urt. v. 21.6.2016, 2 BvE 13/13 u. a., NJW 2016, S. 2473 ff.; siehe hierzu Mayer, NJW 2015, S.  1999 ff. 79  Das Bundesverfassungsgericht hat nunmehr geurteilt, dass dieses zumindest teilweise verfassungswidrig ist, siehe Urt. v. 05.05.2020, 2 BvR 859/15 (abrufbar unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/ 05/rs20200505_2bvr085915.html). 80  Spremann/Gantenbein, Finanzmärkte, S. 47.



B. Die Risikoneigung des Finanzsektors43

suchung des McKinsey Global Institutes auf 240 Billionen Dollar und war damit etwa 67-mal so groß wie die Wirtschaftsleistung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2015.81 Auf dem Finanzmarkt werden Finanzprodukte gehandelt. Dies sind unkör­ perliche, vermögenswerte Rechte, z. B. Aktien, deren Komplexität allerdings zum Teil sehr hoch ist.82 § 2 Abs. 2b WpHG definiert diese Finanzinstru­ mente als: „Wertpapiere im Sinne des Absatzes 1, Anteile an Investmentvermögen im Sinne des § 1 Absatz 1 des Kapitalanlagegesetzbuchs, Geldmarktinstrumente im Sinne des Absatzes 1a, Derivate im Sinne des Absatzes 2, Rechte auf Zeichnung von Wertpapieren und Vermögensanlagen im Sinne des § 1 Absatz 2 des Vermögensan­ lagengesetzes mit Ausnahme von Anteilen an einer Genossenschaft im Sinne des § 1 des Genossenschaftsgesetzes sowie Namensschuldverschreibungen, die mit ei­ ner vereinbarten festen Laufzeit, einem unveränderlich vereinbarten festen positi­ ven Zinssatz ausgestattet sind, bei denen das investierte Kapital ohne Anrechnung von Zinsen ungemindert zum Zeitpunkt der Fälligkeit zum vollen Nennwert zu­ rückgezahlt wird, und die von einem CRR-Kreditinstitut im Sinne des § 1 Ab­ satz 3d Satz 1 des Kreditwesengesetzes, dem eine Erlaubnis nach § 32 Absatz 1 des Kreditwesengesetzes erteilt worden ist, ausgegeben werden, wenn das darauf eingezahlte Kapital im Falle des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Insti­ tuts oder der Liquidation des Instituts nicht erst nach Befriedigung aller nicht nachrangigen Gläubiger zurückgezahlt wird“.

Allein die Länge der Legaldefinition macht klar, dass mit einer schwer zu überblickenden Menge an Produkten gehandelt werden kann. Diese Defini­ tion gilt jedoch nur im Geltungsbereich des WpHG. Einen weiteren Defini­ tionsansatz liefert das internationale Abkommen der Welthandelsorganisation (WTO) General Agreement on Trade in Services (GATS), das den Dienstleis­ tungsbereich und damit auch Finanzdienstleistungen liberalisieren soll. Die Anlage 5 zum GATS enthält eine detaillierte Definition des Begriffes der Finanzdienstleistungen.83 Zusätzlich kann die Aufzählung aus Anhang I der 4. Kapitalverkehrsrichtlinie84 herangezogen werden, die sehr detailliert und differenziert den Begriff „Kapitalverkehr“ bestimmt. Klar wird aus den un­ terschiedlichen Definitionen, die wiederum den Kreis der Finanzprodukte immer leicht unterschiedlich ausdifferenzieren, dass die Menge der Produkte auf Finanzmärkten schwer überschaubar ist. Die Innovationskraft für die Bildung neuer Finanzprodukte ist ein Risikofaktor für die Stabilität der Märkte, der durch die bisherige Regulierung und Erneuerung der Aufsichts­ 81  Spremann/Gantenbein,

Finanzmärkte, S. 80. DVBl. 2011, S. 1061, 1062. 83  Aufzählung bei Sethe/Lehmann, in: Tietje (Hrsg.), Internationales Wirtschafts­ recht, § 13 Rn. 11. 84  RL 88/361/EWG v. 24.06.1988, ABl. EG 1988 L 178/5. 82  Ohler,

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1. Kap.: Die Doppelkrise

strukturen weniger aufgegriffen wurde. Während umfangreiche Maßnahmen zur Stabilisierung von Banken und Versicherungen ergriffen wurden, erweist sich die Regulierung und Aufsicht über Produkte als rückständiger. Insbeson­ dere betroffen ist der Markt für Zertifikate, die zivilrechtlich eine einfache Schuldverschreibung sind, deren Werte aber von anderen Finanzprodukten abhängen und damit risikoanfällig sind. Gleichzeitig kann jede Person mit diesen Produkten auf dem Finanzmarkt handeln, der Zugang zum Markt ist nicht wesentlich erschwert.85 Innerhalb der Europäischen Union wurde dies durch den „europäischen Pass“ gem. § 53b Abs. 1 Satz 1 KWG möglich. Kreditinstitute, die in ihrem Heimatland nach der CRR-VO86 zugelassen sind, können sich in Deutschland ohne eine weitere staatliche Erlaubnis niederlassen und diejenigen Geschäfte tätigen, die in i­hrem Heimatland zulässig sind. Die europäischen Grundfreiheiten garantieren, dass die Zulassung eines Kreditinstitutes in einem Mitgliedstaat die Zu­lassung in einem anderen entbehrlich macht.87 Auch die Errichtung von Zweigstellen bedarf keiner Genehmigung, sondern ist lediglich anzeige­ pflichtig (vgl. § 24a KWG).88 Deutlich wird hierdurch die Globalisierung der Finanzmärkte. Diese be­ deutet zugleich globale Vernetzung und insbesondere gegenseitige Abhängig­ keit von Finanzinstituten untereinander.89 Die Globalisierung wurde durch die Deregulierung der Finanzmärkte und ab den 1980er Jahren durch den Internationalen Währungsfonds vorangetrieben, indem auf den weiteren Ab­ bau von Kapitalverkehrskontrollen gepocht wurde.90 Weitere Faktoren im Prozess der Globalisierung waren die Zunahme von Kapitalzirkulation, tech­ nischer Fortschritt im Telekommunikations- und Computerbereich und neue Finanzmarktinstrumente, die einfacher über Ländergrenzen hinweg gehandelt werden konnten.91 Zu der großen Menge an Finanzprodukten kommt also noch eine Vielzahl an Akteuren auf dem Finanzmarkt hinzu. Nicht außer Acht zu lassen sind dabei die sog. Schattenbanken, die nicht als Kreditinstitute im Sinne des § 1 85  Ohler, DVBl. 2011, S. 1061, 1062; Sethe/Lehmann, in: Tietje (Hrsg.), Internati­ onales Wirtschaftsrecht, § 13 Rn. 4. 86  VO (EU) 575/2013 v. 26.06.2013, ABl. EU L 176/1. 87  Wojcik, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, § 63 Rn. 90. 88  Ruthig/Storr, Öff. WirtschaftsR, Rn. 501, 555. 89  Siehe zur Globalisierung der Finanzmärkte Ruppel, Finanzdienstleistungsauf­ sicht, S.  169 ff. 90  Arner, Financial Stability, S.  55; Aschinger, Währungs- und Finanzkrisen, S. 36; Ruppel, Finanzdienstleistungsaufsicht, S. 172 m. w. N. 91  Aschinger, Währungs- und Finanzkrisen, S. 36 ff.



B. Die Risikoneigung des Finanzsektors45

KWG zu qualifizieren sind und daher keine Regulierungsvorgaben beachten müssen oder der Bankenaufsicht unterstehen.92 Schattenbanken definierte der ehemalige Chef der US-Notenbank Federal Reserve Ben Bernanke als „diverse set of institutions and markets that, collectively, carry out traditional banking funktions“. Das heißt, Institutionen, die auf dem Schattenbanken­ markt tätig werden, nehmen das typische Bankgeschäft war, unterliegen aber keiner oder nur eingeschränkter Kontrolle. Neben den Schattenbanken gibt es eine Reihe von Märkten, die sich legislativer Kontrolle entziehen, sog. Off-Shore-Märkte. Dass diese Märkte daneben häufig sog. Steueroasen sind, trägt zu ihrer Beliebtheit bei.93 Eine wirksame Kontrolle über die dort getä­ tigten Geschäfte ist nicht möglich. Im Ergebnis stellt sich der Markt der Schattenbanken als destabilisierend dar, da keine Aufsicht oder Kontrolle möglich ist. Passend dazu wird die Finanzkrise in den USA von 2007 bis 2009 nicht nur als Krise der Investmentbanken, sondern auch als Krise der Schattenbanken bezeichnet, was sich darin ausdrückte, dass eine hohe Zahl von Schattenbanken kollabierte.94 Die Offenheit der Märkte, bestehend aus der Vielzahl an Produkten und Teilnehmern, kann die Entstehung von Finanzkrisen begünstigen.95 Teilneh­ mer an den Finanzmärkten sind u. a. die Emittenten von Finanzprodukten, die Anleger, die Finanzintermediäre und die Informationsintermediäre (auch „gatekeeper“ genannt). Hinzu kommt die destabilisierende Wirkung der ge­ genseitigen Verflechtung zwischen Instituten.96 Die Liquiditätsaufnahme und -vergabe zwischen den Banken durch Darlehensaufnahme und -vergabe stellt einen eigenen Interbankenmarkt dar. Bricht der Interbankenmarkt infolge von Vertrauensverlusten zusammen, hat dies zugleich Auswirkungen auf die Möglichkeit der Kreditaufnahme durch andere Wirtschaftsunternehmen, da die Banken zur Bereitstellung der Liquidität nicht mehr in der Lage sind. Dies geschah sowohl nach der Pleite der Österreichischen Creditbank im Jahr 1931 als auch nach Lehman Brothers im Jahr 2008.97 Die Problematik 92  Fikentscher, GRUR Int 2009, S. 635, 638; Kaufhold, Systemaufsicht, S. 68; Mülbert, in: Moloney/Ferran/Payne (Ed.), The Oxford Handbook of Financial Regu­ lation, S. 364, 397; Schaffelhuber, GWR 2011, S. 488; Sethe/Lehmann, in: Tietje (Hrsg.), Internationales Wirtschaftsrecht, § 13 Rn. 8; Zeitler, WM 2012, S. 673, 674. 93  Sethe/Lehmann, in: Tietje (Hrsg.), Internationales Wirtschaftsrecht, § 13 Rn. 3. 94  Acharya/Richardson, Restoring Financial Stability, S. 7 f. 95  Ohler, Bankenaufsicht, § 4 Rn. 8. 96  Vgl. Arner, Financial Stability, S. 33; Bachmann, in: ders./Breig (Hrsg.), Fi­ nanzmarktregulierung, S. 1, 2; F. Becker, ZG 2009, S. 123, 127; Kaufhold, System­ aufsicht, S.  24 f., 47 ff.; Lackhoff/Yoo/Bauerfeind, WM 2019, S. 1677, 1678; Ohler, DVBl. 2011, S. 1061, 1063; ders., Bankenaufsicht, § 4 Rn. 4; Stasch, Lender of Last Resort, S. 62. 97  Abelshauser, ZSE 2008, S. 565, 567 f.

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1. Kap.: Die Doppelkrise

wiederholt sich und wurde seitdem nicht durch eine Neufassung der maßgeb­ lichen Normen gelöst. Für Störungen auf dem Interbankenmarkt ist nicht einmal eine handfeste Finanzkrise notwendig. Es genügen die periodischen Zyklen, die für Preisschwankungen verantwortlich sind. Dies ist Ausdruck der Tatsache, dass Vertrauen der Marktteilnehmer untereinander eine Grund­ voraussetzung gut funktionierender Märkte ist.98 Ein Vertrauensverlust hat schlussendlich die Folge, dass die Mittel im Wirtschaftssystem fehlen, um nötige Investitionen vorzunehmen. Unmittelbare Folge sind zunächst zumin­ dest krisenartige Symptome auch in der Wirtschaft, die sich ohne wirksame Gegenmaßnahmen zu einer Krise entwickeln können.

II. Die Auswirkungen der Globalisierung auf das Finanzsystem Die Globalisierung der Finanzmärkte hat positive und negative Aspekte. Zum einen werden die internationalen Marktmechanismen gestärkt, so dass die Märkte insgesamt effizienter arbeiten, solange sie sich im Gleichgewicht befinden.99 Andererseits erhöht die Internationalisierung zugleich die Volati­ lität der Preise und wirkt sich damit negativ auf die Stabilität auf. Dies liegt darin begründet, dass Finanzmärkte sehr viel schneller auf Preisschwankun­ gen reagieren als die Realwirtschaft (gemeint ist mit der Bezeichnung Real­ wirtschaft der Wirtschaftszweig, der sich überwiegend mit Produktion und Vertrieb von Waren und Dienstleistungen befasst) und somit die Wechsel­ kurse der Landeswährungen nicht mehr durch realwirtschaftliche Faktoren bestimmt werden, sondern durch kurzfristige Kapitalbewegungen.100 Durch die Wechselkursschwankungen wird die Wettbewerbsfähigkeit eines Staates nicht durch den Kurs seiner Währung abgebildet, so wie es ursprünglich ge­ dacht war. Wichtig ist zudem, dass die Globalisierung zur verstärkten inter­ nationalen Vernetzung von Instituten führt und damit mehr Ansteckungs­ kanäle in der Krisenphase schafft.101 Durch diese kann sich die Krise zum einen schneller ausbreiten und zum anderen auch mehr Institute erfassen. In der Tendenz führt der Prozess der Globalisierung zu einer höheren I­nstabilität des Finanzsystems102, wofür eine Reihe von Finanzkrisen in den 1990er Jahren (Mexiko 1994 die sog. „Tequila-Krise“, Asienkrise 1997, 98  Benighaus, Staatshaftung für fehlerhafte Aufsicht im Bereich des Kapital­ markts, S. 7; Egidy, Finanzkrise und Verfassung, S. 65 ff. 99  Aschinger, Währungs- und Finanzkrisen, S. 49. 100  Aschinger, Währungs- und Finanzkrisen, S. 49. 101  Aschinger, Währungs- und Finanzkrisen, S. 50; Egidy, Finanzkrise und Verfas­ sung, S. 41. 102  Ruppel, Finanzdienstleistungsaufsicht, S. 177 m. w. N., wonach die Wahrschein­ lichkeit von Bankenkrisen um 40 % angestiegen sei.



B. Die Risikoneigung des Finanzsektors47

Russlandkrise 1998, der Zusammenbruch von Long Term Capital 1998– 2000), also in Zeiten erhöhter Deregulierung und steigender Globalisierung, einen historischen Beleg liefert.

III. Informationsdefizite Die bereits angeführten Faktoren der Größe und Globalisierung der Fi­ nanzmärkte führen zu einem weiteren Risiko, das sich begünstigend auf Entstehung und Verbreitung von Krisen auswirkt. Dieses liegt in dem Infor­ mationsdefizit einzelner Marktteilnehmer, wodurch ein krisenbegünstigendes Informationsgefälle entsteht. Der Begriff Informationsdefizit drückt zunächst lediglich die Tatsache aus, dass die Marktteilnehmer nicht über die gleiche Menge an Informationen verfügen. Damit werden asymmetrische Informationsverhältnisse begründet. Ein solcher Zustand besteht, wenn für den Vertragsschluss wesentliche Infor­ mationen nur einem Vertragspartner zugänglich sind. Dieser hat keinen An­ reiz, die Information weiterzugeben, da er daraus keinen Nutzen zieht, wo­ durch das Defizit nicht ausgeglichen wird.103 Liegt ein solches Szenario vor, führen die Marktmechanismen nicht zu effizienten Märkten, sondern zu einer unterschiedlichen Risikoeinschätzung der Marktteilnehmer, was wiederum zu irrationalem Verhalten führt.104 Informationsasymmetrien beeinträchtigen die Stabilität des Finanzsystems vor allem durch das Problem des Moral Hazard, die Principal/Agent-Beziehung und Adverse Selection.105 Moral Hazard be­ zeichnet, vereinfacht gesagt, die Gefahr der Erzeugung von Fehlanreizen und die dadurch entstehende Schwächung der Marktdisziplin.106 Die Principal/ Agent-Beziehung bezeichnet die Tatsache, dass der Agent (der Beauftragte) über mehr Informationen als der Principal (der Auftraggeber) verfügt und dadurch die beschriebene Informationsasymmetrie entsteht. Adverse Selec­ tion besagt, dass ein schlecht informierter Käufer eines Produktes auf Grund­ lage dieser nicht ausreichenden Informationen keine rationale Kaufentschei­ 103  Aschinger, Währungs- und Finanzkrisen, S. 64 f.; Mishkin, in: Hubbard, Finan­ cial Markets and Financial Crises, S. 69, 71. 104  Vgl. F. Becker, DB 2010, S. 941; Hellwig, Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Finanzsystems, in: Obst/Hintner, Geld-, Bank- und Börsenwesen, S. 10; Ruppel, Finanzdienstleistungsaufsicht, S. 178. 105  Hierzu Aschinger, Währungs- und Finanzkrisen, S. 65 ff.; siehe ferner Arner, Financial Stability, S. 44; Pflock, Europäische Bankenregulierung und das „Too big to fail-Dilemma“, S.  88 ff. 106  Radtke, Liquiditätshilfen, S. 63 m. w. N.; Mendelsohn, Systemrisiko und Wirt­ schaftsordnung im Bankensektor, S. 146, 160 ff. beschreibt Moral Hazard als daraus resultierend, dass der Akteur die Folgen seines Handelns nicht allein tragen muss, sondern diese auf die Allgemeinheit abwälzen kann.

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1. Kap.: Die Doppelkrise

dung trifft.107 Seine Entscheidung fällt daher möglicherweise auf das schlechtere Produkt. In einer langen Reihe von Entscheidungen und Käufen führt dies in einer Wirtschaft dazu, dass nur noch schlechte Produkte auf dem Markt gehandelt werden. Für die Finanzmärkte bedeutet dies, dass auf Grundlage des Informationsdefizites getroffene Fehlentscheidungen, die Bil­ dung von Spekulationsblasen begünstigen. In einem funktionierenden Markt haben beide Parteien so viele Informa­ tionen, dass sie die Investitionsentscheidung hinreichend abwägen können. So kommt eine solche Entscheidung nicht nur dem einzelnen Investor, son­ dern der ganzen Volkswirtschaft zugute, da der Kapitalfluss in die richtige und damit wohlstandsteigernde Richtung gelenkt wird.108 Informationsasymmetrien führen darüber hinaus in vielen Fällen zu Ver­ trauensverlusten bei Anlegern, die daraufhin ihre Anlage von Banken abzie­ hen und somit durch den Schneeballeffekt einen Bank Run (dazu sogleich) auslösen.109 Das Problem von Informationsasymmetrien tritt nicht nur auf Finanzmärkten auf. Bei diesen sind sie aber ein Risikofaktor, der zusammen mit den bereits geschilderten Faktoren Krisen begünstigt.

IV. Hochfrequenzhandel Neben Größe und Globalisierung der Märkte sorgt ein weiterer, mit diesen beiden im Zusammenhang stehender Faktor für die Krisenanfälligkeit. Die Transaktionen, die von den Marktteilnehmern getätigt werden, haben durch die technologische Entwicklung ein hohes Tempo erreicht. Bereits angespro­ chen wurde die Entwicklung der Computertechnologie, die es heute mehr Menschen ermöglicht, Finanzprodukte schnell und grenzüberschreitend zu handeln. Dies nennt man Hochfrequenzhandel.110 Durch die Möglichkeit, Produkte schnell von einem Akteur zum anderen zu transferieren, steigt zu­ gleich die Möglichkeit der Übertragung von Risiken.111 Die bereits erwähn­ ten Ansteckungskanäle verbreiten die Krisen damit nicht nur weltweit, son­ 107  Grundlegend Akerlof, Quarterly Journal of Economics, Vol.  84 (1970), S.  488 ff.; hierzu Scheufen, Angewandte Mikroökonomie und Wirtschaftspolitik, S.  244 ff. 108  Zimmer, Gutachten G zum 68. Deutschen Juristentag 2010, S. 14 f. 109  Radtke, Liquiditätshilfen, S. 33 m. w. N. 110  Deutsche Bundesbank, Finanzstabilitätsbericht, 2011, S. 76  f., nach der der Hochfrequenzhandel an der New Yorker Börse 70 % aller Transaktionen ausmacht und an der deutschen Börse ca. 40 %; Ohler, DVBl. 2011, S. 1061, 1062; vgl. zudem Röhl, in Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, § 18 Rn. 11. 111  Vgl. van Aaken, in: Möllers/Voßkuhle/Walter (Hrsg.), Internationales Verwal­ tungsrecht, S. 219, 224.



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dern dies auch innerhalb einer so kurzen Zeitspanne, in der Gegenmaßnah­ men, wenn sie überhaupt schon ergriffen wurden, kaum beruhigende Effekte auf die Märkte haben können. Weiterhin hat sich in der Krise gezeigt, dass die Geschwindigkeit, mit der ein endogener oder externer Schock das ge­ samte System erreicht, mit der Geschwindigkeit des grenzüberschreitenden Handels steigt, so dass grenzüberschreitende Transaktionen eine der ver­ wundbarsten Stellen der Finanzmärkte bilden.112 Hochfrequenzhandel stellt damit einen weiteren wichtigen Faktor in der Risikoneigung des Finanzsek­ tors dar.

V. Leerverkäufe Leerverkäufe sind kein Phänomen der finanzmarkttechnischen Neuzeit, bereits im Jahr 1610 wurden sie an der Amsterdamer Börse verboten. 1929 sollen sie Mitverursacher des weltweiten Börsencrashs gewesen sein, wor­ aufhin sie auch in den USA verboten wurden. Die Verbote waren nicht von langer Dauer, sodass sie auch bei Entstehung der Krise 2008 als „Brand­ beschleuniger“113 galten. Ein Leerverkauf wird in § 283 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KAGB legaldefiniert als „Verkauf von Vermögensgegenständen für gemeinschaftliche Rechnung der Anleger, die im Zeitpunkt des Geschäftsabschlusses nicht zum AIF gehören (Leerverkauf)“. Sie bieten also die Möglichkeit, Finanzprodukte zu verkau­ fen, die dem Verkäufer noch nicht gehören, womit gemeint ist, dass er über diese auch noch nicht verfügen kann (eine Ermächtigung nach § 185 BGB liegt in diesen Fällen nicht vor). Zivilrechtlich ist dies zunächst nichts Unge­ wöhnliches. Jeder hat die Möglichkeit, sich zum Verkauf einer Sache ver­ pflichten, die nicht in seinem Eigentum steht, über die er also noch gar nicht verfügen kann. Schuldrechtlich ist dies eine Beschaffungsschuld im Sinne des § 276 Abs. 1 a. E. BGB. Auf den Finanzmärkten können Leerverkäufe dagegen destabilisierend wirken. Der Leerverkäufer spekuliert auf niedrigere Kurse, um mit dem Ver­ kauf einen Gewinn zu erzielen. Diese Möglichkeit wird zwar als grundsätz­ lich positiv für die Märkte beurteilt, dies gilt jedoch nur in funktionierenden Märkten ohne ein Informationsdefizit.114 In Märkten, in denen diese Voraus­ setzungen nicht gegeben sind, können Leerverkäufe zu einer Beschleunigung von Kursverfällen führen und von Akteuren gezielt eingesetzt werden, um 112  Dombret,

in: ders./Lucius (Hrsg.), Stability of the Financial System, S. 27, 29. Leerverkäufe, S. 1. 114  Zimmer, Gutachten G zum 68. Deutschen Juristentag 2010, S. 21 f.; „durchaus legitim“ nennt Gruber, Leerverkäufe, S. 7, auch die durch Leerverkäufe verfolgten Zwecke. 113  Gruber,

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1. Kap.: Die Doppelkrise

Kurse fallen zu lassen und davon zu profitieren.115 Leerverkäufer können so im Vorhinein auf sinkende Kurse setzen, diese dann durch massenhaft Leer­ verkäufe fallen lassen und trotzdem einen Gewinn einstreichen. Im Fall schnell sinkender Kurse wird die Stabilität der Märkte negativ beeinflusst, weil dies dazu führt, dass Anleger in Panik geraten und verleitet werden zu Panikverkäufen. Sie eignen sich aus diesem Grund hervorragend zur Speku­ lation. Folglich können massenhafte Leerverkäufe sich destabilisierend auf die Märkte auswirken. Problematisch für die Stabilität sind besonders die sog. ungedeckten Leer­ verkäufe, unter denen die BaFin solche versteht, bei denen der Verkäufer sich weder Eigentum verschafft noch einen Anspruch auf Übertragung des Eigentums innehat.116 Zu Instabilität führen vor allem solche ungedeckten Leerverkäufe ohne Verkaufsabsicht, die zur Kursmanipulation genutzt wer­ den können.117 Nicht zu unterschätzen, ist das Volumen der Leerverkäufe auf den Aktienmärkten, an denen sie 15–30 % des Handelsvolumens ausmachen sollen.118 Die Gefahren von Leerverkäufen zeigen sich schon darin, dass sowohl die Krise 2008 als auch die Weltwirtschaftskrise ab 1929 unter anderem durch massenhaft ungedeckte Leerverkäufe ausgelöst wurden119, was Warren Buf­ fet veranlasste, sie als „Massenvernichtungswaffen“120 zu bezeichnen. Insge­ samt bergen Leerverkäufe weiteres Potenzial zur Entstehung von Krisen.

VI. Hedgefonds und Private Equity Zwei Formen von Anlageunternehmen sind besonders in den Blick zu nehmen, wenn man von Risiko und Instabilität auf den Finanzmärkten spricht. Das Gesetz definiert die Fonds in § 283 Abs. 1 Satz 1 KAGB als „allgemeine offene inländische Spezial-AIF nach § 282, deren Anlagebedin­ gungen zusätzlich mindestens eine der folgenden Bedingungen vorsehen: 115  Walla, in: Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 15 Rn. 5; Zimmer, Gutachten G zum 68. Deutschen Juristentag 2010, S. 22. 116  Gruber, Leerverkäufe, S. 8 definiert ungedeckte Leerverkäufe teilweise anders, indem er nicht auf das Eigentum, sondern auf das Vorhandensein einer Leihvereinba­ rung abstellt; ähnlich Walla, in: Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 15 Rn. 4; zur Gefahr siehe auch Egidy, Finanzkrise und Verfassung, S. 53 f. 117  Vgl. Gruber, Leerverkäufe, S. 8, 13 und Walla, in: Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 15 Rn. 9 f., 36 f. 118  Zahlen nach Gruber, Leerverkäufe, S. 1. 119  Zimmer, Gutachten G zum 68. Deutschen Juristentag 2010, S. 82 m. w. N. 120  Siehe https://www.handelsblatt.com/archiv/buffett-sieht-derivate-als-finanziellemassenvernichtungswaffen-terminboersen-wehren-sich/2233374.html?ticket=ST-3286 40-3NvxPiUMOmDvRbdd4c33-ap5 (zuletzt abgerufen am 30.04.2020).



B. Die Risikoneigung des Finanzsektors51

1. Den Einsatz von Leverage in beträchtlichem Umfang oder 2. den Verkauf von Vermögensgegenständen für gemeinschaftliche Rechnung der Anleger, die im Zeitpunkt des Geschäftsabschlusses nicht zum AIF gehören (…). Nach Abs. 2 richten sich die Kriterien für Leverage in beträchtlichem Um­ fang nach Art. 111 der Delegierten Verordnung (EU) Nr. 231/2013. Hedge­ fonds sind damit Investmentfonds, die keinen Beschränkungen bei der Aus­ wahl ihrer Vermögensgegenstände unterliegen.121 Hedgefonds und Private Equity Unternehmen sind daher dem bereits erwähnten Bereich der Schatten­ banken zuzuordnen. Eine allgemeingültige Definition für Hedgefonds ist allerdings mit Vor­ sicht zu betrachten, da sich die einzelnen Gestaltungen, die unter die Be­ zeichnung fallen, stark unterscheiden können. Die Fonds arbeiten in der Re­ gel mit einem hohen Anteil an Fremdkapital, um für die Kapitalgeber über die bereits geschilderte Hebelwirkung zwischen Eigen- und Fremdkapitali­ sierung eine hohe Rendite zu erzielen. Diese soll die Anleger zufriedenstel­ len. Unter dem Begriff Private Equity werden Wagniskapital und fremdkapital­ finanzierte Unternehmensübernahme zusammengefasst.122 Das heißt, PrivateEquity-Fonds sammeln Fremdkapital, um damit in Vermögensgegenstände zu investieren. Investitionsobjekt sind regelmäßig nicht börsennotierte Unter­ nehmen. Im Gegensatz zu Hedgefonds, die in der Regel eine kurzfristige Anlagestrategie durch eine Kombination von Long- und Short-Positionen verfolgen, sind Private-Equity-Fonds eher langfristig orientiert, ihr Invest­ ment zielt auf eine unternehmerische Beteiligung.123 Im Gegensatz zu Pri­ vate-Equity-Fonds, die zu einem großen Teil auch aus dem Inland heraus gemanagt werden, hat mehr als die Hälfte aller Hedgefonds ihren Sitz aus steuer- und aufsichtsrechtlichen Gründen in Offshore-Standorten.124 121  Lehmann, in: Leible/Lehmann (Hrsg.), Hedgefonds und Private Equity, S. 17, 18 mit Verweis auf den mittlerweile aufgehobenen § 112 Abs. 1 Satz 1 InvG; Zeitler, WM 2012, S. 673, 675. 122  Ernstberger/Herz, in: Leible/Lehmann (Hrsg.), Hedgefonds und Private Equity, S. 33, 35. 123  Ohler, in: Leible/Lehmann (Hrsg.), Hedgefonds und Private Equity, S. 139, 141. 124  Ohler, in: Leible/Lehmann (Hrsg.), Hedgefonds und Private Equity, S. 139, 141 f. m. w. N. Aus diesem Grund wird Kapital auch als „scheues Reh“ bezeichnet. Offshore-Finanzplätze stellen für sich gesehen ein Risiko für die Stabilität der Fi­ nanzmärkte dar, was sich darin ausdrückt, dass mehr als die Hälfte aller grenzüber­ schreitenden Aktiva und Passiva in Offshore-Finanzplätzen gehalten wird, siehe Rixen/Fichtner, Die dunkle Seite der Finanzmärkte, abrufbar unter http://www.bpb. de/politik/wirtschaft/finanzmaerkte/55549/offshore-finanzplaetze?p=all (zuletzt abge­ rufen am 30.04.2020).

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1. Kap.: Die Doppelkrise

Historisch lässt sich die Bedeutung von Hedgefonds für die Entstehung von Finanzkrisen an dem Zusammenbruch des Fonds Long Term Capital im Jahr 1998, der nur unter größten Anstrengungen der FED gerettet werden konnte, und dem Zusammenbruch von Bear Stearns im Jahr 2008, der we­ sentlich durch zwei von diesem Institut geführten Hedgefonds durch Investi­ tionen im Subprime Sektor ausgelöst wurde, zeigen.125 Der Subprime Sektor bezeichnete den Markt, auf dem Kunden mit mangelnder Bonität sog. NINJA-Darlehen für den Immobilienkauf gewährt, diese mit Hypotheken besichert und dann gebündelt an Investoren verkauft wurden. Herauszuarbeiten ist nun, wie sich die Existenz dieser besonderen und risi­ koreichen Formen von Investmentfonds auf die Finanzmarktstabilität aus­ wirkt. Auch wenn dies angesichts des schlechten Images von Hedgefonds zu­ nächst überraschen mag, ist die Wirkung nicht nur negativ zu betrachten. Al­ lerdings besteht durch den hohen Fremdfinanzierungsanteil die Gefahr von Ansteckungseffekten, die bei Misslingen einer Investition auch die Kapitalge­ ber in Schieflage bringen können.126 Als Beispiel kann wiederum die Finanz­ krise 2008 dienen. Im Vorfeld der Krise musste Bear Stearns durch staatliche Rettungsmaßnahmen gestützt werden. Hierzu kam es, da sich Hedgefonds der Bank auf dem Immobilienmarkt mit Subprime-Anleihen massiv verspekuliert hatten. Da unter den Kapitalgebern in der Regel auch Banken sind, kann ein Misslingen einer Investition auch bei diesen zu hohen Abschreibungen in den Bilanzen führen und die Bank selbst in finanzielle Probleme bringen, was dann wiederum das Bankensystem als solches gefährden kann. Da Hedge­ fonds mit einem hohen Anteil an Fremdkapital arbeiten, potenzieren sich die Risiken des spekulativen Geschäfts für die Kapitalgeber. Banken tragen zu­ dem das sog. Klumpenrisiko. Dieses tritt auf, wenn eine Bank mehrere Hedge­ fonds mit ähnlicher Anlagestrategie und -markt finanziert; fällt dann diese Investition aufgrund unvorhergesehener Marktentwicklung, z. B. infolge eines exogenen Schocks (wie z. B. politische Veränderungen oder Naturkatastro­ phen), aus, führt dies zur Schieflage der finanzierenden Bank.127 Ein weiterer negativer Aspekt, der hinsichtlich Hedgefonds immer wieder ins Spiel gebracht wird, ist deren Einfluss auf Unternehmen der Realwirt­ schaft. Hedgefonds kaufen mit ihrem Potenzial an Kapital Anteile etablierter Unternehmen auf und ändern danach deren Geschäftsverhalten. Dies führt 125  Zeitler,

WM 2012, S. 673, 675. in: Leible/Lehmann (Hrsg.), Hedgefonds und Private Equity, S. 17,

126  Lehmann,

24.

127  Casper, in: Leible/Lehmann (Hrsg.), Hedgefonds und Private Equity, S. 161, 164; Calomiris, in: Berger/Molyneux/Wilson (Ed.), The Oxford Handbook of Bank­ ing, S. 722, 723; Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Bankensek­ tor, S. 89.



B. Die Risikoneigung des Finanzsektors53

dazu, dass mehr Rücksicht auf Gewinnmaximierung, aber weniger Rücksicht auf gute Arbeitsbedingungen und die Beschäftigten generell genommen wird, was sich im schlimmsten Fall in Massenentlassungen ausdrücken kann.128 Auf der anderen Seite kann eine stabilisierende Funktion von Hedgefonds ins Feld geführt werden.129 Sie verfolgen in der Regel eine zum „normalen“ Anleger konträre Marktstrategie und können daher Herdenverhalten entge­ genwirken sowie durch Arbitrage Blasen und fehlerhafte Bewertungen aufde­ cken.130 Darüber hinaus fördern sie als Kapitalgeber für verschiedene Unter­ nehmen die Liquidität der Märkte. Aus diesem Grund kann Hedgefonds be­ rechtigterweise eine Unterstützung der Finanzierungs- und Risikotransfer­ funktion und damit die Förderung der Finanzmarkteffizienz zugesprochen werden.131 Diese positiven Wirkungen haben sich in der letzten Zeit aller­ dings weniger gezeigt, so dass nicht davon auszugehen ist, dass Hedgefonds eine überwiegend stabilisierende Funktion im Finanzsystem haben. Als Ergebnis ist festzuhalten, dass gerade Hedgefonds die Stabilität in be­ sonderem Maße negativ beeinflussen können und daher zur Risikoanfälligkeit der Finanzmärkte beitragen. Inwiefern solche Investmentfonds durch staat­ liche Normsetzung auf den Finanzmärkten kontrolliert werden können, ohne gleichzeitig deren Rechte zu stark einzuschränken, ist eine Herausforderung für die zukünftigen hoheitlichen Bemühungen zur Stabilisierung der Märkte.

VII. Der Begriff des Systemrisikos 1. Definition Die Finanzkrise ab 2007 ist als eine sog. Systemkrise anzusehen. Die Krise auf dem Immobilienmarkt wurde in dem Zeitpunkt zu einer systemi­ schen Krise der Finanzmärkte, in dem die zwei Hedge-Fonds von Bear Stearns, die in Subprime-Anleihen investiert hatten, kollabierten und gleich­ 128  Heike Buchter, A System for the Elite (15.09.2018), in Zeit Online, abruf­ bar unter https://www.zeit.de/wirtschaft/2018-09/financial-crisis-lehman-shareholdervalue-doctrine-english/seite-2 (zuletzt abgerufen am 30.04.2020). 129  Vgl. Schaffelhuber, GWR 2011, S. 488, der unter Verweis auf einen Bericht der IOSCO vertritt, dass die Krise 2008 gerade keine „Hedgefond-Krise“ gewesen sei; so auch Sachverständigenrat, Jahresgutachten 2007/2008, S. 131 f.; anders der Bericht der De Larosière-Gruppe, Report, 2009, S. 23 ff., abrufbar unter https:// ec.europa.eu/info/system/files/de_larosiere_report_en.pdf (zuletzt abgerufen am 30.04.2020); a. A. Gorton, Slapped by the Invisible Hand, S. 13. 130  Ernstberger/Herz, in: Leible/Lehmann (Hrsg.), Hedgefonds und Private Equity, S. 33, 42; Lehmann, in: ebd., S. 17, 25. 131  So Ernstberger/Herz, in: Leible/Lehmann (Hrsg.), Hedgefonds und Private Equity, S. 33, 42.

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1. Kap.: Die Doppelkrise

zeitig die Preise für CDOs fielen.132 In Anbetracht dieser Tatsachen ist es angebracht, zunächst den Begriff der Systemrisiken noch genauer zu ergrün­ den. Zugleich ist vorab festzustellen, dass es für die künftige Rechtsetzung vor allem darum gehen muss, systemische Risiken der Finanzmärkte, die sich zu Systemkrisen verdichten, einzudämmen. Eine einheitliche Definition des Begriffs Systemrisiko hat sich noch nicht herausgebildet. Die Vorschläge unterscheiden sich vor allem dadurch, dass teilweise die Realwirtschaft einbezogen wird, teilweise wird sie außen vorge­ lassen; Einigkeit besteht darin, dass durch einen Schock eine Reaktion der Märkte ausgelöst wird, die wiederum weitere Reaktionen folgen lässt.133 Nach einem Definitionsansatz wird als systemisches Risiko des Finanz­ marktes beschrieben, dass durch die Beeinträchtigung eines oder mehrerer Teile des Finanzsystems ein nationales oder das globale Finanzsystem zu­ sammenbricht und dieses Ereignis das Potential hat, die Realwirtschaft zu gefährden.134 Das Gesetz definiert Systemrisiken in § 1 Abs. 33 KWG als das „Risiko einer Störung im Finanzsystem, die schwerwiegende Auswirkun­ gen für das Finanzsystem und die Realwirtschaft haben kann“. In der Legal­ definition wird die Realwirtschaft einbezogen. Einen weiteren Ansatz bietet die EBA-Verordnung der Europäischen Union135. Erwägung Nr. 15 definiert diese als „ein Risiko der Störung des Finanzsystems, die das Potential hat, zu schwerwiegenden negativen Folgen für den Binnenmarkt und die Realwirt­ schaft zu führen“. Auch diese Definition berücksichtigt die Realwirtschaft. Dieser Ansatz soll daher auch im Folgenden zugrunde gelegt werden. Der Begriff der systemischen Risiken oder des Systemrisikos dient zudem dazu, primäre und sekundäre Folgen eines Ereignisses auszumachen und zwischen diesen zu differenzieren, was die Ursachenergründung einfacher machen kann. Auf den Finanzmärkten folgt auf ein auslösendes Ereignis der Zusammenbruch eines Finanzinstitutes, der eine Marktreaktion auslöst und als sekundäre Folge zur Vertiefung einer Krise führt.136 Durch den Begriff 132  Acharya/Richardson,

Restoring Financial Stability, S. 2. Mülbert, in: Moloney/Ferran/Payne (Ed.), The Oxford Handbook of Finan­ cial Regulation, S. 364, 381 m. w. N. Einen Überblick über die verschiedenen Ansätze bietet Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Bankensektor, S. 115 ff. 134  Aschinger, Währungs- und Finanzkrisen, S. 9; Mülbert, in: Moloney/Ferran/ Payne (Hrsg.), The Oxford Handbook of Financial Regulation, S. 364, 381 f.; Lastra, Legal Foundations of Monetary Stability, S. 138 f.; Scott, Journal of International Economic Law, Vol. 13 (2010), S. 763; Stasch, Lender of Last Resort, S. 69 f. 135  VO (EU) 1093/2010, ABl. 2010 L 331/12. 136  Vgl. Kaufhold, Systemaufsicht, S. 2, 23 ff. Zum Begriff des Systemrisikos wei­ terhin Hellwig, Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Finanzsystems, in: Obst/ Hintner, Geld-, Bank- und Börsenwesen, S. 20 f.; Lastra, Legal Foundations of Inter­ national Monetary Stability, S. 138 ff.; Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsord­ 133  So



B. Die Risikoneigung des Finanzsektors55

der Systemrisiken wird also die Gefahr beschrieben, dass sich die Krise eines Marktteilnehmers auf den gesamten Finanzmarkt und folgend auf benach­ barte Märkte ausbreiten kann. Systemrisiken beschränken sich nicht auf die Finanzmärkte, sondern treten auf allen Gebieten des menschlichen Lebens auf. In der Medizin wird zur Beschreibung des Verlaufs einer Epidemie von systemischen Risiken gesprochen. Im Verkehrswesen wird der Begriff zur Beschreibung von Verkehrszuständen genutzt. Es ist daher sinnvoll, den Begriff der systemischen Risiken für die Finanz­ märkte genauer darzulegen: Primäres Ereignis ist ein Schock eines oder mehrerer Finanzunternehmen, der sich auf andere Finanzunternehmen über­ trägt. Sekundäres Ereignis ist eine Gefahr für die Stabilität des Finanzsys­ tems, die Einlagensicherheit und zuletzt für die Realwirtschaft. Am Ende droht im schlimmsten Fall ein sog. Bank Run137, wodurch die Krise auch einfache Bürger unmittelbar trifft. So geschah es bei der weltweiten Wirt­ schaftskrise („Great Depression“) ab dem Jahr 1929 und der folgenden Ban­ kenkrise im Jahr 1931, aber auch schon bei der US-Finanzkrise 1907. Von einem Bank Run wird herkömmlich gesprochen, wenn die Kunden der Bank aus Angst um ihr Vermögen sämtliches Geld von dem Institut abziehen. Bankkunden oder Banken tauschen ihre Ansprüche gegen eine andere Bank in Bargeld um und die in Anspruch genommene Bank gerät aufgrund der hohen Nachfrage in Zahlungsschwierigkeiten bis hin zum Kollaps, der sich wiederum auf weitere Institute auswirkt. So wird ein Dominoeffekt ausge­ löst. Auch in der Krise ab 2007 kam es zumindest in den USA zu einigen Bank-Runs auf Finanzinstitute, die in der Folge zu Liquiditätsschwierigkei­ ten führten, am deutlichsten sichtbar bei dem Bank-Run auf Lehman Broth­ ers, der das System vollständig zum Erliegen brachte.138 nung im Bankensektor, S. 20 f., 108 ff.; Möschel, WuW 2008, S. 1283, 1284, mit Be­ zug auf die Risiken, die dem Finanzmarkt inhärent sind und für seine besondere Krisenanfälligkeit verantwortlich sind; M. Müller, Finanzmarktstabilisierung und Anlegereigentum, S.  60 ff.; Ohler, DVBl. 2011, S. 1061, 1062 f.; ders., Bankenauf­ sicht, § 4 Rn. 11 ff.; Radtke, Liquiditätshilfen, S. 34; Schott, Staatliche Reaktionen, S.  24 ff.; Sethe/Lehmann, in: Tietje (Hrsg.), Internationales Wirtschaftsrecht, § 13 Rn. 8; Stasch, Lender of Last Resort, S. 65; Zimmer, Gutachten G zum 68. Deutschen Juristentag, S. 41 f.; aus der englischsprachigen Literatur z. B. Lastra, in: Moloney/ Ferran/Payne (Ed.), The Oxford Handbook of Financial Regulation, S. 309, 311 ff.; Scott, Journal of International Economic Law, Vol. 13 (2010), S. 763 ff. 137  Hierzu Calomiris/Gorton, in: Hubbard (Hrsg.), Financial Markets and Finan­ cial Crisis, S. 109, 111 ff.; Hellwig, Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Finanz­ systems, in: Obst/Hintner, Geld-, Bank- und Börsenwesen, S. 18; Radtke, Liquiditäts­ hilfen, S.  31 ff.; Stasch, Lender of Last Resort, S. 66 ff. Auswertung der ökonomischen Analysen zu Bank-Runs bei Kaufhold, Systemaufsicht, S. 36 ff. 138  Ausführlich Acharya/Richardson, Restoring Financial Stability, S. 10 f.; ferner zum Bank-Run auf die britische Bank Northern Rock: Lackhoff/Yoo/Bauerfeind, WM 2019, S. 1677, 1680.

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1. Kap.: Die Doppelkrise

Ein konkretes Beispiel für die Verwirklichung von systemischen Risiken lässt sich im Falle von Zahlungsschwierigkeiten einer einzelnen Bank bilden (primäres Ereignis), die durch die Interdependenzen des Bankensystems das System in seiner Gesamtheit erschüttert (sekundäres Ereignis), da die Bonität einer Bank durch die Kredite zwischen den Banken untereinander derart mit der anderer Banken verknüpft ist, dass Vertrauensverluste eine Finanzmarkt­ krise auslösen können.139 Das vorher bestehende Vertrauen der Anleger in die eigenen Informationen und die eigene Anlagestrategie wird erschüttert. Die Anleger verhalten sich wie eine Herde und lösen den Dominoeffekt aus.140 Die Märkte geraten in Schieflage, was sich durch die typische Reak­ tion auf diese noch verstärkt. Die Insolvenz eines Marktteilnehmers bringt dessen Gläubiger in finanzielle Probleme, wodurch wiederum deren Gläubi­ ger aus dem Gleichgewicht kommen. Über den Interbankenmarkt werden die Risiken auf andere Institute transportiert, wobei sie sich potenzieren. Gerade darin liegt das systemische Risiko der Finanzmärkte. Häufig kann der Schief­ lage ein Börsencrash oder ein Crash auf einem anderen Markt vorangehen, d. h. ein schlagartiger, plötzlicher Kursverfall, der durch die Panikverkäufe der Anleger zu einer Finanzkrise führt und als sekundäres Ereignis eine Wirt­ schaftskrise auslöst. Börsencrashs entstehen häufig durch die Bildung einer Blase auf einem bestimmten Markt, die viele Anleger dazu motiviert hat, auf diesem ihr Geld zu investieren. Diese Kette von Ereignissen von staatlicher Seite durch gesetzgeberisches Handeln zu verhindern oder wenigstens deren Folgen zu mildern, ist dann nur noch durch hohen Aufwand an Geldmitteln möglich. Wie die letzte Krise gezeigt hat, ist die Ausbreitung einer systemischen Krise auf andere Märkte kaum zu verhindern. Nach der Lehman-Pleite ließ sich die Krise nicht mehr abwenden. Zusammenfassend finden sich systemische Risiken vor allem in wesent­ lichen Marktinfrastrukturen wie Zahlungsverkehr- und Wertpapierabrech­ nungssystemen, in großen und stark vernetzten Finanzinstituten, dem Inter­ bankenhandel und in wirtschaftlichem Parallelverhalten einer Vielzahl von Marktteilnehmern.141 Durch den Begriff lassen sich alle bereits geschil­ 139  Hellwig, Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Finanzsystems, in: Obst/Hint­ ner, Geld-, Bank- und Börsenwesen, S. 21; vgl. auch zu den systemischen Risiken der Verlinkung von Banken untereinander Dombret, in: ders./Lucius (Hrsg.), Stability of the Financial System, S. 27, 33 f.; Mülbert/Sajnovits, ZfPW, S. 1, 2 ff. 140  Vgl. Ohler, Bankenaufsicht, § 4 Rn. 20 f.; generell zum Entscheidungsverhal­ ten von Anlegern siehe Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, S.  94 ff., 110 ff. 141  Ohler, EYIEL 2010, S. 3, 19 f.; Radtke, Liquiditätshilfen, S. 35 ff.; ferner Lastra, Legal Foundations of International Monetary Stability, S. 141 ff. mit umfangrei­ chen Beispielen zu einzelnen Übertragungskanälen.



B. Die Risikoneigung des Finanzsektors57

derten Faktoren für die Risikoanfälligkeit des Finanzsektors zusammenfas­ sen. Aus der Definition wird zudem deutlich, dass systemische Krisen sowohl durch endogene als auch exogene Schocks ausgelöst werden. Exogene Fak­ toren sind vor allem hohe Marktzinsen, eine negative konjunkturelle Ent­ wicklung und eine Währungsabwertung.142 Exogene Faktoren werden also durch Ereignisse außerhalb der Finanzmärkte bestimmt.143 Endogene Fakto­ ren sind innerhalb des Finanzsystems zu suchen, wie z. B. Spekulation der Marktteilnehmer und die zu geringe Eigenkapitalisierung der Banken und Versicherungen. 2. Systemische Risiken durch Anlagestrategien Hinzu kommen systemische Risiken, die sich daraus ergeben, dass die Marktteilnehmer Entscheidungen auf Grundlage individuell rationaler Strate­ gien treffen. Individuell rationale Entscheidungen müssen aber nicht zwin­ gend auch für die Stabilität der Märkte förderlich sein. Eine Bank kann durch eine Maßnahme ihr eigenes Risiko minimieren, dadurch aber, wegen ihrer finanziellen Verbundenheit mit anderen Instituten, hohe systemische Risiken herbeiführen.144 Finanzinstitute kalkulieren in ihrer Risikoanalyse jedoch vorranging interne Kosten und Nutzen einer bestimmten Transaktion, nicht das Risiko für das Finanzsystem.145 3. Systemrisiko durch Systemrelevanz Ein systemisches Risiko besteht darüber hinaus in der Größe der Banken und anderer Finanzinstitute, was sich in der too-big-to-fail-Problematik aus­ drückt.146 Da der Zusammenbruch einer großen Bank das gesamte System in die Krise führen kann, können die in einem liberalen System vorgesehenen Marktmechanismen, nach denen unprofitable Unternehmen bei Überschul­ 142  Radtke,

Liquiditätshilfen, S. 37. zukünftiges Risiko für die Finanzmärkte soll sich zum Beispiel aus dem Klimawandel und der drohenden Verknappung natürlicher Ressourcen ergeben, siehe Bernhard Pötter, Gefahr für die Weltwirtschaft (12.09.2018), in TAZ, abrufbar unter https://www.taz.de/!5535087/ (zuletzt abgerufen am 30.04.2020). 144  Mülbert, in: Moloney/Ferran/Payne, The Oxford Handbook of Financial Regu­ lation, S. 364, 375 f., 378. 145  Vgl. F. Becker, ZG 2009, S. 123, 126 f. 146  Günther, WM 2010, S. 825, 826; Mülbert, in: Moloney/Ferran/Payne, The Ox­ ford Handbook of Financial Regulation, S. 364, 383; Ohler, Bankenaufsicht, § 4 Rn. 5; zur Herkunft der Formel Too big to fail Pflock, Europäische Bankenregulie­ rung und das „Too Big to fail-Dilemma“, S. 5. 143  Ein

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1. Kap.: Die Doppelkrise

dung oder Zahlungsunfähigkeit einen Insolvenzantrag zu stellen haben, nicht greifen. Staatliche Rettungsaktionen verhindern zwar das Schlimmste, be­ gründen oder vertiefen jedoch ein Defizit und haben dadurch gleichsam ne­ gative Auswirkungen auf die Realwirtschaft. Die Existenz eines systemrele­ vanten Institutes alleine erhöht für sich nicht die Krisenanfälligkeit des Fi­ nanzsystems. Allerdings kann sich die Krise durch die Verflechtung mit an­ deren Instituten wesentlich schneller auf dem Finanzmarkt und von dort auf die Realwirtschaft ausbreiten. Seit der Krise hat zudem die Anzahl system­ relevanter Institute nicht etwa abgenommen. Große Banken sind durch die Krise häufig noch größer geworden, indem sie die kleineren Banken zu günstigen Konditionen aufnehmen konnten. Der Begriff der Systemrelevanz bedarf der Klärung. Der mittlerweile auf­ gehobene § 48 II 1 KWG a. F. nahm eine Systemgefährdung an, wenn sich die Bestandsgefährdung eines Instituts negativ auf andere Unternehmen des Finanzsektors auswirken kann. Als Kriterien wurden angeführt: der Umfang der Verbindlichkeiten der Einlagen, die eingegangenen Risiken und die Er­ setzbarkeit des Risikoinstitutes, § 48 II 2 KWG a. F. Dies dient als erste Orientierung, sich dem Begriff zu nähern. Unter die systemrelevanten fallen nach einer Verwaltungsvorschrift der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) „Institute, deren Bestandsgefährdung aufgrund ihrer Größe, der Intensität ihrer Interbankbe­ ziehungen und ihrer engen Verflechtung mit dem Ausland erhebliche nega­ tive Folgeeffekte bei anderen Kreditinstituten auslösen und zu einer Insta­ bilität des Finanzsystems führen könnte“. Trotz dieser Definition bleibt der Begriff unscharf. Zur Bestimmung eines Instituts als systemrelevantes bedarf es umfangrei­ cher wirtschaftlicher Bewertungen. Entscheidend für die Annahme von Sys­ temrelevanz sollen daher vor allem drei Merkmale sein: (1) Es muss sich um ein Unternehmen handeln, deren Ausfall wesentliche Auswirkungen auf die Bilanz anderer Unternehmen hätte; (2) die eine Vielzahl von Geschäftsbedin­ gungen zu anderen Finanzunternehmen unterhalten und (3) eine spezielle oder unersetzbare Funktion für das Finanzsystem haben.147 Richtig ist, dass die Bilanzsumme einer Bank alleine nicht den Ausschlag geben darf, aber als Indiz für die Relevanz von Bedeutung ist. Teilweise wurden Schwellenwerte von 75–100 Mrd. US-Dollar vorgeschlagen.148 Als Orientierung kann eine 147  Ohler, Bankenaufsicht, § 4 Rn. 5; U. Schneider, ZRP 2009, S. 119, 210; siehe zu weiteren Faktoren Günther, WM 2010, S. 825, 827; E. Reimer/Waldhoff, Verfas­ sungsrechtliche Vorgaben für Sonderabgaben des Banken- und Versicherungssektors, S. 14 ff. (Rn. 53 ff.); ähnlich auch D. Bauer, DÖV 2010, S. 20, 23. Eine Übersicht über weitere Ansätze bietet Tuschl, Verstaatlichung von Banken, S. 58 ff. 148  Siehe Zimmer, Gutachten G zum 68. Deutschen Juristentag, S. 28 f.



B. Die Risikoneigung des Finanzsektors59

seit 2011 vom Financial Stability Board herausgegebene Liste der systemre­ levanten Institute dienen,149 wobei sich ein Vergleich weiterer Institute mit den Eigenschaften der gelisteten Institute anbietet, um weitere systemrele­ vante Institute auszumachen. Gefahren entstehen nun vor allem durch Ansteckungs- und Rückkoppe­ lungseffekte, die bereits beschrieben wurden und nicht auf systemrelevante Banken beschränkt sind, bei diesen aber besonders hohe Gefahren bergen. Da die systemrelevanten Institute mit besonders vielen anderen Banken und Wirtschaftsunternehmen verbunden sind, bestehen mehrere Ansteckungs­ kanäle, über die sich die negativen Effekte verbreiten. Eine Finanzkrise hat einen Auslöser, der andere Institute mit beeinträchtigt. Durch die Internatio­ nalisierung der Finanzwirtschaft internationalisieren sich zugleich die An­ steckungseffekte. Rückkoppelungseffekte entstehen schließlich durch ver­ schlechterte Finanzierungsbedingungen aufgrund der sich ausbreitenden In­ stabilität, gleichermaßen mit internationalen Auswirkungen.150 Die Too-big-to-fail Problematik hat sich auch mehr als zehn Jahre nach Ausbruch der Krise nicht aufgelöst. Wie bereits erwähnt, wachsen die sys­ temrelevanten Institute immer weiter, was ihre Relevanz noch verstärkt. Eine besondere Herausforderung der Regulierung und Aufsicht ist es daher, die Gefahren, welche von diesen Instituten ausgehen, kontrolliert zu halten. In der Europäischen Union gibt es ca. 120 systemrelevante Institute, diese ha­ ben wiederum Konzernstrukturen mit weiteren Tochtergesellschaften.151 Der Problematik ließe sich dadurch begegnen, dass man die Größe und Verflechtung der Finanzinstitute so stark reguliert, dass systemrelevante In­ stitute verschwinden müssten.152 Problematisch daran ist wiederum der gra­ vierende Eingriff in die Freiheiten der Institute, der gerechtfertigt sein muss. Die Gefahren der Systemrelevanz hängen eng mit dem nächsten Punkt zu­ sammen.

149  Der Bericht aus dem Jahr 2017 ist abrufbar unter http://www.fsb.org/wpcontent/uploads/P211117-1.pdf (zuletzt abgerufen am 30.04.2020); danach ist JP Morgan Chase die am stärksten vernetzte und damit systemisch relevanteste Bank der Welt. Unter den Top 5 befindet sich auch die Deutsche Bank. 150  Danzmann, Das Verhältnis von Geldpolitik, Fiskalpolitik und Finanzstabilitäts­ politik, S. 110. 151  Vgl. Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Bankensektor, S. 78. 152  Vgl. Murswiek, in: Hochhut (Hrsg.), Rückzug des Staates und Freiheit des Ein­ zelnen, S. 203, 217; siehe auch Kindler, NJW 2010, S. 2465, 2467, der die Frage aufwirft, ob der Staat besser beraten sei, die Entstehung von systemrelevanten Insti­ tuten zu verhindern.

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1. Kap.: Die Doppelkrise

4. Die Bedeutung des Bankensystems Die für das System bedeutendsten Akteure des Finanzmarktes sind Ban­ ken.153 Banken haben in einer Volkswirtschaft eine Finanzierungsfunktion inne, die in der Gewährleistung eines reibungslosen Geld- und Kapitalver­ kehrs, der Bereitstellung von Geldmitteln vor allem für Unternehmen und öffentliche Haushalte und der Bereitstellung von Geldanlagemöglichkeiten besteht.154 Bankenkrisen sind kein neuartiges Phänomen, sondern so alt wie das Ban­ kenwesen selbst.155 Dieses entwickelte sich im 13. Jahrhundert und war seither, durch externe und interne Faktoren, Schwankungen ausgesetzt, ohne jedes Mal eine weltweite Wirtschaftskrise auszulösen. Selbst im 19. Jahrhun­ dert, in dem mehrfach Bankenkrisen ausbrachen, wurde das Wirtschaftssys­ tem aber nicht in dem Maße zum Erliegen gebracht wie im Jahr 1929 oder 2008. Dabei ist zu beachten, dass Banken nicht mehr alleine den Finanzsek­ tor bestimmen, was sich insbesondere in der Existenz des Schattenbanken­ systems ausdrückt. Wie vergangene Finanz- und Wirtschaftskrisen gezeigt haben, hängt die Stabilität der Märkte eng mit der Stabilität des Bankensektors zusammen, wenn diese auch nicht den einzigen Faktor darstellten. Banken sorgen schon deshalb für Gefahren für die Finanzmarktstabilität, da der Bankenwirtschaft eine Instabilität inhärent ist.156

153  Hellwig, Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Finanzsystems, in: Obst/­ Hintner, Geld-, Bank- und Börsenwesen, S. 15 ff.; Lastra, Legal Foundations of Interna­tional Monetary Stability, S. 110; E. Reimer/Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für Sonderabgaben des Banken- und Versicherungssektors, S. 17 (Rn. 63). Ausführliche Untersuchung der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur Kaufhold, Systemaufsicht, S. 44 ff., 104 ff.; ferner Schemmel, Europäische Finanzmarktverwal­ tung, S. 19, wonach ein stabiles Bankensystem Voraussetzung für einen funktions­ fähigen Markt ist. 154  Pitschas/Gille, in: Pitschas (Hrsg.), Integrierte Finanzdienstleistungsaufsicht, S. 219; Radtke, Liquiditätshilfen, S. 26; Stasch, Lender of Last Resort, S. 63 f., je­ weils m. w. N.; ausführlich zu den Funktionen zuletzt Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Bankensektor, S. 64 ff., und zu den Risiken S. 86 ff. 155  Caprio Jr./Honohan, in: Berger/Molyneux/Wilson (Ed.), The Oxford Handbook of Banking, S. 700, 701; Glatzl, Gelpolitik und Bankenaufsicht im Konflikt, S. 93 f.; Kaufhold, Systemaufsicht, S. 29 jeweils m. w. N.; aufschlussreich auch Gorton, Slap­ ped by the Invisible Hand, S. 28 ff., 52, zu den Parallelen zwischen der Panik von 2007 und ähnlichen Ereignissen in den USA während der National Banking Era 1864–1913. 156  Lastra, Legal Foundations of International Monetary Stability, S. 110; dass „Banken an sich instabil“ seien, findet sich bei Klingenbrunn, Produktverbote zur Gewährleistung von Finanzmarktstabilität, S. 15.



B. Die Risikoneigung des Finanzsektors61

Es lohnt sich daher, Ursachen und Folgen von Krisen des Bankensektors zu verdeutlichen, um die Rolle des Bankensektors für die Finanzmarktstabi­ lität deutlich werden zu lassen. Das Finanzsystem besteht aus mehr Akteuren als den Banken, wie z. B. Investmentfirmen, Private-Equity Fonds, Hedgefonds, Versicherungsgesell­ schaften und Clearinggesellschaften.157 Es umfasst also nicht nur die Finanz­ märkte, sondern auch Finanzintermediäre und die Finanz-infrastruktur.158 Teilweise wird ein weiterer Begriff der Finanzwirtschaft vertreten, in dem auch der Staat und die Zentralbank, die als Kapitalgeber des Staates und durch Verwaltung des Geldwesens wesentliche Funktionen des Finanzsys­ tems ermöglicht, umfasst sind.159 Dies ist insofern interessant, als dass die genannten Akteure für das Funktionieren der Finanzmärkte und damit die Stabilität von Bedeutung sind. Durch ihre geschilderte besondere Stellung im Finanzsystem greifen Bankenkrisen, im Gegensatz zu Krisen anderer Akteure im Finanzsystem, häufiger auf andere Sektoren über. In der Krise waren dies beispielsweise die großen Versicherungen wie die American International Group (AIG), die eine große Anzahl an Credit Default Swaps – in Höhe von ca. 562–567 Mrd. US-Dollar – ausgegeben hatten, zu nennen. Von den Swaps sicherten 70 Mrd. US-Dollar die Mortgage ­Backed Securities, von denen wiederum 55 Mrd. US-Dollar den SubprimeSektor sicherten.160 Nach Ausbruch der Krise griffen die Ausfallversicherun­ gen ein. Im vierten Quartal 2008 verkündete AIG einen Verlust von 61,7 Mrd. US-Dollar. Die AIG musste mithilfe staatlicher Rettungspakete am Leben gehalten werden. Anderenfalls hätte eine weitere globale Katastrophe ge­ droht, da AIG auch wichtige Infrastrukturen versicherte. Die Versicherungs­ gesellschaft war nach Bear Stearns und Lehman Brothers das nächste Glied in der Kette, welche zur Vertiefung der Krise führte. Mit den Ausfallraten der versicherten Produkte stieg auch die Zahl der Gläubiger von AIG, die diese in Anspruch nehmen wollten. Zur Rettung der Versicherungsgesellschaft war die US-Regierung gezwungen, Liquiditätshilfen in Höhe von 200 Mrd. USDollar zur Verfügung zu stellen, um einen Dominoeffekt, wegen der starken Vernetzung von AIG mit anderen Instituten, zu verhindern.161 Das Geld wan­ 157  Vollständige Aufzählung bei Mülbert, in: Moloney/Ferran/Payne, The Oxford Handbook of Financial Regulation, S. 364, 368. 158  Danzmann, Das Verhältnis von Geldpolitik, Fiskalpolitik und Finanzstabilitäts­ politik, S. 94. 159  Siehe Danzmann, Das Verhältnis von Geldpolitik, Fiskalpolitik und Finanzsta­ bilitätspolitik, S. 39 f., 94. 160  Adam Tooze, Crashed, S. 151; weitere Hintergründe bei M. Müller, Finanz­ marktstabilisierung und Anlegereigentum, S. 25 ff., 29 f. 161  E. Reimer/Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für Sonderabgaben des Banken- und Versicherungssektors, S. 35 f. (Rn. 125).

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1. Kap.: Die Doppelkrise

derte zu großen Teilen an die Gläubiger, also vor allem die Banken, die Credit Default Swaps hielten. Die Krisenanfälligkeit des Bankensektors hat verschiedene Ursachen.162 Zunächst tragen Banken meist das Zinsänderungsrisiko, da die Zinsen in der Regel vertraglich fixiert sind.163 Kommt es nun zu einer Veränderung der Zinslage, ist die eigene Refinanzierung der Bank nur zu einem höheren Zins­ satz möglich, und sie erleidet einen Verlust. Auf der anderen Seite besteht bei einem variablen Zinssatz die Gefahr, dass die Zinsen die Möglichkeiten der Schuldner übersteigen und die Bank dadurch Verluste macht, wie dies bei der US-Immobilienkrise 2007 geschah.164 Ein weiteres ähnliches Risiko liegt in veränderlichen Wechselkursen. Das eigene Verhalten einer Bank begründet einen wesentlichen Teil ihrer Risikoanfälligkeit.165 Hier ist daran zu erinnern, dass die Strategie auf das eigene Vorankommen abzielt, nicht auf die Ge­ währleistung von Stabilität für das gesamte System. Die Gefahr von Verlus­ ten und damit von Abschreibungen wächst, je riskanter und spekulativer die Geschäfte eines Institutes werden. Im Erfolgsfall winken zwar höhere Ge­ winne, diese Chance wird aber durch ein höheres Verlustrisiko erkauft. Dies trägt insgesamt zur Destabilisierung des Bankensektors und damit der Fi­ nanzmärkte bei. Vielfach kritisiert wird zudem die Entlohnungskultur, insbesondere der Banken. So wird vorgebracht, Unternehmen hätten vor der Krise falsche Anreize bei der Vergütung gesetzt, d. h. die Kultur der Bonuszahlungen würde dazu anleiten, immer höhere Risiken einzugehen.166 Der falschen Anreizsetzung der Lohnkultur im Finanzsektor ist argumentativ wenig entge­ genzusetzen. Andererseits ist es in einem wirtschaftsliberalen System schwer, die Entlohnungskultur von Unternehmen in normative Regelungen zu gießen und zu begrenzen. Ein Ansatz, die Gehälter zu deckeln, könnte darin liegen, die steuerliche Abziehbarkeit sehr hoher Gehälter für die Unternehmen ein­ zuschränken, wobei gleichermaßen zu bedenken ist, ob ein solcher Eingriff nicht zu stark wiegt. Solche Vorhaben sind bisher nicht realisiert worden. Festzuhalten ist daher, dass auch die Bonusstruktur von Banken einen Faktor darstellt, der zu Instabilität führen kann, da er die „Zockermentalität“ ver­ stärkt. Die Bankenstrukturen haben sich seit dem Beginn des Crashs im Au­ 162  Die folgenden Ausführungen sind im Wesentlichen Radtke, Liquiditätshilfen, S. 28 ff. entnommen; siehe ferner zu Bankenkrisen Stasch, Lender of Last Resort, S.  34 ff. 163  Radtke, Liquiditätshilfen, S. 29 m. w. N. 164  Radtke, Liquiditätshilfen, S. 29 m. w. N. 165  Radtke, Liquiditätshilfen, S. 30 m. w. N. 166  Möschel, WuW 2008, 1283, 1287; Schmitz, in: Eigentumsverfassung und Fi­ nanzkrise, S. 39, 44.



B. Die Risikoneigung des Finanzsektors63

gust 2007 nur wenig verändert. Kleiner geworden sind lediglich die europäi­ schen Banken, die US-Banken, von denen die Krise herrührte, sind aber größer geworden.167 So ist zum Beispiel J. P. Morgan Chase heute doppelt so groß wie noch im Jahr 2007.168 Das Bankensystem ist in der Europäischen Union sogar von einer höhe­ ren Bedeutung, die Verbindung zu den Mitgliedstaaten noch enger. 2007 waren die drei nach den gehaltenen Vermögenswerten weltweit größten Banken die Royal Bank of Scotland, die Deutsche Bank und BNP Paribas – alles europäische Banken, wobei deren Bilanzwert dem BIP ihrer jeweiligen Herkunftsländer nahekam.169 In Irland erreichten die gesamten Bank­ verbindlichkeiten sogar 700 % des BIP, in Deutschland und Spanien bis zu 300 % des BIP.170 Aus der noch engeren Verbindung zwischen dem Staat und dem Bankensystem in Europa folgen stärkere Auswirkungen auf die nationale Wirtschaft und die Staatsfinanzen. Fatalerweise sind Banken mit derart hohen Verbindlichkeiten deutlich abhängiger von volatilen kapital­ marktorientierten Refinanzierungsinstrumenten171, was zugleich auch die Staaten in eine Abhängigkeit von diesen bringt. Diese Abhängigkeit ist ein systemisches Risiko, das gerade in der Europäischen Union stärker wirkt als in den USA. Die Folgen von Bankenkrisen können in ihren Ausmaßen die gesamte Wirtschaft treffen. Gerät eine Bank in einen Liquiditätsengpass, sind zuerst die Einleger betroffen, was durch staatliche Rettungsmaßnahmen Kosten nach sich zieht, welche der Staat aus Steuergeldern finanziert. Bankenkrisen betreffen häufig nicht nur eine einzelne, sondern mehrere Banken gleichzei­ tig, sog. „generelle Bankenkrise“.172 Weitet sich die Bankenkrise zu einer systemischen Krise aus, droht eine Rezession und infolgedessen sinkende Investitionen in der Wirtschaft und negative Auswirkungen für die gesamt­

167  Adam Tooze, Ein Oligopol der Großbanken (10.09.2018), in Zeit Online, abruf­ bar auf https://www.zeit.de/wirtschaft/2018-09/finanzkrise-lehman-brothers-crashedadam-tooze/seite-2 (zuletzt abgerufen am 30.04.2020). 168  Adam Tooze, Ein Oligopol der Großbanken (10.09.2018), in Zeit Online, abruf­ bar auf https://www.zeit.de/wirtschaft/2018-09/finanzkrise-lehman-brothers-crashedadam-tooze/seite-2 (zuletzt abgerufen am 30.04.2020). 169  Adam Tooze, Crashed, S. 110. Die Deutsche Bank hatte 2007 eine Bilanz­ summe von gut 2 Billionen Euro, die BRD ein BIP von 2,5 Billionen Euro. Nach Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Bankensektor, S. 46 erreichte der Bilanzwert der europäischen monetären Finanzinstitute im Jahr 2008 eine Summe von 43 Billionen Euro, was über 350 % über dem BIP der Europäischen Union lag. 170  Adam Tooze, Crashed, S. 110 und Grafik auf S. 111. 171  Vgl. Adam Tooze, Crashed, S. 110. 172  Stasch, Lender of Last Resort, S. 40.

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1. Kap.: Die Doppelkrise

wirtschaftliche Entwicklung.173 Dies sah schon der Ruland-Bericht, in dem es um die Verabschiedung des Kreditwesengesetzes von 1961 ging: „Da alle wesentlichen Zweige der Volkswirtschaft auf das Kreditgewerbe und Geldsammelstelle angewiesen sind, greifen Störungen in diesem Wirtschaftszweig leicht auf die gesamte Volkswirtschaft über. (…) Solchen Entwicklungen muss der Staat im Interesse der Gesamtwirtschaft entge­ genwirken. Er muß dazu durch eine laufende Aufsicht auf die Geschäftstätigkeit der Kreditinstitute Einfluß nehmen“174.

Zusammenfassend birgt der Bankensektor für Staaten die wohl größten Risiken im Hinblick auf die Entwicklung einer Finanzkrise. Dass die Banken dabei nicht systemrelevant sein müssen, um eine Krise auszulösen, zeigt die erwähnte Rettung der italienischen Banken im Jahr 2017. 5. Spekulation als Systemrisiko Systemische Risiken entstehen zudem durch die Verlagerung des ursprüng­ lichen Geschäftsfeldes des Finanzsektors, dem Bereitstellen von Kapital für die Realwirtschaft, hin zu einem spekulativeren Geschäft.175 Spekulation soll ein Verhalten beschreiben, bei dem ein Akteur einen Vermögenswert kauft, um ihn kurzfristig zu einem höheren Preis wieder zu verkaufen, oder einen Vermögenswert verkauft, um ihn zu einem niedrigeren Preis wieder zurück­ zukaufen.176 Anders als das traditionelle Bankgeschäft ist die Spekulation kurzfristig orientiert. Spekulanten reagieren schnell auf Kursschwankungen und verstärken sich durch das Herdenverhalten gegenseitig.177 D. h. ein Großteil der spekulativen Anleger tut dasselbe, weshalb es zu schnellen Kursveränderungen kommen kann, die nicht immer die wahre wirtschaftliche Lage abbilden. Hinzu kommt die hohe Anzahl an Spekulanten, die sich darin ausdrückt, dass das spekulative Geschäft für Banken und andere Anleger deutlich lukrativer geworden ist als das klassische Bankgeschäft. Die Viel­ zahl spekulativer Geschäfte kann wegen der schnellen Kursschwankungen die Stabilität des Finanzsystems gefährden. Ähnlich wie Hedgefonds kann 173  Radtke, Liquiditätshilfen, S. 37; Calomiris, in: Berger/Molyneux/Wilson, The Oxford Handbook of Banking, S. 722, 723; Stasch, Lender of Last Resort, S. 40, je­ weils m. w. N. 174  Abrufbar unter http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/03/025/0302563zu.pdf (zu­ letzt abgerufen am 30.04.2020). 175  Ruppel, Finanzdienstleistungsaufsicht, S.  174 f. m. w. N. 176  Aschinger, Währungs- und Finanzkrisen, S. 2; hierzu und zum ökonomischen Hintergrund der Spekulation Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance, S. 23 ff. m. w. N., zu den volkswirtschaftlich positiven Aspekten von Spekula­ tion, S. 57 ff., und zu den negativen Effekten massenhafter Spekulation, S. 78 ff. 177  Ruppel, Finanzdienstleistungsaufsicht, S. 175.



B. Die Risikoneigung des Finanzsektors65

Spekulation aber auch einen positiven Effekt auf das System haben, wenn Fehlentwicklungen oder Blasenbildungen aufgedeckt werden. Zum spekula­ tiven Geschäft soll an dieser Stelle ebenfalls der Handel mit komplexen Fi­ nanzinstrumenten wie den o. g. CDOs gezählt werden. Diese erreichten in den Jahren vor der Krise eine solche Komplexität, dass wohl selbst die Emittenten der Wertpapiere das Risiko bis zu einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr überblickten. 6. Die Verwirklichung systemischer Risiken im Rahmen der letzten Krise Die Verwirklichung systemischen Risiken ließ sich bei der Finanzkrise ab 2008 und der Euro- und Staatsschuldenkrise beobachten. Bereits 2007 löste der Zusammenbruch des Immobilienmarktes, ein exogener Faktor, Effekte aus, die durch die folgende Reaktion auf den Märkten eine weltweite Wirt­ schaftskrise und in der Folge die Eurokrise auslösten. Dass ein Bank-Run in der Bundesrepublik während der letzten Krise ausblieb, ist den Rettungs­ paketen zu verdanken. Zusätzlich deeskalierte die Politik mit Äußerungen, um einen Staatsnotstand zu vermeiden. Denkwürdig ist die Behauptung des damaligen Finanzministers Peer Steinbrück und der Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass die Einlagen sicher seien,178 wenngleich sie dies wohl nicht waren und das Versprechen der Regierung rechtlich nicht bindend war. Aus­ zuschließen ist ein Bank-Run aber auch heute nicht, wie Ereignisse im Sep­ tember 2019 aus den USA zeigten, als die FED erstmals seit rund zehn Jah­ ren am Geldmarkt intervenieren musste, weil ein Liquiditätsengpass die Zinsen für Übernachtkredite binnen kürzester Zeit von zwei auf zehn Prozent ansteigen ließ.179 Auch in umgekehrter Richtung führten die Entwicklungen auf den Finanz­ märkten nach dem Ausbruch einer Krise zu Effekten für exogene Faktoren. Beispielhaft ist ein schwächelnder Wirtschaftssektors, dessen Unternehmen ihre Darlehen nicht mehr bedienen können. Dadurch geraten diese in finan­ zielle Engpässe, was zu Liquiditätsschwierigkeiten auch im Finanzsektor führt, die dann auf weitere Wirtschaftszweige ausschlagen können, da nun diese wiederum an der mangelnden Liquidität des Bankensektors Schaden nehmen.

178  https://www.spiegel.de/wirtschaft/merkel-und-steinbrueck-im-wortlaut-diespareinlagen-sind-sicher-a-582305.html (abgerufen am 30.04.2020). 179  Zschäpitz, Bankrun auf dem US-Geldmarkt, Welt vom 19.09.2019, abrufbar unter https://www.welt.de/print/die_welt/finanzen/article200551730/Bankrun-auf-demUS-Geldmarkt.html (zuletzt abgerufen am 30.04.2020).

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1. Kap.: Die Doppelkrise

C. Schlussfolgerung Die beschriebenen Faktoren und insbesondere die systemischen Risiken führen dazu, dass der Finanzsektor zu Instabilität und Krisen neigt. Das sys­ temische Risiko der Finanzmärkte ist in den letzten Jahrzehnten erheblich angestiegen.180 Dennoch weiten sich Finanzkrisen nicht immer auf die Wirt­ schaft aus. Systemrisiken entstehen nur in Systemen, die für andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens relevant sind. Sie weisen daher bei ihrer Rea­ lisierung ein erhöhtes Potential für eine Ausweitung auf andere gesellschaft­ lichen Bereiche, die auf das Funktionieren des Marktes angewiesen sind.181 Funktionierende Finanzmärkte sind für die Entwicklung einer Volkswirt­ schaft von großer Bedeutung. Der Tausch zwischen Kapitalgeber und Kapi­ talnehmer ist in einem funktionierenden Markt für beide Seiten von Vorteil.182 Der Kapitalnehmer kann auf Geldmittel zugreifen, die ihm sonst nicht zur Verfügung stünden, um zu investieren, während der Kapitalgeber durch die Verzinsung eine Entschädigung für die Geldleihe erhält und damit selbst ei­ nen Gewinn erzielen kann. Verliert der Finanzmarkt seine Funktionsfähigkeit, kann er seine Funktio­ nen für die Realwirtschaft nicht mehr erfüllen. Diese Funktionen umfassen vier zentrale Bereiche: die Schaffung von unbaren Einlagen, die Zahlungs­ übermittlung, die Kreditvergabe und die Vermittlung von Anlageprodukten.183 Werden diese nicht mehr reibungslos gewährleistet, gerät die Realwirtschaft in Schwierigkeiten, und es kommt zu Stagnation und Rezession mit ihren verschiedenen Symptomen.184 All dies führt dazu, dass Finanzkrisen auf die übrige Volkswirtschaft negativ einwirken und konjunkturelle Krisen verursa­ chen oder verschärfen.185 Gleichzeitig stehen die konjunkturelle Entwicklung und die Stabilität des Finanzsystems in einer wechselseitigen Beziehung, da bei schlechter Konjunktur die Kreditnehmer in Zahlungsprobleme kommen. Die Bank als Gläubiger kann durch diese in finanzielle Engpässe kommen, was wiederum negativ auf deren Kreditvergabewilligkeit wirkt und so die 180  Dombret,

in: ders./Lucius (Hrsg.), Stability of the Financial System, S. 27, 30. Systemaufsicht, S. 141. 182  Hellwig, Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Finanzsystems, in: Obst/Hint­ ner, Geld-, Bank- und Börsenwesen, S. 4. 183  Ohler, Bankenaufsicht, § 4 Rn. 22 f. 184  Hierzu Ohler, Bankenaufsicht, § 4 Rn. 24; ders., in: Nachhaltige Finanzstruk­ turen im Bundesstaat, S. 208, 218 mit Verweis auf das „verlorene Jahrzehnt“ Japans der 1990er Jahre als Musterbeispiel für den Niedergang einer Volkswirtschaft infolge einer Finanzkrise. 185  Hellwig, Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Finanzsystems, in: Obst/Hint­ ner, Geld-, Bank- und Börsenwesen, S. 20. 181  Kaufhold,



C. Schlussfolgerung67

konjunkturelle Entwicklung weiter beeinträchtigt.186 Zusammenfassend beru­ hen Bankenkrisen vor allem auf zwei Ursachen: Entweder führt ein exogener Schock zu einer Krise oder der plötzliche Abzug der Einlagen, was eine Pa­ nik auslöst und sich zu weitergreifenden Krisen entwickelt. Das Finanzsystem hat damit den janusköpfigen Charakter, negative wie positive konjunkturelle Entwicklungen zu verstärken und somit als Katalysa­ tor beider zu wirken. Aufgabe für die zukünftige Rechtsetzung ist es daher, die systemischen Risiken im Finanzsektor so gering wie möglich zu halten. Zur Realisierung wurden nach dem Ausbruch der Finanzkrise eigenständige makroprudentielle Strukturen187 geschaffen, also Aufsichtsstrukturen, die es ermöglichen, den ganzen Markt zu überwachen, um die klassische mikroprudentielle Regulie­ rung zu ergänzen, die auf das Funktionieren einzelner Institutes abzielt.188 Während die Aufsicht über einzelne Institute gut lief, wurde der Blick auf das System außer Acht gelassen. Im nächsten Kapitel ist zunächst darauf einzugehen, inwiefern sich die systemische Instabilität des Finanzsektors auf die Staaten auswirkt. Im Nach­ gang kann beurteilt werden, was dies für das staatliche Handeln bedeutet.

186  Hellwig, Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Finanzsystems, in: Obst/Hint­ ner, Geld-, Bank- und Börsenwesen, S. 20. 187  Zu nennen sind z.  B. auf europäischer Ebene das European Systemic Risk Board (ERSB) und auf nationaler Ebene der Ausschuss für Finanzstabilität (AFS) durch das Finanzstabilitätsgesetz v. 28.11.2012, BGBl. I, 2369; Überblick über ma­ kroprudentielle Maßnahmen im Nachgang der Krise bei Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Bankensektor, S. 213 ff. 188  Kaufhold, Systemaufsicht, S. 12 f., 121; dies., Die Verwaltung 46 (2013), S. 21, 26 f. Ausführlich auch Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Banken­ sektor, S. 22 ff., 121, wonach die auf einzelne Institute ausgerichtete Aufsicht nicht ausreicht, um systemische Risiken unter Kontrolle zu bekommen. Ferner Mülbert, in: Moloney/Ferran/Payne (Ed.), The Oxford Handbook of Financial Regulation, S. 364, 383 ff., 392.

2. Kapitel

Staat und Finanzmärkte A. Die Rolle des Staates Bisher offen geblieben ist die Rolle des Staates in der Finanz- und Wirt­ schaftskrise und was er zu tun hat, um seiner Rolle gerecht zu werden. Dies beinhaltet die Frage, ob systemrelevante Institute gerettet werden müssen, um schlimmere Folgen abzuwenden, oder ob diese gerade nicht gerettet wer­ den sollten, um jahrzehntelange Fehlentwicklungen nicht noch zu fördern. Bei Aufarbeitung der Krise kamen drei unabhängig voneinander beauf­ tragte Forschungsinstitute1 zu dem Schluss, dass sowohl makroökonomische Bedingungen als auch mikroökonomische Faktoren, wie eine fehlge­leitete Anreizstruktur im Finanzsektor sowie Regulierungsversäumnisse der Staaten, für die Krise mitursächlich waren.2 Teilweise wird auch davon gesprochen, dass der Staat, wenn er die rechtlichen Rahmenbedingungen eingehalten hätte, der Krise stärker und widerstandsfähiger hätte entgegentreten können.3 Maßnahmen der Krisenbewältigung waren vor allem staatliche Kapitalhilfen für notleidende Institute und Staaten. Die Krisenprävention soll durch ver­ besserte Aufsichtsstrukturen und höhere Eigenkapitalanforderungen vorange­ trieben werden. Allerdings liegen die Probleme im Finanzsektor tiefer, als dass sie allein mit einer vereinheitlichten Bankenaufsicht und -abwicklung bewältigt werden könnten. Die Kreativität der Finanzmärkte, auf dem neue Finanzprodukte geschaffen werden, ist nicht zu unterschätzen. Die Krisenbe­ wältigungsprogramme von heute können als Auslöser folgender Krisen wie­

1  De Larosière-Gruppe, Report, 2009, S. 7  ff., abrufbar unter https://ec.europa. eu/info/system/files/de_larosiere_report_en.pdf (zuletzt abgerufen am 30.04.2020); Financial Services Authority (FSA), Turner-Report, 2010, S. 11 ff. und der 80. Jahres­ bericht der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich aus demselben Jahr; zu dem­ selben Schluss kam auch der Sachverständigenrat, Jahresgutachten 2008/09, Nr. 257– 259. 2  Hemmelgarn, Steuern und Abgaben im Finanzsektor, S. 7; ein Staatsversagen oder Regulierungsversagen im Vorfeld der Krise sehen z. B. Heun, JZ 2012, S. 235, 235; Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Bankensektor, S. 19; Möschel, WuW 2008, S. 1283 ff.; Wieland, JZ 2012, S. 213, 214 f. 3  P. Kirchhof, NJW 2013, S. 1, 3.



B. Finanzmarktstabilität69

der zurückkommen.4 Dies zeigt vor allem, dass das Krisenmanagement bei den vergangenen Krisen zu kurzfristig orientiert war, was sich langfristig rächte. Die unmittelbaren Maßnahmen zur Krisenbewältigung der Finanzund Staatsschuldenkrise wie die Bereitstellung von Kapital oder das Spannen der Rettungsschirme fallen unter diese Kategorie. Trotzdem ist es richtig, aus den vergangenen Erfahrungen zu lernen und Maßnahmen zu ergreifen, die nicht nur die aktuelle Krise beenden können, sondern auch künftige Krisen, wenn zwar nicht vermeiden, so dennoch abmildern können. Eine gänzliche Vermeidung von Finanzkrisen ist in einem marktwirtschaftlich orientierten System nicht möglich. Es gibt zu viele externe Faktoren, von denen die Sta­ bilität abhängt, als dass eine Kontrolle aller dieser Faktoren möglich wäre. Diese fatalistische Einschätzung entbindet die Rechtsetzung aber nicht von jeglicher Verantwortung für die Zustände auf den Märkten. Auch der Staat profitiert von der Entwicklung auf den Finanzmärkten, auf denen die gehan­ delten Titel nominell immer wertvoller wurden und das Wachstum scheinbar unendlich war. Dagegen werden auf den Märkten keine Werte geschaffen, die allgemeine Wohlfahrt also kaum gefördert. Staats- oder Regulierungsversagen lässt sich vor allem dann kritisieren, wenn Finanzmarktstabilität überhaupt vom Staat zu gewährleisten ist und der Staat dieser Verantwortung durch Rechtsetzung auf den Finanzmärkten zu­ mindest potentiell gerecht werden kann. Erforderlich ist eine Untersuchung des verfassungsrechtlichen Ranges der Finanzmarktstabilität, an die sich eine Analyse der Realisierbarkeit von staatlichen Maßnahmen vor dem Hinter­ grund der Anforderungen des Grundgesetzes anschließen muss.

B. Finanzmarktstabilität Zunächst ist zu klären, was unter Finanzmarktstabilität zu verstehen ist.5 Das Finanzsystem lässt sich als das „Geflecht von Institutionen, Märkten und Verträgen, das dafür sorgt, dass ein Kapitalgeber seine Mittel nutzbringend anlegen kann und ein Kapitalnehmer Ausgaben finanzieren kann, für die

4  Mehrere anschauliche Beispiele hierfür liefert Schorkopf, VVDStRL 71 (2012), S. 183, 194; ähnlich Rudolph, ZGR 2010, S. 1, 27; vgl. ferner Hellwig, Yes Virginia, There is a Banking Union! But It May not Make Your Wishes Come True, S. 16, abrufbar unter https://www.coll.mpg.de/pdf_dat/2014_12online.pdf (zuletzt abgerufen am 30.04.2020); Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Bankensek­ tor, S. 182. 5  Siehe hierzu auch mit historischen Bezügen zum Begriff Klingenbrunn, Pro­ duktverbote zur Gewährleistung von Finanzmarktstabilität, S. 9 ff., der davon ausgeht, dass die Begriffe Finanzstabilität, Finanzmarktstabilität und Finanzsystemstabilität „weitestgehend synonym benutzt werden“ können.

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2. Kap.: Staat und Finanzmärkte

seine eigenen Mittel nicht ausreichen“6, beschreiben. Aus dieser Definition wird die Bereitstellungsfunktion des Finanzsystems für eine Volkswirtschaft deutlich. Die Finanzmärkte sind also der Markt, auf dem Kapitalnehmer und Kapitalgeber zusammenkommen und Verträge schließen. Die Finanzmärkte umfassen den Kapital-, Geld- und Kreditmarkt, wobei der Wertpapier- und Devisenmarkt sowie der Graue Kapitalmarkt Teile des Kapitalmarktes sind, von denen der Devisenmarkt den volumenmäßig größten darstellt.7 Unter Stabilität der Finanzmärkte kann ein Zustand verstanden werden, in dem die Märkte frei von größeren Störungen und in der Lage sind, makro­ ökonomischen Schocks zu widerstehen.8 Finanzmärkte sind also stabil, wenn sie trotz makroökonomischer Schocks ihre wesentlichen Funktionen der Kreditvergabe und der Abwicklung des Zahlungsverkehrs weiter erfüllen können. Der Zustand ist weiterhin gekennzeichnet durch das Vertrauen der Marktteilnehmer in die Stabilität des Marktes. Finanzmarktinstabilität be­ schreibt dagegen den Zustand, in dem das System anfällig für Finanzkrisen ist, seine Funktionsfähigkeit verliert und finanzielle Ressourcen nicht mehr effizient einsetzt.9 Tritt dieser Fall ein, hat dies zugleich Auswirkungen auf die Realwirtschaft, da die Bereitstellungsfunktion nicht mehr erfüllt werden kann. Die Bundesbank stellt eine eigene Definition für Finanzmarktstabilität auf und bezeichnet diese als „den Zustand (…), wenn das Finanzsystem – auch in Phasen der Anspannung oder von Umbrüchen – in der Lage ist, seine Funktionen zu erfüllen und Finanztransaktionen aller Art effizient und sicher abzuwickeln“.10 Die Definition der Bundesbank stimmt im Wesentlichen 6  Hellwig, Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Finanzsystems, in: Obst/Hint­ ner, Geld-, Bank- und Börsenwesen, S. 3; siehe auch Mülbert, in: Moloney/Ferran/ Payne, The Oxford Handbook of Financial Regulation, S. 364, 368, der als vier we­ sentliche Funktionen des Finanzsystems aufzählt: Vermittlung von Kapital, Risikoma­ nagement, Umwandlung von Werten in Geldmittel ohne Wertverlust und Wert­ austausch; Manger-Nestler, EYIEL 5 (2014), S. 33, 34 f. mit einer Aufzählung der Akteure. 7  Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Bankensektor, S. 71  f.; zum Begriff des Kapitalmarktes siehe auch Benighaus, Staatshaftung für fehlerhafte Aufsicht im Bereich des Kapitalmarktes, S. 3 ff. 8  Arner, Financial Stability, S. 72  f.; F. Becker, ZG 2009, S. 123, 126; Danzmann, Das Verhältnis von Geldpolitik, Fiskalpolitik und Finanzstabilitätspolitik, S.  94 f.; Tuori/Tuori, The Eurozone Crisis, S. 58; zurückhaltender Lastra, in: Molo­ ney/Ferran/Payne (Ed.), The Oxford Handbook of Financial Regulation, S. 309, 312: „absence of a clear-cut definition of financial stability …“; ähnlich Veil, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 2 Rn. 11; zum Devisenmarkt Schott, Reak­tionen des Staates, S. 14. 9  Danzmann, Das Verhältnis von Geldpolitik, Fiskalpolitik und Finanzstabilitätspo­ litik, S. 96. 10  https://www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Glossareintraege/F/finanzstabilitaet. html (zuletzt abgerufen am 30.04.2020).



B. Finanzmarktstabilität71

mit der hier herausgearbeiteten überein. Als wesentlicher Faktor von Finanz­ marktstabilität lässt sich daher die sichere und effiziente Funktionserfüllung ausmachen. Finanzmarktstabilität dient im Wesentlichen der Vermeidung von Finanzkrisen. Nachdem der Begriff der Stabilität erläutert wurde, ist auf den Begriff der Krise einzugehen. Der Duden definiert Krise als „schwierige Lage“. Etymo­ logischer Ursprung ist das griechische Wort krisis, das sich mit Unterschei­ dung oder Entscheidung übersetzen lässt. Antike Historiker verwendeten den Begriff zunächst zur Beschreibung von Kriegszuständen. Dominierend bis in das 19. Jahrhundert hinein war die Verwendung im medizinischen Sinne als Beschreibung der steigenden Intensität von Krankheiten oder deren abruptem Ende.11 Im ökonomischen Sinne wurde der Begriff erstmals von Karl Marx gebraucht, um die historisch unausweichliche, weil in dessen Konzeption angelegte, Krise des Kapitalismus zu beschreiben.12 Charakteristisch ist al­ len Ursprüngen des Wortes die Unvorhersehbarkeit des weiteren Verlaufes. Hier lässt sich an den ursprünglichen Wortsinn der Entscheidung anknüpfen, deren exakte Folgen offenbleiben müssen. Eine Finanzkrise bezeichnet einen Zustand, in dem Finanzinstitute in finanzielle Schwierigkeiten geraten und daher, aufgrund der Verflechtungen innerhalb der Finanzwirtschaft und zu anderen Wirtschaftszweigen, die Funktion des Finanzmarktes nicht mehr er­ füllt werden kann. Juristisch lässt sich Krise als Abweichung zwischen Normal- und Ausnah­ mezustand definieren, der durch die zur Verfügung stehenden rechtlichen Mittel nicht abzuhelfen ist.13 Reichen die Mittel nicht aus, lässt sich die Krise als solche des geltenden Systems, also als Systemkrise, bezeichnen. Gerade im Zuge der Finanzkrise, als die Maßnahmen des Staates durch seine höchsten Verfassungsorgane als „alternativlos“ bezeichnet wurden, hat die Krise den Staat in Entscheidungszwänge gebracht. Die Maßnahmen wider­ sprachen dem Grundgedanken eines marktwirtschaftlichen orientierten Wett­ bewerbes, wie ihn das Recht eigentlich vorsieht.14 Kennzeichnend für den Zustand der letzten Krise war weiter das Demokratiedefizit, das zwangsläufig entstehen musste, wenn Staaten Gewährleistungen für Banken in Höhe ihres 11  R.

Starn, in: Politische Systemkrisen, S. 52, 53 f. mit Bezug auf Hippokrates. Marx, Das Kapital, Kapitel 7–9, 30; ausführliche Darstellung bei R. Starn, in: Politische Systemkrisen, S. 52, 55 ff. 13  Schorkopf, VVDStRL 71 (2012), S. 183, 220; vgl. auch Heintzen, ZRP 2016, S. 66, 67. 14  Zimmer, Gutachten G zum 68. Deutschen Juristentag 2010, S. 11 f.; „Schwä­ chen des rechtlichen Ordnungsrahmens …“ sieht auch Siekmann, Keine Hilfe für Banken ohne einen neuen Ordnungsrahmen für die Finanzmärkte, in: Baums (Hrsg.), S. 433, 434. Ferner Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Banken­ sektor, S. 105. 12  Karl

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2. Kap.: Staat und Finanzmärkte

Staatshaushaltes oder darüber hinaus übernehmen15 und Entscheidungen in immer kleineren Expertengremien getroffen werden, die von den demokra­ tisch legitimierten Organen in schnellen Verfahren durchgewunken werden. Der Befund deutet darauf hin, dass das Recht auf eine solche Krise nicht vorbereitet war. Wenn sich der Zustand durch die zur Verfügung stehenden Mittel nicht verändern lässt, ruft diese Tatsache nach neuen Mitteln, also Reformen des Systems. Das bedeutet keine vollständige Neuausrichtung des Systems. Das Recht muss aber Mittel bereitstellen, um gesellschaftliche Pro­ bleme zu lösen.16 Die Finanzkrise und ihre Folgen lösten nicht nur wirt­ schaftliche, sondern durch die Belastung des Staatshaushaltes auch gesell­ schaftliche Probleme aus. Während vor der letzten Krise noch die Unwissen­ heit der Staatsorgane von dem Ausmaß des Risikos, das die Finanzmärkte bargen, als Rechtfertigung dienen konnte17, ist nach der Krise Handlungsbe­ darf gegeben, um vor der nächsten Krise besser dazustehen. Das einfache Recht verhinderte nicht, dass Wertpapiere wie Mortgage Backed Securities, Collateralized Debt Obligations und Credit Default Swaps geschaffen wur­ den18 und damit der Grundstein für die Krise gelegt wurde. Der Beitrag der Rechtsetzung und Rechtsordnung zur Entstehung der Krise ist nicht zu ver­ nachlässigen, eine erneute „Instabilität des Rechts“19 muss verhindert wer­ den. Nach dem Ursprung des Wortes bedeutet eine Krise eine Entscheidung. Eine solche steht auch nach der Finanzkrise an.20 Das Recht ist kein starres System, sondern kann sich an die gesellschaftlichen, ökonomischen und so­ 15  Murswiek, Die Bankenkrise als Demokratieproblem, in: Hochhuth (Hrsg.), Rückzug des Staates und Freiheit des Einzelnen, S. 203, 210 f.; in Island betrug das Volumen des Bankensektors in etwa 100 Mrd. Euro, während das BIP 2008 bei rund 17 Mrd. Euro lag. 16  v. Arnaud, VVDStRL 74 (2015), S. 39, 77; T. M. J. Möllers, in: ders./Zeitler, Europa als Rechtsgemeinschaft, S. 1, 9; ferner Mayer, JZ 2014, S. 593: „Krisenzeiten sind Herausforderungen für das Recht.“ 17  So verkündete der damalige Finanzminister Steinbrück nach dem Zusammen­ bruch von Lehman Brothers in einer Haushaltsdebatte: „Das deutsche Universalban­ kensystem hat sich als robuster und resistenter herausgestellt als das amerikanische Bankensystem“, zitiert nach Enderlein, in: Egle/Zolnhöfer (Hrsg.), Die zweite große Koalition, S. 239. Ähnlich ging auch der damalige US-Präsident George W. Bush in einer Rede vor den Vereinten Nationen am 23. September 2008 zunächst davon aus, dass es sich um eine rein US-amerikanische Herausforderung handele; die Rede ist abrufbar unter https://georgewbush-whitehouse.archives.gov/news/releases/2008/09/ 20080923-5.html (zuletzt abgerufen am 30.04.2020). Vgl. auch Murswiek, in: Hoch­ huth (Hrsg.), Rückzug des Staates und Freiheit des Einzelnen, S. 203, 212. 18  Siekmann, Die Neuordnung der Finanzmarktaufsicht, in: Baums (Hrsg.), S. 475, 480; ferner vgl. Hoffmann-Riem, AöR 134 (2009), S. 514, 516. 19  T. M. J. Möllers, in: ders./Zeitler, Europa als Rechtsgemeinschaft, S. 1, 10. 20  Vgl. R. Schmidt, JZ 2015, S. 317.



B. Finanzmarktstabilität73

zialen Umstände anpassen.21 Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, ob der Staat im Rahmen einer Krise handeln muss und sich dies dem geltenden Verfassungsrecht entnehmen lässt oder lediglich aus den Umständen ge­ schlossen werden kann. Einen Beitrag zur Krisenentstehung und -entwicklung leistete den Staat in seiner Rolle als Akteur durch staatliche Banken, insbesondere die Landes­ banken. In Deutschland drohte bereits bei Beginn der Subprime Krise 2007 einigen Banken wie der IKB, an der die KfW zu 38 % beteiligt war, und der Landesbank Sachsen der vollständige finanzielle Kollaps. Die sächsische Landesbank hatte Liquiditätszusagen in Höhe von 40 Mrd. Euro gegeben, obwohl ihr Eigenkapital nur 4 Mrd. Euro betrug; bei Ausbruch der Krise wurden diese fällig und sorgten für den finanziellen Kollaps.22 Die Sachsen LB wurde in der Folge von der Landesbank Baden-Württemberg aufgekauft und 2008 mit dieser verschmolzen. Schwer getroffen waren daneben die Bayerische Landesbank und die 2012 aufgespaltene WestLB. Die Rettungs­ kosten für diese Banken beliefen sich bis Ende 2018 auf mehr auf 25 Milli­ arden Euro.23 Alle Banken hatten in den Jahren vor 2007 in erheblichem Maße Anleihen des Hypothekenmarktes erworben, so dass sie von deren Ausfall besonders hart getroffen wurden. Dabei wurde sich teilweise irischer Tochtergesellschaften bedient, so z. B. von der Sachsen LB.24 In den Vor­ ständen und Aufsichtsräten der Landesbanken saßen Politiker und hochran­ gige Staatsbeamte. Besonders für die Aufsichtsräte wurde festgestellt, dass häufig die Kompetenz fehlte.25 Diese sahen die Gefahren der Investitionen ihrer Banken nicht voraus und lösten damit die Krise der staatlichen Banken mit aus. Der Staat, der sich als Akteur in den Bankensektor und damit die Finanzmärkte begab, handelte aus Desinformation nicht besser, sondern eher schlechter als die privaten Marktteilnehmer. Dies ist nicht als Argument ge­ gen staatliches Engagement auf den Märkten zu verstehen. Es zeigt aber, dass der Staat auf dem Parkett der Finanzmärkte nicht rationaler handelt als ein anderer privater Investor. 21  Vgl. U. Becker/Kersten, AöR 141 (2016), S. 1, 14; S. Deakin, in: Moloney/ Ferran/Payne, The Oxford Handbook of Financial Regulation, S. 13, 26. 22  Pflock, Europäische Bankenregulierung und das „Too big to fail-Dilemma“, S. 100. 23  Siehe die Diagramme bei Gammelin, Süddeutsche-Zeitung, 12.09.2018, abruf­ bar unter https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/finanzkrise-kosten-deutschland-1. 4126273 (zuletzt abgerufen am 30.04.2020), wobei die offenen Risiken bei der Summe von 25 Mrd. Euro nicht eingerechnet sind. 24  Zur Sachsen LB siehe die Zusammenfassung der Krise von Ulrich Wolf, in: https://www.saechsische.de/dramatische-tage-im-august-3758970.html (zuletzt abge­ rufen am 30.04.2020). 25  So Hau/Thum, Ifo-Schnelldienst 19/2008, S. 27 ff., abrufbar unter https://www. ifo.de/DocDL/ifosd_2008_19_4.pdf (zuletzt abgerufen am 30.04.2020).

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2. Kap.: Staat und Finanzmärkte

C. Der Begriff der staatlichen Verantwortung Es wurde bereits erwähnt, dass eine staatliche Aufgabe oder das verbind­ liche Ziel der Finanzmarktstabilität von mehreren Stimmen in der Literatur vertreten wird. Wie Kaufhold treffend anmerkt, erstaunt dies anhand der sonstigen Zurückhaltung bei Bestimmung neuer staatlicher Aufgaben.26 Ter­ minologische Unklarheiten bestehen darüber hinaus in der Frage, ob die ­Finanzmarktstabilität nun eine „Staatsaufgabe“ ist oder den Staat eine „Ver­ antwortung“, konkreter eine „Gewährleistungsverantwortung“ oder „Regulie­ rungsverantwortung“, trifft. Um diese terminologische Frage zu klären, er­ scheint es angebracht, zunächst einen Schritt zurück zu gehen und kurz eine generelle Übersicht und Abgrenzung der verwandten Begriffe vorzunehmen. Im Anschluss kann geklärt werden, was eine staatliche Verantwortung bedeu­ tet und wie sich diese im staatlichen Leben ausdrückt. Die nationalen und europäischen zukunftsweisenden Maßnahmen zur dauerhaften Bewältigung der Krisen, wie eine verbesserte Aufsicht, frühere und härtere Sanktionen und dauerhafte Mechanismen, um finanzielle Schieflagen von Banken und Staaten zu verhindern, greifen in die Rechte der betroffenen Teilnehmer am Wirtschaftsleben ein. Ließe sich aus dem Grundgesetz eine staatliche Verant­ wortung herleiten, wäre dies ein legitimer Rechtfertigungsgrund und legiti­ mer Zweck für Eingriffe in Grundrechte,27 weshalb auch die Bestimmung des genauen Begriffs von Bedeutung ist.

I. Terminologische Grundfragen Wenn man nach verfassungsrechtlichen Vorgaben sucht, muss die Frage vorangestellt werden, welche staats- und verfassungsrechtlichen Kategorien es überhaupt gibt, die den Staat zum Handeln verpflichten. Hier geraten zu­ nächst Staatsziele und grundrechtliche Schutzpflichten in den Blick, welche die Rechtsetzung „anstoßen“.28 Staatsziele sind eine Kategorie, die eine umfangreiche Diskussion in der Staatsrechtswissenschaft hinter sich hat. Sie sind eingebettet in einen weiteren Kreis von Begriffen wie Staatsaufgaben, Staatszwecke und staatliche Verantwortung. Vor einer Untersuchung der ver­ fassungsrechtlichen Vorgaben für die Stabilität der Finanzmärkte soll daher noch ein Überblick über die verschiedenen Termini, ihre Bedeutung und die Folgen für die Rechtsetzung gegeben werden.

26  Kaufhold,

Systemaufsicht, S. 183 f. Einschätzungsprärogative, S. 310. 28  So Schorkopf, VVDStRL 71 (2011), S. 183, 188. 27  Bickenbach,



C. Der Begriff der staatlichen Verantwortung75

1. Die Abgrenzung von Staatszwecken, -zielen und -aufgaben Die Terminologie zum Themenfeld staatlicher Zielsetzung, Verantwortung und Aufgaben ist umfangreich. In die Diskussion eingebracht wurden Be­ griffe wie Staatzwecke, Staatsziele, Staatsaufgaben, Verfassungsaufträge29, Verfassungsdirektiven, Verfassungspflichten, Gesetzgebungsaufträge, Norma­ tivbestimmungen, Rechtsgrundsätze, Leitgrundsätze, Verfassungsgrundsätze, Staatsfundamentalnormen, Programmsätze und staatliche Verantwortung.30 Um die Abgrenzung nicht ausufern zu lassen, erscheint eine Reduktion auf die häufig verwendeten Begriffe der Staatszwecke, -ziele und -aufgaben ziel­ führend. Die herkömmliche Literatur differenzierte vor allem zwischen Staatszwecken, Staatszielen und Staatsaufgaben, wobei alle drei Begriffe Schnittmengen aufweisen.31 Die Begriffe Staatszweck oder Staatsziel tauchen im Grundgesetz nicht auf. Der Begriff der „staatlichen Aufgabe“ wird in Art. 24 Abs. 1a GG und Art. 30 GG, also Kompetenzvorschriften zum Verhältnis des Bundes und der Länder, verwandt. Daneben findet sich der Begriff etwas versteckt in Art. 89 Abs. 2 S. 2 GG und in Art. 104a Abs. 1 GG, in dem Aufgaben angesprochen werden, die Bund oder Ländern obliegen. Zuletzt werden in Art. 91a Abs. 1 GG, für die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern, Aufgaben des Bundes, also Staatsaufgaben, angesprochen. Eine genauere Bestimmung oder eine Definition, um zu verdeutlichen, was mit dem Begriff gemeint ist, hat der Verfassungsgeber nicht geliefert. Einen weitreichenden Katalog an Staatszielen und -aufgaben enthält das Grundgesetz – in dezidierter Abwen­ dung von der Regelungstechnik der Weimarer Reichsverfassung (siehe z. B. Art. 151 WRV) – nicht. a) Staatszwecke Auch wenn sich die Finanzmarktstabilität wohl nicht als übergeordneter Staatszweck definieren lässt, ist eine Beschäftigung mit den Staatszwecken

29  Hierzu Häberle, VVDStRL 30 (1972), S. 43, 115, 140, der Verfassungsaufträge als „Appell“ an die Politik versteht und deren Erfüllung vor allem durch die Herstel­ lung von Öffentlichkeit zu gelingen hat. 30  Vgl. F. Reimer, Verfassungsprinzipien, S. 263 ff. mit umfangreichen Nachwei­ sen. Die Liste ist nicht abschließend gedacht. 31  Vgl. Brenner, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, § 25 Rn. 10; ferner Wahl, in: Ellwein/Hesse, S. 29, 30; ferner auch Heun, JZ 2010, S. 53, 58, der in seinem Aufsatz über die Finanzkrise auf diese drei herkömmlichen Begriffe eingeht.

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2. Kap.: Staat und Finanzmärkte

nicht fruchtlos. Die Staatsaufgabenlehre kann nicht isoliert von der Lehre der Staatszwecke gesehen werden.32 Staatszwecke lassen sich als übergeordnete Prinzipien definieren, die nach dem Sinn und Zweck des Staates für das Gemeinwesen sowie seiner Recht­ fertigung fragen.33 Staatsziele sind dagegen eine Konkretisierung des Staats­ zweckes.34 Ein ähnlicher, aber nicht identischer Begriff zum Staatszweck ist derjenige des „Verfassungsprinzips“, der von F. Reimer als Oberbegriff zu Staatsstruktur- und Staatszielbestimmungen verwendet wird35 und daher ebenfalls abstrakt über diesen beiden steht. Während das Verfassungsprinzip aber explizit an den Verfassungsbegriff anknüpft und daher eine positiv­ rechtliche Anknüpfung erfordert, geht es bei Staatszwecken um überpositive Grundsätze der Legitimation staatlicher Herrschaft. Die Frage des Staats­ zweckes ist weniger eine staatsrechtliche, als eine staatsphilosophische und spielt daher in der staatsrechtlichen Diskussion eine eher untergeordnete Rolle, die mit dem Schwund der allgemeinen Staatslehre zusammenhängt und erst langsam wieder etwas bedeutender wird.36 Die Rolle der Staatszwe­ cke hat in der verfassungsrechtlichen Diskussion zutreffend das Gemeinwohl eingenommen, das als oberster Staatszweck die staatliche Tätigkeit leiten 32  Hebeisen, Staatszweck, Staatsziele, Staatsaufgaben, S. 25; Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, S. 3, 57 ff. 33  Badura, Staatsrecht, S. 403  f.; Brenner, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.) Verfassungstheorie, § 25 Rn. 11 f.; Isensee, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IV, § 73 Rn. 7; Möllers, Staat als Argument, S. 193; Schwind, Zukunfts­ gestaltende Elemente, S. 184; Übersicht über verschiedene Staatszwecksetzungen und ein ausführlicher historischer Grundriss bei Hebeisen, Staatszweck, Staatsziele, Staatsaufgaben, S. 78 ff. und Michel, Staatszwecke, Staatsziele und Grundrechtsinter­ pretation, S.  40 f. 34  Link, VVDStRL 48 (1990), S. 7, 18 f.; Scheuner, FS Forsthoff, S. 325, 341 ff.; Stern, in: Bitburger Gespräche 1984, S. 5, 18. 35  F. Reimer, Verfassungsprinzipien, S. 51 m. w. N.; die Einordnung von Staats­ zielbestimmungen als Verfassungsprinzip findet sich zuerst bei Scheuner, FS Forst­ hoff, S. 325, 330, 335 f. 36  Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 185 ff. m. w. N.; vgl. auch Stern, in: Bitburger Gespräche 1984, S. 5, 6 nach dem die Theorien über Staatszwecke heute nicht mehr zur Klärung der Frage, was Staatsaufgabe ist, herangezogen werden könn­ ten. Besonders ablehnend gegenüber Staatszwecken H. Krüger, Allgemeine Staats­ lehre, S. 759 ff. Eine Vernachlässigung der Frage nach dem Staatszwecken konstatiert Saladin, Verantwortung, S. 94. Gänzlich ablehnend gegenüber der Diskussion um Staatszwecke, da diese in der rechtsmethodischen Diskussion keine Ergebnisse liefer­ ten, wiederum Möllers, Staat als Argument, S. 198. Anders aus der neueren Literatur Rogge-Dannemann, Gemeinwohlverantwortung in der Europäischen Union, S. 12 f., die in dem Begriff des Staatszweckes das Grundprinzip des Zusammenschlusses von Menschen zu Staaten sieht. Die Diskussion muss an dieser Stelle nicht ausgeweitet werden, da die Finanzmarktstabilität keinen Staatszweck darstellt.



C. Der Begriff der staatlichen Verantwortung77

soll37 und auf dessen Bedeutung für die Begründung staatlicher Handlungs­ pflichten noch gesondert eingegangen wird. Auf dieser Annahme fußt die noch folgende Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Finanzmarktstabili­ tät einen Gemeinwohlbelang darstellt und welche Folgen dies für das staat­ liche Handeln hat. Der Begriff des Staatszieles soll für die stärker konkretisierten Staatszwe­ cke verwendet werden; so impliziert schon das Wort „Zweck“ eine höhere Abstraktion als das Wort „Ziel“. Es zeigt sich, dass zwischen Staatszwecken und Staatszielen ein kaskadenartiges Verhältnis besteht.38 Dies mag zwar nicht dem historischen Hintergrund der Begriffe entsprechen, nach heutigem Verständnis der Begriffe ist aber das kaskadenartige Verständnis, wie eben aufgezeigt, treffend. b) Staatsziele und Staatszielbestimmungen Staatsziele leiten das Handeln des Staates, betreffen anders als Staatsstruk­ turprinzipien aber nicht dessen Aufbau und sind daher dynamisch,39 wäh­ rend die Prinzipien zwangsläufig starr bleiben müssen, was sich in Art. 79 Abs. 3 GG ausdrückt. Dynamisch heißt, Staatsziele sind stärker von aktuellen Entwicklungen abhängig als andere Verfassungsnormen. Sie sind insbeson­ dere zur Bewältigung aktueller Probleme des Gemeinwesens geschaffen.40 Sie sind Normen mit rechtlich bindender Wirkung, die dem Staat die fort­ dauernde Beachtung oder Erfüllung eines sachlich umrissenen Zieles vorge­ ben.41 In leicht abgewandelter Form definiert Schwind Staatsziele in Ab­ 37  So u. a. Link, VVDStRL 48 (1990), S. 7, 19; Weiß, Privatisierung und Staats­ aufgaben, S. 68; zum Gemeinwohl als oberstem Zweck des Staates siehe auch BVerfGE 42, 312, 332. 38  Für dieses kaskadenartige Verhältnis Link, VVDStRL 48 (1990), S. 7, 51; Schulze-Fielitz, in: Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben, S. 11, 13; Stern, in: Bitburger Gespräche, S. 5, 18; Wahl, in: Ellwein/Hesse (Hrsg.), S. 29, 30; wohl auch Brugger, NJW 1989, S. 2425, 2427; anders Hebeisen, Staatszweck, Staatsziele, Staatsaufgaben, S. 133 ff., 165, und Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, S. 81, welche die Verschiedenheit der Begriffe auf die unterschiedlichen geistesgeschichtli­ chen Kontexte zurückführen. Ähnlich, wenngleich zurückhaltender, Schwind, Zu­ kunftsgestaltende Elemente, S. 302 f. Andersherum Sommermann, Staatsziele, S. 364, der Staatsaufgaben als Oberbegriff über den Staatszielen ansieht. 39  D. Hahn, Staatsziele, S. 64; Hesse, in: Benda/Maihofer/H.-J. Vogel, Hdb. d. VerfR, § 5 Rn. 34; F. Reimer, Verfassungsprinzipien, S. 63; Scheuner, FS Forsthoff, S. 325, 336; Sommermann, DÖV 1994, S. 596, 597. 40  Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, S. 79. 41  Brenner, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, §  25 Rn. 15; Link, VVDStRL 48 (1990), S. 7, 18; vgl. auch Sommermann, Staatsziele, S. 326, 377 mit einer fast identischen Definition zur Staatszielbestimmung.

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2. Kap.: Staat und Finanzmärkte

grenzung zur Staatszielbestimmung als „zukünftige Zustände auf hinreichen­ dem Abstraktionsniveau, deren Verwirklichung allen drei Staatsgewalten durch die Verfassung aufgegeben ist“42. Aus der Anknüpfung an Normen aus der Verfassung zeigt sich das Verständnis von Staatszielen als positiv normierte Zielvorstellungen des Verfassungsgebers.43 Nach hiesigem Ver­ ständnis soll damit nicht gemeint sein, dass ein Staatsziel eindeutig und konkretisiert positivrechtlich normiert sein muss. Hierfür gibt es den Begriff der Staatszielbestimmung, der von Hans Peter Ipsen44 geprägt wurde. Es bedarf Anknüpfungspunkte in der Verfassung, die das einzelne Staatsziel konstituieren. Die Diskussion um Staatsziele ist gerade deshalb von Bedeu­ tung, da diese, wie bereits oben erwähnt, andere Rechtsgüter von Verfas­ sungsrang im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind und daher zur Einschränkung von Grundrechten taugen. Lässt sich die Siche­ rung der Finanzmarktstabilität daher als Staatsziel formulieren, hat dies er­ hebliche Auswirkungen auf die Möglichkeiten, die Märkte einer verstärkten Regulierung und Aufsicht zu unterwerfen. Die Wahl des effektivsten Mittels zur Erreichung des Zieles steht den staatlichen Organen grundsätzlich frei. Staatsziele sagen daher nur etwas über das „Was“, das zu erreichen ist, nicht aber das „Wie“, d. h. den Weg, auf dem die Zielverwirklichung erreicht werden kann.45 Bestimmte Staatsziele sind im Grundgesetz ausdrücklich geregelt. Zu nennen sind die Sozialstaat­ lichkeit, das Umweltschutzziel des Art. 20a GG, die Förderung des gesamt­ wirtschaftlichen Gleichgewichts in Art. 109 Abs. 2 GG, das Staatsziel der europäischen Integration nach Art. 23 Abs. 1 GG sowie Art. 3 Abs. 2 und 3 GG als spezielle Ausprägungen des allgemeinen Gleichheitssatzes. Die ge­ nannten Ziele fallen als eindeutig geregelte Staatsziele unter die Kategorie der Staatszielbestimmung. Als Staatszielbestimmung definiert die im Jahr 1981 durch das Bundesmi­ nisterium des Innern und das Bundesministerium der Justiz eingesetzte Sach­ verständigenkommission „Verfassungsnormen mit rechtlich bindender Wir­ kung, die der Staatstätigkeit die fortdauernde Beachtung oder Erfüllung be­ stimmter Aufgaben vorschreiben“46. Die Staatszielbestimmung enthält also 42  Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 247; ähnlich Michel, Staatszwecke, Staatsziele und Grundrechtsinterpretation, S. 140 f. 43  So auch Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 211. 44  H. P. Ipsen, Über das Grundgesetz, S. 8 und VVDStRL 10 (1952), S. 74, 85 und 102; weiterführend zum Begriff der Staatszielbestimmung sowie Alternativbe­ griffen siehe Stern, Staatsrecht I, S. 121 Fn. 96 und S. 551 ff. 45  BVerfGE 22, 180, 204; 59, 231, 263; Sommermann, Staatsziele, S. 377 f. 46  BMI/BMJ, Staatszielbestimmungen, S. 20 f. Rn. 7; zu Kritik an der Definition der Sachverständigenkommission und neuerer Entwicklung siehe Schwind, Zukunfts­ gestaltende Elemente, S. 225 ff.; ähnlich Scheuner, FS Forsthoff, S. 325; 335; mehr



C. Der Begriff der staatlichen Verantwortung79

mindestens ein klar positivrechtlich normiertes Staatsziel. Hier zeigt sich dennoch, dass beide Begriffe nicht identisch sind, wenngleich sie zuweilen so verwendet werden. Ist die Zielverwirklichung einer Staatszielbestimmung, wie üblich, nicht klar positivrechtlich geregelt, steht dem Gesetzgeber ein weites Ermessen zu.47 Staatszielbestimmungen lassen sich zu den Grund­ rechten zunächst dadurch abgrenzen, dass sich aus Staatszielbestimmungen keine einklagbaren Rechte ergeben. Staatszielbestimmungen geben, schon alleine aufgrund ihres spärlichen Auftretens in der Verfassung, nicht alle Staatsziele wieder. Staatsziele lassen sich also auch auf anderem Wege for­ mulieren und sind nicht an Staatszielbestimmungen gebunden. Als Beispiel für ein durch Auslegung hergeleitetes Staatsziel ist die aus Art. 5 Abs. 3 GG abgeleitete Kulturstaatlichkeit zu nennen.48 Das Grundgesetz enthält absichtlich wenige ausdrückliche Ziel- oder Auf­ gabenzuweisungen an die staatlichen Organe, die zudem knapp und prägnant formuliert sind.49 Die verschiedenen Staatsziele bilden in ihrer Gesamtheit kein abgeschlossenes System. Das Grundgesetz lässt daher Raum für die Bildung neuer Staatsziele. Sie richten sich nach den praktischen Bedürfnis­ sen der Verfassung und den Herausforderungen der Zeit, denen sich die Verfassung gegenübersieht.50 Staatsziele sollen die integrative Funktion der Verfassung stärken und daher die großen, zukunftsträchtigen Fragen behan­ deln sowie Leitlinien für deren Beantwortung liefern.51 Diese Formulierung kann den Bezug zum Gegenstand der Untersuchung wiederherstellen. Wie der Umgang mit der Finanzkrise und insbesondere die Funktionsverlagerung auf die Exekutive gezeigt haben, ist es eine wesentliche Frage, wie in Zu­ kunft das staatliche Handeln auf den Finanzmärkten ausgestaltet werden soll. Ein dem Grundgesetz zu entnehmendes Staatsziel der Finanzmarktstabilität könnte daher wichtige Leitlinien für zukünftiges gesetzgeberisches Handeln und die Auslegung des einfachen Rechts liefern. Fokus auf die Verpflichtungskraft der Staatszielbestimmung und die Dispositionsbe­ fugnis der Staatsgewalt in der Definition legt Michel, Staatszwecke, Staatsziele und Grundrechtsinterpretation, S.  132 f. 47  Brugger, NJW 1989, S. 2425, 2428. 48  BMI/BMJ, Staatszielbestimmungen, S.  23  f. Rn.  11; Steiner, in: Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IV, § 86 Rn. 3; ausführlich zur Kulturstaat­ lichkeit Sommermann, Staatsziele, S. 230 ff. 49  Ausführlich zum Stil des Grundgesetzes zu staatlichen Zielen und Aufgaben BMI/BMJ, Staatszielbestimmungen, S. 24 f. Rn. 13 ff.; ferner Wahl, in: Ellwein/Hesse (Hrsg.), S. 29, 32. 50  Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 211; vgl. auch Wahl, in: Ellwein/ Hesse (Hrsg.), S. 29, 45 f. 51  Wahl, in: Ellwein/Hesse (Hrsg.), S. 29, 45. Auch Sommermann, DÖV 1994, S. 596, 597 stellt darauf ab, dass Staatsziele zukunftsoffen zu formulieren sind.

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2. Kap.: Staat und Finanzmärkte

Die Begründung eines neuen Staatszieles hat weiterhin umfangreiche Aus­ wirkungen auf die staatlichen Aufgaben. Der Begriff der Staatsaufgabe ist nach dem kaskadenartigen Verständnis konkreter als der des Staatszieles. Staatsziele begründen keine konkreten Handlungsverpflichtungen oder Auf­ gaben des Staates. So beschreibt, vom reinen Wortverständnis her, das Wort Ziel zutreffend die Verfolgung eines nur möglichen Zustandes. Während eine Aufgabe erfüllbar sein soll, muss dies für ein Ziel nicht zwangsläufig zutref­ fen. Der Zustand, den das Ziel beschreibt, soll durch die staatliche Aufgaben­ erfüllung erreicht werden.52 Dabei gibt das Staatsziel schon begriffsnotwen­ dig nur das Ziel vor, nicht aber den Weg, auf dem es zu erreichen ist.53 Konkrete Handlungspflichten kann es daher nur dann begründen, wenn es von vornherein nur ein taugliches Mittel zur Zielerreichung gibt oder von mehreren verfügbaren Mitteln nur eines übrigbleibt, dass die bestmögliche Zielerreichung gewährleisten kann.54 Bedeutung haben Staatsziele und Staatszielbestimmungen, neben ihrer Funktion als objektive Zielbestimmung an den Gesetzgeber, auch als objektives Recht bei Zielkonflikten mit anderen höherrangigen Rechtsgütern, vor allem den Grundrechten. Sie fallen unter die vom Bundesverfassungsgericht häufig beschworenen Gemeinwohlbela­ nge, die in die Abwägung mit einzubeziehen sind. Im Kollisionsfall ist eine Abwägung zwischen den widerstreitenden Positionen vorzunehmen. Ihre Bedeutung geht in diesem Kontext wegen des verfassungsrechtlichen An­ knüpfungspunktes deutlich über die reine Zielsetzung an das politische Han­ deln hinaus. Wird ein Staatsziel neu formuliert, kann dies neue Aufgaben begründen und die Auslegung schon bestehender Aufgaben modifizieren. Hierauf wird in der Folge noch einzugehen sein. Abzugrenzen ist weiterhin der Begriff des Gesetzgebungsauftrags. Da vor allem ein legislatives Tätigwerden der staatlichen Organe zur Stabilisierung der Finanzmärkte sinnvoll ist, könnte die Stabilisierung durch einen Gesetz­ gebungsauftrag verwirklicht werden. Diese richten sich, anders als Staatziel­ bestimmungen, nicht an alle Staatsorgane, sondern an die Legislative. Sie formulieren einen klaren Handlungsauftrag, der im Erlass von einfachem Gesetzesrecht besteht. Der Begriff weist große Schnittmengen zum Staatsziel auf, ist aber insofern konkreter, als dass er die vorzunehmende Tätigkeit ge­ nauer bestimmt. Beispielhaft kann der Gleichstellungsauftrag an den Gesetz­ geber für uneheliche Kinder in Art. 6 Abs. 5 GG oder der Auftrag in Art. 38 Abs. 3 GG genannt werden, der bestimmt, dass der Bundestag zur näheren 52  Brenner,

in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, § 25 Rn. 21. BVerfGE 22, 180, 204 für das Sozialstaatsprinzip; D. Hahn, Staatsziele, S. 65; Sommermann, Staatsziele, S. 377 ff.; F. Reimer, Verfassungsprinzipien, S. 349; Wahl, in: Ellwein/Hesse (Hrsg.), S. 29, 40. 54  Vgl. F. Reimer, Verfassungsprinzipien, S. 352. 53  Vgl.



C. Der Begriff der staatlichen Verantwortung81

Regelung des Wahlrechts ein Bundesgesetz zu erlassen hat. Daneben kann das Bundesverfassungsgericht Gesetzgebungsaufträge an den Gesetzgeber richten.55 Einen ausdrücklichen Auftrag zur Stabilisierung der Finanzmärkte enthält das Grundgesetz unstreitig nicht. Auf die Finanzmarktstabilität oder die Finanzstabilität wird, anders als bspw. in Art. 127 Abs. 5 AEUV, gar nicht Bezug genommen. Die Kategorie der Gesetzgebungsaufträge führt daher für diese Untersuchung nicht weiter. Einen Gesetzgebungsauftrag zur Herstel­ lung von Finanzmarktstabilität gibt es ausdrücklich nicht. Möglich bleibt die Herleitung eines Staatszieles der Finanzmarktstabilität. Schorkopf stellt die Finanzmarktstabilität auf die gleiche Stufe wie die anerkannte Staatziele der Gewährleistung von Preisstabilität und des Wettbewerbs.56 c) Staatsaufgaben Zuletzt ist der Begriff der Staatsaufgabe zu erläutern und wiederum von anderen verwandten Begriffen abzugrenzen. In der Folge können weitere Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu Staatszwecken und -zielen herausge­ arbeitet werden. Grundsätzlich kann unter einer Staatsaufgabe eine Hand­ lungsanweisung an den Staat innerhalb eines bestimmten Rahmens verstan­ den werden.57 Die verschiedenen Staatsaufgaben bilden damit alle Tätig­ keitsfelder, die der Staat zulässigerweise wahrnimmt.58 Hiermit wird allerdings noch nicht klar, wo Staatsaufgaben zu finden sind und wie deren Rahmen abzustecken ist. Sommermann definiert Staatsaufga­ ben als „Rechtssätze, die den Staat (…) zu einem zielgerichteten Tätigwer­ den auf einem bestimmten Sachgebiet ermächtigen oder verpflichten“59. Aus der Definition wird deutlich, dass Staatsaufgaben Rechtssätze sind. Der Rahmen wird als bestimmtes Sachgebiet abgesteckt. Als Rechtssätze haben Staatsaufgaben für den Staat verbindlichen Charakter. Die Aufgabenerfüllung muss gewährleistet werden. Anders als das Staatsziel besteht die Staatsauf­ gabe in einem konkreten Weg, der von den Staatsorganen gegangen werden muss. 55  So z. B. in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Maßstäbege­ setz, siehe BVerfGE 101, 158 ff. zum Gesetzgebungsauftrag aus Art. 106 Abs. 3 und 107 Abs. 2 GG. 56  Schorkopf, VVDStRL 71 (2012), S. 183, 196 ff. 57  Vgl. zum Begriff der Staatsaufgabe Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 263. 58  Bull, Staatsaufgaben, S.  44; Isensee, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. III, § 57 Rn. 137; Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben; vgl. ferner BVerfGE 12, 205, 243; 41, 205, 217. 59  Sommermann, Staatsziele, S. 365.

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2. Kap.: Staat und Finanzmärkte

Das Bundesverfassungsgericht formuliert dagegen abstrakter, dass eine öffentliche Aufgabe, mit der der Staat sich in irgendeiner Form befasse, eine staatliche werde.60 Diesen Satz entwickelte Isensee dahingehend weiter, dass die öffentliche Aufgabe dann zur Staatsaufgabe werde, wenn der Staat sich dieser in den „Formen und Bahnen des Rechts“ annehme.61 Denkt man dies weiter, ist das staatliche Aufgabenspektrum nur durch den Begriff „öffent­ lich“ beschränkt. Durch die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts wird die Bestim­ mung von Staatsaufgaben nicht unbedingt klarer. Zum Verständnis dieser Formulierung ist zunächst das Verhältnis von öffentlichen Aufgaben und staatlichen Aufgaben klar zu machen. Die Begriffe decken sich nicht. Für die Annahme einer öffentlichen Aufgabe ist zunächst lediglich erforderlich, dass ihre Erfüllung im öffentlichen Interesse liegt.62 Dies ist gleichermaßen zwar auch für Staatsaufgaben erforderlich, diese setzen aber nach dem eben Aus­ geführten weiter voraus, dass sie durch den Staat und seine Organe erfüllt werden. Es kann also öffentliche Aufgaben geben, die zugleich keine Staats­ aufgaben sind.63 Einprägsam ist die Regel, dass jede Staatsaufgabe auch eine öffentliche Aufgabe, nicht jede öffentliche Aufgabe aber zugleich eine Staats­ aufgabe ist.64 Klar wird, dass auch Staatsaufgaben dem öffentlichen Interesse zu dienen bestimmt sind. Nach dem Bundesverfassungsgericht wird eine Aufgabe dann zur Staatsaufgabe, wenn an ihr ein öffentliches Interesse besteht und der Staat diese Aufgabe an sich heranzieht. Nicht deutlich wird durch die Formulierung aber, ob neben einem öffentlichen Interesse auch ein normativer Anknüpfungspunkt für Staatsaufgaben bestehen muss. Verneint man dies, droht allerdings eine allumfassende Aufgabenvielfalt, in welcher der Staat 60  BVerfGE 12, 205, 243. Siehe auch Häberle, Öffentliches Interesse, S. 684 f.; Möllers, Staat als Argument, S. 317 f.; kritisch zur Terminologie des BVerfG H. Peters, FS Nipperdey, Bd. II, S. 877, 878 f.; Bull, Staatsaufgaben, S. 105 f.; zurückhal­ tend auch Brenner, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, § 25 Rn. 25; zum Begriff der „öffentlichen Aufgabe“ siehe ferner Heintzen, VVDStRL 62 (2003), S. 220, 227 ff. und Voßkuhle, ebd. S. 266, S. 273 f. 61  Isensee, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IV, § 73 Rn. 13 m. w. N.; so auch Korioth, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 30 Rn. 9. 62  Heintzen, VVDStRL 62 (2003), S. 220, 228; Isensee, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IV, § 73 Rn. 5; H. Peters, FS Nipperdey, Bd. II, S. 877, 878; Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 269; Weiß, Privatisierung und Staats­ aufgaben, S. 22. 63  Heintzen, VVDStRL 62 (2003), S. 220, 228; Weiß, Privatisierung und Staats­ aufgaben, S. 25. 64  Heintzen, VVDStRL 62 (2003), S. 220, 228; Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 270 m. w. N.; siehe auch Häberle, AöR 111 (1986), S. 595, 603 f., der vertritt, dass Staatsaufgaben durch den Staat und öffentliche Aufgaben von nichtstaat­ lichen Akteuren ausgeführt werden müssen.



C. Der Begriff der staatlichen Verantwortung83

völlig frei über seine Aufgaben disponieren kann. Was im öffent­lichen Inte­ resse liegt, ist zweifelsfrei festgelegt. Es wäre möglich, jedwedes Interesse als öffentliches zu deklarieren und durch die Heranziehung der Aufgabe durch den Staat eine Staatsaufgabe zu begründen. Angebrachter erscheint es daher mit der eingangs genannten Formel von Sommermann zumindest Rechtssätze zur Begründung von Staatsaufgaben zu fordern, welche sowohl geschriebene als auch ungeschriebene sein können. Diese Rechtssätze sollten unter Heran­ ziehung der verfassungsrechtlichen Vorgaben gebildet werden, eine Staatsauf­ gabenbildung gänzlich ohne Hinzunahme des Verfassungsrecht ist daher nicht möglich.65 Dies ist wegen der Funktion der Verfassung, das staatliche Handeln in bestimmte, vorgezeichnete Bahnen zu lenken, folgerichtig. Dies bedeutet nicht, dass die Bildung neuer, zeitgemäßer Aufgaben nicht möglich ist. Schon das Grundgesetz selbst geht in Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG davon aus, dass dem Bunde neue Aufgaben erwachsen können. Die Finanzmarktstabilität liegt unproblematisch im öffentlichen Interesse, was sich aus der Verbindung zwischen Staat und Finanzmärkte, auf die noch näher einzugehen sein wird, ergibt. Das sich die Finanzmarktstabilität als staatliche Aufgabe darstellt, kann daher kaum bezweifelt werden. Es ist den­ noch zu prüfen, ob diese nicht doch eher ein noch höher gestelltes Staatsziel ist. Weiterhin wird durch diese Feststellung nichts darüber ausgesagt, ob sich die Aufgabe verfassungsrechtlich legitimieren lässt und Vorgaben aus der Verfassung folgt. d) Abgrenzungen Von den Staatszielen und Staatszielbestimmungen unterscheiden sich Staatsaufgaben im Grad ihrer Konkretisierung.66 Wiederum lässt sich darauf verweisen, dass das Wort „Ziel“, durch den Ausblick auf einen zukünftigen Gegenstand, eine höhere Abstraktheit impliziert, die dem Wort „Aufgabe“ nicht anhaftet. Die durch Aufgaben beschriebenen Handlungsanweisungen an den Staat sind wesentlich konkreter formuliert als eine abstrakte Zielbestim­ mung. Sie dienen der Umsetzung von Staatszielen in staatlichem Handeln. Damit schließt sich der Kreis zu den Staatszwecken, die als Oberbegriff der Staatsziele ausgemacht wurden. Diese kaskadenartige Abgrenzung der drei Begriffe Staatszweck, Staatsziel und Staatsaufgabe heißt aber nicht, dass es zwingend immer eines abstrakteren Oberbegriffes, folgend aus einem Staats­ ziel, bedarf, um eine Staatsaufgabe zu formulieren.67 Der Begriff des Staats­ Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, S. 87 ff. in: Bitburger Gespräche, S. 5, 18; vgl. auch Rengeling/Szczekalla, in: BK, GG, Art. 73 Abs. 1 Nr. 11 Rn. 77; a. A. D. Hahn, Staatsziele, S. 79. 67  Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 252. 65  So

66  Stern,

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2. Kap.: Staat und Finanzmärkte

zweckes kann für die Untersuchung zum Rang der Finanzmarktstabilität nicht viel hergeben, da die Rechtfertigung des Staates nicht alleine aus der Herstellung von Finanzmarktstabilität folgen kann. Daher ist im Folgenden lediglich das Verhältnis von Staatszielen und Staatsaufgaben näher zu be­ leuchten. Aus der kaskadenartigen Abgrenzung folgt zunächst, dass ein Staatsziel, wenn es denn formuliert ist, noch nichts über den Weg aussagt, auf dem es zu erfüllen ist.68 Das Vorliegen eines Staatszieles impliziert daher noch keine korrespondierende Staatsaufgabe. Die Staatsaufgabe ist nicht identisch formuliert.69 Zur Abgrenzung der Begriffe Staatsziel und Staatsaufgabe muss genau untersucht werden, ob und inwiefern ein Staatsziel mit einer Staatsaufgabe korrespondiert und durch dieses erreicht werden kann.70 Geht man hiervon aus, erschiene es z. B. möglich, die Finanzmarktstabilität als Staatsziel zu formulieren, welches durch Staatsaufgaben wie Regulierung, Aufsicht über die Finanzmärkte und Stabilisierung von Staats- und Landes­ haushalten erreicht werden kann. Umgekehrt wird formuliert, dass die Fi­ nanzmarktregulierung die Aufgabe hat, Finanzmarktstabilität zu gewährleis­ ten und Krisen zu verhindern71, wobei hierunter auch verstanden werden kann, dass die Finanzmarktstabilität als übergeordneter Topos zu verstehen ist, wie dies dieser Untersuchung zugrunde gelegt wird. Offen bleibt dage­ gen, ob diese Ziele und Aufgaben auch tatsächlich aus Rechtssätzen folgen und damit verfassungsrechtlich legitimiert werden können. Anders als Staatsziele, die nach hier vertretener Auffassung einen normati­ ven Anknüpfungspunkt in der Verfassung aufweisen müssen, gilt dies für Staatsaufgaben nicht. Zwar besteht damit eine Aufgabenvielfalt, diese ist je­ doch nicht zu beanstanden. Bereits erwähnt wurde, dass Staatsaufgaben aus geschriebenen oder ungeschriebenen Rechtssätzen folgen können. Regelungs­ ort kann die Verfassung sein, Staatsaufgaben können sich aber auch aus einfa­ 68  Isensee, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IV, § 73 Rn. 9; rela­ tivierend Badura, FS H. P. Ipsen, S. 367, 379, der dem Gesetzgeber allerdings einen Beurteilungsspielraum einräumt. 69  Vgl. BVerfGE 59, 231, 263 zum Sozialstaatsprinzip: „Das Sozialstaatsprinzip stellt also dem Staat eine Aufgabe, sagt aber nichts darüber, wie diese Aufgabe im einzelnen zu verwirklichen ist“; vgl. ferner Bull, Staatsaufgaben, S. 44 f.; Isensee, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IV, § 73 Rn. 16; Michel, Staatszwecke, Staatsziele und Grundrechtsinterpretation, S. 113, 135; Uerpmann-Wittzack, Das öf­ fentliche Interesse, S. 32; Weiß, Privatisierung und Staatsaufgabe, S. 74 f. 70  Bull, Staatsaufgaben, S. 44: Link, VVDStRL 48 (1990), S. 7, 19; ähnlich Badura, AöR 92 (1967), S. 382, 384 f.; Stern, in: Bitburger Gespräche 1984, S. 5, 20, Staatsziele als „Impulse“ für Staatsaufgaben; ähnlich auch Thiele, Finanzaufsicht, S. 256, der die Staatszielbestimmung als Aufgabennorm qualifiziert. 71  Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Bankensektor, S. 17, 86.



C. Der Begriff der staatlichen Verantwortung85

chen Gesetzen ergeben.72 Dennoch sind im Verfassungsstaat Staatsaufgaben in der Regel zugleich Verfassungsaufgaben.73 Der Einklang mit dem vorher Gesagten kann dadurch hergestellt werden, dass durch die Formulierung Ver­ fassungsaufgaben nicht ausgedrückt werden soll, dass nur solche Staatsaufga­ ben bestehen, die ausdrücklich im Text des Grundgesetzes zu finden sind, son­ dern dass alle Staatsaufgaben auf das Grundgesetz als Verfassungstext zurück­ geführt werden können. Die Forderung nach einem Verfassungsbezug gewähr­ leistet einen entsprechenden Rang der Staatsaufgabe im Verhältnis zu Rechten, die während der Aufgabenerfüllung tangiert werden. Der Verfassungsbezug der Staatsaufgaben ergibt sich unproblematisch, wenn man das vorgestellte kaskadenartige Verhältnis zu Staatszielen beherzigt, die sich nach hiesiger Auffassung auch durch einen Bezug zur Verfassung legitimieren müssen. Neben den Unterschieden weisen die Begriffe Staatsziele und Staatsaufga­ ben auch Überschneidungen auf. Gemeinsam ist Staatszielen und Staatsauf­ gaben, dass sie der Erfüllung öffentlicher Interessen dienen. Öffentliche Inte­ ressen sind im Wesentlichen Gemeinwohlinteressen, was auch die Rückfüh­ rung der Staatsaufgaben auf das Grundgesetz ermöglicht. Beide müssen daher Gemeinwohlinteressen dienen, um Geltung zu beanspruchen. Lässt sich ein im öffentlichen Interesse liegendes Staatsziel formulieren, muss in einem nächsten Schritt geklärt werden, was zur Erreichung dieses Zieles vom Staat getan werden muss, also was Staatsaufgabe ist.74 Staatsaufgaben sollen das Zusammenleben des Staates und der Gesell­ schaft sicherstellen. Das Grundgesetz kodifiziert aber Staatszielbestimmun­ gen, welche durch weitere Staatsaufgaben konkretisiert werden. Wenn oben schon festgestellt wurde, dass sich der Begriff „Staatsaufgabe“ im Grundge­ setz kaum findet, drückt sich dadurch nur die Spärlichkeit ausdrücklicher Aufgabenzuweisungen in Bezug auf einen bestimmten Regelungsbereich im Grundgesetz insgesamt aus.75 Dagegen finden sich umfangreiche Regelungen zu Funktionen des Staates und seinen Kompetenzen. 72  BMI/BMJ, Staatszielbestimmungen, Gesetzgebungsaufträge, S.  37  f. Rn.  35; Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 292; Wißmann, in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, § 15 Rn. 10. 73  D. Hahn, Staatsziele, S. 79; Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungs­ recht als Ordnungsidee, S. 155; Schulze-Fielitz, in: Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben, S. 11, 12, 15 f.; Sommermann, Staatsziele, S. 365 m. w. N.; vgl. auch Häberle, AöR 111 (1986), S. 595, 600 ff., wonach sich die Staatsaufgaben verfas­ sungsstaatlich und nicht lediglich staatlich legitimieren. 74  Isensee, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IV, § 73 Rn. 12 f.; Michel, Staatszwecke, Staatsziele und Grundrechtsinterpretation, S. 142; F. Reimer, Verfassungsprinzipien, S. 265; Schöbener/Knauff, Allg. Staatslehre, § 4 Rn. 98. 75  Z. B. Art. 87a GG und 35 Abs. 2 und 3 GG für die Streitkräfte, Art. 91 a GG für Gemeinschaftsaufgaben, dazu Bull, Staatsaufgaben, S. 149 ff.; zu weiteren Nor­

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2. Kap.: Staat und Finanzmärkte

Kurzgefasst besteht zwischen Staatszwecken, Staatszielen und Staatsauf­ gaben ein Verhältnis steigender Abstraktion. Die Staatszwecke scheiden für den Fortgang der Untersuchung aus. Gemeinsam ist Staatszielen und Staats­ aufgaben vor allem die Orientierung an öffentlichen Interessen und am Ge­ meinwohl. e) Der Begriff der staatlichen Verantwortung Als weiterer Terminus wurde der Begriff der staatlichen Verantwortung in die Diskussion eingeführt.76 Gerade in der Diskussion um Finanzmärkte wird in der Literatur teilweise von einer „Verantwortung“77 oder einer „Gewährleistungsverantwortung“78 des Staates für die Finanzmarktstabilität gesprochen. Dies wurde nicht nur nach den Erfahrungen der letzten großen Finanzkrise angenommen, vereinzelt wurde auch vorher bereits eine staat­ liche Verantwortung des Staates für die Einlagensicherung angenommen, die im Ergebnis zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Wirtschaft den Staat men, in denen auf „Aufgaben“ Bezug genommen wird, Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, S.  141 ff. 76  Grundlegend zum Verantwortungsbegriff im öffentlichen Recht Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Schuppert (Hrsg.), Reform des Allge­ meinen Verwaltungsrechts, S. 11, 43 f.; zur Verwaltungsverantwortung Wilke, DÖV 1975, S. 509 ff.; grundsätzlich zum Begriff der Verantwortung Saladin, Verantwor­ tung, S.  19 ff. 77  D. Bauer, DÖV 2010, S. 20, 28, nach der der Staat zur Eindämmung systemi­ scher Risiken „verpflichtet“ ist; F. Becker, ZG 2009, S. 123, 125 ff.; Blaurock, JZ 2012, S. 226: „elementare Staatsaufgabe“; Calliess, VVDStRL 71 (2012), 113, 117 ff.; Höfling, Gutachten F zum 68. Deutschen Juristentag, S. 9 f.: „zentrales öffentliches Interesse“ und „elementare Staatsaufgabe“; Ohler, in: Leible/Lemann (Hrsg.), Hedgefonds und Private Equity, S. 139, 150 „öffentlicher Belang von erheblicher Bedeutung“; ders., WiVerw 2010, S. 47; ders., Bankenaufsicht, § 3 Rn. 38 ff.; § 4 Rn.  25 ff.; R. Schmidt, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. XI, § 252 Rn. 46 „es sind staatliche Vorschriften zu schaffen, (…)“; Schorkopf, VVDStRL 71 (2012), S. 183, 196 ff., der die Finanzmarktstabilität auf die gleiche Stufe stellt wie die anerkannten Staatziele der Gewährleistung von Preisstabilität und des Wettbe­ werbs; Siekmann, in: Möllers/Zeitler (Hrsg.), Europa als Rechtsgemeinschaft, S. 101, 112; Stasch, Lender of Last Resort, S. 57: „übergeordnetes Interesse“; für die Euro­ päische Union Tuori/Tuori, The Eurozone Crisis, S. 183 f.; ferner Kotzur, VVDStRL 71 (2012), S. 228 (Aussprache), der von einer „Daseinsvorsorgeaufgabe Finanzmarkt­ stabilität“ spricht; zurückhaltend Klingenbrunn, Produktverbote zur Gewährleistung von Finanzmarktstabilität, S. 283; ablehnend Heun, JZ 2010, S. 53, 59; Wißmann, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, § 15 Rn. 12a. 78  So z. B. Ohler, WiVerw 2010, S. 47; Höfling, Gutachten F zum 68. Deutschen Juristentag, S.  9 f.; ders., NJW-Beilage 2010, S. 98, 100; Uechtritz, NVwZ, S. 1472; ablehnend Thiele, Finanzaufsicht, S. 363 f.; Klingenbrunn, Produktverbote zur Ge­ währleistung von Finanzmarktstabilität, S. 21; offengelassen bei Hoffmann-Riem, AöR 134 (2009), S. 513, 514.



C. Der Begriff der staatlichen Verantwortung87

zur Rettung von Banken verpflichten kann.79 Eine Gewährleistungsverant­ wortung setzt jedoch zunächst das Bestehen einer staatlichen Verantwortung voraus, um dann in einem weiteren Schritt festzustellen, inwieweit und mit welchen Mitteln der Staat dieser Verantwortung nachkommen muss.80 An­ dere Untersuchungen sind zurückhaltender, wenn es um eine staatliche Ver­ antwortung und Handlungsaufträge oder -pflichten geht.81 Es lohnt daher, sich zunächst mit dem Begriff der Verantwortung auseinanderzusetzen. Zum einen, um die Terminologie zu verdeutlichen, und zum anderen, um feststel­ len zu können, was unter staatlicher Verantwortung konkret und inhaltlich zu verstehen ist. Für die folgende Untersuchung kann dies terminologische Klarheit schaffen, ob von der Finanzmarktstabilität eher als Staatsziel auszu­ gehen ist oder von einer staatlichen Verantwortung für jene. Schmidt-Aßmann, einer der ersten Verfechter von „Verantwortung“ als ei­ genständigem Rechtsbegriff, spricht von Verantwortung, im Gegensatz zur vorliegenden Untersuchung, weniger in staatsrechtlichem als in verwaltungs­ rechtlichem Kontext. So geht es ihm darum, das Verwaltungsrecht an Model­ len auszurichten, die der Kooperation zwischen Staat und Privaten bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben einen klaren rechtlichen Rahmen geben.82 Er differenziert hierbei zwischen einer vollen Erfüllungsverantwortung als Verwaltungsaufgabe, die bedeutet, dass die Erfüllung der Aufgabe selbst beim Staat liegt und er diese nicht an Dritte delegieren kann83, und abgestuf­ ten Verantwortungsgraden. Hierzu gehört eine Beratungsverantwortung, Ein­ standsverantwortung oder Organisationsverantwortung für Fälle, in denen die gesellschaftliche Selbstregulierung nicht ausreicht, um den Interessen an der Stabilität der Finanzmärkte hinreichend Genüge zu tun.84 Dieser Gedanke ist 79  Vgl. Benda, NJW 1967, S. 849, 852; ohne eindeutige Stellungnahme: Hopt, Der Kapitalanlegerschutz im Recht der Banken, S. 304; ferner Schwark, NJW 1974, S. 1849, 1854, der eine Rechtspflicht in bestimmten Fällen annimmt; eher ablehnend Hahn, GS Geck, S. 301, 304 ff. 80  Thiele, Finanzaufsicht, S. 364; ferner zum Begriff Schmidt-Aßmann, Das allge­ meine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 172 ff.; ferner Schuppert, Staatswissen­ schaft, S. 292, der unter einer Gewährleistungsverantwortung eine Regulierungs- oder Überwachungsverantwortung versteht. 81  Vor allem Kaufhold, Systemaufsicht, S. 193  ff., 255; Thiele, Finanzaufsicht, S.  237 ff., 363 ff. 82  Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Schuppert (Hrsg.), Re­ form des Allgemeinen Verwaltungsrechts, S. 11, 43. 83  So Schuppert, Staatswissenschaft, S. 291. 84  Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Schuppert (Hrsg.), Re­ form des Allgemeinen Verwaltungsrechts, S. 11, 44; ders., Das allgemeine Ver­ waltungsrecht als Ordnungsidee, S. 170. Dass die Stabilisierung auch durch staat­ liche Anreizsteuerung möglich ist, zeigt aber Egidy, Finanzkrise und Verfassung, S.  111 ff.

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2. Kap.: Staat und Finanzmärkte

auf die Finanzmärkte übertragbar. Die letzten Finanzkrisen haben gezeigt, dass die Märkte nur mithilfe einer staatlichen Aufsichts- und Regulierungs­ struktur stabil bleiben konnten.85 Der Begriff der Verantwortung dient also zunächst dazu, Tätigkeitsberei­ che des Staates in Abgrenzung zu Privaten festzulegen. Diese Tätigkeitsbe­ reiche setzen aber schon öffentliche Aufgaben voraus, womit ein Bezug zu den gerade erläuterten Staatsaufgaben besteht. Der Verantwortungsbegriff, wie Schmidt-Aßmann ihn in verwaltungsrechtlichem Kontext verwendet, setzt daher das Bestehen einer öffentlichen Aufgabe vor die Entstehung einer Verantwortung zur Aufgabenerfüllung. Aus diesem Grund eignet sich der Verantwortungsbegriff auch so gut zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen dem Staat und den Finanzmärkten. Die Finanzmarktstabilisierung kann in einem marktwirtschaftlichen System nicht alleine durch den Staat gewährleistet werden. Er bedarf der Unterstüt­ zung durch private Akteure, vor allem durch die Marktteilnehmer. Um seiner Verantwortung gerecht zu werden, hat der Staat aber rechtliche Rahmenbe­ dingungen zu setzen, in denen sich die privaten Akteure so entfalten können, dass der Markt seine Funktionen erfüllen kann. Das Recht darf den Hand­ lungsspielraum nicht so eng schnüren, dass die Freiheit des Marktes gänzlich ausgehöhlt wird, aber auch nicht so weit, dass durch das freie Spiel der Marktkräfte der Entwicklung erneuter Krisen nichts entgegengesetzt werden kann. Verantwortung heißt in diesem Kontext auch, dass sich der Staat die normativen Vorgaben nicht einseitig von den Märkten diktieren lassen darf, sondern Regelungen in Kooperation mit diesen zu treffen sind. Kooperation bedeutet, dass auch der Staat seine Belange einbringen muss, und zwar nicht erst dann, wenn nur noch Rettungspakete helfen. All dies kann aber nur dann ernsthaft von Bedeutung sein, wenn dem Staat verfassungsrechtlich eine Verantwortung für die Stabilisierung der Finanzmärkte mitgegeben ist. Zu erläutern ist daher, wie der Begriff auf staatsrechtlicher Ebene verstanden werden kann. Wenn die einfache Verantwortung also die Zuordnung einer Aufgabe zu einem Subjekt bezeichnet, kann der Begriff der staatlichen Verantwortung deutlich werden. Staatliche Verantwortung bedeutet die Zuordnung einer Aufgabe zum Staat. Damit wird wiederum ein Zusammenhang zur Staats­ aufgabe gesetzt. Neben der bereits angesprochenen Gewährleistungsverant­ wortung des Staates finden sich auch Begriffe wie Auffang- oder Erfüllungs­ verantwortung, um zwischen den verschiedenen Verantwortungsstufen in 85  Kohtamäki, Die Reform der Bankenaufsicht in der Europäischen Union, S. 7 f. m. w. N.; R. Schmidt, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. XI, § 252 Rn. 46.



C. Der Begriff der staatlichen Verantwortung89

Abgrenzung zur privaten Aufgabenverantwortung zu differenzieren.86 Es geht bei staatlicher Verantwortung weniger um die Abgrenzung zu Aufga­ benerfüllung zwischen Verwaltung und Privaten, sondern übergeordnet um die Abgrenzung von Aufgaben zwischen Staat und Gesellschaft. Verantwor­ tungsträger oder Verantwortlicher ist im Falle des Bestehens einer staatli­ chen Verantwortung der Staat. Gegenstand der Verantwortung ist die Aufga­ benerfüllung. Der Begriff Gewährleistungsverantwortung findet sich auch im Europarecht, nämlich bei der Beschreibung der Richtlinienumsetzung durch Private. Dabei wird eine Gewährleistungsverantwortung der Union diskutiert, die darin bestehen soll, sich zu vergewissern, dass Private, welche die Richtlinie umsetzen sollen, alle Vorkehrungen zur Umsetzung getroffen haben, und wenn nicht, selbst alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um die Umsetzung zu gewährleisten.87 Deutlich wird auch in diesem Kontext die Verwendung des Verantwortungsbegriffs bei der Privatisierung von staat­ lichen Aufgaben. Das Bundesverfassungsgericht verwendet den Begriff der Verantwortung in einem staatsrechtlichen Kontext. So z. B. in seinem Beschluss zum Kern­ kraftwerk Mühlheim-Kärlich, nach dem eine „Mitverantwortung“ konstruiert wird, die den Staat nach Erteilung einer atomrechtlichen Genehmigung tref­ fe.88 Wiederum geht es also um die Verteilung von Verantwortungsgraden zwischen dem Staat und Privaten, hier den Atomkraftwerkbetreibern. In dem Beschluss bringt das Gericht zudem mehrmals Schutzpflicht und Verantwor­ tung in einen gemeinsamen Kontext.89 Hieraus lässt sich eine gewisse Nähe zu den Grundrechten herauslesen. Wichtig ist, dass das Bundesverfassungs­ gericht die Begriffe Verantwortung und Pflicht in ähnlichem Kontext ge­ braucht. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt daher den erwähnten Befund, dass staatliche Verantwortung die Zuordnung einer Aufgabe zum Staat bedeutet. Weitergehend kann den Staat aufgrund einer 86  In diesem Sinne die Darstellung bei H. Bauer, VVDStRL 54 (1995), S. 243, 277 ff.; A. Berger, Die Ordnung der Aufgaben im Staat, S. 47 m. w. N.; Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 170 ff.; nach Wahl, in: Ellwein/Hesse (Hrsg.), S. 29, 31 schafft dies der Begriff der Staatsaufgabe gerade nicht; eher ablehnend gegenüber dem Verantwortungsbegriff Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, S. 7 f., der auf den Begriff der Staatsaufgabe abstellen möchte. Wie­ derum zeigt sich die Nähe beider Begriffe. 87  So bei Szczekalla, Die sog. Grundpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 1078. 88  BVerfGE 53, 30, 58 „der Staat übernimmt eine Mitverantwortung für diese Gefährdungen“; ähnlich bereits BVerfGE 49, 89, 129, hier wird von „politischer Ver­ antwortung“ gesprochen; siehe zu diesen Entscheidungen Murswiek, Staatliche Ver­ antwortung für die Risiken der Technik, S. 61 ff. 89  BVerfGE 53, 30, 59, 61, 78; siehe ferner BVerfGE 49, 89, 132 zur Schutz­ pflicht des Gesetzgebers.

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2. Kap.: Staat und Finanzmärkte

Verantwortung sogar eine Pflicht zu einem bestimmten Tätigwerden treffen. Schutzpflichten sind Aufgaben, die dem Staat zugeordnet sind. Eine staat­ liche Verantwortung zur Erfüllung der Schutzpflicht ist daher folgerichtig. Trifft den Staat eine Verantwortung für die Finanzmarktstabilität, könnte sich daher zugleich aus dieser also eine Pflicht zur Aufgabenerfüllung ergeben. Der Verantwortungsbegriff wird im Grundgesetz an acht Stellen ge­ braucht.90 Aus staatsrechtlicher Sicht interessant ist die Verwendung in den Artt. 20a, 23 und 28 GG. Art. 28 Abs. 2 GG spricht von der Verantwortung der Gemeinde für die eigenen örtlichen Angelegenheiten. Eine Nähe des Verantwortungsbegriffs zu öffentlichen Aufgaben wird deutlich. Die Staatszielbestimmung Art. 20a GG legt den Umweltschutz in die Verantwortung des Staates. Es wird also auch klar, dass eine Verantwortung aus dem Bestehen eines Staatszieles gefolgert werden kann. Die weitere Verwendung des Begriffs in den Art. 46 Abs. 1 und 65 Satz 1 GG sowie in der Präambel spielt dagegen eher auf den strafrecht­ lichen bzw. politischen Sinngehalt des Verantwortungsbegriffs an. Dies spricht nicht gegen das bisher gefundene Ergebnis der Nähe des Verantwor­ tungsbegriffs zu den staatlichen Aufgaben, sondern zeigt die Bedeutungsviel­ falt, die dem Begriff in verschiedenen rechtlichen Kontexten zukommen kann. Zudem gab es einen Vorschlag der Sachverständigenkommission des BMI und BMJ im Jahr 1983 über eine Neufassung von Art. 12 Abs. 2 GG, in dem der Verantwortungsbegriff Verwendung finden sollte. Danach sollten „Staat und Gesellschaft die Verantwortung für Arbeit und Ausbildung tragen“.91 Was unter Verantwortung in diesem Kontext zu verstehen sein sollte, hat die Sachverständigenkommission nicht weiter ausgeführt. Aus der Tatsache, dass eine alternative Formulierung den Begriff Staatsaufgabe92 verwendete, las­ sen sich Schlüsse auf das Verständnis der Sachverständigen ziehen. Verant­ wortung und Staatsaufgabe sind Begriffe mit sehr ähnlichem, aber nicht identischem Gehalt. Der Staat hat sich mit einem angesprochenen Rechtsoder Themengebiet zu befassen, und zwar mit allen ihm zur Verfügung ste­ henden Mitteln. Zusammenfassend lässt sich daher feststellen, dass das Be­ stehen einer staatlichen Verantwortung zum einen aus dem Bestehen eines übergeordneten Staatszieles folgen kann, wie dies bei Art. 20a GG der Fall 90  Artt. 20a, 23 Abs. 5 Satz 2 Hs. 2 und Abs. 6 Satz 2 Hs. 2, 28 Abs. 2 Satz 1, 46 Abs. 1 Satz 1, 65 Satz 1, 143a Abs. 1 Satz 3, 143b Abs. 1 Satz 1; in Art. 34 GG steht „Verantwortlichkeit“. 91  BMI/BMJ, Staatszielbestimmungen, Gesetzgebungsaufträge, S. 67, zum einen der Formulierungsvorschlag in Rn. 88, zum anderen verwendet auch der Alternativ­ vorschlag in Rn. 90 den Begriff der Verantwortung. 92  BMI/BMJ, Staatszielbestimmungen, Gesetzgebungsaufträge, S. 67 Rn. 89.



C. Der Begriff der staatlichen Verantwortung91

ist. Zum anderen besteht ein enger Zusammenhang mit den Staatsaufgaben. Im Wesentlichen drücken beide Termini aus, dass sich der Staat einer Tätig­ keit anzunehmen hat und somit staatliches Handeln erforderlich ist. Der Be­ griff der staatlichen Verantwortung geht aber insofern über die Staatsziele und die Staatsaufgabe hinaus, als durch die Abstufung von Verantwortungs­ bereichen die Ermittlung der unterschiedlichen Grade der Aufgabenerfüllung zwischen Staat und Gesellschaft möglich wird. Peter Saladin vertritt eine ähnliche Konzeption, er versteht Staatsaufgaben als Konkretisierung von staatlicher Verantwortung.93 Diese Auffassung wird eingebettet in das System der Verantwortung als grundlegendes Staatsprinzip des modernen westlichen Rechtsstaates. Diese Konzeption steht der hier dar­ gestellten sehr nahe. Wenn die Aufgabe die Konkretisierung der Verantwor­ tung ist, wird ein ähnliches Verhältnis aufgebaut wie das zwischen Staatszie­ len und Staatsaufgaben. Durch den aufgezeigten Zusammenhang der Begriffe wird auch klar, dass eine staatliche Verantwortung für ein Themengebiet nicht aus dem Nichts zu folgern ist, sondern normativer Anknüpfungspunkte in der Verfassung bedarf. Auch wenn also eine staatliche Verantwortung für die Finanzmarktstabilität ausgerufen wird, bedarf dies einer Untersuchung, wie das Verfassungsrecht die Finanzmarktstabilität bewertet und ob diese von solcher Bedeutung ist, dass das Bestehen einer staatlichen Verantwortung gerechtfertigt ist. f) Finanzmarktstabilität als öffentliches Gut Finanzmarktstabilität kommt allen Marktteilnehmern zugute, so dass es sich bei ihr nach der in der Wirtschaftswissenschaft etablierten Definition um ein sog. öffentliches Gut (oder auch Kollegtivgut) handelt.94 Öffentliche Gü­ ter werden in der Regel durch den Staat gewährleistet und durch ihn ­finanziert.95 Für die juristische Begründung eines Gemeinwohlbelanges ist 93  Saladin, Verantwortung, S. 77 ff.; ähnlich schon Scheuner, FS Gebhard Müller, S.  379 ff. 94  F. Becker, ZG 2009, S. 123, 126; Danzmann, Das Verhältnis von Geldpolitik, Fiskalpolitik und Finanzstabilitätspolitik, S. 99 f.; Egidy, Finanzkrise und Verfassung, S.  91 f.; Klingenbrunn, Produktverbote zur Gewährleistung von Finanzmarktstabilität, S.  31 ff.; Radtke, Liquiditätshilfen, S. 61 f.; Stasch, Lender of Last Resort, S. 81 f.; so auch Lastra, in: Moloney/Ferran/Payne (Ed.), The Oxford Handbook of Financial Regulation, S. 309, 313: „Financial Stability as a global public good“, die zudem annimmt, dass der Staat dieses Gut gewährleisten muss; Danzmann, Das Verhältnis von Geldpolitik, Fiskalpolitik und Finanzstabilitätspolitik, S. 99 f.; zu öffentlichen Gütern aus juristischer Sicht Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, S. 239 ff. 95  Towfigh/Petersen, Ökonomische Methoden im Recht, S. 110, die beispielhaft die Gewährleistung äußerer und innerer Sicherheit anführen.

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2. Kap.: Staat und Finanzmärkte

dies insofern interessant, als dass dies bei der Bestimmung, ob die Finanz­ marktstabilität diesem dient, helfen kann. Für das Verhältnis von Staat und Finanzmärkten ist es von Bedeutung, da klar wird, dass die Finanzmarkt­ stabilität nicht allein eine private Angelegenheit ist, die die Privatwirtschaft selbst herzustellen hat, sondern eine Kooperation zwischen Staat und Priva­ ten erfordert. Über das Free-Rider-Dilemma (Trittbrettfahrerproblem) oder sog. Externalitäten vermittelt der Begriff weiter eine Legitimation für staatli­ ches Eingreifen im Falle von Marktversagens. Das Free-Rider-Dilemma be­ schreibt kurzgefasst das freie Nutzen von öffentlichen Gütern durch einzelne Wirtschaftssubjekte. Unter Externalitäten fasst die Wirtschaftswissenschaft Situationen, bei durch das Verhalten eines Marktteilnehmers Kosten für Dritte entstehen.96 Versteht man die Finanzmarktstabilität als öffentliches Gut, bedeutet dies, dass die Teilnehmer des Finanzsystems an dieser partizi­ pieren und profitieren, selbst aber nichts beitragen, oder im schlimmsten Fall destabilisierend wirken. In diesem Fall kann ein Marktversagen konstatiert werden, dass im Interesse der Allgemeinheit staatliche Aufgaben legitimiert. Nach der klassischen Theorie der politischen Ökonomie, die nach den Auf­ gaben des Staates fragt, muss der Staat in jedem Fall tätig werden, in dem die Märkte versagen.97 Demzufolge sei eine der drei „geborenen“ Staatsauf­ gaben die Erhaltung der gesamtwirtschaftlichen Stabilität.98 Den ökonomischen Begriff des öffentlichen Gutes für die juristische Be­ gründung einer Staatsaufgabe alleine heranzuziehen, kann aber dennoch nicht genügen. Dass sich die Finanzmarktstabilität aus der Anknüpfung an das öffentliche Interesse als Staatsaufgabe etablieren lässt, wurde bereits er­ wähnt. Es sagt aber nichts über den verfassungsrechtlichen Rang aus. „Übersetzt“ in juristische Kategorien, bedeutet die Definition nicht, dass es gerechtfertigt ist, daraus eine Aufgabe des Staates herzuleiten. Zugleich kann nichts über den Rang des einzelnen Gutes ausgesagt werden, außer dass es von hoher Quantität ist. Nichts ausgesagt wird dagegen zu seiner Qualität im Vergleich mit Grundrechten, in die durch staatliche Maßnahmen zur Her­ stellung und Sicherung dieses Gutes eingegriffen wird. Insgesamt hilft die Einordnung als öffentliches Gut daher bei der Diskussion um eine staatliche Verantwortung kaum weiter.

96  Scheufen,

Angewandte Mikroökonomie und Wirtschaftspolitik, S. 249 f. Angewandte Mikroökonomie und Wirtschaftspolitik, S. 235 f.; Towfigh/Petersen, Ökonomische Methoden im Recht, S. 164. 98  Towfigh/Petersen, Ökonomische Methoden im Recht, S. 164 f. 97  Scheufen,



C. Der Begriff der staatlichen Verantwortung93

g) Zusammenfassung und Zwischenergebnis Die Bestimmung des verfassungsrechtlichen Ranges der Finanzmarktstabi­ lität ist im Hinblick auf den weiteren Gang dieser Arbeit nicht allein zur Bestimmung von Regulierungsversäumnissen einzelner Staaten interessant, stellt also keine reine Vergangenheitsbewältigung dar, sondern sie ist auch im Hinblick auf vorzunehmende Regulierungsmaßnahmen, also im Hinblick auf die Prävention vor zukünftigen Finanzkrisen und damit gesamtwirtschaft­ licher Instabilität von Bedeutung. Wie bereits erwähnt, ist die Bestimmung auch für zukünftige Rechtsetzung auf den Finanzmärkten relevant. Stünde den Regulierungsmaßnahmen ein höheres Staatsziel, Staatsaufgabe oder Ver­ antwortung zur Seite, ließe sich argumentieren, dass auf der Ebene der Rechtfertigung der hoheitlichen Maßnahme ein höheres Gewicht zuzubilligen ist. So argumentiert das Bundesverfassungsgericht, dass dem Staat nicht die notwendigen Mittel zur Erfüllung einer Aufgabe verwehrt werden könnten.99 Dem ist in seiner Endgültigkeit nicht zuzustimmen, da es keine unbeschränk­ ten Mittel gibt.100 Aber ein Staatsziel oder eine staatliche Verantwortung ha­ ben im Rahmen einer vorzunehmenden Abwägung mit den beschränkten Rechten ein ungleich höheres Gewicht als ein einzelner Gemeinwohlbelang von Verfassungsrang, der ansonsten im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprü­ fung als legitimes Ziel eines Grundrechtseingriffes genannt wird. Zugleich hat die Einordnung als Staatsziel oder das Bestehen einer staat­ lichen Verantwortung eine Legitimationsfunktion für das staatliche Handeln. D. h., der Staat, der rechtsetzend zur Erfüllung eines Staatszieles tätig wird, kann sich zur Rechtfertigung neuer Normen auf dieses stützen.101 Die Unter­ suchung der Begriffe hat ergeben, dass es bei Staatszielen oder einer Verant­ wortung letztlich um eine Rechtspflicht zum Tätigwerden geht. Ob der Be­ griff des Staatszieles, der Staatsaufgabe oder der Verantwortung benutzt wird, ändert wenig an den materiellen Anforderungen, die an den Staat ge­ stellt werden. Wie gerade herausgearbeitet, geht es materiell zum einen um eine Verpflichtung zu legislatorischem Tätigwerden mit dem Ziel, Stabilität des Finanzsystems herzustellen und zu gewährleisten. Zum anderen implizie­ ren alle Begriffe ein deutlich erhöhtes Gewicht in der Abwägung gegenüber den Rechten von Regulierten, wenn der Staat legislatorisch tätig geworden ist. Besser ist der Begriff der Verantwortung allerdings darin, Verpflichtungen, die von Staat und Privaten nur gemeinsam erfüllt werden können, in ihrem Verantwortungsgrad abzuschichten. Diese gemeinsame Aufgabenerfüllung 99  BVerfGE

30, 1, 20. Zweck heiligt nicht die Mittel“, vgl. auch Bull, Staatsaufgaben, S. 133. 101  Vgl. F. Reimer, Verfassungsprinzipien, S.  310 f. 100  „Der

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2. Kap.: Staat und Finanzmärkte

scheint gerade auf den Finanzmärkten ein erfolgversprechender Weg, um Stabilität zu erreichen. Anders als z. B. haushaltspolitische Stabilität, die vom Staat durch normative Vorgaben, vor allem an das Parlament als Inhaber der Budgethoheit, erreicht werden kann, ist dies auf den Finanzmärkten durch die Verwobenheit mit dem Staat nicht so einfach möglich. So sieht auch der auf europäischer Ebene geschaffene ESM eine Gläubigerbeteiligung im Falle von Insolvenzkrisen vor, für Liquiditätskrisen ist eine solche Gläubigerbetei­ ligung zumindest zu prüfen.102 Die Frage der Verantwortung ist für den Staat Bundesrepublik Deutschland nicht schon deswegen hinfällig, weil er Aufgaben an die Europäische Union abgegeben hat und nationalen Maßnahmen in diesem Verbund bei der welt­ weiten Vernetzung der Finanzmärkte natürliche Grenzen gesetzt sind. Die letzte Krise hat gezeigt, dass Maßnahmen nicht nur gemeinsam im Verbund mit anderen Staaten beschlossen werden, sondern gerade die unmittelbare Reaktion durch den einzelnen Staat erfolgen muss. So kommt Kaufhold in ihrer Untersuchung zur Abwehr von Systemrisiken durch eine Systemauf­ sicht zu dem Ergebnis, dass Nationalstaaten den „größtmöglichen System­ ausschnitt“ zur Abwehr der Risiken darstellen.103 Ob der Nationalstaat wirk­ lich der größtmögliche Ausschnitt ist, lässt sich hinterfragen, dennoch zeigt dies, dass nationale Regelungen nicht von vornherein wegen ihrer begrenzten Wirkkraft keinerlei Untersuchung bedürften. Nur die einzelnen Staaten haben die Haushaltsmittel, um effektive Gegenmaßnahmen in Form von Rettungs­ paketen zu ergreifen.104 Auch die nationale Aufsicht über Finanzinstitutionen behält Bedeutung, da Aufsicht und Regulierung Kernbereiche staatlicher Souveränität berühren.105 Dass die Europäische Union mit den ihr zur Verfü­ gung stehenden Mitteln tätig wird, ändert daran nichts.

II. Finanzmarktstabilität als Staatsziel Untersuchungsgegenstand sind die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Stabilität der Finanzmärkte. Zu diesem Zweck ist zunächst das Verhältnis 102  Vgl.

auch Erwägungsgrund Nr. 12 des ESM-Vertrages. Systemaufsicht, S. 288 f., die an anderer Stelle, in der ZG 2017, S. 21, 34, aber auch die Frage stellt, ob eine auf die EU begrenzte Bankenunion die Bankenaufsicht effektiv übernehmen kann; vgl. ferner Egidy, Finanzkrise und Verfas­ sung, S. 19, 79 ff. und Schorkopf, VVDStRL 71 (2012), S. 182, 192, die beide die Nationalstaaten als Verantwortliche der Krisenbewältigung sehen. 104  Ohler, DVBl. 2011, S. 1061, 1065 f.; vgl. auch Abelshauser, ZSE 2008, S. 565, 574 f.; Müller-Graff, EWS 2009, S. 201, 208. 105  van Aaken, Transnationales Kooperationsrecht in der Finanzmarktaufsicht, in: Möllers/Voßkuhle/Walter (Hrsg.), S. 219, 223, 257; Abelshauser, ZSE 2008, S. 565, 575; Höfling, Gutachten F zum 68. Deutschen Juristentag, S. 46. 103  Kaufhold,



C. Der Begriff der staatlichen Verantwortung95

von Staat und Finanzsystem aufzuzeigen, um aus diesem Schlüsse für die weitere Untersuchung zu ziehen. Es ist daher zu untersuchen, ob aus dem Abhängigkeitsverhältnis zwischen Staat und Finanzmärkten eine Verantwortung für diese folgt. 1. Das Verhältnis von Staat und Finanzmärkten a) Gegenseitige Abhängigkeit Finanzmärkte und der Staat stehen in einem gegenseitigen Abhängigkeits­ verhältnis.106 Dies gilt gerade in Krisenzeiten, so dass es gerechtfertigt, ist eine schwere Finanzkrise mit einer Staatskrise zu vergleichen.107 Dies gibt auch Anlass, das Verhältnis des Staatsrechts zu Finanzmärkten genauer zu untersuchen. Dass die Verluste bei Bank- und Finanzkrisen verallgemeinert werden und durch den Steuerzahler zu tragen sind, ist kein Phänomen nur der letzten Finanzkrise, sondern ist typisch für nahezu alle historischen Ban­ kenkrisen. Wenngleich die Verbindung zwischen Staat und Finanzmärkten offenkun­ dig erscheint, ist das Ausmaß der Interdependenzen nicht so offensichtlich. Zentralbanken weltweit unterschätzen die Wirkkraft der Finanzmärkte und deren Auswirkungen auf die Ökonomie und auf die Staaten. Übersehen wurde, wie stark nationale Ökonomien mit dem US-amerikanischen Immobi­ lien- und Hypothekenmarkt verbunden waren und wie schnell sich eine Krise weltweit ausbreiten würde. Keine Zentralbank sah voraus, was nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers am 15. September 2008 passieren würde108, somit fehlte es an unmittelbaren Maßnahmen, welche die Verbrei­ tung hätten eindämmen können. Finanzmarktkrisen haben unmittelbare und mittelbare Folgen. Sie lösen zunächst unmittelbare Folgen für die Volkswirt­ schaft mehrerer Länder aus, mittelbare Folgen entstehen durch die Rettung von Bankinstituten, was weitere Folgen für die Staatsverschuldung zeitigt. Als Drittes haben Finanzmarktkrisen Auswirkungen für den Einzelnen, die aus den unmittelbaren und mittelbaren Folgen resultieren. 106  Herrmann, in: Kadelbach (Hrsg.), Nach der Finanzkrise, S. 79, 82 f.; P. Kirchhof, NJW 2013, S. 1, 2, spricht vom Verlust eines Stücks staatlicher Souveränität; Ohler, Staat und Markt als interdependente Systeme, in: Hochhuth (Hrsg.), Rückzug des Staates und Freiheit des Einzelnen, S. 151, 176; Siekmann, Die Finanzmarktauf­ sicht in der Krise, in: Baums (Hrsg.), S. 497, 522; ferner bereits oben S. 53 ff. 107  Korioth, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR III, § 44 Rn. 1; Schorkopf, VVDStRL 71 (2011), S. 182, 190; R. Schmidt, in: Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. XI, § 252 Rn. 1. 108  Adam Tooze, Crashed, S. 9.

96

2. Kap.: Staat und Finanzmärkte

Finanzmärkte funktionieren nur dann, wenn der Staat durch Rechtsetzung die erforderlichen Mittel bereitstellt, die Verhältnisse der Akteure untereinan­ der regelt und hierdurch das nötige Vertrauen in die Märkte schafft.109 Der Staat ist auf Finanzmärkte angewiesen, da diese für das Funktionieren einer kapitalistisch strukturierten Gesellschaft notwendig sind. Daher haben die Finanzmärkte und deren wichtigste Akteure bedeutenden Einfluss auf wirt­ schaftspolitische Entscheidungen einzelner Staaten und Staatengemeinschaf­ ten.110 Durch die Bereitstellung von Kapital im Rahmen ihrer Bereitstellungs­ funktion fördern die Finanzmärkte die Funktionsfähigkeit und daraus fol­ gend – volkswirtschaftlich von essentieller Bedeutung – die Investitionsfreu­ digkeit der Wirtschaft.111 Auch der Staat nimmt Kapital auf den Finanzmärk­ ten auf. Durch die Ausgabe von Staatsanleihen, die auf den Finanzmärkten gehandelt und erworben werden, können sich Staaten schnell kapitalisieren. Staatsanleihen geben durch ihren Preis am Sekundärmarkt das Signal für den Zinssatz, den der Staat am Primärmarkt anbieten muss, um seine Anleihe gewinnbringend zu platzieren.112 Die Zahlungsfähigkeit eines Staates hängt daher davon ab, zu welchen Zinskonditionen er Staatsanleihen am Primär­ markt platzieren kann.113 Die Staatsanleihen werden auch von Banken erworben und gehalten. Sie werden regelmäßig als risikolose Investition bewertet, ein tatsächlich beste­ hendes Ausfallrisiko wird nicht in die Kalkulation einbezogen, so dass an der korrekten Bewertung Zweifel bleiben. Der Staat unterwirft sich durch Aus­ gabe von Staatsanleihen den Gesetzen der Märkte. Die Marktbewertung ist aber nicht immer rational, was oben schon angesprochen wurde. Das Bild eines stets rational handelnden Homo Oeconomicus gilt auch auf den Finanz­ märkten nicht. Es kommt zu Herdenverhalten, Über- und Unterschätzen von Risiken sowie plötzlichen Neubewertungen bei unerwarteten Ereignissen.114 Das Halten von Staatsanleihen durch Banken führt also zu Verflechtungen 109  Kaufhold, Systemaufsicht, S.  185 f. m. w. N.; Schorkopf, VVDStRL 71 (2012), S. 183, 198; einen weiteren Aspekt nennt Herrmann, Währungshoheit, S. 101, der darauf hinweist, dass die internationalen Finanzmärkte nur existieren, weil die Staa­ ten grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr zulassen. 110  Herrmann, Währungshoheit, S. 101. 111  Heun, JZ 2012, S. 235, 237; Kaufhold, Systemaufsicht, S. 186 f.; Ohler, DVBl. 2011, S. 1061, 1063. Die Verbindung zwischen Finanzmärkten und der Unterneh­ mensfinanzierung stellte bereits der Segre-Bericht, in Auftrag gegeben durch die Kommission der EWG, dar. 112  Sester, in: Möllers/Zeitler (Hrsg.), Europa als Rechtsgemeinschaft, S. 175, 177. 113  Sester, in: ebd., S. 175, 177. 114  Vgl. Aschinger, Finanz- und Währungskrisen, S. 185 f.; Ohler, in: Nachhaltige Finanzstrukturen im Bundesstaat, S. 207, 214 f.



C. Der Begriff der staatlichen Verantwortung97

zwischen Staaten und dem Finanzmarkt, die ein weiteres systemisches Risiko begründen, das sich im Fall des Ausfalls von Staatsanleihen verwirklicht.115 Grundsätzlich gilt: Fällt eine Staatsanleihe aus, droht die Verschuldung des Inhabers. Ist Inhaber der Anleihe eine systemrelevante Bank, droht ihr Kol­ laps, und damit zugleich, nach den Gesetzen der derzeitigen Finanzmärkte, der Kollaps des Bankensystems. Die fatale Verbindung von Staaten und Banken wird auch als Staaten-Banken-Nexus oder – plakativer – als diabolic loop bezeichnet. Dies zeigt die grundlegend bestehende Verflechtung der Komplexe Staat und Finanzmärkte. Nach der Finanzmarktkrise hat sich die Möglichkeit ge­ genseitiger Einflussnahme zwischen Staaten und Banken noch weiter ver­ stärkt. Durch die Rettungsmaßnahmen sind Staaten nun teilweise an den Banken beteiligt, so dass der Staat die Möglichkeit hat, auf die Geschäfts­ politik der Institute Einfluss zu nehmen.116 Umgekehrt muss der Staat bei seinen Entscheidungen auf die Belange der Banken Rücksicht nehmen, um deren Verschuldung nicht noch weiter zu erhöhen, da dies schlussendlich zu einer weiteren Belastung des Staatshaushaltes führen würde, die gerade durch die Rettung vermieden werden sollte. Weiterhin besteht die Gefahr eines moral hazard117, nunmehr der Hand­ lungsträger des Staates, wenn diese darauf vertrauen, dass die EZB in ihrer Funktion als lender of last resort Staatsanleihen bedrohter Staaten aufkaufen wird118 und damit den Staat vor der Zahlungsunfähigkeit rettet. Illustrieren lässt sich die Verbindung vor allem an den Handlungen der Zentralbanken. Als der Notenbankchef der FED, Ben Bernanke, im Mai 2013 ankündigte, dass die Zentralbank plante, ihr Quantitative Easing Programme zum Aufkauf von Staatsanleihen bis Mitte des Jahres 2014 zu beenden, löste dies Verwerfungen auf den Finanzmärkten weltweit aus (Taper Tantrum). Wohlgemerkt handelte es sich dabei lediglich um eine Ankündigung. In Zei­ ten, in denen Ankündigungen solche Folgen auslösen können, müssen Staa­ ten bei nahezu allen Handlungen Rücksicht auf die Entwicklungen auf den Märkten nehmen.

115  Hild,

Die Staatsschuldenkrise in der EWU, S. 82. Gutachten G zum 68. Deutschen Juristentag 2010, S. 12. 117  Siehe zum Begriff des moral hazard S. 31. 118  Acharya/Richardson, Restoring Financial Stability, S. 23; Pflock, Europäische Bankenregulierung und das „Too big to fail-Dilemma“, S. 9 f.; Sester, in: Möllers/ Zeitler (Hrsg.), Europa als Rechtsgemeinschaft, S. 175, 178 erinnert daran, wie im Jahr 2011 die damalige italienische Regierung unter Silvio Berlusconi, nachdem die EZB angefangen hatte, Staatsanleihen aufzukaufen, bereits beschlossene Sparpro­ gramme wieder von der Agenda nahm. 116  Zimmer,

98

2. Kap.: Staat und Finanzmärkte

b) Die Verschärfung der Interdependenzen durch große Institute Die Banken sind sich dieser Vernetzung bewusst, was zu einer höheren Risikofreudigkeit führt. Die erhöhte Risikofreudigkeit im Bewusstsein der eigenen Systemrelevanz wird als moral hazard beschrieben. Durch den Be­ griff wird ausgedrückt, dass sich Individuen aufgrund ökonomischer Fehl­ anreize irrational, verantwortungslos und damit risikofreudiger verhalten. Das Dilemma kommt in der bereits beschriebenen too-big-to-fail-Proble­ matik zum Ausdruck. Gerät ein großes und international vernetztes Institut in Schieflage, kann es erwarten, gerettet zu werden.119 Historisch kann dies nicht nur an der letzten Finanzkrise nachvollzogen werden, sondern schon an Bankenkrisen in den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts, die entstanden, nachdem Banken zu hohe Risiken eingegangen waren.120 Staaten fürchten die Insolvenz eines Instituts mehr als die Kosten der Ret­ tung, da ansonsten wegen des Dominoeffekts mit dem Zusammenbruch des gesamten Finanzmarktes weit schlimmere Folgen drohen. Als die US-Regie­ rung im September 2008 entschied, Lehman Brothers nicht zu retten, löste dies die weltweite Krise erst aus. Dies führt die Abhängigkeit des Staates von den modernen Finanzmärkten eindrucksvoll vor Augen. Ein Merkmal dysfunktionaler Finanzmärkte wird so offenbar. Systemrelevante Finanzinsti­ tute brauchen sich nach den Erfahrungen der Lehman Pleite wenig Sorgen zu machen, in einer Krise vom Staat im Stich gelassen zu werden. Der Staat schafft unbeabsichtigt einen Anreiz für Institute, in die Systemrelevanz ­hineinzuwachsen, um höhere Risiken eingehen zu können. Durch diese kön­ nen zwar Gewinne maximiert werden, dies birgt aber zugleich das Risiko hoher Verluste. Die systemrelevanten Institute kommen durch ihre schiere Größe und starke Vernetzung in den Genuss von Vorteilen, die ihnen in ei­ nem funktionierenden Wettbewerbssystem und funktionierenden Finanzmarkt nicht zukommen sollten.121 Hinzu kommt, dass nicht einmal nur systemrele­ vante Banken mit staatlicher Hilfe gerettet werden, sondern auch kleinere Banken so hohe Risiken für die Gesamtwirtschaft bergen (siehe den auf S. 21 geschilderten Fall in Italien), dass von staatlicher Seite finanzielle Hil­ fen gewährt werden. Die Problematik systemrelevanter Banken hat sich seit 2008 nicht geän­ dert. Die sechs größten US-amerikanischen Banken J. P. Morgan, Goldman Sachs, Bank of America, Citigroup, Wells Fargo und Morgan Stanley waren 119  Hemmelgarn,

Steuern und Abgaben im Finanzsektor, S. 15. Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Finanzsystems, in: Obst/Hint­ ner, Geld-, Bank- und Börsenwesen, S. 18. 121  Vgl. Zimmer, Gutachten G zum 68. Deutschen Juristentag 2010, S. 13. 120  Hellwig,



C. Der Begriff der staatlichen Verantwortung99

2013 um 37 % gegenüber 2008 gewachsen.122 Die Tendenz ist weiterhin stei­ gend. Auch europäische Banken bleiben systemrelevant. Rettungsmaßnahmen für systemrelevante Institute belasten den Staatshaus­ halt in einem so großen Maße, dass sie noch über Jahre hinaus spürbar sind. Dies führt zum nächsten Punkt, nämlich der Staatsverschuldung. c) Staatsverschuldung und Finanzmärkte Die Abhängigkeit von Staat und Finanzmärkten zeigt sich bei den Staats­ schulden in besonderem Maße. Der Staat ist zur Deckung seines Finanz­ bedarfes in der Regel auf Kreditaufnahme angewiesen. Die Kreditaufnahme erfolgt auf den Finanzmärkten, d. h. auch, dass jährlich ein erheblicher Betrag an Zinsen an die Finanzmärkte abgeführt wird. Dies sind jährlich bis zu 40 Milliarden Euro. Problematisch ist nun zunächst die Höhe des Zinssatzes. Erhöhungen des Zinssatzes von nur einem Prozent können einen Haushalt belasten. So trifft bei einer Kreditaufnahme in Höhe von 10 Milliarden Euro eine Zinserhöhung von einem Prozent den Haushalt mit 100 Millionen Euro Mehraufwand.123 Das Risiko des Zinssatzes trifft allerdings nicht nur Staa­ ten, sondern jeden, der sich auf den Finanzmärkten Geld leiht. Die Staatsverschuldung hängt wie die Finanzmarktstabilität eng mit dem Begriff des Vertrauens zusammen. Wie geschildert, löste nach dem Zusam­ menbruch des Immobilienmarkts das mangelnde Vertrauen der Geldgeber untereinander eine Vertrauenskrise auf dem Interbankenmarkt aus, welche diesen zusammenbrechen ließ. Im Jahr 2009 löste die Vertrauenskrise auf dem Interbankenmarkt eine Vertrauenskrise hinsichtlich der Staatsverschul­ dung aus.124 So wie sich steigende Staatsverschuldung negativ auf die Fi­ nanzmärkte auswirkt, wirken sich negative Entwicklungen auf den Finanz­ märkten negativ, d. h. erhöhend, auf die Staatsverschuldung aus. Dies gilt auch, wenn Rettungsmaßnahmen ausbleiben, da durch die verminderte Wirt­ schaftskraft die Steuereinnahmen und damit die Staatseinnahmen sinken. Die besondere Abhängigkeit von Staaten und deren Ausmaß zeigen sich anhand der Euro- und Staatsschuldenkrise. Griechenland wurde gerettet, da­

122  Adam

Tooze, Crashed, S. 316. Staatsfinanzen und Finanzmarktrisiken, in: Hochhuth (Hrsg.), Rückzug des Staates und Freiheit des Einzelnen, S. 179, 183; weitere Berechnungen bei P. Kirchhof, Deutschland im Schuldensog, S. 61 f.; vgl. zum Zusammenhang zwi­ schen Staatsschulden und Finanzmärkten auch ders., in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. VIII, § 169 Rn. 31 ff. 124  Adam Tooze, Crashed, S. 291. 123  Kube,

100

2. Kap.: Staat und Finanzmärkte

mit das europäische Finanzsystem nicht zusammenbricht.125 Europäische Banken waren in Griechenland mit insgesamt dreistelligen Milliardenbeträgen engagiert.126 Insgesamt hatten Banken Auslandskredite in Höhe von 2,5 Billi­ onen US-Dollar an Griechenland vergeben, für deutsche und französische Banken standen jeweils ca. 500 Milliarden US-Dollar auf dem Spiel.127 Ein Zusammenbruch Griechenlands hätte zum Zusammenbruch der Banken ge­ führt, die als systemrelevante Institute nach Ansicht der anderen Euro-Staaten nicht zusammenbrechen durften, um einen Dominoeffekt zu verhindern.128 Ein Dilemma, das auch durch Regulierung und Aufsicht im Rahmen der staat­ lichen Möglichkeiten kaum mehr in den Griff zu bekommen sein wird. d) Die Rolle der Ratingagenturen und deren Ratings Die Abhängigkeit verstärkt sich durch das System der Ratingagenturen. Ratingagenturen nehmen an sich im System der Finanzmärkte eine berech­ tigte Stellung als Intermediär zwischen Anleger und Emittent ein. Die Be­ wertung von Unternehmen und Anlagen kann von einzelnen Marktteilneh­ mern im globalisierten Finanzmarkt nicht selber mit verhältnismäßigem Aufwand und Kosten bewältigt werden, so dass die Agenturen sogar notwen­ dige Bedingung für die Funktionsfähigkeit der globalisierten Finanzmärkte sind.129 Ratingagenturen sind private Unternehmen, die durch ihre Ratings Informationsasymmetrien zwischen Käufer und Verkäufer von Wertpapieren ausgleichen sollen.130 Marktversagen zeigt sich bei den Ratingagenturen ­dadurch, dass sie trotz ihrer Rechtsform als private Unternehmen nicht für die von ihnen verfassten Ratings haften.131 Zudem bestehen Interessenkon­ flikte, da diejenigen, die für ein Rating bezahlen, auch diejenigen sind, deren Finanzprodukt bewertet wird (sog. „Issuer pays“-Modell).132 Das heißt, 125  Murswiek, in: Hochhut (Hrsg.), Rückzug des Staates und Freiheit des Einzel­ nen, S. 203, 215. 126  Murswiek, in: Hochhut (Hrsg.), Rückzug des Staates und Freiheit des Einzel­ nen, S. 203, 215. 127  Adam Tooze, Crashed, S. 326 f. 128  Murswiek, in: Hochhuth (Hrsg.), Rückzug des Staates und Freiheit des Einzel­ nen, S. 203, 214 ff.; Tuori/Tuori, The Eurozone Crisis, S. 89; Ohler, DVBl. 2011, S. 1061, 1064; Paulus, in: Kadelbach (Hrsg.), Nach der Finanzkrise, S. 105, 114. 129  Blaurock, JZ 2012, S. 226, 229; E. Reimer, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. XI, § 250 Rn. 80 spricht von einer „Scharnierfunktion“. 130  F. Becker, DB 2010, S. 941, 941; E. Reimer, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. XI, § 250 Rn. 80 f. 131  E. Reimer, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. XI, § 250 Rn. 81 m. w. N.; dies beruhte darauf, dass die Ratings als „Meinungsäußerung“ durch das First Amendment geschützt waren, siehe Amort, EuR 2013, S. 272, 273 f. 132  Amort, EuR 2013, S. 272, 273.



C. Der Begriff der staatlichen Verantwortung101

möchte eine emittierende Bank ein Finanzprodukt durch eine Ratingagentur bewertet haben, ist sie selbst es, die das Rating beantragt und bezahlt. Eine hoheitliche Kontrolle ist nicht dazwischengeschaltet. Die Agenturen bewerten sowohl Banken als auch Staaten und damit so­ wohl den Kapitalgeber als auch den Kapitalnehmer. Ein Interessenskonflikt kann bei einer Agentur kann daher nicht ausgeschlossen werden. Das Rating eines Instituts oder eines Staates ist für dessen Teilnahme an den Finanz­ märkten essentiell. So kann in den USA ein Institut nur dann Zugang zum Kapitalmarkt erlangen, wenn durch eine Ratingagentur die Kreditwürdigkeit festgestellt wurde. Die staatlichen Aufsichtsbehörden in den USA, aber auch in Japan oder der EU, stützen sich bei ihrer Bewertung hinsichtlich Investi­ tionsrestriktionen und Mindestkapitalanforderungen auf diese Ratings.133 Die Bedeutung der Ratings wuchs mit den erhöhten Eigenkapitalanforderungen an Banken nach der Finanzmarktkrise noch an.134 Im Bereich der Finanz­ marktaufsicht arbeiten Staat und Ratingagenturen damit mittlerweile Hand in Hand. Hiermit ist ein weiteres Feld staatlicher Abhängigkeit von Institutio­ nen des Finanzsystems aufgezeigt. Auf der anderen Seite müssen sich Staaten selbst auch dem Ratingsystem unterwerfen, um zu günstigen Konditionen Kapitalmittel auf dem Finanz­ markt aufnehmen zu können.135 Das Rating bildet sich aus mehreren Faktoren wie der politischen Stabilität, den staatlichen Einnahmen und Aus­gaben, der Staatsverschuldung, dem Steuersystem und dem Arbeitsrecht.136 Ratingagen­ turen sind aber weder Hoheitsträger noch unterstehen sie einer besonderen staatlichen Aufsicht. Sie sind private Unternehmen, auf die der Staat keinen Einfluss ausüben kann. Hinzu kommt, dass die zwei großen Ratingagenturen Moody’s und Standard & Poor’s US-amerikanische Unternehmen sind, auf die EU-Staaten noch weniger Einfluss haben. Die in französischer Trägerschaft stehende Agentur Fitch steht mit einem Marktanteil von 15 % deutlich darun­ ter. Die Gründung einer europäischen Ratingagentur hat bisher die Marktver­ hältnisse nicht grundlegend verändert, da die Anforderungen der europäischen Behörden den Markteintritt für solche erschweren.137 133  F. Becker, ZG 2009, S. 123, 135; Höfling, Gutachten F zum 68. Deutschen Juristentag, S. 40 f.; kritisch zu dieser Koppelung an die Ratings Calliess, VVDStRL 71 (2011), S. 113, 136. 134  So F. Becker, DB 2010, S. 941, 943. 135  Kube, Staatsfinanzen und Finanzmarktrisiken, in: Hochhuth (Hrsg.), Rückzug des Staates und Freiheit des Einzelnen, S. 179, 182; kritisch P. Kirchhof, Deutschland im Schuldensog, S. 41 f. 136  P. Kirchhof, Deutschland im Schuldensog, S. 42, in kritischem Ton zur Metho­ dik der Ratingagenturen. 137  Siehe hierzu http://www.faz.net/aktuell/finanzen/anleihen-zinsen/rating-agen turen-hohe-huerden-fuer-newcomer-in-europa-13365370.html (zuletzt abgerufen am

102

2. Kap.: Staat und Finanzmärkte

Dass die Ratings bei Entstehen der letzten Krise einen Beitrag leisteten, wurde bei Schilderung des Verlaufs der Krise erwähnt. Das nationale und europäische Recht ist dennoch sehr zaghaft bei der Regulierung der Rating­ agenturen, eine Aufsicht findet so gut wie gar nicht statt. Bisher setzt das Unionsrecht mit der Ratingverordnung138 bestimmte Regelungen fest, die allerdings für die Agenturen nicht allzu schwer wiegen.139 Zu hohe Ratings für faule Kredite führten zu einer weiten Verbreitung und lösten die Krise mit aus. Für die hohen Ratings für faule Kredite tragen die Ratingagenturen die Hauptverantwortung. Auch nachdem die Hypotheken auszufallen began­ nen, reagierten die Agenturen erst gar nicht, dann nur sehr langsam. Die fehlende Anpassung der Kriterien für Ratings an geänderte Verhältnisse ist daher ein weiteres Problem.140 Insgesamt verstärkt sich die Abhängigkeit von Staat und Finanzmärkten durch die Ratingagenturen. 2. Die Rolle des Rechts für die Finanzmärkte An die Frage des Verhältnisses zwischen Staat und Finanzmärkten schließt sich die Frage an, welchen Einfluss die rechtlichen Rahmenbedingungen auf die Stabilität haben. Wäre dieser gering, hätte eine staatliche Verantwortung von vornherein keinen Mehrwert, da Staaten mit dem Mittel des Rechts han­ deln. Der Einfluss des Rechts ist sehr hoch einzuschätzen. Instabile Rechtsver­ hältnisse führen unweigerlich zu instabilen Finanzmärkten. Dies wird schon auf fundamentaler Ebene deutlich. Das Rechtsstaatsprinzip macht marktwirt­ schaftliche Strukturen erst möglich, auf denen dann auch die Finanzwirtschaft aufbaut.141 Es bietet ökonomischer Aktivität einen gesicherten Rahmen, in denen diese sich entfalten kann. Kosten und Nutzen von Aktivitäten lassen sich besser abschätzen, das Risiko bleibt in einem bestimmten Rahmen, wo­ mit Anreize für Investitionen geschaffen werden. Recht schafft Vertrauen. Ohne das Vertrauen der Marktteilnehmer ineinan­ der funktionieren die Märkte nicht. Sie vertrauen auf ein Rechtssystem, das Möglichkeiten schafft, Verträge auch dann durchzusetzen, wenn der andere Teil sich weigert. Durch Rechtsetzung, die die Finanzmärkte betrifft, kann 30.04.2020); das Projekt einer europäischen Ratingagentur scheint aber zunächst vom Tisch zu sein, siehe Veil/Teigelack, in: Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 27 Rn. 8. 138  VO (EU) v. 21.05.2013, Abl. 2013 L 146/1, S. 1. 139  Näher E. Reimer, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. XI, § 250 Rn. 84. 140  F. Becker, DB 2010, S. 941, 942. 141  Arner, Financial Stability, S. 122 ff.; Wieland, JZ 2012, S. 213, 215.



C. Der Begriff der staatlichen Verantwortung103

auf verschiedene Weise Vertrauen geschaffen werden. Beispielhaft aufgezählt seien Vorgaben an die Marktteilnehmer, die Errichtung von vertrauensstiften­ den Institutionen und Anreiz- oder Sanktionsmechanismen.142 Die Schaffung von Vertrauen ist daher auch „rechtspolitische Zielsetzung des Finanzmarkt­ rechts“.143 In diesem Kontext ist daran zu erinnern, dass ein Regelungsziel des für die Finanzmärkte überragend wichtigen Kapitalmarktrechts die Fi­ nanzstabilität ist. Hinzu kommt die besondere Rolle der Zentralbanken als lender of last resort, welche rechtlich so ausgestaltet sind, dass sie im Ernstfall die Finanz­ märkte stützen können. Wenngleich die Funktion der Zentralbank als lender of last resort weniger rechtliche Probleme aufwirft, basiert sie doch auf der Grundannahme eines funktionierenden rechtlichen Systems, in dem die Zen­ tralbank ihre vorgesehenen Funktionen erfüllen kann.144 Die Regulierung des Bankensystems durch rechtliche Vorgaben hat Einfluss nicht nur auf dieses, sondern wegen der Bedeutung der Banken für die Finanzmärkte auch auf letztere. Banken muss es unter den rechtlichen Rahmenbedingungen weiter­ hin möglich sein, ihre Funktion als Kapitalgeber für die Realwirtschaft zu erfüllen. Bankenregulierung bewegt sich daher auf einem schmalen Grat zwischen dem zu hohen Maß an marktwirtschaftlicher Freiheit, dass zu Fi­ nanzkrisen geführt hat, und einem zu dichten Gewebe aus regulierenden und freiheitsbegrenzenden Regelungen, die das Bankgeschäft derart einengen, dass die wichtige Funktion als Geldgeber nicht mehr erfüllt werden kann. Ein Feld, in dem die Verknüpfung von Staat und Finanzmärkten deutlich wurde, ist die Staatsverschuldung. Sie lag dabei nicht in fehlenden Regelun­ gen zur Begrenzung derselben begründet. Die Kriterien wurden von den Staaten schlicht nicht eingehalten. Die Wechselwirkungen zwischen den ­Finanzmärkten und der Staatsverschuldung bedingen es, dass letztere Panik und damit Instabilität auf den Märkten verursachen kann. P. Kirchhof weist darauf hin, dass es der „Stabilität des Rechts“ bedarf, „um mehr Stabilität der Finanzen zu erreichen“145. Dies lässt sich dahingehend erweitern, dass es auch der Stabilität des Rechts bedarf, um die Stabilität der Finanzmärkte zu erreichen. Wenn man die These unterstützt, dass zumindest die Regelungen zur Begrenzung von Staatsschulden ausreichend waren, aber nicht umgesetzt wurden, wird deutlich, dass es nicht genügt, Recht zur Regulierung und da­ mit Stabilisierung der Finanzmärkte zu schaffen. Stattdessen muss auch ge­ währleistet sein, dass das Recht durchgesetzt wird und damit faktisch wirken

142  Mülbert/Sajnovits,

ZfPW 2016, S. 1, 13. ZfPW 2016, S. 1, 14. 144  Arner, Financial Stability, S. 139. 145  P. Kirchhof, Deutschland im Schuldensog, S. 101; ders., NJW 2013, S. 1, 3. 143  Mülbert/Sajnovits,

104

2. Kap.: Staat und Finanzmärkte

kann. Daher ist es im staatlichen Interesse, entsprechende Aufsichtsstrukturen zu schaffen, welche die Einhaltung der Regeln überwachen. P. Kirchhof sieht nach der Krise ab 2008 weiterhin die Notwendigkeit, die Finanzmärkte in die „Ordnung des Rechts“ zurückzuführen.146 Daher sei ein Stabilisierungskonzept geboten, dass dieses Schritt für Schritt möglich ma­ che.147 Wie die Finanzkrise gezeigt hat, herrschte vor der Krise eine hohe Be­ reitschaft des laissez faire hinsichtlich der Finanzmärkte. Wie die Schilderung der Krise gezeigt hat, sind Staaten zum vielbeschworenen Spielball der Fi­ nanzmärkte geworden. Bei der „Rückeroberung des Rechts“ müssen dennoch die verfassungsrechtlichen Vorgaben, soweit sie beschrieben werden können, beachtet werden. Dabei ist weniger auf den Rechtsgedanken des Art. 143 GG abzustellen, der die Abweichung von verfassungsrechtlichen Normen im Ver­ fahren der Wiedervereinigung erlaubte148. Stattdessen sind anhand der beste­ henden Regelungen des Verfassungsrechts die Grenzen der erneuten Setzung eines Rechtsrahmens zu bestimmen. Die Finanzmärkte entzogen sich zwar der Kontrolle durch das Recht, dies muss aber nicht mit einer Machtlosigkeit des Grundgesetzes begründet werden. Die folgende Untersuchung soll zeigen, dass auch das bestehende Verfassungsrecht Möglichkeiten zur Einhegung der Märkte durch das Recht vorsieht und ermöglicht. Das wesentliche Ziel der zukünftigen Regulierung muss es sein, die be­ schriebenen systemischen Risiken des Finanzsektors einzudämmen.149 Diese sind es, die das Risiko der Finanzmärkte auf die Staaten ausdehnen. Eine effiziente Regulierung muss daher bei diesen Risiken ansetzen und kann sich nicht auf kleinteiligere oder lediglich reaktive Regelungen, wie das einfache Bereitstellen von Kapital nach einem Crash, verlassen. Die Rolle des Rechts für die Stabilität erschöpft sich nicht nur in den of­ fensichtlichen Bereichen des Kapitalmarktrechts, des Bankaufsichtsrechts oder der Mindestanforderungen hinsichtlich des Eigenkapitals. So setzt z. B. auch das Steuerrecht Anreize, die sich auf das Verhalten der verschiedenen Akteure auf den Finanzmärkten auswirken.150 Beispielsweise kann es sich aus steuerlichen Gründen anbieten, Kapital zu investieren, was sich positiv auf die Finanzmärkte auswirkt. Auf der anderen Seite kann es gegenteilige Anreize setzen, also durch eine hohe Steuerbelastung die Investitionsfreudig­ 146  P. Kirchhof, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd, X, § 214 Rn. 83. 147  P. Kirchhof, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd, X, § 214 Rn. 85. 148  So aber wohl P. Kirchhof, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd, X, § 214 Rn. 85 f. 149  Acharya/Richardson, Restoring Financial Stability, S. 24 f. 150  Hierzu auch Egidy, Finanzkrise und Verfassung, S. 108 ff.



C. Der Begriff der staatlichen Verantwortung105

keit hemmen. In diesem Kontext ist das von der Union 2019 wiederum neu aufgenommene Vorhaben zur Erhebung einer Finanztransaktionsteuer zu be­ denken. Eine solche würde ebenfalls eine Anreizwirkung für die Finanz­ märkte entfalten. Selbiges gilt für das Privatrecht, insbesondere das Vertragsrecht sowie Verbraucherschutzregelungen. Daneben bietet das Gesellschaftsrecht erst die Möglichkeiten, sich adäquat zu organisieren, und macht damit das heutige Bankgeschäft als solches erst möglich.151 Die Rekapitalisierung der Hypo Real Estate und der Commerzbank AG durch die Finanzmarktstabilisierungs­ anstalt (FMSA) – jetzt Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung – wurde durch die Abschaffung bzw. Erleichterung der Voraussetzung eines Haupt­ versammlungsbeschlusses vor einer Kapitalerhöhung ermöglicht. Besonders wichtig in diesem Kontext sind Regelungen zur Corporate Governance, die Einfluss auf das Verhalten der Geschäftsleiter und damit des Unternehmens als Ganzem haben. Das Buchführungsrecht ermöglicht durch das Setzen von Standards und die Veröffentlichungspflicht den Ausgleich von Informations­ asymmetrien.152 Besonders relevant ist das Insolvenzrecht153, welches Regelungen bereit­ stellen muss, um Marktteilnehmern eine geordnete Insolvenz zu ermöglichen, die den verbundenen anderen Marktteilnehmern nicht schadet. Damit sind im Insolvenzrecht Regelungen von überragender Bedeutung für die Finanz­ marktstabilität enthalten. Eine Möglichkeit für große Banken, in die Insol­ venz zu gehen, hat sich insbesondere im Rahmen der Finanzkrise bei illiqui­ den Banken als problematisch herausgestellt. Wie der Zusammenbruch von Lehman Brothers gezeigt hat, kann der Zusammenbruch einer gut vernetzten Bank fatale Folgen auslösen. Aus diesem Druck heraus kamen Staaten erst in die Verlegenheit, andere Banken mithilfe von Rettungspaketen zu finanzie­ ren. Dies hat auch die Europäische Union erkannt und den Bankenabwick­ lungsmechanismus (SRM) eingerichtet. Geändert wurde im Zuge der Krise auch der Überschuldungsbegriff des Insolvenzrechts. Eine Überschuldung macht nunmehr keinen Insolvenzantrag notwendig, wenn eine Fortführung des Unternehmens überwiegend wahrscheinlich ist, § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO. Begründet lag diese Änderung in den Wertverlusten von Aktien und Immobi­ lien nach dem Ausbruch der Krise, die zu einer Überschuldung führen konn­ ten.

M. Müller, Finanzmarktstabilisierung und Anlegereigentum, S. 53 f. Financial Stability, S. 169 ff. 153  Ausführlich Arner, Financial Stability, S. 155  ff.; zum Verhältnis der neuen Abwicklungsregeln zum Insolvenzverfahren Lackhoff/Yoo/Bauerfeind, WM 2019, S. 1677, 1678. 151  Hierzu 152  Arner,

106

2. Kap.: Staat und Finanzmärkte

3. Zwischenergebnis Die vorhergehenden Ausführungen zeigten die enge Verflechtung von Staat und Finanzmärkten auf. Nun ist zu klären, welche Schlüsse sich aus dieser Verflechtung für das Bestehen einer staatlichen Verantwortung ziehen lassen. Die einfache Abhängigkeit beider Sektoren genügt nicht, um ein Staatsziel oder staatliche Verantwortung zu begründen. Es fehlen normative Anknüp­ fungspunkte oder eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob überhaupt öf­ fentliche und private Interessen an der Finanzmarktstabilität gegeben sind und ob die Verfassung eine solche Verantwortung überhaupt legitimiert. Dennoch ist die Abhängigkeit ein starkes Argument, um die Bedeutung von Rechtsetzung auf den Finanzmärkten aufzuzeigen. Gegen eine staatliche Verantwortung nur aufgrund der Abhängigkeit von Staat und Finanzmärkten wird vorgebracht, dass diese sich nicht zwingend aus dem marktwirtschaft­ lichen System ergebe, so dass aus ihr keine Folgerungen für eine Pflicht oder Aufgabe, sondern lediglich politische Forderungen gezogen werden könn­ ten.154 Dem ist zuzustimmen. Rechtliche Pflichten lassen sich nur im Zusam­ menspiel mit Rechtssätzen aufstellen. Gerade im Bereich des staatlichen Handelns ist Vorsicht geboten, dem Staat Pflichten hinsichtlich einer be­ stimmten Tätigkeit aufzuerlegen. Anderenfalls droht sich der staatliche Ent­ scheidungsspielraum auszuhöhlen, da mit verschiedenen Bereichen Interde­ pendenzen bestehen, daraus aber nicht ohne weiteres auf ein staatliches Ziel geschlossen werden kann. Wenn der Begründung einer Staatsaufgabe aber entgegengehalten wird, dass der Staat nicht nur zu einem Bemühen oder Bestreben verpflichtet wer­ den könne155, überzeugt dies nicht. Richtig ist, dass die Finanzmarktstabilität kein Ziel ist, das vom Staat alleine hergestellt werden kann. Allerdings be­ deutet die Verpflichtung zur Wahrnehmung einer Verantwortung nicht, dass die Erfüllung der Aufgabe in jedem Fall mit an Sicherheit grenzender Wahr­ scheinlichkeit zu erwarten ist.156 Wenn der Staat nur noch zu Aufgaben ver­ pflichtet werden könnte, welche von ihm auch vollständig erfüllt würden, nähmen die Aufgaben des Staates sehr ab. Beispiele für nicht perfektible 154  Kaufhold, Systemaufsicht, S. 188; anders aber BVerfG, Urt. v. 7.11.2017, 2 BvE 2/11 Rn. 313, NVwZ 2018, S. 51, 65, das für die Finanzmarktstabilität als Be­ lang des Staatswohls lediglich auf die Bedeutung der Finanzmärkte für die Realwirt­ schaft abstellt und die staatlichen Hilfsmaßnahmen dem Staatswohl zuordnet; kritisch hierzu auch die Anmerkung zum Urteil von Poschmann, NVwZ 2018, S. 71, 72 f. 155  Kaufhold, Systemaufsicht, S. 192 f.; Ruffert, NJW 2009, S. 2093, 2095. 156  Vgl. Isensee, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IX, § 191 Rn. 275; ferner Sommermann, DÖV 1994, S. 596, 598, der gerade darauf abstellt, dass bspw. die Zielverwirklichung eine „nie abgeschlossene Aufgabe darstellt …“.



C. Der Begriff der staatlichen Verantwortung107

Staatsziele und Staatsaufgaben sind vorhanden. Die Verpflichtung des Staa­ tes zum Umweltschutz in der Staatszielbestimmung des Art. 20a GG ist vom Staat alleine nicht vollständig erfüllbar. Umweltschutzmaßnahmen greifen im Zusammenspiel zwischen Staat und Privaten. Es zeigt sich, dass die Ent­ wicklung des Umweltrechts für die Rechtsetzung auf den Finanzmärkten Anregungen liefern kann,157 indem es Beispiele liefert, wie sich der Staat in Systemen, die wegen einer Vielzahl externer Faktoren risikoanfällig sind, optimal verhalten kann. Für Staatsziele gilt, dass zwischen perfektiblen und permanenten Staatszie­ len differenziert werden muss.158 So können Staatsziele dem Staat Staatsauf­ gaben vorgeben, und zwar in Form dauerhaft zu beachtender Aufgaben.159 Selbiges muss auch für das Bestehen einer staatlichen Verantwortung gelten. Dies setzt nicht voraus, dass alle Aufgaben perfekt erfüllt werden können. Ein Beispiel einer permanenten Aufgabe findet sich im Rahmen der Euro­ päischen Union, die in Art. 3 Abs. 3 S. 2 AEUV zur Gewährleistung eines gemeinsamen Binnenmarktes verpflichtet wird. Anerkanntermaßen handelt es sich dabei um eine Daueraufgabe, die niemals vollständig verwirklicht werden kann.160 Eine Argumentation dergestalt, dass diese deshalb keine Aufgabe der Union darstellt, findet sich in der Literatur nicht. Hinzuzufügen ist, dass ein Bemühen des Staates, einen bestimmten Zu­ stand zu erreichen, ihn also anzustreben, besser ist, als ein teilnahmsloses Zusehen und Nichthandeln. Konkrete Maßnahmen können nur dann gefor­ dert werden, wenn hinreichend offensichtlich ist, welche Maßnahmen die Stabilität in einem solchen Maße verstärken, dass sich die Maßnahmen ohne jeden Zweifel lohnten. Die eine erfolgsversprechende Maßnahme zur Her­ stellung von Finanzmarktstabilität gibt es aber nicht. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass eine staatliche Verantwortung für die Finanzmarktstabilität nicht allein mit dem beschriebenen Abhängig­ keitsverhältnis zum Staat begründet werden kann.

157  Hierzu vor allem Calliess, VVDStRL 71 (2011), S. 113, 134 ff. und Kloepfer, ebd., S. 231 ff. (Aussprache); ferner M. Müller, Finanzmarktstabilisierung und Anle­ gereigentum, S. 65 und siehe weiter unten Kap. 5. 158  F. Reimer, Verfassungsprinzipien, S.  195, 329; Sommermann, Staatsziele, S. 380; vgl. auch D. Hahn, Staatsziele, S. 64, wonach Staatszielbestimmungen nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt als erreicht gelten können, dies lässt sich auch auf Staatsziele als Oberkategorie beziehen. 159  F. Reimer, Verfassungsprinzipien, S. 195. 160  Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 3 AEUV Rn. 14; Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 3 EUV Rn. 27.

3. Kapitel

Gemeinwohl und Finanzmärkte A. Die Begründung eines Staatszieles aus dem Gemeinwohl Für Staatsziele ist eine Anknüpfung an öffentliche Interessen und damit Gemeinwohlbelange notwendig. Dies gilt ebenso für ein postuliertes Ziel der Finanzmarktstabilität, dessen gemeinwohldienender Charakter in diesem Ab­ schnitt untersucht werden soll. Gerade die Rettung von privaten Finanzinsti­ tuten aus öffentlichen Geldern hat die Frage aufgeworfen, inwiefern dies dem Gemeinwohl dient. An dieser Stelle kann die klassische Theorie der politischen Ökonomie eingreifen, die im Falle eines Marktversagens ein staatliches Handeln verlangt, um Güter mit Gemeinwohlbezug bereitzustel­ len. Ein juristischer Begründungsansatz wird damit nicht vollständig gelie­ fert. Apologeten staatlicher Rettungseingriffe verweisen ferner häufig auf die skizzierte Bedeutung einzelner systemrelevanter Institute. In der juristischen Literatur wird zwar häufig auf die Finanzmarktstabilität als Gemeinwohlbe­ lang hingewiesen, dies wird aber ebenfalls nicht weiter als mit deren Bedeu­ tung für die Gesamtwirtschaft begründet. So bezeichnet Höfling die Finanzmarktstabilität als „bereichsspezifische Ausprägung des Gemeinwohls“, da sie aus der Gewährleistungsverantwor­ tung für die Leitprinzipien Sicherung von Vertrauen und Transparenz folge.1 1  Höfling, Gutachten F zum 68. Deutschen Juristentag, S. 10, 58; ebenso auf das Gemeinwohl stellen ab D. Bauer, DÖV 2010, S. 20, 24; Droege, DVBl. 2009, S.  1415, 1420 f.; Murswiek, in: Hochhuth (Hrsg.), Rückzug des Staates und Freiheit des Einzelnen, S. 203, 207; Papier/Shirvani, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 680; Radtke, Liquiditätshilfen, S. 62; Ulrich, Verfassungs- und europarechtliche Grenzen der Finanzmarktstabilisierung, S. 181, 184; vgl. auch E. Reimer/Waldhoff, Verfas­ sungsrechtliche Vorgaben für Sonderabgaben des Banken- und Versicherungssektors, S. 106 (Rn. 327); Wolfers/Rau, NJW 2009, S. 1297, 1299, „besonders schwerwiegen­ des und dringendes öffentliches Interesse“; ferner BT-Drs. 16/12410, S. 13: „aktuelle Finanzkrise (…), die aus Gründen des Gemeinwohls aktive Stützungsmaßnahmen des Staates gebietet“; beachtlich auch die Entscheidung des EuGH in der Rs. Ledra Advertising, NJW 2016, S. 3291, 3294, wonach die Stabilität des Bankensystems in der Euro-Zone einen Gemeinwohlbelang darstellt und daher geeignet sei, das Eigentums­ recht aus Art. 17 GRCh einzuschränken; BVerfG, Urt. v. 7.11.2017, 2 BvE 2/11, Rn. 312, wonach die Stabilität der Finanzmärkte einen Belang des Staatswohls dar­ stellt; zuletzt auch Klingenbrunn, Produktverbote zur Gewährleistung von Finanz­



A. Die Begründung eines Staatszieles aus dem Gemeinwohl109

Der Zusammenhang zwischen Staatszielen, Staatsaufgaben oder staatlicher Verantwortung und dem Gemeinwohl wird nicht weiter beleuchtet. Er ver­ dient dennoch näherer Beachtung, um die Finanzmarktstabilität einem der Termini zuordnen zu können und so deren Rang unter den Verfassungsaufga­ ben zu eruieren. Gleiches gilt für die Frage, ob die Finanzmarktstabilität tatsächlich dem Gemeinwohl dienlich ist und aus diesem Grund eine staat­ liche Verantwortung für diesen Sektor bestehen kann. Ein weiterer bedeuten­ der Aspekt ist, dass die Antwort auf die Frage des legitimen Zweckes eines Grundrechtseingriffes im Rahmen von dessen Verhältnismäßigkeit mit davon abhängt, inwiefern der Zweck dem Allgemeinwohl dient. Die Förderung des Gemeinwohls ist als Legitimationsgrundlage des Staa­ tes dessen umfassende Zielvorgabe.2 Sommermann bezeichnet das Gemein­ wohl als das oberste Staatsziel demokratischer Verfassungsstaaten.3 Schup­ pert dagegen sieht das Gemeinwohl als obersten Staatszweck, aus dem sich öffentliche Interessen, Staatsziele und Staatsaufgaben ergeben.4 Ausgehend von der angesprochenen Abgrenzung zwischen Staatszwecken und Staatszie­ len lässt sich die Verfolgung des Gemeinwohls mit guter Begründung der Rechtfertigung des Staates zuschreiben. Damit ist es als Staatszweck zu charakterisieren. Wenn man dem zustimmt, erscheint es folgerichtig, aus diesem obersten Staatszweck weitere Staatsziele zu deduzieren und davon auszugehen, dass allen Staatszielen ein gemeinsamer Kern in Form der Ge­ meinwohlprägung innewohnt. Dies folgt der Ansicht von Isensee, der zwischen primären und sekun­ dären Staatszielen unterscheidet, wobei primäre solche sind, die unmittelbar auf das Leben der Bürger gerichtet sind, (darunter versteht er z. B. Sicher­ heit und Freiheit) und sekundäre solche, die der Staatsorganisation und da­ mit der Verwirklichung des Gemeinwohls dienen.5 Eingeordnet in diesen Kanon handelte es sich bei der Finanzmarktstabilität um ein sekundäres Staatsziel. marktstabilität, S. 21, der einer Gewährleistungsverantwortung aber ablehnend gegen­ übersteht. 2  Vgl. Brenner, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, § 25 Rn.  28 f.; Dürig, JZ 1953, S. 535, 536; H. D. Horn, Die Verwaltung 26 (1993), S. 545, 548; Isensee, Gemeinwohl, S. 25, 79; Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 333; Link, VVD­ StRL 48 (1990), S. 7, 19 ff.; Uerpmann-Wittzack, Das öffentliche Interesse, S. 20 f.; von Arnim, Gemeinwohl, S. 5. 3  Sommermann, Staatsziele, S. 199. 4  Schuppert, Staatswissenschaft, S. 215. 5  Isensee, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IV, § 73 Rn. 25 f.; Sommermann, Staatsziele, S. 305; das Gemeinwohl als allumfassenden Staatszweck und dessen Konkretisierung durch die Staatsziele sieht Rogge-Dannemann, Gemein­ wohlverantwortung in der Europäischen Union, S. 8.

110

3. Kap.: Gemeinwohl und Finanzmärkte

Ausgehend von dieser Differenzierung müsste ein Staatsziel oder eine staatliche Verantwortung der Finanzmarktstabilität einen Gemeinwohlbelang ausdrücken.

I. Das Gemeinwohl als Rechtsbegriff6 Der Begriff des Gemeinwohls ist nicht unproblematisch und bedarf einer genaueren Bestimmung, um ihn als Rechtsbegriff zur Begründung einer staatlichen Verantwortung heranziehen zu können. Die Gefahr besteht darin, dass unter Berufung auf das Gemeinwohl theoretisch jegliches Staatshandeln gerechtfertigt werden kann. Es kann nicht eindeutig geregelt sein, wer be­ stimmen soll, was das Gemeinwohl ist, und welche Belange Gemeinwohl­ belange darstellen. Die Unklarheiten beginnen schon in der Begriffsdogma­ tik. Teilweise synonym gebrauchen verschiedene Autoren z. B. den Begriff des öffentlichen Interesses oder den des Wohls der Allgemeinheit.7 Die Ver­ mischung der Begriffe hat berechtigte Kritik auf sich gezogen.8 Das Gemeinwohl als Zweck des Staates eine hat weitverzweigte Ge­ schichte hinter sich9, die bis auf Hesiod und den attischen Gesetzgeber Solon zurückgeht10 und mittlerweile „ganze Bibliotheken zu füllen“ im Stande ist.11 Ursprünglich war die Gemeinwohlverpflichtung auf den griechischen Stadt­ staat (polis) bezogen, in dem Herrschende und Bürger gemeinwohlorientiert handeln sollten; die Bindung an die polis drückte sich darin aus, dass die Entscheidungsträger bei ihrem Handeln nicht nur an sich selbst, sondern vorrangig an die polis als Ganzes denken sollten.12 Das Wort Gemeinwohl setzt sich aus zwei verschiedenen Begriffen zusam­ men. Der Wortbestandteil Gemein kann als die Allgemeinheit verstanden werden. Allgemeinheit bedeutet zunächst die Abgrenzung zum Einzelnen 6  Zum Ganzen siehe Isensee, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IV, § 71 Rn. 1 ff. 7  Vgl. Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, S. 169; Uerpmann-Wittzack, Das öffentliche Interesse, S. 1, 23 ff., 130 m. w. N. 8  Siehe exemplarisch z. B. das Sondervotum des Bundesverfassungsrichters Böhmer, BVerfGE 56, 249, 266, 273 f.; Külz, FS Gieseke, S. 187, 197; vgl. auch Isensee, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IV, § 71 Rn. 36, der das Allgemein­ wohl als die Gesamtheit der öffentlichen Interessen bestimmt. Ausführlicher RoggeDannemann, Gemeinwohlverantwortung in der Europäischen Union, S. 16 f., die im Ergebnis aber eine Gleichstellung befürwortet. 9  Kurze Darstellung: Münkler/Bluhm, in: Münkler/Bluhm, Gemeinwohl, S. 9 ff.; K-P. Sommermann, Staatsziele, S. 109 ff. 10  So Kirner, in: Münkler/Bluhm, S. 31, 34 f. 11  Häberle, Öffentliches Interesse, S. 17. 12  Kirner, in: Münkler/Bluhm, S. 31, 41.



A. Die Begründung eines Staatszieles aus dem Gemeinwohl111

und Individuellen. Die durch das Grundgesetz angesprochene Allgemeinheit ist das Staatsvolk, was aus dem Bezug auf das deutsche Volk in Art. 56 GG abgeleitet wird.13 Allerdings ist das Grundgesetz europa- und völkerrechts­ freundlich ausgestaltet (vgl. die Präambel des Grundgesetzes, wonach der Staat „dem Frieden in der Welt dienen soll“ und die universellen Menschen­ rechte die „Grundlage jeder staatlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ bilden), so dass die Begrenzung nicht zu stark ins Gewicht fallen sollte. Das Wort „Wohl“ wird in der bisherigen Diskussion vor allem als das staatliche und gesellschaftliche Wohl verstanden.14 1. Konstitution des Gemeinwohls aus öffentlichen und privaten Interessen Das Gemeinwohl lässt sich schwer in einer allgemeinen Definition fassen. Dennoch muss eine Annäherung an den Begriff zumindest versucht werden. Wenn die Finanzmarktstabilität als Gemeinwohlbelang bezeichnet wird, lässt sich dies mit der Verbindung von Staat und Finanzmärkten und mit der all­ gemeinen wirtschaftlichen Situation eines Gemeinwesens begründen. Dies kratzt allerdings nur an der Oberfläche und vermag angesichts der einge­ schränkten Rechtsgüter, denen die Finanzmarktstabilität als Staats- oder Ge­ meinwohlbelang gegenübergestellt wird, nicht gänzlich zu überzeugen. Abzulehnen ist an diesem Punkt eine Betrachtung des Gemeinwohls nach einem reinen Mehrheitsprinzip.15 Dieser radikaldemokratische Ansatz geht auf die Staatsphilosophie Rousseaus zurück, wird seinem Gedanken der vo­ lonté générale16 jedoch nicht vollständig gerecht. Aussage dieses Prinzips ist es nicht, den Willen der Mehrheit zum Leitmaßstab zu machen. Stattdessen ist die Schnittmenge aller verschiedenen Interessen maßgeblich. Dies wird erreicht, indem die einzelnen Sonderinteressen (volonté particulières) zur Summe aller Einzelinteressen (volonté de tous) summiert werden, woraus dann nach Abzug der sich widersprechenden Sonderinteressen die volonté générale entsteht.17 Im Ergebnis ist diese also gerade nicht die Zusammen­ fassung der Mehrheit der Stimmen. Bei der Anwendung des Mehrheitsprin­ zips zur Bestimmung des Gemeinwohles bleibt zu viel Spielraum für radikale 13  Uerpmann-Wittzack,

Das Öffentliche Interesse, S. 28 m. w. N. Anderheiden, Gemeinwohl, S. 22, der allerdings auf den folgenden Seiten aufzeigt, dass diese Bestimmung des Wohls nach seiner Auffassung unzutreffend ist. 15  So Schuppert, Gemeinwohl, in: ders./Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl, S. 19, 26 f.; ähnlich Martens, S. 188f.; zutreffend Bleckmann, Allg. Staatslehre, S. 35 ff. 16  Ausführliche Darstellung bei Welzel, Naturrecht, S. 121 ff. 17  Vgl. Bleckmann, Allg. Staatslehre, S. 45  f.; Herzog, Allg. Staatslehre, S. 55; Welzel, Naturrecht, S. 125; ähnlich Uerpmann-Wittzack, Das öffentliche Interesse, S.  35 f. 14  So

112

3. Kap.: Gemeinwohl und Finanzmärkte

Ideologien, die im Grundgesetz nicht angelegt sind. Gemeinwohl und Ge­ meinwille decken sich nicht, wenn sie auch eng zusammenhängen.18 Das heißt allerdings nicht, dass der Wille der Allgemeinheit bei Bestim­ mung des Gemeinwohls unbeachtlich ist.19 Vielmehr muss ein Gemeinwohl­ belang in Rückkoppelung an das allgemeine Interesse bestimmt werden.20 In diesem allgemeinen Interesse drücken sich die privaten Interessen aus. Die privaten Interessen bilden daher einen Bestandteil des Gemeinwohls. Wie erwähnt, ist das Gemeinwohl eng mit dem Begriff des „öffentlichen Interesses“ verbunden, der in verschiedenen Gesetzen vorkommt21. Die Stellen, an denen der Gesetzgeber auf das öffentliche Interesse abstellt, las­ sen sich als Einbeziehung des Gemeinwohls in die Entscheidungsfindung des Staates verstehen. An diesem Punkt wird die fehlende ausdrückliche Normie­ rung der Gemeinwohlverpflichtung im Grundgesetz deutlich. Über den Be­ griff des öffentlichen Interesses hat das Gemeinwohl aber eine, über die verschiedenen Rechtsgebiete weitverzweigte, einfachgesetzliche Ausprägung erhalten. Im Ergebnis erfasst das Gemeinwohl daher sowohl staatliche als auch pri­ vate Interessen, die in einen Ausgleich gebracht werden müssen, ein Gemein­ wohlmonopol des Staates, so dass nur öffentliche Interessen das Gemeinwohl bilden, besteht nicht.22 Wer auf das Gemeinwohl rekurriert, bezieht sich nicht nur auf den Staat als Akteur, sondern muss die Freiheit der Bürger miteinbeziehen.23 Ein Monopol des Staates auf das Gemeinwohl existiert nicht (mehr).24 In das Verfahren der Erkennung von Gemeinwohlbelangen ist die Wirklichkeit miteinzubeziehen, d. h. sich konkret stellende Probleme können und müssen in das Verfahren zur Ermittlung von Gemeinwohlbelan­ gen miteinbezogen werden. 18  Isensee, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IV, § 71 Rn. 106; im Ergebnis wohl ebenso Anderheiden, Gemeinwohl, S. 12 f., 55. 19  So auch Rousseau, nämlich dann, wenn sich wegen des Überwiegens bestimm­ ter volontés particulières diese nicht gegenseitig aufheben, also ein Überhang auf ei­ ner Seite verbleibt, siehe Welzel, Naturrecht, S. 125. 20  Vgl. Bleckmann, Allg. Staatslehre, S. 42. 21  Siehe z. B. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO, § 35 Abs. 1 und 2 BauGB, § 882a Abs. 2 ZPO, § 71 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen; diese und weitere Beispiele bei Uerpmann-Wittzack, Das öffentliche Interesse, S.  1 ff. 22  Vgl. Uerpmann-Wittzack, Das öffentliche Interesse, S. 132  ff.; ders., Verfas­ sungsrechtliche Gemeinwohlkriterien, in: Schuppert/Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl, S. 179, 180; Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, S. 23. 23  Vgl. Häberle, Öffentliches Interesse, S. 710. 24  Vgl. Häberle, Öffentliches Interesse, S. 52 f., 65; einschränkend Krüger, Allg. Staatslehre, S. 766.



A. Die Begründung eines Staatszieles aus dem Gemeinwohl113

2. Die Ausprägungen des Gemeinwohls in Gesetz und Rechtsprechung a) Das Gemeinwohl in der Verfassung Nachdem das Gemeinwohl abstrakt ansatzweise bestimmt worden ist, kann geklärt werden, welche Stellung es im deutschen Verfassungsrecht ein­ nimmt. Dies ist notwendig, da die Begründung eines Staatszieles aufgrund eines Gemeinwohlbelanges nur bei entsprechendem Rang des Gemeinwohls im Verfassungsrecht vertretbar ist. Anders als in Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Bayerischen Verfassung oder Art. 1 Abs. 2 der Verfassung für Rheinland-Pfalz, findet sich im Grundgesetz keine ausdrückliche Verpflichtung des staatlichen Handelns auf das Gemeinwohl. Im Kontrast dazu enthielt noch der Herrenchiemseer Entwurf des Grundge­ setzes einen Gemeinwohlbezug mit der Formulierung: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“25. Diese mit klarem Bezug zur Zeit des Nationalsozialismus formulierte Wendung findet sich im Grundgesetz nicht wieder, um das Grundgesetz nicht mit einer He­ rabsetzung des Staates beginnen zu lassen.26 Dennoch ist auch auf Ebene des Bundes grundsätzlich alles staatliche Handeln durch das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG) auf das Gemein­ wohl verpflichtet.27 Andere Autoren folgern die Verpflichtung aus dem repu­ blikanischen Prinzip in Gestalt der „res publica“ als öffentliche Sache (Art. 20 Abs. 1 GG)28, dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) und der Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG).29 In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird das Gemeinwohl als „notwendiges Ziel jeder staatlichen Aktivität (…)“30 beschrieben, ohne weiteren Bezug auf Normen zu nehmen. 25  Art. 1 Abs. 1 Herrenchiemseer Entwurf; siehe hierzu ausführlich Kunze, Der Staat 40 (2001), S. 383 ff. 26  Isensee, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IV, § 71 Rn. 57. 27  Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 333; ablehnend gegenüber dem Demokratieprin­ zip als Grundlage für das Gemeinwohlprinzip Anderheiden, Gemeinwohl, S. 218. 28  Siehe Isensee, Gemeinwohl, S. 67 mit umfangreichen Nachweisen; ferner Anderheiden, Gemeinwohl, S. 232. 29  So Isensee, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IV, § 71 Rn. 66; siehe auch Uerpmann-Wittzack, Verfassungsrechtliche Gemeinwohlkriterien, in: Schuppert/Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl, 179, 181 f., wonach die Staatsstruktur­ prinzipien Ausfluss des Gemeinwohls sind. 30  BVerfGE 108, 186, 228; vgl. auch BVerfGE 5, 85, 185 f.; 33, 125, 158 f.; 62, 1, 43; ausführlich Isensee, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IV, § 71 Rn. 59.

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3. Kap.: Gemeinwohl und Finanzmärkte

Im Grundgesetz findet sich das Gemeinwohl trotz fehlender ausdrücklicher Normierung an mehreren Stellen. In Artt. 56, 64 Abs. 2 GG für den Amtseid des Bundespräsidenten, des Bundeskanzlers und der Bundesminister findet sich die Formulierung „zum Wohle des deutschen Volkes“. Diese Passage lässt sich als Gemeinwohlverpflichtung, gerichtet an die Verfassungsorgane Bundespräsident, -kanzler und -minister, verstehen. Die Gemeinwohlver­ pflichtung der obersten Staatsorgane hat eine lange Tradition, die auf das frühe 19. Jahrhundert zurückgeht und sich schon in der Frankfurter Pauls­ kirchenverfassung in § 113 fand.31 Aus den Gemeinwohlverpflichtungen in den Amtseiden kann weder auf eine Aufgabe noch auf eine Kompetenz geschlossen werden, vielmehr kon­ kretisiert die Gemeinwohlverpflichtung die schon bestehende Aufgabenkom­ petenz.32 Die bekannte Gemeinwohlverpflichtung des Staates wurde durch den Verfassunggeber über die Verpflichtungen der obersten Staatsorgane im­ plementiert. Direkte Bezugnahme auf den Begriff findet sich darüber hinaus in Art. 87e Abs. 4 Satz 1 GG, in dem die Verkehrsbedürfnisse als Wohl der Allgemeinheit festgeschrieben werden. Weitere direkte Bezugnahmen auf das Gemeinwohl finden sich im Bereich der Grundrechte, vor allem in den Vorgaben zur Einschränkbarkeit der Grundrechte.33 In Art. 14 GG ist es sogar in zweifacher Hinsicht zu finden: Nach Art. 14 Abs. 2. Satz 2 GG soll der Gebrauch des Eigentums „zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“34, nach Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG ist eine Enteignung nur „zum Wohle der Allgemeinheit zulässig“.35 Auf der einen Seite stellt das Gemeinwohl eine Begrenzung des subjektiven Rechts der Eigentumsgarantie eines Einzelnen gegenüber der Allgemeinheit dar, auf der anderen Seite steht es als Schutz des individuellen Rechts gegenüber dem Staat vor einer Enteignung.36 Durch Bezugnahme auf das Gemeinwohl soll sichergestellt werden, dass weder rein fiskalische Interessen verfolgt werden,

Häberle, Öffentliches Interesse, S. 39 ff. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 56 Rn. 20 f.; v. Arnaud, in: v. Münch/ Kunig, GG, Art. 56 Rn. 3; Heun, in: Dreier, GG, Art. 56 Rn. 6. 33  Isensee, Gemeinwohl, S. 59; ferner von Arnim, Gemeinwohl, S. 36 f. der aber mehr auf die Konkretisierung des Gemeinwohls durch die Grundrechte selbst hin­ weist. 34  Hierzu ausführlich BVerfGE 20, 351, 355  f.; Isensee, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IV, § 71 Rn. 60 m. w. N.; W. Leisner, in: Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. VI, § 149 Rn. 133 ff. 35  Ausführlich Depenheuer, in: Merten/Papier (Hrsg.), Hdb. d. GR, Bd. V, § 111 Rn.  79 ff.; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 574 ff.; Uerpmann-Wittzack, Das öffentliche Interesse, S. 117 ff. 36  Vgl. Isensee, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IV, § 71 Rn. 60. 31  Siehe 32  Vgl.



A. Die Begründung eines Staatszieles aus dem Gemeinwohl115

die nicht für Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG genügen, noch, dass allein private Interessen die Enteignung rechtfertigen.37 Der Bezug auf das Gemeinwohl in Art. 14 Abs. 3 GG wurde bereits für Maßnahmen zur Stabilisierung der Finanzmärkte relevant. Im Zuge der Krise wurde das Rettungsübernahmegesetz als Teil des Finanzmarktstabilisierungs­ ergänzungsgesetzes vom 07.04.200938 erlassen. In § 1 Abs. 4 Nr. 2a Ret­ tungsG ist die Sicherung der Finanzmarktstabilität vom Gesetzgeber aus­ drücklich als Bestandteil des Wohls der Allgemeinheit benannt worden, in­ dem sie zur notwendigen Voraussetzung einer Enteignung nach diesem Ge­ setz gemacht wird. Der Gesetzgeber sah die hohe Schwelle des Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG als überwunden an. Dabei ist festzustellen, dass allein das öffent­ liche Interesse an der Stabilisierung eines Finanzinstitutes nicht genügen kann, vielmehr wäre eine ausführliche Abwägung öffentlicher und privater Interessen notwendig gewesen.39 Dennoch sieht der Gesetzgeber die Stabili­ tät der Finanzmärkte als Gemeinwohlbelang i. S. d. Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG und damit zugleich als legitimes Regelungsziel.40 In diesem Kontext erging auch die vielbeachtete Entscheidung des LG München zur Verstaatlichung der Hypo Real Estate.41 Das Gericht traf eine Abwägung des Gewichts der Enteignung gegen die Stabilität des Finanzsystems. Die Größe der Gefahr spreche dabei für die Angemessenheit der Maßnahme.42

37  BVerfGE 56, 249, 255; 74, 264, 284; M. Müller, Finanzmarktstabilisierung und Anlegereigentum, S. 123; Sieckmann, in: Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 14 Rn. 161; Wendt, in Sachs, GG, Art. 14 Rn. 160, 163. 38  BGBl. I 2009, S. 725. 39  M. Müller, Finanzmarktstabilisierung und Anlegereigentum, S. 124. 40  So auch Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art.  14 Rn. 77; ders., NVwZ 2009, S. 673, 675; Hopt/Fleckner/Kumpan/Steffek, WM 2009, S.  821, 830 f.; Kaserer/Köndgen/Möllers, ZBB 2009, 142, 150; Servatius, in: Roth (Hrsg.) Europäisierung des Rechts, S. 243, 257; Uechtritz, NVwZ 2010, S. 1472, 1474; Wieland, in: Dreier, GG, Art. 14 Rn. 42; vgl. auch BVerwGE 117, 138, 139, wonach die Erwägungen des Gesetzgebers zum Gemeinwohl zu respektieren sind, solange sie nicht „eindeutig widerlegbar oder offensichtlich fehlsam“ sind. Ferner Wilhelmi, JZ 2014, S. 693, 703 wonach „Finanzstabilität als Ziel neben die Funk­ tionsfähigkeit der Märkte“ im Kapitalmarktrecht tritt; so auch Buck-Heeb, Kapital­ marktrecht, § 1 Rn. 23; Veil, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 2 Rn.  8 ff.; ferner Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapital­ marktrecht, § 14 Rn. 12 ff., 15; zu beachten ist aber, dass sich die letztgenannten Au­ toren allesamt auf das Kapitalmarktrecht beziehen, ohne eine Aussage zu einer staat­ lichen Verantwortung zu treffen. 41  LG München I, 5 HKO 18800/09, Rn. 145 ff. – juris; hierzu Uechtritz, NVwZ 2010, S.  1472 ff.; M. Müller, Finanzmarktstabilisierung und Anlegereigentum, S. 32 ff. 42  LG München I, 5 HKO 18800/09, Rn. 157 – juris.

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3. Kap.: Gemeinwohl und Finanzmärkte

Die Textstellen, an denen das einfache Recht auf das Gemeinwohl43 oder das Wohl der Allgemeinheit44 abstellt, führen für die verfassungsrechtliche Deutung des Begriffes nicht weiter, da sie im Kontext des Gesetzeszweckes des einfachen Gesetzes stehen. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass die Verfassung die wesentliche Quelle für die Bestimmung von Gemeinwohlbelangen ist, und zwar sowohl von solchen mit Verfassungsrang als auch einfachen Gemeinwohlbelangen.45 b) Das Gemeinwohl in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Für die weitere Ausdifferenzierung des Begriffs des Gemeinwohls lohnt die Betrachtung des Begriffes in der Staatspraxis. Dabei ist seine Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht miteinzubeziehen. Dies ist wichtig, da die Stellung, die das Bundesverfassungsgericht dem Gemeinwohl in Abwä­ gung mit Grundrechten beimisst, für die Bestimmung des Rangs der Finanz­ marktstabilität als Gemeinwohlbelang herangezogen werden kann. Wie bei Art. 14 GG als Grundrechtsschranke findet sich das Gemeinwohl bei der Anwendung des Art. 12 Abs. 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht stellte die Formel der „vernünftigen Gründe des Gemeinwohls“, vom Gericht als Drei-Stufen-Theorie46 bezeichnet, bei Eingriffen in die Berufsfreiheit auf. Im Rahmen von Art. 12 Abs. 1 GG hat die Formulierung den Zweck, dem Eingriff des Gesetzgebers in das subjektive Recht des Bürgers eine dif­ ferenzierte Schranke entgegenzusetzen. Je nach Intensität des Eingriffs for­ dert das Bundesverfassungsgericht abstrakte oder konkrete Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut.47 Auch in neueren Entscheidungen wird das Gemeinwohl in der Grundrechtsdogmatik bemüht. So stellte das Bundesverfassungsgericht 2008 in einer Entscheidung, in der es das „Com­ putergrundrecht“ auf Gewährleistung und Integrität informationsspezifischer Systeme schuf, auf das Gemeinwohl ab.48 Danach liege die Möglichkeit der 43  Z. B. § 3 Abs. 4 KrWG mit der Pflicht zur Entsorgung gefährlicher Sachen für das Wohl der Allgemeinheit. 44  Z. B. § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB. 45  Schuppert, Gemeinwohl, in: ders./Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl, S. 19, 42. 46  BVerfGE 7, 377 ff.; 19, 330, 337; 25, 1, 11 f.; 33, 171, 183; 38, 373, 381; 71, 162, 172; 138, 261 ff.; siehe hierzu auch mit besonderem Fokus auf den Gemein­ wohlaspekt Schuppert, Gemeinwohl, in: ders./Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl, S. 19, 35 ff. 47  BVerfG, Urteil vom 06. 12. 2016 – 1 BvR 2821/11, 2 BvR 321/12, 2 BvR 1456/12 – juris; weiterhin BVerfGE 7, 377, 404 ff.; 93, 213, 235 ff. 48  BVerfGE 120, 274 ff.; hierzu Kutscha, NJW 2008, S. 1042; Murswiek/Rixen, in: Sachs, GG, Art. 2 Rn. 73c.



A. Die Begründung eines Staatszieles aus dem Gemeinwohl117

Bürger, an einer unbeobachteten Fernkommunikation teilzunehmen, im All­ gemeinwohl.49 In besonderem Maße auf das Gemeinwohl stellt das Gericht zudem bei der eigentlich schrankenlos gewährleisteten Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG ab. Diese darf nach einer Formulierung des Gerichts nur „zum Schutz von Gemeinwohlbelangen eingeschränkt werden, denen gleicher verfassungs­ rechtlicher Rang gebührt“.50 Nach dem Bundesverfassungsgericht gibt es da­ her Gemeinwohlbelange, denen ein gleicher verfassungsrechtlicher Rang wie den Grundrechten gebührt.51 Dies ist insbesondere wichtig für die Abwägung im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer staatlichen Maßnahme.52 Das Bundesverfas­ sungsgericht nennt für die Angemessenheit einer Maßnahme in der Regel 49  BVerfGE 50  BVerfGE

120, 274, 332. 28, 243, 260 ff.; 84, 212, 228; 103, 293, 306; Isensee, Gemeinwohl,

S. 59. 51  Hierzu zählen unter anderem der Schutz der Volksgesundheit, siehe BVerfGE 7, 377, 414; die Sicherung der Ernährung in BVerfGE 8, 71, 80; die Abwehr gesamt­ wirtschaftlicher Gefahren in BVerfGE 8, 275, 329; der Schutz der Wasserversorgung in BVerfGE 10, 89, 102; der Schutz des Mittelstandes in BVerfGE 13, 97, 111; das Interesse an rascher Bestrafung in BVerfGE 19, 342, 348; die Sicherheit des Staates in BVerfGE 20, 162, 179 f. oder die Vermeidung der Arbeitslosigkeit in BVerfGE 21, 245, 251; die Aufzählung ist Schuppert, Gemeinwohl, in: ders./Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl, S. 19, 37 entnommen; hierzu ferner ders., Staatswissenschaft, S. 235 f. 52  So prüfen Appel/Rossi, Finanzmarktkrise und Enteignung, S. 29; Reimer/Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für Sonderabgaben des Banken- und Versiche­ rungssektors, S. 104 f. (Rn. 320, 323 ff.); Zimmer, Gutachten G zum 68. Deutschen Juristentag 2010, S. 36 ff., die Finanzmarktstabilität im Rahmen der Rechtfertigung einer Inhalts- und Schrankenbestimmung als legitimes Regelungsziel des Gesetzge­ bers; Hopt/Fleckner/Kumpan/Steffek, WM 2009, S. 821, 831, stellen die Finanzmarkt­ stabilisierung im Rahmen der Prüfung der Angemessenheit des RettungsG der Enteig­ nung der Aktionäre eines zu rettenden Unternehmens gegenüber. Weiterhin Papier/ Shirvani, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 680. Ferner Droege, DVBl. 2009, S. 1415, 1416, 1419, der auf den erheblichen Eingriff in Art. 14 GG verweist und Ulrich, Verfassungs- und europarechtliche Grenzen der Finanzmarktstabilisierung, S.  94 ff.; neuerdings Klingenbrunn, Produktverbote zur Gewährleistung von Finanz­ marktstabilität, passim und ausführlich zum Eingriffscharakter finanzmarktstabilisie­ render Maßnahmen M. Müller, Finanzmarktstabilisierung und Anlegereigentum, S. 106 ff. Zweifelnd in Bezug auf Art. 14 GG wegen der fehlenden Konkretisierung Appel/Rossi, Finanzmarktkrise und Enteignung, S. 22 ff.; Tuschl, Verstaatlichung von Banken, S.  52 f. und S. 202 für die Funktionsfähigkeit des Finanzmarktes als Abwä­ gungsbelang bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Übertragungsanordnung nach § 62 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SAG i. V. m. § 67 SAG und S. 220, wonach der Schutz des Finanzmarktes ein „besonders wichtiger Zweck“ i. S. v. Art. 14 Abs. 3 GG sei, sowie S. 250, zum RettungsG. Interessant auch Schaffelhuber, GWR 2011, S. 488, 489, der vertritt, dass die Regulierung der Schattenbanken vor dem Hintergrund der Gewerbefreiheit nicht einfach zu rechtfertigen ist. Eine Prüfung anhand der Europäi­

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3. Kap.: Gemeinwohl und Finanzmärkte

Grundrechte Dritter oder andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechts­ werte – zum Beispiel Staatszielbestimmungen – 53, die in Abwägung mit den betroffenen Grundrechten in einen Ausgleich gebracht werden sollen. Dass die Finanzmarktstabilität vom Gesetzgeber als legitimes Regelungsziel gese­ hen wird, lässt sich z. B. mit Hinweis auf das angesprochene Rettungsüber­ nahmeG und mit der Begründung zum Finanzmarktstabilisierungsgesetz54 (vgl. auch § 2 Abs. 1 Satz 1 FmStG) begründen. Ferner wird die Finanz­ stabilität in § 67 Abs. 1 Nr. 2 SAG als eines von fünf Zielen der Abwicklung genannt55, wobei auch die übrigen Ziele der Sicherstellung von Kontinuität kritischer Funktionen, des Schutzes öffentlicher Mittel, des Schutzes der un­ ter das Einlagensicherungsgesetz fallenden Einleger und der unter das Anle­ gerentschädigungsgesetzes fallenden Anleger sowie des Schutzes der Gelder und Vermögenswerte der Kunden insgesamt unter das Ziel der Stabilität der Finanzmärkte fallen. Das Bundesverfassungsgericht fordert aber andere Be­ lange von Verfassungsrang. Ohne verfassungsrechtliche Anknüpfung bleibt dem Belang im Vergleich zu einem Grundrecht nur ein geringes Gewicht. Der Bestimmung eines Gemeinwohlbelanges folgt also das Problem, wie man ihn im Vergleich mit Grundrechten und anderen Belangen gewichten soll. So ist es möglich, einen Gemeinwohlbelang präzise zu bestimmen. Dies gilt auch für die Finanzmarktstabilität, deren Rang dann allerdings unklar bleibt. Dieser muss im Einzelfall bestimmt werden.56 Nach Schuppert sind Gemeinwohlbelange untereinander auf ihrer jeweiligen Ebene zunächst gleichrangig, so dass sie sich einer abstrakten Gewichtung entziehen.57 Die Lösung muss dann in einer Einzelfallabwägung gefunden werden. Dient ein Gemeinwohlbelang zugleich einem Staatsziel, drückt das Staatsziel also min­ destens einen Gemeinwohlbelang aus, muss ihm dies ein höheres Gewicht in der Abwägung mit Grundrechten und anderen Gütern von Verfassungsrang geben. Dies ist ein wesentlicher Aspekt, wenn sich der Staat bei Erlass von schen Grundrechte findet sich bei Pflock, Europäische Bankenregulierung und das „Too big to fail-Dilemma“, S. 157 ff. 53  BVerfGE 2, 1, 72  f.; 103, 293, 306; Bickenbach, Einschätzungsprärogative, S. 315; die vom BVerfG angesprochenen Rechtswerte bewertet Schuppert, Gemein­ wohl, in: ders. (Hrsg.), Gemeinwohl – auf der Suche nach Substanz, S. 19, 37 als Gemeinwohlbelange; anders Anderheiden, Gemeinwohl, S. 91, 199, der darauf hin­ weist, dass das BVerfG das Gemeinwohl als Rechtswert von Verfassungsrang bewer­ tet, ohne beide Begriffe gleichzusetzen. 54  Siehe Begründung des Gesetzesentwurfes BT-Drs. 16/10600, S. 1, 9, 10. 55  Die Regelung folgt den Vorgaben aus Art. 14 Abs. 2 SRM-VO und Art. 31 Abs. 2 BRRD. 56  Voßkuhle, VVDStRL 62 (2003), S. 266, 274 m. w. N. 57  Schuppert, Gemeinwohl, in: ders./Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl, S. 19, 44.



B. Finanzmarktstabilität als Gemeinwohlbelang119

regulierenden Gesetzen auf die Stabilität der Finanzmärkte als legitimes ­Regelungsziel stützt. Die Verknüpfung von Gemeinwohlbelangen mit Staats­ zielbestimmungen lässt sich auch daran festmachen, dass das Bundesverfas­ sungsgericht den Umweltschutz aus Art. 20a GG als Gemeinwohlbelang be­ wertet hat.58 Es reicht aber nicht aus, pauschal auf oberste Verfassungswerte abzustel­ len, ohne eine verfassungsrechtliche Verknüpfung herzustellen.59 Es ist not­ wendig, für einen Belang einzelne oder mehrere Vorschriften des Grundge­ setzes auszumachen, aus denen sich dieser ableiten lässt.60 Aus der Recht­ sprechung des Bundesverfassungsgerichts lassen sich keine Schlüsse ziehen, wie ein Gemeinwohlbelang entsteht oder wie er offengelegt werden kann. Vielmehr werden einschlägige Normen durch Rekurs auf das Gemeinwohl ausgelegt und interpretiert.

II. Zusammenfassung Das Gemeinwohl geht der geschriebenen Verfassung voraus und entfaltet seine Wirkung in den geschriebenen Grundsätzen der Verfassung.61 Es wurde gezeigt, dass der Begriff im Grundgesetz anerkannt sowie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts akzeptiert ist. Das Gemein­ wohl stellt ein Verfassungsprinzip dar. Unklar bleibt dagegen, was einen Gemeinwohlbelang ausmacht und wie er zu bestimmen ist. Im Folgenden ist daher zu untersuchen, wie die Finanzmärkte und das Gemeinwohl zueinan­ derstehen.

B. Finanzmarktstabilität als Gemeinwohlbelang Als dem Gemeinwohl dienend wurde nach der obigen Bestimmung vor allem das ausgemacht, was sowohl öffentlichen als auch privaten Interessen dient. Deutlich wurde, dass die staatlichen Handlungsträger die Finanzmarkt­ stabilität als Gemeinwohlbelang ansehen. 58  BVerfGE

102, 347, 365; 119, 59, 83. BVerfGE 32, 98, 108; Papier, in: Merten/Papier (Hrsg,), Hdb. d. GR, Bd. III, § 64 Rn. 26; eine weitere Aufzählung von Urteilen, in denen auf das Gemein­ wohl oder auf einen Gemeinwohlbelang Bezug genommen wird, findet sich bei Uerpmann-Wittzack, Das öffentliche Interesse, S. 62 ff. 60  Vgl. Papier, in: Merten/Papier (Hrsg.), Hdb. d. GR, Bd. III, § 64 Rn. 26. 61  Vgl. Isensee, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IV, § 71 Rn. 63, der als Prinzipien aufzählt: Gerechtigkeit, Rechtssicherheit, vorstaatliche Freiheit, Übermaßverbot, Subsidiarität und Solidarität, rechtstaatliches Verteilungsprinzip und Gewaltenteilung; ders., Gemeinwohl, S. 64 ff. 59  Siehe

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3. Kap.: Gemeinwohl und Finanzmärkte

Gegen einen Gemeinwohlbelang der Finanzmarktstabilität ließe sich an­ führen, dass die Rettungsmaßnahmen vorrangig Finanzinstituten zugute kommen, um dort Wohlstand zu sichern. Betroffen wären damit nicht ge­ meine, sondern individuelle Interessen. So wird als Kritik an der Bankenret­ tung auch häufig vorgebracht, dass diese in erster Linie die Banken schützt, während die Steuerzahler dafür aufkommen müssen. Wie bei Schilderung der Ursachen und Folgen der Krise deutlich wurde, hängt die Finanzmarktstabilität mit der allgemeinen wirtschaftlichen Ent­ wicklung in den Staaten zusammen. Die äußert sich darin, dass die Wirtschaft stagniert oder gar eine Rezession eintritt, das Bruttoinlandsprodukt sinkt und die Staatsverschuldung ebenso steigt wie die Arbeitslosenzahlen62. Finanz­ marktstabilität hat im Prozess der Globalisierung einen direkten Einfluss auf Wirtschaftswachstum und die staatliche Finanzlage.63 Im Zuge der Finanz­ krise wurden ab 2008 Rettungspakete aus Steuergeldern, also dem Geld der Allgemeinheit, finanziert. Anders als in anderen Lebensbereichen treffen die Folgen der Verhältnisse auf dem Finanzmarkt die Akteure gerade in der glo­ balisierten Welt in einer Geschwindigkeit, die ex-post Handeln erschwert und unmittelbares Gegensteuern durch staatliche Maßnahmen nahezu unmöglich macht. Wenn schon die Instabilität einer Bank die allgemeine Entwicklung negativ beeinflussen kann, kann auch die Rettung dieser Bank im Interesse des Gemeinwohls liegen. Die Stabilität der Finanzmärkte, die Instabilitäten von Banken vermeidet, liegt daher ebenso im Interesse des Gemeinwohls. Durch die geschilderten Folgen trifft eine Krise nahezu alle Bürger in ei­ nem Gemeinwesen. Die Stabilität der Finanzmärkte liegt daher ebenso im privaten Interesse.64 Sie sind auch betroffen, wenn im Fall einer großen Krise auf Seiten der Banken und Versicherungen Kapitalmittel in Milliarden­ höhe verloren gehen. Zugleich sind sie mittelbar über den Staatshaushalt betroffen, da staatliche Mittel zur Verfolgung anderer Belange fehlen. Glei­ ches gilt, wenn die Zentralbanken, in Reaktion auf Finanzkrisen, eine Nied­ rigzinsphase ins Leben rufen. 62  Die wachsende Zahl der Arbeitslosen in einer Krise lässt sich insbesondere mit der weltweiten Wirtschaftskrise 1929 nachweisen, dazu siehe z.  B. Friedmann/ Schwartz, A Monetary History of the United States, S.  299 ff.; Galbraith, The Great Crash, 1929; Kindleberger, The World in Depression, S. 126 f., 155 f. (zum Vereinig­ ten Königreich), S. 103, 131 f. (zu Deutschland).; aber auch in der aktuellen Eurokrise ist dieser Zusammenhang nachweisbar, so wuchs die Arbeitslosenquote in Griechen­ land von 9,1 % im Januar 2009 auf den Höchststand von 27,9 % im Juli 2013; in der Euro-Zone wuchs die Arbeitslosenquote von 9,6 % im Jahr 2009 auf 12 % im Jahr 2013 an. 63  Lastra, in: Moloney/Ferran/Payne, The Oxford Handbook of Financial Regula­ tion, S. 309, 312. 64  Vgl. Hellwig, Gutachten F zum 68. Deutschen Juristentag 2000, S. 9.



B. Finanzmarktstabilität als Gemeinwohlbelang121

Die Belastung des Staatshaushaltes begründet zugleich ein staatliches Inte­ resse an stabilen Finanzmärkten. Das öffentliche Interesse an Finanzmarkt­ stabilität ist damit aber vorrangig ein fiskalisches. Die Zuordnung fiskalischer Interessen zu den maßgeblichen öffentlichen Interessen ist nicht ohne weitere Erläuterung möglich. In der Flick-Entscheidung des Bundesverfassungs­ gerichts wird eine Abstufung vorgenommen und öffentlichen Interessen ein „hoher Rang, der über das nur fiskalische Interesse an der Sicherung des Steueraufkommens hinausgehe“65, eingeräumt. Aus der Formulierung könnte der Schluss gezogen werden, dass sonstigen öffentlichen Interessen gegen­ über rein fiskalischen Interessen ein höheres Gewicht zukommt. Jedoch geht diese, auf die Fiskustheorie in der Darstellung von Otto Mayer66 zurückgehende Abstufung zwischen öffentlichen und fiskalischen Interessen fehl.67 Die Fiskustheorie beruhte auf Rechtsschutzüberlegungen, welche die Trennung des Staates in zwei Rechtspersonen, den Hoheitsträger und den Fiskus, rechtfertigten, aber heute nicht mehr greifen. Fiskalische Interessen des Staates sind öffentliche Interessen. Dies hat auch das Bundesverfassungsgericht in anderen Entscheidungen anerkannt und die Staatsfinanzen mit dem Gemeinwohl verknüpft.68 Ein öffentliches Interesse an Finanzmarktstabilität besteht daher auch dann, wenn man es als vorrangig fiskalisches versteht. Im Übrigen ist das Interesse an Finanzmarktstabilität nach hiesiger Auf­ fassung kein rein fiskalisches. Es ist zwar eng mit den Staatsfinanzen ver­ knüpft, erschöpft sich darin jedoch nicht. Wie ausgeführt, sind die Bürger eines Staates von Instabilität auf den Finanzmärkten betroffen. Für seine Bürger hat der Staat eine Fürsorgepflicht. Die Erfüllung der Fürsorgepflicht liegt im staatlichen und damit im öffentlichen Interesse. Festzuhalten ist da­ her, dass ein öffentliches Interesse an der Erhaltung von Finanzmarktstabili­ tät besteht. Finanzmarktstabilität stellt daher keinen Gegensatz zwischen privaten und öffentlichen Interessen dar. Beide sind in gleicher Weise betroffen und auf dasselbe Ziel gerichtet, nämlich die Vermeidung von Finanzkrisen. Dies spricht dafür, einen Gemeinwohlbelang anzunehmen. Aus diesen Gemeinwohlinteressen muss eine staatliche Verantwortung entstehen können. Alleine aufgrund der Überlegungen zum Gemeinwohl im Verfassungsstaat ein Staatsziel zu postulieren, stünde aber im Gegensatz zu 65  BVerfGE

67, 100, 140. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, S. 47, 49 ff. 67  Uerpmann-Wittzack, Das öffentliche Interesse, S. 125 ff., insbesondere S. 128, 131. 68  BVerfGE 12, 354, 364. 66  Otto

122

3. Kap.: Gemeinwohl und Finanzmärkte

dessen Offenheit. Die Ausformung des Gemeinwohls ist eine Aufgabe des Gesetzgebers, der er in der Verfassung nachkommen muss.69 Der Begriff an sich kann allein kein Staatsziel tragen70, so dass es für die Annahme eines solchen weiterer Anknüpfungspunkte in der Verfassung bedarf. Dies lässt sich noch durch folgende Überlegungen unterstützen. Vom Ge­ setzgeber wird der Begriff des Gemeinwohls in der Regel auf Tatbestands­ seite verwendet, um die Befugnisse öffentlicher Stellen abzustecken oder zu begrenzen. Kaum Verwendung findet er dagegen als Verpflichtung des ge­ samten Staates auf bestimmte Handlungen, was jedoch essentiell wäre, um aus einem Gemeinwohlbelang ein Staatsziel und eine Verantwortung erwach­ sen zu lassen. Die lediglich mittelbare Bindung des Staates über die Gemein­ wohlverpflichtung seiner obersten Verfassungsorgane genügt hierfür nicht. Zwar handeln diese für den Staat, sind aber doch lediglich dessen Organe und nicht der Staat als solcher. Dieser ist vom Wechsel seiner Organe un­ abhängig. Die einfachgesetzlichen Verpflichtungen der Rechtsprechung auf das Allgemeinwohl, z. B. in § 32 BVerfGG71 oder § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO, richten sich unmittelbar nur an Teile der Staatsgewalt. Sie genügen zudem als einfachgesetzliche Ausprägungen nicht, um dem Begriff die staatszielbindende Kontur zu verschaffen, um aus einem Gemeinwohlbelang ein Staatsziel erwachsen zu lassen. Hinzu kommt die Problematik, dass unter Berufung auf das Gemeinwohl oder einen Gemeinwohlbelang theoretisch jegliches staatliche Handeln gerechtfertigt werden kann.72 Dieses lässt nicht darauf schließen, ein Staatsziel oder eine Staatsaufgabe anzunehmen, sollte auch ein starker Gemeinwohlbezug vorliegen. Jedenfalls kann ein solcher allein nicht ausreichen. Die einfache Annahme eines Rechts­ wertes von Verfassungsrang, wie es das Bundesverfassungsgericht auf Grund­ lage eines Gemeinwohlbelanges vertritt73, ist dogmatisch unbefriedigend, solange der relevante Belang keinen normativen Anknüpfungspunkt in der

69  In diesem Sinne: BayVerfGH, NJW 2005, S. 3699, 3607 f.; Häberle, Öffentli­ ches Interesse, S. 36; Klement, in: Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, S.  99, 106 f. 70  Vgl. Isensee, Gemeinwohl, S. 68: „Das Gemeinwohl bildet (…) kein Reservoir aller Staatsziele …“. 71  Untersuchung hinsichtlich der öffentlichen und privaten Interessen im Rahmen des § 32 BVerfGG bei Uerpmann-Wittzack, Das öffentliche Interesse, S. 134 ff. 72  Stern, in: Bitburger Gespräche 1984, S. 5, 6; vgl. auch Hohnerlein, Der Staat 56 (2017), S. 227 ff. 73  So z. B. BVerfGE 98, 218, 260; ferner BVerfGE 105, 279, 287, wonach die Bundesregierung Warnungen zum Gemeinwohl aussprechen darf und damit ein Grundrechtseingriff in die Religionsfreiheit gerechtfertigt wird; weitere Beispiele und eine Systematisierung bei Stern, FS 50 Jahre BVerfG, S. 1, 16 f.



B. Finanzmarktstabilität als Gemeinwohlbelang123

Verfassung aufweisen kann.74 Nicht jeglicher Belang, der nach Aussagen eini­ ger als Verkörperung des Gemeinwohls bezeichnet wird, kann legitimes Ziel staatlichen Handels und eines Grundrechtseingriffes sein.75 Selbst wenn er ein legitimes Ziel darstellt, heißt dies nicht, dass er den Grundrechten im Rah­ men der Abwägung gleichrangig entgegengestellt werden kann. Die Annahme, dass die Finanzmarktstabilität einen Gemeinwohlbelang darstellt, ist trotz dieser Problematik nicht unbeachtlich. Dem Gemeinwohl kann eine „normierende Kraft“76 nicht abgesprochen werden, so dass die berührten Belange dem Gesetzgeber Anlass sein können, im Rahmen seiner Möglichkeiten tätig zu werden. Die Einzelinteressen an der Beibehaltung des Systems vor der Krise stehen im Gegensatz zu dem Gemeinwohlinte­ resse an der Finanzmarktstabilität. Das Recht muss in der Lage sein, diesen Gegensatz zu ordnen, es darf nicht kurzfristig orientierten Einzel­interessen den Vorrang zukommen lassen.77 Der Gesetzgeber muss sich dabei der Rechtswirklichkeit stellen und die Einflüsse externer Faktoren auf Gemein­ wohlbelange berücksichtigen. Ein passendes Beispiel für einen Gemein­ wohlbelang, der über die Zeit zu einem Staatsziel angewachsen ist, ist der Umweltschutz, mittlerweile positiviert als Staatszielbestimmung in Art. 20a GG. Dies zeigt die Entwicklung, die ein Gemeinwohlbelang über die Zeit nehmen kann und dass die Bedeutung eines Belanges wachsen kann. Gerade der Finanzmarktstabilität, deren herausragende Bedeutung durch die Ent­ wicklungen nach 2008 aufgezeigt wurde, ist eine ähnliche Entwicklung zu­ zutrauen.

74  Anderheiden, Gemeinwohl, S. 91, 179 f.; vgl. auch Kriele, Theorie der Rechts­ gewinnung, S. 101, nach dem diese Argumente den Bezug zu den Problemen verlie­ ren und „überhöht“ daherkommen; ferner Brugger, in: ders./Kirste/Anderheiden (Hrsg.), Gemeinwohl, S. 17, 19, der vertritt, dass das Gemeinwohl als höchstes Ziel durch die Verfassungsorgane durchgesetzt werden soll, allerdings der Konkretisierung im Verfassungsrecht bedarf. 75  Siehe in diesem Kontext Hohnerlein, Der Staat 56 (2017), S. 227 ff., der legi­ time Ziele von Grundrechtseingriffen untersucht und die Berufung auf das Gemein­ wohl kritisch reflektiert, indem er fragt, ob es auch Eingriffsmotive gibt, die von vornherein unzulässig sind. Untersucht werden in dem Beitrag vor allem Motive, die aufgrund von mehrheitsgesellschaftlichem Befinden vorgebracht werden. 76  Häberle, Öffentliches Interesse, S. 714; vgl. auch Uerpmann-Wittzack, Verfas­ sungsrechtliche Gemeinwohlkriterien in: Schuppert/Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl, S. 179, 192: „Leitbild des deutschen Verfassungsrechts. Allerdings (…) zunächst Leerformel, die der Ausfüllung bedarf“. 77  Vgl. J. Petersen, Adam Smith als Rechtstheoretiker, S. 181.

4. Kapitel

Die verfassungsrechtlichen Vorgaben A. Methodische Vorüberlegungen Um der Stabilität der Finanzmärkte den Rang eines Staatszieles zukom­ men zu lassen, muss der Gedanke im Grundgesetz als der „rechtlichen Grundordnung des Staates“1 und „Grundlage des staatlichen Geschehens schlechthin“2 Niederschlag gefunden haben.3 Die Verfassung hat dieser grundlegenden Stellung folgend die Aufgabe und Funktion, leitende Ge­ sichtspunkte über die Ziele des Staates zu formulieren.4 Aus den Zielen des Staates kann auf das Bestehen einer staatlichen Verantwortung geschlossen werden, da der Staat verpflichtet ist, sich der Verwirklichung dieser Ziele zu widmen. Dabei muss das Ziel nicht ausdrücklich benannt werden, wie es z. B. beim Wiedervereinigungsgebot des Art. 23 GG a. F. der Fall war oder dem Umwelt- und Tierschutzziel in Art. 20a GG ist. Es genügt, wenn das Ziel „gewissermaßen zwischen den Zeilen des Grundgesetzes“5 steht. Das Grundgesetz trifft punktuelle Aussagen zu einzelnen Bereichen, die zur For­ mulierung eines Staatszieles oder einer staatlichen Verantwortung mosaik­ artig zusammengesetzt werden können.6 Konkret muss austariert werden, wie die gesamte Verfassungsrechtsordnung die Stabilität der Finanzmärkte

1  Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, S. 9; Stern, Staatsrecht I, S. 78: „Verfassung ist die höchstrangige normative Aussage über die Grundprinzipien der Herrschafts- und Werteordnung im Staat“; vgl. Hohnerlein, Der Staat 56 (2017), S. 227, 245. 2  Stern, in: Bitburger Gespräche 1984, S. 5, 12. 3  Vgl. Brenner, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, § 25 Rn.  37 f.; Bull, Staatsaufgaben S. 91, 99 ff.; Korioth, in Maunz/Dürig, GG, Art. 30 Rn. 9, 11; Isensee, Gemeinwohl, S. 71; Schöbener/Knauff, Allg. Staatslehre, § 4 Rn.  94 ff.; Stern, in: Bitburger Gespräche 1984, S. 5, 8 „Es ist die (…) Verfassung, die Staatsziele formuliert, Aufgaben zuteilt oder versperrt.“ 4  Michel, Staatszwecke, Staatsziele und Grundrechtsinterpretation, S. 147. 5  F. Reimer, Verfassungsprinzipien, S. 51. Siehe auch Volkmann, JZ 2018, S. 265, 269, der von „Aufladung und Anreicherung der Verfassung mit neuen Inhalten“ spricht. 6  Vgl. Brenner, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, § 25 Rn. 40, 43.



A. Methodische Vorüberlegungen 125

bewertet.7 Methodisch stellt sich die Frage, ob und inwieweit die zeithistori­ schen Entwicklungen zur Finanzmarktstabilität bei Auslegung von Begriffen wie z. B. „Preisstabilität“ in Art. 88 GG und „gesamtwirtschaftliches Gleich­ gewicht“ in Art. 109 Abs. 2 GG, die klare Schnittmengen zu den Finanz­ märkten beinhalten, einbezogen werden dürfen. Hiermit ist die bereits aufgeworfene Frage der Begründung von Staatszie­ len und staatlicher Verantwortung angesprochen, die an dieser Stelle geklärt werden muss.8 Wie bereits ausgeführt, enthalten mindestens die Staatszielbe­ stimmungen des Grundgesetzes ein Staatsziel. Dies ist der unkomplizierte Fall, in dem ein Staatsziel durch den Verfassungsgeber oder verfassungsän­ dernden Gesetzgeber in das Grundgesetz explizit aufgenommen wurde. Aus der jüngeren Vergangenheit ist Art. 20a GG zu nennen. Da dies für die ­Finanzmarktstabilität nicht zutrifft, müssen andere Wege der Herleitung von Staatszielen erörtert werden. Es ist anerkannt und möglich, dass ein Staatsziel aus der Zusammenschau mehrerer Verfassungsnormen durch Auslegung gewonnen wird, wobei hin­ sichtlich der Kompetenznormen Einschränkungen vorgenommen werden müssen.9 F. Reimer differenziert dabei zwischen Staatszielen kraft Inkorporation und solchen kraft Interpretation.10 Inkorporierte Staatsziele sind solche, die sich ausdrücklich im Grundgesetz finden. Staatsziele kraft Interpretation sind solche, die aus mehreren Bestimmungen der Verfassung durch Auslegung gewonnen werden. Die klassische Kategorie der Staatszielbestimmung fällt bei dieser Terminologie unter die Staatsziele kraft Inkorporation. Zwar taucht das Wort „Finanz“ mehrmals auf11, jedoch in einem anderen Kontext.12 Da 7  Vgl. Bull, Staatsaufgaben, S. 114 f.; Uerpmann-Wittzack, Das öffentliche Inte­ resse, S. 130. 8  Die folgende Darstellung orientiert sich an der Untersuchung von Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 252 ff.; daneben umfassend mit der Thematik ausei­ nandergesetzt hat sich Sommermann, Staatsziele, S. 297 ff. 9  Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 254 ff. und zu den Kompetenznormen s. u. S.  154 ff. 10  Vgl. F. Reimer, Verfassungsprinzipien, S. 197  ff., der zwischen Verfassungs­ prinzipien kraft Inkorporation und solchen kraft Interpretation unterscheidet. 11  Art. 21 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4, Art. 28 Abs. 2 Satz 3, Art. 95 Abs. 1, Art. 104a Abs. 6 Satz 2, Art. 104b Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 und 7, Art. 104c Satz 1, Art. 104d Satz 1, Art. 106 Abs. 1, Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 S. 2, Abs. 4 Satz 2 und 3, Abs. 8 Satz 2, Art. 107 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1, 2, 4, 5, Art. 108 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 2, Abs. 6, Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Abs. 4, Art. 114 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 5 und 6, Art. 115c Abs. 3, Art. 125c Abs. 2 Satz 2, Art. 143c Abs. 1, Abs. 3, Art. 143d Abs. 3 Satz 4 und 5, Abs. 4 Satz 1, Abs. 5 Satz 2, Art. 143f Satz 1 GG; s. a. Aufzählung bei Thiede, Finanzaufsicht, S. 257. 12  Thiele, Finanzaufsicht, S. 257.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

die Finanzmarktstabilität also unstreitig nicht zur Kategorie ausdrücklicher Staatsziele gehört, kann sie nur zur Kategorie der Ziele kraft Interpretation gehören. Zur Freilegung solcher ist eine Auslegung der Verfassung notwen­ dig. Beide Erscheinungsformen von Staatszielen sind gleichwertig. Ein Staats­ ziel kraft Inkorporation ist einem Staatsziel kraft Interpretation in der Hin­ sicht ähnlich, dass auch diese in ihrer genauen Ausprägung erst durch Ausle­ gung des Verfassungstextes zu ermitteln und auszugestalten sind. Sie liegen daher nicht so weit auseinander13, wie die Differenzierung zunächst vermu­ ten ließe. In beiden Fällen müssen normative Anknüpfungspunkte in der Verfassung bestehen, um als Staatsziel des Grundgesetzes Geltung zu bean­ spruchen.14 Nach F. Reimer soll Verfassungsprinzipien kraft Inkorporation ein höheres Gewicht zukommen. Da diese in der Verfassung bereits von vornherein angelegt seien, komme auch nur ihnen Verfassungsrang zu. Diese Abstufung ist abzulehnen. Ob ein Ziel nun kraft Inkorporation aus dem Text herausgelesen wird oder kraft Interpretation entsteht, hängt im Wesentlichen vom Standpunkt des Interpreten ab. Daher ist es vorzugswürdig, beiden Ver­ fassungsrang zuzusprechen und daher in Abwägung mit den Grundrechten und anderen Gütern von Verfassungsrang gleiches Gewicht beizumessen. Als Beispiel für ein auf diesem Wege gewonnenes Staatsziel lässt sich das vor Einführung des Art. 23 Abs. 1 GG aus den Vorschriften der Artt. 9 Abs. 2, 25, 26 GG, der Präambel und der grundgesetzlichen Verfassungsentschei­ dung für eine internationale Zusammenarbeit hergeleitete Staatsziel der euro­ päischen Integration nennen.15 Daneben wurde vor Einführung des Art. 20a GG das Staatsziel „Umweltschutz“ teilweise aus einer Zusammenschau der Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 GG abgeleitet.16 Zur Formulierung neuer Staatziele schlägt Sommermann vor, die Diskus­ sion um diese unter Rückbeziehung auf die Argumentation, die für die grundsätzlichen Staatsziele sprechen, zu führen.17 Es ist also möglich, neu­ ere Ziele aus bereits etablierten Zielen abzuleiten. Neue Ziele sind daher den ursprünglichen nicht einfach untergeordnet, und die Aufzählung der Ziele im Grundgesetz ist nicht abschließend. F. Reimer, Verfassungsprinzipien, S. 203. F. Reimer, Verfassungsprinzipien, S. 204. 15  Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 255 m. w. N. 16  Zusammenfassend zur Diskussion Uhle, DÖV 1993, S. 947, 947  f. m. w. N.; ferner Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20a Rn. 7; ferner zur Staatsaufgabe Um­ weltschutz Rauschnig, VVDStRL 38 (1980), S. 167 ff. 17  Sommermann, Staatsziele, S. 324 und eine ausführliche Darstellung der einzel­ nen Ziele auf S. 205 ff.; ders., Der Staat 32 (1993), S. 430, 434 f. 13  Vgl. 14  Vgl.



A. Methodische Vorüberlegungen 127

Hinzuzufügen ist, dass Sommermann für die Neuformulierung eines Staatsziels eine umfassende Analyse der tatsächlichen Gegebenheiten, die für die Einführung eines neuen Zieles sprechen, sowie eine Folgenanalyse for­ dert, die Aussagen darüber treffen kann, inwiefern die Erhebung zum Staats­ ziel und die darauf ausgelegte Gesetzgebung zur Verbesserung des Gemein­ wohls beitragen können.18 Wichtig sind dabei insbesondere der Bezug auf die tatsächlichen Ereignisse und die Einbeziehung der Folgen, die etwas da­ rüber aussagen können, ob die Begründung eines Zieles wirklich sinnvoll ist und das staatliche Handeln sinnvoll leiten kann. Deutlich wird, dass es bis jetzt kein theoretisches System für die Begründung von Staatszielen gibt, sondern diese aus den politischen Gegebenheiten und tatsächlichen Heraus­ forderungen entstehen.19 Hieran schließt die gleich zu behandelnde Frage an, inwiefern sich diese tatsächlichen Ereignisse überhaupt auf die Auslegung der Verfassung auswirken dürfen. Die Analyse, ob die Erhebung der Finanzmarktstabilität in den Verfas­ sungsrang dem Gemeinwohl dienlich ist, wurde bereits durchgeführt (siehe S. 119 ff.) und fiel positiv aus. Die tatsächlichen Gegebenheiten, die zu den letzten Krisen geführt haben und solche, die auch in Zukunft zu Krisen füh­ ren können, gemeint ist vor allem die folgenschwere Verbindung zwischen Staat und Finanzmärkten (siehe S. 68 ff.), wurden ebenfalls erläutert. Den­ noch ist zusätzlich zu klären, inwiefern diese auch in eine Auslegung der Bestimmungen der Verfassung einfließen dürfen, um daraus ein Ziel von Verfassungsrang ableiten zu können.

I. Die Auslegung der Verfassung Bei Auslegung des Grundgesetzes stellt sich die Frage, inwiefern aktuelle Geschehnisse in die Auslegung mit einbezogen werden dürfen. Folge einer geschriebenen Verfassung ist, dass nicht alle tatsächlichen Entwicklungen vorausgesehen und im Verfassungstext geregelt werden können. Im Jahr 1949 dachten die Verfasser des Grundgesetzes kaum an die Frage der ­Finanzmarktstabilität. Fraglich ist daher, ob über die fortlaufende Zeit ein Wandel in der Auslegung einzelner Begriffe der Verfassung eintreten kann. Das Grundgesetz ist absichtlich abstrakt gefasst worden. Es stellt eine Rahmenordnung dar, die zukunftsoffen ausgestaltet20 und konkretisierungs­ 18  Sommermann,

Staatsziele, S. 326 f. in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. III, § 57 Rn. 116; Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, S. 78 f. 20  Böckenförde, NJW 1976, S.  2089, 2091; Bryde, Verfassungsentwicklung, S.  80 ff.; Hesse, Grundzüge, § 1 Rn. 19 ff.; E. Klein, Staat und Zeit, S. 48; Kloepfer, Verfassungsrecht I, § 1 Rn. 140; Michael, RW 2014, S. 426, 450; Voßkuhle, AöR 119 19  Isensee,

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

bedürftig ist.21 Durch die Regelung staatlicher Belange im Bereich der Orga­ nisation und Grundrechte gibt es politische Determinanten vor und beein­ flusst die Auslegung einfachen Rechts.22 Politische Entscheidungen können von der Verfassung in einem so hohen Maße beeinflusst werden, dass bei der Auslegung besondere Vorsicht geboten ist. Das Grundgesetz steht wie jede andere Rechtsnorm der Auslegung offen, sie wird dann notwendig, wenn dem Verfassungstext auf eine sich aktuell stellende Frage keine eindeutige Antwort zu entnehmen ist. Was in diesem Fall die Vorgaben der Verfassung sind, muss unter „Einbeziehung der zu ordnenden Wirklichkeit bestimmt werden“23. Aufgabe der Auslegung ist es, auf die sich durch tatsächliche Ereignisse stellenden Fragen Antworten aus dem Verfassungstext herauszufiltern.24 Nimmt man diesen Standpunkt ein, wird deutlich, die Auslegung als Einfallstor für die Wirklichkeit in den Normtext zu begreifen. Nach einer prägnanten Formulierung Konrad Hesses bedeutet Verfas­ sungsauslegung immer eine Konkretisierung.25 Die Auslegung steht nicht losgelöst von der Wirklichkeit, sondern muss den konkreten Fall vor Augen haben, der verfassungsrechtlich von Bedeutung ist und den Interpreten zu einer Hypothese über den Norminhalt herausfordert, um dann zu prüfen, ob die Hypothese durch den Verfassungstext bestätigt wird.26 Ausgangspunkt der methodischen Frage nach der Verfassungsauslegung ist der Unterschied zwischen der subjektiven Auslegung, orientiert am Willen des Gesetzgebers, und der objektiven Auslegung, die sich am normativen (1994), S. 35, 48; a. A. wohl Hillgruber, VVDStRL 67 (2008), S. 8, 21; vgl. ferner BMI/BMJ, Staatszielbestimmungen, S. 23 Rn. 11 und S. 44 Rn. 48, wonach das Grundgesetz „arm an bloßen Programmsätzen“ ist. 21  Becker/Kersten, AöR 141 (2016), S. 1, 14; Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 89, 93; Stock, Verfassungswandel in der Außenverfassung, S. 191. 22  Stern, Staatsrecht I, S. 127. 23  Hesse, Grundzüge, § 2 Rn. 60; ähnlich auch Röhl, VVDStRL 74 (2015), S. 7, 12, nach dem die von der Norm erfasste Wirklichkeit zu bestimmen ist; zurückhal­ tend Hillgruber, VVDStRL 67 (2008), S. 8, 15 f., der die Wirklichkeit bei der Verfas­ sungsanwendung verortet. 24  Isensee, FS Winkler, S. 367, 379; zum Begriff der Interpretation Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, S. 71 ff. 25  Hesse, Grundzüge, § 2 Rn. 60; Stern, Staatsrecht I, S. 128; ihm folgend Voßkuhle, JuS 2019, S. 417; einschränkend Müller/Christensen, Juristische Methodik I, S. 263: „Interpretation des Normtextes ist eines der wichtigsten Elemente im Vorgang der Konkretisierung, aber nur ein Element“, die aber grundsätzlich auch das Konkre­ tisierungsmodell verfolgen. Das BVerfG benutzt diesen Begriff nicht, es spricht statt­ dessen einfach von Auslegung. Kritisch zur Gleichsetzung von Interpretation und Konkretisierung ist Böckenförde, NJW 1976, S. 2089, 2096. 26  Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 212.



A. Methodische Vorüberlegungen 129

Gesetzessinn orientiert.27 Die Begriffe subjektiv und objektiv lassen als In­ terpretationsziel vier Möglichkeiten offen: (1) eine subjektiv-entstehungszeit­ liche, die die Erforschung des Willens des historischen Gesetzgebers als maßgeblich ansieht, (2) eine objektiv-entstehungszeitliche, die auf den ratio­ nalen Willen des historischen Gesetzgebers abstellt, (3) eine subjektiv-ausle­ gungszeitliche, die nach dem hypothetischen Willen des gegenwärtigen Ge­ setzgebers fragt, und (4) eine objektiv-auslegungszeitliche, die den objektiv vernünftigen Sinn des Gesetzes zum Auslegungszeitpunkt erforschen möchte. In der Literatur vor allem diskutiert werden die Varianten (1) und (4), die daher im Folgenden als subjektive und objektive Auffassung bezeichnet wer­ den.28 Objektiv-teleologisch wird hier in dem Sinne verstanden, dass die Ausle­ gung sich nicht auf Zwecke historischer Gesetzgeber, sondern auf „vernünf­ tige oder im Rahmen der geltenden Rechtsordnung gebotene Zwecke“ be­ zieht.29 Sie bezieht tatsächliche Gegebenheiten, die sich der Kontrolle des Gesetzgebers entziehen, mit ein.30 Demgegenüber steht die sog. subjektiventstehungszeitliche Auslegung, die den Willen des Gesetzgebers zum Zeit­ punkt des Erlasses als maßgeblich ansieht31 und damit Sinn und Zweck des Gesetzes nach heutigem Verständnis nicht mit einbeziehen möchte. Für diese Ansicht spricht die Bindung der Rechtsprechung an Recht und Gesetz nach Art. 20 Abs. 3 GG. Die Kontroverse beherrscht auch US-amerikanische Verfassungsrecht und die Auslegung der Verfassung durch den obersten Gerichtshof.32 Für die An­ hänger der Auffassung einer Verfassung als living constitution (auch: l­iving document) ist es offenkundig, dass diese im Lauf der Zeit einer fortlaufenden Interpretation offenstehen muss. Dies bedeutet auch, dass nicht starr nach dem Wortlaut ausgelegt werden muss, sondern die tatsächliche Entwicklung 27  Ausführlich Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 89 ff.; Larenz, Methodenlehre, S.  316 ff.; Mennicken, Ziel der Gesetzesauslegung, S. 16 ff. 28  Zu den Varianten Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, S. 82 f. 29  Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 296. 30  Larenz, Methodenlehre, S. 333. 31  So Hillgruber, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, § 15 Rn. 36, der fordert, dass „das Recht primär nach dem subjektiv-historischen Willen des Normsetzers auszulegen ist“; ders., VVDStRL 67 (2008), S. 8, 44 ff.; ferner Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 235 ff.; vermittelnd Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 305, der Argumenten, die an den Willen des histori­ schen Gesetzgebers anknüpfen, den Vorrang einräumen möchte, solange nicht „ver­ nünftige“ Gründe für den Vorrang anderer Argumente sprechen; siehe ferner die Nachweise bei Mennicken, Ziel der Gesetzesauslegung, S. 19 f. (Fn. 5). 32  Heun, AöR 116 (1991), S. 185 f. Ausführlich zur Flexibilität der Verfassung mit einem Vergleich zwischen den USA und Deutschland Egidy, Finanzkrise und Verfas­ sung, S. 437 ff., 442.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

und insbesondere die sozialen Veränderungen in die Auslegung des Textes einzubeziehen sind, um in Krisenzeiten handlungsfähig zu bleiben. Demge­ genüber steht die Lehre vom original intent, in den USA von den sog. Origi­ nalists vertreten; in Österreich wird eine ähnliche Auffassung unter dem Be­ griff der Versteinerungstheorie vertreten.33 Für das Bundesverfassungsgericht bedeutet Auslegung grundsätzlich die Erforschung des objektivierten Willens des Normgebers durch Auslegung anhand der klassischen Auslegungsmethoden: des Wortlauts, der Entste­ hungsgeschichte, des systematischen Zusammenhangs sowie von Sinn und Zweck (der sog. Ratio oder des Telos) der Norm.34 Das Gericht trifft keine eindeutige Entscheidung, geht aber eher in Richtung einer objektiv-teleologi­ schen Auslegung. Die Entstehungsgeschichte spielte in der Rechtsprechung des Gerichts eine eher untergeordnete Rolle, z. B. erst „zur Bestätigung des Ergebnisses der Auslegung“35 oder nur, wenn „der Wille des Gesetzgebers (…) in dem Gesetz selbst einen hinreichend bestimmten Ausdruck gefunden hat“36. Die untergeordnete Rolle, die das Bundesverfassungsgericht der Ent­ stehungsgeschichte im Rahmen der Auslegung zubilligte, wandelte sich im Laufe der ergangenen Entscheidungen.37 Insgesamt lässt sich durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht belegen, dass die Ent­ stehungsgeschichte generell eine untergeordnete Rolle spielen soll, aber auch 33  Zu dem Streit im US-amerikanischen Recht schon Hsü Dau-Lin, Die Verfas­ sungswandlung, S.  81 ff., 89 ff.; Hillgruber, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, § 15 Rn. 21; siehe auch Heun, AöR 116 (1991), S. 185 ff.; Kriele, Der Staat 4 (1965), S. 195, 204 ff.; W. Schenke, AöR 103 (1978), 566, 570 ff.; aus der US-amerikanischen Literatur exemplarisch Scalia, A Matter of Interpretation, passim. 34  BVerfGE 1, 299, 312; 6, 55, 75; 11, 126, 130; 40, 353, 356; siehe auch Borowski, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. XII, § 274 Rn. 1; Kloepfer, Verfassungsrecht I, § 1 Rn. 144 ff.; Sachs, DVBl. 1984, S. 73, 74 f.; Stern, Staatsrecht I, S. 125 f.; kritisch zur Methode des Gerichts Hesse, Grundzüge, § 2 Rn. 55 ff.; Müller/Christensen, Juristische Methodik I, S. 51 f.; kritisch zur Abwertung der entste­ hungszeitlichen Methode durch das Gericht Larenz, Methodenlehre, S. 363. 35  BVerfGE 1, 299, 312; ähnlich BVerfGE 48, 246, 260, wonach die Gesetzesma­ terialien nur „unterstützend“ herangezogen werden könnten. Auch in neueren Ent­ scheidungen sieht das Bundesverfassungsgericht die Entstehungsgeschichte als Bestä­ tigung des vorher schon gefundenen Auslegungsergebnisses an, siehe z. B. BVerfG, NVwZ 2017, S. 1282, 1283; BVerfG, NJW 2017, S. 611, 621. 36  BVerfGE 11, 126, 130; ausführlich Sachs, DVBl. 1984, S. 73, 75 ff. 37  Umfangreiche Nachweise aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge­ richts bei Sachs, DVBl. 1984, S 73, 77 f.; in neuerer Zeit sind z. B. BVerfGE 143, 246, 33f f., ferner BVerfG, NVwZ 2017, S. 696, 698; BVerfG, NVwZ 2017, S. 1111, 1113; BVerfG, NJW 2017, S. 2249 zu nennen, in denen das Gericht von einer Gleich­ wertigkeit der entstehungszeitlichen Auslegung mit anderen Auslegungsmethoden ausgeht. Einer rein entstehungszeitlichen Auslegung erteilte das Gericht in BVerfGE 105, 313 ff. eine Absage; so auch Voßkuhle, JuS 2019, S. 417, 419 ff. m. w. N. aus der Rechtsprechung des Gerichts.



A. Methodische Vorüberlegungen 131

nicht, dass sie in jedwedem Fall als gleichrangige Methode angesehen wird. Sicher kann nur festgestellt werden, dass Ausgangspunkt für das Bundesver­ fassungsgericht der klassische Kanon der Auslegungsmethoden ist und dabei die objektiv-teleologische gegenüber einer subjektiv-entstehungszeitlichen Auslegung vorgezogen wird. Die Problematik einer auf den historischen Willen abstellenden Auslegung ist vor allem anderen der schwer zu ermittelnde Wille des historischen Ge­ setzgebers und, wer überhaupt genau als Verfassungsgeber anzusehen ist. Auch wenn insgesamt das Konzept der Verfassung als living document vor­ zugswürdig ist, und damit die Auslegung der Verfassung nach objektiv – tele­ologischen Gesichtspunkten, müssen subjektive Elemente in die Ausle­ gung miteinbezogen werden. Eine solche Lesart erlaubt es, auch aktuelles Zeitgeschehen bei Auslegung der Verfassung mit einzubeziehen, ohne den Willen des ursprünglichen Gesetzgebers außer Acht zu lassen. Insbesondere zur Unterstützung eines gefundenen Ergebnisses kann der Wille des Gesetz­ gebers Bedeutung erlangen, soweit er zweifelsfrei feststellbar ist. Hierdurch verliert die Verfassung nicht ihre stabilisierende Funktion, sondern kann sie durch Anpassung an zeitaktuelles Geschehen überhaupt erst konservieren. Eine Verfassung, die nicht auf aktuelle Geschehnisse reagiert, ist keine stabi­ lisierende, so dass auch mit einer starren Auslegung keine Stabilität erreicht wird. Stattdessen droht durch die fehlende Anpassung eine Stagnation, die zu Verwerfungen und im Endeffekt zur Wirkungslosigkeit und Ablösung der Verfassung führen kann.

II. Begrenzende Prinzipien der Auslegung Die Auslegung wird durch bestimmte Prinzipien geleitet und begrenzt zu­ gleich.38 Besonderes Augenmerk ist auf das Prinzip der Einheit der Verfas­ sung39 zu legen, d. h. Verfassungsnormen sind so zu interpretieren, dass keine Widersprüche innerhalb der Verfassung entstehen. Ein Staatsziel der Finanzmarktstabilität dürfte sich nicht zu anderen Normen des Grundgeset­ zes in einen unauflösbaren Widerspruch setzen. Weiterhin zu nennen sind das Prinzip der praktischen Konkordanz, der Maßstab funktioneller Richtigkeit, das Prinzip integrierender Wirkung, der Grundsatz optimaler Verfassungs­ wirksamkeit und zuletzt die normative Verfassung.40 P. Schneider, VVDStRL 20 (1962), S. 1 ff.; Ehmke, ebd., S. 53 ff. 30, 1, 19; 49, 24, 56; Ehmke, VVDStRL 20 (1962), S. 53, 102. 40  Siehe die Aufzählung bei Hesse, Grundzüge, § 2 Rn. 70 ff.; Kloepfer, Verfas­ sungsrecht I, § 1 Rn. 163 ff.; Stern, Staatsrecht I, S. 131 ff.; Starck, in: Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. XII, § 271 Rn. 20 dagegen fasst diese zu­ sätzlichen Gesichtspunkte unter die systematische Auslegung. 38  Grundlegend 39  BVerfGE

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

III. Vom Bedeutungswandel zum Verfassungswandel Finanzmarktstabilität ist kein Terminus des Grundgesetzes. Die Verfassung könnte aber in mehreren Fällen Vorgaben machen, die in erheblichem Maße auf die Finanzmarktstabilität ausstrahlen und sich auswirken. Dies hat die letzte Finanzkrise aufgezeigt. In diesem Kontext muss geklärt werden, inwie­ fern dieser Wandel in der Wahrnehmung der Gefahren der Finanzmärkte zu­ gleich die Wahrnehmung der Verfassung ändert, also, ob der Verfassung und ihren Bestimmungen über die Zeit hinweg andere Bedeutungen zu entneh­ men sind, als dies bei ihrer Entstehung gedacht war. Dies wurde bereits an­ gesprochen, als der objektiven Methode der Vorrang eingeräumt wurde. Dennoch kann auch diese auslegungszeitliche Methode nicht unbegrenzt wirken. Auf dem Wege der Verfassungsauslegung können einzelne Verfassungs­ normen über die Zeit einen Bedeutungswandel erfahren. Die Auslegung hat in diesem Prozess die Funktion, den Bedeutungswandel einer Verfassungs­ norm methodisch vorzubereiten. So fanden mehrere Änderungen des Grund­ gesetzes statt, ohne dass der Text des Grundgesetzes geändert wurde. Bei­ spielhaft aufgeführt sei die „Entdeckung“ des allgemeinen Persönlichkeits­ rechts durch das Bundesverfassungsgericht oder die Auffassung, die Grund­ rechte als objektive Werteordnung zu verstehen. Durch die vergangenen Krisen, beginnend mit dem Platzen der DotComBlase im Jahr 2000 über die Finanzkrise ab 2007 und die folgende Euro- und Staatsschuldenkrise, sind in neuerer Zeit Entwicklungen eingetreten, die auf das Handeln von Staaten in erheblichem Maße Einfluss ausüben und für das tatsächliche Leben der Bürger von großer Bedeutung sind. Das Bundesverfassungsgericht führte zum Bedeutungswandel in einem seiner früheren Urteile aus, dass ein solcher möglich ist, „wenn in ihrem Bereich (Anm.: gemeint ist der Bereich der Verfassungsnorm) neue, nicht vorgesehene Tatbestände auftauchen oder bekannte Tatbestände durch ihre Einordnung in den Gesamtablauf einer Entwicklung in neuer Beziehung oder Bedeutung erscheinen“41. Als Voraussetzung für die Annahme eines Bedeu­ tungswandels verlangt das Gericht „eine Veränderung der sozialen und öko­ nomischen Verhältnisse, aber auch von Verhaltensweisen und Wertvorstellung in der Bevölkerung, die eine Änderung der Verfassungsauslegung erforder­ lich machen“42. In der Soraya-Entscheidung formulierte das Gericht: „Die Norm steht ständig im Kontext der sozialen Verhältnisse und der gesell­ 41  BVerfGE

2, 380, 401. Der Staat, Beiheft 20 (2012), S. 287, 295; vgl. auch Michael, RW 2014, S. 426, 462 f. 42  Würtenberger,



A. Methodische Vorüberlegungen 133

schaftlich-politischen Anschauungen, auf die sie wirken soll; ihr Inhalt kann und muß sich unter Umständen mit ihnen wandeln.“43 Nach dieser Formulie­ rung kann der Wandel von gesellschaftlich-politischen Anschauungen den Wandel einer Verfassungsnorm tragen. Das Bundesverfassungsgericht ver­ wendet die Begriffe des Bedeutungswandels und des Verfassungswandels synonym und versteht darunter dieselbe Rechtsfigur.44 Treffender ist es aber, den Bedeutungswandel auf tatsächlicher Ebene als Voraussetzung für den Verfassungswandel, der den Wandel der Norm beschreibt, zu sehen und da­ her beide Begriffe nicht gleichzusetzen.45 In der Literatur wird dieses Phänomen schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert46 diskutiert. Das Thema ist weiterhin nicht ausdiskutiert.47 Teilweise wird der Verfassungswandel als überflüssig dargestellt48, während andere Autoren an der Rechtsfigur festhalten wollen.49 Die Ursprünge ver­ deutlichen sich vor dem Hintergrund, dass nach der Weimarer Reichsverfas­ sung eine Verfassungsänderung auch ohne Textänderung möglich war, also das Feststellen eines Auseinanderfallens zwischen Norm und Wirklichkeit für eine Änderung genügte.50 Dies ist wegen Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG in der

43  BVerfGE

34, 269, 288. BVerfGE 62, 1, 67 ff.; 83, 37, 45; Stock, Verfassungswandel in der Au­ ßenverfassung, S. 162; Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 96. 45  So im Ergebnis dann auch Stock, Verfassungswandel in der Außenverfassung, S.  163 f.; ferner Böckenförde, in: ders. (Hrsg.), Staat, Nation, Europa, S. 141, 145. 46  Siehe nur Laband, Wandlungen der Reichsverfassung, passim; G. Jellinek, Ver­ fassungsänderung, passim; siehe auch Hsü Dau-Lin, Die Verfassungswandlung, S. 21 ff., 25 ff., 29 ff. zu Formen des Verfassungswandels, die nicht durch eine Verfas­ sungsinterpretation ausgelöst werden, in der heutigen Literatur spielen diese jedoch kaum noch eine Rolle; zu den Schriften von Laband und G. Jellinek siehe U. Becker/ Kersten, AöR 141 (2016), S. 1, 9 ff. und Stock, Verfassungswandel in der Außenver­ fassung, S.  158 ff. 47  So auch Volkmann, JZ 2018, S. 265, 266; ablehnend gegenüber der Möglich­ keit des Verfassungswandels Hillgruber, VVDStRL 67 (2008), S. 8, 45 f.; die weitere Aktualität zeigen auch die neuere Untersuchung von Stock, Verfassungswandel in der Außenverfassung, S. 149 ff. oder die Aufsätze von U. Becker/Kersten, AöR 141 (2016), S.  1 ff.; Volkmann, JZ 2018, S. 265 ff. und Voßkuhle, JuS 2019, S. 417 ff. 48  Vor allem Häberle, ZfP 21 (1974), S. 111, 129 f.; ihm folgend Voßkuhle, Der Staat 43 (2004), S. 450, 459: „Eine eigenständige Lehre vom Verfassungswandel existiert im deutschen Verfassungsrecht nicht“. Anzumerken ist aber, dass beide den Wandel von Verfassungsnormen nicht ablehnen, sondern lediglich die eigenständige Rechtsfigur des Verfassungswandels als überflüssig bewerten. 49  Exemplarisch Michael, RW 2014, S. 426, 435  ff. wonach Verfassungswandel zwischen Verfassungsinterpretation und Verfassungsrevision steht. 50  Vgl. U. Becker/Kersten, AöR 141 (2016), S. 1, 12; Stock, Verfassungswandel in der Außenverfassung, S. 161. 44  Siehe

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

Bundesrepublik nicht möglich, weshalb in heutiger Zeit ein Verfassungswan­ del nur noch durch Verfassungsauslegung möglich ist.51 Neben der Frage, ob ein Bedeutungswandel überhaupt zulässig ist, ist wei­ terhin von Bedeutung, wer für die Beurteilung, ob ein solcher vorliegt, zu­ ständig ist. Die Zuständigkeitsfrage ist grundsätzlich eine Frage der demo­ kratischen Legitimation. Festgestellt wird ein Verfassungswandel grundsätz­ lich durch das Bundesverfassungsgericht im Wege der Verfassungsausle­ gung.52 Daneben ist auch der verfassungsändernde Gesetzgeber zur Auslegung befugt.53 Fehlt der auszulegenden Norm ein objektiv feststellbarer Wille, ist der Text der Auslegung offen.54 Die Anforderungen an den Wandel müssen in Anlehnung an Art. 79 GG entwickelt werden. Art. 79 GG stellt Anforderun­ gen, die nicht durch eine Interpretation umgangen werden dürfen.55 In die­ 51  So Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht, S. 99, der zudem noch die Mög­ lichkeit eines Verfassungswandels durch Verfassungsgewohnheitsrecht für möglich erachtet. In diese Richtung auch Böckenförde, in: ders. (Hrsg.), Staat, Nation, Europa, S. 141, 152 ff. und Schuppert, AöR 120 (1995), S. 32, 68 ff., der die Interpretation als möglichen Weg zum Verfassungswandel deutet. Den Verfassungswandel nicht auf diese Fallgruppen einengen möchten U. Becker/Kersten, AöR 141 (2016), S. 1, 14. Auch das Bundesverfassungsgericht versteht den Verfassungswandel in einem neue­ ren Urteil in Anlehnung an Häberle vor allem als Problem der Verfassungsinterpreta­ tion, siehe BVerfGE 142, 25, 65 f. 52  Freiherr von der Heydte, ARSP 39 (1951), S. 461, 472 f.; Hesse, Grundzüge, § 2 Rn. 50; Michael, RW 2014, S. 424, 448; Stern, Staatsrecht I, S. 130; nach dem Konzept der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ von Häberle, JZ 1975, S. 297 ff. ist nicht nur das Bundesverfassungsgericht, sondern sind vielmehr alle Be­ teiligten des Staates, also auch seine Bürger, zur Verfassungsinterpretation berufen; hierzu ferner ders./Kotzur, Europäische Verfassungslehre, S. 494 ff.; einen weiteren Kreis der Verfassungsinterpreten unter Einbeziehung von politischen Kontrollinstan­ zen zieht auch Grimm, in: Hoffmann-Riem (Hrsg.), Sozialwissenschaften im Studium des Rechts, Bd II, S. 83, 93. 53  Vgl. F. Reimer, Verfassungsprinzipien, S. 389  ff., dessen Untersuchung sich allerdings auf die Zuständigkeit zur Begründung impliziter Verfassungsprinzipien bezieht, nicht auf die allgemeineren Begriffe der Verfassungsinterpretation oder kon­ kret die Herleitung eines Staatszieles; das Bundesverfassungsgericht entscheidet da­ bei letztverbindlich. So BVerfGE 108, 282, 298; ferner U. Becker/Kersten, AöR 141 (2016), S. 1, 12; Hillgruber, VVDStRL 67 (2008), S. 8, 43; Stock, Verfassungswandel in der Außenverfassung, S. 150 ff.; Voßkuhle, JuS 2019, S. 417, 422. Dem Gesetzge­ ber bleibt, wenn er mit der Interpretation des Bundesverfassungsgerichts nicht über­ einstimmt, die Möglichkeit der Verfassungsänderung. 54  F. Reimer, Verfassungsprinzipien, S. 116, wobei der Verweis auf Stern, Staats­ recht I, S. 112 darauf schließen lässt, dass F. Reimer mit dieser Formulierung den Verfassungswandel meint; aufschlussreich auch F. Reimers Verweis auf das Zitat von Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber, S. 143: „Das Grundgesetz ist nur insoweit ge­ richtlich konkretisierungsfähig, als es selbst auslegungsfähig sein will“.



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sem Kontext ist es auch möglich, den Verfassungswandel von der Ver­ fassungsänderung abzugrenzen. So soll kein Verfassungswandel vorliegen, wenn sich die tatsächlichen Gegebenheiten, auf die sich die Norm bezieht, ändern oder die Bedeutung der Norm selbst sich ändert, weil sich die norma­ tive Änderung nicht innerhalb, sondern außerhalb der Norm vollzieht.56 Der Verfassungswandel spielt im Spannungsfeld zwischen Zeit und Verfas­ sung. Nur durch eine Auslegung der Verfassungsnormen kann der Faktor „Zeit“ in die Verfassung aufgenommen werden und der Bedeutung der tat­ sächlichen zeitgeschichtlichen Entwicklung für die Verfassungswirklichkeit Rechnung getragen werden.57 Das Verständnis des Verfassungstextes sollte daher nicht außerhalb der tatsächlichen Entwicklung stehen, sondern deren Ergebnis sein.58 Die Probleme dieser wirklichkeitsbezogenen Auffassung sind wiederum solche der Legitimation59 und der Gewaltenteilung60. Nur der Verfassungs­ gesetzgeber und der verfassungsändernde Gesetzgeber sind demokratisch le­ gitimiert. Das zur Interpretation aufgerufene Verfassungsgericht ist im Ge­ gensatz zum Parlament personell schwächer legitimiert; in der Bundesrepub­ lik mittelbar über den Bundestag und Bundesrat, Art. 94 Abs. 1 Satz 2 GG. Dem Gesetzgeber könnte durch Interpretation etwas untergeschoben werden, was er so nicht durch das Gesetz erreichen wollte. Dies verschärft sich, wenn es um den Text der Verfassung geht. Änderungen am Text des Grundgesetzes darf nur der verfassungsändernde Gesetzgeber vornehmen. Zudem ist auch die bereits erwähnte Stabilisierungsfunktion der Verfassung durch eine zu weitgehende und modifizierende Auslegung gefährdet. Die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsinterpretation und zum Wandel 55  Vgl. Hesse, FS Scheuner, S. 123, 125 f., 139 f.; Lerche, Festgabe für T. Maunz, S. 285, 292 ff., wonach Verfassungswandel jenseits der in Art. 79 GG vorgesehenen Schranken stattfindet; Michael, RW 2014, S. 426, 433 f. 56  Stock, Verfassungswandel in der Außenverfassung, S. 175 m. w. N. 57  Häberle, ZfP 21 (1974), S. 111, 114 ff.; siehe auch W. Schenke, AöR 103 (1978), S.  566, 585 f.; Starck, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. XII, § 271 Rn. 17; Stern, Staatsrecht I, S. 161; Volkmann, JZ 2018, S. 265, 271; Voßkuhle, JuS 2019, S. 417, 418. 58  Häberle, ZfP 21 (1974), S. 111, 115; Kloepfer, Verfassungsrecht I, § 1 Rn. 176 ff.; vgl. auch Depenheuer, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. XII, § 269 Rn. 13: „Recht, das Wirklichkeit ordnen will, muss sich auf Wirklichkeit einlassen …“; a. A. Hillgruber, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, § 15 Rn. 28. 59  Bryde, Verfassungsentwicklung, S.  341 ff. 60  Siehe Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, S. 83; Mennicken, Ziel der Gesetzesaus­ legung, S. 22; Michael, RW 2014, S. 426, 433; vgl. auch Bryde, Verfassungsentwick­ lung, S. 300 und S. 305: „BVerfG als Superregierung, Supergesetzgeber und Super­ revisionsinstanz“.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

kann aber vor dem Hintergrund zulässiger Einwirkungen durch tatsächliche Ereignisse kaum sinnvoll bestritten werden. Der verfassungsändernde Ge­ setzgeber, der auf diese reagieren müsste, würde die Verfassung überfrachten, was erst recht die Funktion der Verfassung als Ruhepol konterkarieren würde. Das Bundesverfassungsgericht kann dagegen in Einzelfällen sinnvolle Ent­ scheidungen treffen, ohne das Grundgesetz mit Einzelbestimmungen aufzula­ den.61 Zudem ist festzustellen, dass sich der Wille des Gesetzgebers auch wan­ deln kann. Dann muss der Wille des historischen Gesetzgebers seine Maß­ geblichkeit verlieren. Dieser muss zusätzlich, je älter das Gesetz wird, an Maßgeblichkeit verlieren, da er bestimmte tatsächliche Entwicklungen nicht vorausgesehen hat und auch nicht voraussehen konnte. Auch das Argument der Gewaltenteilung überzeugt nicht vollständig. Richtigerweise ist die Ge­ setzgebung Aufgabe der Legislative. Sobald das Gesetz aber verkündet ist, ist die Willensbildung im parlamentarischen Raum abgeschlossen. Die Aus­ legung der Gesetze ist die Kernkompetenz der Rechtsprechung, so dass kein Verstoß gegen die Gewaltenteilung vorliegt, sondern selbige gerade verwirk­ licht wird. Im Übrigen ist dem Grundsatz der Gewaltenteilung dadurch Rechnung zu tragen, dass die Wortlautgrenze bei der Interpretation akzeptiert und beachtet wird. Die Wortlautgrenze als Auslegungsprinzip dient gerade dazu, demokratischer Legitimation und Gewaltenteilung Geltung zu ver­ schaffen. Bei stringenter Orientierung an dieser droht kein Konflikt der sta­ bilisierenden Funktion der Verfassung durch einen Verfassungswandel. Das Spannungsverhältnis der Gewalten wird weiterhin zumindest teilweise da­ durch aufgelöst, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber einer Interpreta­ tion durch Textänderung des Grundgesetzes den Boden entziehen kann. Dazu muss die von Art. 79 Abs. 2 GG geforderte doppelte Zwei-Drittel-Mehrheit erreicht werden. Da eine Zwei-Drittel-Mehrheit jedoch bei den gegeben po­ litischen Verhältnissen nicht immer erreicht werden kann, droht ohne die Möglichkeit der wirklichkeitsbezogenen Auslegung eine verfassungsrecht­ liche Stagnation, die nicht auf gesellschaftliche oder ökonomische Entwick­ lungen – wie den Ausbruch von Finanzkrisen – reagieren kann.62 Die Legi­ timität der Interpretation kann dann zwar nicht über ein vorgesehenes Ver­ fahren der Verfassungsänderung hergestellt werden, aber durch die sorgfäl­ tige, objektiv nachvollziehbare Begründung eines Bedeutungswandels.63 61  Treffend in diese Richtung argumentiert Stock, Verfassungswandel in der Au­ ßenverfassung, S.  214 f. 62  Michael, RW 2014, S. 426, 466 nennt dies plakativ, aber treffend, eine „Herr­ schaft der Toten über die Lebenden“, sollten die Mehrheiten des Art. 79 Abs. 2 GG nicht erreicht und sollte dadurch nicht auf Entwicklungen reagiert werden. 63  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 58; Michael, RW 2014, S. 426, 474 f.



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Die Plausibilität der Begründung kann durch eine strikte Methodik erreicht werden, die sich an dem klassischen Auslegungskanon orientiert, sich darin aber nicht erschöpft. Ausgangspunkt muss eine Analyse der veränderten ge­ sellschaftlichen Verhältnisse, die den Bedeutungswandel tragen sollen, sein. Erforderlich ist, den Bereich herauszuarbeiten, den eine Norm erfasst und für den die Regelung aufgestellt wird. Diese Analyse wird der Auslegung zu­ grunde gelegt, ohne jedoch das Ziel schon im Vorhinein festzusetzen. Auch wenn es in letzter Konsequenz unmöglich erscheint, ist zu versuchen, die vom Gesetzestext vorgegebenen Wertungen objektiv zu erfassen.64 Dies kann mithilfe der genannten Auslegungsgrundsätze gelingen. Ziel ist es, ei­ nen gerechten Interessenausgleich durch ein zukunftsoffenes Verständnis der Auslegung für eine konkrete Fragestellung herbeizuführen und so die – mög­ licherweise gewandelte – Bedeutung der Vorschrift zu offenbaren.65 Über die Grenze des Wortlauts hinaus wird verlangt, dass die eindeutigen Grundentscheidungen des Verfassungsgesetzgebers zu respektieren sind, wenngleich mit dieser Formel im Vergleich zur Wortlautgrenze nur ein gerin­ ger Erkenntnisgewinn gemacht werden kann.66 Weiterhin ist Voraussetzung, dass die veränderte Bedeutung in der Bevöl­ kerung akzeptiert wird, was folgerichtig ist, wenn der Bedeutungswandel als Unterfall der Verfassungsänderung dargestellt wird.67 Ohne Akzeptanz der Bevölkerung fehlt demokratische Legitimation für eine Interpretation, die sich im Wesentlichen auf veränderte soziale und ökonomische Wirklichkeiten beruft. Problematisch an dieser Voraussetzung ist aber, dass unklar bleibt, wie die Meinung der Bevölkerung festgestellt werden soll. Mit plebiszitären Elementen hält sich das Grundgesetz bis auf einige Ausnahmen (Artt. 29, 118 GG zur Neugliederung des Bundesgebietes) zurück, wenngleich Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG von „Abstimmungen“ spricht. Solche sind de lege lata im Grundgesetz – mit Ausnahme von Art. 29 und 118a GG – nicht vorgesehen. Eine Volksbefragung zur Legitimation scheidet daher aus. Das Legitimieren von Verfassungswandlungen durch Umfragen widerspricht daneben dem Bild einer parlamentarischen Demokratie, in dem die Gesetzgebungsorgane über 64  Vgl. Heun, AöR 113 (1991), S. 185, 203; Hillgruber, in: Depenheuer/Graben­ warter (Hrsg.), Verfassungstheorie, § 15 Rn. 33. 65  Häberle, ZfP 21 (1974), S. 111, 121. 66  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 270; ähnlich stellt auch Stock, Verfassungs­ wandel in der Außenverfassung, S. 205, fest, dass außer der Wortlautgrenze keine begrenzenden Prinzipien des Verfassungswandels ausgemacht werden können. Dabei ist zu bedenken, dass beide Untersuchungen nicht von einer weitgehenden Identität zwischen Verfassungsinterpretation und Verfassungswandel ausgehen, sondern davon, dass der Wandel auf einer Interpretation basiert. 67  Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 293 f. spricht von einem Prozess „allgemei­ ner Konsensbildung“; siehe auch Michael, RW 2014, S. 426, 478.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

Verfassungsänderungen entscheiden. Zudem erscheint auch das Erfühlen der Bevölkerungsstimmung nicht geeignet, um die Wandlungen zu legitimieren. Im Ergebnis erscheint die Voraussetzung der Akzeptanz in der B ­ evölkerung eher als Leerformel denn als Gradmesser für einen Verfassungswandel. Die Veränderung der Verhältnisse innerhalb des Staates und der Gesell­ schaft durch die letzte Finanzkrise darf damit zu einer Veränderung der Aus­ legung des Verfassungstextes führen.68 Verfassungsauslegung ist politisch, in dem Sinne, dass sie die Wirksamkeit einer politischen Maßnahme über­ haupt erst begründen kann.69 Die Auslegung des Grundgesetzes unter dem Gesichtspunkt der Finanzmarktstabilität ist vor dem Hintergrund der zeitge­ schichtlichen Bedeutung der Finanzmärkte von hoher politischer Wirkkraft. In diese Interpretation sind Wertungen einzustellen, die der Gesetzgeber durch Erlass von einfachen Gesetzen mit einem bestimmten Regelungsge­ genstand gibt und in denen sich die Vorstellungen der Zeit bündeln.70 Auf diesem Wege lässt sich auch das Argument der fehlenden demokratischen Legitimation abschwächen, indem Wertungen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers mit einbezogen werden.

IV. Verfassungsinterpretation und Staatsziele Verschiedene Normen des Grundgesetzes könnten Anhaltspunkte zur ver­ fassungsrechtlichen Bewertung der Stabilität der Finanzmärkte enthalten, in­ dem die durch die Normen gesetzten Ziele und Aufgaben diese voraussetzen oder von ihr abhängen. Hierzu sind die Normen des Grundgesetzes auf ihre Verbindung zur Finanzmarktstabilität zu prüfen und auszulegen. Dabei sind die tatsächlichen Ereignisse infolge der Finanzkrisen in die Interpretation mit einzubeziehen. Durch die Finanzkrise ab 2008 und insbesondere die folgende Euro- und Staatsschuldenkrise haben sich die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse nachhaltig verändert. Auch im Jahr 2020 sind die GriechenlandHilfen weiter ein Thema, neuerdings auch die Stabilität der Wirtschaft durch 68  Vgl. Böckenförde, in: ders. (Hrsg.), Staat, Nation, Europa, S. 141, 154; Grimm, in: ders. (Hrsg.), Staatsaufgaben, S. 613, 633, wonach die Verfassung „ihre eigene Anpassung oder Veränderung vorsehen“ muss; ferner Würtenberger, Der Staat, Bei­ heft 20, S. 287, 291, wonach Verfassungsänderungen häufig durch eine Veränderung der ökonomischen Verhältnisse motiviert sind; Smend, Verfassung und Verfassungs­ recht, S. 192 „Die Wirklichkeit wird nicht durch die Verfassung als das ‚ruhende, beharrende Moment im staatlichen Leben‘, sondern durch das sich immerfort erneu­ ernde Verfassungsleben immer neu hergestellt.“ 69  Stern, Staatsrecht I, S. 129 m. w. N. 70  W. Schenke, AöR 103 (1978), S. 566, 586; vgl. auch G. Jellinek, Verfassungsän­ derung, S. 9.



A. Methodische Vorüberlegungen 139

die Folgen der Corona-Krise. Hinzu kommen Risiken durch faule Schiffskre­ dite (siehe S. 23 f.). Auch das Verhalten der hoheitlichen Akteure hat sich geändert. An dieser Stelle lässt sich beispielhaft auf die Niedrigzinspolitik der EZB verweisen, die das Geschäftsverhalten von Banken und privaten Bürger wesentlich mitbeeinflusst. Eine Auslegung des Grundgesetzes unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen aus der Finanzkrise bewegt sich auf dem schmalen Grat zwi­ schen Verfassungsänderung, Verfassungswandel und Verfassungsinterpreta­ tion. Bei den Staatszielen und Staatsaufgaben zeigt sich das beschriebene Dilemma der Verfassungsinterpretation in besonderem Maße. Um als Staat handlungsfähig zu bleiben, muss dieser notwendig aktuelle Entwicklungen in seine Entscheidungen miteinbeziehen und sich so der Verfassungswirklich­ keit stellen. Im Gegensatz zur früheren Staatszwecklehre, durch die nur die essentiellen Aufgaben des Staates angesprochen waren, nehmen neuere Ver­ fassungen wie das Grundgesetz auch aktuelle Geschehnisse auf und formu­ lieren aus dieser Begegnung neue „situationsbedingte Aufgaben“.71 Auf dem Wege der Verfassungsinterpretation lassen sich Staatsziele und Staatsaufgaben „entdecken“. Dennoch ist der Suche nach neuen Staatszielen im Text des Grundgesetzes Zurückhaltung geboten, um zu verhindern, dass einzelnen Bestimmungen zu detaillierte Zielvorstellungen entnommen wer­ den und zu viele Staatsziele aus dem Verfassungstext deduziert werden.72 Es ist nicht Aufgabe der Verfassung auf alle politischen Fragen konkrete Aufga­ ben zu geben, sie ist kein „juristisches Weltenei“.73 Man wird an dieser Stelle fordern müssen, dass sich aus der Verfassungswirklichkeit die Notwendigkeit ergibt, Ziele und Aufgaben aus der Verfassung zu entwickeln, mithin ob überhaupt ein Regelungsdefizit in der geltenden Verfassung existiert.74 Dass es Gründe gibt, die eine solche Notwendigkeit im Hinblick auf die Finanz­ marktstabilität stützen können, wurde in der Beschreibung der Abhängigkeit von Staat und Finanzmärkten und der systemischen Risiken hinreichend ausgeführt und deutlich (siehe S. 68 ff., 95 ff.). Die einfache Abhängigkeit beider Sektoren genügt noch nicht zur Begründung einer staatlichen Verant­ wortung, was es notwendig macht, das Grundgesetz nach Weisungsgehalten und Anhaltspunkten zu durchsuchen und zu interpretieren. Lässt sich dem Grundgesetz im Wege der Auslegung eine staatliche Auf­ gabe entnehmen, bedarf es zu ihrer Legitimation keiner Verfassungsände­

71  Stern,

in: Bitburger Gespräche 1984, S. 5, 11. Staatszwecke, Staatsziele und Grundrechtsinterpretation, S. 151. 73  Isensee, StuW 1994, S. 3, 6. 74  BMI/BMJ, Staatszielbestimmungen, S. 33 Rn. 28. 72  Michel,

140

4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

rung; Auslegung ist legitimes Instrument der Rechtsfindung.75 Durch die Auslegung der Normen des Grundgesetzes kann daher auch eine staatliche Verantwortung für einen bestimmten Sektor begründet werden.

B. Die Auslegung des Grundgesetzes unter dem Gesichtspunkt der Finanzmarktstabilität Im Folgenden ist das Grundgesetz nach der erarbeiteten Methodik auszu­ legen und zu konkretisieren, ob sich die Aussagen des Grundgesetzes zur Finanzmarktstabilität mosaikartig zu einer staatlichen Verantwortung zusam­ mensetzen lassen. Offene Frage ist, wie sich Finanzkrisen und Grundgesetz zueinander verhalten. Als Konkretisierung könnte sich dem Grundgesetz eine staatliche Verantwortung zur Wahrung von Finanzmarktstabilität und damit zugleich zur Verhinderung von Finanzkrisen entnehmen lassen. Hierzu sind die sich aus der Verfassung abzuleitenden Teilgewährleistungen herauszuar­ beiten, die den staatlichen Organen die Förderung der Finanzmarktstabilität aufgeben. Hieraus ist die Frage zu beantworten, inwieweit das Staatsziel oder die Staatsaufgabe zur Wahrung derselben bereits im Grundgesetz positiviert ist. Wie die Ausführungen zur Verfassungsauslegung gezeigt haben, ist die­ selbe im Vorhinein von einem Vorverständnis getragen. Unter diesem Ein­ fluss sind die Normen und Aussagen des Grundgesetzes zur Finanzmarkt­ stabilität zusammenzusetzen, so dass sich am Ende ein Gesamtbild der staatlichen Verantwortung für die Förderung der Finanzmarktstabilität erge­ ben könnte. Erforderlich ist es aber, die Einzelteile zu einem Ganzen zusam­ menzufügen, wobei die Interpretation der einzelnen Aussagen des Verfas­ sungstextes vom Gesamtverständnis getragen ist und umgekehrt. So lässt sich das Ganze nur aus den einzelnen Teilen verstehen und die einzelnen Teile nur aus dem Ganzen.76

I. Die Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes Die Frage nach der Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes ist von Be­ deutung, da sich für verschiedene Wirtschaftssysteme die Frage nach Stabili­ tät anders stellt. Gibt die Verfassung ein bestimmtes Wirtschaftssystem vor, kann dies den Staat und seine handelnden Organe auf ein bestimmtes Ord­ nungsmodell verpflichten. So ging die bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 herrschende sog. klassisch-liberale Theorie davon aus, dass trotz zyklischer 75  BMI/BMJ, 76  Vgl.

Staatszielbestimmungen, S. 30 f. Rn. 24. Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 275.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes141

Schwankungen gar keine staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft notwendig seien.77 Dagegen ließe sich argumentieren, dass bestimmte Wirtschaftssys­ teme von vornherein mehr auf der Regulierung der Märkte aufbauen als an­ dere, was dann auch für die Finanzmärkte gelten würde. Insbesondere ist dem Art. 109 Abs. 2 GG a. F. und dem Stabilitätsgesetz zugrundeliegenden Konzept des britischen Ökonomen John Maynard Keynes und dem moneta­ ristischen Gegenmodell, welches maßgeblich von Milton Friedman geprägt wurde, Aufmerksamkeit zu widmen.78 Nach dem monetaristischen Modell ist der Finanzmarkt selbst in der Lage, Schocks zu absorbieren und sich dadurch selbst zu stabilisieren, während nach Keynes das System schon an sich in­ stabil ist und durch eine kompensatorische Geldpolitik stabilisiert werden muss.79 Unter dem Begriff Wirtschaftsverfassung sind alle verfassungsrechtlichen Regelungen zur Ordnung der Wirtschaft zu verstehen.80 Gibt das Grundge­ setz dem Staat in der Wirtschaftspolitik eine bestimmte Richtung vor, hat dies Auswirkungen darauf, wie der Staat auf Entwicklungen auf Finanzmärk­ ten reagieren muss. So wird in einer nach dem Monetarismus ausgerichteten Wirtschaft jegliche staatliche Einmischung abgelehnt, so dass eine staatliche Verantwortung zur Herstellung von Finanzmarktstabilität obsolet wäre, da der Staat nichts tun soll. Gegen eine staatliche Verantwortung spricht auch der eigentliche Grundgedanke der freien Marktwirtschaft: Das Vertrauen in die selbstregulierende Kraft der freien Märkte.81 Dagegen wird staatliches Eingreifen kritisch gesehen. Speziell für Märkte entwickelten Ökonomen die Gleichgewichtstheorie, nach der sich Märkte immer in Richtung eines Gleichgewichts begeben, solange sie nicht durch externe Faktoren gestört

77  Glatzl,

Bankenaufsicht und Geldpolitik im Konflikt, S. 39. zu den Unterschieden beider Modelle im Hinblick auf makroöko­ nomische Politik von Staaten Scharpf, ZSE 2011, S. 163, 167 ff. Einen Überblick über die Entwicklung in Deutschland liefert Glatzl, Bankenaufsicht und Geldpolitik im Konflikt, S. 41 ff. 79  Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Bankensektor, S. 153; vgl. ferner zur Bedeutung der sozialen Marktwirtschaft für die Finanzmärkte Mestmäcker, in: v. Kempf/Lüderssen/Klaus (Hrsg.), Ökonomie versus Recht im Finanz­ markt?, S. 13, 23 ff. 80  R. Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht AT, S. 70. 81  Siehe hierzu Sommermann, Staatsziele, S. 30  ff. Dass freie Marktwirtschaft nach ihrem Begründer Adam Smith keinen radikalen Wettbewerb ohne Regulierung voraussetzt, zeigt J. Petersen, Adam Smith als Rechtstheoretiker, S. 123 ff., 151, und zur Bankenregulierung S. 157 ff., wonach sich die Vertreter des Manchester Kapitalis­ mus auch nicht auf Adam Smith berufen könnten; ähnlich Mohr, JZ 2018, S. 685, 690, nach dem die Wirtschaftskrise sogar hätte verhindert werden können, hätten sich die Staaten mehr auf die Theorien Adam Smiths besonnen. 78  Ausführlich

142

4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

werden.82 Dem widersprechen Untersuchungen des Ökonomen Hyman P. Minsky über die natürliche Instabilität der Finanzmärkte, auf denen einem Aufschwung immer wieder ein Abschwung folge.83 Begründet wird dies ­unter anderem damit, dass Finanzinstitute von Spekulation profitieren und daher eine gewisse Instabilität des Systems profitabel ist, wenn ein Institut die aus seiner Sicht richtige Entscheidung trifft. Beachtlich wäre das Argu­ ment der Monetaristen darüber hinaus aber nur dann, wenn ein solches Sys­ tem der Marktwirtschaft fest im Grundgesetz als maßgebliches Wirtschafts­ system verankert wäre. In der sozialen Marktwirtschaft dagegen wird vom Rechtssystem nicht le­ diglich erwartet, ein bestimmtes Marktsystem bereitzustellen, sondern zu­ sätzlich die Herstellung funktionierenden Wettbewerbs auf den Märkten.84 Dieser funktionierende Wettbewerb kann nur durch umsichtiges Eingreifen des Staates hergestellt werden, welches die Entstehung und Bildung einseiti­ ger Marktverhältnisse verhindert. Aus den Unterschieden der verschiedenen Spielarten der Marktwirtschaft könnten sich also Schlüsse darauf ziehen lassen, inwiefern staatliche Verant­ wortung und damit einhergehende Einmischung in die Finanzmärkte nach dem Grundgesetz vorgegeben sind. Darauf aufbauend muss untersucht wer­ den, ob sich aus der Wirtschaftsverfassung Schlüsse im Hinblick auf die Stabilität der Finanzmärkte ziehen lassen. 1. Die „offene“ Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes Den Ausgangspunkt der Diskussion um die Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes bilden zwei Urteile des Bundesverfassungsgerichtes. Das Ge­ richt befasste sich mit der Frage nach der Wirtschaftsverfassung zunächst im Investitionsurteil85 und lehnte eine Entscheidung des Grundgesetzes über eine bestimmte Wirtschaftsverfassung ab. Die Entscheidung über die Wirt­ schaftspolitik liege stattdessen in den Händen des Gesetzgebers. Im Mitbe­ stimmungsurteil wurde dieser Standpunkt dann ein weiteres Mal bekräftigt.86 82  Siehe

77 ff.

hierzu Towfigh/Petersen, Ökonomische Methoden im Recht, S. 49 ff.,

83  Siehe Minsky, Stabilizing an Unstable Economy, passim; S. Deakin, in: Molo­ ney/Ferran/Payne, The Oxford Handbook of Financial Regulation, S. 13, 34 f.; Kaufhold, Systemaufsicht, S. 54 f. 84  Papier, in: Benda/Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), Hdb. d. VerfR, § 18 Rn. 8. 85  BVerfGE 4, 7 ff., 17; Übersicht über die in der Literatur vertretenen Stand­ punkte bei Weikart, Geldwert, S. 52 ff. 86  BVerfGE 50, 290, 336 ff.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes143

Das Grundgesetz enthält somit zwar keine ausdrückliche Entscheidung für ein Wirtschaftssystem87, soll aber, insbesondere nach der Einführung des Art. 109 Abs. 2 GG im Jahr 1967, eine marktwirtschaftliche Grundentschei­ dung erkennen lassen.88 Diese Annahme wird durch die Europäische Inte­ gration verstärkt. Zum einen ist durch den Beitritt der Bundesrepublik zur Europäischen Union mit ihrem gemeinsamen Binnenmarkt ein marktwirt­ schaftlicher Bezug deutlich gemacht worden. Die Europäische Union ist in ihren Verträgen auf eine „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ gegründet worden (Art. 119 Abs. 1 AEUV). Dies galt auch für den Vor­gänger, die Europäische Gemeinschaft, gem. Art. 4 Abs. 1 EGV. Zusätzlich wurde die soziale Marktwirtschaft schon 1990 in Art 1 Abs. 3 des Vertrages über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion89 zur Wirtschaftsordnung der Vertragsparteien erhoben, wodurch zwar keine Regelung im Rang des deut­ schen Verfassungsrechts geschaffen wurde, aber das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft noch einmal an Bedeutung gewonnen hat.90 Das Bekennt­ nis findet sich nach dem Vertrag von Lissabon in Art. 3 Abs. 3 EUV. Die Annahme eines vorgegebenen wirtschaftspolitischen Systems ist not­ wendig, da das Grundgesetz sich ansonsten zur Wirtschaftspolitik aus­ schweigt. Dies hinterlässt in Folgefragen (Mindestlöhne, Umverteilung oder eben Finanzkrisen) ein unangenehmes Schweigen des Grundgesetzes; durch dieses Schweigen lassen sich diese Fragen nicht unter Berufung auf das Grundgesetz sicher beantworten, was vereinzelten Stimmen in der Literatur zurecht Unbehagen bereitet.91 Andererseits eröffnet diese Tatsache dem Ge­ setzgeber einen weiten Spielraum in wirtschaftspolitischen Fragen, so dass für auftauchende Probleme flexible Lösungen offen stehen. Anders als im Grundgesetz findet sich in einigen Landesverfassungen dagegen ein klares 87  So Calliess, VVDStRL 71 (2012), S. 113, 117; Heintzen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 109 Rn. 17; Papier, WM 2009, S. 1869, 1869; R. Schmidt, in: Isen­ see/ P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IV, § 92 Rn. 12 ff.; dagegen die soziale Marktwirtschaft im Grundgesetz verankert sehen Nipperdey, Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz S. 21 ff.; Leisner, in: Sodan (Hrsg.), Die sozial-marktwirtschaftliche Zukunft der Krankenversicherung, S. 35, 41 ff.; vermittelnd Sommermann, Staats­ ziele, S. 164 f.; ausführlich zum Streit um die Wirtschaftsverfassung Herrmann, Wäh­ rungshoheit, S.  135 ff. 88  K. Vogel, Finanzverfassung und politisches Ermessen, S. 32; siehe auch Papier, in: Benda/Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), Hdb. d. VerfR, § 18 Rn. 20 und ders., WM 2009, S. 1869, 1869, der von einer „Weichenstellung“ im Hinblick auf eine so­ ziale Ausgestaltung der marktwirtschaftlichen Grundentscheidung ausgeht; ferner R. Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht AT, S. 73. 89  BGBl. 1990 II, S. 537. 90  Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 14 Rn. 2; Herrmann, Währungshoheit, S. 137. 91  Ruffert, AöR 134 (2008), S. 197, 200.

144

4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft, so z. B. in der Brandenburgischen Verfassung.92 Auch der Bundesgesetzgeber lässt in mehreren einfachen Ge­ setzen eine eindeutige marktwirtschaftliche Tendenz erkennen: dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) von 1957, dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz und dem Gesetz zur Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.93 Das Bild, das der deutsche Gesetzgeber vom Wirtschaftssystem zeichnet, geht nicht mehr von einem System der freien Marktwirtschaft im klassischen Sinne aus, son­ dern von der sozialen Marktwirtschaft. Diese fußt auf theoretischen Arbeiten der Freiburger Schule, vor allem von Walter Eucken und Alfred Müller-Ar­ mack94, die durch den ehemaligen Wirtschaftsminister und späteren Bundes­ kanzler Ludwig Erhard in der Bundesrepublik durchgesetzt wurden.95 Aus dieser Grundentscheidung für die soziale Marktwirtschaft ließe sich dann eine Aussage über Staatsziele und staatliche Verantwortung herleiten, wenn schon dem Wirtschaftssystem an sich der Auftrag zur Stabilisierung des Finanzsystems innewohnte. Dies lässt sich zwar am ehesten bei der sozi­ alen Marktwirtschaft begründen, aber auch diese trifft, von ihrer ursprüng­ lichen Konzeption her, wenig konkrete Aussagen über Finanzmärkte. Das Schweigen des Grundgesetzes in der Frage der Wirtschaftsverfassung führt also dazu, dass sich keine staatlichen Pflichten zur Ordnung der Wirtschaft in einem bestimmten Sinne entnehmen lassen und sich daher aus ihr heraus auch keine Pflichten zur Finanzmarktstabilisierung begründen. Dennoch: Das Grundprinzip, dass Finanzmärkte als Teil der Wirtschaft deren Selbstregulierungskräfte innehaben und ein Musterbeispiel für einen effizienten Markt sind (auch sog. efficient capital markets hypothesis (ECMH))96, stellt sich nach den Krisen als brüchig dar und ist nicht mehr

92  Art. 42 Abs. 2 Satz 1 BbgVerf: „Das Wirtschaftsleben gestaltet sich nach den Grundsätzen einer sozial gerechten und dem Schutz der natürlichen Umwelt ver­ pflichteten marktwirtschaftlichen Ordnung“. 93  R. Schmidt, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IV, § 92 Rn. 45. 94  Alfred Müller-Armack, Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, S. 65  ff.; in­ formativ zum von Müller-Armack entwickelten Ordoliberalismus Mohr, JZ 2018, S. 685, 686 ff.; zu Eucken: Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Bankensektor, S. 30; J. Petersen, Rechtsordnung und Wirtschaftsordnung nach Walter Eucken, S. 309, wonach staatliche Rettungsmaßnahmen dem System Euckens wider­ sprechen würden. 95  Vgl. Herzog, Allg. Staatslehre, S. 124; zur historischen Entwicklung Sommermann, Staatsziele, S. 160 ff. 96  So die wohl vorherrschende Ansicht in der Wirtschaftswissenschaft vor der Finanzkrise 2007; Übersicht bei S. Deakin, in: Moloney/Ferran/Payne (Ed.), The Ox­ ford Handbook of Financial Regulation, S. 13, 16 ff.; eine Analyse der strukturellen



B. Die Auslegung des Grundgesetzes145

allgemein anerkannt.97 Die Finanzkrisen haben gezeigt, dass Finanzmärkte nicht ohne weiteres in der Lage sind nur aufgrund der „Spielregeln“ des Marktes, für die Gesellschaft angemessene Lösungen zu finden. Die Grund­ lagen der ECMH, die von einem stets rational handelnden Akteur ausgehen, werden zunehmend angezweifelt.98 Vielmehr sind die Finanzmärkte ein Bereich unorganisierter Selbstregulierung, der einer schonenden und ausglei­ chenden Steuerung von außen bedarf. Die Idee der regulierten Selbstregulie­ rung der Finanzmärkte kann nach den Erfahrungen nicht mehr den einzigen gangbaren Weg darstellen, wenngleich der Begriff der regulierten Selbstregu­ lierung, wenn er die Beteiligung Privater an der Erfüllung der Aufgabe aus­ drücken soll, durchaus auch für die Finanzmarktstabilität fruchtbar gemacht werden kann.99 Die Regulierung der und Aufsicht über die Finanzmärkte zur Herstellung von Finanzmarktstabilität kann nur mit der Beteiligung pri­ vater Akteure gelingen. Die soziale Marktwirtschaft schafft durch die soziale Komponente einen Ausgleich zwischen der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und dem Gewinnstreben. Das irrational übersteigerte Gewinnstreben der Finanzinsti­ tute, gerade in den Jahren vor der Finanzkrise, ist ihr fremd.100 So waren Entwicklungen auf den Finanzmärkten, wie sie in den Jahren vor der Krise durch die Deregulierung der Märkte stattfanden, im Gegensatz zu dem sozi­ alen marktwirtschaftlichen Ansatz stehend. Die fehlende Positionierung der Wirtschaftsverfassung sorgt aber dafür, dass sich trotz dieser Tatsache aus ihr wenig für eine mögliche staatliche Verantwortung herleiten lässt. In dieser Hinsicht fehlt dem Grundgesetz die Fähigkeit, die wirtschaftspolitische Ge­ setzgebung in eine bestimmte Richtung zu steuern.101 Sie fehlt daher auch für den Bereich der Finanzmärkte.

Probleme und treffende Vorhersage der folgenden Krise ab dem Jahr 2007 findet sich jedoch bei R. Shiller, Irrational Exuberance, 2005, passim. 97  S. Deakin, in: Moloney/Ferran/Payne, The Oxford Handbook of Financial Regu­ lation, S. 13, 14 für den Zeitraum nach der Krise 2008; Mülbert, ebd., S. 364, 365; R. Schmidt, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. XI, § 252 Rn. 46; vgl. auch Bull, Staatsaufgaben, S. 253, der schon die Krise 1966/67 als wesentlichen Einschnitt sieht, woraufhin in der Bundesrepublik ein ordoliberalistischer Kurs einge­ schlagen wurde, der mit dem Erlass des Stabilitätsgesetzes 1967 begann. 98  Vgl. schon Herzog, Allg. Staatslehre, S. 62 f. mit Verweis auf die biologische Anthropologie, wonach sich der Mensch eben nicht immer rational verhält. 99  Strikt gegen die Idee der regulierten Selbstregulierung Siekmann, in: Möllers/ Zeitler (Hrsg.), Europa als Rechtsgemeinschaft, S. 101, 112. 100  Haasis, in: Hochhuth (Hrsg.), Rückzug des Staates und Freiheit des Einzelnen, S. 219, 221. 101  Ruffert, AöR 134 (2008), S. 197, 233.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

Mit der Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes lässt sich daher keine staatliche Verantwortung für die Finanzmarktstabilität begründen.102 Dies wird untermauert durch die Tatsache, dass das Grundgesetz der Wirtschafts­ politik lediglich einen offenen Rahmen vorgibt, in dem diese sich frei bewe­ gen kann. Aus der grundsätzlichen Entscheidung für die soziale Marktwirt­ schaft lassen sich keine konkreten wirtschaftspolitischen Maßnahmen, gerade für eine Stabilisierung der Finanzmärkte, ableiten. 2. Staatliche Verantwortung für das Wirtschaftswachstum Für eine staatliche Verantwortung zur Stabilisierung der Finanzmärkte könnte sprechen, dass den Staat für das Wirtschaftswachstum eine ebensol­ che Verantwortung trifft. Die Verantwortung für das Wirtschaftswachstum wird aus dem Sozialstaatsprinzip in Verbindung mit Art. 109 Abs. 2 und 3, Art. 88 GG und der Formel über die Wahrung der Wirtschaftseinheit und die Herstellung der gleichwertigen Lebensverhältnisse in Art. 72 Abs. 2 GG und Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 GG hergeleitet.103 Aus historischer Sicht wird zusätzlich angeführt, dass sie schon in der Weimarer Reichsverfassung (vgl. Artt. 156, 165 WRV) fest verankert war. Das Grundgesetz gibt dem Gesetz­ geber insbesondere durch Art. 109 Abs. 2 GG die konjunkturpolitischen Handlungsspielräume, um das Wirtschaftswachstum zu fördern. Das Wirt­ schaftswachstum ist in den Blick zu nehmen, da stabile Finanzmärkte durch Erfüllung ihrer Funktion sich positiv auf dieses auswirken.104 Die Verantwortung für das Wirtschaftswachstum bedeutet eine objektivrechtliche Verpflichtung des Staates zur Wahrung wirtschaftlicher Stabilität und der wirtschaftlichen Grundlagen des Staates, was zugleich zu einem staatlichen Auftrag zur Gewährleistung von Währungsstabilität führt.105 Be­ gründet wird dies damit, dass eine instabile Währung zu ungerechten Vertei­ lungsergebnissen führe und tendenziell zu Lasten der wirtschaftlich Schwä­ cheren gehe.106 Zugunsten einer staatlichen Verantwortung für Finanzmarkt­ stabilität lässt sich anführen, dass durch Instabilität auf den Finanzmärkten 102  Thiele, Finanzaufsicht, S. 254  f.; vgl. auch Wißmann, in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, § 15 Rn. 12a. 103  Badura, FS H. P. Ipsen, S. 367, 369, 376 ff.; Heintzen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 109 Rn. 17; Stern, Staatsrecht I, S. 902 f. 104  Vgl. Art. 3 Abs. 1 ERSB-VO. 105  R. Schmidt, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. V, § 117 Rn. 22. 106  BVerfGE 97, 350, 371; R. Schmidt, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. V, § 117 Rn. 22; zum Zusammenhang zwischen Währungsstabilität und Finanzmärkten siehe unten S. 151 f.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes147

und die folgenden Finanzkrisen Wirtschaftseinbußen drohen, welche über die normalen zyklischen Schwankungen der Wirtschaft hinausgehen. Finanz­ marktstabilität ist daher mit der Entwicklung des Wirtschaftswachstums ver­ woben und in dessen Interesse zu gewährleisten. Eine Verantwortung für die Finanzmarktstabilität lässt sich aus diesem Zusammenhang jedoch nicht ab­ leiten. Die Entwicklung des Wirtschaftswachstums hängt von so vielen Fak­ toren ab, nicht nur von der Finanzmarktstabilität, dass nicht ein Faktor in der Entwicklung zwingend in die Verantwortung des Staates gelegt werden muss. Nach dem Ansatz von Bull beinhaltet die staatliche Aufgabe der Förderung des Wirtschaftswachstums auch die Möglichkeit der Wirtschaftslenkung und -förderung.107 Die Aufgabe sei unvollständig in den Artt. 109, 104a Abs. 3 und 4, 73 Abs. 1 Nr. 4 und 5 und 74 Abs. 1 Nr. 11, 11a, 15, 16–18, 19a, 21–23 GG geregelt, weshalb auf das Sozialstaatsprinzip und den Gedanken der Effektivierung der Freiheitsrechte zurückgegriffen werden müsse.108 Das Ziel der Aufgabe sei die unmittelbare Wohlstandsförderung der Bürger und die Gewährleistung der eigenen Leistungsfähigkeit des Staates und auch der Schutz gegen Wirtschaftskrisen.109 Wie gezeigt, wirken sich Verwerfungen auf den Finanzmärkten nachteilig auf die allgemeine wirtschaftliche Lage aus und haben häufig eine zeitweilige Rezession zur Folge.110 In der letzten großen Krise kam es zwar in Deutschland nicht zu drastischen Einschränkun­ gen der Leistungsfähigkeit des Staates, dies lässt sich von anderen Staaten während der Krise, allen voran den GIPS-Staaten, nicht behaupten. Mithin kann in einer Finanzkrise und der ihr häufig folgenden Wirtschaftskrise die Leistungsfähigkeit des Staates auf dem Spiel stehen. Staatsaufgaben wohnt eine „expansive Tendenz“111 inne. Sie lassen sie sich bei Bedarf erweitern oder konkretisieren, was dafür sprechen könnte, die Verantwortung auch auf die Finanzmarktstabilität zu erstrecken. Es steht jedoch weiterhin in der Entscheidungsgewalt der staatlichen Or­ gane, wie die Aufgabe bestmöglich zu erfüllen ist. Dass die Finanzmarkt­ stabilität sich positiv auf das Florieren der Wirtschaft ausübt, kann allein nicht genügen, sie zu einem höheren Ziel auszurufen. Hinzu kommt wiede­ rum, dass die Verantwortung für das Wirtschaftswachstum im Grundgesetz nur unvollständig zum Ausdruck kommt. An anderer Stelle wurde aber ge­ 107  Bull, Staatsaufgaben, S. 220, 250 ff.; ähnlich Egidy, Finanzkrise und Verfas­ sung, S. 85. 108  Bull, Staatsaufgaben, S. 251. 109  Bull, Staatsaufgaben, S. 261. 110  Dies lässt sich anhand mehrerer Finanzkrisen belegen, so zum Beispiel nach dem „Black Friday“ 1929, nach dem Platzen der DotCom-Blase 2001 und dem Zu­ sammenbruch von Lehman Brothers im Jahr 2008. 111  Bull, Staatsaufgaben, S. 369.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

fordert, dass Anknüpfungspunkte im Grundgesetz zu finden sind. Die Vor­ schriften, auf denen die Verantwortung für das Wirtschaftswachstum fußt, sind nicht hinreichend konkret, um daraus mittelbar weitere Verantwortungen abzuleiten. 3. Zwischenergebnis Es ist abzulehnen, aus der Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes, die trotz der genannten Ausformungen im Verfassungstext nicht festgeschrieben ist, ein Staatziel zu konstruieren. Zwar sprechen die Öffnungen der Verfas­ sung für den Beitritt zu supranationalen Wirtschaftsinteressenverbänden und deren Agenda dafür, dass das Grundgesetz eine bestimmte Wirtschaftsord­ nung im Blick hat und staatlicher Aktivität zur Stabilisierung der Finanz­ märkte positiv gegenübersteht, dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes eine ungeschriebene ist. Wenn oben gefordert wurde, dass es Anhaltspunkte im Verfassungstext geben muss, kann es nicht genügen, die ungeschriebene Wirtschaftsverfassung in der Diskussion um ein Staatsziel allzu schwer zu gewichten. Im Ergebnis lässt sich ihr daher wenig für das Bestehen einer staatlichen Verantwortung für die Finanzmarktstabilität entnehmen.

II. Staatliche Verantwortung durch Völkerrecht Finanzmärkte sind globale Märkte. Das Problem der Finanzmarktstabili­ sierung ist ein internationales. Dies setzt die Zusammenarbeit von Staaten voraus und damit völkerrechtliche Vereinbarungen. Die durch die Bundes­ republik eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen können Rückwir­ kungen auf die Bestimmung von nationalen Zielen und Aufgaben entfalten.112 Keine Rolle in internationalen Bestrebungen nach Finanzmarktstabilität spielen das Völkergewohnheitsrecht sowie völkerrechtliche Verträge.113 Während dieser Befund für das Völkergewohnheitsrecht nicht überrascht, erscheint das Instrumentarium des völkerrechtlichen Vertrages grundsätzlich geeignet, Standards im Bereich der Finanzmärkte zu setzen. Gründe für das Fehlen völkerrechtlicher Verträge in diesem Bereich liegen vor allem in der fehlenden Einigungsbereitschaft in sensiblen zwischenstaatlichen Bereichen und der fehlenden Praktikabilität der Verträge.114 Das Nichtvorliegen völker­ 112  BMI/BMJ,

Staatszielbestimmungen, S. 27 f. Rn. 19. in: ders./Breig (Hrsg.), Finanzmarktstabilisierung, S. 1, 2 f. 114  Bachmann, in: ders./Breig (Hrsg.), Finanzmarktstabilisierung, S. 1, 3; ausführ­ lich van Aaken, Transnationales Kooperationsrecht in der Finanzmarktaufsicht, in: Möllers/Voßkuhle/Walter (Hrsg.), S. 219, 222 ff. 113  Bachmann,



B. Die Auslegung des Grundgesetzes149

rechtlicher Verträge bedeutet, dass für Regelungen zu den Finanzmärkten, aus denen eine nationale Verantwortung folgen könnte, vor allem auf interna­ tionale Organisationen abzustellen ist, die sich mit den Finanzmärkten und deren Stabilisierung befassen und die Leitlinien aufstellen und koordinative Aufgaben übernommen haben. Für die Finanzmarktstabilität interessant ist der Beitritt der Bundesrepublik zur World Trading Organization (WTO) sowie zur Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF)115. Weiterhin relevant für die internationale Finanzmarktregulierung sind die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich und der Baseler Ausschuss für Bankenregulierung, an dem die Bundesrepu­ blik teilnimmt. Hierdurch wurden Globalisierungstendenzen gestärkt, die weiter in Richtung einer marktwirtschaftlichen Tendenz zeigen116, gleichzei­ tig soll die internationale Zusammenarbeit einen geordneten Markt schaffen. Zunächst ist die WTO in den Blick zu nehmen. Die WTO ist nach Art. VIII WTO-Übereinkommen eine internationale Organisation mit Völkerrechtssub­ jektivität. Ihr obliegt die Verantwortung für die weltweite Wohlfahrtssteige­ rung als globales öffentliches Gut. Nach Art. III:1 WTO-Übereinkommen hat sie die Aufgabe, die Verwaltung, Wirkungsweise und Zielverwirklichung der Welthandelsverträge zu erleichtern. Die Bundesrepublik trat der WTO 1995 bei. Mit dem Beitritt verpflichten sich die Mitgliedstaaten grundsätzlich, die nationalen Gesetze an die Welthandelsverträge anzupassen. Enthalten die Verträge eine Verpflichtung auf die Finanzmarktstabilität, hätte dies Auswir­ kungen für die nationale Rechtsetzung. Der am 27.12.1947 errichtete IWF ist eine internationale Organisation zur Organisation des internationalen Währungssystems. Der ursprünglich zur Finanzierung des Wiederaufbaus nach dem 2. Weltkrieg gegründete Fonds hat heute die wesentliche Aufgabe, die Entwicklungsländer mit den nötigen finanziellen Mitteln auszustatten.117 Der IWF hat mittlerweile weitere wich­ tige Verantwortlichkeiten übernommen. Zu der ursprünglichen Verantwortung für Wechselkursstabilität kamen umfangreiche Aufgaben im Finanzsektor, wie Aufsicht und Regulierung der Finanzmärkte hinzu.118 Hinzu kommt die Funktion als Lender of last Resort für Staaten in Zahlungsengpässen, wie sie in der Eurokrise zum Tragen kam. Die Aufgaben des IWF werden in Art. I 115  Siehe Übereinkommen über den Internationalen Währungsfonds, BGBl. 1952 II, S. 638, sowie das IWF-Gesetz v. 09.01.1978, BGBl. 1978 II, S. 13. 116  Vgl. Ruffert, AöR 134 (2008), S. 197, 203. 117  Schlemmer-Schulte, in: Hatje (Hrsg.), § 9 Rn. 1; vgl. auch Lowenfeld, Interna­ tional Economic Law, S. 646, 651 ff., wonach der IWF die einzige externe Finanzie­ rungsquelle für Entwicklungsstaaten ist; Lastra, Legal Foundations of International Monetary Stability, S. 375, 429 ff. 118  Lastra, Legal Foundations of International Monetary Stability, S. 374 f.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

des IWF-Übereinkommens aufgezählt. Darunter finden sich: die Unterstüt­ zung der internationalen währungspolitischen Zusammenarbeit (i), die Mit­ wirkung bei der Erweiterung und beim gleichmäßigen Wachstum des interna­ tionalen Handels durch den Abbau von Devisenbeschränkungen (ii), die Förderung der Wechselkursstabilität (iii), der Aufbau eines multilateralen Systems für laufende Zahlungen (iv), die vorübergehende Bereitstellung von Währungsreserven im Falle von Zahlungsbilanzschwierigkeiten der Mitglie­ der (v) und die Verringerung der Länge und des Ausmaßes von Zahlungs­ bilanzschwierigkeiten (vi). Mit dem Beitritt zum IWF hat die Bundesrepublik Deutschland eine positive Einstellung zu diesen Aufgaben ausgedrückt. Dies beinhaltet, Maßnahmen zu treffen, die zur Förderung dieser Ziele geeignet sind. Die Ziffern ii, iii, iv, v und vi haben einen direkten Bezug zur Stabilität der Finanzmärkte, indem sie entweder davon abhängig sind oder stabile Fi­ nanzmärkte voraussetzen. Mit der Verpflichtung, die die Bundesrepublik zur Förderung dieser Ziele eingegangen ist, könnte daher gleichermaßen eine nationale Verpflichtung zur Förderung der Finanzmarktstabilität einhergehen. Allerdings besteht keine staatliche Handlungspflicht im strengen Sinne, die in der Form ausgestaltet wäre, dass der Staat handeln muss. Vielmehr er­ scheint durch den Beitritt die Pflicht entstanden zu sein, die Ziele des IWF nicht durch nationale Alleingänge und Maßnahmen zu behindern. Eine allge­ meine staatliche Handlungspflicht lässt sich nicht herleiten. In Art. IV Abschnitt 1 Satz 2 lit. i) und ii) hat sich die Bundesrepublik darüber hinaus verpflichtet, ihre Wirtschaftspolitik auf das Ziel eines geord­ neten Wirtschaftswachstums bei angemessener Preisstabilität auszurichten sowie geordnete Wirtschaftsverhältnisse anzustreben. Aus diesem Bekenntnis zum IWF lässt wiederum eine starke marktwirtschaftliche Tendenz der Wirt­ schaftspolitik erkennen. Der IWF hat weiterhin die Pflicht, auf die Politik solcher Staaten zu ach­ ten, die zu systemischer Instabilität beiträgt.119 Passend hierzu hat der IWF die ursprüngliche Agenda der schrittweisen Liberalisierung der Kapitalmärkte nach der Finanzkrise abgeschwächt. So hält er eine Regulierung der Märkte in Krisensituationen für gerechtfertigt.120 Der IWF nimmt eine wichtige Rolle in der Gewährleistung internationaler Finanzmarktstabilität ein. So warnte der damalige Chefökonom des IWF Raghuram G. Rajan bereits 2005121 vor einer bevorstehenden Finanzkrise durch die „neuartigen“ Finanz­ produkte. Kommt es zu einer Finanzkrise, ist der Fonds einer der ersten Ansprechpartner zur Bewältigung der Krise. Dabei setzt der IWF vor allem 119  Schlemmer-Schulte,

in: Hatje (Hrsg.), § 9 Rn. 53. in: Hatje (Hrsg.), § 9 Rn. 84. 121  Rajan, Has Financial Development Made the World Riskier?, abrufbar unter http://www.nber.org/papers/w11728.pdf (zuletzt abgerufen am 30.04.2020). 120  Schlemmer-Schulte,



B. Die Auslegung des Grundgesetzes151

auf finanzielle Hilfen zur Überbrückung finanzieller Engpässe des von der Krise betroffenen Staates.122 Zusammenfassend nimmt der IWF für die inter­ nationale Finanzmarktstabilität eine wichtige Rolle ein. Mit dem Beitritt zum IWF hat die Bundesrepublik sich zu dessen Zielen bekannt. Ob hieraus aller­ dings eine staatliche Pflicht zur Finanzmarktstabilisierung folgt, bleibt frag­ lich. Wiederum fehlt es an Anknüpfungspunkten im Verfassungstext, welche das staatliche Handeln vorzeichnen soll. Es fehlt aber auch an jeglicher nor­ mativer Verpflichtung zur Förderung des Vorgehens des IWF. Neben dem IWF ist die im Jahr 1930 gegründete Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) zu nennen, deren Tätigkeitsschwerpunkte in der Verwaltung von Währungsreserven und der kurzfristigen Vergabe von Kredi­ ten an Zentralbanken liegen.123 Einen besonderen Bezug zur Finanzmarktsta­ bilisierung hat die BIZ dadurch, dass der Baseler Ausschuss für Bankenregu­ lierung, im Jahr 1974 als Reaktion auf die Insolvenz der deutschen HerstattBank gegründet und das weltweit wichtigste Gremium zur Bankenregulie­ rung124, bei ihr angesiedelt ist. Tätigkeitsschwerpunkte des Ausschusses sind wiederum die Entwicklung von Lösungen für die Finanzmarktaufsicht und die verbesserte internationale Zusammenarbeit zwischen nationalen Bankauf­ sichtsbehörden.125 Empfehlungen des Ausschusses sind für die beteiligten Staaten zwar nicht verbindlich, dienen jedoch als Vorbild für die Gesetzge­ bung auf nationaler und europäischer Ebene.126 Das Interesse von IWF und der Weltbank an stabilen Finanzmärkten ist aus weiteren Gründen groß. Sind Finanzkrisen in den USA und dem Eu­ roraum Auslöser für weltweite Wirtschaftskrisen, sind von diesen auch die von diesen Institutionen besonders in den Blick genommenen Entwicklungs­ länder empfindlich betroffen. Weltweite Finanz- und Wirtschaftskrisen leisten einen erheblichen Beitrag zur negativen Entwicklung in diesen Ländern. Gerade die Weltbank, deren wesentliche Aufgabe die Entwicklungshilfe ist, ist daher in ihrer Aufgabenerfüllung von Instabilitäten auf dem Finanzmarkt betroffen. Andererseits sind auch die Finanzmärkte in den Entwicklungslän­ dern häufig von Krisen betroffen, die sich auf andere Märkte auszubreiten drohen. Hier haben IWF und Weltbank die Aufgabe, diese Ausbreitung zu 122  Lastra, Legal Foundations of International Monetary Stability, S. 485; M. Müller, Finanzmarktstabilisierung und Anlegereigentum, S. 70; R. Schmidt, in: Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. XI, Rn. 56. Kritisch zur Rechtmäßigkeit der Maßnahmen des IWF in der Krise, da sich diese nicht mehr innerhalb des ursprüng­ lichen Aufgabenrahmens befinden, Siekmann, in: Möllers/Zeitler (Hrsg.), Europa als Rechtsgemeinschaft, S. 101, 118. 123  Herrmann, Währungshoheit, S. 250. 124  So Höfling, NJW-Beilage 2010, S. 98. 125  Herrmann, Währungshoheit, S. 264. 126  Herrmann, Währungshoheit, S.  264 m. w. N.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

verhindern. Zur Verbesserung des status quo wird die Herausbildung einer leistungsfähigen Finanzaufsicht durch beide Institutionen gefördert127, was wiederum auf eine grundsätzlich positive Haltung zu Maßnahmen zur Her­ stellung von Finanzmarktstabilität schließen lässt. Als Zentralfigur in der in­ ternationalen Zusammenarbeit von Zentralbanken erstreckt sich die Tätigkeit der Weltbank auch auf Fragen der Finanzmarktstabilität. Insgesamt enthält das Völkerrecht allerdings keine belastbaren Regelungen zur Finanzmarktregulierung, die über die geschilderte positive Grundeinstel­ lung hinausgehen, aus der sich kaum etwas für die Begründung einer staat­ lichen Pflicht ableiten lässt. Selbst auf dem Gebiet der internationalen Ban­ kenregulierung finden sich wenige Bestimmungen. Die wichtigsten interna­ tionalen Bestimmungen finden sich im GATS. Dieses regelt den Zugang zu nationalen Finanzdienstleistungsmärkten. Daneben erwähnenswert sind die von der BIZ aufgestellten bankaufsichtsrechtlichen Standards,128 die aller­ dings lediglich Standards bleiben und Empfehlungen darstellen. Das GATS, insbesondere die dazugehörigen Anhänge über Finanzdienstleistungen und das 5. Protokoll vom 27.02.1998 über Finanzdienstleistungen, beeinflussen die Rechtsetzung auf den Finanzmärkten auf europäischer Ebene in Form von leitenden Maßstäben.129 Von Bedeutung für die Finanzmarktstabilisie­ rung ist weiterhin die Regelung in Ziff. 2a) der Anlage zu Finanzdienstleis­ tungen. Danach dürfen die Mitglieder der WTO bankaufsichtsrechtliche Maßnahmen zum Schutz der Integrität und Stabilität des Finanzsystems treffen. Die Norm ist Ausdruck des Bestrebens der Mitgliedstaaten, die Nut­ zer finanzieller Dienstleistungen und auch das gesamte Finanzsystem vor Ausfallrisiken zu schützen.130 Der Befund zur Finanzmarktstabilität in völkerrechtlichen Normen stellt sich aber insgesamt als spärlich dar. Selbst die letztgenannten Regelungen, die direkt auf die Stabilität des Finanzsystems Bezug nehmen, finden sich lediglich in einer Anlage. Die Ermächtigung stellt zudem nicht mehr als ei­ nen obligatorischen Hinweis auf eine Selbstverständlichkeit dar. Staaten dürfen Maßnahmen zum Schutz der Integrität und Stabilität des Finanzsys­ tems immer treffen, da ansonsten wegen der weitreichenden Verflechtung ein unermesslicher Schaden droht. Eine verfassungsrechtliche Pflicht besteht deswegen nicht. Zusammenfassend stellt der Beitritt der Bundesrepublik zu internationalen Organisationen einen Schritt in Richtung der Anerkennung von Finanzmarkt­ 127  Schlemmer-Schulte,

in: Hatje (Hrsg.), § 9 Rn. 159 ff. Währungshoheit, S. 260. 129  Bischof/Jung, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 20 Rn. 19. 130  Pitschas, in: Prieß/Berrisch (Hrsg.), WTO-Handbuch, Teil B II 1 Rn. 171. 128  Herrmann,



B. Die Auslegung des Grundgesetzes153

stabilität als Ziel dar. Der Beitritt berührt die Wirtschaftspolitik der National­ staaten in der Weise, dass sie grundsätzlich an den Zielen der Organisationen auszurichten ist. Es fehlt allerdings an Regelungen von Verfassungsrang. Der Beitritt erfolgte, im Einklang mit den völkerrechtlichen Vorgaben des Grund­ gesetzes (Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG), durch einfaches Bundesgesetz. Staaten treten internationalen Organisationen bei, um Unterstützung in ihren gemein­ samen Bestrebungen zu erhalten. Die Gesetze zum Beitritt zu einer interna­ tionalen Organisation begründen aber keine staatliche Verantwortung oder Staatsaufgabe. Selbiges gilt in Bezug auf soft law zur Stabilisierung der Finanzmärkte, gesetzt insbesondere durch das Financial Stability Board (FSB) und das ge­ nannte Basel Committee on Banking Supervision. Internationale Bestrebun­ gen zur Finanzmarktstabilität werden durch das FSB mitgeprägt. Gegründet wurde das FSB 1999 durch die G7, um internationale finanzielle Stabilität durch die Zusammenarbeit, insbesondere Informationsaustausch und Koope­ ration in der Bankenaufsicht, zu fördern.131 Es übernimmt vor allem koordi­ native Aufgaben. Aus der Mitgliedschaft zum Basel Committee alleine lässt sich aber für die Begründung einer nationalen Verantwortung nichts ableiten. Dies gilt gleichermaßen für die Principles for Responsible Investment der Vereinten Nationen, in denen sechs Prinzipien für verantwortungsvolles In­ vestment und damit ein nachhaltigeres Finanzsystem aufgestellt wurden. Die Prinzipien richten sich nicht direkt an Staaten und können daher über deren Pflichten nichts aussagen. Zwar gibt es damit umfangreiche internationale Standards, Richtlinien, Prinzipien und Verhaltensregeln in Bezug auf finanzielle Stabilität.132 Die Umsetzung der Empfehlungen obliegt aber der Willensbildung des nationa­ len Gesetzgebers. Eine Verpflichtung zur Umsetzung besteht nicht. Charakte­ ristisch für soft law ist, dass seine Durchsetzung nicht in einem formellen Verfahren erzwungen werden kann.133 So kann es auch keine staatliche Pflicht für die Finanzmarktstabilisierung begründen. Im Ergebnis lässt sich in dem Beitritt der Bundesrepublik zu verschiede­ nen internationalen Organisationen und der Zugehörigkeit zu den genannten Gremien eine positive Haltung zu einer Verantwortung für die Finanzmarkt­ stabilität finden, aber keine verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkte. Eine 131  Lastra,

Legal Foundations of International Monetary Stability, S. 459. Lastra, Legal Foundations of International Monetary Stability, S. 453, 456; siehe auch Bachmann, in: ders./Breig (Hrsg.), Finanzmarktstabilisierung, S. 1, 3 ff. 133  Zum Begriff des soft law siehe Lastra, Legal Foundations of International Monetary Stability, S. 454 ff.; ähnlich Pflock, Europäische Bankenregulierung und das „Too big to fail-Dilemma“, S. 58 ff. 132  Vgl.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

staatliche Verantwortung für die Finanzmarktstabilisierung ergibt sich daher nicht aus völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland.

III. Staatliche Verantwortung durch europarechtliche Vorgaben Korrespondierend zur gerade aufgeworfenen Frage, ob es eine Verpflich­ tung zur Förderung der Finanzmarktstabilität aufgrund von völkerrechtlichen Normen geben kann, stellt sich diese Frage auch für das Europarecht. So wirft Kaufhold die Frage auf, ob es eine Verantwortung für die Finanzmarkt­ stabilität aufgrund der Verpflichtungen, die der deutsche Staat durch das Europarecht übernommen hat, geben kann. Besonderes Augenmerk legt die Arbeit auf die Art. 3 Abs. 3 S. 1, 2 EUV, Art. 26 Abs. 1, 2 AEUV sowie die Normen über die Ziele und Aufgaben des ESZB in Artt. 119, 127 und schließt aus diesen auf das Bestehen einer „gemeinschaftlichen und/oder staatlichen Aufgabe“.134 Die Aufgabe lasse sich aber nicht zu einer Pflicht nationaler oder europäischer Gesetzgeber zu Rettungs- oder Stabilisierungsmaßnahmen erweitern.135 Eine Verpflichtung des deutschen Gesetzgebers zu stabilisieren­ den Maßnahmen wird folglich abgelehnt. Die Frage, ob das europäische Recht den europäischen Organen eine solche Pflicht aufgibt, soll erst an späterer Stelle ausgeführt werden. Die Verweisungen des Grundgesetzes auf europäische Normen (wie z. B. in Art. 88 S. 2 GG) werden in dem entspre­ chenden Abschnitt behandelt.

IV. Art.  70 ff. GG Nachdem zunächst Ansätze untersucht wurden, aus denen mittelbar eine Verantwortung herzuleiten wäre, sind nun die geschriebenen, ausdrücklichen normativen Aussagen des Grundgesetzes heranzuziehen. Zunächst sind die Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes in den Blick zu nehmen, wobei in Erinnerung zu rufen ist, dass die Auslegung derselben wegen der drohenden Kompetenzerweiterung begrenzt ist. Allerdings geht es an dieser Stelle noch nicht darum, neue Kompetenzen des Bundes zu Lasten der Länder zu begründen, sondern die Vorschriften im Hinblick auf Wei­ sungsgehalte zur Finanzmarktstabilität zu untersuchen. Zu diesem Zweck sind bereits bestehende Kompetenzen auszulegen. Die Art. 70 ff. GG könnten als Kompetenzkataloge Weisungsgehalte für eine staatliche Verantwortung für die Finanzmarktstabilität enthalten.

134  Kaufhold, 135  Kaufhold,

Systemaufsicht, S. 193 ff. Systemaufsicht, S. 194 f.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes155

Die Kompetenznormen sollen auch deshalb als erstes in den Blick genom­ men werden, um zu eruieren, inwiefern dem Bund überhaupt die Kompeten­ zen für legislative Tätigkeiten zur Stabilisierung der Finanzmärkte zustehen. Für die Erforschung der verfassungsrechtlichen Vorgaben bieten die Normen daher die Grundlage für die weitere Untersuchung. Weiterhin lässt sich den Kompetenznormen eine gewisse Legitimität für ein bestimmtes Tätigwerden entnehmen, wenn zumindest die Kompetenz für Maßnahmen positivrechtlich geregelt ist. 1. Der materielle Gehalt der Kompetenzbestimmungen Die Art. 70 ff. GG verwenden weder den Begriff Staatsziel noch die Be­ griffe Aufgabe oder Verantwortung. Festgelegt werden Gesetzgebungskom­ petenzen. Klärungsbedürftig ist daher, ob sich aus den Kompetenzvorschrif­ ten des Grundgesetzes ein materieller Gehalt entnehmen lässt. Nur dann kann ihnen zugleich ein eigenständiger Regelungsgehalt, der über die Fest­ legung einer Kompetenz hinausgeht, entnommen werden. Angesprochen ist hiermit eine schon länger bestehende Kontroverse über den materiellen Ge­ halt der Kompetenzbestimmungen des Grundgesetzes, der vor allem bei der Möglichkeit zur Heranziehung der Kompetenznormen zur Einschränkung von Grundrechten virulent wird. Nach wohl überwiegender Auffassung darf der Erwähnung eines Begriffs in den Artt. 70 ff. GG kein konstituierender materieller Gehalt zugebilligt werden.136 Aus der Konstituierung des Grundgesetzes als systematische Ein­ heit soll sich aber ergeben, dass sie auf den Umfang der Schutzwirkung der Grundrechte einwirken können.137 Dem ist beizupflichten, da mehrere Kom­ petenztitel so formuliert sind, als erwarteten sie vom Staat, tätig zu wer­ den.138 Wenn sich aus den Kompetenzbestimmungen also ein materiellrechtlicher Gehalt zur Einschränkung von Grundrechten gewinnen lässt, müssen sich aus ihnen auch Anhaltspunkte entnehmen lassen, die auf ein Staatsziel oder eine staatliche Verantwortung hinweisen. Die Anhaltspunkte lassen sich, bei fehlender unmittelbarer Erwähnung im Wortlaut, im Wege

136  Bleckmann,

DÖV 1983, S. 129 ff. m. w. N. 12, 45, 50; Bleckmann, DÖV 1983, S. 129 ff. m. w. N. 138  Stern, in: Bitburger Gespräche 1984, S. 5, 16, der als Beispiele Art. 74 Abs. 1 Nr. 13 „Förderung der wissenschaftlichen Forschung“, Nr. 17 „Sicherung der Ernäh­ rung“, Nr. 19a „Sicherung der Krankenhäuser“ und Nr. 24 „Lärmbekämpfung“ nennt; ähnlich Scheuner, FS Scupin, S. 323, 327, 331 f., der neben den gerade genannten Vorschriften noch Art. 74 Abs. 1 Nrn. 5, 16, 19a und 20 GG zitiert, die er als Auffor­ derung an den Gesetzgeber zum Schutz bestimmter Bereiche auffasst. 137  BVerfGE

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

einer Auslegung des Kompetenztitels gewinnen.139 Sind nach den Artt. 30, 70 GG die Länder zuständig, lässt sich daraus allerdings nicht schließen, dass der Verfassungsgeber diesem Bereich keine Wichtigkeit zumaß. Aus der Erwähnung einer bestimmten Sachmaterie lassen sich mittelbar Schlüsse auf eine Verantwortung des Staates ziehen.140 Das Bundesverfassungsgericht formuliert dies so, dass aus der Erwähnung eines Regelungsgegenstandes in den Kompetenzvorschriften zugleich eine „grundsätzliche Anerkennung und Billigung“ desselben „durch die Verfassung selbst“ folge.141 Festhalten lässt sich also, dass das Bundesverfassungsgericht durchaus von einem materiel­ len Gehalt ausgeht und auch davon, dass die Erwähnung eines Regelungsge­ genstandes in den Kompetenzen sich auf andere Bereiche des Verfassungs­ rechts auswirken kann. Zugleich muss erwähnt werden, dass die Zuteilung einer Kompetenz an Bund oder Länder noch keine Ausübungspflicht bedeutet142, sondern ledig­ lich Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Dies spricht dagegen, dem Staat aus einer Kompetenz folgend eine Verantwortung aufzuerlegen, deren Wahrneh­ mung in seiner Pflicht läge.143 Gegen die Ableitung eines Staatszieles aus den Kompetenzvorschriften argumentiert Schwind, dass diese nicht den für ein Staatsziel nötigen Abs­ traktionsgrad aufwiesen, da die Normen lediglich einen bestimmten Rege­ lungsbereich im Blick hätten.144 Diese Argumente sprechen dagegen, direkt (und nur aus den) Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes ein Staatsziel herzuleiten.145 Entgegenzuhalten ist, dass einzelne Kompetenzbestimmungen durchaus offen formuliert sind. Beispielhaft seien der „Schutz deutschen 139  Siehe hierzu Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 72; Stern, Staatsrecht II, S.  607 ff.; Wittreck, in: Dreier, GG, Art. 70 Rn. 54 f. 140  Vgl. BVerfGE 12, 45, 50 zum verfassungsrechtlichen Rang der Wehrpflicht; BVerfGE 53, 30, 56 zur friedlichen Nutzung der Kernenergie; BVerfGE 69, 1, 21 ff. zur verfassungsrechtlichen Grundentscheidung für eine wehrfähige militärische Landes­ verteidigung, die teilweise aus Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG abzuleiten sei; siehe ferner Bleckmann, DÖV 1983, S. 129 ff.; Brenner, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Ver­ fassungstheorie, § 25 Rn. 42; Heintzen, in: BK, GG, Art. 70 Rn. 99, 101; P. Kirchhof, FS Rengeling, S. 567, 568; Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. VI, § 135 Rn. 18; zurückhaltender Degenhart, in. Sachs, GG, Art. 70 GG, Rn. 70. 141  BVerfGE 53, 30, 56. 142  Heintzen, in: BK, GG, Art. 70 Rn. 100; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 70 Rn. 16; Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. VI, § 135 Rn. 12. 143  So vor allem Michel, Staatszwecke, Staatsziele und Grundrechtsinterpretation, S. 200; ihm folgend Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 258. 144  Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 258. 145  So Michel, Staatszwecke, Staatsziele und Grundrechtsinterpretation, S. 201; Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 258, mit dem Verweis darauf, dass mit der



B. Die Auslegung des Grundgesetzes157

Kulturgutes“ in Art. 73 Abs. 1 Nr. 5a GG, „die öffentliche Fürsorge“ in Art. 74 Nr. 7 GG und „die Verhütung des Missbrauchs wirtschaft­ licher Machtstellung“ in Art. 74 Nr. 16 GG genannt. Von der Formulierung her weisen diese einen ausreichend hohen Abstraktionsgrad auf, so dass der pau­ schalen Ablehnung nicht gefolgt werden kann. Ein sehr weites Verständnis wird von U. Scheuner vertreten, der davon ausgeht, dass sich Staatszielbestimmungen bereits in den Kompetenznormen finden, die dem Staat den Schutz bestimmter Bereiche oder Interessen vorge­ ben.146 Dies widerspricht der hiesigen Auffassung nicht, wenngleich dieses sehr weite Verständnis wohl zu weit geht. Aus allen offen formulierten Kom­ petenznormen ein Staatsziel ableiten zu können, konterkariert die sonstige Zurückhaltung des Grundgesetzes bei der Bestimmung staatlicher Ziele und Aufgaben. Es bleibt dabei, dass die Kompetenzvorschriften der Artt. 70 ff. GG vor allem die Abgrenzung der staatlichen Tätigkeit von Bund und Län­ dern vornehmen sollen, nicht ein umfangreiches Staatsziel- und Aufgaben­ programm enthalten. Zudem soll vorliegend nicht alleine aus den Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes und ihrer zu untersuchenden Verbindung zur Finanzmarktsta­ bilität ein Staatsziel hergeleitet werden. Stattdessen geht es darum, Anknüp­ fungspunkte in den Kompetenzvorschriften zu finden, um im Zusammenspiel mit anderen Vorschriften des Grundgesetzes eine staatliche Verantwortung zu bestimmen. Zuzustimmen ist also einem Mittelweg, der darin besteht, dass sich alleine aus den Kompetenzvorschriften mangels Formulierung verbind­ licher Pflichten sowie des konkreten Charakters der Bestimmungen keine unmittelbare Aussage über die Ziele des Staates treffen lässt. Nimmt man die Möglichkeit eines materiell-rechtlichen Gehaltes der Kompetenzbestimmun­ gen und damit die Ableitung von Gütern mit Verfassungsrang aus den Kom­ petenzbestimmungen an, ist es aber nur konsequent, ihnen normative Wei­ sungsgehalte zuzusprechen, die sich im Zusammenspiel mit anderen Normen des Grundgesetzes zu einem Staatsziel zusammensetzen lassen. Bedeutende Aussagen lassen sich gewinnen, wenn der Gesetzgeber nach­ träglich einen Kompetenztitel einfügt oder einen bestehenden Kompetenztitel erweitert. Aus der Tatsache der Änderung oder Erweiterung eines Titels kann auf den Willen des verfassungsändernden Gesetzgebers geschlossen werden, diesem Bereich mehr Aufmerksamkeit zu widmen.147 Erwähnung des Tierschutzes in Art. 74 Abs. 1 Nr. 20 GG bis zur Einführung des Art. 20a GG auch kein entsprechendes Staatsziel begründet werden konnte. 146  Scheuner, FS Scupin, S. 323, 333 f.; zu denen die gerade genannten Normen aus Art. 73 und 74 GG wohl auch gehören; ferner Michel, Staatszwecke, Staatsziele und Grundrechtsinterpretation, 197 m. w. N. 147  Vgl. Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 71.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

Geklärt werden muss außerdem das Verhältnis zwischen Kompetenzen und Staatsaufgaben. Den Kompetenzen liegen Staatsaufgaben zugrunde. Indem Staatsaufgaben konkreter formuliert sind als Staatsziele, lassen sich aus den konkreter formulierten Kompetenzbestimmungen auch einfacher Staatsauf­ gaben ableiten. Die Kompetenzkataloge der Artt. 70 ff. und 83 ff. GG könnten sich damit auch als „Staatsaufgabenkataloge“, wenn auch nicht abschließend, lesen lassen.148 Eine abschließende Aufzählung der Staatsaufgaben können die Kompetenzkataloge aber schon deshalb nicht enthalten, da Staatsauf­ gaben nach der Regelungskonzeption des Grundgesetzes nicht ausdrücklich kodifiziert sind. Allerdings lässt sich vertreten, dass die Kompetenzen vo­ raussetzen, dass eine entsprechende Staatsaufgabe besteht. Die zustimmende Auffassung geht von der Tradition aus, dass der Staat selbst über die staat­ lichen Aufgaben bestimmen kann und muss.149 Das Verhältnis von Staatsaufgaben und Kompetenzen lässt sich daher in zwei Schritten beschreiben. Zunächst muss eine Staatsaufgabe formuliert werden; in einem weiteren Schritt muss über die Kompetenz geklärt werden, auf welcher Ebene die Staatsaufgabe zu erfüllen ist.150 Dabei müssen die Aufgaben selbst einen Anknüpfungspunkt in der Verfassung haben, wobei klassische Staatsaufgaben historisch gewachsen sind und neuere aus den zeitgeschichtlichen Entwicklungen erwachsen.151 Folglich müssen sich nicht alle Staatsaufgaben aus den Kompetenzvorschriften ergeben, neuere müssen sich aber in diese einfinden. Anderenfalls ist im Mehrebenensystem zwischen Bund und Ländern die Landesebene für die Erfüllung der Aufgabe zuständig, 148  So Isensee, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.) Hdb. d. StaatsR, Bd. IV, § 73 Rn. 42 und 21, wonach von der „Befugnis auf die Aufgabe geschlossen werden darf“ und Bd. VI, § 133 Rn. 58, wonach sich „obligatorische Staatsaufgaben hinter den Kompe­ tenztiteln verbergen können“; ferner hierzu Badura, Staatsrecht, S. 416 f.; Brenner, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, § 25 Rn. 42; Rengeling, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd VI, § 135 Rn. 30; Sommermann, Staatsziele, S. 90; Wittreck, in: Dreier, GG, Art. 70 Rn. 55; für eine konkludente Zu­ weisung von Staatsaufgaben durch die Kompetenzvorschriften BMI/BMJ, Staatszielbe­ stimmungen, S. 18 Rn. 3; zurückhaltender Bull, Staatsaufgaben, S. 52 f., 152 m. w. N.; Wahl, in: Ellwein/Hesse (Hrsg.), S. 29, 31; gänzlich a. A. Korioth, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 30 Rn. 8; ihm folgt Thiele, Finanzaufsicht, S. 258; ferner Schwind, Zukunfts­ gestaltende Elemente, S. 273 ff.; Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, S. 140 f. 149  Herzog, Allg. Staatslehre, S. 147 f., 151; H. Krüger, Allg. Staatslehre, S. 760 ff.; Schöbener/Knauff, Allg. Staatslehre, § 4 Rn. 105; ferner Isensee, in: Isensee/P.  Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IV, § 73 Rn. 55 ff., von einer Allzuständigkeit des Staa­ tes ausgehend, die durch die Grundrechte begrenzt wird. 150  Vgl. Heintzen, DVBl. 1997, S. 689, 692; Isensee, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IV, § 73 Rn. 19 f. und Bd. VI, § 133 Rn. 39; Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, S. 156. 151  Brenner, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, § 25 Rn. 37; Häberle, AöR 111 (1986), S. 595, 601; Korioth, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 30 Rn. 9.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes159

wobei diese auf dem Gebiet der Finanzmarktstabilität kaum wirkungskräftige Regelungen erlassen könnte. Die Kompetenzen werden vom Gesetzgeber in einfachem Recht ausgestaltet, welches auch zur Bestimmung einer Staatsauf­ gabe herangezogen werden muss, und zwar bis hin zu Verwaltungsvorschrif­ ten, die den Umfang einer Aufgabe bestimmen.152 Festzuhalten ist, dass die Kompetenzvorschriften Staatsaufgaben enthalten können. Gleichzeitig bilden die Normen aber keinen erschöpfenden Fundus der staatlichen Aufgaben. Diese können in anderen Verfassungsnormen glei­ chermaßen normiert sein. Für die Untersuchung bedeutet dies, dass auch von einer staatlichen Aufgabe gesprochen werden kann, wenn ein Kompetenztitel Weisungsgehalte in Richtung einer Verantwortung für die Finanzmarktstabi­ lität enthält. Die Begründung einer staatlichen Verantwortung mithilfe der Kompetenznormen ist daher möglich. Auch aus einer weiteren Perspektive erscheint die Beschäftigung mit den Kompetenzvorschriften lohnenswert. Zwar wachsen die Aufgaben des Staa­ tes, nicht zwangsläufig geht damit aber eine Erweiterung der Kompetenzen einher, so dass untersucht werden muss, mit welchen Mitteln der Staat einer etwaigen Verantwortung gerecht werden kann. 2. Art. 73 Abs. 1 Nr. 4 GG Um aus den Kompetenzregeln des Grundgesetzes einen Anhaltspunkt für eine staatliche Verantwortung für die Finanzmarktstabilität zu entnehmen, ist zunächst die Regelung des Art. 73 Abs. 1 Nr. 4 GG, nach der dem Bund die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz über das Währungs-, Geld- und Münzwesen zusteht, zu untersuchen. Der Zusammenhang zu den Finanz­ märkten wird vor allem durch die Einwirkungen der Finanzmärkte auf das Währungswesen hergestellt. Die durch Art. 73 Abs. 1 Nr. 4 GG geregelten Materien werden teilweise als eine „unteilbare Gesetzgebungsmaterie“, die nur einheitlich ausgelegt werden kann153, verstanden. Teilweise wird Währung aber als Oberbegriff, der Geldund Münzwesen umfasst, gesehen.154 Die Begriffe sind weit auszulegen155 und umfassen insbesondere die „tragenden Grundsätze der Währungspolitik“156. 152  Bull,

Staatsaufgaben, S. 114 f. in: BK, GG, Art. 73 Abs. 1 Nr. 4 Rn. 48. 154  Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 73 Rn. 20. 155  Heintzen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 73 Rn. 36; Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 73 Rn. 45; Uhle, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 73 Rn. 79. 156  BVerfGE 4, 60, 73. 153  Niedobitek,

160

4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

Der Kompetenztitel weist durch die Fixierung auf das „Geld“ eine wesent­ liche Verbindung zu den Finanzmärkten auf. Wesentliches Ziel der Rettungs­ maßnahmen war und ist es, den Wert des Geldes zu erhalten. Dies zeigt sich schon am steigenden Interesse für Goldpreise, Rohstoffmärkte und Immo­ bilieneigentum im Nachgang der Finanzkrise.157 Von Bedeutung für die ­Finanzmärkte ist dagegen vor allem elektronisches Geld. Die Funktion des Geldes als allgemeines Tauschmittel wird durch Finanzmarktkrisen zwar nicht grundlegend in Frage gestellt, die Gefahr, die eine Staatskrisen hervor­ ruft, rührt vor allem aus der Angst vor einem Vertrauensverlust in das Geld. Dies kann einen Bank Run auslösen und damit den Staat in eine tiefe Krise stürzen. Durch die Kompetenz für das Geldwesen erhält der Staat die Mög­ lichkeiten, gegen Finanzkrisen, auch präventiv, vorzugehen. Alleine aus der Kompetenz kann nach dem bereits Gesagten nicht auf eine staatliche Aufgabe geschlossen werden. Es bedarf daher eines genaueren Blickes auf die Mög­ lichkeiten, welche Art. 73 Abs. 1 Nr. 4 GG dem Staat gibt. Vom Kompetenztitel gedeckt sind konjunkturfördernde Maßnahmen des Bundes zur Sicherung des Geldwertes.158 Nicht umfasst ist dagegen die Be­ gründung einer generellen Zuständigkeit für die Konjunkturpolitik.159 Für die Suche nach einem Staatsziel Finanzmarktstabilität kann an die dem Kompe­ tenztitel inhärente Kompetenz zum Ergreifen von Maßnahmen mit dem Ziel der Sicherung des Geldwertes angeknüpft werden. Teilweise wird argumen­ tiert, dass den Staat nach Einführung einer Währung eine Übernahmeverant­ wortung treffe, aus der folge, dass er zur Sicherung der Stabilität verpflichtet sei. Andere argumentieren, dass der Staat verpflichtet sei, eine funktionie­ rende Geldordnung zu errichten und diese aufrechtzuerhalten. Aus dieser Pflicht folge, dass der Staat inflationsbedingte Funktionsstörungen der Geld­ ordnung abzuwehren habe.160 Wenngleich eine Inflation für die Finanzmärkte negative Folgen hat, sind unabhängig von dieser Kontroverse andere Vor­ schriften für die Begründung einer staatlichen Verpflichtung zur Währungs­ stabilität sachnäher.161 Der Zusammenhang zwischen dieser Verpflichtung und der Finanzmarktstabilität muss daher an dieser Stelle noch nicht einge­ hend geschildert werden.

157  Vgl.

Rn. 1.

R. Schmidt, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. XI, § 252

158  BVerwGE 41, 334, 349; Uhle, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 73 Rn. 79, 81; dage­ gen Heun, JZ 2010, S. 53, 59. 159  Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 73 Rn. 17; Heintzen, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Art. 73 Rn. 36. 160  Zur Kontroverse siehe Hahn/Häde, Währungsrecht, §  9 Rn.  2 ff. m. w. N. 161  Hahn/Häde, Währungsrecht, § 9 Rn. 4.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes161

Festzuhalten bleibt lediglich, dass der Verfassungsgesetzgeber der Wäh­ rungsstabilität und dem Geldwert in Art. 73 Abs. 1 Nr. 4 GG einen besonde­ ren Stellenwert eingeräumt hat. Auslöser für eine instabile Währung können externe Faktoren, wie z. B. eine Finanzkrise, sein. Hierdurch wird ein weite­ res Mal die enge Verknüpfung zwischen Staat und Finanzmarkt aufgezeigt, mehr aber auch nicht. Art. 73 Abs. 1 Nr. 4 GG gibt dem Staat keine Aufgabe mit Bezug zu den Finanzmärkten. Ein weitergehender materieller Gehalt in Bezug auf eine Aussage zur Stabilität der Finanzmärkte lässt sich dem Kom­ petenztitel daher nicht entnehmen. Es besteht lediglich ein Anhaltspunkt zu einem generellen Staatsziel der währungspolitischen Stabilität, der der Vor­ schrift als Weisungsgehalt innewohnt.162 Als einzelne Norm lassen sich aus ihr aber im Hinblick auf die Finanzmarktstabilität keine belastbaren Aus­ sagen folgern. 3. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG begründet die konkurrierende Gesetzgebungs­ kompetenz des Bundes für das Recht der Wirtschaft. Die Finanzmärkte sind Teil der Wirtschaft, was den ersten Bezug zum Gegenstand der Untersuchung herstellt. Für die vorliegende Untersuchung relevant ist insbesondere der Klammerzusatz, der die Kompetenz für das Bank- und Börsenwesen begrün­ det. Der Bund besitzt die Gesetzgebungskompetenz nach Art. 72 Abs. 2 GG nur, soweit eine einheitliche Regelung erforderlich ist. Es besteht folglich eine sog. Abweichungsgesetzgebungskompetenz. Der Kompetenztitel ist ein Auffangtatbestand und wird daher durch das Eingreifen eines anderen Kom­ petenztitels gesperrt. Als Gegenstand konkurrierender Gesetzgebung kann die Kompetenz sowohl vom Bund als auch von den Ländern ausgeübt wer­ den. Lässt sich ihr ein materieller Gehalt ableiten, ist die Wahrnehmung der Verantwortung beiden Ebenen möglich.163 a) Das Recht der Wirtschaft Geklärt werden muss zunächst, was unter dem Begriff der „Wirtschaft“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG zu verstehen ist, um dann, darauf aufbauend, aus der Auslegung dieses Kompetenztitels etwas für die Begründung einer staat­ lichen Verantwortung zur Wahrung der Finanzmarktstabilität zu gewinnen.

162  Noch zurückhaltender Thiele, Finanzaufsicht, S. 277: „im Hinblick auf eine Verantwortung für die Stabilität der Finanzmärkte lässt sich dieser Bestimmung im Ergebnis nichts entnehmen (…)“; ablehnend Schott, Reaktionen des Staates, S. 84 f. 163  Vgl. Thiele, Finanzaufsicht, S. 279.

162

4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

Nach dem Bundesverfassungsgericht sind unter dem „Recht der Wirt­ schaft“ alle Regelungen zu verstehen, „die sich in irgendeiner Form auf die Erzeugung, Herstellung und Verteilung von Gütern des wirtschaftlichen Be­ darfs beziehen“, und „auch alle anderen das wirtschaftliche Leben und die wirtschaftliche Betätigung als solche regelnden Normen und Gesetze mit wirtschaftsregulierendem oder wirtschaftslenkendem Inhalt“164. Im Ergebnis sind damit alle Regelungen umfasst, welche die Verhältnisse der Wirtschafts­ subjekte untereinander regeln, und solche, die lenkend und ordnend auf das Wirtschaftsleben einwirken.165 Folglich ist die Aufzählung im Klammerzu­ satz auch nicht abschließend, sie hat vielmehr eine wichtige Bedeutung als Konkretisierung der vom Begriff umfassten Bereiche.166 Zur Eingrenzung des sehr weiten Begriffs des Rechts der Wirtschaft dienen die Begriffe der Wirtschaftsregulierung und Wirtschaftslenkung. Festzuhalten ist zunächst: Der Staat darf nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG durch aktive Intervention die Wirtschaft steuern und lenken.167 Dies gilt auch für die Finanzmärkte als Teil der in der Kompetenznorm genannten Wirtschaft. Die Norm nennt zudem das Bankwesen ausdrücklich. Die Bedeutung des Bankwesens für das Finanzsystem und die Finanzmärkte wurde bereits erläu­ tert. Das Bankwesen i. S. d. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG umfasst alle Rechtsnor­ men, die sich auf Banken und das Bankgeschäft als solches beziehen und diesen Geschäftsbereich regeln.168 Wesentliche Regelungsbereiche sind Kre­ ditgeschäfte, die rechtliche Organisation der Banken und (insbesondere nach der Finanzkrise von besonderer Bedeutung) Regelungen zur Eigenkapitalaus­ stattung und Einlagensicherung.169 Daneben nennt die Vorschrift das Börsen­ wesen. Zu verstehen ist darunter die Gestaltung eines bestimmten Teilneh­ mern vorbehaltenen Marktes, auf dem in freiem Handel Angebot und Nach­ frage hinsichtlich bestimmter Gegenstände zusammentreffen und Verträge abgewickelt werden.170 Erfasst werden Effekt- und Warenbörsen. Für die 164  BVerfGE 68, 319, 330; 116, 202, 215 f.; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 74 Rn. 131 ff.; umfassend zum Begriff der Wirtschaft und zur Historie der Definitionsan­ sätze Rengeling/Szczekalla, BK, GG, Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 Rn. 28 ff. 165  Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 74 Rn. 39; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 74 Rn. 132. 166  Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 74 Rn. 36; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG. Art. 74 Rn. 85 f. 167  Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 50; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG. Art. 74 Rn. 85; Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 74 Rn. 106; Wittreck, in: Dreier, GG, Art. 74 Rn. 50. 168  Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 74 Rn. 145; Rengeling/Szczekalla, in BK, GG, Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 Rn. 73. 169  Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 74 Rn. 93. 170  Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 74 Rn. 47; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 74 Rn. 147; Rengeling/Szczekala, in: BK, GG, Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 Rn. 137.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes163

Finanzmärkte essentielle Bereiche wie das Bankenwesen und die Börsen werden also besonders genannt, was weitere Schlüsse auf die verfassungs­ rechtliche Bedeutung dieser beiden bedeutenden Sektoren für die Finanz­ märkte erlaubt. Angesprochen wurde bereits, dass es sich um eine Abweichungsgesetzge­ bungskompetenz handelt. Für beide Teilbereiche gilt, dass die Erforderlich­ keit einheitlicher Regelungen im Bundesgebiet nach Art. 72 Abs. 2 GG heute nicht mehr ernsthaft bestritten wird. Regelungen zum Banken- und Börsen­ wesen innerhalb nur eines einzelnen Bundeslandes ergeben wegen des inter­ national grenzüberschreitenden Geschäftes keinen Sinn. Anderenfalls droht eine Rechtszersplitterung im Bundesgebiet, die bei der Abhängigkeit des Staates von den Finanzmärkten effektive Rechtsetzung erschwert. Eine ein­ heitliche Regelung für das Bundesgebiet ist daher zur Wahrung der Rechtsund Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse i. S. d. Art. 72 Abs. 2 GG erforderlich. Die Kompetenz zur Regulierung der genannten Bereiche obliegt damit unstreitig auch dem Bund. b) Folgerungen für die Finanzmarktstabilität Für die Finanzmarktstabilität ist der Fokus auf wirtschaftssteuernde und -lenkende Gesetze interessant. Das Grundgesetz ermächtigt in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG den Bund ausdrücklich zum Erlass von Gesetzen mit diesem Zweck. Mit der zusätzlichen Erwähnung des Bank- und Börsenwesens wird weiterhin deutlich, dass der Gesetzgeber auch diese Bereiche miteinbezieht. Mit den vergangenen Krisen ist der Handlungsbedarf für lenkendes und ­regulierendes staatliches Eingreifen gerade im Bankenbereich offensichtlich geworden. Auch im Börsenwesen wurde nicht verhindert, dass toxische Pa­ piere entwickelt wurden, die schwere systemische Risiken bargen. Ausge­ hend vom Sinn und Zweck könnte Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG daher auch be­ inhalten, die Stabilität der Finanzmärkte zu wahren. Ein großer Teil der Akteure auf dem Finanzmarkt sind Banken, und ein großer Teil der Wertpapiere wird auf Börsen gehandelt. Zugleich erfasst der Titel durch die Verwendung des Wortes „Wirtschaft“ auch Akteure auf dem Finanzmarkt wie die beschriebenen Versicherungsgesellschaften, die durch Emittierung von Credit Default Swaps an der Entstehung der Krise maßgeb­ lich mitbeteiligt waren. Eine Begrenzung auf das Bankenwesen nimmt der Wortlaut daher nicht vor. Er erlaubt die Regulierung des gesamten Finanz­ marktes.

164

4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

Die Kompetenzbestimmung begründet zwar keine Pflicht zum Tätigwer­ den, so dass der Gesetzgeber auch gänzlich untätig bleiben kann.171 Jedoch ist eine Pflicht zu einem bestimmten gesetzgeberischen Tätigwerden für das Bestehen einer allgemeinen staatlichen Verantwortung nicht zwingend not­ wendig. Notwendig sind dagegen tragfähige Anknüpfungspunkte in der Ver­ fassung. Diese sind mit der Vorschrift des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG, welcher eine Verknüpfung von Finanzmärkten mit dem Staat voraussetzt, und dem Staat Mittel an die Hand gibt, dieses Verhältnis durch Rechtsetzung zu re­ geln, zumindest mittelbar gegeben. Zwar kann nach hier vertretener Auffas­ sung aus der Kompetenznorm allein kein Staatsziel und keine staatliche Verantwortung hergeleitet werden. Die Kompetenz zum Erlass von Gesetzen mit regulierendem Inhalt bietet aber einen ersten Anhaltspunkt für die nor­ mativen Aussagen des Grundgesetzes zu den Finanzmärkten. Wann konkretes Handeln erforderlich ist und wie dieses ausgestaltet sein muss, liegt in der Einschätzungsprärogative der staatlichen Organe. Mit der Kompetenz zur Regelung von Sachverhalten auf den Finanzmärkten ist ein erster Schritt zur Wahrnehmung der Verantwortung getan. Zugleich lässt sich argumentieren, dass der Verfassungsgeber mit einer Kompetenznorm die Erwartung verbunden hat, dass der Gesetzgeber in Zei­ ten, in denen es notwendig und im öffentlichen Interesse geboten ist, in den genannten Regelungsbereichen tätig wird. Genau bestimmen lässt sich dies, wenn in der Folge herausgearbeitet wird, inwiefern die Stabilität der Finanz­ märkte für weitere Normen des Grundgesetzes Bedeutung hat. Als erster Anhaltspunkt für die weitere Bewertung kann die Bestimmung der Finanz­ marktstabilität als Gemeinwohlbelang dienen, die auf ein staatliches Interesse an derselben hindeutet. 4. Ergebnis zur Auslegung der Art. 70 ff. GG Zu Beginn wurde die Frage aufgeworfen, ob die Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes materielle Gehalte besitzen, woran sich die Frage an­ schloss, ob diese auf eine staatliche Verantwortung für die Finanzmarktstabi­ lität hinweisen. Die erste Frage konnte zustimmend beantwortet werden. Hinsichtlich des Art. 73 GG ist die Frage zu verneinen, dieser enthält trotz des Bezuges zum Währungs-, Geld- und Münzwesen keine Aussagen zur Finanzmarktstabilität. Anders ist Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG zu beurteilen. Wie gezeigt, lässt sich diesem mittelbar ein Weisungsgehalt in Richtung einer stabilen Finanzwirtschaft entnehmen. Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG erfasst nach 171  Thiele, Finanzaufsicht, S. 281 (mit dem Hinweis, dass dies nach der Krise 2008/2009 nur eine theoretische Option ist); zurückhaltend auch Klingenbrunn, Pro­ duktverbote zur Gewährleistung von Finanzmarktstabilität, S. 21.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes165

seiner Entstehungsgeschichte vor allem wirtschaftslenkende Gesetze. Zu­ gleich umfasst der Kompetenztitel das Bank- und Börsenwesen. Gesetze mit regulierendem und lenkendem Inhalt liegen daher in der Kompetenz des Bundes. Das heißt zwar nicht notwendig, dass auch eine Aufgabe gleichen Inhalts besteht, jedoch geht es hier nicht um eine exakte Aufgabenbestim­ mung, sondern die Eruierung der Aussagen des Grundgesetzes für die Fi­ nanzstabilität, die an dieser Stelle für Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG positiv aus­ fällt. Das Grundgesetz gibt dem Staat damit die Möglichkeit zur Regulierung und Lenkung der Finanzmärkte durch Bundesgesetze.

V. Art. 88 GG Betrachtet man das Finanzsystem als Ganzes und dessen rechtliche Ausge­ staltung, ist die Regelung des Grundgesetzes zur Bundesbank in den Blick zu nehmen. Die Bundesbank stellt, wie im Folgenden darzulegen ist, eine ele­ mentare Akteurin auf dem Finanzmarkt dar, die durch ihre Handlungen er­ heblichen Einfluss auf die Gestaltung und Entwicklung der Märkte nehmen kann. Die verfassungsrechtlichen Regelungen über die Bundesbank können daher wichtige Hinweise liefern, welche Rolle und welcher Rang der Finanz­ marktstabilität als Gemeinwohlbelang innerhalb der Normen des Grundgeset­ zes zukommt. Hinzu kommt die Rolle der Bundesbank im Europäischen System der Zentralbanken, deren Entwicklung durch Einfügung von Art. 88 Satz 2 GG der Weg geebnet wurde. Die Entwicklung der Europäischen Zen­ tralbank zum Stabilitätsgaranten in der Europäischen Union erlaubt Rück­ schlüsse auf die verfassungsrechtliche Stellung der Bundesbank.172 Art. 88 GG in Satz 1 enthielt einen Verfassungsauftrag zur Errichtung e­ iner Währungs- und Notenbank als Bundesbank, der sich nach Errichtung der Bundesbank in eine institutionelle Garantie gewandelt hat.173 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts enthält diese zugleich den Auftrag an den Staat, die Funktionsfähigkeit der Zentralbank zu gewährleis­ ten.174 Die nähere Ausgestaltung von Aufgaben sowie der Aufbau der Bun­ desbank findet sich im Bundesbankgesetz175. Zentrale Punkte sind, dass die Bundesbank nach § 3 Satz 1 BBankG integraler Bestandteil des Europäischen Systems der Zentralbanken ist und nach § 3 Satz 2 Var. 1 BBankG an dem Ziel der Gewährleistung von Preisstabilität mitwirkt. An dieser Stelle wieder­ Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 88 Rn. 2. in: Maunz/Dürig, GG, Art. 88 Rn. 2; Remmert, in: BeckOK GG, Art. 88 Rn. 1 f.; zum Charakter des Satzes 1 als Auftrag siehe Häde, in: BK, Art. 88 GG Rn. 98; K. Stern, Staatsrecht II, S. 472; ferner BVerwGE 41, 334, 349. 174  BVerfGE 142, 123; BVerfG NJW 2017, S. 2894, 2904. 175  Gesetz v. 26.7.1957, BGBl. I 1957, S. 745. 172  Vgl.

173  Herdegen,

166

4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

holt das BBankG die Verpflichtung des Art. 88 S. 2 GG. Weiterhin hält die Bundesbank Währungsreserven, sorgt für die Abwicklung des Zahlungsver­ kehrs im Inland und mit dem Ausland und trägt zur Stabilität der Zahlungsund Verrechnungssysteme bei, § 3 Satz 2 BBankG. Auch wenn auf den ersten Blick nicht recht deutlich wird, in welcher Hinsicht die Aufgabe der Errichtung einer Bundesbank gemäß Art. 88 Satz 1 GG und deren Integration in das Europäische System der Zentral­ banken im Zusammenhang in Art. 88 Satz 2 GG in einer Verbindung zur Finanzmarkt­ stabilität steht, ist die Norm von besonderer Wichtigkeit, um die Stellung der Finanzmarktstabilität im Grundgesetz festzulegen. Zuvor­ derst ist daher zu klären, welchen Zusammenhang es zwischen der Bundes­ bank und der F ­ inanzmarktstabilität gibt, um dann in einem weiteren Schritt aufzuzeigen, ob dies auch Schlussfolgerungen auf eine staatliche Verant­ wortung erlaubt. 1. Die Bundesbank und die Stabilität der Finanzmärkte a) Ansatz von Thiele Aus der institutionellen Funktion der Bundesbank folgert Thiele eine (zu­ mindest mittelbare) Aussage des Grundgesetzes zum Bestehen einer staat­ lichen Verantwortung für die Stabilität der Finanzmärkte.176 Dies lasse sich im Wesentlichen damit begründen, dass die Bundesbank für die Durchfüh­ rung ihrer Aufgaben ein funktionsfähiges Bankensystem benötige.177 Zur Steuerung der Geldpolitik stehen der Bundesbank die Instrumente der Diskont-, Lombard- und Offenmarktpolitik zur Verfügung.178 Offenmarktpo­ litik ermöglicht es der Zentralbank, auf rechtsgeschäftlichem Weg auf die Finanzmärkte einzuwirken. Die Zentralbank kauft Wertpapiere auf, wodurch der Geschäftsbankensektor mit Liquidität versorgt wird Die Instrumente der Geldpolitik setzen nach Thiele zu ihrer effektiven Durchführung dreierlei voraus: Erstens eine ausreichende Anzahl an Marktteilnehmern, um einen funktionierenden Markt herzustellen, auf dem die Bundesbank die Instru­ 176  Thiele,

Finanzaufsicht, S. 272 ff. auch BVerfGE 14, 197, 217 „Die Aufgabe der Bundesbank setzt (…) einen funktionierenden Bankenapparat voraus“; Höfling, NJW-Beilage 2010, S. 98. Zustimmend ebenfalls Häde, in: BK, GG, Art. 88 Rn. 147; Ohler, in: Nachhaltige Finanzstrukturen im Bundesstaat, S. 208, 219, der auf Banken als Übermittler der Geldpolitik der Zentralbank verweist; ferner Lastra, Legal Foundations of Internatio­ nal Monetary Stability, S. 302. 178  Generell zu Instrumenten der Geldpolitik siehe Herrmann, Währungshoheit, S.  48 f. 177  Ähnlich



B. Die Auslegung des Grundgesetzes167

mente einsetzen kann.179 Zweitens müsse zwischen den Marktakteuren ein funktionierender Geldmarkt bestehen, auf dem die Bundesbank die Einlagenund Kreditinstitute mit dem für ihre Aufgabenerfüllung notwendigen Kapital versorgt.180 Schließlich sei drittens ein funktionierender Interbankenmarkt erforderlich, auf dem der Kapitalfluss der Geschäftsbanken untereinander fließt, ohne das diese auf Geld der Zentralbanken zurückgreifen zu müs­ sen.181 Die drei Elemente seien zur Gewährleistung eines funktionierenden Bankenapparats notwendig.182 Der Staat habe diese Elemente zu gewährleis­ ten, da anderenfalls die nach Art. 88 Satz 1 GG zu errichtende Bundesbank funktionslos und damit sinnlos wäre.183 In der Verantwortung des Staates für die Funktionsfähigkeit der Bundesbank liege daher mittelbar die Verantwor­ tung des Staates für die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte.184 Aus der Verantwortung soll weiter zu folgern sein, dass der Staat im Kri­ senfall eingreifen kann, um die Erfüllung der Aufgaben der Bundesbank si­ cherzustellen. Die Aufgaben sollen allerdings auf den Geschäftsbankensektor begrenzt sein, weshalb es sich um eine „begrenzte Bereichsverantwortung“ handele.185 Nicht klar wird, ob der Staat handeln muss oder lediglich kann und ob aus dem aufgezeigten Zusammenhang eine besondere Stellung der Finanzmarktstabilität zu folgern ist. b) Bewertung Kurzgefasst baut die Argumentation darauf auf, dass die Bundesbank ihre verfassungsmäßig aufgetragene Aufgabe nur erfüllen kann, wenn ein funk­ tionsfähiger Finanzmarkt besteht. Die Argumentation mutet jedoch zugleich zirkulär an. Anders herum gewendet, ergibt das Argument ebenfalls Sinn, denn der Finanzmarkt kann nur funktionsfähig sein, wenn es eine steuernd eingreifende Zentralbank gibt. Indem durch das Grundgesetz der Auftrag geschaffen wurde, eine Bundes­ bank zu errichten, sollte ein funktionsfähiger Finanzmarkt geschaffen wer­ den. Der funktionsfähige Finanzmarkt muss jedoch nicht unbedingt bestehen, damit die Bundesbank ihre Aufgabe erfüllen kann, wie Thiele argumentiert. 179  Thiele, Finanzaufsicht, S. 273; ähnlich Höfling, Gutachten F zum 68. Deut­ schen Juristentag 2010, S. 18. 180  Thiele, Finanzaufsicht, S. 273 f. 181  Thiele, Finanzaufsicht, S. 273 f. 182  Thiele, Finanzaufsicht, S. 274. 183  Thiele, Finanzaufsicht, S. 274. 184  Thiele, Finanzaufsicht, S. 274 f.; a.  A. Klingenbrunn, Produktverbote zur Ge­ währleistung von Finanzmarktstabilität, S. 20 f. 185  Thiele, Finanzaufsicht, S. 275.

168

4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

Andersherum ließe sich argumentieren, dass die Bundesbank nach Art. 88 Satz 1 GG gerade geschaffen werden sollte, um einen funktionsfähigen Fi­ nanzmarkt herzustellen, also nicht die Finanzmarktstabilität Voraussetzung der Aufgabenerfüllung der Bundesbank ist, sondern die Aufgabenerfüllung der Bundesbank Voraussetzung für stabile Finanzmärkte. In einer solchen Argumentationskette geht also die Finanzmarktstabilität nicht der Bundes­ bank voraus, stattdessen die Bundesbank der Finanzmarktstabilität. Dies lässt sich dann vertreten, wenn man eine Zentralbank als für das Funktionieren der Finanzmärkte essentiell ansieht, was sich dadurch untermauern lässt, dass in Zeiten, in denen auf dem Finanzmarkt Probleme entstehen, in der Regel die Zentralbank aushilft. Mithin lässt sich der o. g. Schluss von der Aufgabe der Errichtung einer Zentralbank auf die Errichtung eines funktionsfähigen Finanzmarktes nicht ohne weiteres ziehen. Dies muss allerdings nicht gegen eine mittelbare Aus­ sage für eine staatliche Verantwortung für die Finanzmarktstabilität spre­ chen. Hätte der Verfassunggeber die Errichtung der Bundesbank vor Augen gehabt, um unter anderem einen geordneten Finanzmarkt zu schaffen, der seine volkswirtschaftliche Funktion erfüllen kann, lässt sich Art. 88 GG glei­ chermaßen ein Hinweis auf eine staatliche Verantwortung entnehmen. Dies lässt sich auch dadurch untermauern, dass der Verfassungsauftrag zur Ge­ währleistung einer funktionsfähigen Zentralbank ohne funktionsfähige Fi­ nanzmärkte sinnlos wäre. Im Endeffekt stellt sich die Abhängigkeit von Zentralbank und Finanzmarktstabilität als besondere Ausprägung der Abhän­ gigkeit von Staat und Finanzmärkten dar. Mit der Entscheidung zur Errich­ tung einer Zentralbank ist das Verhältnis im Besonderen ausgestaltet worden, woraus sich die Bedeutung der Finanzmarktstabilität ein weiteres Mal ver­ deutlichen lässt. Festzuhalten bleibt daher, dass stabile und funktionsfähige Finanzmärkte mit der Errichtung einer Bundesbank auf mehreren Wegen verbunden sind. Eine mittelbare Aussage des Art. 88 GG zur Stabilität der Finanzmärkte und staatlicher Gewährleistung derselben ist daher gegeben. 2. Die Bundesbank als „Hüterin der Währung“ Die Regelungswirkung des Art. 88 GG im Hinblick auf die Stabilität der Finanzmärkte ist hiermit noch nicht erschöpft. Bedeutende Schlüsse für die Untersuchung könnten sich aus der Verpflichtung zur Wahrung der Preis­ stabilität ergeben.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes169

Nach dem 1992 eingefügten186 Art. 88 Satz 2 GG können Aufgaben und Befugnisse der Bundesbank einer Europäischen Zentralbank übertragen wer­ den, die unabhängig und dem vorrangigen Ziel der Preisstabilität verpflichtet ist. Preisstabilität wird damit als wesentliches und vorrangiges Ziel definiert. Darüber hinaus wurden die verfassungsrechtlichen Grundlagen zur Schaffung der Europäischen Union als „Stabilitätsgemeinschaft“ errichtet. Aus der Ver­ pflichtung zur Wahrung der Preisstabilität könnten sich Weisungsgehalte auch in Richtung der Finanzmarktstabilität ergeben. Zu diesem Zweck ist zunächst der Begriff der Preisstabilität zu erörtern. Nach der quantitativen Definition des Europäischen Systems der Zentral­ banken liegt Preisstabilität vor, wenn der Anstieg des harmonisierten Ver­ braucherindex für das Euro-Währungsgebiet unter, aber nahe 2 % gegenüber dem Vorjahr verbleibt.187 Preisstabilität hat ein binnenwirtschaftliches und ein außenwirtschaftliches Element. Die innere Dimension beschreibt die Si­ cherung der Kaufkraft des Geldes und damit die Vermeidung einer übermä­ ßigen Inflation oder einer Deflation. Die äußere Dimension besteht darin, den Außenwert der Währung stabil zu halten. Der Außenwert der Währung entsteht aus dem Verhältnis einer Währung zu Währungen anderer Staaten.188 Die Aufgabe der Wahrung von Währungsstabilität liegt bei der Bundesregie­ rung, welche die wesentlichen Kompetenzen zur Wahrnehmung der Aufgabe innehat189, so dass die Sicherung der Geldwertstabilität als Hauptaufgabe und Verfassungspflicht der Bundesbank gesehen werden kann190, die die Bundesbank als Teil des Europäischen Systems der Zentralbanken wahr­ nimmt191. Die Verpflichtung auf Preisstabilität der Bundesbank hat daher vor allem einen inflations- und deflationsfreien Zustand im Blick. Dieser Zustand wird als Preisniveaustabilität bezeichnet. Eine Inflation beschreibt einen Zu­ stand, in dem das gesamtwirtschaftliche Preisniveau steigt, und eine Defla­ tion einen Zustand, in dem dasselbe sinkt.192 186  Verfassungsänderndes

Gesetz vom 21.12.1992, BGBl. 1992 I, 2086. Die Geldpolitik der EZB, S. 69; ausführlich zum Begriff der Preisstabili­ tät siehe Endler, Europäische Zentralbank und Preisstabilität, S. 63 ff.; Palm, Preis­ stabilität in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, S. 26 ff. 188  Hierzu Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 88 Rn. 43; Glatzl, Bankenaufsicht und Geldpolitik im Konflikt, S. 26 f. 189  Z.  B. die Entscheidung über das Wechselkurssystem und die Regelung des Geld- und Zahlungsverkehrs mit dem Ausland. 190  BVerfGE 89, 155, 201  f.: „Verfassungspflicht“; Häde, in: BK, GG, Art. 88 Rn. 117; Palm, Preisstabilität in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, S. 34. 191  Vgl. BVerfGE 97, 350, 372; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 88 Rn. 7. 192  Zu verschiedenen Definitionsansätzen der Begriffe Inflation und Deflation in der Wirtschaftswissenschaft siehe Issing, Geldtheorie, S. 203 ff. 187  EZB,

170

4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

Eine hohe Inflation ist ein Risikofaktor für die Stabilität der Finanzmärkte. Eine Inflation benachteiligt den Kreditgeber, der durch die steigenden Preise nicht den gleichen Geldwert zurückerhält, den er als Kredit vergeben hatte, was auch durch die Zinsen nicht ausgeglichen wird. Deflation ist in gleichem Maße gefährlich für Finanzmärkte wie eine zu hohe Inflation. So verursach­ ten deflationäre Entwicklungen mehrerer Währungen Anfang der 1930er Jahre im Zuge der damaligen Finanzkrise Bank Runs auf verschiedene Insti­ tute.193 Während der Weltwirtschaftskrise in diesen Jahren verminderte die Federal Reserve die Geldmenge infolge ­einer Deflation um etwa 30 %.194 Während der Deflation sind zwar nicht die Banken als Kreditgeber betroffen, allerdings die Kreditnehmer, deren Geld an Wert verliert, während die ­valutierte und damit auch zurückzuzahlende Kreditsumme dieselbe bleibt. Die zunehmende Verschuldung der Kreditnehmer führt dazu, dass diese die ­Darlehen nicht zurückzahlen können und die Kreditgeber selbige abschreiben müssen. Im Endergebnis erleiden auch sie dadurch finanzielle Schäden. Während der letzten Krise konnte eine Deflation vermieden werden, obwohl die Inflationsrate im Januar 2015 kurzzeitig in den negativen Bereich rutsch­te. Die Bundesbank nimmt zur Erfüllung des Zieles der Preisstabilität eine herausgehobene Stellung ein. Sie ist verfassungsmäßig Währungsbank, hat in Ausfüllung dieser Rolle die Volkswirtschaft mit dem notwendigen Kapital zu versorgen und damit vorrangig den Geldwert zu sichern.195 Diese Verpflich­ tung hat objektiv-rechtlichen Charakter. In dieser Rolle ist die Bundesbank die „Hüterin der Währung“196. Zur Erfüllung dieser Aufgabe hat sie eine Reihe von geld- und währungspolitischen Befugnissen inne.197 Art. 88 Satz 1 GG soll darüber hinaus den objektiv-rechtlichen Verfassungsauftrag an den Bund beinhalten, die Währung und damit den Geldwert zu sichern.198 Dass die Währungsstabilität vorrangiges Ziel der Bundesbank ist, ergibt sich schließlich im Zusammenspiel mit dem 1992 eingefügten Art. 88 Satz 2 GG.

193  Bernanke/James, in: Hubbard, Financial Markets and Financial Crises, S. 33, 34, 44 ff., die den Zusammenhang zwischen Deflation und Finanzkrisen darstellen. 194  Bernanke/James, in: Hubbard, Financial Markets and Financial Crises, S. 34. 195  BVerwGE 41, 334, 349; Häde, in: BK, GG, Art. 88 Rn. 115; Hahn/Häde, Wäh­ rungsrecht, § 12 Rn. 13; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 88 Rn. 43; Kämmerer, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 88 Rn. 7; Stern, Staatsrecht II, S. 475 f.; zurückhalten­ der Herrmann, Währungshoheit, S.  183 ff. 196  Stern, Staatsrecht II, S. 478. 197  Hahn/Häde, Währungsrecht, § 12 Rn. 13. 198  Hahn/Häde, Währungsrecht, § 9 Rn. 5; Häde, WM 2008, S. 1717, 1717.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes171

3. Preisstabilität als Staatsziel Die Sicherung der Preisstabilität soll durch die Einfügung des Art. 88 Satz 2 GG auf die Stufe eines Staatszieles gewachsen sein.199 Dies ist wegen der hohen Bedeutung, die das Grundgesetz der Preisstabilität zubilligt, ge­ rechtfertigt. Preisstabilität ist, wie zu zeigen sein wird, für mehrere Bereiche des staatlichen Lebens von herausragender Bedeutung. Sie wird abgesichert durch eine unabhängige Zentralbank. Preisstabilität ist ferner Voraussetzung der Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheiten.200 Preisstabilität wird nicht nur im nachträglich eingefügten Art. 88 Satz 2 GG besonders hervorgehoben, sondern ist auch seit Einführung des Art. 109 Abs. 2 GG mit der Verpflichtung auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht, als Teil desselben (vgl. § 1 Satz 2 Var. 1 StabG), besonders erwähnt. Hinzu kommt die Bedeutung der Preisstabilität für viele Aspekte des öffentlichen und priva­ ten Lebens. Materiell-rechtlich bedeutet das Staatsziel der Preisstabilität eine verfassungsrechtliche Pflicht zur stabilitätsorientierten Politik201, was durch den Bezug des Art. 88 Satz 2 GG zur Errichtung der Wirtschafts- und Wäh­ rungsunion als „Stabilitätsgemeinschaft“ bekräftigt wird. Zur Erfüllung des Staatszieles der Preisstabilität steht der Bundesbank nach dem Beitritt in die dritte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion nur noch das Instrument der Offenmarktgeschäfte zur Verfügung; sie wird dabei als Ausführungsorgan der Europäischen Zentralbank tätig202, weshalb auf die Bedeutung der Offenmarktgeschäfte für die Stabilität der Finanzmärkte ins­ besondere im Euro-Raum in dem Abschnitt über die Europäische Zentralbank näher eingegangen wird. Die Versorgung mit Kapital erfolgt über öffentliche Kreditinstitute und Marktteilnehmer, die zum Geschäftskreis der Bundesbank und des Europäischen Systems der Zentralbanken gehören, nicht dagegen durch Vergabe von Krediten an private Marktakteure.203 Die Bundesbank ist daher in einer besonderen Art und Weise institutionell mit dem Finanzsystem verbunden. 199  Badura, Staatsrecht, S. 418 f.; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 88 Rn. 34; Stern, Staatsrecht II, S. 488; von einer Staatspflicht zur Stabilitätspolitik spricht K. Schmidt, FS der Juristischen Studiengesellschaft zu Berlin, S. 665 ff., 682. 200  R. Schmidt, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. XI, § 252 Rn. 35. 201  Hahn/Häde, Währungsrecht, §  9 Rn. 5, 13; Häde, in: BK, GG, Art. 88 Rn.  115 ff. K. Schmidt, FS der Juristischen Studiengesellschaft zu Berlin, S. 665, 679 ff.; ihm folgen K. Vogel/Waldhoff, in: BK, GG, Vorbem. z. Art. 104a-115, Rn. 308. 202  Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 88 Rn. 47 ff.; siehe zum Kompe­ tenztransfer an die Europäische Zentralbank durch Eintritt in die Wirtschafts- und Wäh­ rungsunion Blanke/Pilz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Art. 88 Rn. 42 ff. 203  Ohler, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 88 Rn. 9.

172

4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

a) Preisstabilität und Finanzmarktstabilität Preisstabilität ist in hohem Maße mit Finanzmarktstabilität verbunden. Preisstabilität wird durch die Zentralbank mithilfe geldpolitischer Maßnah­ men erreicht, wie z. B. durch die Festlegung von Leitzinssätzen. Es ist mitt­ lerweile anerkannt, dass Preisstabilität auch finanzielle Stabilität erfordert.204 Dies kommt in mehreren Faktoren zum Ausdruck. Eine stabile Währung ist notwendig, um eine effiziente Güterallokation durch die Märkte sicherzustellen. Ohne Stabilität des Geldes wäre der geld­ rechtliche Nominalismus205 obsolet und infolgedessen der Privatrechtsver­ kehr in der bekannten Form nicht möglich.206 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist das Nominalwertprinzip „ein tragendes Ord­ nungsprinzip der geltenden Währungsordnung und Wirtschaftspolitik“207. Wenngleich auch die Grundlage des schuldrechtlichen Nominalismus im Detail umstritten ist, kann die grundlegende Geltung des Prinzips daher nicht bestritten werden. Durch eine hohe Inflationsrate sinkt die Effizienz der Fi­ nanzmärkte, insbesondere größere Inflationssprünge beeinträchtigen die Fi­ nanzmarktstabilität, indem die Forderungen der Geldgeber entwertet werden, was hohe Abschreibungen in den Bilanzen der Kapitalgeber zur Folge hat.208 Instabile Preise wirken sich besonders im Rahmen von Dauerschuldverhält­ nissen und Termingeschäften negativ aus. Bei steigenden Preisen muss der Schuldner größere Vermögenswerte aufwenden, bei sinkenden Preisen kann dagegen der Gläubiger mit den zur Tilgung der Schuld erhaltenen Vermö­ genswerten weniger erwerben.209

204  Danzmann, Das Verhältnis von Geldpolitik, Fiskalpolitik und Finanzstabilitäts­ politik, S.  167, 179 ff. m. w. N.; IWF, Key Aspects of Macroprudential Policy, S. 9 ff.; Mülbert, in: Moloney/Ferran/Payne, The Oxford Handbook of Financial Regulation, S. 364, 382. Dass dies kein rein theoretischer Zusammenhang ist, zeigt z. B. die Pfundkrise in Großbritannien, als der Investor George Soros gegen das britische Pfund wettete und der Kurs der Währung in der Folge gegenüber der D-Mark um 15 % und gegenüber dem US-Dollar sogar um 25 % fiel, siehe dazu: https://de. wikipedia.org/wiki/Pfundkrise (zuletzt abgerufen am 30.04.2020). 205  Vertiefend zum Nominalwertprinzip Hahn/Häde, Währungsrecht, § 5 Rn. 1 ff.; Herrmann, Währungshoheit, S.  334 ff. 206  K. Schmidt, FS der Juristischen Studiengesellschaft zu Berlin, S. 665, 677 f. 207  BVerfGE 50, 57, 92. 208  Vgl. Danzmann, Das Verhältnis von Geldpolitik, Fiskalpolitik und Finanzstabi­ litätspolitik, S.  180 m. w. N.; Hahn/Häde, Währungsrecht, § 15 Rn. 13; Zeitler, Ge­ dächtnisschrift für D. Blumenwitz, S. 981, 993 ff. 209  Hahn/Häde, Währungsrecht, § 5 Rn. 3; Häde, WM 2008, S. 1717; ausführliche Analyse der Folgen einer Inflation bei Endler, Europäische Zentralbank und Preis­ stabilität, S.  74 ff.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes173

In gleichem Maße ist eine Deflation gefährlich, insbesondere für Banken als Kapitalgeber auf dem Finanzmarkt. Kreditnehmer gehen Kreditverträge in der Regel in der Erwartung steigender Preise ein.210 Wenn diese infolge einer Deflation ausbleiben, können die Kredite nicht mehr zurückgezahlt werden, wodurch sich die Bankbilanzen infolge von Abschreibungen negativ entwickeln.211 Wie stark steigende Ausfallraten von Hypothekenanleihen das gesamte Bankensystem belasten können, hat die Immobilienkrise in den USA 2007 einprägsam gezeigt, deren Folge der Zusammenbruch von Lehman Brothers und die folgende Finanz- und Wirtschaftskrise war. Diese Gefahren bestehen nicht nur auf dem Häusermarkt, sondern auch auf dem klassischen Kreditmarkt und insbesondere dem Interbankenmarkt, der für die Stabilität des gesamten Finanzsystems von überragender Bedeutung ist. Zudem ist ein stabiler Geldwert elementar für die Wertaufbewahrungsfunktion des Geldes. An dieser Funktion hat der einzelne Bürger ein überragendes Interesse212, was wiederum an die Finanzmarktstabilität als Gemeinwohlbelang anknüpft. In umgekehrter Richtung besteht ebenfalls eine Abhängigkeit der Preissta­ bilität von der Finanzmarktstabilität. Die Zentralbank ist zu ihrer Aufgaben­ erfüllung auf einen funktionierenden Finanzmarkt angewiesen, der ihre geldpolitischen Maßnahmen weiterleitet, damit die angestrebten Effekte er­ reicht werden können.213 Die daraus folgende Abhängigkeit zwischen Bun­ desbank und Finanzmärkten wurde bereits erläutert. Auch erwähnt wurde, dass nach Meinung mehrerer Sachverständiger die expansive Geldpolitik der US-Notenbank FED für die Entstehung der Finanzkrise ab 2008 mitursäch­ lich war. Der Zusammenhang lässt sich also anhand von tatsächlichen Er­ eignissen belegen. Die Bedeutung der Geldpolitik ist ein nicht zu unterschät­ zender Faktor zur Herstellung und Bewahrung von Finanzmarktstabilität. Finanz­institute reagieren mit ihrem Kreditvergabeverhalten auf die Maßnah­ men der Zentralbank. Selbiges gilt für private Anleger, welche Kunden der Banken sind. Preisstabilität ist damit im Ergebnis mit Finanzmarktstabilität so untrenn­ bar verbunden, dass sich aus einer Verpflichtung auf die Wahrung der Preis­ stabilität zugleich eine Verpflichtung zur Gewährleistung von Finanzmarkt­ stabilität ableiten lässt.214 Die Sicherung der Preisstabilität ist wegen ihrer 210  Danzmann, Das Verhältnis von Geldpolitik, Fiskalpolitik und Finanzstabilitäts­ politik, S.  181 m. w. N. 211  Danzmann, Das Verhältnis von Geldpolitik, Fiskalpolitik und Finanzstabilitäts­ politik, S.  181 m. w. N. 212  Herrmann, Währungshoheit, S.  291 ff. 213  Danzmann, Das Verhältnis von Geldpolitik, Fiskalpolitik und Finanzstabilitäts­ politik, S.  182 m. w. N.; EZB, Die Geldpolitik der EZB, S. 44. 214  So Ohler, Bankenaufsicht, § 3 Rn. 40.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

hohen Bedeutung ein Staatsziel. Sie dient der Erhaltung der Kaufkraft und ist damit ein wichtiger Faktor für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung sowie das Wohl von Verbrauchern und Sparern.215 Das Bundesverfassungsgericht sieht in seinem Maastricht-Urteil sogar einen Zusammenhang zwischen dem Geldwert und der individuellen Freiheit der Bürger.216 Damit zusammenhän­ gend sorgt Preisstabilität für eine höhere Effizienz des Wirtschaftens und führt zu mehr sozialer Gerechtigkeit, da Inflation oder Deflation zu einer nicht an Gerechtigkeitsmaßstäben orientierten Umverteilung von Vermögens­ werten führt.217 Hierdurch wird die Bedeutung, die das Grundgesetz diesem Ziel beimisst, deutlich. Andererseits gehen auch Finanzmarktstabilität und Preisstabilität nicht immer Hand in Hand.218 Stellen Staaten zur Bewältigung einer Finanzkrise umfangreiche Kapitalmittel zur Rettung von Finanzinstituten zur Verfügung, kann dies die Geldmenge deutlich erhöhen und damit die Preise destabilisie­ ren. Maßnahmen zur Förderung der Finanzmarktstabilität wirken sich dann negativ auf die Preisstabilität aus. Wie gezeigt, hängt die Entwicklung der Preisstabilität mit der Finanz­ marktstabilität zusammen. Sind die Finanzmärkte stabil und erfüllen ihre volkswirtschaftliche Funktion, wirkt sich dies in hohem Maße positiv auf die Preisstabilität aus. Die Erfüllung des Staatszieles Preisstabilität durch den Staat ist daher daran gebunden, dass dieser auch Finanzmarktstabilität ge­ währleistet. Der Norm des Art. 88 GG lassen sich daher wesentliche Wei­ sungsgehalte auch in Richtung einer staatlichen Verantwortung hinsichtlich der Gewährleistung von Finanzmarktstabilität entnehmen. b) Verpflichtung auf Finanzmarktstabilität als Bedeutungswandel des Art. 88 GG? Es macht einen Unterschied, ob Finanzmarktstabilität und Preisstabilität sich schon begrifflich nicht trennen lassen, so dass sich die Verpflichtung auf die Preisstabilität gleichzeitig auf Finanzmarktstabilität bezieht, oder ob man behauptet219, dass Finanzmarktstabilität gegenüber der Preisstabilität eine 215  Hänsch, Gesamtwirtschaftliche Stabilität, S. 172; Hahn/Häde, Währungsrecht, §  6 Rn.  44 m. w. N.; Zeitler, Gedächtnisschrift für D. Blumenwitz, S. 981, 994. 216  BVerfGE 89, 155, 207. 217  Endler, Europäische Zentralbank und Preisstabilität, S. 74; Zeitler, Gedächtnis­ schrift für D. Blumenwitz, S. 981, 994 ff., der auch empirische Belege anführt. 218  Hierauf weist schon Schorkopf, VVDStRL 71 (2011), S. 183, 196 hin. 219  Ohler, Bankenaufsicht, § 3 Rn. 40 m. w. N.; vgl. auch Lenaerts/Hartmann, JZ 2017, S. 321, 324.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes175

dominierende Rolle einnimmt220. Die zweite Variante lässt sich damit be­ gründen, dass früher grundsätzlich davon ausgegangen wurde, dass Finanz­ stabilität durch Preisstabilität erreicht werde, dieses Verständnis sich jedoch umgekehrt hat. Münzt man die erste Ansicht auf die Vorschriften des Grundgesetzes um, handelt es sich um eine bloße Auslegung der Verpflichtung, die zwar selbige erweitert, aber nur den Kern der Verpflichtung auf Preisstabilität offenlegt. Im zweiten Fall wird der Norm dagegen eine erweiterte Bedeutung, als sich bei reinem Textverständnis erschließt, entnommen. Begründen ließe sich dies mit gewandelten Verhältnissen, insbesondere durch die Erfahrungen der Fi­ nanzkrise sowie der folgenden Wirtschafts-, Euro- und Staatsschuldenkrisen. Diese haben die überragende Bedeutung stabiler Finanzmärkte für die Her­ stellung stabiler Preise erst aufgezeigt. Dazu kommt, dass Preisstabilität, ge­ rade nach den Krisenerfahrungen, nicht durch Geldpolitik alleine gewährleis­ tet werden kann, zusätzlich ist verantwortungsvolle und nachhaltige Finanz­ politik erforderlich.221 Mithin läge ein Bedeutungswandel vor, der sich zur Rechtfertigung auf die geänderten tatsächlichen Verhältnisse stützt. Verfas­ sungsrechtlich problematisch ist dies nach den methodischen Vorüberlegun­ gen in diesem Fall aber nicht. Die genannten Krisen haben den Zusammen­ hang zwischen beiden besprochenen Begriffen in beeindruckender Weise aufgezeigt. Dass die EZB wegen der Eurokrise eine so langanhaltende Nied­ rigzinsphase ins Leben gerufen hat, um eine übermäßige Inflation in der Eurozone zu verhindern, zeigt dies eindeutig. Die niedrigen Zinsen treffen den einzelnen Bürger unmittelbar. Betroffen ist beispielsweise die Altersvor­ sorge, die wesentlich auf von den Finanzmärkten abhängigen Finanzproduk­ ten wie Lebensversicherungen, Spareinlagen und Staatsanleihen beruht. Dies rechtfertigt die Annahme eines Bedeutungswandels der Verpflichtung auf die Preisstabilität, zumal das ursprüngliche Staatsziel der Preisstabilität nicht durch ein Ziel stabiler Finanzmärkte ersetzt, sondern stattdessen erweitert wird. Treffend ist daher eine Bezeichnung als Bedeutungserweiterung. Art. 88 GG ist darüber hinaus eine Norm, deren Regelungsbereich durch die Krisen wesentlich beeinflusst wurde. Dies rechtfertigt ebenfalls die An­ nahme dieser erweiterten Bedeutung. In der Diskussion stand auch schon eine Erweiterung der Preisstabilität auf Währungsstabilität222, ohne dass im Besonderen über die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen einer solchen Erweiterung diskutiert wurde. Die Erweiterung der Preisstabilität auf Finanz­ marktstabilität würde keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnen. Ein 220  Tuori/Tuori, The Eurozone Crisis, S. 183, allerdings bezogen auf das europäi­ schen Recht. 221  Siekmann in: ders. (Hrsg.), EWU, Art. 119 AEUV Rn. 36. 222  Herrmann, EuZW 2012, S. 805, 811.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

echter Verfassungswandel würde zudem voraussetzen, dass die Preisstabilität, wenn nicht gänzlich, zumindest deutlich in den Hintergrund tritt. Dies wird wie geschildert zwar vereinzelt vertreten, dies sollte aber – auch im Interesse der Finanzmärkte – nicht geschehen. Zwar gehen Maßnahmen zugunsten ei­ nes Ziels in bestimmten Konstellationen zu Lasten des anderen, aber beide zeigen grundsätzlich in dieselbe Richtung. Dass mehrere Zielbestimmungen einer Vorschrift nicht immer gleichzeitig durch eine einzige Maßnahme ver­ wirklicht werden können, zeigt sich bei den Zielbestimmungen des Art. 109 Abs. 2 GG, auf die an anderer Stelle noch eingegangen wird. Vorzugswürdig ist es daher, die Preisstabilität nicht gänzlich hinter den Finanzmärkten zu­ rücktreten zu lassen. 4. Zwischenergebnis Art. 88 GG lässt sich in zweifacher Hinsicht eine Aussage zur Stabilität der Finanzmärkte entnehmen.223 Zum einen ist die Bundesbank zur Erfüllung ihrer Aufgaben auf funktionierende und damit stabile Finanzmärkte angewie­ sen. Zum anderen enthält die objektiv-rechtliche Verpflichtung auf die Wah­ rung der Preisstabilität gleichermaßen die Förderung der Finanzmarktstabili­ tät. Wenn den Staat nach Art. 88 GG eine Verantwortung für das Geldwesen trifft, lässt sich diese ergänzend auch zu einer Verantwortung für die Finanz­ marktstabilität erweitern. Wenn man dem nicht folgen sollte, lässt sich den­ noch argumentieren, dass durch eine Erweiterung des Staatszieles der Preis­ stabilität ein starkes Argument dafür vorliegt, dass die Herstellung stabiler Finanzmärkte in der Verantwortung des Staates liegt. Das Grundgesetz enthält neben Art. 88 GG noch weitere Regelungskom­ plexe, die Berührungspunkte mit Finanzmärkten und -krisen aufweisen, so dass eine allein auf diese Vorschrift gestützte Verantwortung nicht vorliegt und auch der verfassungsrechtliche Rang der Finanzmarktstabilität nicht le­ diglich aus Art. 88 GG folgt.

VI. Die Finanz- und Haushaltsverfassung des Grundgesetzes Die Artt. 104a–115 GG enthalten die Regelungen des Grundgesetzes zur Finanz- und Haushaltsverfassung und damit wesentliche Aussagen zum fis­ kalischen Verhalten des Staates. Anders als früher teilweise vertreten, ist die Finanzverfassung eine Regelungsmaterie mit demselben Stellenwert wie an­

223  A. A. Klingenbrunn, Produktverbote zur Gewährleistung von Finanzmarktstabi­ lität, S.  20 f.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes177

dere Regelungen des Grundgesetzes.224 Auch aus ihr lassen sich Schlüsse auf eine staatliche Verantwortung ziehen, wenn es Normen gibt, die An­ haltspunkte für eine solche enthalten. Die Haushaltsverfassung enthält auch Staatszielbestimmungen wie Art. 109 Abs. 2 Hs. 2 GG mit der Verpflich­ tung des staatlichen Handelns auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht, worauf in der Folge näher einzugehen ist und die einen weiteren Anhalts­ punkt für das Verhältnis des Grundgesetzes zur Finanzmarktstabilität geben könnte. Relevant für die Finanzmarktstabilität sind weiterhin die Regelungen zum Ausgabenverhalten sowie zur Kreditaufnahme des Staates, da sie Direktiven dafür enthalten, wie der Staat mit den Haushaltsmitteln umzugehen hat. Im nächsten Abschnitt wird daher zunächst untersucht, ob sich aus der Verpflichtung auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht Folgerungen für die Finanzmarktstabilität entnehmen lassen. Darauf aufbauend sind die Rege­ lungen zur Begrenzung der Staatsverschuldung in den Blick zu nehmen. Diese wurden zeitlich kurz nach dem Ausbruch der Euro- und Staatsschul­ denkrise grundlegend reformiert und könnten daher, gerade wegen dieser zeitlichen Nähe, zugleich Aussagen in Bezug auf die Beziehung der staat­ lichen Finanzen zur Finanzmarktstabilität enthalten. An dieser Stelle wird bedeutend, inwiefern fiskalische Stabilität mit der Stabilität der Finanzmärkte zusammenhängt und inwiefern dies Aussagen zu einer staatlichen Verantwor­ tung erlaubt, deren Begründung über den oben erläuterten Zusammenhang zwischen Staat und Finanzmärkten hinausgeht. 1. Art. 109 Abs. 2 GG Als anerkanntes, verbindliches und aus dem Sozialstaatsprinzip folgendes Staatsziel ist im Grundgesetz – in Art. 109 Abs. 2 Hs. 2 GG – die Pflicht von Bund und Ländern normiert, bei ihrer Haushaltswirtschaft die Haushaltsdis­ ziplin zu wahren und den Erfordernissen des „gesamtwirtschaftlichen Gleich­ gewichts“ Rechnung zu tragen.225 Der unbestimmte Rechtsbegriff des „ge­ samtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ ist der Wirtschaftswissenschaft ent­

224  BVerfGE

72, 330, 388. FS H. P. Ipsen, S. 367, 377; Heintzen, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. V, § 120 Rn. 21; Heun, in: Dreier, GG, Art. 109 Rn. 23.; Kloep­ fer, Finanzverfassungsrecht, § 8 Rn. 118; Kube, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 109 Rn. 86; Schenke, in: Sodan (Hrsg.), GG, Art. 109 Rn. 5; Waldhoff, in: Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. V, § 116 Rn. 2; siehe auch Bull, Staatsauf­ gaben, S. 150 f., der in Art. 109 GG die Einführung einer Staatsaufgabe zum Betrei­ ben einer gleichgewichtsorientierten Wirtschaftspolitik sieht. 225  Badura,

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

nommen226, aber nach juristischer Methode auszulegen.227 Die Vorschrift wurde 1967 auf ihren jetzigen Wortlaut gebracht. Sie hat seitdem eine klar ökonomisierte staatliche Finanzwirtschaft vor Augen, die nicht nur die Funk­ tion hat, den Bedarf des Staates an Geldmitteln zu decken, sondern auch antizyklisch als konjunktursteuerndes Mittel verwendet werden kann und die zugleich eine Verantwortung für die Sicherung der wirtschaftlichen Grund­ lagen der Gesellschaft und die wirtschaftliche Stabilität trifft.228 Der Staat greift zur Zweckerfüllung steuernd und gestaltend auf die Entwicklung der Wirtschaft ein, wobei er sich globalsteuernder Instrumente bedient. Globale Wirtschaftssteuerung bedeutet, nicht nur unmittelbar auf mikroökonomische Faktoren, sondern auch auf makroökonomische Faktoren, welche die volks­ wirtschaftlichen Gesamtgrößen beeinflussen, einzuwirken.229 Die Norm ent­ hält zudem das Staatsziel materiell ausgeglichener Haushalte.230 Im Abschnitt über den Staat und die Finanzmärkte wurde bereits der Ein­ fluss der Finanzmärkte als „Geldgeber“ für den Staat und dessen Haushalt angesprochen (siehe S. 95 ff.). Indem Art. 109 Abs. 2 GG mit dem Ziel des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts der staatlichen Finanzwirtschaft eine Richtung vorgibt, könnte die Norm möglicherweise darüber hinaus gehende Aussagen zur Bewertung der Finanzmarktstabilität enthalten. Hierzu ist zu­ nächst zu klären, was unter dem Begriff des „gesamtwirtschaftlichen Gleich­ gewichts“ zu verstehen ist. In der Folge kann der Einfluss von Finanzmarkt­ stabilität auf das Gleichgewicht untersucht werden, um zu deuten, ob beide Begriffe derart miteinander verknüpft sind, dass die Herstellung von Finanz­ marktstabilität als wesentliche staatliche Pflicht anzusehen ist. a) Das „magische Viereck“ Zunächst muss die Bedeutung des Begriffs des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ in Art. 109 Abs. 2 Hs. 2 GG geklärt werden und wie, d. h. 226  Heun, in: Dreier, GG, Art. 109 Rn. 27; E. Reimer, in: BeckOK, GG, Art. 109 Rn. 33. 227  G. Kirchhof, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 109 Rn. 45; Kube, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 109 Rn. 98; Tappe/Wernsmann, Öffentliches Finanzrecht, Rn.  780; a. A. Thiele, Finanzaufsicht, S. 291 ff.; vermittelnd K. Vogel, Finanzverfas­ sung und politisches Ermessen, S. 30 f. 228  Hänsch, Gesamtwirtschaftliche Stabilität, S. 139; Heintzen, Das neue deutsche Staatsschuldenrecht in der Bewährungsprobe, S. 8 f.; Kloepfer, Finanzverfassungs­ recht, § 8 Rn. 94; Stern, Grundfragen der globalen Wirtschaftssteuerung, S. 6 f. 229  Stern, Staatsrecht I, S. 904 m. w. N. 230  Vgl. BVerfGE 79, 311, 335, 338 f.; Heintzen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 109 Rn. 17; R. Schmidt, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. V, § 117 Rn. 21.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes179

durch welche Maßnahmen, der Staat den Zustand des Gleichgewichts errei­ chen soll. Nach allgemeiner Auffassung müssen die Faktoren Preisstabilität, Vollbe­ schäftigung, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und ein steigendes Wirt­ schaftswachstum, die als verfassungsgemäße Konkretisierung des Art. 109 Abs. 2 GG durch § 1 StabG einfachrechtlich normiert sind, in einen Aus­ gleich gebracht werden.231 Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht setzt sich damit aus vier Einzelzielen zusammen. Die Ziele sind zwar gleichran­ gig232, stehen aber derart in einem Spannungsverhältnis, dass sie nicht alle gleichzeitig verwirklicht werden können.233 Die Norm stellt eine objektiv-rechtliche Verpflichtung für den Staat auf. Ein subjektives Recht des Einzelnen auf staatliche Maßnahmen zur Errei­ chung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ergibt sich nicht, was den Staatszielcharakter der Verpflichtung unterstreicht. Durch die enge Verknüpfung von Staat und Finanzmärkten haben Finanz­ krisen Auswirkungen auf alle vier Teilziele.234 Die Auswirkungen von Fi­ nanzkrisen können verheerende Folgen für die genannten Bereiche auslösen, was sich anhand vergangener Finanzmarktkrisen nachvollziehen lässt. Ent­ scheidend ist weiterhin, dass stabile Finanzmärkte auf der anderen Seite po­ sitive Auswirkungen auf alle vier Teilziele haben und sich damit insgesamt positiv auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung auswirken. Aus dieser Verknüpfung ergibt sich der Zusammenhang des Normbereiches von Art. 109 Abs. 2 GG mit der Stabilität der Finanzmärkte. Andererseits ließe sich wohl auch argumentieren, dass die Finanzmarktstabilität den vier Teilzielen des Art. 109 Abs. 2 GG einfach untergeordnet und damit dem etablierten Staats­ ziel der Verfolgung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts bereits inhä­ rent sei, aber keine eigene, selbstständige Verantwortung für Stabilität auf

231  Für eine verfassungsmäßige Ausgestaltung des Begriffes des gesamtwirtschaft­ lichen Gleichgewichts durch das magische Viereck BVerfGE 79, 311, 338 f.; Häde, JZ 1997, S. 269, 273; Heintzen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 109 Rn. 21; Isensee, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IV, § 73 Rn. 39; Tappe/Wernsmann, Öffentliches Finanzrecht Rn. 431 f.; R. Schmidt, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IV, § 92 Rn. 46 f.; speziell zum Wirtschaftswachstum Badura, FS H. P. Ipsen, S. 367, 369; ausführlich zur Historie des Begriffs des gesamtwirtschaft­ lichen Gleichgewichts Hänsch, Gesamtwirtschaftliche Stabilität, S. 144 ff.; Rodi, in: BK, GG, Art. 109 Rn. 188 ff. und zu den vier Teilzielen Rn. 215 ff. 232  BVerfGE 79, 311, 329. 233  Siehe E. Reimer, in: BeckOK, GG, Art. 109 Rn. 37; Papier, AöR 98 (1973), 528, 550; K. Vogel, Finanzverfassung und politisches Ermessen, S. 28 jeweils m. w. N. 234  So auch Ohler, WiVerw 2010, 47; insbesondere zum Einfluss von Finanz­ marktstabilität auf das Wirtschaftswachstum Arner, Financial Stability, S. 35 ff.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

den Finanzmärkten besteht.235 Wegen der Auswirkungen der Entwicklungen auf den Finanzmärkten auf alle vier Bereiche erscheint es aber gerechtfertigt, die Stabilität nicht lediglich als Unterpunkt der vier Teilziele zu verstehen, sondern ihr einen herausgehobenen, eigenen Wert zuzusprechen.236 Die be­ sondere Bedeutung der Finanzmarktstabilität lässt sich dadurch belegen, dass alle Teilziele in erheblichem Maße von der Stabilität auf den Finanzmärkten abhängen. Von 2008 bis 2009 fiel die Exportrate um 34 %, der größte ökonomische Schock nach 1949.237 Dies war die Folge der Finanzkrise in den USA, weni­ ger der sich anbahnenden Eurokrise. Dies zeigt, dass gerade das außenwirt­ schaftliche Gleichgewicht von den Entwicklungen auf den Finanzmärkten abhängt. Durch den Zusammenbruch des Interbankenmarktes und die darauf­ folgende Kreditenge fehlte den Abnehmern die Liquidität, um der Bundes­ republik ihre Waren abzukaufen. Die Arbeitslosigkeit stieg in den USA und allen europäischen Staaten im Zuge der Finanzkrise an. In Griechenland stieg die Arbeitslosenquote im Oktober 2011 auf 19,7 % an, eine Steigerung um 11 Prozentpunkte seit 2008.238 Die Steigerung der Arbeitslosenzahl lässt sich auch direkt auf Ver­ werfungen auf den Finanzmärkten zurückführen. Problematisch sind wiede­ rum die ausbleibenden Investitionen, die verhindern, dass Unternehmen ihre Arbeitskräfte einsetzen können. Durch hohe Arbeitslosenzahlen steigen zu­ dem die Sozialausgaben, während die Steuereinnahmen sinken, was den Staatshaushalt in Schieflage bringt. Anders könnte dies zu bewerten sein, wenn man den Begriff des „gesamt­ wirtschaftlichen Gleichgewichts“ nicht durch die vier Ziele des § 1 StabG konkretisiert sieht. Die Gegenansicht239, die den Begriff des „gesamtwirt­ schaftlichen Gleichgewichts“ in Art. 109 Abs. 2 GG nicht durch die Teilziele des „magischen Vierecks“ ausgefüllt sehen will, sondern stattdessen eine ökonomische Betrachtung im Hinblick auf eine ausgeglichene Leistungs­ bilanz bevorzugt, überzeugt jedoch nicht. 235  So wohl Fratzscher, Stellungnahme zum währungspolitischen Mandat der EZB, S. 5, der Finanzstabilität als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Preisstabilität ansieht; ferner Selmayr, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäi­ sches Unionsrecht, Art. 282 AEUV Rn. 61, allerdings nur im Hinblick auf die Preis­ stabilität. 236  Anderer Ansicht ist Thiele, Finanzaufsicht, S. 299 ff., der allerdings Art. 109 Abs. 2 GG schon anders deutet, dazu sogleich. 237  Adam Tooze, Crashed, S. 159. 238  Adam Tooze, Crashed, S. 408. 239  Thiele, Finanzaufsicht, S. 291 ff.; für eine stärkere Orientierung an der ökono­ mischen Theorie auch Heun, in: Dreier, GG, Art. 109 Rn. 27 ff.; ders., Staatshaushalt und Staatsleitung, S. 121 ff.; Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 225 ff.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes181

Das Grundgesetz bekennt sich in Art. 109 Abs. 2 GG zu einer antizykli­ schen Fiskalpolitik nach dem Vorbild Keynes. Dieses Bekenntnis ist für die Auslegung der Norm zu beachten.240 Dabei ist zwar der Stand der wirt­ schaftswissenschaftlichen Forschung einzubeziehen, zugleich aber die ver­ fassungsrechtliche Bedeutung des Begriffes zu beachten.241 Daher ist der Begriff nach der juristischen Methode auszulegen und dabei die ökonomische Theorie einzubeziehen. Die Konzeption, das gesamtwirtschaftliche Gleichge­ wicht durch die Teilziele auszugestalten, geht auf die Orientierung an einer nach amerikanischem Vorbild ausgerichteten Wirtschaftspolitik zurück.242 Es überzeugt aber nicht, das „magische Viereck“ ganz durch einen neuen Gleichgewichtsbegriff zu ersetzen, der einen anderen Inhalt als die vier Teil­ ziele besitzt. Vorzugswürdig ist es, die hergebrachten Teilziele beizubehalten und gegebenenfalls um neue zu ergänzen. Anderenfalls wäre der Spielraum des Interpreten überschritten. Es ist nämlich nicht Sache des Interpreten, das Grundgesetz für Änderungen wirtschaftswissenschaftlicher Paradigmen zu öffnen. Die Reaktion auf Änderungen wissenschaftlicher Dogmen ist Auf­ gabe des verfassungsändernden Gesetzgebers243, und zwar lediglich unter Zuhilfenahme wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse. Das Bundesverfassungsgericht verlangt zwar, dass Art. 109 Abs. 2 GG „für die Aufnahme neuer, gesicherter Erkenntnisse der Wirtschaftswissen­ schaften als zuständiger Fachdisziplin“244 offen bleibt, allerdings ist die Ausrichtung an der Leistungsbilanz des Staates, die sich aus der Relation zwischen gesamtwirtschaftlicher Nachfrage und gesamtwirtschaftlichem An­ gebot245 zusammensetzt, unter Aufgabe der vier Teilziele, nicht ausreichend, um den Begriff des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ hinreichend auszufüllen. Zudem verlangt das Bundesverfassungsgericht „gesicherte“ Er­ kenntnisse. Fraglich bleibt für den Juristen, ob eine Ausrichtung an der Leis­ tungsbilanz in der Wirtschaftswissenschaft eine wirklich gesicherte Erkennt­ nis ist. Auch in dieser verbleibt eine Mehrzahl an Theorien über den Begriff des Gleichgewichts.246 Die Interpretationshoheit soll gerade nicht alleine der ökonomischen Theorie überantwortet werden, da lediglich die „Mittel und

240  BVerfGE

79, 311, 331. in: BK, GG, Art. 109 Rn. 184. 242  Rodi, in: BK, GG; Art. 109 Rn. 195. 243  So BVerfGE 119, 96, 139. 244  BVerfGE 79, 311, 338; Hummel, Verfassungsrechtsfragen der Verwendung staatlicher Einnahmen, S. 250. 245  Thiele, Finanzaufsicht, S. 292 m. w. N. 246  So Heun, in: Dreier, GG, Art. 109 Rn. 25; Rodi, in: BK, GG, Art. 109, Rn.  191 ff., 202 ff. 241  Rodi,

182

4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

Wege“, auf denen die Zielvorgabe erreicht werden kann, nicht aber die Ziele als solche, offen sind.247 Der Gleichgewichtsbegriff hat seit seiner Einführung in das Grundgesetz im Jahr 1967 keinen so einschneidenden Bedeutungswandel erfahren, dass es gerechtfertigt ist, die vier Teilziele allesamt zugunsten eines anderen Begrif­ fes aufzugeben. Vielmehr bietet es sich an, die vier Teilziele mit dem Ziel einer ausgeglichenen Leistungsbilanz zu verbinden. In letzter Konsequenz ist es daher vorzugswürdig, die Begrenzung auf die vier Teilziele nicht als ein­ zige verfassungsrechtliche Wahrheit zu sehen. Zugleich sollten die vier Teil­ ziele aber auch nicht vollständig aufgegeben werden. Nach G. Kirchhof ist auf den Zweck des Gleichgewichtsbegriffs abzustellen.248 Dieser soll Frei­ heit, sozialen Ausgleich, Wohlstand und Stabilität umfassen.249 Diese Deu­ tung kann die stabilisierende Funktion der Verfassung, die auch bei einem grundsätzlich offenen Begriff, wie dem des „gesamtwirtschaftlichen Gleich­ gewichts“, nicht bedeutungslos ist, sichern, welche durch eine Auslegung, lediglich ausgerichtet an der ökonomischen Theorie, nicht gewährleistet wäre. Ausgangspunkt einer Untersuchung können daher weiterhin die vier Teilziele des „magischen Vierecks“ sein. Dass weitere Faktoren miteinbezo­ gen werden können, schließt dies nicht aus. Durch Finanzmarktkrisen wird die Entwicklung der Teilbereiche des „ma­ gischen Vierecks“ wesentlich beeinflusst. Dies lässt sich, wie dargelegt, an­ hand mehrerer Finanzkrisen im 20. und 21. Jahrhundert, die ihren Ursprung in Verwerfungen auf dem Finanzmarkt hatten, nachvollziehen. Es muss aller­ dings bestimmt werden, was dies für Folgen für das staatliche Handeln haben kann. Bisher wurde nur festgestellt, dass Finanzmärkte nicht nur mit dem Staat als solchem eng verbunden sind, sondern auch mit den Zielen, die Art. 109 Abs. 2 GG dem Staat aufgibt. Zunächst muss geklärt werden, ob und wann eine Störung des gesamtwirt­ schaftlichen Gleichgewichts vorliegt, und dann, ob hierdurch staatliche Maß­ nahmen ausgelöst werden müssen. Die Frage ist nicht eindeutig geklärt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genügt es nicht, wenn lediglich ein Teilziel nicht erreicht wird.250 Erforderlich ist vielmehr 247  Koemm, Eine Bremse für die Staatsverschuldung?, S. 310; ferner Kube, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 109 Rn. 98 m. w. N.; K. Vogel, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IV, § 87 Rn. 17; Waldhoff, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. V, § 116 Rn. 182; ähnlich Heun, Staatshaushalt und Staatsleitung, S. 121; Palm, Preisstabilität in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, S. 25 f. 248  G. Kirchhof, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 109 Rn. 51. 249  G. Kirchhof, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 109 Rn. 51; so auch Kube, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 109 Rn. 106. 250  Vgl. BVerfGE 79, 311, 339.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes183

eine negative Entwicklungstendenz, für deren Feststellung die Teilziele he­ rangezogen werden, so dass die Verfehlung eines Teilzieles dann genügen kann, wenn darin eine negative Entwicklungstendenz zu erblicken ist.251 Für eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ist es daher nicht notwendig, dass sämtliche Teilziele verfehlt werden. Dieses ergibt sich schon aus dem Spannungsverhältnis der Teilziele, was dazu führt, dass sich die Förderung eines Teilzieles negativ auf ein anderes auswirken kann252 und daher die Verwirklichung aller Ziele den Charakter eines permanenten Zieles hat. Bei Feststellung einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichge­ wichts billigt das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber wegen der Unbestimmtheit des Begriffes einen weiten Einschätzungs- und Beurtei­ lungsspielraum zu.253 Durch die letzte Finanzkrise und die folgende Euround Staatsschuldenkrise wurden zunächst alle vier Teilziele des magischen Vierecks beeinträchtigt, was eine negative Entwicklungstendenz indiziert. Hieraus lässt sich der Schluss ziehen, dass die Stabilität der Finanzmärkte zur Verwirklichung der vier Teilziele eine unabdingbare Voraussetzung ist. Darüber hinaus ist Art. 109 Abs. 2 GG ein weiterer Aspekt zu entnehmen, der die gesamte staatliche Wirtschafts- und Finanzpolitik betrifft. Die Norm hält die staatlichen Organe dazu an, bei allen Aktionen, die Auswirkungen auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht haben, selbiges in ihre Ent­ scheidungsfindung einzubeziehen.254 Dies ergibt sich auch schon aus dem Wortlaut des Art. 109 Abs. 2 Satz 1 GG, in dem Bund und Länder verpflich­ tet werden, den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts „Rechnung zu tragen“. Zudem lässt sich die weite Auslegung der verfas­ sungsrechtlichen Verpflichtung auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht mit der engen Verknüpfung aller Politikbereiche mit dem Staatshaushalt be­ gründen.255 Die staatlichen Organe haben das Gleichgewicht nicht nur anzu­ streben, sondern bei allen Entscheidungen die Auswirkungen auf selbiges zu berücksichtigen. Darauf aufbauend lässt sich argumentieren, dass durch die Verflechtung zwischen Finanzmärkten und den einzelnen Faktoren des gesamtwirtschaft­ lichen Gleichgewichts die staatlichen Organe bei ihrer Entscheidungsfindung 251  Wucherpfennig,

Staatsverschuldung, S. 191. Staatsverschuldung, S. 192. 253  BVerfGE 79, 311, 311; 119, 96, 146. 254  Hänsch, Gesamtwirtschaftliche Stabilität, S. 140 f. m. w. N.; ferner Kube, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 109 Rn. 87, 96; Rodi, in: BK, GG, Art. 109 Rn. 241; Siekmann, in: Sachs, GG, Art. 109 Rn. 43; Thiele, Finanzaufsicht, S. 298; Papier, in: Benda/Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), Hdb. d. VerfR, § 18 Rn. 21, spricht von einem umfassenden Verfassungsauftrag. 255  Friauf, VVDStRL 27 (1969), S. 1, 5; Hänsch, Gesamtwirtschaftliche Stabilität, S. 141. 252  Wucherpfennig,

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

zugleich zu beachten haben, dass die Finanzmarktstabilität gewährleistet wird, woraus sich eine Verantwortung für diese ableiten lässt. Diese Pflicht zum Handeln müsste zumindest dann bestehen, wenn durch eine Krise auf den Finanzmärkten das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht bedroht wird256, was nach dem bereits Gesagten in der Regel der Fall sein wird. In diesen Fällen dürfte sich sogar eine Pflicht zum Tätigwerden ergeben, die allerdings nur schwer auf eine konkrete Handlungspflicht verdichtet werden kann. Was genau die Pflicht des Staates ist, kann daher Art. 109 Abs. 2 GG nicht ent­ nommen werden. Es ist dennoch festzuhalten: Ein Weisungsgehalt in Richtung einer staat­ lichen Verantwortung für die Finanzmarktstabilität ist Art. 109 Abs. 2 GG zu entnehmen. b) Das Bekenntnis zu Keynes und seine Bedeutung für die Finanzmarktstabilität In der Regelung des Art. 109 Abs. 2 GG findet sich ferner ein Bekenntnis zum Keynes’schen Konzept einer antizyklischen Fiskalpolitik.257 Das Be­ kenntnis wurde im Rahmen der Föderalismusreform II abgeschwächt, seine grundsätzliche Geltungskraft hat es aber nicht verloren. Selbiges Bekenntnis findet sich auch im bereits angesprochenen Stabilitäts- und Wachstumsge­ setz258, das auch nach der Änderung des Art. 109 Abs. 2 GG weiterhin als Konkretisierung dienen kann. Die Keynes’sche Theorie wurde zur Grundlage der nach den zwei Welt­ kriegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geformten monetären Welt­ ordnung: dem Bretton-Woods System mit dem US-Dollar als Ankerwährung, dessen Wert wiederum an den Goldstandard gebunden war. Maßgeblich ist der Theorie die Fixierung auf die nationalen Ökonomien, die nationale Pro­ duktion und die Handelsbilanz, die dadurch entsteht.259 Schwark, NJW 1974, S. 1849, 1854. Heintzen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 109 Rn. 24; Hummel, Verfas­ sungsrechtsfragen der Verwendung staatlicher Einnahmen, S. 249; Koemm, Eine Bremse für die Staatsverschuldung?, S. 309; Schorkopf, VVDStRL 71 (2012), S. 183, 187; ferner Bull, Staatsaufgaben, S. 257, der dies allerdings aus einer Gesamtbetrach­ tung der „auf das Wirtschaftsleben anwendbaren Verfassungsartikel“ herleitet; zu­ rückhaltender G. Kirchhof, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 109 Rn. 43, der bestreitet, dass Keynes durch Art. 109 Abs. 2 GG Verfassungsrecht geworden ist, aber eine Verpflichtung von Bund und Ländern, ihre Wirtschaftspolitik an die ökonomi­ schen Bedingungen anzupassen, sieht. 258  Vgl. Müller-Graff, EWS 2009, S. 201; K. Stern, Grundfragen der globalen Wirtschaftssteuerung, S. 6. 259  Adam Tooze, Crashed, S. 8 f. 256  Vgl. 257  Vgl.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes185

Grundsätzlich verlangt die Theorie konjunkturfördernde Maßnahmen des Staates in Zeiten wirtschaftlichen Abschwungs und von Krisen. Der Staat soll in konjunkturell schwachen Phasen investieren, d. h. seine Ausgaben er­ höhen, um die Nachfrage zu erhöhen und mehr Beschäftigung zu schaffen. Die erhöhten Ausgaben sollen bei Bedarf durch Kreditaufnahmen finanziert werden, sog. „deficit spending“. In Zeiten konjunkturellen Aufschwungs empfiehlt Keynes eine verminderte Eingriffspolitik und damit einhergehend eine Verringerung der Staatsausgaben, um Rücklagen für künftige Phasen des Abschwungs zu bilden. Durch diese Politik soll Vollbeschäftigung und eine geringere Inflation erreicht werden.260 Die Theorie verbindet die Haushalts­ politik des Staates mit der Wirtschaftspolitik, indem Haushaltsgelder zur Steuerung der Wirtschaft, insbesondere der Konjunktur und zur Stabilitäts­ sicherung, verwendet werden sollen.261 Zur Bewältigung der aktuellen Krise, die als Konjunkturabschwung im Sinne der Keynes’schen Theorie verstanden wird, ist daher ein Tätigwerden vom Grundgesetz angezeigt. Das Ziel ist, durch die antizyklische Politik die pendelartigen Schwankungen der Wirt­ schaft und die Auswirkungen von Wirtschaftskrisen möglichst gering zu halten. Anders als die neoklassische Theorie befürwortet Keynes die Fein­ steuerung der Wirtschaft durch staatliches Handeln. Davon umfasst sind auch staatliche Handlungen mit dem Ziel, Stabilität auf dem Finanzmarkt zu schaffen, um in der Konsequenz die landeseigene Wirtschaft stabil zu hal­ ten.262 Der Finanzmarktstabilisierung und -regulierung ist aufgrund der Aus­ wirkungen für übrige Wirtschaftszweige ein besonderes Gewicht beigemes­ sen worden. Durch gesetzgeberisches Tätigwerden auf den Finanzmärkten in Form von Regulierung kann eine zukünftige Krise möglicherweise nicht verhindert, aber dennoch abgeschwächt werden. Den Ausführungen folgend lässt sich der Keynes’schen Theorie ein Auftrag zu staatlichem Tätigwerden entnehmen. Einen besonderen Bezug zur Finanzmarktstabilität enthält die Theorie al­ lerdings nicht, so dass aus der ursprünglichen Konzeption des Art. 109 Abs. 2 GG mit seinem Bekenntnis zu Keynes für eine staatliche Verantwortung wenig zu entnehmen ist. Zudem ist festzuhalten, dass die „General Theory“, die Keynes entwarf, maßgeblich auf Erfahrungen aus der Weltwirtschafts­ krise der 1930er Jahre aufbaut. Für neuere Finanzkrisen enthält diese sicher 260  Hänsch, Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht, S. 153; Rodi, in: BK, GG, Art. 109 Rn. 193 ff., der allerdings nur auf die Vollbeschäftigung abstellt. 261  Gröpl, Der Staat 52 (2013), S. 1, 2 f. 262  Vgl. Skidelsky, The Return of the Master, S. 168 ff., 173 ff., wobei anzumerken ist, dass die Theorie von Keynes sich weniger mit dem Finanzsektor befasste, da die Krise der 1930er Jahre, die er als Grundlage seiner Theorie nahm, vorrangig auf dem Zusammenbruch der Aktienbörsen beruhte; ferner zu einer Wiederbelebung des Keynesianismus nach 2008: Gorton, Slapped by the Invisible Hand, S. 9.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

noch gute Ansätze, worauf auch die Rufe nach einem „Return of the Master“263 aufbauen. Dennoch lässt sich aus der verfassungsrechtlichen An­ knüpfung keine staatliche Handlungspflicht begründen. Trotzdem ist festzuhalten, dass eine gänzliche Untätigkeit auf den Finanz­ märkten durch den Gesetzgeber mit der Theorie nur schwer in Einklang zu bringen ist, wenn Finanzkrisen immer wieder Ausgangspunkt heftiger Kon­ junkturabschwünge waren. c) Auswirkungen der Föderalismusreform II aa) Keynes nach der Reform Die Vorschrift des Art. 109 Abs. 2 GG wurde mit der Föderalismusreform II im Jahr 2009 neu gefasst.264 Die Reform entstand unter dem Eindruck des Ausbruchs der Krise im Jahr 2008 und der sich anbahnenden Euro- und Staatsschuldenkrise. Mithin könnten sich aus der Reform auch Rückschlüsse auf die Bewertung der Finanzmarktstabilität durch das Grundgesetz ziehen lassen. Wenn die neuen Vorschriften nicht mehr der Keynes’schen Theorie folgen, die grundsätzlich staatliches Handeln bevorzugt, könnte dies auch eine negative Ausrichtung gegenüber staatlichen Maßnahmen auf den Fi­ nanzmärkten bedeuten. Das nunmehr abgeschwächte Bekenntnis zu Keynes in Art. 109 Abs. 2 GG wurde unter den Vorbehalt materiell ausgeglichener Haushalte gestellt. Anti­ zyklische Fiskalpolitik steht damit hinter einem ausgeglichenen Staatshaus­ halt hintan, das Konzept wird aber nicht aufgegeben. Art. 109 Abs. 2 Hs. 1 GG verweist zu diesem Zweck auf die Vorgaben des Stabilitäts- und Wachs­ tumspaktes in Art. 104 EGV. Die Verweisung ist eine dynamische, so dass nun auf Art. 126 AEUV verwiesen wird, der mit dem Vertrag von Lissabon den alten Art. 104 EGV ersetzte.265 Durch das Einhalten der Stabilitätskriterien sollen die Schuldentürme in den Mitgliedstaaten abgebaut werden, um dadurch haushaltspolitische Stabi­ lität und Disziplin zurückzugewinnen, welche im Rahmen der Euro- und Staatsschuldenkrise verloren gingen. Hinzu kommt, dass die Umsetzung der Keynes’schen Theorie in der Bundesrepublik kaum als erfolgreich bezeichnet 263  Wiederum wird auf den Buchtitel von Skidelsky, The Return of the Master, Bezug genommen. 264  Allgemein zur Neuregelung der finanzverfassungsrechtlichen Verschuldungs­ regeln im Rahmen der Föderalismusreform II siehe Waldhoff/Dieterich, ZG 2009, S.  97 ff. 265  G. Kirchhof, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 109 Rn. 37; Kube, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 109 Rn. 74.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes187

werden kann. Die Staatsverschuldung stieg trotz der Pflicht zum Schulden­ abbau in Phasen konjunkturellen Aufschwungs immer weiter, da die aus Art. 109 Abs. 2 GG a. F. folgende Pflicht von den handelnden Verantwor­ tungsträgern nicht befolgt wurde.266 Die jeweils regierenden Parteien jeg­ licher Couleur, mit Haushaltsdefiziten konfrontiert, hatten die Wahl zwischen Kreditaufnahme oder Steuererhöhung. Sie entschieden sich für ersteres, um in der Parteiendemokratie der Bundesrepublik keinen politischen Selbstmord zu begehen.267 Juristisch begründet wurden die hohen Staatsdefizite unter anderem mit den durchgehend bestehenden Arbeitslosenzahlen, die, als ein Element des magischen Vierecks, das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht nicht zur Ruhe kommen ließen.268 So konnte von einem dauerhaften gesamt­ wirtschaftlichen Ungleichgewicht gesprochen werden, das durch Ausgaben des Staates beseitigt werden müsse. Vor diesem historischen Hintergrund lässt sich die neuerliche Ausrichtung des Staatsschuldenrechts erklären. Wenn nun das Keynes’sche Modell teilweise als gescheitert gilt269, ist den­ noch mit der Änderung des Wortlauts nicht jeglicher Aspekt desselben zu verwerfen. Verfassungsrechtlich ist das Parlament nicht zu einer bestimmten Haushaltspolitik gezwungen.270 Auch die neuen Regelungen zur konjunktu­ rellen Neuverschuldung enthalten das Element der antizyklischen Fiskalpoli­ tik Keynes’scher Art.271 Gerade die Finanzkrise hat gezeigt, dass das grund­ legende Modell von Keynes Ansätze bietet, zukünftigen Krisen entgegenzu­ 266  Vgl. P. Kirchhof, Deutschland in Schuldensog, S. 34 f., 67; Kube, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 109 Rn. 102; Paulus, KTS 2013, S. 155, 157; Tappe, DÖV 2009, S. 881, 883; zur Entwicklung der Staatsverschuldung in der Bundesrepublik Deutsch­ land Heintzen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 115 Rn. 4; Pünder, in: Isensee/P.  Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. V, § 123 Rn. 12 f.; Wendt, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 115 Rn. 8 ff.; die Gründe für steigende Staatsverschuldung aus ökonomi­ scher Sicht Feld, in: Nachhaltige Finanzstrukturen im Bundesstaat, S. 45, 49 ff.; glei­ ches gilt auch in anderen Ländern wie z. B. den USA, siehe Skidelsky, The Return of the Master, S. 178. 267  Paulus, KTS 2013, S. 155, 157; vgl. ferner P. Kirchhof, Deutschland im Schul­ densog, S. 66 f., 95; Neidhardt, Staatsverschuldung und Verfassung, S. 144 ff. 268  Heintzen, Das neue deutsche Staatsschuldenrecht in der Bewährungsprobe, S.  30 f.; G. Kirchhof, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 109 Rn. 90; Wucherpfennig, Staatsverschuldung, S. 218. Davon zu trennen ist die Frage, ob durch die Verfeh­ lung eines Teilzieles auch eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vorliegt. 269  Aus ökonomischer Sicht Buchanan/Wagner, Democracy in Deficit, passim. Aus dem juristischen Schrifttum Göke, ZG 2006, S. 1, 14 ff.; Kloepfer, Finanzverfas­ sungsrecht, § 8 Rn. 96; dagegen jedoch Korioth, JZ 2009, S. 729, 736; Siekmann, in: Sachs, GG, Art. 109 Rn. 45. 270  Pünder, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. V, § 123 Rn. 9. 271  Vgl. Heintzen, Das neue deutsche Staatsschuldenrecht in der Bewährungs­ probe, S. 24 und der darin enthaltene Verweis auf Kloepfer, Verfassungsrecht I, § 26 Rn. 313, nach dem beide Konzepte „verheiratet“ wurden.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

wirken, was durch die Konjunktur, die Keynes’ Theorie nach der Krise erhal­ ten hat, bestätigt wird.272 Das momentan in Angriff genommene Modell der Bankenregulierung sollte beibehalten werden, da gerade dieser Sektor, als wesentlich krisenauslösender, mit systemischen Risiken behaftet ist. Als Aus­ löser von Krisen auf dem Finanzmarkt ist der Bankensektor mittelbar für die steigende Staatsverschuldung durch die Rettungsmaßnahmen mitverantwort­ lich. Abschließend obliegt es dem Parlament, welches staatliche Kreditauf­ nahme durch ein formelles Gesetz ermächtigen muss, zu entscheiden, in welchem Maße die Theorie von Keynes heute noch Grundlage des Haushal­ tens sein soll. Im Ergebnis bedeutet die Abschwächung des Keynes’schen Bekenntnisses nicht, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber eine bin­ dende negative Aussage zu einem Ziel der Finanzmarktstabilität getroffen hätte. Vielmehr wurde trotz teilweise kritischer Stimmen an dem Bekenntnis festgehalten. Interessanter für die vorliegende Untersuchung ist das neue Staatsschul­ denrecht, dessen Normen Aussagen zur staatlichen Verantwortung für die Finanzmarktstabilität enthalten könnten. bb) Die Bedeutung des Verweises auf die Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes für die Finanzmarktstabilität Insbesondere die neu aufgenommene Verweisung auf Art. 126 AEUV und damit die Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes könnten in positi­ ver Hinsicht Bedeutung für die Aussagen des Grundgesetzes zur Stabilität der Finanzmärkte entfalten. Der verfassungsändernde Gesetzgeber stand im Jahr 2009 unter dem unmittelbaren Einfluss der Finanzkrise, deren Auswir­ kungen deutsche Banken schon spürten, und der sich anbahnenden Euro- und Staatsschuldenkrise. Passend hierzu wird im Abschlussbericht der gemein­ samen Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen berichtet, dass „die Erfahrung der Finanz­ krise ein zusätzlicher Grund war, die Schuldenbremse zu fordern“273. Der 272  Siehe nur aus der medialen Berichterstattung: http://www.faz.net/aktuell/ wirtschaft/konjunktur/wege-aus-der-rezession-rueckkehr-zu-keynes-1573229.html; https://www.fuw.ch/article/krise-verhilft-keynes-zu-renaissance/; https://www.welt.de/ wirtschaft/article131816011/Angst-vor-Grosser-Depression-befluegelt-Keynes-Juen ger.html; http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/us-wirtschaftspolitik-die-rueckkehrdes-john-maynard-keynes-1.289319 (jeweils zuletzt abgerufen am 30.04.2020). Wei­ terhin ist das bereits zitierte Buch von Skidelsky, The Return of the Master, zu nen­ nen. 273  Abschlussbericht der gemeinsamen Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, S. 51; vgl. auch Ruffert,



B. Die Auslegung des Grundgesetzes189

Verweisung auf die Stabilitätskriterien ist daher ein Indiz für die Grund­ entscheidung zur fiskalischen Stabilität zu entnehmen. Ist hiermit auch vor­ rangig die Verringerung der Staatsverschuldung angesprochen, ist diese ­fiskalische Stabilität nur durch stabile Finanzmärkte möglich, die ihre oben beschriebene Primärfunktion erfüllen. Inwieweit der Staat auf diese angewie­ sen ist, wie also Staatsverschuldung und die Funktion der Finanzmärkte als Bereitsteller von Kapitalmitteln durch die Verflechtung von fiskalischer Sta­ bilität und Finanzmarktstabilität zusammenhängen, wird im Zusammenhang mit der Auslegung der Regelungen zur Schuldenbremse weitergehend unter­ sucht. Im Ergebnis lässt sich aber formulieren, dass dem neu gefassten Art. 109 Abs. 2 Hs. 1 GG ein Indiz für die Grundentscheidung des verfassungsän­ dernden Gesetzgebers zur Finanzstabilität insgesamt zu entnehmen ist. Auf dieser Grundlage ließe sich sogar argumentieren, dass es sich bei diesem um ein inkorporiertes Staatsziel handelt, das zusammen mit der Föderalismus­ reform II in die Finanzverfassung inkorporiert wurde. Nicht erforderlich ist dagegen, dass es dem Wortlaut explizit zu entnehmen ist. d) Zwischenergebnis zur Auslegung des Art. 109 Abs. 2 GG Nach Auslegung des Art. 109 Abs. 2 GG ergeben sich in mehrfacher Hin­ sicht Anhaltspunkte, die auf eine staatliche Verantwortung für die Finanz­ marktstabilität hinweisen. Diese ergeben sich aus den Verbindungen des Norminhalts mit der Stabilität der Finanzmärkte und den Auswirkungen von Finanzkrisen auf die Normziele. Zunächst sind die vier Teilziele des „ge­ samtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ derart mit der Finanzmarktstabilität verknüpft, dass instabile Finanzmärkte sich auf jedes der Teilziele negativ auswirken, was sich anhand mehrerer Krisen, die ihren Ursprung auf den Finanzmärkten hatten, nachweisen lässt. Infolgedessen lösen Finanzmarkt­ krisen eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts aus, die der Staat nach Art. 109 Abs. 2 GG zu beheben verpflichtet ist. Hinsichtlich der notwendigen Maßnahmen zur Vermeidung eines Ungleichgewichts hat der Gesetzgeber in Art. 109 Abs. 2 GG keine Vorgaben gemacht274, so dass inso­ weit ein weiter Gestaltungsspielraum besteht.275 Aus der Verpflichtung auf das „gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht“ lässt sich daher ein Anhaltspunkt für die staatliche Verantwortung entnehmen, eine konkrete Handlungspflicht mit dem Inhalt, wie der Staat seiner Verantwortung gerecht werden kann, NJW 2009, S. 2093, 2097, der in der Schuldenbremse einen Ansatz sieht, Fehlent­ wicklungen wie vor der Krise in Zukunft zu vermeiden. 274  Heintzen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 109 Rn. 23. 275  Thiele, Finanzaufsicht, S. 297.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

gibt die Norm aber nicht her. Gerade diese Offenheit bei Erreichung der vier Teilziele schafft aber den Eingang für die Finanzmarktstabilität, da diese sich positiv auf alle vier Teilziele auswirkt. Dass keine konkrete Pflicht ent­ nommen werden kann, erscheint aufgrund der verschiedenen Strategien zur Abwendung und Bewältigung konjunktureller Abschwünge infolge von Fi­ nanzkrisen sachgerecht. Indem Art. 109 Abs. 2 GG die staatlichen Akteure zugleich dazu verpflich­ tet, die Auswirkungen aller ihrer Handlungen auf das „gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht“ zu berücksichtigen und Finanzmarktstabilität ein wesent­ licher Faktor in der Entwicklung desselben ist, ist sie gleichsam durch die staatlichen Akteure bei allen Handlungen zu berücksichtigen. Diese Ver­ pflichtung verstärkt die normative Wirkung des Staatszieles des gesamtwirt­ schaftlichen Gleichgewichts durch die Einwirkung auf nahezu alle politischen Entscheidungen erheblich. Durch die enge Verflechtung des „magischen Vierecks“ mit der Finanzmarktstabilität muss diese von den Staatsorganen daher mittelbar berücksichtigt werden, sodass von einer staatlichen Verant­ wortung für dieselbe gesprochen werden kann. Gleichermaßen relevant ist die Verweisung auf die Kriterien des Stabili­ täts- und Wachstumspaktes und die damit einhergehende Einführung der Schuldenbremse. Wie gezeigt, wurden die Regelungen unmittelbar unter dem Eindruck der Krise entwickelt. Sie wurden damit auch erlassen, um die Ent­ stehung ähnlicher Krisen in Zukunft zu vermeiden, ein Ziel, das durch stabile und funktionsfähige Finanzmärkte teilweise erreicht werden kann, da Finanz­ märkte dann in der Lage sind, besser auf exogene Schocks zu reagieren. Daher lässt sich argumentieren, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber mit dem Verweis auf die europäischen Schuldenbegrenzungsregelungen auch eine Verantwortung für die Finanzmarktstabilität übernommen hat. Die Argu­ mentation ist im Rahmen der Ausführungen zur Regelung in Art. 109 Abs. 3 GG noch zu vertiefen. Infolge der genannten Punkte lässt sich Art. 109 Abs. 2 GG ein Weisungs­ gehalt für eine Verantwortung des Staates für die Stabilität des Finanzsystems entnehmen.276 2. Art. 109 Abs. 3 GG Wie eben ausgeführt, lassen sich aus der Einführung der Schuldenbremse – unter dem direkten Einfluss der Erfahrungen aus der Finanzkrise – Anhalts­ punkte in Richtung einer staatlichen Verantwortung für die Finanzmarktstabi­ 276  So auch Thiele, Finanzaufsicht, S. 300, der in der Folge eine verfassungsrecht­ liche Pflicht zur Einrichtung einer Finanzaufsicht aber ablehnt; ihm folgt Egidy, Fi­ nanzkrise und Verfassung, S. 85; a. A. Schott, Reaktionen des Staates, S. 90.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes191

lität entnehmen. Zur Vertiefung der Argumentation ist es notwendig, die de­ tailliert ausgeführten Regelungen nach weiteren Anhaltspunkten zu untersu­ chen. Relevant für die Schuldenbremse des Bundes sind Art. 109 Abs. 3 GG und Art. 115 Abs. 2 GG. Es ist herauszuarbeiten, inwiefern Finanzkrisen und damit die Finanzmarktstabilität mit den staatlichen Finanzen, insbesondere der Staatsverschuldung, zusammenhängen. Aus dem Zusammenhang der Komplexe Finanzkrise und Staatsverschuldung könnten sich dann Anhalts­ punkte für eine staatliche Verantwortung ergeben. a) Das Neuverschuldungsverbot und die Finanzmarktstabilität Bemerkenswert ist die Regelung des Art. 109 Abs. 3 GG, welche die Be­ grenzung der Staatsverschuldung fordert und damit dem Bund aufgibt, einen ausgeglichenen Haushalt aufzustellen. Die Norm fordert als Verrechtlichungsgebot vom Bundes- und Landes­ gesetzgeber normatives Tätigwerden in Form von verbindlichen Regelungen zur Begrenzung der Staatsverschuldung. Sie setzt eine alte Vorgabe des Bun­ desverfassungsgerichts um277 und normiert eine echte Rechtspflicht für Bund und Länder zur Nullverschuldung.278 Der Bund ist diesem Gebot durch Ein­ führung des Art. 115 Abs. 2 GG nachgekommen, der eine Konkretisierung von Art. 109 Abs. 3 GG darstellt.279 Zusammen bilden beide Normen den Kern der normativen Vorgaben des Grundgesetzes zum Abbau der Staatsver­ schuldung. Art. 109 Abs. 3 Satz 1 GG verbietet in seiner Fassung seit der Föderalismusreform II dem Bund die Nettokreditaufnahme zum Ausgleich der Haushalte und macht lediglich für Krisenzeiten eine Ausnahme. Durch die Ausnahme für Krisenzeiten bleibt die Norm noch im Rahmen der Keynes’schen Theorie.280 Um den Zusammenhang zwischen Haushalt und Finanzmarktstabilität auf­ zuzeigen, sind zunächst einige Ausführungen zur Staatsverschuldung zu ma­ 277  Siehe BVerfGE 79, 311, 356; wiederholt in BVerfGE 119, 96, 141 ff.: „an der Revisionsbedürftigkeit der geltenden verfassungsrechtlichen Regelungen (ist) gegen­ wärtig kaum zu zweifeln (…)“. 278  Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, Grundgesetz, Art.  109 Rn. 15; P. Kirchhof, in: Heintzen (Hrsg.), Auf dem Weg zu nachhaltig ausgeglichenen öffentlichen Haushalten, S. 15, 24; Kloepfer, Finanzverfassungsrecht, § 8 Rn. 125; Kube, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 109 Rn. 104 m. w. N., 128 sieht die Rechtspflicht zur Reduzierung der Neuverschuldung im Zusammenspiel von Art. 109 Abs. 2 und 3 GG. 279  Kube, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 109 Rn. 6; zur Umsetzung in den Ländern siehe Henneke, in; Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 109 Rn. 113 ff. 280  Christ, NVwZ 2009, S. 1333, 1334; Heintzen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 109 Rn. 35; Tappe, DÖV 2009, S. 881, 888; Waldhoff/Dieterich, ZG 2009, S. 97, 116; ferner bereits zu Art. 109 Abs. 2 S. 177 ff.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

chen. Die Staatsverschuldung der Bundesrepublik beträgt rund zwei Billionen Euro. Wesentlich höher ist der Betrag der impliziten Staatsverschuldung (oder auch Schattenverschuldung), die auf Rentenzahlungen, Eventualver­ bindlichkeiten, wie den im Rahmen der Finanzkrise übernommenen Bürg­ schaften, und zukünftigen Ansprüchen gegenüber umlagefinanzierten Sozial­ versicherungen beruhen, der aber nur ungenau zu beziffern ist. Dass ein Abbau notwendig ist, ist weithin unbestritten.281 Die Prognose von Adam Smith, dass Staatsschulden ab einer bestimmten Höhe nicht mehr zurückge­ zahlt werden können282, soll mithilfe der neuen Regelungen des Grundgeset­ zes widerlegt werden. Im Zusammenhang mit der Finanz- und Staatsschuldenkrise ist insbeson­ dere relevant, wie die Bürgschaften, welche die Bundesrepublik in Höhe von 168,3 Mrd. Euro im Rahmen des ESM übernommen hat, im Haushalt zu berücksichtigen sind.283 Art. 109 Abs. 3 Satz 1 verlangt eine Entscheidung des Bundestages zu der Frage, inwiefern Rückstellungen in den Bundeshaus­ halt aufzunehmen sind. Illustrieren lässt sich an diesem Sachverhalt, in welch hohem Maße die Maßnahmen zur Bewältigung der letzten Krise auch jetzt noch auf den Bundeshaushalt einwirken und damit die negativen Effekte der Staatsverschuldung hervorrufen. Weiterhin gibt es am Finanzmarkt Optionen, mit denen auf den wirtschaftlichen Niedergang eines Staates gewettet werden kann. Technisch funktioniert dies durch Ausfallversicherungen auf Staatsan­ leihen. In dieser Angelegenheit zeigt sich die Paradoxie, die die Finanzmärkte durchzieht. Ohne ein funktionierendes Rechtssystem, welches nach einem Staatsbankrott faktisch keine volle Geltung mehr beanspruchen kann, sind die Ausfallversicherungen unverbindlich.284 Zugleich zeigen die Ausfallver­ sicherungen ein wesentliches Merkmal aller Gewinne an den Finanzmärkten; auf der anderen Seite steht ein Verlierer, in diesem Fall der bankrotte Staat. Nichtsdestotrotz bildet das Bestehen dieser Ausfallversicherungen ein weite­ res Glied in der Verbindung von Staatsfinanzen und Finanzmärkten. Die enge Verknüpfung von Staatsfinanzen und Finanzmärkten lässt sich anhand handfester Zahlen illustrieren. Die Kosten der Bail-outs nach der ­Finanzkrise sind in der Historie beispiellos. Bereits 2012 taxierte die EUKommission die Kosten der Verbindung zwischen Staats- und Bankschulden auf 4,5 Billionen Euro.285 Dieses Beispiel aus der zeitlich nicht weit zurück­ die Nachweise bei Kube, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 109 Rn. 124 (Fn. 3). Smith, Wohlstand der Nationen, S. 803. 283  Siehe G. Kirchhof, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 109 Rn. 85 f.; ferner Kube, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 109 Rn. 144 ff. 284  Vgl. P. Kirchhof, Deutschland im Schuldensog, S. 78. 285  Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, Fahr­ plan für eine Bankenunion, Dok. KOM (2012), 510, S. 2. 281  Siehe

282  Adam



B. Die Auslegung des Grundgesetzes193

liegenden Euro- und Staatsschuldenkrise kann als Einstieg die Verbindung zwischen Staatsfinanzen und Bankenschulden gut vor Augen führen. Zwi­ schen dem Beginn der Finanzkrise in den USA 2007 und dem Höhepunkt der Eurokrise 2011 stieg die Schuldenrate im Vergleich zum Bruttoinlandspro­ dukt nach einem Bericht der Kommission im gesamten Euro-Raum um 22,5 %, innerhalb der EU-27 sogar um 25 %, an.286 Der Bericht zeigt auch, dass gerade in den Staaten, die von der Krise am schwersten getroffen wur­ den, wie Spanien, Irland oder das Vereinigte Königreich, die Schuldenrate in besonders hohem Maße anstieg. Auch die deutsche Bankenkrise 1931 lag zu einem großen Teil in der Verschuldung der öffentlichen Haushalte begrün­ det287, was illustriert, dass die Verbindung beider Komplexe nicht erst seit der Finanzkrise 2008 besteht. An dieser Stelle sind einige Ausführungen zu den Effekten einer hohen Staatsverschuldung angebracht. Dies erleichtert das Verständnis, warum die auf fehlerhaften Finanzmärkten beruhende, steigende Staatsverschuldung negative Auswirkungen hat. Aus ökonomischer Perspektive kann die Ver­ schuldung den Staat hemmen und das Wirtschaftswachstum verlangsamen. So führen ab einer Verschuldung von mehr als 90 % des BIP negative Effekte in Form der Schuldenspirale zu immer höheren Schulden, dies wiederum führt zu einer Verengung der politischen Entscheidungsmöglichkeiten und lässt eine wieder florierende Wirtschaft in immer weitere Ferne rücken.288 Hinzu kommen weitere negative ökonomischen Folgen der Staatsverschul­ dung wie steigende Arbeitslosenzahlen, Verschärfung des Generationenkon­ fliktes und Vertrauensverlust der öffentlichen Hand.289 Insgesamt droht durch Staatsverschuldung und die damit einhergehenden Zinslasten ein Verlust staatlicher Handlungsfähigkeit und damit zugleich eine Destabilisierung des gesamten Finanzsystems.290 Ein Zusammenhang zwischen Staatsverschul­ dung und Finanzmärkten besteht daher.

286  Europäische Kommission, Public Finances in EMU – 2010, S. 142, abrufbar unter http://ec.europa.eu/economy_finance/publications/european_economy/2010/pdf/ ee-2010-4_en.pdf (zuletzt abgerufen am 30.04.2020). 287  Pahlow, Der Staat 50 (2011), S. 621, 629 f. 288  Schorkopf, in: Heintzen (Hrsg.), Auf dem Weg zu nachhaltig ausgeglichenen öffentlichen Haushalten, S. 119, 120; vgl. auch Weidmann, ZSE 2013, S. 461, 462 ff.; zur Bedeutung des Haushaltsplans für die politische Gestaltungsfreiheit siehe BVerfGE 131, 152, 209 f. und 214; Ruffert, EuR 2011, S. 765, 771, betont zusätzlich die besondere Bedeutung des Haushalts für die Zukunftsgestaltung. 289  Waldhoff/Dieterich, ZG 2009, 97, 98; siehe aus ökonomischer Sicht Spahn, Geldpolitik, S. 253. 290  Danzmann, Das Verhältnis von Geldpolitik, Fiskalpolitik und Finanzstabilitäts­ politik, S. 82.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

Hinzu kommt, dass die Staatsverschuldung regelmäßig im Rahmen einer Finanzkrise stärker steigt. Als Indikator bietet sich neben den absoluten Zah­ len die Quote aus dem Verhältnis der Staatsverschuldung zum Bruttoinlands­ produkt an. Die Staatsverschuldung in Deutschland stieg infolge der Maß­ nahmen zur Bekämpfung der Finanzkrise von 65,9 % des BIP im Jahr 2008 auf 81,2 % im Jahr 2011.291 Wenngleich die Staatsverschuldung bis 2019 sank, ist sie auch heute noch nicht auf dem Niveau von 2008. Aus dem Zu­ sammenbruch von Lehman Brothers und dem daraus folgenden Bankenpro­ blem wurde ein Staatsschuldenproblem in der Eurozone, dies ist historisch betrachtet nichts Ungewöhnliches.292 Aus dem Zusammenhang mit der Ausnahmeregelung für Finanzmarkt­ krisen in Art. 109 Abs. 3 Satz 2 GG lässt sich folgern, dass der verfassungs­ ändernde Gesetzgeber mit Art. 109 Abs. 3 GG im Jahr 2009, gezeichnet durch die Erfahrungen der Krise, eine weitere Krise ähnlichen Ausmaßes vermeiden wollte und dieser Gedanke in die Regelung des Art. 109 Abs. 3 GG eingeflossen ist.293 Hinzu kommt, dass die Staatsverschuldung einen Beitrag zur Krise des Euro seit 2009 geleistet hat. Dies dürfte vor allem im Fall Griechenland unbestritten sein, auch wenn über die einzelnen Verursa­ chungsanteile gestritten wird und bereits die Leistungsbilanzdefizite als zu­ sätzlicher wesentlicher Faktor in der Verursachung der Krise ausgemacht wurden (siehe S. 38 ff.). Allerdings führten gerade auch die Leistungsbilanz­ defizite der einzelnen Eurostaaten dazu, dass diese an den Märkten Kredit­ schulden aufnahmen, um das Leistungsbilanzdefizit wieder auszugleichen, und damit zu weiteren Staatsschulden. Der Zusammenhang zwischen Finanzmärkten und der Staatsverschuldung wurde oben bereits angerissen, die Ausführungen können aber noch vertieft werden. Eine hohe Staatsverschuldung führt im Ergebnis zu fiskalischer In­ stabilität. Diese hängt in engem Maße mit Finanzmarktstabilität zusammen.294

291  Die Zahlen sind Kloepfer, Finanzverfassungsrecht, § 8 Rn. 113 entnommen. Die Finanzkrise begünstigte einen „dritten Verschuldungsschub“, siehe Heintzen, Das neue deutsche Staatsschuldenrecht in der Bewährungsprobe, S. 8, mit weiteren Zah­ len. 292  Kotz, ZBB 2012, S. 322, 325 mit Verweis auf Aliber/Kindleberger, Maniacs, Panics and Crashes, S. 2 ff. 293  Dieser Gedanke wird auch bei Leisner, DÖV 2012, S. 533, 538 angeführt; ­Koemm, Eine Bremse für die Staatsverschuldung?, S. 49, 212, 236, spricht vom Druck durch die Wirtschafts- und Finanzkrise; daneben siehe Thiele, NdsVBl. 2010, S. 89, 90; wohl auch P. Kirchhof, Deutschland im Schuldensog, S. 36. 294  IWF, Key Aspects of Macroprudential Policy, S. 10 f.; Mülbert, in: Moloney/ Ferran/Payne, The Oxford Handbook of Financial Regulation, S. 364, 382; Ohler, in: Nachhaltige Finanzstrukturen im Bundesstaat, S. 207, 228.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes195

Ein historischer Exkurs kann diese Verbundenheit illustrieren. Phillip II. von Spanien verursachte durch sein Ausgabenverhalten während seiner Re­ gentschaft von 1556–1598 drei Staatspleiten, seine Finanziers aus dem Hause Welser überstanden die Pleiten nicht.295 Die – für eine der beiden Seiten fa­ tale – Allianz zwischen Staaten und ihren Finanziers wird an diesem kleinen Beispiel deutlich. Das historische Beispiel ist auch in heutiger Zeit noch ak­ tuell. Finanzier des Staates sind nun nicht mehr einzelne Kaufmannsfamilien und Bankiers, sondern der gesamte Finanzmarkt durch die Vergabe von Kre­ diten und den Aufkauf von Staatsanleihen. Deutlich wird die Verbundenheit vor allem anhand von Staatsanleihen. Diese gibt der Staat zur Kontrolle sei­ ner Schuldenlast aus. Verschuldet sich der Staat nunmehr noch weiter und bleiben Investitionen Dritter (Rettungsmaßnahmen) aus, führt dies zu einer negativen Bonitätseinschätzung und negativen Ratings. In der Folge sinkt der Wert der Staatsanleihen. Nach den Marktgesetzen werden Anleiheinhaber nun versuchen, die Anleihen auf dem Sekundärmarkt zu veräußern. Dabei erhalten diejenigen, die zeitlich früher veräußern, mehr Erlös als diejenigen, die erst später zu einem geringeren Kurs veräußern. Die Verkäufe führen zu einem Herdenverhalten, jeder Inhaber möchte die Papiere möglichst schnell abstoßen, was wiederum eine Kettenreaktion auslöst, so dass immer mehr Inhaber ihre Anleihe verkaufen wollen296, um die durch den Kursverfall er­ littenen Verluste wenigstens gering zu halten. Durch den sinkenden Wert der bestehenden Anleihen wird es dem Staat erschwert, sich durch Ausgabe neuer Staatsanleihen auf dem Primärmarkt zu refinanzieren, so dass ein Staatsbankrott droht, wenn nicht von anderen Staaten oder internationalen Organisationen helfend eingegriffen wird. Banken und andere privatrechtlich organisierte Anlagegesellschaften hal­ ten Staatsanleihen in nicht unerheblichem Umfang. Wegen der Regel, dass Staaten nicht in die Insolvenz gehen, werden diese als risikoarme Anlage bewertet und sind damit für Anleger jeder Art lukrativ. Die Lukrativität hängt mit der Tatsache zusammen, dass mit dem Halten von Staatsanleihen nicht die Pflicht einhergeht, Eigenkapital für die Kreditvergabe bereit halten zu müssen.297 Befinden sich im Portfolio eines Finanzinstitutes Staatsanleihen einer Vielzahl verschiedener Staaten, wird das – zwar als gering angese­ hene – Risiko des Ausfalls internationalisiert, was die Ausbreitung von Insta­ 295  Das Beispiel wird von P. Kirchhof, Deutschland im Schuldensog, S. 60 und Paulus, KTS 2013, S. 155, 156 angeführt. 296  Danzmann, Das Verhältnis von Geldpolitik, Fiskalpolitik und Finanzstabilitäts­ politik, S.  232 ff. 297  Paulus, KTS 2013, S. 155, 163, der Staatsanleihen nicht als risikofreie Papiere einstuft.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

bilitäten über Landesgrenzen vereinfacht und beschleunigt298, wenn es zu einem Ausfall oder einer Abwertung der Anleihe kommt. Es zeigt sich, dass Staatsanleihen ein Faktor sind, welcher die Verbindung zwischen staatlichem Haushalt und Finanzmärkten vertieft. Anzumerken ist weiterhin, dass auf makroökonomischer Ebene eine sta­ bile Haushaltswirtschaft durch den Staat und die Vermeidung von Leistungs­ bilanzdefiziten als wirksame Maßnahmen zur Verhinderung einer systemi­ schen Krise ausgemacht wurden.299 Vor dem Hintergrund, dass bei Ent­ stehung der Krise vor allem Versäumnisse bei der Makroaufsicht gemacht wurden, ist daher durch diese Maßnahmen ein besserer Präventionsmecha­ nismus geschaffen worden. Ein weiterer Verknüpfungspunkt von Finanzmarktinstabilität und fiskali­ scher Instabilität liegt in den staatlichen Rettungsmaßnahmen zugunsten von Finanzinstituten in Form von Rekapitalisierung und Garantieübernahmen nach dem Ausbruch einer Krise.300 Diese fallen je nach Größe des zu retten­ den Institutes an. Zwar haben staatliche Garantieübernahmen für diese den Vorteil, dass sie zunächst nicht unmittelbar den Staatshaushalt belasten, was diese zwischen 2007 und 2009 zum beliebten Stabilisierungsinstrument machten.301 Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Garantie­ übernahme auch unmittelbare Folgen hat. Zu hohe Garantieübernahmen können sich negativ auf das Bonitätsrating eines Staates auswirken und damit ebenfalls die Stabilität beeinträchtigen. Die Kosten der politischen Maßnah­ men zur Bewältigung einer Instabilität können bei einer schweren Krise bis zu 30–55 % des Bruttosozialprodukts ausmachen, im Durchschnitt liegen die Kosten bei 16 %.302 Die Maßnahmen belasten den staatlichen Haushalt daher in so hohem Maße, dass die Ausgaben nicht immer über Steuereinnahmen refinanziert werden können, sondern stattdessen weitere Kredite aufgenom­ men werden müssen. Kreditgeber sind dann entweder gesunde Kredit- und Finanzinstitute, welche bei globalen Krisen rar sind, oder andere Staaten. Die Sicherheiten, die der Staat für Banken in Notlage übernimmt, schrän­ ken die Budgethoheit des Parlaments ein. Dies konfligiert in erheblichem Maße mit dem Demokratieprinzip (dazu unten), der Einfluss der Finanz­ märkte auf die staatliche Haushalts- und Finanzpolitik wächst damit in ein bedrohliches Ausmaß hinein. 298  Ausführlich Danzmann, Das Verhältnis von Geldpolitik, Fiskalpolitik und Fi­ nanzstabilitätspolitik, S.  234 ff. m. w. N. 299  Lastra, Legal Foundations of International Monetary Policy, S. 148. 300  Vgl. Siekmann, in: Möllers/Zeitler, Europa als Rechtsgemeinschaft, S. 101, 109. 301  Egidy, Finanzkrise und Verfassung, S. 131. 302  Stasch, Lender of Last Resort, S. 78 m. w. N.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes197

Im Ergebnis lässt sich zunächst festhalten, dass ein gesunder Staatshaus­ halt sich positiv auf die Abwehr systemischer Risiken und damit die Stabili­ tät der Finanzmärkte auswirkt. Dies ist ein Anhaltspunkt dafür, dass Wirk­ samkeit und faktische Durchführbarkeit der Vorgaben der Schuldenbremse in hohem Maße von der Stabilität der Finanzmärkte abhängen. Die Rechtspflicht zum Abbau der Staatsverschuldung steht daher in einem Zusammenhang mit der Finanzmarktstabilität. Zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass in Phasen finanzieller Instabilität re­ gelmäßig der Gewinn von Unternehmen der Wirtschaft zurückgeht und damit auch die Steuereinnahmen des Staates sinken, was wiederum zu fiskalischer Instabilität führen kann, wenn der Staat selbst zugleich mehr Ausgaben tra­ gen muss, um die Finanz- und Realwirtschaft zu stützen. Infolge der höheren Ausgaben, die durch Kreditaufnahme finanziert werden, steigt die Staatsver­ schuldung. Diese theoretisch geschilderte Art der Verflechtung beider Komplexe lässt sich an der Staatsschuldenkrise von 2009 illustrieren und gut nachvollziehen. Die europäische Währungskrise brachte mehrere Beispiele hervor, die zei­ gen, dass Staatsschulden und Finanzinstitutionen in heutiger Zeit in bedroh­ lichem Maße zusammenhängen.303 Als die Mehrheit der privaten Gläubiger Griechenlands am 09.03.2012 einen Forderungsverzicht erklärte (sog. „hair­ cut“), meldeten die vier wichtigsten Banken Griechenlands einen Verlust von mehr als 28 Milliarden Euro, der den griechischen Bankensektor an den Rand eines Zusammenbruchs brachte. Die Rettungsmaßnahmen Irlands zur Stütze seiner wichtigsten Banken, der Anglo Irish Bank, die am 31.03.2010 Rekordverluste veröffentlichte, der Allied Irish Bank und der Irish Nation­ wide Building, kosteten den Staat 64 Mrd. Euro, was 40 % des irischen Bruttosozialprodukts ausmachte. Es folgte der Eintritt Irlands unter den durch EU und IWF aufgespannten Rettungsschirm. Aktuelleres Beispiel ist die Rettung der italienischen Banken im Frühjahr 2017, mit Kosten in Höhe von 17 Milliarden Euro, obwohl diese Banken gar nicht als systemrelevant einge­ stuft waren. Schon die Rettung von eher regionalen Instituten kann dem Staat hohe Kosten auferlegen. Der Zusammenhang von fiskalischer Stabilität und Finanzmarktstabilität lässt sich daher auch an aktuellen Beispielen in der Eurokrise belegen. So lässt sich zunächst die These aufstellen, dass ein Mehr an fiskalischer Stabilität durch eine Schuldenbremse auch die Finanzmarkt­ stabilität verbessern müsste. Dagegen wird von Leisner vorgebracht, dass Schuldenbremsen, wie dieje­ nige des Grundgesetzes, ihr Ziel verfehlen und zu einer politischen Destabi­

303  Die

ersten beiden Beispiele sind Paulus, KTS 2013, S. 155, 161 ff. entnommen.

198

4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

lisierung führen würden.304 Eine politische Destabilisierung führt unweiger­ lich auch zu Finanzmarktinstabilität, was sich aus den Schilderungen der Rolle des Rechts für die Finanzmärkte ergibt. Ausgehend von der Prämisse, dass Regierungen während ihrer Legislaturperiode Schulden machen, um die vorher gemachten Versprechen zu halten und damit Wählerstimmen zu sichern, wird argumentiert, die Schuldenbremse schwäche die Regierung. ­ Durch die Schwäche der Regierung werde die Opposition gestärkt, was zu häufigen Regierungswechseln führen könne, die den Staat als solchen desta­ bilisierten. Die Erfahrung habe gezeigt, dass Ratingagenturen Staaten auch anhand ihrer politischen Stabilität bewerteten, so dass bei den folgenden ­Instabilitäten eine Herabstufung unausweichlich sei und im Folgenden die Finanzmärkte des herabgestuften Staates auch instabil würden. Richtig ist sicherlich, dass häufige Regierungswechsel nicht zur Stabilität eines Staates beitragen. Dass Schuldenbremsen wirklich ebenfalls zu politi­ scher Instabilität führen, kann dagegen nicht belegt werden. Zudem ist die Darstellung der Schuldenbremse als Destabilisierungsfaktor eine rechtspoliti­ sche These, sie gibt für die Untersuchung der Zielsetzung der Normen nichts her. Fraglich ist zudem die erste Prämisse: Ist es wirklich so, dass die Regie­ rung durch die vorgesehenen Sparbemühungen geschwächt wird? Das Errei­ chen der „schwarzen Null“ im Haushalt am Ende des Jahres wird zwar in Frage gestellt305, andererseits aber auch positiv bewertet306. Dass die Akzep­ tanz einer Regierung so stark von ihrem Ausgabeverhalten abhängt, erscheint zu weit gegriffen. Für die Akzeptanz einer Regierung gibt es eine Vielzahl an Faktoren, für welche die Einführung der Schuldenbremse nur ein Faktor ist. Zudem lässt Art. 109 Abs. 3 GG in bestimmten Situationen Ausnahmen vom Sparzwang zu, so dass die Regierung in einigen Situationen, die für das An­ sehen bei Wählern besonders bedeutsam sind, dem Sparzwang nicht unter­ liegt. Im Ergebnis stellt sich die Schuldenbremse daher nicht als ein tatsäch­ licher Destabilisierungsfaktor dar.

304  Zum

Folgenden Leisner, DÖV 2012, S. 533 ff.

305  Aus der Presse siehe z. B. http://www.zeit.de/wirtschaft/2016-11/bundeshaushalt-

2017-investitionen-zinsen-ausgaben-bildung-infrastruktur; http://www.sueddeutsche. de/wirtschaft/konjunktur-hoert-auf-die-schwarze-null-anzubeten-1.3329942; http://www. spiegel.de/wirtschaft/soziales/schwarze-null-ist-ein-deutsches-glaubensbekenntnis-a1175320.html (jeweils zuletzt abgerufen am 30.04.2020). 306  So z.  B. von Michael Hüther in einem Interview mit der Tagesschau vom 22. Oktober 2015, abrufbar unter https://www.tagesschau.de/inland/haushalt-huether102.html (zuletzt abgerufen am 30.04.2020).



B. Die Auslegung des Grundgesetzes199

b) Zusammenfassung Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass das Bekenntnis zu ausge­ glichenen Haushalten durch die Schuldenbremse mit einem Bekenntnis zur Finanzmarktstabilität einhergeht. Die Verknüpfung beider Bereiche ergibt sich aus dem engen Zusammenhang zwischen fiskalischer Stabilität und Fi­ nanzmarktstabilität. Stabile und funktionsfähige Finanzmärkte sind ein we­ sentlicher Faktor im Kampf für die Begrenzung der Staatsverschuldung. Zu­ dem sorgt die hohe Staatsverschuldung wegen mehrerer Faktoren für eine erhöhte Abhängigkeit von den Finanzmärkten. Durch rechtliche Vorgaben, die Staatsverschuldung abzubauen, kann daher auch die Abhängigkeit des Staates von den Märkten verringert werden, was dessen Handlungsspielraum zur Stabilisierung der Märkte erhöht. Hierzu passt die Tatsache, dass die Schuldenbremse unter dem direkten Eindruck der Euro- und Staatsschulden­ krise entstand, der die Finanzkrise als Auslöser vorgegangen war. Die Erfah­ rungen waren prägend, eine Begrenzung der Staatsverschuldung wird auch gefordert, um folgende Krisen zu vermeiden. c) Finanzkrisen als Ausnahmen vom Neuverschuldungsverbot? Art. 109 Abs. 3 Satz 2 GG lässt zwei Ausnahmen vom Verbot der Kredit­ aufnahme zu. Die Regelungen beschreiben ein spezifisches Notstandsverfas­ sungsrecht, das sich dadurch auszeichnet, dass vom Grundsatz des Art. 109 Abs. 3 Satz 1, dem Verbot der Nettokreditaufnahme, abgewichen werden darf. Beide Ausnahmesituationen werden durch unbestimmte Begriffe defi­ niert. Es steht daher der Auslegung offen, in welchen Situationen die Kredit­ aufnahme doch erlaubt ist. Dies hat den Hintergrund, dem Staat für verschie­ dene Situationen Handlungsspielräume zu eröffnen.307 Art. 109 Abs. 3 Satz 2 Hs. 1 GG bildet die erste Ausnahme mit der Be­ rücksichtigung einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung und bleibt damit im Rahmen der Keynes’schen Theorie. Finanz­ krisen sind mit der Vorschrift nicht gemeint, so dass sich aus ihr keine wei­ teren Schlüsse ziehen lassen und Ausführungen zur Norm an dieser Stelle entbehrlich sind. Zwar lässt der Wortlaut der Abweichung von der Normal­ lage es so aussehen, dass Finanzkrisen, die unstreitig eine Abweichung von der Normallage darstellen, umfasst wären. Die Norm soll mit ihrer Möglich­ keit, konjunkturbedingte Kredite aufzunehmen, aber eine Ausnahme vom Grundsatz ausgeglichener Haushalte darstellen und ist daher eng auszule­

307  Kloepfer, Finanzverfassungsrecht, § 8 Rn. 173; zurückhaltender hinsichtlich eines Einschätzungsspielraumes Siekmann, in: Sachs, GG, Art. 109 Rn. 77.

200

4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

gen.308 Dies spricht schon dagegen, Finanzkrisen unter die Vorschrift zu fassen. Bezug genommen wird auf die Keynes’sche Theorie, wobei nicht die Kreditaufnahme zur Stützung von in Not geratenen Finanzinstituten gemeint ist. Der Begriff der Normallage wird gesetzlich in § 5 Art. 115-G definiert: „Eine Abweichung der wirtschaftlichen Entwicklung von der konjunkturellen Normallage liegt vor, wenn eine Unter- oder Überauslastung der gesamtwirt­ schaftlichen Produktionskapazitäten erwartet wird (Produktionslücke). Dies ist der Fall, wenn das auf der Grundlage eines Konjunkturbereinigungsver­ fahrens zu schätzende Produktionspotenzial vom erwarteten Bruttoinlands­ produkt für das Haushaltsjahr, für das der Haushalt aufgestellt wird, ab­ weicht“. Die Schilderung geht nicht von einer so großen Abweichung aus, wie sie durch eine Finanzmarktkrise hervorgerufen wird, sondern von Ab­ weichungen, die sich noch im Rahmen der konjunkturellen Entwicklung halten. Zudem stellt die Legaldefinition auf die produzierende Wirtschaft ab, nicht direkt auf die Finanzmärkte. Anderes könnte für die zweite Ausnahme in Hs. 2 der Regelung gelten. Art. 109 Abs. 3 Satz 2 Hs. 2 GG macht für Krisenzeiten eine weitere Aus­ nahme von der grundsätzlichen Regelung in Art. 109 Abs. 3 Satz 1 GG. Die Krisenzeiten werden beschrieben als Naturkatastrophen oder außergewöhn­ liche Notsituationen; zusätzlich wird verlangt, dass sich der Eintritt des Zu­ standes der Kontrolle des Staates entzieht und die staatliche Finanzlage er­ heblich beeinträchtigt ist. Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG ist insoweit wortlaut­ gleich. Nicht unter die Norm fallen – schon aus systematischen Gründen – die für die Wirtschaft typischen zyklischen Konjunkturverläufe309, allerdings sollen Beeinträchtigungen der Haushaltslage aufgrund von Finanzkrisen im Umfang der Krise von 2008/2009 unter die Vorschrift fallen310. Wichtig ist diese Frage, da sich auf diesem Weg aus der Verfassung eine Aussage zu 308  G. Kirchhof, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 109 Rn. 91, 95; Korioth, JZ 2009, S. 729, 732. 309  Vgl. Begründung des Gesetzesentwurfs, BT-Drs. 16/12410, S. 11. 310  Begründung des Gesetzesentwurfs, BT-Drs. 16/12410, S. 11; siehe auch Christ, NVwZ 2009, 1333, 1336; Ekardt/Buscher, AöR 137 (2012), S. 41, 49; Heintzen, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz, Art. 109 Rn. 38; G. Kirchhof, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, Grundgesetz, Art. 109 Rn. 102; Koemm, Eine Bremse für die Staatsverschul­ dung, S. 240; Korioth, JZ 2009, 729, 733; Lenz/Burgbacher, NJW 2009, S. 2561, 2564; Waldhoff/Dieterich, ZG 2008, S. 97, 117; zurückhaltender, aber letztlich zu­ stimmend Kube, in: BK, GG, Art. 115 Rn. 195; a. A. Schwarze, DVBl 2009, 1401, 1407, allerdings in Bezug auf den Zustand „einer beträchtlichen Störung des Wirt­ schaftslebens eines Staates“ in Art. 87 Abs. 3 lit. b) EGV; siehe auch F. Kuhn, Steno­ grafischer Bericht der 18. Sitzung der Kommission vom 12.2.2009, KommProt. 18, S. 567 C ff., zitiert nach Koemm, Eine Bremse für die Staatsverschuldung, S. 112, die argumentiert, dass die Finanzkrise sich nicht der staatlichen Kontrolle entzogen habe, wie es Art. 109 Abs. 3 Satz 2 Hs. 2 GG fordert.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes201

Finanzkrisen entnehmen lässt. Zum einen wird eine Finanzkrise als beson­ dere Ausnahmesituation anerkannt, zum anderen wird klar, dass durch die Ausnahme vom Verbot der Nettokreditaufnahme Handlungen des Staates zur Bewältigung einer Krise erwartet werden. Danach könnte die Finanzmarkt­ stabilisierung, als wesentliches Mittel zur Verhinderung von Finanzkrisen, auch in staatlicher Verantwortung stehen. Dann müsste eine Finanzkrise auch tatsächlich unter die Merkmale des Art. 109 Abs. 3 Satz 2 Hs. 2 GG zu subsumieren sein. Als außergewöhnliche Notsituationen gelten nicht durch Naturkatastrophen verursachte Scha­ densereignisse von „großem Ausmaß und Bedeutung für die Öffentlichkeit, die durch Unfälle, technisches oder menschliches Versagen ausgelöst oder durch Dritte vorsätzlich herbeigeführt werden“311. Die Definition passt nur teilweise auf die Schilderung der Finanz- und Staatsschuldenkrise, die durch exogene Schocks, herrührend vom US-Immobilienmarkt, ihren Anfang nahm. Für die Aufnahme von Finanzkrisen spricht aber, dass diese für den Staat sehr schwer vorhersehbar sind und den Staatshaushalt mangels Vorbereitung auf die hohen Ausgaben stark belasten. Vor diesem Hintergrund scheint es gerechtfertigt, Art. 109 Abs. 3 Satz 2 Hs. 2 GG auch auf Finanzkrisen dieses Ausmaßes und mit einer ähnlichen Entstehungsgeschichte anzuwenden. In gewöhnlichen Konjunkturabschwüngen ist dagegen vielmehr eine antizykli­ sche Konjunkturpolitik durchzuführen, so dass die Kreditaufnahme im Ab­ schwung durch Überschüsse bei sinkender Kurve ausgeglichen wird.312 Dies muss sich schon aus Art. 109 Abs. 3 S. 2 Hs. 1 GG ergeben, der die Aus­ nahme nur für eine von der Normallage abweichende konjunkturelle Ent­ wicklung vorsieht. Ein kleiner Konjunkturabschwung liegt noch innerhalb der Normallage. Gegen die Einbeziehung von Finanzkrisen könnte dagegen ins Feld ge­ führt werden, dass Art. 3 Abs. 3 lit. b) des Stabilitäts- und Wachstumspaktes die Begriffe „außergewöhnliche Umstände (…) oder ein schwerer Konjunk­ turabschwung“ trennt und damit schweren Wirtschafts- und Finanzkrisen ei­ nen eigenen Begriffswert gibt.313 Diese fielen als schwere Konjunkturab­ schwünge nicht unter die außergewöhnlichen Umstände. Es erscheint aber wenig überzeugend, zur Auslegung des Textes des Grundgesetzes, der in dieser Form seit dem Jahr 2009 existiert, den Wortlaut des Fiskalpaktes aus dem Jahr 2012 heranzuziehen. Der Wortlaut des Fiskalpaktes deutet darauf hin, dass die Vertragsstaaten an dieser Stelle Klarheit über die darin enthalte­ nen Verpflichtungen schaffen wollten, was bei den verschiedenen Sprachfas­ 311  BT-DR

16/12410, S. 11. in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz, Art. 109 Rn. 33, 35; G. Kirchhof, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Art. 109 Rn. 89. 313  Siehe Kloepfer, Finanzverfassungsrecht, § 8 Rn. 182 f. 312  Heintzen,

202

4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

sungen, in denen der Text veröffentlicht wird, verständlich ist. Zur Auslegung der Begriffe in Art. 109 Abs. 3 Satz 2 GG gibt der Wortlaut des SWP jedoch kaum etwas her. Zudem verwendet der Fiskalpakt an anderer Stelle, in Art. 3 Abs. 1 lit. c) SWP, nur den Begriff der außergewöhnlichen Umstände, die jedoch nach der Definition in Art. 3 Abs. 3 lit. b) SWP die „schweren Kon­ junkturabschwünge“ umfassen sollen. Weiterhin kann darauf hingewiesen werden, dass das Grundgesetz nicht von „außergewöhnlichen Umständen“ spricht, sondern von „außergewöhnlichen Notsituationen“, und sich die Be­ griffe der Umstände und der Notsituation derart unterscheiden, dass eine Vergleichbarkeit in Zweifel gezogen werden kann. Zuletzt ist die Einbeziehung von Finanzkrisen vom Sinn und Zweck der Norm her geboten. Dieser ist es, in Krisenzeiten die Handlungsfähigkeit des Staates zu sichern.314 Gerade diese ist in Zeiten schwerer Finanzkrisen ge­ fährdet. Der Staat wird zu „alternativlosen“ Maßnahmen gezwungen, um drohende Folgen der Bankenzusammenbrüche abzuwehren. Finanzkrisen haben solch schwere Auswirkungen auf die Wirtschaft, dass eine Abmilde­ rung der Folgen durch Kreditaufnahme notwendig ist. Zum anderen haben staatliche Konjunkturprogramme auch die Fähigkeit, die Folgen von Krisen abzumildern315, so dass staatliche Kreditaufnahme in diesem Fall notwendig sein kann, um die schweren Folgen und ein Ausbreiten einer Finanzkrise zu verhindern. Dass sich die außergewöhnliche Notsituation nach der Formulie­ rung in Art. 109 Abs. 3 Satz 2 Hs. 2 GG der „Kontrolle des Staates entzie­ hen“ muss, schließt die Subsumtion von Finanzkrisen unter das Merkmal nicht aus. Unklar wird lediglich, wie diese Wendung praktisch gehandhabt werden kann, wenn die Verantwortungsebenen bei komplizierten Finanzkri­ sen nicht eindeutig ausgemacht werden können. Innerhalb der globalisierten Finanzwirtschaft kann allerdings in der Regel davon ausgegangen werden, dass sich der Eintritt krisenartiger Symptome der Kontrolle des deutschen Staates und seiner Organe entzieht. Zusammenfassend lässt sich daher feststellen, dass Finanz- und Wirt­ schaftskrisen wie diejenige seit 2008 von Art. 109 Abs. 3 S. 2 GG als außer­ gewöhnliche Notsituationen umfasst sind. Nicht umfasst dagegen sind vom Staat selbst verschuldete Finanzkrisen.316

314  Kube,

in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 109 Rn. 204. Staatsverschuldung und Verfassung, S. 5; Rolf Schmidt, DVBl. 2009, S. 1274, 1275. 316  Ekardt/Buscher, AöR 137 (2012), S. 41, 50; Thiele, NdsVbl. 2010, S. 89, 90. 315  Neidhardt,



B. Die Auslegung des Grundgesetzes203

d) Zwischenergebnis Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat mit Art. 109 Abs. 3 GG eine Regelung geschaffen, die als unmissverständliche Rechtspflicht den Abbau der Staatsverschuldung fordert. Mit dem Anerkenntnis, dass Finanzkrisen als außergewöhnliche Notsituationen eine Ausnahme von diesem Grundsatz dar­ stellen, wird zugleich das Ziel ausgedrückt, solche Krisen in Zukunft zu vermeiden oder zumindest die Ausmaße einer Krise klein zu halten sind. Die besondere Stellung von Finanzkrisen wird dadurch deutlich, dass die Netto­ kreditaufnahme dem Staat in einer solchen Situation gestattet wird. Umso bedeutsamer ist dies, da die Regelung 2009 unter dem Eindruck der sich anbahnenden Eurokrise entstand. Wenn dem Staat in dieser Ausnahmesitua­ tion die Kreditaufnahme gestattet wird, deutet dies darauf hin, dass zugleich Maßnahmen gefordert werden, um die Krise zu bewältigen, d. h. Stabilität auf den Finanzmärkten wiederherzustellen. Anderenfalls wäre die Ausnahme unnötig. Aus dieser Verantwortung für die Wiederherstellung von Stabilität in Zeiten der Krise ist es bis zur Verantwortung für die Stabilität zur Krisen­ prävention nicht mehr weit. Dies ergibt sich im Zusammenspiel mit den zeitlich nicht begrenzten Regelungsgehalten aus Art. 88 GG und Art. 109 Abs. 2 GG. Hinzuweisen ist darauf, dass die Staaten mit der Schuldenbremse zwar begonnen haben, ihre Schulden abzubauen, was sich zugleich positiv auf die Finanzmärkte auswirkt, allerdings keine Maßnahmen in Angriff ge­ nommen wurden, den vielbeschworenen Teufelskreis zwischen Banken- und Staatsfinanzen aufzulösen. In diesem Komplex besteht weiterer Handlungs­ bedarf. Art. 109 Abs. 3 GG lässt sich damit in zweifacher Hinsicht etwas für eine staatliche Verantwortung für Finanzmarktstabilität entnehmen. Zum einen in Form des Neuverschuldungsverbotes, das zu seiner Verwirklichung aufgrund des Zusammenhangs zwischen fiskalischer und finanzieller Stabilität auf Fi­ nanzmarktstabilität angewiesen ist, soll es nicht von vornherein zum Schei­ tern verurteilt sein. Auf die politische und ökonomische Bewertung der tat­ sächlichen Wirkungen der Schuldenbremse kommt es dabei weniger an. Für die Untersuchung relevant ist die durch die Norm verfolgte Zielrichtung. Diese liegt gerade nach den Erfahrungen der Staatsschuldenkrise in der Eu­ ropäischen Währungsunion in dem Erreichen von mehr Stabilität durch we­ niger Staatsverschuldung. Dies hängt, wie gezeigt, in wesentlichem Maße von der Finanzmarktstabilität ab, so dass die normative Wirkkraft der Rege­ lung zur Begrenzung der Staatsverschuldung sich zugleich auf die Stabilität der Finanzmärkte erstrecken muss. Zum anderen findet sich ein Weisungsgehalt in der Ausnahme vom Neu­ verschuldungsverbot nach Art. 109 Abs. 3 Satz 2 Hs. 2 Var. 2 GG.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

3. Die Kreditaufnahme des Bundes und ihre Verbindung zu den Finanzmärkten Zuletzt ist der schon angesprochene Art. 115 GG in den Blick zu nehmen. Art. 115 GG regelt die Kreditaufnahme des Bundes. In Abs. 1 wird festge­ legt, dass der Bund zur Aufnahme von Krediten, zur Übernahme von Bürg­ schaften, Garantien oder sonstigen Gewährleistungen mit Auswirkungen auf künftige Rechnungsjahre eines formellen Bundesgesetzes bedarf. Art. 115 Abs. 2 GG setzt die Vorgaben des Art. 109 Abs. 3 GG um und konkretisiert diese. Der eigenständige Regelungsgehalt des Art. 115 Abs. 2 GG ist im Ver­ gleich zu Art. 109 Abs. 3 GG gering.317 Aus diesem Absatz der Norm lassen sich daher für die vorliegende Untersuchung keine weiteren Schlüsse ziehen. Bemerkenswert ist, dass Art. 115 Abs. 1 GG im Rahmen der Euro-Ret­ tungsmaßnahmen eine wesentliche Rolle gespielt hat. Fraglich war, ob die Vorschrift der Umsetzung des europäischen Fiskalpaktes in Deutschland entgegenstand, durch den das Parlament umfangreiche Gewährleistungsüber­ nahmen für andere Eurostaaten zusicherte.318 Das Bundesverfassungsgericht entschied sich dagegen und urteilte, dass keine außergewöhnlichen Risiken für die Haushaltsautonomie bestanden. Die Maßnahmen seien daher mit Art. 115 Abs. 1 GG vereinbar.319 Der Bezug der Regelung zu Finanzkrisen und zu Maßnahmen gegen ebenjene ist daher gegeben. a) Kreditaufnahme des Bundes, Art. 115 Abs. 1 GG Die Kreditaufnahmeregelung in Art. 115 Abs. 1 GG verdient eine genauere Betrachtung im Kontext der vorliegenden Untersuchung. Die Entscheidung über die Kreditaufnahme wird dem Bundestag zugewiesen, der diese durch Bundesgesetz beschließen kann. Der Bundesrat kann lediglich Einspruch gegen dieses Gesetz einlegen. Kredit i. S. v. Art. 115 Abs. 1 GG ist jede Be­ gründung von Verbindlichkeiten zur Beschaffung von Finanzmitteln oder anderweitiger Leistungen.320 Der Begriff umfasst Finanzschulden, nicht je­ doch Verwaltungsschulden.321 Die Kredite bezieht der Staat auf den Finanz­ 317  Siehe Kube, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 115 Rn. 9; Siekmann, in: Sachs, GG, Art. 115 Rn. 28. 318  Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art.  115 Rn.  11; Kube, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 115 Rn. 241 f. 319  BVerfGE 129, 124, 167 ff. 320  Heintzen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 115 Rn. 10; Kloepfer, Finanzverfas­ sungsrecht, § 12 Rn. 6; Schenke, in: Sodan, GG, Art. 115 Rn. 2. 321  Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art.  115 Rn.  18; E. Reimer, in: BeckOK, GG, Art. 115 Rn. 15.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes205

märkten, wodurch wiederum die Verflechtung beider Komplexe offenkundig wird. Kritisch für die Refinanzierung von Staaten am Finanzmarkt ist dabei nicht die Nettoneuverschuldung, die Art. 115 Abs. 1 GG verbietet, sondern die Bruttoneuverschuldung. Diese wird errechnet, indem man von dem Be­ trag der Nettokreditaufnahmen die im gleichen Haushaltsjahr erfolgten Til­ gungen abzieht.322 Die Gläubiger stellen den Betrag der Bruttokreditauf­ nahme zur Verfügung, so dass dieser für die Finanzmärkte der entscheidende ist. Zur Kreditaufnahme benötigt der Staat funktionsfähige Finanzmärkte.323 So ist die Kreditaufnahme zum einen gestört, wenn der Staat selbst nicht mehr kreditwürdig ist, oder aber, wenn die Finanzmittel auf dem Finanz­ markt selbst nicht ausreichend sind und der Staat dadurch keine Nachfrage für seine Staatsanleihen vorfindet. Mithin lässt sich Art. 115 Abs. 1 GG, ähnlich der Argumentation zu Art. 88 GG, mittelbar eine Verantwortung für Stabilität und Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte entnehmen.324 So lässt sich abermals argumentieren, dass Art. 115 Abs. 1 GG zur Kreditaufnahme voraussetzt, dass ein funktionsfähiger Finanzmarkt vorhanden ist, auf dem der Staat Geldmittel aufnehmen kann. Aus dieser Annahme kann gefolgert werden, dass der Staat stabile Finanzmärkte gewährleisten muss, damit über­ haupt Nachfrage nach seinen Staatsanleihen bestehen kann. Entgegenhalten lässt sich dieser Argumentation, dass die Vergleichbarkeit zwischen Art. 88 GG und Art. 115 GG nicht gegeben ist. Art. 88 GG enthält einen Verfassungsauftrag zur Errichtung der Bundesbank, der ohne funk­ tionsfähige Finanzmärkte sinnlos ist. Art. 115 Abs. 1 GG enthält dagegen keinen Verfassungsauftrag zur Nettokreditaufnahme, sondern regelt das Ver­ fahren, welches der Kreditaufnahme durch den Staat vorangehen muss. Die Kreditaufnahme setzt zwar funktionsfähige Finanzmärkte voraus, womit auch diese Norm davon ausgeht, dass diese bestehen. Mangels Verfassungs­ auftrages lässt sich hieraus aber keine staatliche Verpflichtung ableiten. Im Ergebnis bleibt daher nur festzuhalten, dass Art. 115 Abs. 1 GG zwar starke Verbindungen zu den Finanzmärkten aufweist, dem Staat aber keine Pflicht und damit auch keine Verantwortung für die Funktionsfähigkeit derselben auferlegt. 322  Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 8; Neidhardt, Staatsverschuldung und Verfas­ sung, S. 16; Ohler, in: Nachhaltige Finanzstrukturen im Bundesstaat, S. 208, 216 f. 323  Thiele, Finanzaufsicht, S. 313. 324  Zurückhaltender Kaufhold, Systemaufsicht, S. 250 ff., die trotz der von ihr fest­ gestellten erheblichen Belastung durch Finanzmarktkrisen für den Staatshaushalt dem Parlament die Wahl zwischen Maßnahmen zur Abwehr der Krise und solchen zur Bewältigung von Krisen überlassen möchte, ohne es zu einer Systemrisikoabwehr zu verpflichten.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

b) Nachhaltigkeit und Finanzmärkte Aus einem anderen Blickwinkel könnte sich dennoch etwas aus Art. 115 GG für die Stabilität der Finanzmärkte ergeben. In seiner ökonomischen Ausprägung enthält Art. 115 GG in Verbindung mit Art. 109 Abs. 3 GG das Staatsziel der Nachhaltigkeit.325 Der ursprünglich aus der Forstwirtschaft stammende Begriff der „Nachhal­ tigkeit“ lässt sich definieren als Entwicklung, die den gegenwärtigen Bedarf an endlichen Ressourcen so deckt, dass spätere Generationen ihren Bedarf auch noch decken können.326 Wie bei der Schuldenbremse liegt der Hintergrund der Forderung nach nachhaltigen Strukturen in der Forderung nach Generationen­ gerechtigkeit.327 Nachhaltigkeit als Staatsziel fußt auf drei Säulen328: dem wirtschaftlichen System, der sozialen Struktur und dem Umweltziel, welches in Art. 20a GG positivrechtlich ausformuliert wurde. Diese drei Säulen, auch als „magisches Dreieck“ bezeichnet, sind in einen Ausgleich zu bringen.329 Die Bezeichnung als magisches Dreieck fußt wohl auf der Erkenntnis, dass die Ziele, wie es auch beim magischen Viereck der Fall ist, dergestalt in einem Spannungsverhältnis stehen, dass sie nicht gleichzeitig verfolgt und verwirk­ licht werden können. So kann sich positive ökonomische Entwicklung durch hohe Produktion und den dementsprechenden Ressourcenverbrauch negativ auf die Umwelt auswirken. Andersherum können Umweltschutzmaßnahmen durch Verbote das wirtschaftliche System beeinträchtigen. Ziel der Nachhal­ tigkeitsbestrebungen ist es daher, die Faktoren in einen Ausgleich zu bringen, wobei kein Ziel hinter dem anderen vollständig zurücktreten darf. Im Jahr 2006 forderten einige Abgeordnete im Wege einer Gesetzesvorlage die Aufnahme eines Art. 20b GG, der das Nachhaltigkeitsziel auch auf die ökonomischen Verhältnisse erstreckt. Auch wenn dieses Vorhaben letztlich nicht erfolgreich war, sind einige inhaltliche Ausformungen des Zieles wirt­ schaftlicher Nachhaltigkeit in das Grundgesetz in Art. 109 Abs. 3 und Art. 115 GG aufgenommen worden.330 Bedrohungen der ökonomischen 325  Heun, in: Dreier, GG, Art. 115 Rn. 11; Möstl, in: Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, S. 569, 576 f. 326  Hierzu und zur Begriffsgeschichte siehe Kahl, in: ders. (Hrsg.), Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, S. 1, 6 ff., 16 ff. und Klippel/Otto, ebd. S. 39 ff., 44 ff. 327  Vgl. Kahl, in: Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, S. 1, 25 ff.; Möstl, in: ebd., S. 569. 328  Das sog. Drei-Säulen-Konzept, siehe Kahl, in: Nachhaltige Finanzstrukturen im Bundesstaat, S. 1, 2; Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, Umweltgutach­ ten 1994, abgedruckt in BT-Drs. 12/6995. 329  Kahl, in: ders. (Hrsg.), Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, S. 1, 9. 330  Gröpl, in: Nachhaltige Finanzstrukturen im Bundesstaat, S. 125, 130; vgl. auch Neidhardt, Staatsverschuldung und Verfassung, S. 193 f.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes207

Nachhaltigkeit liegen vor allem im Faktor Staatsverschuldung. Künftige Ge­ nerationen werden durch die Nettokreditaufnahme in die Finanzierungslast „hineingeboren“.331 Nachhaltigkeit öffentlicher Finanzen ist durch eine lang­ fristig orientierte öffentliche Ausgabenpolitik auf allen Ebenen, von Kommu­ nen bis zur Europäischen Union, zu erreichen. Nach einer Definition der Europäischen Kommission liegt nachhaltige Finanzpolitik vor, wenn ein Staat langfristig die Finanzierungskosten der Staatsschuld, also Zinsen auf den Gesamtschuldenstand, zahlen kann.332 Dem Haushaltsgebaren der Bundesrepublik lag faktisch kein nachhaltiges Konzept zugrunde, stattdessen war es infolge politischer Einflüsse kurzfristig orientiert. Der Zustand des nachhaltigen Finanzgebarens des Staates soll nun durch die Begrenzung der Staatsverschuldung erreicht werden. Durch Fi­ nanzmarkt- und Wirtschaftskrisen geraten Marktteilnehmer in Probleme, die wegen ihrer Relevanz für das System vom Staat unterstützt werden müssen, wie z. B. in der letzten Krise die Hypo Real Estate. Dies betrifft insbesondere systemrelevante Banken, deren Rettung die staatlichen Haushalte belastet. Dies kann in verfassungsrechtlicher Hinsicht, insbesondere in Bezug auf die gesetzten Grenzen der Staatsverschuldung, Probleme aufwerfen.333 Die Schuldentürme, die bei der Bankenrettung angehäuft wurden, lassen sich nicht als nachhaltige Finanzpolitik beschreiben. Stattdessen regierte abermals ein kurzfristiges Konzept die Haushaltspolitik, welches auf Rettung mehrerer Euroländer abzielte. Das Kapital zur Rettung der Finanzinstitute mussten die Staaten auf den Finanzmärkten aufnehmen. Kreditaufnahmen als wesent­ liches Element staatlicher Verschuldungspolitik stehen zu dem Nachhaltig­ keitsziel in einem starken Kontrast. Hinzu kommt der Rückgang an Steuer­ einnahmen, bedingt durch die schwächelnde Wirtschaft und weitere Staats­ ausgaben, um die Nachfrage anzukurbeln und damit den Fall in die Rezession zu verhindern.334 Nach der Krise wurde die Nachfrage durch staatliche Hilfen aufrechterhalten. Zwischen 2007 und 2011 stieg daher die Staatsverschul­ dung so stark an wie seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr.335 Mithin müs­ sen Vorkehrungen für die Finanzmarktstabilität und die Nachhaltigkeit der Haushaltspolitik gemeinsam getroffen werden, da beide Bereiche miteinander zusammenhängen.336 331  Kube, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 115 Rn. 1 m.  w. N.; Pünder, in: Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. V, § 123 Rn. 3. 332  EU-Kommission, Sustainability Report 2009, S. 10; Ohler, in: Nachhaltige ­Finanzstrukturen im Bundesstaat, S. 208, 210 f. 333  Ohler, in: Nachhaltige Finanzstrukturen im Bundesstaat, S. 208, 220 f. 334  Ohler, in: Nachhaltige Finanzstrukturen im Bundesstaat, S. 208, 209. 335  Adam Tooze, Crashed, S. 284. 336  Ohler, in: Nachhaltige Finanzstrukturen im Bundesstaat, S. 208, 210.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

Das Konzept der Nachhaltigkeit ist als Staatsziel anerkannt. Hierdurch wurde die Notwendigkeit eines Wandels der staatlichen und gesellschaft­ lichen Verhaltensweisen in den Bereichen anerkannt, die das Drei-SäulenModell aufgreift. Ein ähnlicher Wandel ist im Bereich der Finanzmärkte auszumachen. Die Bedeutung stabiler Finanzmärkte für mehrere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens wurde bereits beschrieben. Die letzten Finanz­ krisen ab 2008 und 2010 haben gezeigt, dass der Staat kein nachhaltiges ­Finanzkonzept zur Bewältigung der Krisen hat. Zur Einhaltung des Nachhal­ tigkeitszieles sind stabile Finanzmärkte erforderlich. Über die Ausführungen zur Schuldenbremse hinaus gibt das Staatsziel der Nachhaltigkeit einen wei­ teren Anhaltspunkt für eine staatliche Verantwortung für die Finanzmarkt­ stabilität. c) Zwischenergebnis Die Auslegung des Art. 115 Abs. 1 GG zeigt, dass das Grundgesetz die staatlichen Organe zu Maßnahmen verpflichtet, für die der Zusammenhang von haushaltspolitischer Stabilität und Finanzmarktstabilität, wegen der wechselseitigen Abhängigkeit beider Ziele, von besonderer Bedeutung ist. Hieraus lässt sich der Schluss ziehen, dass den Staat nicht nur eine ausdrück­ liche Verantwortung zur Herstellung stabiler Staatsfinanzen, sondern auch für stabile Finanzmärkte trifft. Die Argumentation wird unterstützt durch das in Art. 115 GG und Art. 109 GG verankerte Gebot der Nachhaltigkeit. Eine wesentliche Säule dieses Konzeptes ist ökonomische Nachhaltigkeit, die sich vor allem in der Verrin­ gerung der Staatverschuldung ausdrückt. Nachhaltigkeit ist ein Staatsziel, insbesondere das Ziel ökologischer Nachhaltigkeit wurde in Art. 20a GG festgeschrieben. Dies bedeutet nicht, dass ökonomische Nachhaltigkeit ­daneben bedeutungslos ist. Die Verfolgung auch dieses Teilzieles der Nach­ haltigkeit liegt in der Verantwortung des Staates. Das Gebot ökonomischer Nachhaltigkeit enthält die staatliche Aufgabe, die zyklischen Schwankungen auszubalancieren und die Auswirkungen von exogenen Schocks auf das ­Finanzsystem gering zu halten, da Finanzmärkte durch kurzfristige Gewinn­ orientierung ihrer Akteure das Nachhaltigkeitsziel konterkarieren. Durch die Förderung der Stabilität der Finanzmärkte wird damit auch dem Nachhaltig­ keitsziel gedient.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes209

4. Ergebnis zur Auslegung der Vorschriften der Finanz- und Haushaltsverfassung unter dem Gesichtspunkt der Finanzmarktstabilität Die Untersuchung der Vorschriften der Finanz- und Haushaltsverfassung hat zunächst ergeben, dass die staatlichen Organe verpflichtet werden, das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht anzustreben und die sich aufbauende Staatsverschuldung abzubauen. Eine unmittelbare Aussage über eine Verant­ wortung für die Stabilität der Finanzmärkte findet sich in ihr nicht. Dennoch sind alle Teilbereiche des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts so eng mit der Entwicklung der Finanzmärkte verflochten, dass ihre Stabilität für die Erreichung dieser Ziele essentiell ist. Zwar stehen die Teilziele in einem Spannungsverhältnis, so dass nicht alle gleichzeitig durch eine staatliche Maßnahme gefördert werden können. Jedoch hat eine Finanzmarktkrise für alle Teilziele erhebliche negative Folgen. Funktionsfähige und stabile Finanz­ märkte wirken sich dagegen positiv auf die Teilziele aus. Im Ergebnis er­ scheint es daher gerechtfertigt, dieser Verknüpfung folgend, die Verantwor­ tung zur Förderung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts auch auf die Finanzmarktstabilität zu erstrecken. Ausgangspunkt ist auch an dieser Stelle die wechselseitige Abhängigkeit von Staat und Finanzmärkten, die Argumen­ tation erschöpft sich allerdings nicht in diesem Hinweis. Vielmehr konnte aufgezeigt werden, dass die Verpflichtungen des Staates, die sich aus dem Grundgesetz selbst ergeben, in mehrfacher Hinsicht auf stabilen Finanzmärk­ ten aufbauen. Die angesprochenen Normen der Finanzverfassung zeigen, wie stark diese Abhängigkeit ist und zugleich durch das Verfassungsrecht vorge­ geben ist. Gleichermaßen aufschlussreich in diesem Kontext ist die Einführung einer Schuldenbremse in das Grundgesetz durch die Föderalismusreform II. Die Stabilität der Finanzmärkte steht auch mit haushaltspolitischer Stabilität in einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit. Dies wurde insbesondere in der Euro- und Staatsschuldenkrise deutlich, unter deren Einfluss die neuen Regelungen entstanden. Zwar wird der Staat nicht unmittelbar verpflichtet, für Stabilität zu sorgen, jedoch lässt sich nicht von der Hand weisen, dass die Verpflichtung zum Abbau der Schulden stabile und funktionsfähige Finanz­ märkte voraussetzt. Solche sind daher vom Staat gleichermaßen als Ziel an­ zustreben. Zuletzt konnte gezeigt werden, dass stabile Finanzmärkte an das Staatsziel der Nachhaltigkeit in seiner ökonomischen Ausprägung anknüpfen. Stabile Finanzmärkte, die ihre wesentlichen Funktionen erfüllen, sind eine Grundvoraussetzung für nachhaltiges Wirtschaften. Kurzfristige, auf Speku­ lation ausgerichtete Geschäfte sorgen dagegen für Instabilität und konterka­ rieren das Nachhaltigkeitsziel.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

VII. Das Sozialstaatsprinzip und seine Verbindung zur Stabilität der Finanzmärkte Von den Staatsstrukturprinzipien337 ist insbesondere das Sozialstaatsprin­ zip in den Blick zu nehmen. In einem ersten Schritt ist allerdings die gene­ relle Verbindung zwischen Staatszielen und Staatsstrukturprinzipien und ­dabei insbesondere dem an dieser Stelle angesprochenen Sozialstaat darzu­ stellen. Die in den Artt. 1, 20 und 28 GG niedergelegten Staatstrukturprinzipien bilden die leitenden Prinzipien des Staates und der staatlichen Aufgaben­ wahrnehmung.338 Eine Verbindung zu Staatszielen und damit zu staatlicher Verantwortung wird schon dadurch hergestellt, dass die Prinzipien teilweise selbst zugleich Staatszielbestimmungen enthalten, wenn auch beide Begriffe nicht gleichzusetzen sind.339 Vor diesem Hintergrund ist es einleuchtend, Staatsstrukturprinzipien auch staatszielbildenden Charakter zuzusprechen. Ergibt sich auf diesem Weg eine staatliche Aufgabe, liegt die Erfüllung der­ selben auch in der Verantwortung des Staates. Vor diesem Hintergrund kön­ nen Staatsstrukturprinzipien eine staatliche Verantwortung für ein bestimmtes Tätigkeitsfeld (mit-)begründen, indem sie auf Weisungsgehalte in diese Richtung untersucht werden. Die Bundesrepublik Deutschland wird durch Art. 20 Abs. 1 GG zu einem „sozialen“ Staat. Die Vorschrift ist Staatszielbestimmung und normiert das soziale Staatsziel.340 Weitere Angaben zur materiellen Bedeutung der Sozial­ staatlichkeit macht das Grundgesetz nicht. Der Inhalt der Staatszielbestim­ mung bleibt daher zunächst abstrakt und bedarf der Konkretisierung.341 Die Grundprinzipien des Sozialstaatsprinzips sind soziale Sicherheit und sozialer

337  Das Wort Staatsstrukturprinzip ist der Terminologie von Stern, Staatsrecht I, S. 551 entnommen; einen Überblick über weitere Bezeichnungen für diese Prinzipien bietet Maurer, Staatsrecht I, § 6 Rn. 2, der selbst von „verfassungsrechtlichen Grund­ entscheidungen“ spricht. 338  Hesse, Grundzüge, § 4 Rn. 114; siehe auch Stern, Staatsrecht I, S. 552, der von „verfassungsrechtlichen Prinzipien, die der Staatsorganisation das Gepräge geben“, spricht, allerdings Art. 1 GG weniger als Strukturprinzip sieht, die Frage bedarf für die gegenständliche Untersuchung keiner weiteren Vertiefung; ferner Kloepfer, Ver­ fassungsrecht I, § 6 Rn. 3. 339  Kloepfer, Verfassungsrecht I, § 6 Rn. 1, 6 ff. 340  Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 (Sozialstaatsprinzip) Rn. 18; Robbers, in: BK, GG, Art. 20 Abs. 1 Rn. 1282; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 20 Rn. 98, 103. 341  BVerfGE 65, 128, 193; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20: Die Sozial­ staatlichkeit, Rn. 4.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes211

Ausgleich342 (auch als soziale Gerechtigkeit bezeichnet343). Sie sind in § 1 SGB I einfachrechtlich verankert. In der Folge begründet das Sozialstaats­ prinzip in Verbindung mit Grundrechten Schutzpflichten des Staates und da­ mit Staatsaufgaben, deren konkrete Ausgestaltung in der Hand staatlicher Organe liegt, denen ein weiter Gestaltungsspielraum zusteht.344 Ein konkreter Auftrag lässt sich dem Sozialstaatsprinzip nur dahingehend entnehmen, dass der Staat die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben zu schaffen hat.345 Aus der neueren Rechtsprechung ist die Aufgabe des Staates zur Gewährung eines angemessenen Existenzminimums beachtlich.346 Das Sozialstaatsprinzip richtet weiterhin die Aufgabe an den Staat, die Grund­ prinzipien der sozialen Sicherheit und sozialen Gerechtigkeit sowie die Voll­ beschäftigung zu fördern.347 Subjektive Rechte des Bürgers hierauf lassen sich allerdings nicht ohne weiteres, sondern nur im Zusammenspiel mit den Grundrechten herleiten348, wenngleich auch hier Zurückhaltung geboten ist, um die Regelungswirkung nicht ausufern zu lassen. Auch das Sozialstaats­ prinzip leidet teilweise daran, dass aus der Idee des Sozialstaats viele ver­ schiedene Forderungen abgeleitet werden können und es daher zur Begrün­ dung verschiedener Verpflichtungen herangezogen werden kann. Daher kön­ nen dem Sozialstaatsprinzip keine konkreten Handlungspflichten zur Herstel­ lung von sozialer Gleichheit oder Sicherheit entnommen werden.349 Interessant für die Frage der verfassungsrechtlichen Begründung eines Staatszieles der Finanzmarktstabilität ist, inwiefern die Grundziele von sozi­ aler Gleichheit und Sicherheit mit der Stabilität der Finanzmärkte korrespon­ 342  Siehe BVerfGE 94, 241, 263 ff.; 100, 271, 284; 123, 267; Bull, Staatsaufgaben, S. 178; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Art. 20 GG: Die Sozialstaatlichkeit, Rn. 17; Herzog, DVBl. 1970, S. 713, 714; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 20 Rn. 104; Starck, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. XII, § 271 Rn. 70; Stern, Staatsrecht I, S. 911 f.; zurückhaltend gegenüber einer Pauschali­ sierung auf Grundprinzipien Huster/Rux, in: BeckOK, GG, Art. 20 Rn. 212.1; ähnlich hinsichtlich der zwei an dieser Stelle ausgemachten Elemente der Sozialstaatlichkeit Michel, Staatszwecke, Staatsziele und Grundrechtsinterpretation, S. 184. 343  Stern, Staatsrecht I, S. 911. 344  BVerfGE 1, 97, 105; 82, 60, 80; 103, 242, 259; Robbers, in: BK, GG, Art. 20 Abs. 1 Rn. 1442 ff.; Schnapp, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 20 Rn. 55. 345  BVerfGE 40, 121, 144; 82, 60, 80; 110, 412, 445 f.; Sommermann, in: v. Man­ goldt/Klein/Starck, GG, Art. 20 Rn. 120. 346  BVerfGE 137, 34 ff. 347  BVerfGE 1, 97, 105; 97 169, 185; siehe weiter Sommermann, Staatsziele, S.  224 ff.; Stern, Staatsrecht I, S. 915. 348  Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 20 Rn. 28; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 20 Rn. 131. 349  Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art.  20: Die Sozialstaatlichkeit Rn. 24; W. Weber, Der Staat 4 (1965), S. 409, 415 f.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

dieren. Als Verfassungsprinzip hat das Sozialstaatsprinzip eine Ausstrah­ lungswirkung, die begründend für staatliche Pflichten sein kann. Ruffert spricht von einer „sozialpolitischen Pflicht zur Sicherung des Bankensektors“350. Von einer Pflicht zur Sicherung des Bankensektors ist es zu einer staatlichen Verantwortung für Finanzmarktstabilität, gerade wegen der Bedeutung der Stabilität des Bankensektors für ebendiese, kein allzu weiter Schritt mehr. Ob eine solche Verantwortung besteht, lässt sich nur klären, indem das Sozialstaatsprinzip auf die Verbindung zur Finanzmarkt­ stabilität untersucht wird. In diesem Kontext ist entscheidend, inwiefern dessen Grundprinzipien durch Finanzkrisen beeinflusst werden und, aus die­ ser Korrelation heraus, aus der staatlichen Pflicht zur Förderung seiner Grundprinzipien zugleich eine Pflicht zur Förderung von Finanzmarktstabili­ tät abgeleitet werden kann. 1. Soziale Gleichheit und Finanzkrisen Soziale Gleichheit beschreibt das Ziel, sozial gerechte Zustände zu schaf­ fen.351 Als Verteilungsprinzip soll es jedem Bürger eine wirtschaftliche und kulturelle Existenz auf ähnlichem Niveau gewährleisten.352 Das Grundele­ ment der sozialen Gleichheit steht in engem Zusammenhang mit dem allge­ meinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, der auch soziale Ungleichhei­ ten erfasst.353 Das Grundgesetz setzt dabei keine bedingungslose Gleichheit, auf Kosten der Freiheitsgrundrechte, voraus. Hier wird das klassische Span­ nungsverhältnis von Freiheit und Gleichheit sichtbar, welches durch die Freiheitsgrundrechte ausgestaltet wird.354 Darüber hinaus ist die Bedeutung des Begriffes der sozialen Gleichheit nicht immer eindeutig.355 Zum Zusammenhang mit Finanzkrisen und der Stabilität der Finanzmärkte: Finanzkrisen lösen Folgen aus, die dazu führen, dass eine große Anzahl der Akteure am Markt Geld verliert, und nur ein kleiner Anteil an Akteuren Ge­ winne, häufig sehr hohe, macht. Dies stellt eine Ungleichheit dar. Im Zuge der letzten Finanzkrise hat sich gezeigt, dass ein Großteil der Bürger die ungleiche Gewinnverteilung und die Aufbürdung der Kosten der Krise auf die Allgemeinheit als Verzerrung des Prinzips der sozialen Gleichheit sieht. 350  Ruffert,

NJW 2009, S. 2093, 2095. Sozialstaat, S. 134 m. w. N. 352  Zippelius/Würtenberger, Staatsrecht, § 13 I 2 S. 132 f. 353  Niedermeyer, in: BeckOK Sozialrecht, SGB I § 1 Rn. 5; Zacher, in: Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. II, § 28 Rn. 37. 354  Zacher, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. II, § 28 Rn. 41; siehe auch S. Baer, NZS 2014, S. 1 ff., 3; ausführlich Heinig, Sozialstaat, S. 171 ff. 355  Siehe Heinig, Sozialstaat, S. 135 ff. 351  Heinig,



B. Die Auslegung des Grundgesetzes213

Dies zeigt sich im Nachgang der Krise durch die Tatsache, dass sich die Börsen deutlich schneller erholen als der Arbeitsmarkt.356 Dies sind alles Folgen der Krise, die Einfluss auf die soziale Gleichheit haben. Jedoch ist die Möglichkeit, Gewinn oder Verluste zu erwirtschaften, zu­ gleich Wesensmerkmal aller Märkte. Dieser Zustand ist in der Krise zwar deutlich verstärkt, jedoch alleine kein Argument dafür, dass Finanzmärkte an sich die soziale Ungleichheit fördern. Nimmt man Friedrich von Hayeks Konzept, stehen soziale Gleichheit und Sicherheit mit der Marktfreiheit in einem fundamentalen Gegensatz.357 Wesentlicher Kritikpunkt ist, dass durch soziale Gerechtigkeit die Produktionskraft der Märkte gehemmt werde. Im Ergebnis sind die Marktergebnisse „weder gerecht noch ungerecht“358. Dem ist zumindest insoweit zu folgen, dass die Marktgesetze die soziale Ungleich­ heit nicht fördern. Vielmehr führt bestimmtes Verhalten der Marktteilnehmer dazu, dass die beschriebenen negativen Effekte eintreten. Anknüpfungspunkt für eine staatliche Verantwortung kann nicht ein sehr weit verstandenes Prin­ zip der sozialen Gerechtigkeit sein. Aus dem Prinzip sozialer Gerechtigkeit lässt sich daher keine Aussage des Sozialstaatsprinzips zu einer staatlichen Pflicht zur Stabilisierung der Finanzmärkte entnehmen. 2. Soziale Sicherheit und Finanzkrisen Soziale Sicherheit ist durch ein System staatlicher Vorsorge geprägt, das die durch verschiedene Lebensumstände eintretende Ungleichheit von Bür­ gern auszugleichen versucht.359 Entscheidend ist, dass die sozialen Risiken durch den Staat zu einem Mindestmaß abgesichert sind360 und die Herstel­ lung „erträglicher Lebensverhältnisse“361 gesichert ist. Die Erfüllung der Aufgabe „Herstellung sozialer Sicherheit“ ist an die konjunkturbedingte Fi­ 356  Buse, http://www.zeit.de/wirtschaft/2013-03/usa-einkommen-finanzkrise-sozialegerechtigkeit; ausführlich zum Zusammenhang zwischen sozialer Gleichheit und ­Finanzkrisen Bönke/Schröder, European-Wide Inequality in Times of the Financial Crisis, S. 13 f., abrufbar unter http://edocs.fu-berlin.de/docs/servlets/MCRFileNode Servlet/FUDOCS_derivate_000000004869/discpaper2015_14.pdf;jsessionid=09F046 D67E8368EB17CF3CFC7EDE9F76?hosts= (zuletzt abgerufen am 30.04.2020), die zu dem Schluss kommen, dass die soziale Ungleichheit durch die Finanzkrise ver­ stärkt wurde. 357  Hayek, Die Verfassung der Freiheit, S. 392; siehe hierzu Heinig, Sozialstaat, S.  142 ff. 358  Heinig, Sozialstaat, S. 144. 359  Zacher, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. II, § 28 Rn. 43 f.; BVerfGE 28, 324, 348 ff. spricht von der Pflicht des Gesetzgebers, die Bürger gegen die „Wechselfälle des Lebens“ abzusichern. 360  Zacher, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. II, § 28 Rn. 46. 361  BVerfGE 1, 97, 105.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

nanzkraft des Staates gebunden.362 Geht die Wirtschaftsleistung infolge von schwächelnder Wirtschaft und dadurch bedingte sinkende Steuereinnahmen zurück, kann der Staat seine Aufgabe „soziale Sicherheit“ nur unzureichend erfüllen. Bricht die Wirtschaftsleistung eines Staates infolge einer Finanz­ krise ein oder muss der Staat mithilfe steuerfinanzierter Rettungspakete Fi­ nanzinstitute retten, stehen staatliche Finanzmittel nicht mehr zur Herstellung von sozialer Sicherheit zur Verfügung. Die Verbindung zu den Finanzmärkten besteht daher, allerdings müsste hieraus auch eine Verantwortung zu folgern sein. Das Prinzip der sozialen Sicherheit hat zur Umformung des klassischen Staates zu einem Wohlfahrtsstaat beigetragen, der in Krisenzeiten einzubre­ chen droht oder zumindest gefährdet ist. So zeigt sich wiederum die enge Verknüpfung des Staates und der Finanzmärkte in für den Staat essentiellen Bereichen, deren Förderung dem Staat als Aufgabe durch das Grundgesetz zugewiesen ist. Schon in der Vergangenheit und insbesondere im 20. Jahrhundert führten Wirtschaftskrisen, mit ihren Folgen für die Bevölkerung zum Ausbau des Sozialstaates.363 Bei dieser Entwicklung ist das Sozialstaatsprinzip dyna­ misch zu verstehen; die tatsächlichen Entwicklungen sind vom Normgeber zu berücksichtigen, und die Sozialordnung ist den sich verändernden Um­ ständen anzupassen.364 Bei der gegenwärtigen Bedeutung der Finanzmärkte, gerade für die Verwirklichung des Sozialstaatsprinzip durch den Staat, kann ein Untätigbleiben dem Sozialauftrag nicht genügen. Zum Schutz der Sozial­ staatlichkeit ist daher die Förderung stabiler Finanzmärkte durch den Gesetz­ geber geboten. Allerdings lassen sich aus dieser Verbindung keine konkreten Handlungspflichten entnehmen.

362  Brenner, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, § 25 Rn. 58; Link, VVDStRL 48 (1990), S. 7, 41. 363  Robbers, in: BK, GG, Art. 20 Abs. 1 Rn. 1302, der auf das Reichsknappschafts­ gesetz von 1923, das unmittelbar unter dem Einfluss der Hyperinflation entstand, und das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung von 1927 verweist; ähnlich Droege, DVBl. 2009, S. 1415, 1418, der auf die staatlichen Reaktionen nach der Bankenkrise 1931 verweist, die den Zahlungsverkehr strenger regulierten und erstmalig eine flächendeckende Bankenaufsicht etablierten; so auch Herrmann, Wäh­ rungshoheit, S. 164, der zusätzlich auf die Einführung einer Devisenzwangsbewirt­ schaftung verweist; ferner Stern, Staatsrecht I, S. 905 zur ökonomischen Lage 1966/67 und deren Auswirkungen auf das Sozialstaatsprinzip. 364  Robbers, in: BK, GG, Art. 20 Abs. 1 Rn. 1370, zu den Grenzen Rn. 1373; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 20 Rn. 120.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes215

3. Existenzminimum und Finanzkrisen Zuletzt wird auch in einer Publikation erwähnt, dass die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums für eine Stabilisierungspflicht für die Finanzmärkte streiten könnte.365 Diese These stützt sich vor allem auf die realwirtschaftlichen Folgen einer solchen Krise, die zu „Plünderungen, Aufständen und Hungersnöte(n)“ führen könne.366 Bei Eintritt dieser Gefah­ ren, solle ein „Anspruch auf Existenzsicherung durch den Staat im Rahmen des Möglichen“ bestehen.367 Zutreffend ist, dass eine Finanzkrise durch die Folgen für die Staatsfinan­ zen auch die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums in Frage stellt. Dies war zwar in der letzten Finanzkrise in Deutschland nicht der Fall, die Zustände in Griechenland haben aber gezeigt, dass dieses Sze­ nario nicht völlig fernliegend ist. Handlungspflichten direkt an dem vom Bundesverfassungsgericht postulierten Existenzminimum festzumachen, er­ scheint allerdings etwas weitgehend. Da die staatliche Haushaltslage sich durch verschiedene Entwicklungen verschlechtern kann, ist fraglich ob die Finanzmarktstabilität willkürlich herausgehoben werden sollte. Ob der Staat seine sozialstaatlichen Verpflichtungen erfüllen kann, hängt von mehreren Faktoren ab. Dennoch ist festzustellen, dass destabilisierte Finanzmärkte die staatliche Aufgabenerfüllung auch auf dem aus dem Sozialstaatsprinzip ent­ springenden menschenwürdigen Existenzminimum erheblich erschweren können. Im Ergebnis bietet daher auch dieser Aspekt einen weiteren Anhalts­ punkt für eine staatliche Verpflichtung auf die Finanzmarktstabilität, ohne allerdings als einzelner Punkt für die Begründung eines Staatszieles auszurei­ chen. 4. Ergebnis In der Funktion als Staatsstrukturprinzip kann das Sozialstaatsprinzip wichtige Impulse für vom Staat zu bewältigende Aufgaben setzen. Wie be­ schrieben, gibt es einen wichtigen Zusammenhang zwischen Finanzmärkten und dem Sozialstaatsprinzip. Die Herausforderungen, welche die Regulie­ rung der Finanzmärkte an die Staaten stellt, müssen insbesondere im Inte­ resse einer weiterbestehenden Sozialstaatlichkeit bewältigt werden. Sie ver­ bietet es, die Finanzmärkte nach den Erfahrungen der vergangenen Krisen nach dem Laissez-Faire Prinzip zu behandeln, die Selbstregulierungskräfte 365  Egidy, Finanzkrise und Verfassung, S. 101 f., die diesen Aspekt allerdings unter die Grundrechte einordnet. 366  Egidy, Finanzkrise und Verfassung, S. 101 f. 367  Egidy, Finanzkrise und Verfassung, S. 102.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

des Marktes sind kein Garant für sozialstaatlich angestrebte Ergebnisse.368 Nach dem Versagen der Selbstregulierungskräfte der Wirtschaft ist es Auf­ gabe des Staates, die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte zu gewährleisten und die dafür notwendigen Strukturen zu schaffen. Problematisch ist aller­ dings die Weite des Sozialstaatsprinzips. So kann im Ergebnis nur festgestellt werden, dass die völlige Untätigkeit der sozialstaatlichen Verantwortung ­widersprechen würde, allerdings liegen konkrete Maßnahmen innerhalb der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers.369 Zudem folgte bereits die Ver­ pflichtung auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht aus Art. 109 Abs. 2 GG aus dem Sozialstaatsprinzip. Diese Verpflichtung ist insoweit schon als Konkretisierung anzusehen, was die Ableitung eines eigenständigen Ziel­ gehaltes aus dem Sozialstaatsprinzip erschwert.

VIII. Die Grundrechte Wie es in der Schilderung der Abhängigkeit von Staat und Finanzmärkten schon anklang, sind die Bürger von Verwerfungen auf den Finanzmärkten betroffen. In diesem Kontext stellt sich die Frage, ob die Grundrechte dem Staat Handlungspflichten auferlegen könnten, die eine staatliche Verantwor­ tung für die Finanzmarktstabilität begründen oder zumindest auf eine solche hinweisen. Während die vorangegangenen Ausführungen aus der Makroper­ spektive stammen, also vor allem auf die Verbindung zwischen dem Staat und den Finanzmärkten abzielen, geht es bei Untersuchung der Grundrechte auch um die Mikroperspektive, also die Verbindung zwischen individuellem Bürger und den Finanzmärkten. Für die Rechtfertigung der Bankenaufsicht wurde aus dieser Perspektive schon länger angeführt, dass der Einleger vor dem Verlust seiner Einlage zu schützen ist.370 Die Grundrechte kommen als Ausdruck der Gemeinwohlverpflichtung des Staates auch zur Begründung einer staatlichen Verantwortung in Betracht.371 368  Ähnlich Stern, Staatsrecht I, S. 905 in Bezug auf den allgemeinen Wirtschafts­ ablauf. 369  Vgl. Ruffert, NJW 2009, S. 2093, 2005; gegen eine Ableitung von konkreten Rechtspflichten zur Rettung von Banken aus dem Sozialstaatsprinzip Hahn, GS Geck, S. 301, 304; ferner Schott, Reaktionen des Staates, S. 92 ff., der zwar eine Pflicht zum Schutz der Bankeinlagen aus dem Sozialstaatsprinzip entnimmt, darüber hinausge­ hend aber keine Verpflichtung zur Rettung von Banken annimmt. 370  Glatzl, Geldpolitik und Bankenaufsicht im Konflikt, S. 95. 371  Vgl. Brenner, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, § 25 Rn. 44; von einer Aufgabenzuweisung durch die Grundrechte ging die Sachverständi­ genkommission von BMI/BMJ, Staatszielbestimmungen, S. 18 Rn. 3 aus; zu Grund­ rechten und Gemeinwohl siehe Anderheiden, Gemeinwohl, S. 67 ff. Von Grundrechten als Quelle von Staatsaufgaben geht ferner Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben,



B. Die Auslegung des Grundgesetzes217

Sie bilden die Grundwerte der Verfassung und sind damit die „Substanz der normativen Ordnung“372 des Grundgesetzes.373 Passend dazu beschreibt das Bundesverfassungsgericht sie als „Kern der freiheitlich-demokratischen Ord­ nung des staatlichen Lebens im Grundgesetz“374. Sie sind dafür geschaffen, einen Ausgleich zwischen privaten und öffentlichen Interessen herzustellen. Dabei weisen sie zwar in der Regel nicht direkt auf ein bestimmtes Ziel hin, dessen Erreichen der Gesetzgeber zu fördern hat; Ausnahmen finden sich z. B. in Art. 3 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 5 GG. Aber die Grundrechte geben dem Staat Aufgaben in Form der Pflicht zur Beseitigung bestimmter Zu­ stände oder zur Verringerung bestimmter Risiken. Dies sind Staatsaufga­ ben.375 Die Staatsaufgabe besteht darin, in Umsetzung einer Schutzpflicht in den betroffenen Bereichen tätig zu werden.376 In ihrer Schutzpflichtdimen­ sion weisen die Grundrechte daher auch Überschneidungen zu den Staatszie­ len auf.377 Dies schließt nicht aus, dass auch aus der abwehrrechtlichen Di­ mension Staatsaufgaben erwachsen können.378 Das Abwehrrecht enthält zwar vor allem eine negative Funktion, indem aufgezeigt wird, was der Staat nicht regeln darf, aber es enthält auch positive Staatsaufgaben, indem z. B. dem Staat aufgegeben wird, den Strafvollzug in angemessener Weise zu regeln.379 Das Bundesverfassungsgericht rückt die staatliche Schutzpflicht und den Begriff der Verantwortung in einen engen Zusammenhang.380 Die Grundrechte sind zudem von Bedeutung bei der Frage, ob sie durch Schutzpflichten eine Verpflichtung des Staates begründen können, einen Ver­ S. 113 ff., aus, dessen Überlegungen aber – anders als hier – darauf fußen, dass die Grundrechte als oberste Staatszwecke Staatsaufgabennormen seien. Unabhängig von der verschiedenen Terminologie kann aber festgestellt werden, dass die Grundrechte den Staat zum Tätigwerden verpflichten können und dies nicht lediglich im Rahmen ihrer abwehrrechtlichen Dimension, sondern auch als Schutzpflichten. 372  Stern/Sachs, Staatsrecht III/1, S. 187; ferner R. Smend, Staatsrechtliche Ab­ handlungen, S. 264, Grundrechte als „Wert- oder Güter-, (…) Kultursystem“. 373  Ausführlich Stern/Sachs, Staatsrecht III/1, S. 188 ff. 374  BVerfGE 31, 58, 73. 375  Siehe BVerwG 106, 64, 77 f.; Häberle, AöR 111 (1986), S. 595, 605; Schuppert, Staatswissenschaft, S. 315; Sommermann, Staatsziele, S. 420. 376  Brenner, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, § 25 Rn. 45; Isensee, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IX, § 191 Rn. 10. 377  Brohm, JZ 1994, S. 213, 218; D. Hahn, Staatsziele, S. 70; Schwind, Zukunfts­ gestaltende Elemente, S.  259 f.; Sommermann, Staatsziele, S.  420 f.; Weiß, Privatisie­ rung und Staatsaufgaben, S. 148. 378  So Stern, Bitburger Gespräche 1984, S. 5, 22; Weiß, Privatisierung und Staats­ aufgaben, S. 202 f.; a. A. Sommermann, Staatsziele, S. 370, 420 f. 379  Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, S. 203 f. 380  BVerfGE 53, 30, 59, 61 und 78, wo es von „staatlicher Schutzpflicht und Mitverantwortung“ spricht.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

fassungswandel aufzuhalten oder ihn zu fördern.381 Bestünden grundrecht­ liche Schutzpflichten hinsichtlich der Sicherung der Stabilität der Finanz­ märkte, kann dies auch das Verständnis anderer Normen, die auf Finanz­ marktstabilität hindeuten, beeinflussen. Eine Deutung im Sinne einer starren Verfassung, in der die Finanzmarktstabilität kaum Berücksichtigung finden darf, wäre dann nicht möglich. Bestünden keine grundrechtlichen Schutz­ pflichten, müsste der Staat sich seinen eigenen Maßnahmen eher entgegen­ stellen, d. h. weniger Regulierungsmaßnahmen zur Stabilisierung in Angriff nehmen, da die beeinträchtigten Grundrechte schwer wiegen. Es kann festgehalten werden, dass Grundrechte eine Erkenntnisquelle zur Bestimmung von Staatsaufgaben sind. Schon Art. 1 Abs. 1 GG betont die Aufgabe des Staates, die Menschenwürde zu schützen und zu achten. Dieses fundamentale Verfassungsprinzip des Art. 1 GG gibt die Linie vor, nach der die nachfolgenden Grundrechte auszulegen sind.382 Dabei ist zugleich zu beachten, dass Grundrechte Staatsaufgaben Grenzen setzen, indem sie den Bereich staatlicher Aktivitäten begrenzen. Hieran zeigt sich die Mehrdimen­ sionalität als aufgabenbegründend und -beschränkend gleichermaßen. Darüber hinaus dienen die Grundrechte dem Schutz der wirtschaftlichen Betätigung des Bürgers. Wesentlich sind Artt. 12 Abs. 1 GG, 14 GG, 9 Abs. 1 GG und die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG, die sog. Wirtschaftsfreiheiten.383 Vom Schutz der wirtschaftlichen Betätigung der Bürger ist selbstredend auch die Betätigung auf den Finanzmärkten umfasst. In den Schutzbereich fallen dabei sowohl Finanzinstitute als auch -kunden. Betroffene Grundrechtspositionen könnten sich aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG ergeben. Sie entfalten Schutzpflichten, die den Staat mittelbar verpflichten könnten, die Stabilität der Finanzmärkte zu gewährleisten.384 Hinzu kommt, dass die Grundrechte auch Grenzen für die staatliche Betäti­ gung im Wirtschaftsrecht und bei der Finanzmarktstabilisierung setzen. Problematischer gestaltet sich die – bereits kurz angesprochene – Bezie­ hung von Grundrechten und Staatszielen. Die Grundrechte sollen als Ab­ wehrrechte des Bürgers gegen den Staat eingriffsbeschränkend wirken. Aus diesem Grund erscheint es zunächst befremdlich, die Grundrechte zur ­Begründung neuer staatlicher Ziele heranzuziehen. Schwind weist darüber ­hinaus darauf hin, dass in den Landesverfassungen der neuen Bundesländer beide Bereiche bereits formal getrennt sind, indem sie in verschiedene Ab­ schnitte gegliedert werden, und schließt daraus auf das gesetzgeberische 381  U.

Becker/Kersten, AöR 141 (2016), S. 1, 34. Staatsaufgaben, S. 155; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 24 und Art. 1 Abs. 3 Rn. 55. 383  Badura, in: Merten/Papier (Hrsg.), Hdb. d. GR, Bd. II, § 29 Rn. 4. 384  Kaufhold, Systemaufsicht, S. 210; Thiele, Finanzaufsicht, S. 314 ff., 323. 382  Bull,



B. Die Auslegung des Grundgesetzes219

Bemühen, die vorrangig subjektivrechtlich wirkenden Grundrechte und die objektivrechtlich wirkenden Staatszielbestimmungen auseinanderzuhalten.385 Gleichfalls ist ihm darin zuzustimmen, dass dies nicht restlos überzeugen kann. Wie bereits beim Verhältnis zwischen Grundrechten und Staatsaufga­ ben gezeigt, geben die Grundrechte dem Staat Aufgaben auf, die in letzter Konsequenz auf ein bestimmtes Ziel hinweisen. Dieses dann als Staatsziel zu benennen, ist folgerichtig. Grundrechte sind damit die Zielbestimmungen des staatlichen Handelns schlechthin.386 Einen klar definierten Gegensatz zwi­ schen Grundrechten und Staatszielen gibt es nicht. Objektivrechtlich wir­ kende Staatziele wirken in einem Gleichklang mit dem objektivrechtlichen Gehalt der Grundrechte. Auf der anderen Seite können die Grundrechte weiterhin als Begrenzung auch der Staatsziele dienen, wobei in letzter Kon­ sequenz im Fall eines Widerstreites zweier geschützter Güter eine Abwägung vorzunehmen ist. Daher ist es möglich, aus den Grundrechten Weisungsge­ halte für eine staatliche Verantwortung zu entnehmen. Zunächst sind einige allgemeine Anmerkungen zu den Funktionen der Grundrechte zu machen, bevor die Beziehung einzelner Grundrechte zu den Finanzmärkten erläutert werden kann. 1. Die Funktionen der Grundrechte Grundrechte haben mehrere Funktionen: Abwehr-, Leistungs- und Schutz­ pflichtfunktion. Jede Ausprägung kann zur Begründung eines Staatzieles oder einer staatlichen Verantwortung dienen. Aus der Abwehrfunktion folgt die staatliche Verpflichtung, sich schützend vor die Grundrechtsbeeinträchti­ gung zu stellen. Die Verpflichtung zur Abwehr bestimmter Grundrechtsbe­ einträchtigungen kann daher auf ein Ziel hinweisen. Somit lassen sich aus der Abwehrfunktion im Einzelfall Weisungsgehalte in Richtung eines Staats­ zieles oder einer staatlichen Verantwortung entnehmen. Wesentlich für die Begründung von staatlichen Pflichten und Aufgaben ist darüber hinaus die Schutzpflichtfunktion. Dass aus Grundrechten Schutz­ pflichten entstehen können, wird gemeinhin nicht mehr bestritten.387 Dies 385  Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 258 f. mit Beispielen aus den jewei­ ligen Landesverfassungen. 386  Stern, in: Bitburger Gespräche 1984, S. 5, 22; für Grundrechte als Staatsziele ferner Sommermann, Staatsziele, S. 420 f. 387  Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung umfassend zu der Schutzpflichtdimension der Grundrechte Stellung genommen, siehe BVerfGE 24, 119, 144; 39, 1, 41 ff.; 46, 160, 164 f.; 49, 23, 53; zuletzt BVerfG, NJW 2015, S. 3708 ff.; BVerfG, NJW 2017, S. 53 ff.; ausführlich Alexy, Theorie der Grundrechte, S.  415 ff.; Badura, in: Merten/Papier (Hrsg.), Hdb. d. GR, Bd. I, § 20 Rn. 12, 20 ff.; Calliess, in: Merten/Papier (Hrsg.) Hdb. d. GR, Bd. II, § 44 Rn. 4 ff.; Isensee, in:

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

klingt schon in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, in der Formulierung „zu achten und zu schützen“, an und ergibt sich aus der Funktion der Grundrechte als objek­ tive Werteordnung. Anders als im Rahmen der abwehrrechtlichen Funktion geht es nicht um die Abwehr staatlicher Eingriffe, sondern um ein subjek­ tives Recht des Bürgers gegenüber dem Staat, Eingriffe Dritter in eigene Grundrechte zu verhindern. Wenn die generelle Möglichkeit des Bestehens von Schutzpflichten geklärt ist, ist im Einzelfall zu prüfen, ob die Grundrechtsbeeinträchtigung konkret das Eingreifen einer Schutzpflicht erfordert, und darauffolgend, wie weit die Pflicht reicht. Dabei ist auch zu prüfen, welches Handeln konkret erforder­ lich ist. Besteht eine Pflicht des Staates, richtet sich diese nach Art. 1 Abs. 3 GG an alle drei Gewalten. Bei Umsetzung der Schutzpflicht steht ihnen ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu.388 Dieser gestaltet es im Einzelfall schwierig, konkrete staatliche Pflichten zu begrün­ den. Eine echte Handlungspflicht oder Gesetzgebungspflicht kann nur in seltenen Fällen angenommen werden, das staatliche Mittel zur Erfüllung der Schutzpflicht muss lediglich effektiv sein.389 Wegen des weiten Einschät­ zungsspielraumes kann eine konkrete Handlungspflicht regelmäßig nur be­ gründet werden, wenn es nur ein effektives Mittel zum Schutz der grund­ rechtlich geschützten Rechtsgüter gibt.390 Wenn konkrete Handlungspflichten nicht begründet werden können, ist eine allgemeine Handlungspflicht gege­ ben. Es besteht also eine Überschneidung mit Staatszielen, welche ebenfalls Handlungspflichten begründen können. Primär angesprochen ist die legisla­ tive Gewalt. Um eine staatliche Verantwortung für die Finanzmarktstabilität mithilfe grundrechtlicher Schutzpflichten zu begründen, ist es daher notwendig, dass die Schutzpflichten dem Staat Aufgaben aufgeben, die auf ein bestimmtes Ziel hinweisen. Aus der Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte könnten sich demnach Weisungsgehalte ableiten lassen, die auf ein Staatsziel oder staatliche Verantwortung hinweisen.391 ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IX, § 191 Rn. 146 ff.; ders., Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 27 ff.; Stern, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, Einl. Rn. 66 ff.; aktuell zu dieser Thematik Knebel, Die Drittwirkung der Grundrechte und -freiheiten gegenüber Privaten, S. 47 ff. 388  BVerfGE 77, 170, 214; 96, 56, 64; 121, 317, 356; 133, 59, 76; Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. IX, § 191 Rn. 293, ders., Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 38 ff.; Stern/Sachs, Staatsrecht III/1, S. 950; Störring, Untermaßver­ bot, S.  73 ff. 389  Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 422. 390  Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 422. 391  Michel, Staatszwecke, Staatsziele und Grundrechtsinterpretation, S. 230 f.; vgl. auch Hesse, EuGRZ 1978, S. 427, 433, 438.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes221

2. Die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG als Auftrag zur Stabilisierung der Finanzmärkte Die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG spielte für mehrere ange­ wendete oder zumindest angedachte Stabilisierungsmaßnahmen im Rahmen der Finanzkrise eine Rolle. So z. B. bei der Verstaatlichung von Banken, dem aktienrechtlichen „Squeeze-Out“ und der Frage nach Entschädigungen für staatliche Eingriffe in Aktionärspositionen392. In diesen Fragen geht es um die abwehrrechtliche Dimension der Eigentumsfreiheit, in Anspruch genom­ men durch Akteure auf dem Finanzmarkt. Es wird deutlich, dass Art. 14 Abs. 1 GG bestimmte Positionen schützt, auf die sich Marktteilnehmer beru­ fen können. Daneben werden einfachgesetzliche Normen mit dem gesetzge­ berischen Ziel geschaffen, die Stabilität der Finanzmärkte zu sichern. So findet sich in der Gesetzesbegründung zu § 3 KWG, der das Eigengeschäft (§ 1 Abs. 1a Satz 3 KWG) und den Eigenhandel verbietet, das „die Abtren­ nung riskanter Geschäfte von solchen mit Kunden kann die Solvenz der ­In­stitute und eine nachhaltige Stabilisierung der Finanzmärkt sichern“393. Art. 14 Abs. 1 GG schützt darüber hinaus Positionen von Anlegern auf Kapitalmärkten. Wertpapiere im Sinne des § 2 Abs. 1 WpHG sind als vermö­ genswerte Positionen im Sinne eines Ausschließlichkeitsrechts vom Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG umfasst,394 wobei auf die Besonderheiten der Aktie sogleich eingegangen wird. Ein Schutz vor Kursverlust besteht in der Regel nicht.395 Bei einer Aktie sind auch die einzelnen Faktoren, die den Wert be­ stimmen, nicht geschützt.396 Da Abwehrrechte also wohl nur im Falle eines totalen Kursverlustes ausgelöst und damit den Staat zum Abstellen der Grundrechtsbeeinträchtigung verpflichten würden, ist es erforderlich, nach weiteren Anhaltspunkten in Art. 14 GG zu suchen, die auf eine Pflicht zur Finanzmarktstabilisierung hinauslaufen. Im Folgenden soll es darum gehen, aus Art. 14 Abs. 1 GG weitere Rechte herzuleiten, die auf einen staatlichen Auftrag zur Finanzmarktstabilisierung 392  Papier,

WM 2009, S. 1869, 1870. Drs. 17/12601, S. 2; näher hierzu Mendelsohn, Systemrisiko und Wirt­ schaftsordnung im Bankensektor, S. 257 ff. 394  BVerfGE 105, 17, 30; Benighaus, Staatshaftung für fehlerhafte Aufsicht im Bereich des Kapitalmarkts, S. 45; Papier/Shirvani, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 313; für das Anteilseigentum grundlegend BVerfGE 14, 263, 276; für das in der Aktie verkörperte Anteilseigentum BVerfGE 100, 289, 291; ausführlich hierzu M. Müller, Finanzmarktstabilisierung und Anlegereigentum, S. 83 ff. und zum Eigen­ tumsrecht an Aktien S. 98 ff. 395  Benighaus, Staatshaftung für fehlerhafte Aufsicht im Bereich des Kapital­ markts, S.  51 f.; Papier/Shirvani, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 313. 396  BVerfGE 132, 99, 122; Papier/Shirvani, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 310. 393  BT

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

hindeuten. Dies mag auf den ersten Blick paradox wirken, da ein Grundrecht zur Verteidigung gegenteiliger Positionen herangezogen wird. Dass aber auch mehrere Träger eines Grundrechts sich gegenseitig in demselben Grundrecht einschränken, gehört zum Wesen eines Grundrechts wie der Eigentumsfrei­ heit, das in keinem Fall absolut gelten kann. Die Eigentumsfreiheit setzt ­gerade in Art. 14 Abs. 2 GG durch den Verweis auf die Sozialbindung des Eigentums eine besondere Verantwortung des einzelnen Grundrechtsträgers voraus.397 Das Eigentum muss so genutzt werden, dass es dem Allgemein­ wohl dienlich ist. a) Die Abwehr systemischer Risiken Der Schutzbereich von Art. 14 Abs. 1 GG umfasst nicht nur das zivilrecht­ liche Eigentum, sondern jede dem Einzelnen im Sinne eines Ausschließlich­ keitsrechts zustehende Rechtsposition.398 In seiner abwehrrechtlichen Funk­ tion ist Art. 14 GG in der hier interessierenden Frage nicht betroffen. Es fehlt schlicht an einer relevanten Schutzposition. Finanzkrisen lösen zwar Wert­ verluste von Finanzprodukten aus, diese ist der Staat aber nicht abzuwehren verpflichtet. Es wird lediglich eine Gewinnerwartung enttäuscht. Dass Ge­ winnerwartungen nicht eintreten, gehört zum Risiko eines jeden Anlegers.399 Das reine Vermögen ist von Art. 14 Abs. 1 GG nicht geschützt.400 Da sich im Zusammenhang mit Finanzmärkten auch keine Leistungsrechte aus Art. 14 Abs. 1 GG ergeben, ist eine mögliche Schutzpflicht zu thematisieren. Grund­ sätzlich lassen sich aus Art. 14 GG Schutzpflichten ableiten, aus denen Staatsaufgaben erwachsen können.401 Zur Begründung einer konkreten staatlichen Schutzpflicht für die Finanz­ marktstabilität ist der Ansatz Kaufholds zu diskutieren. Wie die Finanzkrise 2008 gezeigt hat, sind es die systemischen Risiken, die Krisen im Finanz­ sektor entstehen lassen und für die Ausbreitung der Krise auf andere Wirt­ schaftszweige verantwortlich sind. Der Staat muss diese dem Finanzmarkt 397  Papier,

WM 2009, S. 1869, 1872 f. F. Becker, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, Art. 14 Rn.  39 ff.; Wieland, in: Dreier, GG, Art. 14 Rn. 48. 399  Kaufhold, Systemaufsicht, S. 215 f.; Thiele, Finanzaufsicht, S. 321 f.; vgl. auch Isensee, Gemeinwohl, S. 90: „Die Grundrechte eröffnen die Chance des Wettbewerbs, aber auch dessen Risiko …“. 400  BVerfGE 4, 7, 17; 75, 108, 154; 95, 267, 300. 401  BVerfGE 114, 1, 56; Axer, in: BeckOK, GG, Art. 14, Rn. 22; F. Becker, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, Art. 14 Rn. 140 ff.; Depenheuer/Froese, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 14 Rn. 98; Wieland, in: Dreier, GG, Art. 14 Rn. 195; anders wohl für den Bereich der Einlagensicherung Schott, Reaktionen des Staates, S.  96 f. 398  Ausführlich



B. Die Auslegung des Grundgesetzes223

inhärenten Systemrisiken gering halten, um Ausbruch und Verbreitung von Finanzkrisen zu vermeiden. Art. 14 GG gewährt Schutzpflichten zugunsten privater An- und Einleger, die sich – nach umstrittener Auffassung – in Staatshaftungsansprüchen bei fehlerhafter Bankenaufsicht ausdrücken können.402 Während im Jahr 2000 das LG Bonn die Einlagensicherungs-Richtlinie (94/19/EWG), die von der Bundesrepublik nicht fristgerecht umgesetzt wurde, als Anspruchsgrundlage eines solchen Anspruches heranzog, verneinte der EuGH in seinem Urteil in der Rechtssache Paul u. a./Deutschland einen Anspruch der von einer Ban­ keninsolvenz betroffenen Einleger aus dem Gemeinschaftsrecht.403 Im We­ sentlichen geht es um den Haftungsausschluss in Art. 4 Abs. 4 FinDAG (§ 6 Abs. 4 KWG a. F., der auch schon vom LG Bonn herangezogen wurde, um einen weitergehenden Anspruch aus § 839 BGB abzulehnen404; insofern ver­ gleichbar ist § 3 Abs. 3 BörsG, wonach die Börsenaufsicht die ihr zugewie­ senen Aufgaben nur im öffentlichen Interesse wahrnimmt), wonach die BaFin ihre Aufgaben nur im öffentlichen Interesse wahrnimmt und es damit an einer drittschützenden Pflicht i. S. d. § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG fehlt. Zu er­ gänzen ist, dass die BaFin nunmehr selbst gem. § 18 Abs. 1 FinDAG für gegen sie gerichtete Staatshaftungsansprüche haftet. Dass die Bankenaufsicht im öffentlichen Interesse wahrgenommen wird, leuchtet unmittelbar ein. Auch in dieser Untersuchung wurde darauf verwiesen, dass die Finanzmarkt­ stabilität im öffentlichen Interesse liegt. Die Bankenaufsicht dient gleichzei­ tig zu einem nicht unwesentlichen Teil der Finanzmarktstabilität, so dass auch diese vor allem im öffentlichen Interesse wahrgenommen wird. Trotz­ dem gibt es durch die Einleger auch private Interessen an einer funktionie­ renden Bankenaufsicht, wenngleich ein Staatshaftungsanspruch gesetzlich 402  So nach dem Urteil des LG Bonn, NJW 2000, S. 815, allerdings ohne eine Schutzpflicht aus Art. 14 Abs. 1 GG anzunehmen; H. Cremer, JuS 2001, S. 643, 649; Schenke/Ruthig, NJW 1994, S. 2324 ff.; zurückhaltend Binder, WM 2005, S. 1781, 1787 f.; a. A. Thiele, Finanzaufsicht, S. 356 ff. 403  EuGH, Urt. v. 12.10.2004, C-222/02, Paul u. a./Deutschland, Slg. 2004, I-9425; hierzu Binder, GRP 2005, S. 28 ff.; Häde, EuZW 2005, S. 29 ff.; historische Übersicht bei Böhme, Staatshaftung für fehlerhafte Bankenaufsicht nach deutschem und euro­ päischem Recht, S. 31 ff. Grundlegend waren die Urteile des BGH zu Wetterstein, BGHZ 74, 144, 147 ff., und Herstatt, BGHZ 75, 120, 122 ff. 404  LG Bonn, NJW 2000, S. 815, 820, wobei auch die Ansicht von Schenke/Ruthig, NJW 1994, S. 2324 aufgegriffen und abgelehnt wird; für die Nichtigkeit der Norm wegen eines Verstoßes gegen Art. 34 GG argumentieren Benighaus, Staatshaftung für fehlerhafte Aufsicht im Bereich des Kapitalmarkts, S. 156 f.; Papier, in: Maunz/Dü­ rig, GG, Art. 34 Rn. 188 ff.; dagegen Häde, EuZW 2005, S. 39, 40. Der BGH hat sich für die Verfassungskonformität der Norm entscheiden, BGHZ 162, 49 ff.; ebenso Thiele, Finanzaufsicht, S. 363. Ausführlich zu dieser Problematik Böhme, Staatshaf­ tung für fehlerhafte Bankenaufsicht nach deutschem und europäischem Recht, S. 38 ff., der einen Verfassungsverstoß ablehnt.

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4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

durch die genannten Normen ausgeschlossen ist. Gegen einen Anspruch kann argumentiert werden, dass dieser sich risikoerhöhend auf die Finanzmärkte auswirkt, wenn die Akteure einen solchen als zusätzliche Sicherheit wahr­ nehmen und so moral-hazard-Verhalten entsteht.405 Unabhängig davon, wie die konkrete Entscheidung ausfällt, zeigt sich auch in der Problematik der Staatshaftung für fehlerhafte Bankenaufsicht, dass Art. 14 GG durchaus Vor­ gaben für die Finanzmarktstabilität macht. Eine Schutzpflicht setzt lediglich voraus, dass der Staat tätig wird und dabei nicht das erforderliche Schutz­ niveau unterbietet. Wenn durch § 4 Abs. 4 FinDAG Staatshaftungsansprüche ausgeschlossen sind, bedeutet dies nicht zugleich, dass Art. 14 Abs. 1 GG keine Schutzpflicht hinsichtlich einer Bankenaufsicht enthält, sondern dass der Gesetzgeber dieser nicht durch einen Staatshaftungsanspruch nach­ kommt.406 Bei der Diskussion um eine Haftung ist zu beachten, dass allein die mikro­ ökonomischen Risiken zugunsten privater Sparer abzuwenden eine Finanz­ marktkrise nicht verhindern kann. Ebenso kann die Ausbreitung auf die Wirtschaft nicht verhindert werden. Folglich geht es nach Kaufhold auch im Wesentlichen nicht um Schutzpflichten gegenüber einzelnen Bankkunden oder Unternehmen, sondern um den Schutz vor Systemrisiken.407 Durch eine staatliche Schutzpflicht zur Abwehr systemischer Risiken wäre ein wesent­ licher Schritt zu mehr Stabilität auf den Finanzmärkten getan. Die Abwehr systemischer Risiken durch den Staat ist auch notwendig, um die von diesen ausgehenden Effekte auf die Finanzmärkte zu minimieren. Einzelne Akteure seien hierzu nicht in der Lage, da die Risiken gerade durch die Verflechtun­ gen der Akteure untereinander und ihr Verhalten entstehen.408 In dieser Rela­ tion sei eine „risikospezifische Erweiterung des Schutzbereichs von Art. 14 Abs. 1 GG“409 gerechtfertigt und der Staat verpflichtet, die Akteure auf dem Finanzmarkt vor den systemischen Risiken und ihren Folgen zu schützen.410 Festzuhalten ist daher zunächst, dass sich das Bestehen einer Schutzpflicht zur Abwehr von Systemrisiken juristisch begründen lässt. Mit der Annahme einer Schutzpflicht ist jedoch noch nicht ihr Umfang geklärt. Sicher ist lediglich, dass der Staat, um einen Verstoß gegen das Un­ 405  Thiele,

Finanzaufsicht, S. 353 ff. BGHZ 162, 49, 63 f. 407  Kaufhold, Systemaufsicht, S. 219 f. 408  Kaufhold, Systemaufsicht, S. 220 f. 409  Kaufhold, Systemaufsicht, S. 226; ähnlich M. Müller, Finanzmarktstabilisie­ rung und Anlegereigentum, S. 125. 410  Kaufhold, Systemaufsicht, S.  227; eine „eingeschränkte Handlungspflicht“ sieht auch Egidy, Finanzkrise und Verfassung, S. 102. Von einer Verletzung der Schutzpflicht, wenn trotz akuter Gefährdungslage durch den Staat nichts unternom­ men wird, gehen ferner Ewer/Behnsen, NJW 2008, S. 3457, 3462, aus. 406  Vgl.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes225

termaßverbot zu vermeiden, nicht gänzlich untätig bleiben darf. Wie bereits erwähnt, steht den staatlichen Organen bei der Wahl des richtigen Mittels zur Erfüllung der Schutzpflicht ein weiter Einschätzungs- und Gestaltungsspiel­ raum zu. Für die hier angesprochene Verpflichtung zum Schutz vor systemi­ schen Risiken der Finanzmärkte muss dies in besonderem Maße gelten. Die Finanzmärkte sind von einer so hohen Komplexität, dass Vorhersagen, wie diese sich in Zukunft entwickeln, auch von Experten schwer zu treffen sind. Demzufolge ist auch die richtige Methode zur Wahrnehmung einer staat­ lichen Pflicht zur Abwehr dieser Risiken schwer zu finden. Wichtig für eine Erfüllung der Pflicht ist vor allem, dass die staatliche Maßnahme Beeinträch­ tigungen sowohl der Bankkunden als auch der Kredit- und Finanzinstitute abwehrt.411 Im Ergebnis ist daher zwar eine Schutzpflicht zur Abwehr von Risiken anzunehmen, eine Pflicht zur Vornahme bestimmter Handlungen er­ gibt sich daraus aber nicht. Es besteht lediglich eine allgemeine Handlungs­ pflicht. Jedoch lässt sich aus der Annahme einer Schutzpflicht das Ziel des Staates herleiten, diese auch zu verwirklichen. Verpflichtet Art. 14 Abs. 1 GG den Staat zur Abwehr systemischer Risiken auf dem Finanzmarkt, erfordert dies Maßnahmen, um die Stabilität der Finanzmärkte zu gewährleisten. Dem aus Art. 14 Abs. 1 GG abgeleiteten Schutzauftrag vor systemischen Risiken der Finanzmärkte ist daher das staatliche Ziel der Finanzmarktstabilisierung in­ härent. Auf diesem Weg kann auch die auferlegte Schutzpflicht erfüllt wer­ den. Zugleich erscheint dies als der effektivste Weg, dem Schutzauftrag zu genügen, ohne das Untermaßverbot zu verletzen. Konkrete Pflichten zur Stabilisierung der Märkte, wie etwa die Verbesserung bestehender Aufsichts­ strukturen, die Erhöhung von Eigenkapitalanforderungen, das Verbot be­ stimmter Wertpapiere und ihres Handels oder die Einrichtung einer Finanz­ transaktionssteuer werden nicht vorgegeben, sind aber in diesem Detailreich­ tum nicht notwendig. Die Schutzpflicht aus Art. 14 Abs. 1 GG weist darauf hin, dass die Finanzmarktstabilität in staatlicher Verantwortung liegt. Ruffert argumentiert zudem mit einer grundrechtlichen Schutzpflicht auf­ grund einer Ingerenzhaftung, da die Finanzmarktkrise durch Aufsichtsmängel mitverursacht worden sei.412 Dies begründe aber keine staatliche Verantwor­ tung, sondern lediglich einen haftungsbewehrten Anspruch auf effektive Aufsicht.413 Hintergrund ist, dass die Systemrettung durch den Staat alleine 411  Kaufhold, Systemaufsicht, S. 228; im Ergebnis ebenso eine Schutzpflicht, je­ doch ohne konkrete Handlungspflichten sieht Thiele, Finanzaufsicht, S. 330, 332; vgl. auch Ruffert, NJW 2009, S. 2093, 2095. 412  Ruffert, NJW 2009, S. 2093, 2095; ablehnend Schott, Reaktionen des Staates, S.  99 f. 413  Ruffert, NJW 2009, S. 2093, 2095.

226

4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

nicht möglich sei.414 Der ersten Prämisse von Ruffert ist zuzustimmen, aus Art. 14 Abs. 1 GG ergibt sich ein Anspruch auf eine effektive Aufsicht. Dass die Systemrettung durch den Staat alleine nicht möglich ist, ist aber kein Argument gegen die Annahme einer staatlichen Verantwortung. Es wurde an anderer Stelle bereits ausgeführt, dass es für die Wahrnehmung einer solchen genügt, wenn der Staat zumindest Maßnahmen ergreift, die das angestrebte Ziel fördern. Maßnahmen, die der Finanzmarktstabilität förderlich sind, kann der Staat ergreifen, ohne dass Unmögliches von ihm verlangt wird. Mit Ruf­ ferts Ansatz einer „Ingerenzhaftung“ lässt sich also durchaus auch in Rich­ tung einer staatlichen Verantwortung argumentieren. Weiterhin ausgehend von einem Aspekt einer Systemrisikoabwehr lässt sich diskutieren, ob der Staat schon die Entstehung systemrelevanter Institute verhindern müsste.415 Gerade vor dem Hintergrund, dass im Frühjahr 2019 eine Fusion der beiden größten deutschen Banken, der Deutschen Bank und der Commerzbank, diskutiert wurde, die nach (dementierten) Medienberich­ ten416 u. a. vom Bundesfinanzminister unterstützt wurde. Eine solche Verpflichtung würde jedoch den Schutzgehalt des Eigentums­ grundrechts überschreiten. Für eine derartige Schutzpflicht spricht zwar, dass die Sozialpflichtigkeit des Eigentums bei Aktionären von systemrelevanten Instituten besonders beachtet werden müsse,417 so dass im Zweifelsfall das Interesse an der Fusion hinter die Interessen der Steuerzahler im Falle einer Insolvenz zurücktreten dürften. Allerdings lassen sich für eine Fusion oder ein Hineinwachsen in die Systemrelevanz nicht nur die damit einhergehende Rettungsgarantie anführen. Fusionen können ebenfalls wirtschaftlich ver­ nünftigen Gesichtspunkten folgen. Das Wirtschaftssystem ist auf Wachstum ausgelegt, was nicht durch die Herleitung einer Schutzpflicht aus Art. 14 GG, gerichtet auf die Verhinderung systemrelevanter Institute, sanktioniert wer­ den sollte. b) Die Verpflichtung zur Wahrung einer stabilen Geldordnung Der Regelungsgehalt von Art. 14 Abs. 1 GG ist hiermit noch nicht er­ schöpft. Umstritten ist, ob aus der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG die Verpflichtung des Staates zur Wahrung einer stabilen Geldordnung ent­ nommen werden kann, die jedoch kein subjektives Recht begründe, gegen 414  Ruffert,

NJW 2009, S. 2093, 2095. Frage wird u. a. von Kindler, NJW 2010, S. 2465, 2467 aufgeworfen. 416  Exemplarisch Stelter, Die Zwangsfusion, die niemandem nützt, 19.03.2019, in Cicero, abrufbar unter https://www.cicero.de/wirtschaft/deutsche-bank-commerzbankfusion-banken-olaf-scholz (zuletzt abgerufen am 30.04.2020). 417  Droege, DVBl. 2009, S. 1415, 1420; Voland, NZG 2012, S. 694, 696. 415  Die



B. Die Auslegung des Grundgesetzes227

inflationsfördernde Maßnahmen des Staates vorzugehen.418 Das Bundesver­ fassungsgericht ließ diese Frage in seiner Entscheidung zum EFS offen.419 Dies ist vor dem Hintergrund interessant, dass Finanzmärkte und die Geld­ ordnung vielfach miteinander verwoben sind. Diese Tatsache wurde oben beim Zusammenhang zwischen Finanzmarktstabilität und Preisstabilität schon deutlich. Aus der Verpflichtung zur Wahrung einer stabilen Geldordnung könnte sich also ein weiteres Indiz für eine staatliche Verantwortung für die Stabili­ tät der Finanzmärkte ergeben, wenn man davon ausgeht, dass Finanzmarkt­ stabilisierung auch der Währungsstabilisierung nach den Erfahrungen der letzten Finanzkrise vorangeht. Gegen eine weitere Pflicht zur Wahrung der Geldwertstabilität nach Art. 14 Abs. 1 GG wird allerdings vorgebracht, dass der Staat dieser grundsätzlichen Verpflichtung durch Errichtung einer unabhängigen Bundesbank nach Art. 88 Satz 1 GG nachgekommen sei, deren Hauptaufgabe gem. § 3 BBankG darin besteht, die Binnenkaufkraft des Geldes zu stärken.420 Dies gilt umso mehr, nachdem die Bundesbank als Teil des Europäischen Systems der Zentralban­ ken (ESZB) gem. Art. 127 Abs. 1 Satz 1 AEUV vorrangig darauf verpflichtet ist, die Preisstabilität zu gewährleisten. Darüber hinaus besteht Einigkeit da­ rüber, dass die Kaufkraft des Geldes am wirksamsten durch eine unabhängige Zentralbank geschützt werden kann.421 Wenn man dem Gesetzgeber bei Er­ füllung der Schutzpflicht einen weiten Handlungsspielraum gewährt, lässt sich dieser Argumentation wenig entgegenhalten. Hinzu kommt, dass die Bundesbank ihre Aufgabe, den Geldwert stabil zu halten, seit ihrer Gründung erfüllt hat, weshalb unklar bleibt, ob Art. 14 Abs. 1 GG wirklich herangezo­ gen werden kann. 418  Zustimmend zum Bestehen eines subjektiven Rechts Herrmann, Währungsho­ heit, S.  345 ff.; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 186; ablehnend F. Becker, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, Art. 14 GG Rn. 102; Depenheuer/Froese, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 14 Rn. 160 ff.; Hahn/Häde, Währungsrecht, § 9 Rn. 33 ff. und Häde, WM 2008, S. 1717, 1720 ff.; ablehnend gegenüber der Ga­ rantie des Geldwertes generell Ruffert, NJW 2009, S. 2093, 2094; zustimmend für den heutzutage eher theoretischen Fall einer Hyperinflation: R. Schmidt, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. V, § 117 Rn. 23; Weikart, Geldwert, S.  205 ff.; Wieland, in: Dreier, GG, Art. 14 Rn. 69; offen gelassen von BVerfGE 50, 57, 107. 419  BVerfGE 129, 124, 173 f. „ob und, wenn ja, unter welchen näheren Umständen die Kaufkraft des Geldes vom Schutzbereich des Art. 14 I GG umfasst ist, muss hier nicht entschieden werden“; so auch Herrmann, Währungshoheit, S. 342, zur bisheri­ gen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 420  Thiele, Finanzaufsicht, S. 330. 421  Endler, Europäische Zentralbank und Preisstabilität, S. 213  ff.; Häde, WM 2008, S. 1717, 1724.

228

4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

Im Übrigen ergeben sich gegenüber den vorherigen Ausführungen zur Stabilität des Geldwertes im Rahmen der Untersuchung zu Art. 88 GG keine Besonderheiten. c) Zwischenergebnis zu Art. 14 GG Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass Art. 14 Abs. 1 GG dem Staat auferlegt, gegen systemische Risiken im Finanzsektor vorzugehen, so­ weit diese eine Gefahr für die von der Eigentumsgarantie erfassten Schutz­ güter von Unternehmen des Finanzsektors und deren Kunden bedeuten. Der Staat hat aus dieser Schutzpflicht folgend die Aufgabe, gegen die drohenden Beeinträchtigungen vorzugehen. Eine konkrete Handlungspflicht lässt sich dieser Schutzpflicht nicht entnehmen. Hierfür fehlt es an der nötigen Klar­ heit, welche Maßnahmen konkret für Stabilität auf den Finanzmärkten sor­ gen. Aus den verschiedenen in Betracht kommenden Strategien muss der Staat eine effektive auswählen. Weitere Vorgaben können der Schutzpflicht nicht entnommen werden. Entnehmen lässt sich dennoch ein Weisungsgehalt in Richtung einer staat­ lichen Verantwortung für die Finanzmarktstabilität. Art. 14 Abs. 1 GG ver­ langt von den staatlichen Organen, zum Schutz der Grundrechte gegen die systemischen Risiken auf den Finanzmärkten vorzugehen. 3. Die Berufsfreiheit Art. 12 Abs. 1 GG a) Schutzpflicht Art. 12 Abs. 1 GG schützt den Beruf, der gemeinhin als fortdauernde Tä­ tigkeit, die der Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage dient und nicht schlechthin gemeinschädlich ist, beschrieben wird.422 Eine staatliche Schutzpflicht kann grundsätzlich auch aus der Berufsfreiheit gem. Art. 12 Abs. 1 GG hergeleitet werden, wenn der Schutzbereich durch einen Dritten beeinträchtigt wird.423 Für die vorliegende Untersuchung sind nur die Interdependenzen der Be­ rufsfreiheit zu den Finanzmärkten und deren Krisen relevant. Zunächst müsste zur Begründung einer staatlichen Schutzpflicht der Schutzbereich 422  BVerfGE 7, 377, 397; 105, 252, 265; 110, 304, 321; 115, 276, 300; Kämmerer, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 12 Rn. 15; Mann, in: Sachs, GG, Art. 12 Rn. 45; M. Nolte, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, Art. 12 GG, Rn. 12 ff. 423  BVerfGE 81, 242, 255 ff.; M. Nolte, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, Art. 12 GG Rn. 73; Ruffert, in: BeckOK, GG, Art. 12 Rn. 19; Wieland, in: Dreier, GG, Art. 12 Rn. 142 ff.



B. Die Auslegung des Grundgesetzes229

eröffnet sein. Offenkundig ist, dass während und infolge einer Finanzkrise ­Arbeitsplätze durch massive Umsatzeinbußen der Unternehmen, sowohl der Finanzmärkte als auch anderer Wirtschaftszweige, die infolge der Abhängig­ keit beider Sektoren auf einen funktionsfähigen Finanzmarkt angewiesen sind, gefährdet sind. Hierdurch kann die Berufswahlfreiheit beeinträchtigt sein. Weiterhin kann die Störung von Zahlungsfunktionen im Falle eines Bank Runs die Berufsausübung mehrerer Berufe erschweren.424 Dies genügt für die Eröffnung des Schutzbereiches. Eine Schutzpflicht des Staates besteht daher grundsätzlich auch wegen einer Gefährdung der durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Tätigkeiten.425 Problematischer gestaltet sich wiederum die Begründung einer konkreten staatlichen Handlungspflicht. Gesichert ist nur, dass der Staat ein „effektives Schutzniveau“ gewährleisten muss. Nun ist bereits hinreichend deutlich ge­ worden, dass es für die Herstellung von stabilen Finanzmärkten kein Patent­ rezept gibt, dass sich mit Sicherheit positiv auf die Finanzmarktstabilität auswirkt. Stattdessen stehen sich in der Wirtschaftswissenschaft verschiedene Ansichten gegenüber. Die Frage des „Wie“ ist damit nicht hinreichend beant­ wortet. Es gibt das eine effektive Mittel schlicht nicht. Im Ergebnis besteht damit auch wegen einer Gefährdung des Art. 12 Abs. 1 GG lediglich eine allgemeine Schutzpflicht des Staates, ohne denselben zu einer konkreten Handlung zu verpflichten.426 b) Art. 12 GG als Grundrecht auf Wettbewerb Der Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG ist mit den gerade angesproche­ nen Positionen noch nicht erschöpft. Kaufhold wirft die Frage auf, ob der Staat zu einer Systemrisikoabwehr als Element eines funktionsfähigen Wett­ bewerbs verpflichtet sein könnte.427 Art. 12 Abs. 1 GG schützt die wettbewerbliche Wirtschaftsordnung.428 Ausgangspunkt ist die Annahme einer Befugnis des Gesetzgebers zur Ausge­ staltung des Schutzbereiches von Art. 12 Abs. 1 GG.429 Systemische Risiken führten zu Funktionsstörungen im Finanzsektor, welchen die Akteure, auf­ grund ihrer unterlegenen Position im Geflecht unzähliger anderer Akteure 424  Thiele,

Finanzaufsicht, S. 321. Thiele, Finanzaufsicht, S. 323, der die Schutzpflicht aus dem Zusammen­ spiel von Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 GG herleitet. 426  So auch Thiele, Finanzaufsicht, S. 330, 332. 427  Kaufhold, Systemaufsicht, S. 233 ff. 428  BVerwGE 71, 183, 189; 118, 270, 276; Breuer, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. VIII, § 171 Rn. 81 ff.; Papier, ZHR 152 (1988), 493, 499. 429  Kaufhold, Systemaufsicht, S. 238. 425  Vgl.

230

4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

und ihres Informationsdefizites, keine stabilisierende Position entgegensetzen könnten.430 Aufgrund der mangelnden „Waffengleichheit“ durch den ver­ schiedenen Informationsstand ist kein ordentlicher Wettbewerb möglich.431 Kaufhold stellt deshalb fest, die Möglichkeit, die Ausübung der Berufsfrei­ heit zu gewährleisten, liege nur in den Händen des Gesetzgebers.432 Dieser müsse zumindest einen „Minimalbestand“ des betroffenen Freiheitsrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG gewährleisten.433 Konkret bedeute dies für die Finanz­ märkte, dass das Grundgesetz dem Gesetzgeber zwar keinen bestimmten Ordnungsrahmen vorzeichne, er aber funktionsfähigen Wettbewerb herstellen müsse und zu diesem Zweck ein Konzept entwickeln und umsetzen müs­ se.434 Im Ergebnis bestehe daher eine staatliche Schutzpflicht zur Systemrisiko­ abwehr, wenn die Risiken den Wettbewerb im Markt beeinträchtigten und die Marktentwicklung negativ beeinflussten.435 Funktionierender Wettbewerb bedeutet funktionierende Märkte. Wenn die Märkte effizient arbeiten, sind sie von einer gewissen Grundstabilität und können exogene Schocks besser ausgleichen. Die Effekte exogener Schocks sind in diesem Fall weit weniger dramatisch. In der Pflicht, für einen ordnungsgemäßen Wettbewerb zu sor­ gen, findet sich daher wiederum ein Bezug zu den Finanzmärkten. Auf diesen scheint Wettbewerb nur dann zu funktionieren, wenn der Staat den richtigen Rahmen vorgibt. Dennoch ist zu konstatieren, dass die ökonomische Forschung zum Ver­ hältnis von Stabilität und Wettbewerb nicht eindeutig ist.436 Es ist weder nur der Stabilität förderlich, für Wettbewerb zu sorgen, da dies auch einen Wett­ bewerb um Risiken nach sich zieht, noch ist die Beschränkung des Wett­ bewerbs durch starke Regulierung der Stabilität förderlich.437 Lässt man dies auf die grundrechtliche Ebene durchschlagen, wird das Argument, Art. 12 Abs. 1 GG schütze auch den Wettbewerb und somit auch die Gewährleistung stabiler Finanzmärkte, schwächer. 430  Kaufhold,

Systemaufsicht, S. 238 f. Systemaufsicht, S. 238. 432  Kaufhold, Systemaufsicht, S. 239. 433  Kaufhold, Systemaufsicht, S. 242; dies steht im Einklang damit, dass der Ge­ setzgeber im Rahmen staatlicher Schutzpflichten meist nur dazu verpflichtet ist, nicht evident ungeeignete Maßnahmen zu ergreifen. Siehe dazu Bickenbach, Einschät­ zungsprärogative, S. 387. 434  Kaufhold, Systemaufsicht, S. 243; ähnlich Klingenbrunn, Produktverbote zur Gewährleistung von Finanzmarktstabilität, S. 19. 435  Kaufhold, Systemaufsicht, S. 243. 436  Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Bankensektor, S. 166, spricht davon, dass das Verhältnis nicht eindeutig bestimmbar sei. 437  Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Bankensektor, S. 166. 431  Kaufhold,



B. Die Auslegung des Grundgesetzes231

c) Zwischenergebnis zu Art. 12 Abs. 1 GG Mithilfe des Art. 12 Abs. 1 GG kann auf zwei Wegen eine staatliche Schutzpflicht begründet werden. Beide Argumentationslinien sind nachvoll­ ziehbar und tragfähig. So wie Art. 14 Abs. 1 GG enthält Art. 12 Abs. 1 GG konkrete Anhaltspunkte für die staatliche Verantwortung für die Stabilität der Finanzmärkte. Aus den gemeinsamen Wertungen beider Grundrechte, die Stabilität der Finanzmärkte im Interesse der Grundrechtsträger zu schützen, lässt sich damit ein Weisungsgehalt ableiten. Dass keine konkreten Hand­ lungspflichten abgeleitet werden können, steht dem nicht entgegen. Eine staatliche Verantwortung setzt nicht voraus, dass der Staat zu einer konkreten Handlung verpflichtet ist, sondern lediglich, dass er seiner Verantwortung auf einem effektiven Wege gerecht werden muss. 4. Weitere grundrechtliche Schutzpflichten Grundrechtliche Schutzpflichten und staatliche Verantwortung werden vor dem Hintergrund zwei weiterer Gesichtspunkte diskutiert. Der erste ist derje­ nige der Altersvorsorge. Der Staat drängt seine Bürger zur effektiven Alters­ vorsorge auf die Finanzmärkte.438 Diesem Punkt ist zuzustimmen. Der Staat, der seine Bürger zu einer selbstverwalteten Altersvorsorge auf den Finanz­ märkten drängt, kann vor den Gefahren, die dieses Modell birgt, nicht gänz­ lich die Augen verschließen. Sollten die Gefahren bei einer klassischen Geldanlage mithilfe von Aktien auch gering sein, sind auch diese nicht vor dem Kursverfall infolge einer durch Finanzmarktinstabilität hervorgerufenen Finanzkrise gefeit. Der zweite Gesichtspunkt ist der bereits angesprochene Punkt der man­ gelnden Aufsicht im Vorfeld der Finanzkrise.439 Eine hieraus abgeleitete Schutzpflicht würde vor allem für verbesserte Aufsichtsstrukturen streiten. Die Aufsichtsstrukturen wurden durch europäische Vorgaben bereits umfang­ 438  Calliess, VVDStRL 71 (2011), S. 113, 139  f.; Ruffert, NJW 2009, S. 2093, 2095; von einer wachsenden Bedeutung der Kapitalmärkte für die Altersvorsorge sprechen auch Benighaus, Staatshaftung für fehlerhafte Aufsicht im Bereich des Ka­ pitalmarkts, S. 7 und Pflock, Europäische Bankenregulierung und das „Too big to fail-Dilemma“, S.  34 f. 439  Ruffert, NJW 2009, S. 2093, 2095, der von einem „haftungsbewehrten An­ spruch auf effektive Aufsicht“ spricht und diesen aus dem Untermaßverbot herleiten möchte. Zum Untermaßverbot siehe S. 237 f. Differenzierend Thiele, GewArch 2015, S. 111, 114, der darauf verweist, dass auch eine umfassendere Aufsicht nicht jegliche Risiken abgedeckt hätte, so z. B. nicht diejenigen der Schattenbanken; ebenso Pascher, in: Korte u. a., Energiewende und Finanzkrise als aktuelle Herausforderungen des Europarechts, S. 110, 128.

232

4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

reich reformiert. Ob sich aus diesem Gesichtspunkt auch heute noch frucht­ bare Erwägungen ziehen lassen, ist daher zweifelhaft und wird an dieser Stelle verneint. Eine weitere Auseinandersetzung erübrigt sich daher. 5. Grundrechte und Finanzierbarkeit Hinsichtlich der Grundrechte ist weiterhin zu bedenken, inwiefern ihre Ausübung von der Finanzkraft und der Ordnung der Finanzen eines Staates abhängt. Diese Frage wird selten thematisiert.440 Gemeint sind neben der Finanzierbarkeit von staatlichen Handlungspflichten aufgrund von grund­ rechtlichen Schutz- oder Leistungspflichten und den Kosten der verfahrens­ mäßigen Absicherung der Grundrechte auch die Kosten der Sicherung der Abwehrrechte.441 Zudem kann das parlamentarische Budgetrecht aus Art. 110 Abs. 2 GG auf Rechtfertigungsseite angeführt werden, um Eingriffe in Grundrechte zu tragen.442 Zusammenfassend lässt festhalten, dass die staat­ liche Sicherung der Grundrechte auch von deren Finanzierbarkeit abhängt. Problematisch in diesem Komplex ist die Tatsache, dass nach Ausbruch der Krise staatliche Gelder aufgewendet wurden, um Banken und andere Unternehmen im Finanzsektor zu retten. Dieses Geld fehlt an anderer Stelle, um einen effektiven Grundrechtsschutz zu gewährleisten. Hieraus lässt sich jedoch kein Argument für eine staatliche Sicherung der Finanzmarktstabilität herleiten. Der Zusammenhang der Finanzmarktstabilität mit dem Haushalt erfasst nach hiesiger Auffassung bereits diese Einwirkungen auf die Grund­ rechtsausübung. 6. Ergebnis zu den Grundrechten Festzuhalten ist, dass die Grundrechte in ihrer Dimension als Schutzrechte eine staatliche Verantwortung für die Stabilität der Finanzmärkte mitbegrün­ den. Aufgrund der Schutzgehalte einzelner Grundrechte kann der Staat ver­ pflichtet sein, einen rechtlichen Ordnungsrahmen zu schaffen, der die Grund­ rechtsberechtigten vor der Beeinträchtigung ihrer Rechte schützt.443 Der Staat, der sich schützend vor eine Beeinträchtigung der Grundrechte aus Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG zu stellen hat, wird verpflichtet, Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit, S. 2. Die Kosten der Freiheit, S. 11 ff., 20 ff., 41. 442  So Mehde, Grundrechte unter dem Vorbehalt des Möglichen, S. 53 ff., der dies aber auf die Auswirkungen gerichtlicher Entscheidungen bezieht; kritisch hierzu Wischmeyer, Die Kosten der Freiheit, S. 47. 443  Vgl. Brenner, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, § 25 Rn. 45; Mohr, JZ 2018, S. 685, 689. 440  So

441  Wischmeyer,



C. Ergebnis233

die Stabilität der Finanzmärkte zum Schutz dieser Grundrechte sicherzustel­ len. Hierfür sind Maßnahmen des Staates notwendig, die zur Erfüllung der Schutzpflicht beitragen. Aus der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG lässt sich weitergehend mit Kaufhold eine Pflicht zur Abwehr von System­ risiken entnehmen. Da diese dem Finanzsektor sein risikoaffines Gepräge geben, ist dem Auftrag zur Abwehr von Systemrisiken gleichzeitig das Gebot zu entnehmen, die Stabilität des Finanzsystems, zur Abwehr der Systemrisi­ ken, zu gewährleisten. Rechtsgüter werden von den Schutzpflichten aber nur soweit erfasst, wie es sich um Individualrechtsgüter handelt. Nicht geschützt von den Grundrechten ist daher die Finanzmarktstabilität als solche, da es sich bei ihr um ein kollektives Gut handelt.

C. Ergebniszur Auslegung des Grundgesetzes unter dem Gesichtspunkt der Finanzmarktstabilität Ausgangspunkt der Untersuchung war, dass das Grundgesetz keine aus­ drückliche Verpflichtung des Staates zur Förderung und Sicherung der Fi­ nanzmarktstabilität trifft, sich eine solche ihm aber implizit entnehmen lassen könnte. Nach Auslegung des Grundgesetzes ist festzustellen, dass sich meh­ reren Stellen zumindest mittelbare Aussagen entnehmen lassen. Zu nennen sind Art. 88 Satz 1 GG sowie die Verpflichtung der Bundesbank zur Her­ stellung von Preisstabilität und dieselbe Verpflichtung gerichtet an den Ge­ setzgeber als Teilziel des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Art. 109 Abs. 2 GG. Preisstabilität hängt in so engem Maße mit Finanzmarktstabilität zusammen, dass es gerechtfertigt erscheint, die Verpflichtung auf letztere zu erstrecken. Darüber hinaus besteht ein Zusammenhang zum Staatsziel der Nachhaltigkeit, das in seiner ökonomischen Ausprägung in den Artt.  109 und 115 GG zu finden ist. Weitere Aussagen lassen sich aus der Tatsache entnehmen, dass das Grundgesetz die staatlichen Organe zur Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und zur Verringerung der Staatsverschuldung verpflichtet. Durch den aufgezeigten, engen Zusammenhang zwischen fiskalischer Stabi­ lität und Finanzmarktstabilität sind die staatlichen Organe auch verpflichtet, letztere herzustellen. Weiterhin zu nennen sind Handlungsaufträge, die dem Gesetzgeber zum Schutz der Grundrechte aus Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG aufer­ legt sind. Dem Schutzauftrag zur Abwehr von Systemrisiken ist inhärent, die Stabilität der Finanzmärkte zu gewährleisten. Die Schutzpflichten aus den Grundrechten gewähren zwar nur partiellen Schutz, sie weisen aber dennoch im Zusammenhang mit den genannten weiteren Vorschriften auf den Rang der Finanzmarktstabilität im Grundgesetz hin.

234

4. Kap.: Die verfassungsrechtlichen Vorgaben

Aus dieser Gesamtschau zeigt sich, dass das Grundgesetz an mehreren Stellen Aussagen zu einem staatlichen Auftrag zur Förderung der Finanz­ marktstabilität trifft. Den staatlichen Organen werden, wie dargelegt, durch die Verfassung Aufgaben auferlegt, einen bestimmten Zustand herzustellen oder bestimmte Rechtsgüter zu schützen. Bei der Wahl des richtigen Mittels steht den staatlichen Organen eine Einschätzungprärogative zu. Die Aufga­ ben weisen alle in Richtung der Herstellung von Finanzstabilität. Folglich ist es gerechtfertigt, aus der Gesamtschau der genannten Normen auf das Beste­ hen einer staatlichen Verantwortung zu schließen. Es ist sogar möglich, noch weiter zu gehen. Die Finanzmarktstabilität erfüllt alle Voraussetzungen, die für ein Staatsziel gegeben sein müssen. Es findet sich in mehreren Vorschrif­ ten des Grundgesetzes. Die erforderliche objektivrechtliche Verpflichtungs­ wirkung lässt sich aus dem Zusammenspiel der Artt. 88, 109 Abs. 2 und 115 GG mit den Grundrechten herleiten. Wie die Verbindung zwischen Staat und Finanzmärkten zeigt, spricht auch die Folgenanalyse für ein derartiges Ziel. Die Erfahrungen der Krise haben gezeigt, dass ein Staatsziel der Finanz­ marktstabilität das staatliche Handeln sinnvoll unterstützen kann. Dabei ist es vorzuziehen, den Begriff des Staatszieles zu verwenden. So lässt sich der Substanz der Finanzmarktstabilität hinreichend Rechnung tragen, die in der Schilderung der Interdependenz von Staat und Finanzmärkten zum Ausdruck gekommen ist.

5. Kapitel

Folgerungen für das staatliche Handeln A. Staatliche Handlungspflichtenzur Herstellung und Bewahrung von Finanzmarktstabilität Nimmt man ein Staatsziel als verfassungsrechtliche Vorgabe für die Fi­ nanzmarktstabilität an, stellt sich die Folgefrage, ob eine staatliche Hand­ lungspflicht besteht. Muss der Staat tätig werden, um Instabilität auf den Finanzmärkten entgegenzuwirken? Müssten in einer vergleichbaren Situation Maßnahmen ergriffen werden, um ein zweites Lehman Brothers Debakel zu verhindern.1 In dem gleichen Kontext stellt sich die Frage, welche staatlichen Organe zur Wahrnehmung der Verantwortung berufen sind. In der letzten Finanzkrise war dies vor allem die Exekutive, auf Ebene der Europäischen Union wurde das demokratische Verfahren der Gemeinschaftsmethode der eher durch die Exekutive geprägten Unionsmethode geopfert.2 Auch Maß­ nahmen der EU selbst, wie beispielsweise das „Six-Pack“ zur Bewältigung der Staatsschuldenkrise, wurden nicht immer im ordentlichen Gesetz­ gebungsverfahren gem. Art. 294 AEUV unter Beteiligung des demokratisch legitimierten Europäischen Parlaments getroffen. Während die Gemein­ schaftsmethode durch die Verfahren im demokratisch legitimierten Europäi­ schen Parlament und eine Kompromissfindung zwischen Parlament und Rat geprägt ist, geht es bei der Unionsmethode um Konsensfindung von Regie­ rungsoberhäuptern, die dann in zwischenstaatliche Verträge gegossen wird. Die nationalen Parlamente stimmen dem Vertrag zwar zu, in Deutschland nach Art. 59 Abs. 2 GG, Änderungen an dem Inhalt können dagegen nicht vorgenommen werden. Die nationalen Parlamente entwickeln sich zu einem Ort, an dem die ausgehandelten Verträge lediglich abgenickt werden. Der 1  Vgl. hierzu auch das interessante Gedankenspiel von Hanten, in: Korte u. a., Energiewende und Finanzkrise als aktuelle Herausforderungen des Europarechts, S. 75, 86 ff., zu der Frage, ob die Bankenpleite und die folgende Finanzkrise unter Geltung des jetzigen Regelungsregimes zu verhindern gewesen wären. Ablehnend hinsichtlich eines konkreten Handlungsauftrages zur Rettung einer systemrelevanten Bank im Falle einer drohenden Krise Ruffert, NJW 2009, S. 2093, 2095; Pflock, Ban­ kenregulierung und das „Too big to Fail-Dilemma“, S. 32. 2  Pilz, DÖV 2012, S. 909, 915; kritisch zu diesem Vorgehen auch Schorkopf, VVDStRL 71 (2011), S. 183, 201 f.

236

5. Kap.: Folgerungen für das staatliche Handeln

Konflikt zeigte sich erneut bei der Konsensfindung zum einheitlichen Ban­ kenabwicklungsfonds (SRM), bei dem auf Betreiben des Rates nachträglich zusätzliche Regelungen in zwischenstaatliche Vereinbarungen übernommen wurden.3 Hier soll sich zunächst der Frage der Verpflichtungswirkung angenähert werden, indem die Dogmatik der Verpflichtungswirkung von Staatszielen und Staatszielbestimmungen nachgezeichnet wird. In der Folge ist dies auf die Finanzmarktstabilität zu übertragen. Erst danach kann die Frage beant­ wortet werden, ob die Finanzmarktstabilisierung auch staatliche Handlungs­ pflichten begründen kann und daraufhin, wie solche ausgestaltet sein könn­ ten.

I. Die Verpflichtungswirkung von Staatszielen Nimmt man eine staatliche Verantwortung an, stellt sich die Frage nach deren Verbindlichkeit und Justiziabilität. Dabei geht es bei der Justiziabilität einzelner Staatsziele auch um einen Aspekt der Verpflichtungswirkung, näm­ lich, ob der einzelne Bürger die Nichtumsetzung von an den Staat gerichteten Zielen vor einem Gericht rügen kann. Es ist anerkannt, dass Handlungspflichten auch aus Staatszielbestimmun­ gen oder Staatsaufgaben folgen.4 Dem geht allerdings die Frage der Ver­ pflichtungswirkung von Staatszielen generell noch voraus. Problematisch ist die Festlegung auf bestimmte Ziele, die zu bestimmten Zeiten möglicher­ weise virulenter sind, und dadurch die Festlegung auch kommender Parla­ mente, welche durch eine zu starke Verpflichtungswirkung in ihren Entschei­ dungsspielräumen beschränkt wären.5 Scheuner schlug ursprünglich vor, auch das „Ob“ der Verwirklichung von Staatszielen in den Entscheidungsspielraum der staatlichen Organe zu stel­ len.6 Damit stellt sich das Problem einer Bindung zukünftiger Gewalten nicht mehr. Dennoch ist dieser Auffassung entgegenzutreten. Die Ziele verlö­ ren jeglichen Wert, wenn die staatlichen Organe selbst entscheiden dürften,

3  Hierzu Repasi, Bankenabwicklungsfonds: Gemeinschaftsmethode sticht Uni­ onsmethode, abrufbar unter https://verfassungsblog.de/bankenabwicklungsfondsgemeinschaftsmethode-sticht-unionsmethode/ (zuletzt abgerufen am 30.04.2020). 4  Vgl. Bickenbach, Einschätzungsprärogative, S. 374 f.; Calliess, in: Merten/Papier (Hrsg.), Hdb. d. GR, Bd. II, § 44 Rn. 18; Sommermann, Staatsziele, S. 377; Störring, Untermaßverbot, S.  46 f. 5  Sommermann, DÖV 1994, S. 596, 597. 6  Scheuner, FS Forsthoff, S. 325, 339 f.



A. Staatliche Handlungspflichten237

ob diese umgesetzt werden. Es kann daher nicht im freien Ermessen liegen, ob die Staatsziele verpflichtend wirken.7 Weiter wird vorgeschlagen, die Verpflichtungswirkung vom Abstraktions­ grad des Staatszieles abhängig zu machen.8 Wendete man dies auf ein zu formulierendes Staatsziel der Finanzmarktstabilität an, käme eine erhöhte Bindungswirkung und normative Kraft heraus. Betrachtet man hergebrachte Staatsziele wie die Sozialstaatlichkeit und auch den Umweltschutz, erscheint die Finanzmarktstabilität als Zielbestimmung deutlich konkreter. Allerdings ist zu beachten, dass bei der Komplexität der Märkte eine Zielverwirklichung ähnlich schwer ist wie bei den genannten anerkannten Staatszielen. Am ehes­ ten der Finanzmarktstabilität vergleichbar ist die in dieser Untersuchung mehrmals angesprochene Preisstabilität. Wie hoch die Normativkraft dieser Zielbestimmung ist, ist in der Literatur allerdings kaum diskutiert worden, so dass auch dieser Vergleich für eine Bestimmung der Finanzmarktstabilität wenig Erkenntnisse bereithält. Alleine aus dem Charakter als Staatsziel oder dem Bestehen einer Verantwortung lassen sich daher kaum staatliche Hand­ lungspflichten herleiten. Dies entspricht der herkömmlichen Dogmatik zu Staatszielbestimmungen und Staatszielen, die keine subjektiven Rechte be­ gründen, sondern objektive Rechtssätze sind. Nicht beantworten lässt sich daher auch die Frage, ob alleine aufgrund des Bestehens einer Verantwortung der Staat bspw. verpflichtet wäre, in Schieflage geratene, systemrelevante Banken im Wege des Bail-outs zu retten.

II. Staatliche Handlungspflichten 1. Finanzmärkte und Untermaßverbot Eine Handlungspflicht könnte sich im Fall der Finanzmarktstabilität ins­ besondere aus den bereits skizzierten grundrechtlichen Schutzpflichten er­ geben. Schutzpflichten manifestieren sich in staatlichen Handlungen9 und ­beschreiben grundsätzlich die Pflicht des Staates, sich schützend vor eine Grundrechtsverletzung durch Dritte zu stellen. Allerdings wirken solche Handlungspflichten lediglich im Verhältnis zwischen dem Bürger und dem Staat, nicht aber bei innerstaatlichen Verpflichtungen wie derjenigen auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht in Art. 109 Abs. 2 GG.10 Grundrechte stellen nicht die einzige Quelle staatlicher Handlungspflichten dar. 7  Sommermann,

Staatsziele, S. 379 m. w. N. DÖV 1994, S. 596, 601. 9  Bickenbach, Einschätzungsprärogative, S. 369. 10  Vgl. Störring, Untermaßverbot, S. 40. 8  Sommermann,

238

5. Kap.: Folgerungen für das staatliche Handeln

Allerdings liegt die verfassungsrechtliche Schwelle für eine Umsetzungs­ pflicht bei Staatszielen sehr hoch.11 Bei der Finanzmarktstabilität würde die staatliche Handlungspflicht nicht lediglich aus dem Bestehen eines Staatszie­ les, sondern auch aus den Grundrechten folgen. In diesen Fällen, in denen Grundrechte und Staatsziele zusammenwirken, kann eine verfassungswidrige Nichtumsetzung eher angenommen werden, als bei den reinen Staatszielen.12 An dieser Stelle lässt sich wiederum auf das Untermaßverbot rekurrieren. Bei Wahrnehmung einer Schutzpflicht darf der Staat nicht gegen das Überoder Untermaßverbot13 verstoßen.14 Ein gänzlicher Rückzug des Staates soll nur bei Großrisiken wie der Kernenergie oder der Gentechnik unzulässig sein, den Privaten darf auf diesen Feldern nicht die ganze Verantwortung auferlegt werden.15 Während das Übermaßverbot vor allem gesetzgeberi­ sches Unterlassen, also das Unterlassen von Grundrechtseingriffen erfordert, findet das Untermaßverbot Anwendung auf Fallgestaltungen, in denen der Grundrechtsschutz nur durch gesetzgeberisches Tätigwerden erreicht werden kann. Das Untermaßverbot bietet als unterste Schwelle16 zur Auslösung ei­ ner staatlichen Handlungspflicht einen geeigneten Anhaltspunkt für die Frage, ob den Staat auch konkrete Handlungspflichten zur Sicherung der Finanzmarktstabilität treffen. Bestimmt werden muss, wann die staatliche Handlungspflicht ausgelöst wird.

11  BVerfGE 22, 180, 204; Sommermann, Staatsziele, S. 427 f., Störring, Das Un­ termaßverbot, S. 230. 12  Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 20 Rn. 130; Störring, Das Untermaßverbot, S. 230 f. 13  Das Untermaßverbot beschäftigt die Literatur vor allem seit dem zweiten Ab­ treibungsurteil BVerfGE 88, 203 ff.; die erstmalige Verwendung des Begriffs ist Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, S. 15 zuzu­ schreiben; so Tzemos, Untermaßverbot, S. 4. Dagegen gilt Canaris als eigentlicher Urheber des Begriffes, da er sich als erster ausführlich mit der Rechtsfigur beschäf­ tigte, so u. a. Bickenbach, Einschätzungsprärogative, S. 387; Calliess, in: FS Starck, S.  201, 202 f.; Knebel, Die Drittwirkung der Grundrechte und -freiheiten gegenüber Privaten, S. 54; Störring, Das Untermaßverbot, S. 22 ff. m. w. N. 14  Zum Untermaßverbot BVerfGE 88, 203, 254 ff.; 98, 265, 348; 119, 181, 204; 121, 317, 380; ausführlich Bickenbach, Einschätzungsprärogative, S. 297 ff., 387 ff.; das Untermaßverbot im Rahmen der Finanzmärkte wird herangezogen von Calliess, VVDStRL 71 (2011), S. 113, 140; Kaufhold, Systemaufsicht, S. 228. 15  Szczekalla, Die sog. Grundpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 1081. 16  So Bickenbach, Einschätzungsprärogative, S. 389  f., 408; W. Cremer, DÖV 2008, S. 102, 103; Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, S. 174 f.; ähnlich auch Möstl, DÖV 1998, S. 1029, 1037, der darauf verweist, dass eine Verletzung von Schutzpflichten nur dann angenommen werden könne, wenn die staatlichen Organe hinter dem Schutzniveau evident zurückbleiben.



A. Staatliche Handlungspflichten239

Mehrere Autoren schlagen eine Prüfung vor, die sich an verschiedenen Stufen orientiert.17 Ähnlich der Verhältnismäßigkeitsprüfung sollen an jede Stufe unterschiedliche Anforderungen gestellt werden. Dies rückt das Unter­ maß- in die Nähe des Übermaßverbotes. So soll auf der ersten Stufe geprüft werden, ob bereits ein staatliches Schutzkonzept besteht. Dann ob ein weite­ res Schutzkonzept besteht, das die Rechte der Bürger besser schützt, ohne stärker in Rechte Dritter einzugreifen oder öffentliche Interessen zu beein­ trächtigen, und drittens die Frage, ob dieser „Schutz unter Berücksichtigung der entgegenstehenden Rechtsgüter angemessen“ ist.18 Dies ist angelehnt an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht in seinem zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch, in dem es fordert, dass der Gesetzgeber selbst ein Schutzkonzept zu erstellen hat, welches dann vom Bundesverfas­ sungsgericht eingehend überprüft wird.19 Dabei geht es von einem Einschät­ zungsspielraum des Gesetzgebers aus. Gibt es kein bestehendes Schutzkon­ zept, fehlt es an einem konkreten Prüfungs­gegenstand, so dass ein weiter Spielraum des Gesetzgebers besteht und der Gesetzgeber für die Begründung eines Schutzkonzeptes mehrere Wege gehen kann.20 Anders als bei staatlichen Unterlassungspflichten besteht bei Handlungs­ pflichten das Problem, dass der Bezugspunkt der Pflicht meist verschwom­ men ist.21 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hängt der staatliche Einschätzungsspielraum hinsichtlich des Übermaßverbotes von der „Eigenart des zu regelnden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter ab“22. Dies ist als Anhaltspunkt für das Untermaßverbot zu über­ nehmen23, das Bundesverfassungsgericht verlangt dann weiter, dass die Rechtsordnung Mindestanforderungen aufstellen muss, die den Schutz der

17  Z. B. Calliess, in: Merten/Papier (Hrsg.), Hdb. d. GR, Bd. II, § 44 Rn. 31; ders., DVBl. 2003, S. 1096, 1102 f.; ders., FS Starck, S. 201, 215 ff.; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit, S. 253 f.; Möstl, DÖV 1998, S. 1029, 1038 f. 18  Calliess, in: Merten/Papier (Hrsg.), Hdb. d. GR, Bd. II, § 44 Rn. 31; ferner ders., DVBl. 2003, S. 1096, 1102; zum Begriff des Schutzkonzepts auch BVerfGE 96, 56, 64. 19  BVerfGE 88, 203, 261, 264 ff.; diese Rechtsprechung hat das Bundesverfas­ sungsgericht allerdings in weiteren Urteilen nicht konsequent fortgeführt, siehe Calliess, FS Starck, S. 201, 206 ff., 213. 20  Hellgardt, JZ 2018, S. 901, 906; Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, S. 188; ferner Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 420 f. 21  Bickenbach, Einschätzungsprärogative, S. 400; Calliess, JZ 2006, S. 321, 328. 22  BVerfGE 50, 290, 333. 23  Hierzu ausführlich Störring, Das Untermaßverbot, S. 201 ff.

240

5. Kap.: Folgerungen für das staatliche Handeln

­etroffenen Rechtsgüter gewährleisten.24 Unterlässt der Staat Maßnahmen b vollständig, ist den Freiheitsrechten der Marktteilnehmer umfangreich Rech­ nung getragen. Die beschriebenen Gefahren für Grundrechte, welche die staatlichen Schutzpflichten auslösen, würden dagegen gar nicht beachtet. Problematisch ist daher, wie die divergierenden Rechtsgüter in einen Aus­ gleich gebracht werden können. Dies rückt die Prüfung des Untermaßverbots wiederum in die Nähe des Übermaßverbotes, wobei das maßgebliche Krite­ rium das der Abwägung ist.25 Das Bundesverfassungsgericht forderte weiterhin einen angemessenen und wirksamen Schutz.26 Dies setzt zwingend voraus, dass ein konkreter Hand­ lungsgegenstand geprüft wird, anders ergibt die Prüfung der Voraussetzungen keinen Sinn.27 Im Rahmen der Finanzmärkte lässt sich dagegen keine ein­ zelne Maßnahme zur Sicherung der Stabilität sinnvollerweise prüfen, da dieses Ziel aufgrund der schieren Größe und der Vielzahl von Faktoren, welche Stabilität schaffen sollen, nur durch einen Mix an Instrumenten er­ reichbar ist. Maßgeblich sollte daher das bereits angesprochene Schutzkon­ zept sein. Dieses kann dann auch den Gegenstand der Prüfung darstellen. Problematisch an einer Schutzpflichtenkonstellation bei der Stabilisierung der Finanzmärkte ist zunächst die Rolle der verschiedenen Akteure. Der Bür­ ger ist derjenige, in dessen Grundrechte eingegriffen wird, und zwar durch Akteure auf den Finanzmärkten (also durch Dritte), die durch ihre Handlun­ gen Krisen auf den Märkten auslösen. Der Staat müsste nach grundrecht­ licher Schutzpflichtendogmatik intervenieren. Nun ist die Rolle des Störers in dieser Konstellation mit der Bezeichnung von „Akteuren auf den Finanz­ märkten“ nicht hinreichend konkret bestimmt. Wie bereits ausgemacht, kön­ nen diese mannigfaltig sein. Auf den ersten Blick geraten zwar zunächst Banken in den Fokus, allerdings bestehen die Finanzmärkte noch aus deutlich mehr Teilnehmern, durch welche die genannten Grundrechte beeinträchtigt werden können. Es kann aber aus den Gesichtspunkten des Untermaßverbots gerechtfertigt sein, in die Rechte der Hauptverursacher einzugreifen. Dies betrifft auch den Bankensektor, in den zur Stabilisierung daher eingegriffen

24  BVerfGE 25  Störring,

88, 203, 254 f. Das Untermaßverbot, S. 210 f. m. w. N.; vgl. auch Möstl, DÖV 1998,

S. 1029, 1036. 26  BVerfGE 88, 203, 254; ähnlich Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 460 f.; Weiß, Privatisierung und Staatsaufgaben, S. 186. Einige Autoren verstehen das Bun­ desverfassungsgericht auch so, dass grundlegend eine klassische Verhältnismäßig­ keitsprüfung bei grundrechtlichen Schutzpflichten durchzuführen ist, siehe dazu W. Cremer, DÖV 2008, S. 102, 103 ff. 27  Vgl. W. Cremer, DÖV 2008, S. 102, 105.



A. Staatliche Handlungspflichten241

werden darf. Fraglich bleibt aber, wie intensiv der Eingriff ausgestaltet wer­ den darf. Die Finanzkrise ist, wenngleich noch nicht vollständig bewältigt, nicht mehr von derselben Intensität wie in den Jahren von 2008 bis 2013. Bei staatlichen Eingriffen durch Regulierung stellt sich daher immer die Frage, inwiefern präventive Maßnahmen vor dem Hintergrund der Grundrechte zu­ lässig sind. Der Gesetzgeber darf grundsätzlich zur Abwehr auch künftiger Krisen, durch die schwerwiegende Gefahren drohen, tätig werden, sogar wenn die Wahrscheinlichkeit der Realisierung der Gefahr nicht allzu hoch ist.28 Dennoch darf der Gesetzgeber nicht „ins Blaue hinein“29 Gesetze erlas­ sen, sondern die Gefahren müssen auch tatsächlich drohen.30 Maßstab für eine gesetzgeberische Prognose sind die Gefahren, die dem Gemeinwohl drohen. An dieser Stelle können die obigen Ausführungen, inwiefern die ­Finanzmarktstabilität dem Gemeinwohl dient, herangezogen werden (siehe S. 119 ff.). Wie sich gezeigt hat, stellt die Stabilität der Finanzmärkte, da auch Anknüpfungspunkte in der Verfassung bestehen, einen Gemeinwohlbe­ lang von besonderer Bedeutung dar. Zudem bestehen Verzahnungen mit mehreren Bereichen des staatlichen Lebens, vor allem der allgemeinen wirt­ schaftlichen Lage und dem Arbeitsmarkt. Drohen Gefahren auf den Finanz­ märkten, sind auch diese Faktoren bedroht. Das Gemeinwohl ist daher durch instabile Finanzmärkte in besonderem Maße bedroht. Wegen dieser Bedro­ hungen ist der grundsätzlich sehr weite Einschätzungsspielraum des Gesetz­ gebers verkürzt, die Schutzpflichten des Staates verdichten sich. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Griechenland-Hilfe und dem Euro-Rettungsschirm EFS einen weiten Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers bei der Gestaltung der Kernbefugnis der Budgethoheit sah, aber keine konkreten Handlungspflichten,31 ist dies nicht eins zu eins auf die Märkte zu übertragen. Auf diesen bestehen staatliche Handlungspflichten, die durch eine Verletzung des Untermaßverbots ausgelöst werden. Im Ergebnis muss eine Verpflichtung zu effizienten Maßnahmen bestehen. Eine Maßnahme oder ein Verfahren ist dann effizient, wenn ein optimales Verhältnis zwischen Mitteleinsatz und Zielerreichung besteht.32 Hieran schließt sich die Folgefrage an, wann eine staatliche Maßnahme auf den 28  Bickenbach,

17.

29  Calliess,

Einschätzungsprärogative, S. 313 mit Verweis auf BVerfGE 25, 1,

DVBl. 2003, S. 1096, 1099. Einschätzungsprärogative, S. 313 m. w. N. 31  BVerfGE 129, 124, 182 ff. 32  Ruppel, Finanzdienstleistungsaufsicht, S. 112 ff.; spezifisch zur effizienten Re­ gulierung und Aufsicht der Finanzmärkte nach der Finanzkrise Acharya/Richardson, Restoring Financial Stability, S. 23 ff. 30  Bickenbach,

242

5. Kap.: Folgerungen für das staatliche Handeln

­ inanzmärkten als effizient gelten kann. Dem Staat muss hierbei wiederum F ein Einschätzungsspielraum gegeben werden. Allerdings lässt sich dieser durch Anwendung des aus dem Umweltrecht stammenden Vorsorgeprinzips einschränken. Anders als im Umweltrecht, ist bei den Finanzmärkten zu be­ achten, dass die externen Risiken keine wirklich externen sind, sondern vielmehr von den Banken internalisiert werden, dies geht so weit, dass sogar mit den Risiken gehandelt wird.33 2. Finanzmarktrechtliches Vorsorgeprinzip Die Lebensbereiche, in denen das Untermaßverbot eine Rolle spielte, sind vielfältig und reichen von vorrangig gesundheitlichen Fragen wie dem Schwangerschaftsabbruch, Aidsprävention, Nichtraucherschutz34 oder Flug­ lärm35 bis zu umweltrechtlichen Fragen, wie dem Waldsterben36 oder dem Ozonloch37.38 Für das Finanzrecht wurde verschiedentlich vorgeschlagen, Anleihen beim Umweltrecht oder dem Katastrophenrecht zu nehmen.39 Insbesondere soll das umweltrechtliche Vorsorgeprinzip, das für die Europäische Union in Art. 191 Abs. 2 UAbs. 1 Satz 1 AEUV normiert ist, auch auf das Finanz­ marktrecht Anwendung finden können.40 Das Vorsorgeprinzip für das Um­ weltrecht besagt, dass Risiken für die Umwelt durch Staat und Gesellschaft bereits in einem frühen Zeitpunkt vorausschauend vermieden werden sol­ len.41 Ein finanzmarktrechtliches Vorsorgeprinzip würde also dafür streiten, vorausschauend Risiken für die Stabilität der Finanzmärkte zu vermeiden. Dem inhärenten Risiko des hochkomplexen Finanzsektors kann dadurch Rechnung getragen werden, dass der Gesetzgeber dieses in seine Rechtsset­

33  Mendelsohn,

Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Bankensektor, S. 98. 121, 317, 380. 35  BVerfGE 56, 54, 81. 36  BVerfG, NJW 1998, S. 3264, 3265. 37  BVerfG, NJW 1996, S. 651. 38  Vgl. Calliess, FS Starck, S. 201, 205; Möstl, DÖV 1998, S. 1029, 1030; ferner die Aufzählung bei Calliess, DVBl. 2003, S. 1096, 1099, unter Bezugnahme auf das Vorsorgeprinzip. 39  Zum Beispiel Calliess, VVDStRL 71 (2011) S. 113, 134 ff.; zustimmend Kloep­ fer, ebd., S. 232 f. (Aussprache); ferner Kaufhold, S.  203 ff.; M. Müller, Finanzmarkt­ stabilisierung und Anlegereigentum, S. 65. 40  Calliess, VVDStRL 71 (2011), S. 113, 136 ff. 41  Calliess, in: ders./Ruffert, EUV/AEUV, Art. 191 AEUV Rn. 32; Epiney, Um­ weltrecht in der Europäischen Union, S. 191; dies., in: Landmann/Rohmer (Hrsg.), Umweltrecht, Art. 191 Rn. 26, 28. 34  BVerfGE



A. Staatliche Handlungspflichten243

zung mit aufnimmt und sich am Vorsorgeprinzip orientiert.42 Das auch im europäischen Recht anerkannte Vorsorgeprinzip verlange ein staatliches Tä­ tigwerden nicht erst bei Realisierung eines Risikos, sondern schon bei Vorlie­ gen desselben, wobei ein gesetzgeberischer Spielraum bei Einschätzung der Risiken besteht.43 Treffend verweist Calliess hierbei darauf, dass zwar im Bankensektor bereits umfangreiche Regelungen bestehen, die bei Vorliegen von Risiken eingriffen, allerdings in den Sektoren, welche besondere Gefah­ ren für die Stabilität hervorriefen, wie den Schattenbanken, Hedgefonds und Versicherungen, kaum vergleichbare Regelungen bestünden.44 Zunächst stellt sich die Frage, ob Umweltrecht und das Recht der Finanz­ märkte so artverwandt sind, dass sich eine Anwendung der bewährten Kon­ zepte des Umweltrechts lohnt. Calliess verweist auf die Parallelen der Ent­ wicklung von Gefahren im Umweltrecht und den Bündelungen von Schrott­ papieren in CDOs.45 Der Vergleich ist treffend. CDOs sind an sich unschein­ bare Papiere, die durch ihren Inhalt systemische Risiken für die Weltwirtschaft bergen. Welche toxischen Wertpapiere zukünftige Krisen auslösen könnten, ist derzeit noch unklar. Die Anwendung eines Vorsorgeprinzips könnte den Staat dazu bringen, präventiv gegen die Entwicklung auf den Märkten Ein­ fluss zu nehmen. Gerade in den Jahren vor der Krise wurde der Markt für Derivate wie CDOs umfangreich dereguliert. Wiederum hätte dies durch die Anwendung eines Vorsorgeprinzips vermieden werden können. Auf der an­ deren Seite bestehen zwischen der Gefahrentwicklung auf den Finanzmärk­ ten und der Umwelt beachtliche Unterschiede. So wird vorgebracht, Finanz­ märkte beruhten nicht auf „Naturkonstanten“, sondern die gefährliche Ver­ netzung entspringe rechtlich vorgegebenen Entscheidungen.46 So wie Ge­ fahren für die Umwelt aber auch aus menschlichem Verhalten entspringen, gilt dies gleichermaßen für Gefahren auf den Finanzmärkten. Die Anleihen beim bereits entwickelten Umweltrecht sollen vor allem im Bereich der Gefahrenabwehr und Risikovorsorge liegen, indem bei der ge­ setzgeberischen Entscheidungsfindung, z. B. ähnlich der TA Luft, auf Aus­ arbeitungen sachverständiger Gremien abgestellt wird.47 Zu diesem Zweck wurde für die Einhaltung der Haushaltsdisziplin durch Art. 109a GG der Stabilitätsrat geschaffen. Für die Finanzmärkte gibt es den international be­ setzten Financial Stability Board (siehe bereits S. 153). Die Orientierung an 42  Calliess,

VVDStRL 71 (2011), S. 113, 139. VVDStRL 71 (2011), S. 113, 140. 44  Calliess, VVDStRL 71 (2011), S. 113, 141 f. 45  Calliess, VVDStRL 71 (2011), S. 113, 137; eine Vergleichbarkeit sieht auch Kaufhold, Systemaufsicht, S. 210. 46  M. Müller, Finanzmarktstabilisierung und Anlegereigentum, S. 65. 47  Calliess, VVDStRL 71 (2011), S. 113, 134. 43  Calliess,

244

5. Kap.: Folgerungen für das staatliche Handeln

den Empfehlungen sachverständiger Gutachten könnte zudem dem Gesetz­ geber verdeutlichen, welche Maßnahmen erfolgsversprechend sind. Problematisch an der Verlagerung von Einschätzungsspielräumen an sach­ verständige Gremien ist die Abgabe der Verantwortung durch das eigentlich demokratisch legitimierte Parlament.48 Dieses im allgemeinen Verwaltungs­ recht unter dem Stichwort des Beurteilungsspielraums diskutierte Problem, stellt sich allerdings kaum noch als ein solches dar. In bestimmten Bereichen, und hierzu zählen die Finanzmärkte, hat der demokratisch legitimierte Ge­ setzgeber nicht die Expertise, um allen Entwicklungen und daraus folgenden Problemen gerecht zu werden. Zurückhaltender bei der Anwendung des Vorsorgeprinzips ist Kaufhold.49 Das Vorsorgeprinzip enthalte keine Verpflichtung an die staatlichen Organe, ein bestimmtes Rechtsgut zu schützen.50 Darauf basierend könnte das Vorsor­ geprinzip allenfalls dann Anwendung finden, wenn eine solche Pflicht bestün­ de.51 Diese Bedenken bestehen nach der hier vertretenen Auffassung nicht, da das Grundgesetz an mehreren Stellen auf eine solche Pflicht hinweist. Im Ergebnis sollte daher das bekannte Vorsorgeprinzip auch bei der Recht­ setzung auf den Finanzmärkten Beachtung finden.

B. Exkurs: Krise und Demokratieprinzip Die akuten Folgen der Finanzkrise wurden durch staatliche Maßnahmen bekämpft. Im Nachgang der Krise haben Staaten verbesserte Eigenkapitalund Aufsichtsregime geschaffen, die ein erneutes 2008 verhindern sollen. Bei diesen stellt sich, neben den bereits skizzierten europa- und verfassungs­ rechtlichen Problemen, vor allem ein Demokratieproblem, genauer gesagt, eines der demokratischen Legitimation. Die Verletzung des Demokratieprin­ zips wurde zudem in jedem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, dass eine Maßnahme der Krisenbewältigung zum Gegenstand hatte, gerügt.52 Dabei ist zu konstatieren, dass die unmittelbaren Krisenmaßnahmen von 2007 bis 2009 das Bundesverfassungsgericht kaum beschäftigten53, vielmehr ging es um europäische Rettungsmaßnahmen. Schorkopf, VVDStRL 71 (2011), S. 183, 216. Systemaufsicht, S. 208 ff. 50  Kaufhold, Systemaufsicht, S. 209. 51  Kaufhold, Systemaufsicht, S. 210. 52  Zuletzt BVerfG, Urt. v. 30.07.2019, NJW 2019, S. 3204, 3216 f., Rn. 205 ff., zu einem „Anspruch auf Demokratie“. 53  Egidy, Finanzkrise und Verfassung, S. 372 ff., die dies auf die hohen Anforde­ rungen der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde zurückführt. 48  Vgl.

49  Kaufhold,



B. Exkurs: Krise und Demokratieprinzip245

Häde spricht im Kontext der EU-Rettungsschirme treffend von „Eil­ gesetzgebung“54, andere Autoren mit Blick auf das deutsche Finanzmarktsta­ bilisierungsgesetz von einem „Gesetzgebungssprint“55. Exemplarisch für diese Art der Gesetzgebung dient das Finanzmarktstabilisierungsgesetz, das an nur einem Wochenende, dem 11. und 12. Oktober 2008, entstanden ist. Die vorgesehenen demokratischen Verfahren wurden nicht vollständig durch­ laufen, dies war allerdings wegen der drohenden Gefahren wohl auch nicht möglich. Diese Eilgesetzgebung hängt mit dem Mehrebenensystem zusam­ men, in dem die Maßnahmen getroffen wurden. Im Rahmen der Unionsme­ thode treffen die Exekutiven der Mitgliedstaaten auf supranationaler Ebene Vereinbarungen, auf die die nationalen Parlamente nur noch reagieren und dabei nur schwer das bereits Vereinbarte in Frage stellen können.56 Es zeigt sich wiederum, dass in der Krise die vielbeschworene Stunde der Exekutive schlägt oder eine Funktionsverlagerung auf die Exekutive stattfindet. Beides stellt grundlegende demokratische Verfahren in Frage. In Frage steht aber zudem, ob die staatlichen und europäischen Organe überhaupt anders han­ deln konnten oder der Krise ausgeliefert waren und nur in dessen Rahmen handeln konnten.57 Ein wichtiges Organ der Krisenbewältigung war die Kommission, eine Institution, die weniger demokratisch als vielmehr exper­ tokratisch58 gestaltet ist. Auf der anderen Seite bieten die intergouvernementalen Methoden der Krisenbewältigung schnelle und effektive Methoden.59 Konstruktionen wie der ESM bieten Regierungen den Vorteil, dass sie nicht an den europarecht­ lichen Vorgaben gemessen werden müssen. Auch diese Argumente müssen im Rahmen einer Diskussion um Krise und Demokratieprinzip Beachtung finden. Wie lässt sich demokratischen Maßstäben gerecht werden in Situa­ tionen, in denen diese keine geeigneten Handlungsmöglichkeiten bieten. Eine Krise, die kurzfristig bekämpft werden muss, kann schwerlich durch ein langwieriges demokratisches Verfahren bewältigt werden, in dem Diskussio­ nen und Abstimmungen stattfinden sollen. Daher wirft die Krise Fragen grundsätzlicher Natur auf, wie demokratische Maßstäbe in Krisensituationen eingehalten werden können. Die Frage der 2011, S. 1; vgl. auch Heintzen, FS Kloepfer, S. 679, 686. NJW 2008, S. 3457, 3457. 56  Schorkopf, VVDStRL 71 (2011), S. 183, 211 f. 57  Schorkopf, VVDStRL 71 (2012), S. 183, 218 formuliert treffend die Frage, ob „Akteure in einer zeitgeistbedingten Gesamtkonstellation nur Macht in den Verhält­ nissen, nicht aber über die Verhältnisse haben“. Ausführlich hierzu Egidy, Finanzkrise und Verfassung, S.  155 ff. 58  So Voßkuhle, APuZ 13/2012, S. 3, 5. 59  Vgl. Thym, EuZW 2011, S. 167, 171; kritisch hierzu Joerges, Der Staat 51 (2012), S. 357, 371. 54  ZG

55  Ewer/Behnsen,

246

5. Kap.: Folgerungen für das staatliche Handeln

demokratischen Legitimation kann seit dem Maastricht-Urteil des Bundes­ verfassungsgerichts über die Hilfskonstruktion einer Verletzung von Art. 38 Abs. 1 GG gerügt werden.60 Diese Konstruktion wählten auch die Be­ schwerdeführer in den Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, die die Maßnahmen der Euro-Rettung zum Gegenstand hatten. Art. 38 Abs. 1 GG soll nicht nur das Wahlrecht garantieren. Die Norm schützt zugleich vor der Aushöhlung des Wahlrechts. Eine solche sollte nach den Beschwerdeführern der drei großen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zur Euro-Ret­ tung drohen. Ein weiteres Problem an den zwischenstaatlichen Konstruktionen ist die damit einhergehende eingeschränkte Prüfbarkeit durch die obersten Gerichte EuGH und BVerfG.61 Die Prüfbarkeit hoheitlicher Entscheidungen ist ein Grundelement eines demokratischen Rechtsstaates. Murswiek führt an, dass die bisherigen Schritte zur Euro-Rettung nur halb­ herzig waren und nicht geeignet seien, systemische Krisen auch in Zukunft abzuwenden. Dies verletze das Demokratieprinzip.62 Ferner wird ein „gerin­ ges Legitimationsniveau des Finanzkrisenmanagements“ konstatiert.63 Das Parlament befand sich in einer Zwangslage und hatte keine Möglichkeit zwischen Alternativen zu wählen; die Entscheidung, die in Betracht kam, war die einzig mögliche.64 Das Recht müsse Mittel bereitstellen, um eine hektische Aufarbeitung von Finanzkrisen zu verhindern, wie sie 2008 und in den Folgejahren geschah.65 2019 urteilte das Bundesverfassungsgericht zur europäischen Banken­ union66 und damit erneut zu einem Konstrukt, das aus der letzten Finanz­ marktkrise entstand. Die SSM-Verordnung stelle keinen Verstoß gegen das Demokratieprinzip dar und verletze Art. 38 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Art 20 Abs. 1 und 2 sowie Art. 79 Abs. 3 GG nicht.67 60  BVerfGE 89, 155, 171 f.; 123, 267, 330; 129, 124, 167 ff.; Murswiek, Die Eu­ rokrise vor dem Bundesverfassungsgericht, S. 30 ff. nennt dies treffend das „prozes­ suale Tor zur Kontrolle der Rettungspolitik“; hierzu ferner Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 38 Rn. 145 f. 61  Thym, EuZW 2011, S. 167. 62  Murswiek, Die Eurokrise vor dem Bundesverfassungsgericht, S. 52. 63  So Egidy, Finanzkrise und Verfassung, S. 479. 64  Murswiek, in: Hochhut (Hrsg.), Rückzug des Staates und Freiheit des Einzel­ nen, S. 203, 207; differenzierter Egidy, Finanzkrise und Verfassung, S. 5, die davon ausgeht, dass dem Staat eine Vielzahl von Instrumenten zur Verfügung stand. 65  Vgl. Joerges, Der Staat 51 (2012), S. 357, 374. 66  BVerfG, Urt. v. 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14, NJW 2019, S.  3204 ff. 67  BVerfG, Urt. v. 30.07.2019, NJW 2019, S. 3204, 3211  ff.; teilweise kritisch Ludwigs/Pascher/Sikora, EWS 2020, S. 85, 87 ff.



B. Exkurs: Krise und Demokratieprinzip247

Die Schieflage zweier italienischer Banken 2017 hat gezeigt, dass auch in demokratisch legitimierten Verfahren die Wahrung der demokratischen Stan­ dards nicht reibungslos funktioniert. Das beschlossene Abwicklungsrecht der SRM-Verordnung wurde von politischer Seite, wiederum genehmigt durch die Kommission, so ausgelegt, dass es nicht zur von der Verordnung vorge­ sehenen Gläubigerhaftung kam, da dies von politischer Seite nicht gewollt war. Das europäische Abwicklungsgremium ließ verlauten, dass die Abwick­ lung nach den Regeln der SRM-Verordnung „nicht im öffentlichen Interesse“ liege. Stattdessen wurde wiederum der Steuerzahler belastet, die Banken wurden mit 17 Mrd. Euro gerettet. Hintergrund war, dass die Anlagestruktur vor allem aus Kleinanlegern bestand, welche die zuständige ita­lienische Re­ gierung nicht belasten wollte. Dieses durchaus legitime Ziel stand im Kon­ flikt mit dem Abwicklungsrecht, welches eigentlich geschaffen wurde, um eben solche Bürger zu entlasten. Es zeigt sich, dass die angesprochene Problematik auch durch vorgesehene Verfahren nicht vollständig aufgelöst werden kann. Gerade die Krise und deren Erfahrungen hätten Anlass sein können, die Handlungskompetenzen auch in akuten Krisenzuständen an die unmittelbar demokratisch legitimierte Legislative „zurück-“zuverlagern. Die Rechtsetzung ist aber auch heute noch in der Lage, präventiv Verfahren festzulegen, die eine Funktionsverlagerung an die Exekutive eindämmen. So schlägt gerade in der Zeit vor der Krise vielmehr die Stunde der Legislative, die nun handeln kann, um Stabilität auf den Finanzmärkten herzustellen. Weitere Handlungsimpulse vermag das De­ mokratieprinzip nicht zu geben.

6. Kapitel

Europarechtliche Vorgaben zur Sicherung der Finanzmarktstabilität A. Die Verantwortung der Europäischen Union An die Entwicklung des Zieles der Finanzmarktstabilität im nationalen Recht schließt sich die Frage an, ob ein gleichlautendes oder zumindest ähn­ liches Ziel der Union besteht oder die Zielverwirklichung auf Ebene der Union erfolgen kann. Die Europäische Union ist kein Staat, sondern wird als Staatenverbund bezeichnet.1 Der Staatenverbund ist verpflichtet, das Gemeinwohl zu för­ dern sowie öffentliche Interessen wahrzunehmen; in diesem Kontext sind auch ein Unionsziel oder eine Gewährleistungsverantwortung möglich.2 Öffentliche Interessen, welche die Union wahrzunehmen hat, sind im Wech­ selspiel aus den Interessen der Mitgliedstaaten und den eigenen Interessen der Union zu bilden. Die Aufgaben der Union sind ursprünglich staatliche Aufgaben3, d. h. aus diesen zu entwickeln. Bemerkenswert ist, dass die Prozessvertreter der Verfassungsbeschwerde gegen die europäische Bankenunion argumentierten, dass die Finanzstabilität eine „originär nationale Pflichtaufgabe“ und daher nicht an die Union dele­ gierbar sei.4 Die Pflichtaufgabe stütze sich auf Art. 14 GG und sei durch die Einführung einer Bankenunion gefährdet.5 Dem muss nach der hiesig 1  BVerfGE 89, 155, 182  ff. (Maastricht); Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 1 EUV Rn. 41 ff. „Staaten- und Verfassungsverbund“; P. Kirchhof, in: v. Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 1009, 1016, 1019; a. A. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 1 EUV, Rn. 55  ff.; Hufeld, in: Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. X, § 215 Rn. 55 ff. 2  Vgl. Uerpmann-Wittzack, Das öffentliche Interesse, S.  30; EuGH, Urt. v. 21.09.1983, C-205-215/82, Deutsche Milchkontor, Slg. 1983, 2633, 2669 Rn. 32. 3  Calliess, in: Brugger/Kirste/Anderheiden (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, S. 173, 194. 4  Siehe das Plädoyer von Kerber vom 27.11.2018 zu den Verfahren vor dem BVerfG, Az. 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14 S. 6, abrufbar unter https://www. europolis-online.org/wp-content/uploads/2018/11/Plaedoyer_Verfassungsbeschwerde _gegen_Bankenunion.pdf (zuletzt abgerufen am 30.04.2020). 5  Kerber, ebd.



A. Die Verantwortung der Europäischen Union249

vertretenen Auffassung widersprochen werden. Die nationale Verantwortung ergibt sich zwar aus dem Grundgesetz, dass die Aufgabe nicht delegierbar sei, lässt sich dagegen aus dem Grundgesetz nicht ableiten. Dies wäre zudem widersprüchlich, da die Herstellung von Finanzmarktstabilität in Zeiten glo­ baler Märkte keine rein staatlich zu erfüllende Aufgabe sein kann. Erforder­ lich ist, dass Staaten im größtmöglichen Verbund gemeinsam zur Erfüllung der Aufgabe tätig werden. Zwar wäre es unzulässig, die gesamte Bankenauf­ sicht auf die Union zu übertragen, da Art. 127 Abs. 6 AEUV nur die Über­ tragung „besonderer Aufgaben“ ermöglicht6, dies schließt die Übertragung von Aufgaben an die Union in diesem Bereich aber nicht vollständig aus. Schließlich verbleiben auch bei Abgabe von Kompetenzen an die Union weitreichende Kompetenzen bei den Mitgliedstaaten. Die Aufsicht über die, vielleicht nicht als systemrelevant bezeichneten, aber doch für die Stabilität des Systems bedeutenden „kleineren“ Banken verbleibt bei den Mitgliedstaa­ ten7, in Deutschland bei der BaFin, die ca. 1.700 Institute überwacht, und der Bundesbank. Die Organe der Union gehen von einer Kompetenz zur Regelung in die­ sem Aufgabenbereich zweifellos aus. Die Kommission hat in den Jahren nach der Krise die europäische Finanzmarktgesetzgebung in eine Reihe mit einer nachhaltigen konjunkturellen Entwicklung im Unionsraum gestellt8 und damit den politischen Rang der Finanzmarktstabilität deutlich gemacht. Die Finanzkrise hat ebenfalls gezeigt, dass sich auch die Europäische Union gegenüber der Macht der Finanzmärkte nur dann behaupten kann, wenn die rechtlichen Mittel bereitstehen, Krisen effektiv zu bekämpfen und zu bewältigen. Dies muss gewährleistet werden, obwohl die Europäische Union in wirtschaftspolitischen Fragen nach Art. 3 und 5 AEUV lediglich eine nachrangige Funktion einnimmt und die Wirtschaftspolitik damit nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EUV in der Kompetenz der Mitgliedstaaten verbleibt. Auch bei Rechtssetzung der Union stellt sich die Frage, ob mit der Finanz­ marktstabilität ein geeigneter Rechtfertigungsgrund für Rechtseingriffe zur Regulierung der Märkte besteht. Dieses Problem spricht F. Schorkopf an, wenn er fragt, ob das europäische Recht, namentlich Art. 136 AEUV, wirk­ lich geeignet ist, Maßnahmen der Tragweite von „präventiven Krediten, Re­ kapitalisierung von Banken und Monetarisierung von Staatsschulden“ zu 6  Nunmehr ausführlich vom BVerfG dargestellt, in Urt. v. 30.7.2019, NJW 2019, S. 3204, 3211, Rn. 159 ff. m. w. N.; für die Zulässigkeit der Übertragbarkeit auch von „bedeutenden aufsichtliche(n) Kernaufgaben“ Thiele, GewArch 2015, S. 111, 116. 7  So auch BVerfG, Urt. v. 30.7.2019, Rn. 180, NJW 2019, S. 3204, 3214; zu den einzelnen Kompetenzen Thiele, GewArch 2015, S. 111, 116. 8  Kommission, Impulse für den Aufschwung in Europa, (KOM) 2009, S. 4.

250

6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

tragen.9 Eine Stabilisierungspflicht aus dem europäischen Recht wird derzeit nicht einheitlich beurteilt.10 Einen Impuls für Veränderungen bot die Feststellung, dass die Struktur der Wirtschafts- und Währungsunion in hohem Maße zu Entstehung und Verlauf der Euro- und Staatsschuldenkrise beigetragen hatte.11 In der Europäischen Union, in der rund 70 % der Unternehmensfinanzierung über Banken er­ folgt12, sind ein stabiles Bankensystem und stabile Finanzmärkte für die wirtschaftliche Entwicklung von enormer Bedeutung. Das Ergebnis einer verschleppten Bankenkrise lässt sich in Japan beobachten, das auch heute noch die Folgen einer Bankenkrise in den 1990er Jahren spürt, während die skandinavischen Länder auf regionale Bankenkrisen in demselben Zeitraum mit einer Restrukturierung ihrer Banken reagierten und heute besser daste­ hen.13 Aufgrund der überstaatlich gewährleisteten Kapitalverkehrsfreiheit sind der Regulierung durch die Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene rechtliche Grenzen gesetzt, was das Bedürfnis nach zumindest europäisch einheitlicher Regulierung verstärkt.14 Das Europarecht ist für das nationale Banken- und Aufsichtsrecht aufgrund der Vielzahl einschlägiger Regelungen von großer Bedeutung.15 Für einheitliche Regelungen spricht weiter, dass der europäi­ sche Markt, aufgrund der vielen Teilnehmer, von besonderer Intransparenz ist und dadurch leichter Informationsasymmetrien entstehen,16 unter denen die Stabilität des gesamten Marktes leidet. Die Größe des einheitlichen Fi­ nanzmarktes in Verbindung mit den nationalen Finanzmärkten innerhalb des europäischen Binnenmarktes spricht ebenfalls für das Erfordernis einheit­ licher Regelungen. 9  Schorkopf,

VVDStRL 71 (2011), S. 183, 207. ablehnend z. B. Kaufhold, Systemaufsicht, S. 193 ff., 209. Literatur gibt es zum nationalen Recht, diese Darstellungen gehen aber auf Vorgaben durch das euro­ päische Recht kaum ein; vgl. ferner Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsord­ nung im Bankensektor, S. 151, die feststellt, dass „Finanzmarktstabilität (noch) nicht zu den Zielen der Europäischen Union“ gehört. 11  Vgl. Schorkopf, VVDStRL 71 (2011), S. 183, 210; ferner Mayer, JZ 2014, S. 593, 600: „Die Euro-Krise als Verfassungsmoment.“ 12  Selmayr, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 127 AEUV Rn. 40. 13  Binder, ZBB 2013, S. 298, 310 m. w. N. 14  Schorkopf, VVDStRL 71 (2012), S. 183, 198; so auch schon der LarosièreBericht: Larosière-Gruppe, Report, 2009, S. 43 ff.; vgl. auch Ohler, DVBl. 2011, S. 1061, 1065. 15  Krimphove, EuR 2007, S. 597, 598. 16  Krimphove, EuR 2007, S. 597, 602 f.; Pflock, Europäische Bankenregulierung und das „Too big to fail-Dilemma“, S. 50 f. 10  Eher



A. Die Verantwortung der Europäischen Union251

Für das nationale Recht wurde festgestellt, dass die Finanzmarktstabilität in der Verantwortung des Staates liegt. Für eine Verantwortung der Union muss es aber weitere Kriterien geben als das bloße Bestehen einer national­ staatlichen Verantwortung. Die Rechtsquellen der Union machen diese auch für sich zu einem originären Träger von Zielvorstellungen, die zwar einen Bezug zu den Zielen einzelner Mitgliedstaaten aufweisen, aber nicht notwen­ dig mit diesen identisch sind. Die Europäische Union hat auch eigene Verant­ wortungen, um den europäischen Integrationsprozess weiter zu entwickeln. Dieser Gedanke fußt auf der Feststellung, dass die Union mehr sein muss als die Summe ihrer einzelnen Mitgliedstaaten. Diese Erkenntnis ist gerade auf dem Gebiet der Finanzmarktstabilisierung essentiell. Die Finanzmärkte sind in höchstem Maße internationalisiert, und ein einzelner Staat kann nur mit eigenen Regulierungsmaßnahmen kaum erfolgreich sein. In praktischer Hin­ sicht wird beim Erlass neuer Regelungen im Finanzsektor eine „hohe Schlag­ zahl“ beibehalten.17 So wurde die Schaffung einer europäischen Banken­ union mit dem klaren Ziel der Stabilisierung der Finanzmärkte durch Ent­ koppelung von Staaten und Banken und der Vermeidung von Systemrisiken in Angriff genommen.18 Die Regulierungsbemühungen in der Union verfolgen dabei einen diffe­ renzierten Ansatz zwischen nationalstaatlichen und europäischen Regelungs­ konstrukten. Im Bereich der Banken wurde beispielsweise mit der BRRD, welche die Einrichtung nationaler Abwicklungsfonds vorsah, ein dezentralen Ansatz verfolgt. Daneben wurde durch die SRM-VO ein unionseinheitlicher Abwicklungsmechanismus geschaffen, der durch die vorrangige Haftung von Eigentümern und Gläubigern den Steuerzahler schützen soll.19 Weiteres Ziel ist, die Verflechtung von Staaten und Banken durch die Auflösung der politischen und finanziellen Überforderung im Falle einer Bankeninsolvenz und dadurch die Erhöhung der Staatsverschuldung zu verringern.20 Die einzelnen Säulen der Bankenunion von vereinheitlichter Aufsicht zu einem einheitlichen Abwicklungsmechanismus schränken die Rechte privater Kre­ ditinstitute nicht unerheblich ein. Sie verfolgen den Zweck, die Defizite des vorherigen Abwicklungsregimes wie fehlende Präventionsmaßnahmen, die 17  Bischof/Jung,

in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 20 Rn. 8. Kaufhold, ZG 2017, S. 21, 23 f.; ferner Binder, ZBB 2013, S. 298, 299 f.; Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Bankensektor, S. 184; K. Peters, WM 2014, S. 396, 398. Zweifelnd gegenüber der stabilisierenden Wirkung der (bis jetzt) nur teilweise verwirklichten Bankenunion Tröger, EBOR 15 (2014), S. 449, 494 ff.; Kaufhold, a. a. O., S.  37 dagegen ist verhalten optimistisch; ebenso Hanten, in: Korte u. a., Energiewende und Finanzkrise als aktuelle Herausforderungen des Euro­ parechts, S. 75, 88. 19  Bischof/Jung, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, § 20 Rn. 7. 20  Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Bankensektor, S. 85. 18  Vgl.

252

6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

Unmöglichkeit früheren Eingreifens sowie die Unwägbarkeiten des Insolvenz­ verfahrens für systemrelevante Institute zu beseitigen.21 Das Ziel stabiler Finanzmärkte schwebt über allen Maßnahmen, so dass eine Stabilisierungs­ pflicht dem Regelungsinteresse der Union entsprechen dürfte. Eine Union, welche die Finanzmärkte nicht in den Griff bekommt, könnte sich politisch destabilisieren.22 Zuletzt ist zuzugestehen, dass auch am Regelungsrahmen der Union kriti­ siert werden kann, dass dieser immer noch zu klein sei, um die Gefahren des weltweiten Finanzsektors zu kontrollieren. Die Finanzkrise 2008 entwickelte sich in den USA und über die großen Banken an der Wall Street bis nach Europa. Systemischen Krisen, die ihren Ursprung an der Wall Street haben, kann die Union in ihrer Entstehung wenig entgegensetzen. Allerdings wurde die folgende negative Entwicklung in Europa durch mehrere Faktoren, einer­ seits innerhalb der Mitgliedstaaten, andererseits auch innerhalb der Union, begünstigt. Die Krise hätte ohne diese nicht ihren geschilderten Verlauf ­nehmen können. Die Europäische Union hat die Chance, neue Regeln zu schaffen, um somit für zukünftige Krisen gerüstet zu sein. Es gilt daher zu untersuchen, wie die Verträge der Union die Finanzmarktstabilität bewerten.

I. Die Begründung von Unionszielen und -aufgaben Während im nationalen Recht die Terminologie des Staatszieles gewählt wurde, ist im Folgenden zu untersuchen, ob ein Unionsziel besteht. Dazu ist zunächst zu klären, was ein Ziel der Union ist. Die Ziele der Union gehen notwendigerweise zunächst aus den Zielen der Mitgliedstaaten hervor.23 EUV und AEUV normieren daneben weitere Ziele und Aufgaben von Union und Mitgliedstaaten. Die Begriffe Ziel und Auf­ gabe haben in den Verträgen seit dem Reformvertrag von Lissabon dieselbe Bedeutung.24 Das Wort Aufgabe kommt im AEUV zwar an 34 Stellen vor, 21  Lackhoff/Yoo/Bauerfeind,

WM 2019, S. 1677, 1678. sieht Scharpf, ZSE 2011, S. 163, 193 ff., der auf die negativen Folgen der Stabilitätsmaßnahmen in Ländern wie Griechenland hinweist; ferner Thiele, GewArch 2015, S. 111, 112. 23  Sommermann, Staatsziele, S. 281; ferner Calliess, in: Brugger/Kirste/Ander­ heiden (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, S. 173, 194, zu Aufgaben der Union. 24  Müller-Graff, in: Dauses/Ludwig, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, A I Rn. 90; Pechstein, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 3 EUV Rn. 2; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 3 EUV Rn. 1; Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 3 EUV Rn. 20; Kotzur, DÖV 2005, S. 313, 314 nahm auch schon vor dem Vertrag von Lissabon eine weitgehende Deckung beider Begriffe an; treffend Calliess, ARSP-Beiheft 92 (2003), S. 85, 88, nach dem der Begriff Aufgaben die Mit­ 22  Dies



A. Die Verantwortung der Europäischen Union253

es werden aber fast ausschließlich Aufgaben bestimmter Organe, nicht solche der Union angesprochen. Dies deutet darauf hin, dass der Begriff der Auf­ gabe auch im Europäischen Recht hauptsächlich als Konkretisierung der insbesondere in Art. 3 EUV normierten Ziele verwendet wird. Eine Beson­ derheit ergibt sich hieraus nicht. Die oben beschriebene (siehe S. 74 ff.) Dif­ ferenzierung zwischen Staatzielen und Staatsaufgaben ist daher für das Euro­ parecht nicht von einer derartigen Bedeutung wie in der Dogmatik des Ver­ fassungsrechts. Das Unionsrecht folgt nicht denselben Leitlinien der Rechts­ findung, so dass die Methodik aus dem Verfassungsrecht nicht einfach übertragen werden kann. Unionsziele und -aufgaben werden zunächst in Art. 2 und 3 EUV sowie in der Präambel formuliert. Die Präambel formuliert allgemeine Zielvorgaben, die in Art. 3 EUV weiter konkretisiert werden. Art. 3 AEUV enthält in Abs. 1 die sog. Leitzieltrias, bestehend aus der Förderung des Friedens, der Unions­ werte und des Wohlergehens der Völker. In den folgenden Absätzen 2 bis 5 finden sich die vier operativen Hauptziele, welche den Weg zur Verwirk­ lichung der Leitzieltrias vorzeichnen. Daneben finden sich weitere Zielvor­ gaben über die Vertragsbestimmungen verteilt (z. B. Art. 13 EUV, Art. 24 Abs. 2 EUV oder Artt. 8–13 AEUV). Mehrere Autoren ziehen einen Ver­ gleich zu den Staatszielbestimmungen des Grundgesetzes25, so dass es in diesem Kontext gerechtfertigt ist, von Unionszielbestimmungen zu sprechen. Wie Staatszielbestimmungen enthalten auch die Unionszielbestimmungen mindestens ein Unionsziel.26 Schwind definiert Unionsziele, wiederum in enger Anlehnung an den Begriff des Staatszieles, als „zukünftige Zustände eines hinreichenden Abstraktionsniveaus, die durch primäres Unionsrecht der gesamten Union zur Verwirklichung rechtlich verbindlich aufgegeben sind“27 Mit der Anknüpfung an primäres Unionsrecht lässt sich eine weitere Parallele zu Staatszielen ziehen, die aus dem Grundgesetz folgen müssen. In ihrer Zukunftsfixierung dienen die Unionsziele der Verwirklichung des Gemein­ wohls. Ein höheres Gewicht im Gesamtgefüge der Europäischen Union er­ halten sie durch die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, alles zu unterlassen, was die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnte, Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV. Festhalten lässt sich, dass Unionsziele einerseits dem Gemein­ tel bezeichnete, mit denen die vertraglich gesetzten Ziele erreicht werden sollten; ohne Differenzierung EuGH, Urt. v. 21.02.1973, C-6/72, Continental Can, Slg. 1973, 215 Rn. 24; Urt. v. 29.09.1987, Rs. 126/86, Giménez Zaera, Slg. 1987, 3697 Rn. 10. 25  Calliess, ARSP Beiheft 92, S. 85, 104  f.; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 3 EUV Rn. 2; Waldhoff, in: Siekmann (Hrsg.), EWU, Art. 127 ­AEUV Rn. 4; noch weitgehender Müller-Graff, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kom­ mentar, Bd. I, Art. 3 EUV Rn. 1; zurückhaltend Kotzur, DÖV 2005, S. 313, 314. 26  F. Reimer, EuR 2003, S. 992, 997. 27  Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 341 ff.

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6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

wohl dienen sollen und andererseits ein Anknüpfungspunkt im Primärrecht erforderlich ist. Aus dem Sekundärrecht lassen sich keine weiteren Unions­ ziele deduzieren. Gegebenenfalls lässt sich aber aus dem erlassenen Sekun­ därrecht auf ein Unionsziel schließen. Die Union kann nicht selbstständig neue Ziele oder Aufgaben formulieren, sie werden von den Mitgliedstaaten gesetzt, da ihr keine umfassende Kompe­ tenz zur Formulierung eigener Ziele gegeben werden sollte.28 Aus der Vorgabe, dass Unionsziele im Primärrecht formuliert sein müssen, wird gefolgert, dass es keine impliziten Unionsziele geben kann.29 Die Aufzählung der Ziele in den Verträgen solle daher abschließend sein. Davon zu unterscheiden ist aber die Frage, welche Normen zur Begründung eines Unionszieles in Betracht kommen.30 Tatsächlich ist kein hinreichender Grund ersichtlich, den Katalog der Zielbestimmungen in Art. 2 und 3 EUV als ab­ schließend anzusehen. Auch andere Vertragsbestimmungen können klar in eine bestimmte Richtung weisen und damit Ziele begründen. Diese sind ebenso wie Art. 3 EUV durch die Mitgliedstaaten beschlossen worden, sind also nicht von minderer Qualität. Dabei ist darauf zu achten, dass die Kom­ petenzfrage und die Gefahr der Selbstermächtigung durch eigene Zielsetzun­ gen der Union beachtet wird. Dies kann dadurch berücksichtigt werden, dass die Herleitung von Unionszielen aus mehreren Vertragsvorschriften die be­ gründungspflichtige Ausnahme darstellt. Es kann aber auch im Rahmen der Verträge zu Situationen kommen, in denen sich ein Problem stellt, das sich bei Errichtung der Union so nicht stellte. Die Verträge sind in diesem Fall daraufhin zu untersuchen, ob sich aus ihnen Anhaltspunkte für die zu behan­ delnden Probleme ergeben, die in eine bestimmte Richtung zeigen. In diesem Kontext hilfreich sind die normativen Bewertungen und Abwägungskriterien, welche durch die anerkannten und normativ fixierten Unionsziele vorgege­ ben werden und in andere Rechtsbereiche ausstrahlen.31 In diesem Kontext können sie den Unionsorganen Handlungsdirektiven vorgeben und sogar zur Rechtssetzung in einem bestimmten Bereich verpflichten.32 Bedeutend ist darüber hinaus die Funktion als Auslegungshilfe für die Bestimmung des 28  Müller-Graff, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar, Bd. I, Art. 3 EUV Rn. 1; Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 352, 363 ff.; Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 3 EUV Rn. 8. 29  So Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 3 EUV Rn. 6; zur Problema­ tik siehe auch Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 354 ff. 30  Zu dieser Problematik H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 433 ff.; F. Reimer, EuR 2003, S. 992, 998, der eine Begründung von Unionszielen aus der Zusammenschau mehrerer Vertragsbestimmungen für möglich hält. 31  Kotzur, DÖV 2005, S. 313, 316; vgl. auch Basedow, FS Everling, S. 49. 32  Calliess, ARSP-Beiheft 92 (2003), S. 85, 98; Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 358 ff.; auch Basedow, FS Everling, S. 49 ff., verweist auf die nicht zu



A. Die Verantwortung der Europäischen Union255

Inhalts unbestimmter Rechtsbegriffe33 und im Rahmen der teleologischen Auslegung anderer Vorschriften des Unionsrechts.34 Die Bestimmung des Zielgehalts bestimmt sich nach allgemeinen Grund­ sätzen. Ist unklar, was eine Zielvorschrift des Unionsrechts aussagt, ist sie anhand der etablierten Auslegungsmethoden auszulegen.35 Besonderheiten bestehen in der Beachtung des Grundsatzes des effet utile und des Grundsat­ zes der autonomen Auslegung des Unionsrechts, der eine einheitliche Gel­ tung des Unionsrechts gewährleisten soll.36 Ähnlich der Differenzierung zwischen permanenten und perfektiblen Zie­ len wird bei den Unionszielen eine Differenzierung zwischen Zustands-, Richtungs- und Bereichszielen vorgenommen.37 Zustandsziele weisen auf einen zu erreichenden Zustand hin, ähneln also den perfektiblen Zielen, wäh­ rend Richtungsziele den Handlungen der Union einen bestimmten Weg vor­ geben. Bereichsziele lassen sich als solche verstehen, die lediglich den Tätig­ keitsbereich der Union aufzeigen, Leitlinien über den Weg oder den zu errei­ chenden Zustand enthalten sie nicht. Es besteht daher ein weiter Spielraum bei Verwirklichung des Bereichszieles. Gemein ist den verschiedenen Typen, dass sie in die Zukunft gerichtet sind, also einen noch zu erreichenden Zu­ stand im Blick haben.38 unterschätzende Bedeutung der Ziele für die Gesetzgebung der Gemeinschaft; vgl. ferner U. Becker, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 3 EUV Rn. 6. 33  EuGH Urt. v. 09.07.1969, C-1/69, Italien/Kommission, Slg. 1969, 277, 284; Müller-Graff, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar, Bd. I, Art. 3 EUV Rn. 1, 49; Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 360; F. Reimer, EuR 2003, S.  992, 1003 f.; Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 3 EUV Rn. 12. 34  Siehe z.  B. EuGH Urt. v. 21.02.1973, C-6/72, Continental Can, Slg. 1973, 215; Rn. 23; Schwind, Zukunftsgestaltende Elemente, S. 369 ff. m. w. N. aus der Rechtsprechung des EuGH; Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 3 EUV Rn. 12. 35  Siehe hierzu Borchardt, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, §  15 Rn.  31 ff. 36  Borchardt, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, § 15 Rn. 32 f., 47. 37  So Basedow, FS Everling, S. 49, 59 f.; ferner F. Reimer, EuR 2003, S. 992, 995 ff., der aber Bereichsziele als vorrangig kompetenzbegründend nicht dem Zielbe­ griff unterstellen möchte, dem ist zuzustimmen; siehe auch Terhechte, in: Grabitz/ Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 3 EUV Rn. 13 mit Beispielen; eher ableh­ nend gegenüber dieser Klassifizierung der Unionsziele Müller-Graff, in: Pechstein/ Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar, Bd. I, Art. 3 EUV Rn. 1. 38  Kotzur, DÖV 2005, S. 313, 315, der auf R. Alexys Begriff der „Optimierungs­ gebote“ verweist, als welche auch die Unionsziele eingeordnet werden könnten; ähn­ lich Calliess, ARSP-Beiheft 92 (2003), S. 85, 96, in Bezug auf das Ziel des Umwelt­ schutzes.

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6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

Eine weitere Parallele zu Staatszielbestimmungen besteht im Rechts­ charakter. Die Zielbestimmungen haben rein objektiv-rechtlichen Charakter, eine Klage vor dem EuGH auf Zielverwirklichung kann daher keinen Erfolg haben.39 Die Bestimmungen haben für die Gerichte vor allem die Funktion leitender Grundsätze, an denen sich die Entscheidungen zu orientieren haben. Deutlich wird die eingeschränkte Justitiabilität der Bestimmungen, allenfalls kann eine offensichtliche Zielverfehlung festgestellt werden.40 Die Unionsziele sind weiterhin in ihren Rechtswirkungen den Staatszielen vergleichbar, wobei sie durch ihre Wirkung auf den europäischen Integra­ tionsprozess sogar über diese hinausgehen.41 Müller-Graff benennt sieben Wirkungen der Unionsziele: Verpflichtungswirkung, Beschränkungswirkung, Auslegungswirkung, Ermächtigungskonkretisierung, Prinzipienbildung, rechts­ politische Orientierung und die primärrechtsakzessorische Radialwirkung.42 Die Zusammenschau zeigt, dass die Unionsziele die Ausrichtung der Euro­ päischen Union wesentlich beeinflussen und das Handeln der Organe in Richtung der Zielbestimmung leiten. Zugleich sind durch Art. 4 Abs. 3 EUV auch die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Union bei Erfüllung der Aufgaben aus den Verträgen (und damit auch der Unionsziele) zu unterstützen und Maßnahmen zu unterlassen, welche die Verwirklichung der Ziele konter­ karieren. Als weitere wesentliche Funktion ist die Interpretationshilfe hervor­ zuheben, über die es Unionsziele ermöglichen, die Aussagen anderer Vor­ schriften des europäischen Rechts durch Auslegung zu ermitteln.43 Zuletzt ist zu klären, wie mit Zielkonflikten umzugehen ist. Bei den vielen verschiedenen Unionszielen ist ein Konflikt zweier oder mehrerer Ziele in einigen Situationen unausweichlich. Den Unionsorganen kommt grundsätz­ lich bei Zielkonflikten ein weiter Einschätzungsspielraum dahingehend zu, welchem der Ziele der Vorrang zu gewähren ist.44 Zugleich wird durch den 39  Calliess, ARSP-Beiheft 92 (2003), S. 85, 94; Müller-Graff, in: Pechstein/No­ wak/Häde, Frankfurter Kommentar, Bd. I, Art. 3 EUV Rn. 2, 46; F. Reimer, EuR 2003, S. 992, 1005; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 3 EUV Rn. 5; Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 3 EUV Rn. 28. 40  Ress, VVDStRL 48 (1990), S. 56, 110 in Bezug auf Staatszwecke, die Aussa­ gen sollten sich aber auf die hier behandelten Unionsziele übertragen lassen; so auch Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 3 EUV Rn. 5. 41  Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 3 EUV Rn. 2. 42  Müller-Graff, in: Dauses/Ludwig, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, A I Rn. 177 ff.; ders., in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar, Bd. I, Art. 3 EUV Rn. 47. 43  Calliess, ARSP-Beiheft 92 (2003), S. 85, 91 m. w. N. 44  EuGH, Urt. v. 13.06.1958, Rs. 9/56, Meroni, Slg. 1958, 9, 43; Urt. v. 29.10.1980, Rs. 139/79, Maizena/Rat, Slg. 1980, I-3393; Calliess, ARSP-Beiheft 92 (2003), S. 85, 93; Müller-Graff, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar, Bd. I, Art. 3 EUV Rn. 3, 48.



B. Gemeinwohlverpflichtung der Europäischen Union257

systematischen Aufbau der Unionsziele klar, dass es eine bestimmte Ziel­ hierarchie geben muss, an die sich auch die Organe im Rahmen ihres Ent­ scheidungsspielraumes halten müssen.45 Die Kriterien, nach denen diese ­Hierarchien gebildet werden, müssen hier nicht ausgeführt werden, geht es zunächst nur darum, ob die Finanzmarktstabilität überhaupt ein Ziel der Union darstellt. Festgehalten werden sollte trotzdem, dass die Union nicht ein Ziel zugunsten eines anderen Zieles vollständig vernachlässigen darf, dies widerspräche dem Zielauftrag des Art. 3 EUV.46

II. Zwischenergebnis Im Ergebnis ist weiter festzuhalten, dass Art. 3 EUV die wesentlichen Unionsziele formuliert. Diese lassen sich als Grundziele der europäischen Union beschreiben. Trotz des ausführlichen Kataloges wird die Begründung weiterer Ziele und Aufgaben nicht gesperrt. Vielmehr lassen sich auch Ziele aus anderen Vertragsbestimmungen herleiten. Die ausführliche Aufzählung bedeutet aber, dass hohe Anforderungen an die argumentative Begründung eines solchen Zieles gestellt werden müssen. Es gibt Zielbestimmungen im Bereich des Europarechts. Die Unionsziele lassen sich von ihrer Konzeption her mit Staatszielen vergleichen, die in Art. 3 EUV normierten Ziele ähneln den Staatszielbestimmungen des Grund­ gesetzes. Die Unionsziele entfalten objektiv-rechtliche Wirkung. Für die Fi­ nanzmarktstabilität bietet sich in der europäischen Begriffsdogmatik der des Zustandszieles an, da auf einen bestimmten Zustand rekurriert wird, der zu erreichen ist. Die Unionsziele dienen wie Staatsziele der Verwirklichung des Gemeinwohls, was es erforderlich macht, auf die Gemeinwohlverpflichtung der Europäischen Union gesondert einzugehen.

B. Gemeinwohlverpflichtung der Europäischen Union Die Europäische Union ist dem Gemeinwohl aller ihrer Unionsbürger ver­ pflichtet. Dies ergibt sich zum einen aus Art. 3 Abs. 1 EUV, der als Ziel das allgemeine Wohl der Unionsvölker ausschreibt. Die recht allgemein gehal­ tene Formulierung beinhaltet nicht nur das wirtschaftliche Wohlergehen der 45  Ausführlich hierzu Basedow, FS Everling, S. 49 ff., 57 ff.; zurückhaltend ge­ genüber der Bildung von Hierarchien Müller-Graff, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar, Bd. I, Art. 3 EUV Rn. 3. 46  Müller-Graff, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar, Bd. I, Art. 3 EUV Rn. 3; Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 3 EUV Rn. 22.

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6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

Völker, jedoch bestehen zu diesem erhebliche „Schnittmengen“47, d. h. der wirtschaftliche Wohlstand macht einen großen Teil des Wohlergehens der Völker aus.48 Das wirtschaftliche Wohlergehen der Mitgliedstaaten wird im Wesentlichem durch die Entwicklungen auf den europäischen Finanzmärkten mitbestimmt. Das Gemeinwohl als oberster Staatszweck wird in einem Nationalstaat durch die Verfassung und in der Europäischen Union demzufolge durch die sie begründenden Verträge, also EUV und AEUV, konkretisiert.49 Die Ver­ fassung der Europäischen Union ist schon konzeptionell „der Prototyp einer dynamischen Verfassung (…)“50, die Auslegung kann also objektiv-ausle­ gungszeitlich erfolgen. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union kommt das Gemeinwohl insbesondere in der Cassis-Entscheidung51 zur Rechtferti­ gung von Beeinträchtigungen zunächst der Warenverkehrsfreiheit, später dann auch anderer Grundfreiheiten, zur Geltung. Danach kann eine Be­ schränkung durch zwingende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt wer­ den. Diese Gemeinwohlinteressen sind zwar solche der Mitgliedstaaten, dies schließt aber nicht aus, dass zugleich europäische Interessen mit betroffen sind.52 In einer ähnlich prominenten Entscheidung zur Bananenmarktverord­ nung wird dieselbe als dem Gemeinwohl dienend bezeichnet.53 47  Terhechte,

in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 3 EUV Rn. 32. in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 3 EUV Rn. 21; nach MüllerGraff, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar, Bd. I, Art. 3 EUV Rn. 22 und Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 3 EUV Rn. 32, ist wirtschaftlicher Wohlstand zumindest wesentlicher Bestandteil der Zielverpflichtung. 49  Siehe schon EuGH Urt. v. 23.04.1986, C-294/83, Les Verts, Slg. 1986, 1339 Rn. 23, wonach der Vertrag die „Verfassungsurkunde der Gemeinschaft“ ist; so auch BVerfGE 22, 293, 296 zum EWG-Vertrag; ausführlich Calliess, ARSP-Beiheft 92 (2003), S. 85, 99 ff.; ders., in: Brugger/Kirste/Anderheiden (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, S. 173, 177, 190 ff.; zum Verfassungscharakter der Europäischen Verträge H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 64; A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 38 ff.; Stern, Staatsrecht I, S. 541 („die Verträge haben den Rang der Grundnormen (Verfassungsnormen) einer eigenständigen Rechtsordnung“); Terhechte, EuR 2008, S. 143, 175 ff.; a. A. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 203 ff., 210, der in den Verträgen nicht den „demokra­ tischen Gehalt“ sieht, der eine Verfassung kennzeichne; ebenfalls ablehnend E. Klein, VVDStRL 50 (1991), S. 56, 70. 50  Schuppert, AöR 120 (1995), S. 32, 96; hierzu ferner A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 72 ff. 51  EuGH, Urt. v. 20.02.1979, Rs. 120/78, Rewe Zentralfinanz (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 649; weitere Beispiele bei Häberle/Kotzur, Europäische Verfassungslehre, S.  587 f. 52  Häberle/Kotzur, Europäische Verfassungslehre, S. 659. 53  EuGH, Urt. v. 5.10.1994, C-280/93, Bananenmarktverordnung, Slg. 1994, I-4973. 48  Ruffert,



B. Gemeinwohlverpflichtung der Europäischen Union259

Finanzmarktstabilität stellt im europäischen Kontext einen Gemeinwohlbe­ lang dar. An dieser Stelle kann zur Begründung überwiegend auf obige Aus­ führungen (siehe S. 119 ff.) verwiesen werden. Danach bildet die Finanz­ marktstabilität einen Gemeinwohlbelang. Dies gilt gerade im größeren Rah­ men der Europäischen Union. Wie stark der wirtschaftliche Wohlstand von stabilen Finanzmärkten abhängt, wurde durch die Krise nicht nur in Grie­ chenland offenbar. Wie bereits festgestellt wurde, hängt der Begriff des Ge­ meinwohls auch in den Verträgen eng mit dem wirtschaftlichen Wohlstand zusammen, so dass die Verfolgung eines Zieles der Finanzmarktstabilität dem Gemeinwohl dient. Eine Besonderheit findet im europäischen Beihilfenrecht. Im diesem Kon­ text wird erwogen, auch Systemrelevanz als Gemeinwohlgrund anzuerken­ nen54, der damit auch eine Beihilfe nach Art. 107 Abs. 3 lit. b), c) oder d) AEUV rechtfertigen könnte. Die Systemrelevanz von einzelnen Instituten ist für die Stabilität des Systems von tragender Bedeutung. Als Unterpunkt der Finanzmarktstabilität sollte sie daher auch vom Gemeinwohl erfasst sein und einen Gemeinwohlbelang darstellen. P. Kirchhof stellt einen direkten Zusammenhang zwischen der Anerken­ nung der Europäischen Union durch ihre Bürger, dem Euro und den Finanz­ märkten her.55 Dies fuße auf dem beschriebenen Zusammenhängen zwi­ schen Staatshaushalten und den Finanzmärkten sowie zwischen Wirtschaft und den Finanzmärkten. Darauf aufbauend, ließe sich argumentieren, dass die Union das Problem instabiler Finanzmärkte auf lange Sicht in den Griff bekommen muss, um sich die Anerkennung der Bürger zu sichern. Es zeigt sich bereits im Rahmen der letzten Krise, dass die bürgerliche Anerkennung der Union durch die Folgen der Eurokrise gelitten hat. Trotz der positivrechtlichen Anknüpfung der Gemeinwohlverpflichtung der Union im EUV kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass die Europäische Union auch dem Gemeinwohlbelang Finanzmarktstabi­ lität mit der Bindungswirkung eines Unionszieles verpflichtet ist. Insofern gleicht die Argumentation derjenigen, der oben für das nationale Verfas­ sungsrecht gefolgt wurde. Dass Finanzmarktstabilität einen Gemeinwohlbe­ lang darstellt und als solcher anerkannt ist, sollte alleine nicht genügen, um ein Unionsziel anzunehmen, dass Grundrechten gleichgestellt gegenübersteht. Vielmehr ist zudem erforderlich, dass auch Anknüpfungspunkte im Primär­ recht bestehen. 54  Häberle/Kotzur, Europäische Verfassungslehre, S. 660; vgl. auch Schott, Re­ aktionen des Staates, S. 70 ff., zu Eingriffen, die mit einer „Systemgefährdung“ ge­ rechtfertigt werden. 55  P. Kirchhof, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, Bd. X, § 214 Rn. 89, 93.

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6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

C. Die Europäische Union als Stabilitätsgemeinschaft Die Europäische Währungsunion wurde erstmals im Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes als „Stabilitätsgemeinschaft“ bezeichnet, deren Bestehen eine Grundvoraussetzung zum Beitritt der Bundesrepublik zur Wirtschafts- und Währungsunion sei. Im Recht der Union hat dieser Gedanke jedoch wenig Niederschlag gefunden, weshalb an der Tauglichkeit dieses Terminus zur Begründung eines Zieles der Finanzmarktstabilität gezweifelt werden kann. Dagegen weisen die Entwicklungen nach der Eurokrise darauf hin, dass eine Stabilitätsgemeinschaft besteht. Wesentlich ist Art. 3 Abs. 2 des Fiskal­ paktes, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, Regelungen zu schaffen, um die Staatsverschuldung zu bekämpfen. Im Grundgesetz findet sich in Art. 109 Abs. 3 GG die sog. „Schuldenbremse“. Mehrere Bundesländer haben eben­ falls eine solche in ihre Verfassung mit aufgenommen. Die Union als Stabi­ litätsgemeinschaft hat durch die letzte Krise entscheidende Impulse erfahren, um in Zukunft Entwicklungen wie seit 2008 verhindern zu können. Wenn man annimmt, dass die Entwicklungen, die zur Krise führten, auf den Fi­ nanzmärkten begannen, ist auch ihre Stabilität zu gewährleisten. Die Stabili­ tätsgemeinschaft erschöpft sich daher nicht in Währungsstabilität, sondern umfasst auch die Stabilität der Finanzmärkte. Im Folgenden muss daher un­ tersucht werden, ob der Gedanke der Finanzmarktstabilität hinreichend im Primärrecht zu finden ist.

I. Art. 3 Abs. 3 EUV Aus dem Zielkanon des Art. 3 EUV stechen im Rahmen einer Untersu­ chung über die Finanzmarktstabilität besonders die Ziele des Abs. 3 ins Auge. Die Norm enthält mehrere Zielverpflichtungen der Europäischen Union, die zwar keine Kompetenzen begründen, aber auf eine Verantwortung für die Stabilität der Finanzmärkte hinweisen könnten. Die Ziele des Art. 3 EUV werden in weiteren Rechtsquellen konkretisiert und ausdifferenziert. Zunächst sind die allgemein gehaltenen Ziele des Art. 3 Abs. 3 EUV, also das Bekenntnis zum Binnenmarkt, das Ziel eines ausgewogenen Wirtschafts­ wachstums, die Preisstabilität, das Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft, die Vollbeschäftigung sowie der soziale Fortschritt und ihr Bezug zu den Finanzmärkten zu untersuchen.



C. Die Europäische Union als Stabilitätsgemeinschaft261

Fraglich ist, inwiefern das „magische Viereck“ der Union56 dafür spricht, dass auch die Union eine Verantwortung für die Finanzmärkte trifft. Dass die Verpflichtungen durchaus Bezüge zur Stabilität der Finanzmärkte haben, wurde bei Auslegung der Verpflichtungen des magischen Vierecks aus Art. 109 Abs. 2 GG gezeigt (siehe S. 178 ff.). 1. Die Verpflichtung der Europäischen Union auf das Ziel der Einhaltung von Preisstabilität Die Europäische Union wird in Art. 3 Abs. 3 S. 2 EUV auf die Einhaltung der Preisstabilität verpflichtet. Die Verpflichtung wird in Art. 119 Abs. 1 Satz 1 und Art. 282 Abs. 2 Satz 2 AEUV sogar als „vorrangiges Ziel“ be­ zeichnet. Aus dieser Bezeichnung lässt sich der hohe Rang der Preisstabilität auch innerhalb der Unionsziele ableiten.57 Dieses vorrangige Ziel ist von allen Organen der Europäischen Union zu verfolgen, eine herausgehobene Stellung nehmen die EZB und die nationalen Zentralbanken ein, die zur op­ timalen Zielerreichung unabhängig sind. Als Unionsziel kommt der Preisstabilität auch bei der Auslegung eine be­ sondere Rolle zu. So ist bei der Auslegung von Kompetenztiteln im Zweifel derjenigen Vorrang einzuräumen, welche die Preisstabilität besser fördert; bei Ausübung von Ermessenspielräumen gilt dasselbe.58 Durch die Implemen­ tierung der Preisstabilität als Ziel wird deutlich, dass diese als wesentliche Voraussetzung gesamtwirtschaftlicher Stabilität gesehen wird. Das Ziel wird vorranging durch die Europäische Zentralbank und das ­ uropäische System der Zentralbanken verwirklicht, vgl. Artt. 127 Abs. 1 E Satz 1, 282 Abs. 2 Satz 2 AEUV. Um die Zielverwirklichung zu sichern, haben die Mitgliedstaaten Kompetenzen in der Geld- und Währungspolitik auf das ESZB übertragen. Zugleich ist eine koordinierte Wirtschaftspolitik der einzelnen Mitgliedstaaten notwendig, auf die sich diese in Art. 121 AEUV verständigt haben.59 Art. 121 AEUV erfasst die staatliche Haushalts­ politik und alle Bereiche, die für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung von 56  U. Becker, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 3 Rn. 13; Konow, Der SWP, S. 17; Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 3 EUV Rn. 49. 57  Nach Kempen, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 127 Rn. 2 hat die Preisstabilität nach dem europäischen Recht – anders als nach Art. 109 GG – Vorrang vor den übri­ gen Zielen des „magischen Vierecks“; ebenso Glatzl, Geldpolitik und Bankenaufsicht im Konflikt, S. 23; ferner Selmayr, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäi­ sches Unionsrecht, Art. 282 AEUV Rn. 32; Waldhoff, in: Siekmann (Hrsg.), EWU, Art. 127 AEUV Rn. 7, 15. 58  Kempen, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 127 Rn. 4. 59  Kempen, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 126 Rn. 1.

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6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

Bedeutung sind.60 In diesem Bereich haben EZB und ESZB nach Art. 127 Abs. 1 Satz 2 AEUV nur eine unterstützende Funktion, die durch das Primat der Preisstabilität begrenzt ist. Der EZB stehen vorrangig zwei Wege offen, die Preisstabilität zu gewähr­ leisten. Zum einen die Möglichkeit der indirekten Steuerung über die Fest­ legung des Leitzinssatzes, zum anderen die direkte Steuerung durch das Be­ reitstellen von Geld.61 a) Die Erweiterung des Zieles auf die Finanzmarktstabilität Nach einigen Stimmen in der Literatur soll bereits die Eurokrise dafür gesorgt haben, dass Preisstabilität durch Finanzstabilität als wichtigsten Grundsatz der Wirtschaftspolitik der Union ersetzt wurde.62 Hierfür ließe sich anführen, dass die Euro- und Staatsschuldenkrise der wesentliche Impe­ tus für Rechtsetzung auf den Finanzmärkten, auch in Europa, war. Zudem wird die Finanzstabilität im ESM-Vertrag als eine der Voraussetzungen zur Gewährung von Stabilitätshilfe normiert, Art. 12 Abs. 1 ESM-Vertrag. Neu­ ere Regelungswerke stellen nicht mehr primär auf Preisstabilität, sondern auf Finanzstabilität ab. Auch hier kann der ESM herangezogen werden, in dessen Präambel die Verpflichtung der Vertragsstaaten zur Wahrung der Finanzstabi­ lität des Euro-Währungsgebietes festgesetzt wird.63 Die Finanzstabilität des Euro-Währungsgebietes enthält als wesentliches Element die Finanzmarkt­ stabilität, weshalb sich die Verpflichtung durch den ESM auch auf die ­Finanzmarktstabilität bezieht und damit zumindest für die am ESM teilneh­ menden Staaten gilt. Art. 121 AEUV schafft die Grundlage und Kompetenz der mitgliedstaat­ lichen Koordination der Wirtschaftspolitik. Die Mitgliedstaaten sind ver­ pflichtet, ihre Wirtschaftspolitik als gemeinsame Angelegenheit zu betrach­ ten.64 Die Norm schafft insofern lediglich eine Kompetenz zur Koordinie­ rung. Mit der Finanz- sowie Staatschuldenkrise trat der Missstand in der 60  Ohler, in: Siekmann (Hrsg.), EWU, Art. 121 AEUV Rn. 8; ders., Bankenauf­ sicht und Geldpolitik in der Währungsunion, § 3 Rn. 24. 61  Selmayr, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 127 AEUV Rn. 12. 62  Dezidiert auf die Europäische Union bezogen Tuori/Tuori, The Eurozone Crisis, S. 183; ferner Selmayr, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unions­ recht, Art. 282 AEUV Rn. 61, der allerdings nicht von einer einheitlichen Zielsetzung ausgeht, sondern Preisstabilität als das vorrangige Ziel ansieht (Rn. 65). 63  Siehe hierzu Murswiek, FS Stürner, S. 1925, 1927 f. 64  Schulte, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 121 AEUV Rn. 6.



C. Die Europäische Union als Stabilitätsgemeinschaft263

gemeinsamen Koordination der verschiedenen Volkswirtschaften zutage, die den Gedanken des Art. 121 AEUV wieder ins Gedächtnis rief und der über die Europa-2020-Strategie wieder verstärkt Anwendung finden sollte.65 Die Koordinierung hat dabei anhand vorgegebener Ziele zu erfolgen, welche sich die Mitgliedstaaten gemeinschaftlich geben.66 Nach den Erfahrungen der Fi­ nanzkrise sah die Union ein solches Koordinationsziel in der Finanzmarkt­ stabilität. Die Norm des Art. 121 AEUV schafft jedoch nur die Kompetenz, ein solches Ziel als Ziel der Koordination auszugeben, sagt aber nichts weiter über ein spezifisches Ziel der Finanzmarktstabilität aus. Stattdessen begrün­ det sie ein eigenes Ziel und eine Pflicht der Koordination der Wirtschaftspo­ litiken.67 Da die Norm in der Kompetenz zur Ausgabe von Zielen wiederum auf Art. 119, 120 AEUV und Art. 3 Abs. 3 EUV rekurriert68 und auch durch diese beschränkt ist, kann sie nicht alleine die Begründung eines Unions­ zieles tragen. Der Aussagegehalt des Art. 121 AEUV kann nicht über den des Art. 3 Abs. 3 EUV hinausgehen. Gegen eine Erweiterung der Verpflichtung auf die Finanzmarktstabilität wird vorgebracht, dass zwar wechselseitige Auswirkungen bestehen, letztlich aber immer weitere Faktoren von Bedeutung sind.69 Andererseits kann ar­ gumentiert werden, dass die Verträge eindeutig Preisstabilität als übergeord­ neten Topos normiert haben. Dieser Argumentation lässt sich entgegenhalten, dass die Finanzkrise ge­ rade gezeigt hat, dass Finanzmarktstabilität der dominierende Faktor ist. Preisstabilität hängt stärker von Finanzmarktstabilität ab, als es umgekehrt der Fall ist. Dass Preisstabilität noch für andere Faktoren als die Finanz­ marktstabilität von Bedeutung ist, muss nicht notwendig den Schluss bedeu­ ten, dass Preisstabilität vorrangig zu gewähren sei. b) Die „gesunden monetären Rahmenbedingungen“ als Verpflichtung auf die Finanzmarktstabilität Selmayr schließt aus der Formulierung „gesunde (…) monetäre Rahmen­ bedingungen“, dass durch die Verträge ein funktionierendes Bankaufsichts­ 65  Schulte, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 121 AEUV Rn. 6. 66  Vgl. Bandilla, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 121 AEUV Rn. 7. 67  Müller-Graff, in: Dauses/Ludwig, Hdb. des EU-Wirtschaftsrechts, A I Rn. 161, 165. 68  Vgl. Bandilla, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 121 AEUV Rn. 7, 8. 69  So Kaufhold, Systemaufsicht, S. 202.

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6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

system angestrebt wird.70 Die Verantwortung für diese Aufgabe soll zwischen Union und Mitgliedstaaten geteilt sein.71 Für diese Ansicht lässt sich anführen, dass die Formulierung in Art. 119 Abs. 3 AEUV unter dem Eindruck der durch Banken und große Finanzinsti­ tute mitverursachten Euro- und Staatsschuldenkrise entstand. Die Gefahr von Krisen ließe sich durch ein verbessertes Bankenaufsichtssystem durchaus besser kontrollieren.72 Die Bankenaufsicht dient in letzter Konsequenz der Finanzmarktstabilität, indem makroökonomische Risiken effektiver kontrol­ liert werden. Andererseits folgt aus der Norm keine Verpflichtung, was auf den fehlenden Zielgehalt der Norm zurückzuführen ist. Für eine Verpflich­ tung der Union auf die Einhaltung von Finanzmarktstabilität gibt Art. 119 Abs. 3 AEUV daher wenig her. c) Zwischenergebnis Wie im nationalen Recht lässt sich auch die Verpflichtung der Union auf die Einhaltung der Preisstabilität zugleich als Verpflichtung auf die Förde­ rung der Finanzmarktstabilität verstehen. Dem steht nicht entgegen, dass der Wortlaut sich nur explizit auf die Preisstabilität bezieht, da die Finanzmarkt­ stabilität diese als wesentlichen Faktor für die Stabilität im Euroraum insge­ samt überholt hat. Die Verpflichtung auf Preisstabilität in Art. 3 Abs. 3 EUV bedeutet damit zugleich eine Verpflichtung auf die Finanzmarktstabilität. Für die Begründung eines Unionszieles sollte dies aber angesichts des klaren Wortlauts noch nicht genügen. Es ist daher nach weiteren Anknüpfungspunk­ ten im Unionsprimärrecht zu suchen. 2. Das Ziel eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums Die Union soll nach Art. 3 Abs. 3 S. 2 EUV auf die nachhaltige Entwick­ lung Europas auf Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums hinwirken. Die Entwicklung auf den Finanzmärkten ist für die Wirtschafts­ lage der Mitgliedstaaten der Union essentiell. Nach Ausbruch der Krise sank die allgemeine Wirtschaftsleistung – gemessen am BIP – in allen Mitglied­ 70  Selmayr, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 127 AEUV Rn. 40 und Art. 282 AEUV Rn. 61. 71  Selmayr, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 282 AEUV Rn. 61. 72  Zweifelnd Pahlow, Der Staat 50 (2011), S. 621, 622 ff., 635 f., mit Beispielen zu den Folgen vergangener Finanz- und Wirtschaftskrisen. Durch die o. g. Formulie­ rung soll aber nicht ausgedrückt werden, dass eine verbesserte Bankenaufsicht alleine ausreicht, um die Finanzmärkte zu stabilisieren.



C. Die Europäische Union als Stabilitätsgemeinschaft265

staaten um knapp 10 % – von 13,5 Billionen Euro im Jahr 2008 auf 12,3 Bil­ lionen Euro im Jahr 2009.73 Wegen der dem Finanzmarkt inhärenten systemischen Risiken ist eine rein nationale Finanzmarktkrise mittlerweile nahezu ausgeschlossen. Die Ver­ flechtungen der einzelnen Staaten in diesem Sektor sind, auch durch die eu­ ropäische Wirtschafts- und Währungsunion, derart eng, dass die Krise eines Staates zu einer Krise aller Mitgliedstaaten wird. Allerdings ist die Förderung des allgemeinen Wirtschaftswachstums von mehreren Faktoren abhängig. Die Finanzmarktstabilität kann nicht derart herausgehoben werden, dass ihr im Rahmen der allgemeinen Förderungspflicht ein allgemeiner Zielcharakter zukommen sollte. 3. Zwischenergebnis Die Rechtsordnung der Europäischen Union enthält wie das Grundgesetz keine explizite Verpflichtung auf die Finanzmarktstabilität.74 Sie ist jedoch als Kompromiss zwischen 28 Mitgliedstaaten noch offener als das Grundge­ setz für tatsächliche Entwicklungen. Auch hier lässt sich das Konzept einer living constitution anführen. Der Lissabonner Vertrag enthält die grundlegen­ den Vorgaben und ist damit als Verfassung zu begreifen. Die Stabilität der Finanzmärkte war das wesentliche Motiv und zugleich Rechtfertigung zur Installation der Stabilitätsmechanismen ESM75 und EFSF76. Vorgesehen ist die Rolle eines „unionseigenen IWF“77 innerhalb der Europäischen Union. Dies deutet auf eine gesteigerte Rolle der Finanzmarkt­ stabilität hin. Es lässt sich argumentieren, dass die Finanzmarktstabilität schon im Ver­ trag von Maastricht zum Unionsziel erhoben wurde. Ausdrücklich wurde zwar nur auf das Ziel der Preisstabilität Bezug genommen, jedoch sind die Konstrukteure des Vertrages davon ausgegangen, dass durch Preisstabilität auch die Finanzmarktstabilität gewährleistet werden kann.78 Nachdem die 73  Siehe https://de.statista.com/statistik/daten/studie/222901/umfrage/bruttoinlands produkt-bip-in-der-europaeischen-union-eu/; ein Abfall um 10 % mag klein erschei­ nen, jedoch sank das reale BIP erstmals seit dem Ende des zweiten Weltkrieges, was den Ausnahmecharakter der Finanzkrise unterstreicht, siehe http://www.bpb.de/nach schlagen/zahlen-und-fakten/globalisierung/52584/finanz-und-wirtschaftskrise. 74  So auch Kaufhold, Systemaufsicht, S. 194 f. 75  Siehe Erwägungsgrund Nr. 6, 13 zum Vertrag zur Einrichtung eines Europäi­ schen Stabilitätsmechanismus. 76  Siehe Erwägungsgrund Nr. 1, 2. 77  Ruffert, EuR 2011, S. 765, 778. 78  So Tuori/Tuori, The Eurozone Crisis, S. 184.

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6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

tatsächliche Entwicklung diese These nicht bestätigt hat, spricht einiges ­dafür, die Finanzmarktstabilität als eigenständiges Ziel der Union anzuerken­ nen. Hiermit ist der Zielkanon des Art. 3 Abs. 3 EUV aber noch nicht er­ schöpft, auch die weiteren Teilbereiche könnten auf ein Ziel der Finanz­ marktstabilität hinweisen.

II. Die Gewährleistung eines gemeinsamen Binnenmarktes 1. Binnenmarkt und Finanzmärkte Die Union hat einen „gemeinsamen Binnenmarkt in Form eines Raumes ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienst­ leistungen und Kapital gemäß den Be-stimmungen der Verträge gewährleistet ist“ (Art. 26 Abs. 2 AEUV), zu errichten und zu sichern. Ziel der Union ist die dauerhafte Verwirklichung der Grundfreiheiten des AEUV. Dies war und ist das wichtigste Ziel des europäischen Integrationsprozesses.79 Art. 26 Abs. 2 AEUV kann daher als Unionszielbestimmung, vergleichbar einer Staatsziel­ bestimmung im deutschen Verfassungsrecht, eingeordnet werden.80 Die Binnenmarktfreiheiten machen es erst möglich, unabhängige Tätigkeit auf dem Markt zu betreiben und Kapital wirtschaftlich nutzbringend einzu­ setzen. Sie sind daher für das Bestehen des europäischen Finanzmarktes von grundlegender Bedeutung. Die Integration der Finanzmärkte durch eine wei­ tere Vernetzung der Institute hat aber zugleich zu einer Erhöhung der syste­ mischen Risiken geführt.81 Hieraus wird teilweise geschlossen, dass das Vorsorgeprinzip über das Umweltrecht hinausgreifend für das Finanzmarkt­ recht präventive Tätigkeiten verlange.82 Allerdings wäre es dem Binnen­ marktgedanken zuwiderlaufend, folgerte man aus den Grundfreiheiten eine Rechtfertigung für Regulierungseingriffe in die Freiheit der Finanzmärkte. Die Verbindung beider Komplexe bedarf daher weiterer Erörterung. In seiner Entscheidung zur Leerverkaufs-VO83 nannte der EuGH Finanz­ marktstabilität als Bestandteil der Errichtung des Binnenmarktes.84 Die Ver­ 79  Pechstein, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 3 EUV Rn. 7; Ruffert, AöR 134 (2008), S.  197, 231 f. 80  Siekmann, in: Möllers/Zeitler (Hrsg.), Europa als Rechtsgemeinschaft, S. 101, 146. 81  Pflock, Europäische Bankenregulierung und das „Too big to fail-Dilemma“, S.  64 f. 82  Pflock, ebd. 83  VO (EU) Nr. 236/12, ABl. 2012 L 86, S. 1. 84  EuGH, Urt. v. 22.01.2014, Rs. C-270/12, ESMA, JZ 2014, S. 244, 247, 249; zustimmend Klingenbrunn, Produktverbote zur Gewährleistung von Finanzmarkt­ stabilität, S. 24; ferner Kaufhold, Systemaufsicht, S. 197.



C. Die Europäische Union als Stabilitätsgemeinschaft267

pflichtung auf die Förderung des Binnenmarktes erstreckt sich daher auch auf die Finanzmärkte als Teil des Binnenmarktes. Ziel ist die Schaffung eines europäischen Finanzraumes, der aus einem einheitlichen Wertpapier-, Ban­ ken- und Versicherungsmarkt ohne Beschränkungen besteht.85 Der Binnenmarkt wird durch die europäischen Grundfreiheiten verwirk­ licht. Verbindung zu den Finanzmärkten weist insbesondere die Kapitalver­ kehrsfreiheit (Art. 63 ff. AEUV) auf. Die Niederlassungsfreiheit ermöglicht die weitgehend problemlose Gründung von Finanzinstituten in verschiedenen Mitgliedstaaten, und die Dienstleistungsfreiheit die Übertragung von Vermö­ genswerten durch die Finanzinstitute.86 Auch die Finanzaufsicht ist vor allem im Hinblick auf einen funktionierenden Binnenmarkt erforderlich.87 Die Verbindung von Finanzmärkten und Staaten drückt sich damit auch auf dem gemeinsamen Binnenmarkt aus, der gleichermaßen mit der Finanzmarkt­ stabilität zusammenhängt.88 Auf der anderen Seite liegt ein Widerspruch darin, dass der gemeinsame Binnenmarkt die Größe der Finanzmärkte begünstigt und damit ihre Krisen­ anfälligkeit erhöht.89 Daraus zieht Kaufhold den Schluss, dass der gemein­ same Binnenmarkt die Union nicht zugleich dazu verpflichtet, die Stabilität der Finanzmärkte zu gewährleisten.90 Es ist zu untersuchen, ob dem in dieser Stringenz gefolgt werden kann. Das Binnenmarktziel wird durch Art. 114 AEUV flankiert, der es ermög­ licht, ergänzende Regelungen zu erlassen. Die Norm gerät in den Blick, da mehrere kapitalmarktrechtliche Regelungen (wie z. B. die Leerverkaufs-VO, die Ratingagenturen-VO91 oder die EMIR92) in auf Grundlage dieser Harmo­ nisierungskompetenz erlassen wurden.93 Nach der Rechtsprechung des EuGH soll Art. 114 AEUV die umfassende Kompetenz gewähren, finanzmarktstabi­ lisierende Regelungen einheitlich im Rahmen der Europäischen Union zu 85  Bischof/Jung,

in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 20 Rn. 21. Systemaufsicht, S. 197 f.; ferner Bischof/Jung, in: Schulze/Zuleeg/ Kadelbach, Europarecht, § 20 Rn. 22 ff. 87  Vgl. Griller, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 127 AEUV Rn. 60. 88  Kaufhold, Systemaufsicht, S. 198. 89  Kaufhold, Systemaufsicht, S. 198. 90  Kaufhold, Systemaufsicht, S. 198 f. 91  VO (EU) Nr. 1060/2009, ABl. 2009 L 302, S. 1 und VO (EU) 462/2013 zur Änderung der Ratingagenturenverordnung, ABl. 2013 L 146, S. 1 ff.; zum Inhalt siehe Bischof/Jung, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 20 Rn. 73. 92  VO (EU) Nr. 648/2012, ABl. 2012 L 201, S. 1 ff. zur Regulierung des außer­ börslichen Derivatenhandels. 93  Kaufhold, Systemaufsicht, S.  262  f.; Klingenbrunn, Produktverbote zur Ge­ währleistung von Finanzmarktstabilität, S. 22. 86  Kaufhold,

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6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

erlassen.94 Bei der Auswahl der geeigneten Methode zur Finanzmarktregulie­ rung ist der Union ein weiter Ermessensspielraum eingeräumt worden.95 Dabei ist zu untersuchen, ob Art. 114 AEUV tatsächlich eine so weitgehende Kompetenz einräumt. 2. Die Grundfreiheiten und ihre Verbindung zur Finanzmarktstabilität Die Grundfreiheiten könnten darüber hinaus ebenso wie die Grundrechte eine mittelbare Drittwirkung entfalten und in diesem Rahmen die Regelungs­ adressaten – im Sinne von Schutzpflichten – dazu verpflichten, die Stabilität der Finanzmärkte zu gewährleisten. Die Grundfreiheiten verpflichten nach der Rechtsprechung des Europäi­ schen Gerichtshofs die Mitgliedstaaten samt deren Untergliederungen und die Organe der Union.96 Sie schaffen einen Rechtfertigungszwang für sämt­ liche Maßnahmen, die geeignet sind, den Binnenhandel zu beeinträchti­ gen.97 Maßnahmen zur Finanzmarktstabilisierung, insbesondere Beschrän­ kungen des Handel mit bestimmten Finanzprodukten, sind durchaus geeignet, den Binnenmarkt zu beeinträchtigen. Ebenso können Pflichten zur Kapital­ erhaltung und Aufsicht wie durch die BRRD oder MiFID II die Niederlas­ sungsfreiheit beeinträchtigen. Vor den Grundfreiheiten zeichnet sich neben der Schutzfunktion also wiederum ab, dass durch Stabilisierung gleichsam in die Freiheiten eingegriffen wird. Problematisch ist bei Annahme grundfreiheitlicher Schutzpflichten, wann die Union und Mitgliedstaaten tätig werden müssen. Ähnlich zur Diskussion im nationalen Recht wird man auch in dieser Frage einen Anspruch auf Tä­ tigwerden erst dann annehmen können, wenn das staatliche Unterlassen einer Beschränkung gleichkommt, in anderen Fällen besteht lediglich eine An­ spruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung, aber nicht auf eine konkrete Maßnahme.98 Im Übrigen dürfte eine Schutzpflicht erst ausgelöst werden, wenn die Geltendmachung der Freiheit praktisch unmöglich gemacht wird. Dies ist selbst in einer Finanzkrise wie 2008 nicht geschehen. Die Niederlas­ sung oder das Anbieten von Dienstleistungen wurden nicht beeinflusst. Ein­ zig die Kapitalverkehrsfreiheit ist vertiefter zu beachten. Bricht der Interban­ 94  Klingenbrunn, Produktverbote zur Gewährleistung von Finanzmarktstabilität, S. 23. 95  EuGH, Urt. v. 22.01.2014, Rs. C-270/12, ESMA, JZ 2014, S. 244, 248. 96  EuGH, Urt. v. 21.06.1974, Rs. 2/74, Reyners, Slg. 1974, 631 Rn. 29 f. 97  Ruffert, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 19 Rn. 2. 98  So Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 38.



C. Die Europäische Union als Stabilitätsgemeinschaft269

kenmarkt zusammen, bestehen erhebliche Einschränkungen. Eine Schutz­ pflicht könnte die Union verpflichten, dagegen vorzugehen, um eine Aushöh­ lung der Grundfreiheit zu verhindern. 3. Speziell: Kapitalverkehrsfreiheit Die Kapitalverkehrsfreiheit schützt den Kapitalfluss innerhalb des Binnen­ marktes und gegenüber Drittstaaten. Ein integrierter europäischer Finanz­ markt ist Teil des Binnenmarktzieles.99 Im Rahmen der Untersuchung wurde bereits deutlich, dass Finanzmarktinstabilität negative Auswirkungen auf den Kapitalfluss hat. Um die volle Wirkung der Kapitalfreiheit zu errei­ chen, sind daher auch stabile Finanzmärkte notwendig. Die Integration der nationalen Kapitalmärkte in einen europaweiten Kapitalmarkt soll die wirt­ schaftliche Wohlfahrt steigern.100 Die Kapitalverkehrsfreiheit erscheint da­ her als naheliegender Anknüpfungspunkt für das Auslösen einer Schutz­ pflicht. Auf Rechtfertigungsebene erlangt die Kapitalverkehrsfreiheit ebenfalls Bedeutung, z. B. für Beschränkungen wie das Verbot von Leerverkäufen durch die Leerverkaufs-VO, die auch bestimmte Aspekte von Credit Default Swaps mitregelt. Der Europäische Verordnungsgeber erließ diese vor dem Hintergrund der Finanzkrise mit dem Ziel der Marktstabilisierung. Auch die Kommission erkennt Finanzmarktstabilität als Rechtfertigungsgrund für Be­ einträchtigungen des Kapitalverkehrs an.101 Diese Doppelfunktion der Kapitalverkehrsfreiheit auf Schutzbereichs- und Rechtfertigungsebene trat bereits bei Untersuchung der Grundrechte (siehe S. 189 ff.) auf. Sie verdeutlicht die Bedeutung der Finanzmarktstabilität auch für die Grundfreiheiten und spricht für eine herausgehobene Stellung. Aller­ dings bedeutet die Relevanz bei den Grundfreiheiten keine normative Vor­ gabe, in welchem Maße die Stabilität von der Union zu gewährleisten ist und auf welche Weise dies geschehen sollte.

99  Vgl. Wojcik, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 63 AEUV Rn. 79. 100  v. Wilmowsky, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreihei­ ten, § 12 Rn. 56. 101  Kommission v. 28.03.2013, IP/13/298; zustimmend Klingenbrunn, Produktver­ bote zur Gewährleistung von Finanzmarktstabilität, S. 24 f.; Dopsch/Wutscher, EuZW 2014, S. 729, 732 f.

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6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

4. Grundfreiheitliche Schutzpflichten Die verpflichtende Wirkung bei Untersuchung der nationalen Verantwor­ tung folgte aus den Grundrechten. Die Grundfreiheiten könnten eine ähnliche Verpflichtungswirkung begründen. Die Frage der Schutzpflichten aus Grund­ freiheiten ist umstritten.102 Für die Warenverkehrsfreiheit hat der EuGH eine solche bereits angenommen.103 Als Begründung dienten teleologische Erwä­ gungen, der Gedanke des effet-utile und die Verpflichtung auf die Förderung der Gemeinschaftsziele.104 Relevant sind Fälle, in denen ein bisher untätiger Mitgliedstaat verpflichtet wird, gegen Handelsbeschränkungen durch Private einzuschreiten.105 Die Möglichkeit des Bestehens von Schutzpflichten schließt auch die Möglichkeit einer in einigen Fällen bestehenden unmittel­ baren Drittwirkung nicht aus.106 Beide können nebeneinander bestehen. Problematisch ist jedoch, dass die Schutzpflichtenkonstellation außerhalb der Warenverkehrsfreiheit angesichts der Rechtsprechung des EuGH nur zu­ rückhaltend ausgedehnt werden kann.107 Die Literatur favorisiert daher überwiegend eine Lösung über die unmittelbare Drittwirkung.108 Aufgrund der Unsicherheiten, ob Schutzpflichten aus Grundfreiheiten be­ stehen, kann aus ihnen keine den Grundrechten vergleichbare Verpflichtungs­ wirkung für die Begründung einer unionsrechtlichen Verantwortung herange­ zogen werden. Die Ähnlichkeit der Begriffe Grundrechte und Grundfreiheiten 102  Überblick bei Knebel, Die Drittwirkung der Grundrechte und -freiheiten ge­ genüber Privaten, S. 84 ff. 103  EuGH, Urt. v. 09.12.1997 – Rs. C-265/95, Spanische Erdbeeren, Slg. 1997, I-6959 Rn. 30 ff.; Urt. v. 12.06.2003 – Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, I-5659 Rn.  57 ff. 104  Hierzu Kainer, JuS 1998, S. 431, 433 ff. 105  Körber, EuR 2000, S. 932, 945, 951; Knebel, Die Drittwirkung von Grund­ rechten und -freiheiten gegenüber Privaten, S. 71 f.; Ludwigs/Weidermann, Jura 2014, S. 152, 153; vgl. zum Bedürfnis nach diesen Schutzpflichten Kluth, AöR 122 (1997), S. 557, 575. Generell Schutzpflichten annehmend Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäi­ sche Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 38. 106  Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 64; Knebel, Die Drittwirkung von Grundrechten und -freiheiten gegenüber Priva­ ten, S. 86; Ludwig/Weidemann, JA 2014, S. 152, 162 f. 107  So Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 45 AEUV Rn. 174; Knebel, Die Drittwirkung der Grundrechte und -freiheiten gegenüber Priva­ ten, S. 86; zustimmend zur Annahme von Schutzpflichten Birkemeyer, EuR 2010, S. 662, 669; Kahl/Schwind, EuR 2014, S. 170, 191; für die Annahme von Schutz­ pflichten auch bei der Niederlassungsfreiheit: Korte, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 49 AEUV Rn. 90. 108  Müller-Graff, EuR 2014, S. 3, 22; so wohl auch EuGH, Urt. v. 11.12.2007, Rs. C-438/05, Viking, Slg. 2007, I-10779 Rn. 62, der Schutzpflichten nicht als Zusatz zur horizontalen Drittwirkung sieht.



C. Die Europäische Union als Stabilitätsgemeinschaft271

darf nicht über die Unterschiede hinwegtäuschen.109 Darüber ist der Bezug der Grundfreiheiten zur Finanzmarktstabilität von anderer Intensität als bei den Grundrechten. Es wäre problematisch, die Union aufgrund grundfreiheit­ licher Schutzpflichten zu marktbeschränkenden Maßnahmen auf den Finanz­ märkten zu verpflichten, wenn diese eigentlich gerade der Verwirklichung des Binnenmarktes dienen sollen. Zugleich ist nicht davon auszugehen, dass, im Falle einer Finanzmarktkrise, der Binnenmarkt in so einem Maße zusam­ menbrechen würde, dass der freie Handel nicht mehr möglich wäre. Auf dieser Grundlage lässt sich daher auch nicht argumentieren, dass zum Schutze der Grundfreiheiten eine Verpflichtung auf die Finanzmarktstabilität schlecht­ hin notwendig ist.

III. Die soziale Marktwirtschaft In Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 Satz 1 EUV bekennt sich die Union zur Wirt­ schaftsform der sozialen Marktwirtschaft. Gegenüber der Fassung im EGV wurde das Bekenntnis im Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 in den Vorder­ grund gestellt. Vorher wurden zur Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaft mehrere Spielarten der Marktwirtschaft vertreten.110 Nach einer Literaturauffassung soll die explizite Nennung der sozialen Marktwirtschaft ohne eigenständige Bedeutung sein.111 Dagegen lässt sich anführen, dass es das Bestreben der Union verstärken kann, nicht nur den Wohlstand zu mehren, sondern auch soziale Belange zu berücksichtigen. Die als Wirtschaftsgemeinschaft entstandene Union entwickelt sich in Richtung einer „Sozialgemeinschaft“112, was durch die Verankerung der sozialen Marktwirtschaft in den Verträgen zum Ausdruck kommt. Die Sozialgemeinschaft würde durch ein eigenständiges Ziel der Finanz­ marktstabilität gestärkt. So ließe sich argumentieren, dass durch die Verstär­ kung des Bezuges auf die soziale Marktwirtschaft zugleich auch das Ziel, stabile Finanzmärkte zu schaffen, in den Vordergrund gestellt wurde. Das Bekenntnis gibt zur Begründung eines neuen Zieles dennoch nicht allzu viel her. Art. 3 Abs. 3 S. 2 EUV ist nicht isoliert, sondern im Zusam­ menhang mit anderen Normen des europäischen Primärrechts zu lesen. So Classen, EuR 2004, S. 416, 428. Bleckmann, RabelsZ 48 (1984), S. 419, 427 ff. m. w. N. und R. Schmidt, Öff. WirtschaftsR AT, S. 80. 111  Pechstein, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 3 EUV Rn. 7; U. Becker, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 3 EUV Rn. 13; Müller-Graff, in: FS Scheuing, S. 600, 614 ff.; ders., ZHR 173 (2009), S. 443, 450. 112  U. Becker, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 3 EUV Rn. 13; vgl. auch Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 3 EUV Rn. 27. 109  Vgl.

110  Siehe

272

6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

verpflichtet Art. 3 Abs. 3 UAbs. 3 S. 1 EUV i. V. m. Protokoll Nr. 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb zu einem gemeinsamen Binnenmarkt mit dem Schutz vor einem verfälschten Wettbewerb. Weiter ist die Wirtschafts­ politik der Union und die ihrer Mitgliedstaaten gem. Art. 119 Abs. 1 und 2 und Art. 120 Satz 2 AEUV (für das ESZB Art. 227 Abs. 1 AEUV sowie Protokoll Nr. 27 über den Binnenmarkt) auf eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet.113 Vor diesem Hintergrund ist auch die For­ mulierung in Art. 3 Abs. 3 S. 2 EUV „eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“ zu verstehen. Staatliche Regelungen widersprechen grundsätzlich dem Gedanken des Wettbewerbs, der auf dem freien Spiel der Kräfte fußt. Dennoch spricht diese Wendung nicht gegen die Regulierung des Finanzsektors nach dem Grund­ verständnis der sozialen Marktwirtschaft. Regulierung ist kein Instrument, um freien Wettbewerb zu verhindern. Es kann, behutsam eingesetzt, diesen sogar fördern. Beispielhaft sei hier die Kartellkontrolle genannt, die gerade der Erhaltung eines freien Wettbewerbs dient. Allerdings wirkt sich die Re­ gulierung im Finanzmarktsektor anders als die Kartellkontrolle aus, so dass das Argument kaum weiterhilft. Das Bekenntnis ist aus einem weiteren Grund nicht geeignet, die Union auf weitere Maßnahmen zur Stabilisierung zu verpflichten. Es ist Vorsicht geboten, das deutsche Verständnis der sozialen Marktwirtschaft ohne weite­ res mit dem Begriff in Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 S. 2 EUV gleichzusetzen. Die Verfasser des Lissaboner Vertrages hatten nicht das deutsche Modell vor Augen, sondern wollten die freie Marktwirtschaft um eine soziale Kompo­ nente erweitern.114 Hierfür spricht, dass nach dem Vertrag von Lissabon die früher in Artt. 4 EGV, 98 EG a. F. ausgesprochene Verpflichtung auf die of­ fene Marktwirtschaft nun in Art. 119 AEUV „verschoben“ wurde.115 Diese bewusste Entscheidung, die soziale, statt der freien Marktwirtschaft an die prominente Stelle an den Anfang der Verträge zu setzen, zeigt zwar einen möglichen Gesinnungswandel nach der Finanzmarktkrise. Im Zusammen­ spiel mit den oben genannten Normen, die den offenen Wettbewerb schützen sollen, ergibt sich dennoch nur ein allenfalls abgeschwächtes Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft. Dies mit der deutlichen Betonung auf Marktwirt­ schaft. Weitere Impulse für die Stabilisierung der Union lassen sich daher aus der Norm nicht herleiten. 113  Müller-Graff,

FS Scheuing, S. 600, 601 f.; Ruffert, AöR 134 (2008), 197, 202. in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 3 EUV Rn. 38. 115  Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 18 Rn. 1; ferner Müller-Graff, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar, Bd. I, Art. 3 EUV Rn. 39, der aber lediglich von einem neuen „semantischen Akzent“ ausgeht und das grundlegende wirtschaftsordnungsrechtliche Konzept nicht verändert sieht. 114  Ruffert,



C. Die Europäische Union als Stabilitätsgemeinschaft273

IV. Die Kompetenzproblematik der Europäischen Wirtschaftspolitik Eine weitere Problematik, die sich bei der Begründung eines unionsweiten Zieles der Finanzmarktstabilität stellt, ist die Aufteilung der Kompetenzen für die Wirtschaftspolitik zwischen Union und Mitgliedstaaten. Finanzmarktsta­ bilitätspolitik stellt einen Unterpunkt der allgemeinen staatlichen Wirtschafts­ politik dar. Daran ändert auch die überragende Bedeutung der Finanzmarkt­ stabilität für die wirtschaftliche Stabilität nichts Wirtschaftspolitik bleibt der übergeordnete Terminus. Die Kompetenz für die Wirtschaftspolitik verblieb nach dem Reformver­ trag von Lissabon bei den Mitgliedstaaten. Die Union hat nach Art. 119 AEUV die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten zu koordinieren. Auf der anderen Seite sind die Mitgliedstaaten nach Art. 120 Satz 1 AEUV verpflich­ tet, die wirtschaftspolitischen Ziele der Union zu unterstützen.116 Die Norm stellt durch die Formulierung „ihre Wirtschaftspolitik“ dezidiert fest, dass diese in den Händen der Mitgliedstaaten verbleibt.117 Die Kompetenzfrage stellt ein Hindernis auf dem Weg zu einem Unionsziel der Finanzmarktstabilität dar. Problematisch ist, dass Finanzmarktstabilitäts­ politik eher in den Rahmen der allgemeinen Wirtschaftspolitik, als in den der Geldpolitik fällt. Selbst wenn man annimmt, dass die Finanzmarktstabilität die Geldpolitik als treibenden Faktor der Rechtsetzung überholt hat, ändert dies nichts an der Einordnung als wirtschaftspolitisch. In Richtung einer Kompetenzüberschreitung ging auch die Kritik der Literatur an den Maßnah­ men der EZB zur Bewältigung von Finanz- und Eurokrise.118 Wenngleich es bei der generellen Zielsetzung auf die Finanzmarktstabilität nicht um genau dieselbe Kompetenzproblematik geht, ist dies doch vergleichbar. Ein Ziel der Finanzmarktstabilität hätte weitgehendere Folgen als die angegriffenen Maß­ nahmen der EZB. Die Union kann aber in ihren Verträgen nicht auf ein Ziel verpflichtet werden, das sie aus Kompetenzgründen nicht erreichen kann, weil ihr die Kompetenz für wirksame Maßnahmen fehlt. Die Mitgliedstaaten verfolgen unterschiedliche Ansätze, wie die Wirt­ schaftspolitik ausgestaltet sein soll. Wenngleich es keine fundamentalen Un­ terschiede gibt, können in der Frage der Finanzmarktpolitik kleine Differen­ zen große Wirkungen hervorrufen. Die Uneinigkeit der Mitgliedstaaten lässt 116  Bandilla, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 120 AEUV Rn. 8; Kempen, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 120 AEUV Rn. 2. 117  Exemplarisch Häde, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 120 AEUV Rn. 1. 118  Siehe zum PSPP-Programm Karpenstein, EuZW 2019, S. 705, 706; zur Pro­ blematik Mayer, NJW 2015, S. 1999, 2000 ff.; Wendel, ZaöRV 2014, S. 615 ff.

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6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

sich durch die uneinheitliche Beurteilung beispielsweise bei der Gestaltung einer Finanztransaktionsteuer illustrieren. Der nunmehr vorliegende Vor­ schlag119 ähnelt eher der bekannten Aktiensteuer oder Stempelsteuer, welche nicht die internalisierenden Effekte einer Pigou-Steuer beinhaltet und nur bestimmte Aktientransaktionen besteuert. Die systemischen Gefahren durch Spekulation an anderen Kapitalmärkten werden nicht erfasst. Ebenfalls nicht einbezogen wird der Immobiliensektor, der bei Entstehung der letzten Krise einen entscheidenden Beitrag leistete. Die Uneinigkeit der Mitgliedstaaten erschwert die Bildung einer europa­ weit einheitlichen Wirtschaftsverfassung120 und damit auch die Bildung euro­ paweit einheitlicher Vorgaben für die Finanzmarktstabilität. Ruffert schließt aus der fehlenden Kompetenz, dass die Notwendigkeit der Verlagerung der Wirtschaftspolitik auf die Europäische Union evident ist.121 De lege ferenda ist dies zwar begrüßenswert, hilft aber nicht bei einer Bewertung der Ver­ träge in der vorliegenden Fassung. Allerdings hinderte auch das Fehlen einer eindeutigen Wirtschaftsverfassung die Annahme eines Zieles im nationalen Recht nicht. In den europäischen Verträgen gibt es immerhin das eindeutige Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft im Wortlaut. Allerdings wird dieses im Gesamtgefüge der Verträge abgeschwächt. Wie erläutert, hat schon das Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft in den Verträgen wenig normative Kraft im Hinblick auf eine Zielbegründung. Gleichermaßen gilt dies für die Wirtschaftsverfassung der Union. Aus der engen Verbindung zwischen Wirtschaftspolitik und Finanzmarktpolitik lässt sich daher wenig gewinnen, was für eine Verpflichtung der Union spricht. Dies ist aus tatsächlichen Gründen zwar nicht zielführend, die Vergangen­ heit hat bereits gezeigt, dass es destabilisierend wirkt, wenn die Staaten der Union sich nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen können. Rating­ agenturen werten Staatsanleihen und Bonität von Mitgliedstaaten ab. Dies führt zu einer Abwärtsspirale, die wiederum schwer aufzuhalten sein kann. Einen Einfluss auf die Aussage der Verträge hat dies dennoch nicht. Für eine Verpflichtung ließe sich gerade noch der bereits erwähnte Art. 120 Satz 1 AEUV anführen. Nach der Norm haben die Mitgliedstaaten ihre Wirt­ schaftspolitik an sämtlichen in Art. 3 EUV genannten Zielen auszurichten. 119  Siehe hierzu die Mitteilung des BMF zum Treffen von Eurogruppe und ECO­ FIN vom 13. und 14. Juni 2019 https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/ DE/Standardartikel/Themen/Europa/ECOFIN_und_Eurogruppe/2019-06-14-eurogru pe-ecofin-juni.html; zu den Wirkungen einer Finanztransaktionsteuer auf die Finanz­ marktstabilität Sester, WM 2012, S. 529 ff. 120  Ruffert, ZG 2013, S. 1, 2. 121  Ruffert, ZG 2013, S. 1, 18.



C. Die Europäische Union als Stabilitätsgemeinschaft275

Bereits vor der Reform durch den Vertrag von Lissabon waren die Mitglied­ staaten nach Art. 104 EWGV verpflichtet, die Ziele des „magischen Vier­ ecks“ zu verfolgen.122 Maßgebliche Ziele sind insbesondere ein ausgewo­ genes Wirtschaftswachstum und die Preisstabilität. Beide hängen in engem Maße mit Finanzmarktstabilität zusammen. Art. 120 Satz 1 AEUV verpflich­ tet die Mitgliedstaaten nicht lediglich dazu, diese Ziele nach eigenem Ermes­ sen zu verfolgen (Art. 121 Abs. 2 AEUV), sondern verlangt aktive Maßnah­ men zur Zielverwirklichung.123 Die Norm lässt sich daher in ihrem Rege­ lungsgehalt am ehesten einer Aufgabennorm vergleichen, da sie zum Handeln im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel auffordert. Bei genauer Betrachtung spricht aber wiederum wenig für eine Verpflich­ tung der Union. In die Pflicht nimmt die Norm nämlich die Mitgliedstaaten, nicht die Europäische Union als solche, so dass dies auch schon bei der Verantwortung der Bundesrepublik hätte angeführt werden können. Insge­ samt zeigt die Norm nur ein weiteres Mal die wesentliche Rolle, welche die Ziele des Art. 3 EUV spielen.

V. Der Auftrag zur Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion Nach Art. 3 Abs. 4 EUV hat die Union eine Wirtschafts- und Währungs­ union zu errichten, deren Währung der Euro ist. Nach Art. 3 Abs. 1 lit. c) AEUV hat die Union die ausschließliche Zuständigkeit für die Währungspo­ litik. Die Einzelheiten zur Ausgestaltung sind in den Artt. 119–144 AEUV und den darauf bezogenen Protokollen geregelt. Art. 119 AEUV ist die Grundnorm und enthält als solche die wesentlichen Grundsätze. Bedeutung für die ­Finanzmarktstabilität könnten die Regelungen zur mitgliedstaatlichen Wirtschafts- und Haushaltspolitik in den Artt. 120 ff. AEUV, zur Währungs­ politik in den Artt. 127 ff. AEUV und die Regelungen speziell für die Euro­ länder in den Artt. 136 ff. AEUV entfalten. Die Wirtschafts- und Währungs­ union hat einen speziellen Bezug zu den Finanzmärkten. So ist zum einen die wirtschaftliche Entwicklung der einzelnen Mitgliedstaaten, aber auch der Union insgesamt, von den Entwicklungen auf den Finanzmärkten abhängig. Zum anderen besteht ein ähnliches Wechselwirkungsverhältnis zwischen der gemeinsamen Währung und den Finanzmärkten.

Kempen, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 120 Rn. 2. in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 120 Rn. 8; Kempen, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 120 AEUV Rn. 2; Wittelsberger, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 120 AEUV Rn. 3. 122  Siehe

123  Bandilla,

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6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

1. Das Verbot übermäßiger Verschuldung, Art. 126 AEUV a) Die Union als Fiskalunion Art. 126 AEUV bildet die „haushaltspolitische Säule“ der Fiskalunion124. Die Norm gleicht den Regelungen in Artt. 109, 115 GG. Sie ist im Zusam­ menhang mit dem Grundsatz gesunder öffentlicher Finanzen in Art. 119 Abs. 3 AEUV zu sehen. Darüber hinaus werden – entgegen dem in Artt. 2 Abs. 3, 5, 119, 120 AEUV aufgestellten Grundsatz, nach dem die Wirt­ schafts- und Finanzpolitik in der alleinigen Kompetenz der Mitgliedstaaten verbleibt – Vorgaben für die nationale Politik gemacht. Die Wirtschafts- und Haushaltspolitik der Union soll zwei Ziele verwirklichen: die Steigerung des Wachstumspotentials und eine solide öffentliche Finanzlage.125 Das Ver­ schuldungsverbot enthält zudem eine Verbindung zur Preisstabilität, die als Auslegungsmaxime über der Norm schwebt.126 Art. 126 AEUV steht über Art. 140 Abs. 1 Satz 3 AEUV in engem Zusammenhang mit der Währungs­ union.127 Sinn und Zweck der haushaltspolitischen Vorgaben ist es, eine nachhaltige Haushaltslage der Euro-Mitgliedstaaten sicherzustellen, um die haushaltspolitische Stabilität der auf Preisstabilität ausgerichteten Währungs­ union zu gewährleisten.128 Dies hängt mit der Tatsache zusammen, dass auch in der Union in stabilen nationalen Haushalten eine Grundvoraussetzung von Preisstabilität auf Ebene der gemeinsamen Währung gesehen wird.129 Die Pflicht zur Vermeidung eines übermäßigen Defizits ist eine echte Rechtspflicht130 für alle Mitgliedsstaaten. Für die Bildung eines Unions­zieles begründet die Norm daher den verbindlichen Zielcharakter. Weiterhin muss die Norm eine Verbindung zur Finanzmarktstabilität aufweisen. Eine solche ist vor dem Hintergrund der Verbindung zwischen Staatsfinanzen und Fi­ nanzmärkten offensichtlich, allerdings muss diese auch so stark ausgeprägt sein, dass sie die Bildung eines eigenständigen Zieles rechtfertigt. 124  Herrmann, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar, Bd. III, Art. 126 AEUV Rn. 1. 125  Hamer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 126 AEUV Rn. 7. 126  Häde, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 126 AEUV Rn. 4. 127  Häde, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 126 AEUV Rn. 4 f.; Rodi, in: Ved­ der/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 126 AEUV Rn. 5. 128  Häde, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art 126 AEUV Rn. 11; Hamer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 126 AEUV Rn. 8. 129  Hamer, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 126 AEUV Rn. 7; Rodi, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches ­Unionsrecht, Art. 126 AEUV Rn. 5 jeweils m. w. N. 130  Statt aller Herrmann, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar, Bd. III, Art. 126 Rn. 20.



C. Die Europäische Union als Stabilitätsgemeinschaft277

So sieht auch Herrmann, dass die Norm in mehrfacher Hinsicht auf die Finanzmarktstabilität hinweist, daraus lasse sich allerdings nicht darauf schließen, dass die Herstellung derselben auch staatliche Aufgabe sei.131 Dem ist soweit zuzustimmen. Art. 126 AEUV hat vorrangig die Stabilität der Haushalte im Blick. Die Verpflichtungen entstanden unter dem direkten ­Eindruck der Eurokrise. Stabile Haushalte sind daher gemeinsam mit der ­Finanzmarktstabilität zu erreichen. Für einen erweiterten Zielcharakter wäre dennoch mehr erforderlich. Art. 126 AEUV bezieht sich in seiner Formulie­ rung eindeutig nur auf die Haushaltspolitik, was gegen die Erweiterung des Zieles spricht. Zudem ist die Norm wiederum als klarer Handlungsauftrag an die Mitgliedstaaten ausgestaltet. Die Union selbst soll den Prozess über­ wachen und gegebenenfalls einzelne Staaten sanktionieren. Hieraus auf ein Unionsziel zu schließen, ginge zu weit. Eine Erweiterung könnte sich aber aus der Entwicklung der Union zu ei­ ner Fiskalunion ergeben. Der Begriff der Fiskal- oder Stabilitätsunion ist nicht frei von Wertungen. Was genau er beschreiben und wie weit er gehen soll, ist nicht eindeutig. Eindeutig ist aber zumindest, dass die Fiskalunion sich nach den Erfahrungen der 2000er Jahre mit der folgenden Staatsschul­ denkrise auf haushaltspolitische Stabilität bezieht. Weitergehend soll die Fiskalunion, wenn man sie als Stabilitätsunion versteht, aber auch eine hin­ reichende institutionelle und politische Stabilität sicherstellen, welche durch das bisherige Krisenmanagement nicht unbedingt erreicht wurde.132 b) Bedeutung für die Finanzmarktstabilität Institutionelle und politische Stabilität hängt gleichermaßen an der Stabili­ tät der Finanzmärkte wie die haushaltspolitische Stabilität. Die Europäische Union hat daher als Stabilitätsunion nicht lediglich eine Verantwortung für stabiles Haushalten ihrer Mitgliedstaaten, sondern auch für die Stabilisierung der Finanzmärkte, um diesen die Möglichkeit zu geben, ihre Staatsfinanzen unter Kontrolle, d. h. unter den Verschuldungsgrenzen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, zu halten. Damit einher geht dann institutionelle und poli­ tische Stabilität, die durch stabile Staatsfinanzen gefördert wird.

Kaufhold, Systemaufsicht, S. 193 (Fn. 46). Pilz, DÖV 2012, 909, 915; vgl. auch Joerges, Der Staat 51 (2012), S. 357, 369, der es als Unfähigkeit der Union beschreibt, auf die Krise nur mit Austeritäts­ konzepten reagiert zu haben. Tatsächlich lässt sich angesichts der Entwicklungen in der Union nicht feststellen, dass diese zu politischer Stabilität beitragen, wobei zu bedenken ist, dass sich nicht alle negativen Entwicklungen mit dem Verweis auf die Finanzkrise erklären lassen. 131  So 132  So

278

6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

Kritisiert wird an den neuen europäischen Regelungen zur Fiskalunion vor allem von euroskeptischer Seite, dass diese nicht als Stabilitätsunion, son­ dern als Transferunion konzipiert sei. Diese Kontroverse hat für ein Ziel der Finanzmarktstabilität keine Bedeutung. Unabhängig davon, ob man unter Fiskalunion eine Stabilitätsunion oder eine Transferunion versteht, ist das Ziel, die Stärkung der Finanzmarktstabilität, beiden Begriffen immanent.133 Die Fiskalunion wird verfahrenstechnisch durch verschiedene Regelungen abgesichert. Das Verfahren, mit dem die Einhaltung der Verschuldungsgren­ zen überwacht und sanktioniert werden kann, ist in Art. 126 Abs. 2–14 AEUV in Verbindung mit dem Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit normiert. Im Zusammenhang mit der Norm sind der Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) und der Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (VSKS, sog. „Fiskalpakt“) zu sehen, in denen Kriterien und Grenzen für die Haushalts- und insbeson­ dere Schuldenpolitik der Mitgliedstaaten gesetzt werden. Die Finanzkrise führte zur Verstärkung der Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspak­ tes.134 Der Fiskalpakt entstand 2012 als eigenständiger völkerrechtlicher Vertrag neben dem Unionsrecht unter dem Eindruck der Staatsschuldenkrise, um den Zustand einer haushaltspolitischen „Stabilitätsunion“ zu erreichen.135 Auch dieser soll das Risiko einer erneuten Finanz- und Wirtschaftskrise durch erhöhte fiskalpolitische Solidität verringern.136 Dies zeigt sich weiter daran, dass der Fiskalpakt die Refinanzierung von Mitgliedstaaten seit März 2013 nur noch dann ermöglicht, wenn die Mitgliedstaaten diesen ratifiziert haben und ihre Pflicht aus Art. 3 Abs. 2 VSKS erfüllt haben, also Bestim­ mungen von Verfassungsrang zur Begrenzung der Staatsverschuldung erlas­ sen haben.137 Die Finanzkrise führte zu einem Anstieg der Bedeutung der Verschul­ dungsregelungen. Vor der Finanz- und Wirtschaftskrise gab es insgesamt 13 Verfahren, in denen der Rat auf Empfehlung der Kommission ein übermä­ ßiges Defizit festgestellt hatte. Im April und Mai 2009 alleine gab es elf solcher Verfahren, zu denen im Verlauf des Jahres 2009 neun weitere hinzu­ kamen. Nach der Finanzkrise waren gegen 20 von 27 Mitgliedstaaten Verfah­ ren anhängig. Die Verbindung von Finanzmarktkrisen und Staatsfinanzen führte dann zur deutlichen Verschärfung der Defizitkriterien des Stabilitätsund Wachstumspaktes durch das Six-Pack. 133  Müller-Franken, in: Blanke/Pilz (Hrsg.), Die Fiskalunion, S. 227, 229 f.; und Kube, ebd., S. 371, 375 f. 134  Kempen, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 126 AEUV Rn. 6. 135  Gröpl, Der Staat 52 (2013), S. 1, 20; Henneke, ZG 2017, S. 38, 48 f. 136  Manger-Nestler/Böttner, EuR 2014, S. 621, 634. 137  Erwägungsgrund Nr. 25 Präambel VSKS.



C. Die Europäische Union als Stabilitätsgemeinschaft279

Herrmann führt darüber hinausgehend weitere Punkte der Verbindung auf:138 So führe übermäßige Kreditaufnahme – bedingt durch eine zu hohe Schuldenlast und zu hohe Staatsausgaben – auf den Finanzmärkten zu höhe­ ren Zinsen und vertreibe private Kreditnehmer, was sich negativ auf das Wirtschaftswachstum auswirke. Die übermäßige Kreditaufnahme berge die Gefahr von Staatsinsolvenzen, was sich negativ auf die Stabilität der Finanz­ märkte auswirke, da Staatsanleihen einen als besonders sicher eingestuften Anlagekern bildeten. Zuletzt führe übermäßige Staatsverschuldung zu politi­ schem Druck, die Verschuldung durch „Gelddrucken“, also Ankurbeln der Inflation, abzubauen. Diese Ereignisse auf europäischer Ebene abzuwenden, muss gleichfalls Ziel der Norm des Art. 126 AEUV sein. Auch andere Auto­ ren verweisen auf die Bedeutung der Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten als Reaktion auf wirtschaftliche Schocks139, die im Wesentlichen ihren Ausgang auf den Finanzmärkten nehmen. Diese Punkte sind nun nicht mehr lediglich in nationalem Kontext zu betrachten, sondern für die europäische Union als Staatenverbund, wodurch sich die negativen Effekte der erhöhten Staatsver­ schuldung potenzieren und auf andere Mitgliedstaaten übergreifen können. Aus den gesammelten negativen Effekten lässt sich schließen, dass auch die Finanzmarktstabilität bei dem Streben nach haushaltspolitischer Stabilität beachtet werden soll. Fiskalische Stabilität ist weitergehend von Bedeutung, um die Unabhän­ gigkeit der Geldpolitik der Zentralbank zu schützen.140 Insbesondere die Absorption makroökonomischer Schocks durch die Zentralbank ist von Be­ deutung, so kann durch eine zielführende Geldpolitik eine Blasenbildung wie auf dem Immobilienmarkt vor der Krise verhindert werden.141 Die Zentral­ bank kann Krisenursachen auf makroökonomischer Ebene effektiv entgegen­ wirken, idealerweise durch eine europaweit vereinheitlichte Geldpolitik. Kehrseite ist, dass die verschiedenen Volkswirtschaften eine verschiedene Geldpolitik benötigen, wodurch eine vereinheitlichte Geldpolitik auch die Gefahr birgt, dass sich durch diese erst Blasen bilden. Aus der Zentralbank­ verbindung lässt sich daher nicht ohne weiteres auf ein europarechtlich ver­ einheitlichtes Ziel schließen, da die Zielerreichung durch die einheitliche Verfolgung einer Politik nicht sichergestellt wird.

138  Zum Folgenden Herrmann, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommen­ tar, Bd. III, Art. 126 AEUV Rn. 1. 139  So Hattenberger, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 126 AEUV Rn. 1. 140  Häde, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 126 AEUV Rn. 2; Ohler, Ban­ kenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, § 3 Rn. 79, 83. 141  Mendelsohn, Systemrisiko und Wirtschaftsordnung im Bankensektor, S. 172.

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6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

c) Das Bail-out Verbot des Art. 125 AEUV Im Kontext der Verschuldungsregelungen steht ebenfalls Art. 125 AEUV. Die Norm begründet die finanzielle Eigenständigkeit aller Mitgliedstaaten. Die damit verbundenen Lasten dürfen nicht auf andere Mitgliedstaaten abge­ wälzt werden (vor allem als Bail-out Verbot bezeichnet). Zweck der Norm ist die Sicherung stabilitätsorientierter nationaler Haushaltspolitik und Aufrecht­ erhaltung der Stabilität der Unionswährung.142 Staaten sollen an den Finanzmärkten privaten Kreditnehmern gleichgestellt werden.143 Dieser Zweck korrespondiert stark mit der Finanzmarktstabilität. Die Mitgliedstaaten sollen sich gerade nicht darauf verlassen können, durch Finanzhilfen anderer Staaten der Eurozone gerettet zu werden. Stattdessen sind sie dem „Korrektiv der Finanzmärkte“ ausgesetzt144. Sinn und Zweck ist weiterhin, dem moral hazard Problem zu begegnen.145 Staaten sollen sich nicht verschwenderischem Finanzgebaren hingeben, weil sie durch die ande­ ren Mitgliedstaaten im Falle einer Krise gerettet würden. Die Verletzung der Stabilitätskriterien führte zu Bestrebungen, solche Ent­ wicklungen in Zukunft zu vermeiden.146 Dabei ist Art. 125 AEUV ursprüng­ lich bereits eine Norm, die durch eine disziplinierende Wirkung auf die Mitgliedstaaten Krisensituationen – mit einem Bail-out als Folge – gerade vermeiden und daher präventiv wirken sollte.147 Die Norm enthielt schon immer das Element, Staaten zu stabilem Finanzgebaren anzuhalten. Dazu baut sie auf funktionierende und stabile Finanzmärkte, auf denen Risiken richtig bewertet werden. Hierauf rekurriert der EuGH auch in seiner Pringle-Entscheidung. Finanz­ hilfen an Euro-Staaten in der Krise dürften nicht den Zweck der Norm, Staaten zu solidem Haushalten anzuhalten, konterkarieren.148 Konkreter for­ muliert der EuGH, dass eine Finanzhilfe dann mit Art. 125 AEUV vereinbar sei, wenn sie für die Wahrung der Finanzstabilität des gesamten Euro-Raumes 142  EuGH, Urt. v. 27.11.2012 – C 370/12, Pringle, NJW 2013, S. 29, 36, Rn. 135; Häde, EuR 2010, S. 854, 860; Kempen, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 125 AEUV Rn. 1; Nettesheim, in: Kadelbach (Hrsg.), Nach der Finanzkrise, S. 31, 60. 143  Calliess, NVwZ 2013, S. 97; Häde, EuZW 2009, S. 399, 402; Nettesheim, in: Kadelbach (Hrsg.), Nach der Finanzkrise, S. 31, 59 f. 144  Calliess, NVwZ 2013, S. 97, 103; vgl. auch Häde, EuR 2010, S. 854, 856. 145  Bandilla, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 125 AEUV Rn. 27. 146  Calliess, NVwZ 2013, S. 97. 147  Nettesheim, in: Kadelbach (Hrsg.), Nach der Finanzkrise, S. 31, 63. 148  EuGH, Urt. v. 27.11.2012 – C 370/12, Pringle, NJW 2013, S. 29, 36  ff., Rn.  135 ff.



C. Die Europäische Union als Stabilitätsgemeinschaft281

unabdingbar und ihre Gewährung strengen, dem gewählten Finanzinstrument angemessenen Auflagen unterliege149 Der Empfängerstaat müsse haftbar bleiben, und die gewährten Finanzhilfen müssen ihn zu solider Haushalts­ politik anhalten.150 Dies ist im Vorlauf der Euro- und Staatsschuldenkrise nicht passiert, so dass die Norm ihre Wirkung verfehlte und die erhoffte stabilisierende Wir­ kung nicht entfalten konnte. Ob die Eurorettung dann im Einklang mit dem Bail-out Verbot erfolgte, ist in Rechtsprechung151 und Literatur152 umfang­ reich untersucht worden und muss an dieser Stelle nicht weiter vertieft wer­ den. Festhalten lässt sich, dass das Bail-out Verbot des Art. 125 AEUV eine Verbindung zur Finanzmarktstabilität enthält, sich aber die Verpflichtung auf stabiles Haushaltsgebaren nicht ohne weiteres zu einer Verpflichtung auf die Verfolgung von Finanzmarktstabilität erweitern lässt. 2. Art. 136 AEUV Art. 136 AEUV ist eine weitere haushaltspolitische Vorschrift und könnte daher Anhaltspunkte für eine Stabilisierung der Finanzmärkte enthalten. Vor dem Hintergrund der Bedeutung der Vorschrift für Maßnahmen zur Haus­ haltskonsolidierung wie des „Twopacks“ aus dem Jahr 2013 wird die prakti­ sche Bedeutung der Norm offenbar. a) Haushaltsdisziplin und präventiver Krisenmechanismus Art. 136 Abs. 1 AEUV ist zunächst eine reine Verfahrensvorschrift, die den Rat ermächtigt, Maßnahmen zu erlassen, um das „reibungslose Funktio­ nieren der Wirtschafts- und Währungsunion zu gewährleisten“. Nach Ansicht der Kommission, fußend auf den Erfahrungen der Finanzkrise 2008, stellt die Norm eine eigene Rechtsgrundlage153 oder Generalklausel154 dar, welche die Kompetenzen der Union im Bereich der Eurozone erweitert, sodass nicht Urt. v. 27.11.2012 – C 370/12, Pringle, NJW 2013, S. 29, 37, Rn. 142. NVwZ 2013, S. 97, 104. 151  EuGH, Urt. v. 27.11.2012 – C 370/12, Pringle, NJW 2013, S. 29, 36, Rn. 131, wonach die Einrichtung des Stabilitätsmechanismus zulässig ist, soweit er für die Wahrung der Finanzstabilität in der Eurozone unabdingbar ist und die Gewährung der Hilfen an strenge Ausnahmen geknüpft wird (Rn. 134–136). 152  Einen Überblick mit umfangreichen Nachweisen bietet Häde, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art. 125 AEUV Rn. 8. 153  So Smulders/Kepenne, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 136 AEUV Rn. 6 f. 154  So Häde, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 136 AEUV Rn. 5. 149  EuGH,

150  Calliess,

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6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

nur „Maßnahmen“ i. S. d. Abs. 1 erlassen werden können, sondern auch Vor­ schriften von allgemeiner Reichweite. Die Norm nennt unter lit. a) als Rege­ lungsziel die Haushaltsdisziplin. Auf dieser Grundlage wurden 2013 zwei Verordnungen zum Schutz der Haushaltsdisziplin, das „Twopack“, erlassen. Die Stabilität der Union umfasst die Stabilität des Euroraumes. Dieser Gedanke wird insbesondere durch den 2011 eingefügten Art. 136 Abs. 3 AEUV ausgedrückt, der es den Mitgliedstaaten erlaubt, einen Europäischen Stabilitätsmechanismus zur Wahrung der Stabilität des gesamten Euro-Wäh­ rungsgebietes einzurichten. Mit der Stabilität des Euroraumes ist sowohl wirtschaftliche als auch finanzielle Stabilität gemeint.155. Die Stabilität der Euro-Währungsraumes nach Abs. 3 ist nach dem EuGH nicht mit Begriff der Preisstabilität gleichzusetzen, sondern umfasst diese, geht aber weiter.156 Dies bietet Spielraum für Überlegungen, auch die Finanzmarktstabilität ein­ zubeziehen. Die Norm eröffnet damit die Möglichkeit, aus ihr einen normativen An­ knüpfungspunkt zur Finanzmarktstabilität herzustellen, die nicht im bereits beschriebenen Zusammenhang zwischen Preis- und Finanzmarktstabilität begründet liegt. Die Formulierung „Stabilität des Euro-Währungsraumes“ wird weit ausgelegt, was die Aktivierung der Vorschrift im Rahmen der zy­ priotischen Bankenkrise 2013, die faktisch kaum geeignet war, die Stabilität der Währungsunion stark zu beeinträchtigen, zeigt.157 Als Verfahrensvor­ schrift ist die Regelungswirkung der Norm allerdings begrenzt. Ein Zielge­ halt lässt sich aus ihr kaum ableiten. Allenfalls besteht ein weiterer Anknüp­ fungspunkt für die Finanzmarktstabilität, die ein weiteres Mal auf die gestie­ gene Bedeutung des Terminus im Rahmen der Verträge hinweist. b) Der Europäische Stabilitätsmechanismus Der ESM dagegen wurde vor Einführung des Art. 136 Abs. 3 AEUV er­ richtet. Nach der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Pringle ge­ schah dies im Einklang mit den Europäischen Verträgen.158 Diese Annahme ist vielfach kritisiert worden, die Diskussion führt die vorliegende Unter­ 155  Tuori/Tuori,

The Eurozone Crisis, S. 58. Urt. v. 27.11.2012 – C 370/12, Pringle, NJW 2013, S. 29, 31, Rn. 56; zurückhaltender Palm, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 136 AEUV Rn. 55, der aber konstatiert, dass die in Art. 136 Abs. 3 AEUV verwendete Terminologie weiter ist als der Begriff der Preisstabilität, also nicht nur auf dieses Ziel verpflichtet. 157  So Smulders/Kepenne, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 136 AEUV Rn. 16. 158  EuGH, Urt. v. 27.11.2012 – C 370/12, Pringle, NJW 2013, S. 29 ff. 156  EuGH,



C. Die Europäische Union als Stabilitätsgemeinschaft283

suchung aber nicht voran. Nach den Regelungen des ESM obliegt es den teilnehmenden Mitgliedstaaten, über diese Finanzstabilität sicherzustellen. Aus dem Zusammenhang mit der Errichtung des ESM folgt ein weiterer Bezug zur Stabilisierung des Finanzsystems innerhalb des Euro-Währungs­ raumes. Mit Finanzstabilität im Rahmen des ESM ist die Abwehr von syste­ mischen Risiken, welche sich auf Finanzmärkten ausbreiten und zum Aus­ bruch von Krisen führen, gemeint.159 Die Vermeidung zu hoher Staatsschul­ den dient der Vermeidung von Währungsturbulenzen und in letzter Konse­ quenz der Gewährleistung stabiler Finanzmärkte. Es zeigt sich, dass die Finanzmarktstabilität in den Europäischen Verträgen als hohes Gut einge­ schätzt wird, das nur dann gewährleistet werden kann, wenn im Ausnahme­ fall besondere Maßnahmen getroffen werden. Da der ESM aber außerhalb der Verträge erlassen wurde, lässt sich aus ihm nicht auf eine Verpflichtung aus den Verträgen schließen. c) Die Möglichkeit eines neuen Stabilitätsmechanismus Art. 136 Abs. 3 AEUV ist zudem eine Norm, die als Reaktion auf die Fi­ nanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 und die folgende Eurokrise erlassen wurde.160 Die Norm steht zwar im Zusammenhang mit der Gestaltung des ESM, erschöpft sich jedoch nicht in diesem. Auf Grundlage von Abs. 3 ist es möglich, in einer neuerlichen Krisensituation einen neuen Stabilitätsmecha­ nismus zu errichten. Die Ermächtigung zur Errichtung eines Stabilitäts­ mechanismus schließt auch die Errichtung eines solchen zur Wahrung der Finanzmarktstabilität mit ein.161 Eine erneute Krise nähme entweder ihren Ursprung auf den Finanzmärkten oder drohe, auf diese überzugreifen und sich damit zu vertiefen. Jedoch ist Art. 136 Abs. 3 AEUV eine Vorschrift, die vorrangig reaktives Verhalten der Mitgliedstaaten ermöglicht. Weniger wird dagegen auf eine präventive Rechtspflicht zur Stabilisierung abgestellt. Da­ her lässt sich der Norm eine solche auch nicht entnehmen. Es verbleibt bei einem allgemeinen Stabilitätsgedanken, der der Norm innewohnt.

159  So Ohler, in: Siekmann (Hrsg.), EWU, Art. 136 AEUV Rn. 19; ders., GYIL 2011, S. 47, 60 f. 160  Dies geht aus dem Beschluss des Europäischen Rates vom 25. März 2011 (2011/199/EU), ABl. 2011, L 91/1 hervor; so auch Häde, in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 136 AEUV Rn. 9; Ohler, in: Siekmann (Hrsg.), EWU, Art. 136 AEUV Rn. 14. 161  Im Ergebnis ebenso Palm, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 136 AEUV Rn. 56: „Zweck des Mechanismus ist die Eindämmung von Finanzkrisen im Euro-Währungsgebiet.“ (Hervorhebungen im Original).

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6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

d) Zwischenergebnis Zur Begründung eines Zieles bietet sich lediglich Art. 136 Abs. 3 AEUV an. Ähnlich wie im Rahmen des Art. 115 GG zeigt sich, dass in der Herstel­ lung und Gewährleistung von Finanzmarktstabilität im Nachgang der letzten Krise eine elementare Aufgabe gesehen wird, der durch Einführung neuer Vorschriften ein besonderer Rang zukommen soll. Dennoch gibt die Vor­ schrift für eine Rechtspflicht zu präventivem Handeln wenig her. Diese lässt sich nicht aus der Verbindung zwischen der Entstehung der Krise und der Entstehung der Norm herleiten. 3. Die Möglichkeit des finanziellen Beistandes gem. Art. 122 Abs. 2 AEUV Art. 122 Abs. 2 AEUV ermöglicht es der Union, einem ihrer Mitgliedstaa­ ten finanzielle Hilfen zukommen zu lassen. Voraussetzung sind Schwierig­ keiten eines Mitgliedstaates oder die ernstliche Bedrohung durch gravierende Schwierigkeiten infolge einer Naturkatastrophe oder außergewöhnlichen Notlage. Die Norm ist Ausdruck europäischer Solidaritätsbestrebungen.162 Verfahrenstechnisch ist ein Entschluss des Rates notwendig. Das Europäi­ sche Parlament ist nicht direkt beteiligt, es muss lediglich nachträglich be­ nachrichtigt werden. Die Norm gleicht hinsichtlich der materiellen Voraus­ setzungen Art. 109 Abs. 3 Satz 2 GG. Bereits dort wurde festgestellt, dass Finanzkrisen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen, sich als außerge­ wöhnliche Ereignisse im Sinne der Norm darstellen und daher eine Aus­ nahme rechtfertigen können. Der Bezug zur Finanzmarktkrise wird schon dadurch hergestellt, dass die Vorgängernorm (Art. 100 EGV) bis 2008 ein Nischendasein führte und hauptsächlich zur Mineralölversorgung aktiviert wurde, während mit Auf­ flammen der Euro- und Staatsschuldenkrise die Bedeutung plötzlich zu­ nahm.163 Wichtigster Anwendungsfall war die Kreation des Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM)164 im Jahr 2011 mit dem Ziel der Sicherung der Finanzmarktstabilität. Zugleich hat der EuGH den ESM für mit der Vorschrift vereinbar erklärt.165 162  Vgl. Smulders/Kepenne, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 122 AEUV Rn. 1, 12. 163  Smulders/Kepenne, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unions­ recht, Art. 122 AEUV Rn. 1. 164  VO (EU) Nr. 407/2010, ABl. L 118 vom 12.05.2010, S. 1. 165  EuGH, Urt. v. 27.11.2012, C-370/12, Pringle, NJW 2013, S. 29, 34 ff., Rn. 104, 119.



C. Die Europäische Union als Stabilitätsgemeinschaft285

Erforderlich ist zunächst, dass der Mitgliedstaat von Schwierigkeiten be­ troffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht ist. Bei durch Finanzkrisen ausgelösten Zahlungsschwierigkeiten, Abwertungen oder wirtschaftlichen Problemen infolge einer Finanzkrise wird diese Vorausset­ zung so gut wie immer erfüllt sein. Der Begriff des außergewöhnlichen Ereignisses nach Art. 122 Abs. 2 AEUV umfasst unter anderem soziale Unruhen, außenpolitische Verwicklun­ gen oder einen starken Wirtschaftsabschwung infolge einer Finanzkrise.166 Diskutiert wurde im Rahmen der Krisenmechanismen, insbesondere des eu­ ropäischen Finanzstabilisierungsmechanismus durch die VO (EU) Nr. 57/ 2010, ob auch die aktuelle Finanzkrise und die darauf folgende Krise in Griechenland als außergewöhnliches Ereignis im Sinne der Norm gelten kann.167 Ferner ist erforderlich, dass sich die außergewöhnliche Situation der Kon­ trolle des Mitgliedstaats entzieht, dieser also unverschuldet in diese Lage geraten ist.168 Zuletzt ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem außergewöhn­ lichen Ereignis und den Schwierigkeiten nötig. Es sollte genügen, wenn be­ reits bestehende Schwierigkeiten verschärft werden.169 Dies ist, wie der Fall Griechenland gezeigt hat, dann relevant, wenn sich Staaten bereits vor dem Ausbruch einer Krise in finanziellen oder wirtschaftlichen Schwierigkeiten befunden haben.

166  Häde, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 122 AEUV Rn. 8; Kämmerer, in: Siekmann (Hrsg.), EWU, Art. 122 AEUV Rn. 28; Knopp, NJW 2010, S. 1777, 1780. 167  Grundsätzlich bejahend für eine Finanzkrise Bandilla, in: Grabitz/Hilf/Nettes­ heim, Das Recht der EU, Art. 122 AEUV Rn. 27; Frenz/Ehlenz, EWS 2010, S. 65, 68; Häde, EuZW 2009, S. 399, 401 ff.; Hattenberger, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kom­ mentar, Art. 122 AEUV Rn. 6; Nettesheim, in: Kadelbach (Hrsg.), Nach der Finanz­ krise, S 31, 67 ff.; Siekmann, in: Möllers/Zeitler (Hrsg.), Europa als Rechtsgemein­ schaft, S. 101, 130; Wieland, NVwZ 2011, 340, 341; ablehnend wohl Geiger/Khan/ Kotzur, EUV/AEUV, Art. 122 AEUV Rn. 9; Kube/Reimer, NJW 2010, S. 1911, 1914; Thym, EuZW 2011, S. 167, 169; differenzierend zwischen den einzelnen Krisenstaa­ ten Gröpl, Der Staat 52 (2013), S. 1, 6; Häde, EuR 2010, S. 854, 857 ff.; P. Kirchhof, Deutschland im Schuldensog, S. 74; Knopp, NJW 2010, S. 1777, 1780 f.; M. Vogel, ZSE 2012, S. 459, 463 ff. 168  Einschränkend meinen Bandilla, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 122 AEUV Rn. 18; Häde, ZG 2011, S. 1, 14; Herrmann, EuZW 2010, S. 413, 414, dass Art. 122 Abs. AEUV nicht verlangt, dass die Schwierigkeiten insge­ samt unverschuldet sein müssen. Dem ist zuzustimmen. Die finanzielle Lage eines Staates ist, auch wenn sie durch ein externes Ereignis herbeigeführt wurde, nie völlig losgelöst vom Finanzgebaren des Staates zu sehen. 169  Häde, ZG 2011, S. 1, 14 mit Verweis auf die Lage Griechenlands.

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6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

Unklar ist das Verhältnis zur No-Bail-out-Klausel in Art. 125 Abs. 1 AEUV. Art. 122 Abs. 2 AEUV als Ausdruck des Solidaritätsgedankens widerspricht dem Verbot finanzieller Hilfen aus Art. 125 Abs. 1 AEUV. ­ Art. 122 Abs. 2 AEUV ist auch nicht als ausdrückliche Ausnahme zum NoBail-out Verbot konzipiert, so dass von einer „impliziten Ausnahme“ aus­ zugehen ist.170 Art. 125 AEUV war insbesondere als Schranke für die Grie­ chenland-Hilfen in der Diskussion. Die Norm schützt das Funktionieren der Wirtschafts- und Währungsunion. Um die Abgrenzung beider Vorschriften muss es an dieser Stelle nicht gehen. Festzuhalten ist, dass beide Vorschrif­ ten die Sicherung der Finanzstabilität innerhalb der Europäischen Union ­sicherstellen sollen.171 Abschließend stellt Art. 122 Abs. 2 AEUV damit ein Instrument zur Verfü­ gung, Staaten in Schieflage finanziell zu unterstützen. Das Mittel wurde vor allem im Rahmen der Finanzkrise genutzt. Wie Art. 136 AEUV stellt es aber lediglich ein reaktives Instrument dar, um eine bereits ausgebrochene Krise zu verhindern. Eine Rechtspflicht zu einem präventiven Tätigwerden auf­ grund einer Verantwortung lässt sich aus der Norm dagegen nicht herleiten. Wiederum findet sich jedoch ein allgemeiner Gedanke der Finanzmarktstabi­ lität.

VI. Die Aufgaben der Europäischen Zentralbank 1. Die Europäische Zentralbank und Finanzmärkte Art. 127 AEUV enthält die grundlegenden Regelungen über die europäi­ sche Währungsverfassung.172 Sie ist „europarechtliches Äquivalent“173 zu Art. 88 GG. Durch die folgenden Vorschriften werden EZB und ESZB weiter ausgestaltet. In Art. 127 Abs. 1 AEUV wird ein weiteres Mal Preisstabilität als vorrangiges Ziel bezeichnet, die folgenden Absätze benennen weitere Ziele und Aufgaben. Preisstabilität ist durch die Europäische Zentralbank und das Europäische System der Zentralbanken zu erreichen. 170  Smulders/Kepenne, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Uni­ onsrecht, Art. 122 AEUV Rn. 19. 171  Zu Art. 125 Abs. 1 EuGH, Urt. v. 27.11.2012, C-370/12, Pringle, NJW 2013, S. 29, 36, Rn. 135; Smulders/Kepenne, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Euro­ päisches Unionsrecht, Art. 122 AEUV Rn. 19. Auch Art. 122 Abs. 1 AEUV verfolgt nach hier vertretener Auffassung die Sicherung der Finanzstabilität, indem durch die Verhinderung eines Staatsbankrotts eines Mitgliedstaates Turbulenzen auf den Fi­ nanzmärkten vermieden werden sollen; siehe auch Häde, ZG 2011, S. 1, 7, nach dem die Zielsetzungen beider Vorschriften weitgehend parallel laufen. 172  Potacs, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 127 AEUV Rn. 1. 173  So Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, § 1 Rn. 49.



C. Die Europäische Union als Stabilitätsgemeinschaft287

Die EZB ist in der Praxis die Instanz der Union, die den Märkten Stabili­ tät vermittelt.174 Das Primat der Preisstabilität ist als Funktionsbedingung einer funktionierenden marktwirtschaftlichen Volkswirtschaft gedacht.175 Aus den primärrechtlichen Regelungen könnten sich daher bedeutende Anhalts­ punkte für eine Verpflichtung auf die Herstellung von Finanzmarktstabilität ergeben. Die Europäische Zentralbank ist die Zentralbank des Eurosystems und als solche gem. Art. 130 AEUV – wie die deutsche Bundesbank – unabhängig. Sie ist eingebettet in das Europäische System der Zentralbanken, das aus der EZB und den nationalen Zentralbanken besteht, selbst aber nicht den Cha­ rakter eines Organs der Union besitzt176. Die „Aufgaben und Ziele“ des ESZB sind im Wesentlichen in Art. 127 AEUV aufgeführt. In den Art. 282– 284 AEUV finden sich institutionelle Vorgaben. Weitere Konkretisierungen finden sich in der Satzung des ESZB. Konkrete Befugnisse werden nur an die EZB oder die nationalen Zentralbanken übertragen. Die Abhängigkeit zwischen Staaten und Banken besteht auch zwischen der Europäischen Zentralbank und den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, deren Banken während der Finanzkrise von der Zentralbank gestützt wur­ den.177 Zunächst ist finanzielle Stabilität und der Schutz vor Systemrisiken von vornherein Aufgabe einer Zentralbank.178 Die Europäische Zentralbank ist weiterhin – wie jede Zentralbank – von stabilen Finanzmärkten abhängig, da ansonsten ihre geldpolitischen Maßnahmen ins Leere liefen. In anderer Richtung sind die Finanzmärkte von einer Zentralbank abhängig, die durch ihre Maßnahmen für Stabilität sorgt. Die Argumentation, die im Rahmen des Art. 88 GG für die Bundesbank griff, lässt sich auf die Europäische Zentral­ bank übertragen. Dies ist gerade deshalb geboten, da die Europäische Zen­ tralbank, und nicht die Bundesbank, wegen Art. 88 S. 2 GG die wesentlichen Maßnahmen der Geldpolitik durchführt. Die Europäische Zentralbank nahm folgerichtig eine wesentliche Rolle bei Bewältigung der Krise ein.179 Während der Interbankenmarkt im Euroraum zusammenbrach, nahm die sie faktisch dessen Rolle ein. Dies führte zu einer schleichenden Kompetenzerweiterung. Die Preisstabilität herzustellen, war 174  Ruffert,

EuR 2011, S.765, 782. Das Mandat der EZB, S. 24. 176  F. Becker, in: Siekmann (Hrsg.), EWU, Art. 282 Rn. 37; Ohler, Geldpolitik und Bankenaufsicht in der Währungsunion, § 2 Rn. 4. 177  So auch für Art. 127 Abs. 1 AEUV Kaufhold, Systemaufsicht, S. 194. 178  So Smits, in: von der Groeben/Schwarze, Europäisches Unionsrecht, 6. Auf­ lage, Art. 105 EGV Rn. 70. 179  Siehe die Auflistung der Maßnahmen seit 2008 bei Kleinheyer, in: Blanke/Pilz (Hrsg.), Die Fiskalunion, S. 25, 28 ff.; ferner auch Sander, JZ 2018, S. 525, 527 ff. 175  Thiele,

288

6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

nicht mehr das einzige und wesentliche Ziel. Stattdessen nahm die Aufgabe, den Euro als Währung zu erhalten, eine zentrale Rolle ein. Die Kompetenz­ verschiebung zugunsten der EZB tangierte die eigentlich den Mitgliedstaaten obliegende Wirtschaftspolitik.180 Im Rahmen der Krisenbewältigung wurden sowohl umfangreiche Darlehen an die Finanzinstitute dieser Länder gegeben als auch deren Staatsanleihen aufgekauft. Ein Staatsbankrott eines EuroStaates würde daher auch die Europäische Zentralbank an den Rand des ­finanziellen Abgrundes treiben.181 Sie ist daher darauf angewiesen, dass die Märkte stabil bleiben. Als Rechtfertigung der Rettungspolitik führte EZB-Präsident Mario D ­ raghi vor allem die Störung der gelpolitischen Transmission an.182 Wie Sander herausarbeitet, sprach das damalige Direktoriumsmitglied Jürgen Stark dage­ gen davon, die „Durchschlagskraft zu erhöhen, da die Finanzmärkte nicht mehr richtig funktioniert haben“.183 Auch die Aussage von Draghi bezieht sich im Wesentlichen auf die Finanzmärkte, die den Transmissionskanal für geldpolitische Maßnahmen darstellen. Als Rechtfertigung für ihre Politik sieht die EZB daher selbst die Finanzmarktstabilität an.184 Erster Anknüpfungspunkt ist die Rolle der EZB als Geldversorger der Union. Als Zentralbank hat die EZB die geldpolitische Aufgabe, die Volks­ wirtschaft mit Zentralbankgeld zu versorgen.185 Wenngleich die Aufgabe in Art. 127 AEUV nicht genannt wird, ist sie in Art. 128 AEUV angelegt und in Art. 12. 1 Satz 2 ESZB-Satzung ausdrücklich genannt.186 Die Bedeutung der Liquiditätsversorgung steigt in der Krise beträchtlich an, während in ruhige­ ren Zeiten Liquidität aus dem Einlagengeschäft und dem Interbankenhandel gezogen werden kann, Quellen, die während der Krise weniger zur Verfü­ gung standen und stehen.187 Durch das Securities Market Programme (SMP), das durch das OMT-Programm ersetzt wurde, hat die EZB Regierungen mehrerer Staaten finanziert und dadurch eine politische Rolle eingenom­ men.188 Die Äußerung des EZB-Präsidenten Draghi „within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to rescue the euro“ bewirkte eine sofor­ Sander, JZ 2018, S. 525, 526. The Eurozone Crisis, S. 167. 182  Hierzu und zum Konflikt mit dem geldpolitischen Mandat der EZB ausführ­ lich Sander, JZ 2018, S. 525, 528 ff. 183  Sander, JZ 2018, 525, 529. 184  Vgl. Tuori/Tuori, The Eurozone Crisis, S. 183 f. 185  Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, § 3 Rn. 6; Palm, Preisstabilität in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, S. 107. 186  Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, § 3 Rn. 6. 187  Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, § 3 Rn. 7. 188  Tuori/Tuori, The Eurozone Crisis, S. 226. 180  Vgl.

181  Tuori/Tuori,



C. Die Europäische Union als Stabilitätsgemeinschaft289

tige Beruhigung der Finanzmärkte. Die ursprüngliche Idee der EZB im Ver­ trag von Maastricht war jedoch die eines nicht politischen Akteurs. Indem die EZB durch ihre Programme die Staaten finanzierte, hat sie mittelbar fördernd auf die Stabilität der Finanzmärkte eingewirkt. Wäre ein Staat zu­ sammengebrochen, hätte dies gleichzeitig den Ausfall von Krediten mehrerer systemrelevanter Banken bewirkt und zu ungeahnter Instabilität erst auf dem Finanzmarkt und in der Folge in den Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten geführt. Die Aufgabe der Liquiditätsversorgung kann die EZB nur mithilfe stabiler Finanzmärkte, vor allem mithilfe der Bankwirtschaft, erfüllen. Die Finanzmärkte sind der Mittler zwischen der Zentralbank und der Volkswirt­ schaft. Mithin besteht eine weitere Aufgabe, die nur dann hinreichend erfüllt werden kann, wenn die Europäische Union zugleich Finanzmarktstabilität gewährleisten kann. Art. 127 Abs. 5 AEUV verpflichtet die Europäische Zentralbank zur Un­ terstützung der zur Stabilisierung der Finanzmärkte ergriffenen Maßnahmen. Die Vorschrift verdeutlicht, dass eine Verantwortlichkeit der EZB, trotz der Pflicht, die den Mitgliedstaaten in Art. 136 Abs. 3 AEUV zur Wahrung der Finanzstabilität auferlegt ist, nicht ausgeschlossen ist.189 Die Norm ist Aus­ druck des Wandels vom Primat der Preisstabilität in Art. 127 Abs. 1 AEUV hin zu einem Ziel der Finanzmarktstabilität. So sind auch die Maßnahmen der EZB und des ESZB in der Krise nicht mehr isoliert auf die Wahrung der Preisstabilität gerichtet, sondern sind in einem weiteren Kontext der Finanz­ marktstabilität zu sehen. Nach den Reformen im Zuge der Finanz- und Staatsschuldenkrise nimmt die Europäische Zentralbank nunmehr auch nach den Verträgen im Rahmen der Finanzmarktstabilisierung eine herausgehobene Rolle ein. Dies zeigt sich zunächst durch die einheitliche Bankenaufsicht, in deren Rahmen die Euro­ päische Zentralbank als Aufsichtsorgan für die 115 systemisch bedeutendsten Banken tätig wird. Bedeutende Banken sind solche, deren Gesamtwert der Aktiva 30 Milliarden Euro übersteigt oder bei denen der Gesamtwert der Aktiva 20 % des BIP des Sitzstaates übersteigt oder die durch eine nationale Behörde eines Mitgliedstaates als bedeutend eingestuft wurden oder eine ­finanzielle Hilfe durch den EFSF oder ESM beantragt oder in Anspruch ge­ nommen haben. In diesem Kontext ist sie zu aufsichtlichen Prüfungen und Stresstests (Art. 4 Abs. 1 lit. f) VO (EU) Nr. 1024/2013) berechtigt, kann Bankzulassungen erteilen und entziehen (Art. 4 Abs. 1 lit. a) i. V. m. Art. 14, 16 VO (EU) Nr. 1024/2013), den Erwerb qualifizierter Beteiligungen durch Banken beurteilen, die Einhaltung aufsichtsrechtlicher Vorschriften der EU sicherstellen und höhere Eigenkapitalanforderungen (Art. 4 Abs. 1 lit. c) i. V. m. Art. 15, 16 VO (EU) Nr. 1024/2013) aufstellen. 189  Ohler,

Bankenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, § 3 Rn. 38.

290

6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

2. Die einzelnen Aufgaben und deren Verbindung zur Finanzmarktstabilität Die grundlegenden Aufgaben des Europäischen Systems der Zentralbanken sind in Art. 127 Abs. 2 AEUV definiert. Danach hat sie die Geldpolitik fest­ zulegen und auszuführen, Devisengeschäfte durchzuführen, die Währungsre­ serven zu halten und zu verwalten sowie die Funktionsfähigkeit der Zah­ lungssysteme zu gewährleisten. Weitere Nebenaufgaben190 finden sich in Art. 127 Abs. 4 bis 6 AEUV. Zusätzliche Aufgaben finden sich in Artt. 5.1, 6 und 15 ESZB-Satzung; bei diesen besteht allerdings keine besondere Nähe zur Stabilität der Finanzmärkte, so dass nicht weiter auf sie eingegangen wird. a) Die geldpolitischen Instrumente und ihr Einfluss auf die Finanzmarktstabilität Die geldpolitischen Instrumente der EZB sind in Art. 18 ff. ESZB-Satzung näher ausgeführt. Während der Krise wurden mehrere Maßnahmen der EZB auf das geldpolitische Mandat gestützt. Darunter fällt z. B. die Stabilisierung der Zinssätze für unter Druck geratene Mitgliedstaaten durch die Aussetzung der Mindestanforderungen für marktfähige Sicherheiten sowie der Ankauf gedeckter Schuldverschreibungen und die Erleichterung von Refinanzie­ rungsgeschäften.191 aa) Offenmarktgeschäfte Offenmarktgeschäfte nach Art. 18. 1 Sp. 1 ESZB-Satzung stellen das wichtigste geldpolitische Instrumentarium dar.192 Offenmarktpolitik bezeich­ net das Versorgen der Finanzmärkte mit Liquidität durch den Kauf und Ver­ kauf von Wertpapieren am offenen Markt auf eigene Rechnung und durch die Steuerung der Zinssätze.193 Die EZB hat zur Umsetzung ihrer Offen­ 190  Manger-Nestler, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar, Bd. III, Art. 127 AEUV Rn. 49; Waldhoff, in: Siekmann, EWU, Art. 127 AEUV Rn. 64. 191  Siehe Griller, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 127 Rn. 35. 192  Häde, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 127 AEUV Rn. 16; Ohler, Ban­ kenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, § 3 Rn. 60; Selmayr, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 282 AEUV Rn. 54 f. 193  Deutsche Bundesbank, Die Geldpolitik der Bundesbank, Oktober 1995, S. 110; ausführlich zu den Offenmarktgeschäften Waldhoff, in: Siekmann (Hrsg.), EWU, Art. 127 AEUV Rn. 39 ff. Die Norm ermächtigt das ESZB und die EZB zum Tätig­ werden auf den Finanzmärkten zur Erreichung der Ziele und Aufgaben der Union, siehe EuGH, Urt. v. 18.12.2018, C-493/17, EuZW 2019, S. 162, 165 f., Rn. 69.



C. Die Europäische Union als Stabilitätsgemeinschaft291

marktpolitik mehrere Handlungsoptionen, die sich in vier Kategorien eintei­ len lassen: Hauptrefinanzierungsfazilitäten, längerfristige Refinanzierungs­ geschäfte, Feinsteuerungsoptionen und strukturelle Operationen, von denen die Hauptrefinanzierungsfazilitäten die bedeutendste Kategorie darstellen.194 Die EZB tritt bei Offenmarktgeschäften gegenüber den Geschäftsbanken als privatrechtlicher Akteur auf und kann dadurch über das einzusetzende Instru­ ment und die Geschäftsbedingungen entscheiden.195 Durch Hauptrefinanzie­ rungsgeschäfte und längerfristige Refinanzierungsgeschäfte sollen die Märkte mit Liquidität versorgt werden. Seit der Finanzkrise entscheidet jedoch nicht mehr die EZB über die dem Markt zur Verfügung zu stellende Geldmenge, sondern es wird ein Mengentenderverfahren (im Gegensatz zum zwischen 2001 und 2008 angewandten Zinstenderverfahren) angewandt, d. h. die Geld­ menge, die dem Markt zugeführt wird, richtet sich nach der Nachfrage am Geldmarkt.196 Zusätzlich ist für längerfristige Refinanzierungsgeschäfte die Laufzeit von normalerweise ca. 90 Tagen für längerfristige Transaktionen während der Bewältigung der Finanzkrise auf bis zu 371 Tage erhöht wor­ den.197 Es zeigt sich abermals, dass die Finanzkrise Ausnahmesituationen heraufbeschworen hat. Die EZB hat während einer Finanzkrise ihre Tätigkeit erheblich anzupassen. Die Finanzmärkte sind hiervon abhängig, da sie auf das funktionierende Zentralbanksystem angewiesen sind, welches die Euro­ päische Union zu gewährleisten hat. bb) Ständige Fazilitäten Neben den Offenmarktgeschäften bestehen zwei ständige Fazilitäten, die Spitzenrefinanzierungsfazilität und die Einlagefazilität, welche auf Initiative privater Geschäftspartner für die Kreditvergabe über Nacht in Anspruch ge­ nommen werden können. Daneben kann die EZB nach Art. 18.1 Sp. 2 ESZBSatzung Kreditgeschäfte gegen ausreichende Sicherheiten mit Kreditinstitu­ ten und anderen Marktteilnehmern tätigen und nach Art. 19 ESZB-Satzung von Kreditinstituten die Bildung von Mindestkapitalreserven verlangen. Der Spitzenrefinanzierungszinssatz liegt über dem Zinssatz für Hauptrefinan­ zierungsgeschäfte, weshalb er zugleich die Obergrenze des Zinssatzes für Tagesgeschäfte auf dem Interbankenmarkt darstellt.198 Die Bedeutung des ­ 194  Ziffer 1.3.1 Anhang I der Leitlinie 2011/817/EU, abrufbar unter https://www. ecb.europa.eu/ecb/legal/pdf/l_33120111214de00010095.pdf (zuletzt abgerufen am 30.04.2020). 195  Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, § 3 Rn. 60. 196  Waldhoff, in: Siekmann (Hrsg.), EWU, Art. 127 AEUV Rn. 40 f. mit Verweis auf Deutsche Bundesbank, Geld und Geldpolitik, 2009, S. 151. 197  Waldhoff, in: Siekmann (Hrsg.), EWU, Art. 127 AEUV Rn. 41. 198  Glatzl, Geldpolitik und Bankenaufsicht im Konflikt, S. 71.

292

6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

I­nterbankenmarktes für die Stabilität der Finanzmärkte wurde hinreichend deutlich gemacht (siehe S. 45 f., 56). Der EZB stehen Instrumente zur Beein­ flussung des Interbankenmarktes zur Verfügung. Sie kann durch die ständi­ gen Fazilitäten insbesondere die Zinsen auf den Finanzmärkten beeinflus­ sen.199 Die Begrenzung auf Kreditinstitute und andere Marktteilnehmer soll wiederum die Stabilität durch Verhinderung der Vergabe unsicherer Kredite sichern.200 Die ständigen Fazilitäten wurden vor der Finanzkrise wenig in Anspruch genommen, die Inanspruchnahme lag vor 2007 bei unter 1 Mrd. Euro pro Monat. Während der Finanzkrise nahm die Bedeutung dagegen abrupt zu, da die Banken Zentralbankgeld bevorzugten und keine Kredite an andere Banken vergeben wollten.201 Das Instrument der ständigen Fazilitä­ ten ist daher insbesondere in Krisenzeiten notwendig und hat sich bisher bewährt. Zudem ist es durch die Möglichkeit der Zinssteuerung auf dem ­Interbankenmarkt auch möglich, negativen Entwicklungen für die Stabilität der Märkte entgegenzusteuern. Aus der Möglichkeit kann dagegen nicht auf einer Verpflichtung zur stabilitätsorientierten Politik geschlossen werden. cc) Mindestreservepolitik Ein weiteres hoheitliches Instrument der Geldpolitik stellt die in Art. 19 ESZB-Satzung vorgesehene Mindestreservepolitik dar. Sie ist das wichtigste geldpolitische Instrument.202 Die Mindestreserve ist an die Banken der Mit­ gliedstaaten gerichtet, die einen bestimmten Anteil der von ihnen betreuten Einlagen bei einem Konto einer nationalen Zentralbank des Eurosystems einlagern müssen. Insbesondere in Zeiten hoher Liquidität kann die Mindest­ reservepolitik dazu genutzt werden, dem Markt Liquidität zu entziehen und damit inflationären Tendenzen entgegenzuwirken.203 Durch die Möglichkeit zur Liquiditätssteuerung besteht ein enger Zusammenhang zur Entwicklung auf den Finanzmärkten.

199  Häde,

in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 127 AEUV Rn. 21. in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 127 Rn. 11. 201  EZB, Die Geldpolitik der EZB, S. 117 f. mit der dazugehörigen Abbildung 4.4. 202  Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, § 3 Rn. 72. Nach Glatzl, Geldpolitik und Bankenaufsicht im Konflikt, S. 76 ist sie „Grundlage dafür, dass die anderen geldpolitischen Instrumente überhaupt eine dauerhafte Funk­ tion erfüllen können“. 203  Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, § 3 Rn. 72. 200  Kempen,



C. Die Europäische Union als Stabilitätsgemeinschaft293

dd) Zusammenfassung Aus der Gesamtschau der drei notwendigen geldpolitischen Instrumente des ESZB und der EZB wird der hohe Einfluss auf die Finanzmarktstabilität erkennbar. Als ein Faktor zur Entstehung der Finanzkrise und der folgenden Eurokrise wurde auch die Geldpolitik im wirtschaftlich uneinheitlichen Eu­ roraum genannt. Trotz der vorrangigen Verpflichtung auf die Preisstabilität muss die Finanzmarktstabilität durch die Zentralbank bei Erfüllung ihrer Aufgaben bedacht werden. Die Instrumente sind zur Krisenprävention und -bewältigung auch geeignet. Aus der Existenz alleine lässt sich aber keine Verpflichtung zum Einsatz der Instrumente zur Stabilisierung begründen. b) Die weiteren Aufgaben gem. Art. 127 Abs. 2 und deren Einfluss auf die Finanzmarktstabilität aa) Devisengeschäfte Nach Art. 127 Abs. 2 Sp. 2 AEUV hat die EZB die Aufgabe, Devisenge­ schäfte zu tätigen. Art. 23 Sp. 2 Hs. 2 ESZB-Satzung schließt in den Begriff Devisen „alle Wertpapiere und alle sonstigen Vermögenswerte“ ein, „die auf beliebige Währungen oder Rechnungseinheiten lauten, unabhängig von deren Ausgestaltung“. Art. 127 Abs. 2 Sp. 2 AEUV bestimmt begrenzend, dass die Devisengeschäfte „im Einklang mit Art. 219 AEUV“ erfolgen müssen, was aber bisher keine Besonderheiten mit sich bringt. Die Devisenpolitik der Union ist daher strikt auf das Ziel der Preisstabilität ausgerichtet.204 Durch das Eingreifen auf den Devisenmärkten kann die EZB den Außenwert der Währung steuern.205 Durch Ab- oder Aufwertungen von einzelnen Währun­ gen kann auf Veränderungen der Haltung der Finanzmärkte eingewirkt wer­ den. Allerdings ist dieses Instrument für die EZB dahingehend begrenzt, dass sie nur eine Währung beeinflussen kann. Eine Verpflichtung zum Einsatz zur Finanzmarktstabilisierung besteht aufgrund der Norm nicht. Die Aufgabe des Haltens und Verwaltens von Währungsreserven gem. Art. 127 Abs. 2 Sp. 3 AEUV weist keine Verbindungen zur Stabilität der Fi­ nanzmärkte auf, so dass hierauf nicht weiter eingegangen werden muss.

204  Zum Ganzen Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, § 3 Rn. 27 ff.; Selmayr, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unions­ recht, Art. 127 AEUV Rn. 19. 205  Selmayr, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 127 AEUV Rn. 16.

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6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

bb) Der reibungslose Ablauf der Zahlungssysteme Dagegen ist der reibungslose Ablauf der Zahlungssysteme nach Art. 127 Abs. 2 Sp. 4 AEUV von wesentlicher Bedeutung für die Stabilität der globa­ len Finanzmärkte. Das ESZB kam dieser Aufgabe durch Etablierung des TARGET-Systems (Trans-European Automated Real-Time Gross Settlement Express Transfer System) nach, welches ab dem 19.11.2007 durch das TARGET2-System ersetzt wurde. Das Funktionieren des Zahlungsverkehrs ist schon deshalb von elementarer Bedeutung für eine Zentralbank, da dieser den Transmissionskanal darstellt, auf dem ihre geldpolitischen Handlungen auf die Märkte übertragen werden. Die Zahlungs- und Abwicklungssysteme erlauben Zahlungen und den Wertpapierhandel auf den Märkten.206 Die Finanzkrise hat die Bedeutung eines reibungslosen Zahlungsverkehrs nochmals verdeutlicht. Können Teilnehmer eines Zahlungssystems ihren Ver­ pflichtungen nicht mehr nachkommen, droht durch den Dominoeffekt ein weltweiter Zusammenbruch.207 Die EZB hat das TARGET2-System zum reibungslosen Ablauf von Wertpapiergeschäften um das Target2SecuritiesProgramm ergänzt, welches zusätzlich den Wertpapierhandel abdeckt. Zu­ sammenfassend tragen EZB und Eurosystem damit in Erfüllung ihrer Auf­ gabe nach Art. 127 Abs. 2 Sp. 4 AEUV zur Stabilisierung der Finanzmärkte wesentlich bei, indem sie die Zahlungsinfrastruktur sicherstellen.208 Wiederum lässt sich aber einwenden, dass die Bereitstellung der Zahlungsund Abwicklungssysteme nicht allein der Finanzmarktstabilität, sondern vorrangig der Übertragung der geldpolitischen Maßnahmen der EZB auf die Märkte dient.209 Dominierend ist dabei die Verfolgung der Preisstabilität, nicht der Finanzmarktstabilität. Hinzu kommt, dass aus der Möglichkeit nicht auf eine Verpflichtung geschlossen werden darf. 206  Kaufhold, Systemaufsicht, S. 203; Pflock, Europäische Bankenregulierung und das „Too big to fail-Dilemma“, S. 34 f. 207  So Selmayr, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 127 AEUV Rn. 30; vgl. auch Griller, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 127 Rn. 50 und Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, § 3 Rn. 34, die auf die Bedeutung des Funktionierens des Zah­ lungsverkehrs für das Finanzsystem verweisen. Auch die EZB weist auf den Zusam­ menhang zwischen der Transmission und Finanzkrisen hin, da die Transmission geldpolitischer Maßnahmen durch Finanzkrisen beeinträchtigt sei, siehe EZB, Die Geldpolitik der EZB, S. 68. 208  Selmayr, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 127 AEUV Rn. 31; ferner Griller, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 127 Rn. 51, bei dem eine Verbindung zwischen dem Funk­ tionieren des Zahlungsverkehrs und den Finanzmärkten hergestellt wird, und Kaufhold, Systemaufsicht, S. 203. 209  Vgl. Kaufhold, Systemaufsicht, S. 203 f.



C. Die Europäische Union als Stabilitätsgemeinschaft295

Dem ersten Einwand lässt sich insbesondere entgegenhalten, dass die Maßnahmen der Zentralbank häufig zur Sicherung der Finanzmarktstabilität ergehen und die Transmission dieser Maßnahmen auch diese unterstützt. Gegen den zweiten Einwand lässt sich wiederholen, dass die Finanzmarkt­ stabilität nach der Krise nicht mehr als untergeordneter Topos unter vielen gesehen werden sollte. c) Insbesondere: Die Aufsicht über Kreditinstitute nach Art. 127 Abs. 5 AEUV Besondere Bedeutung für die Finanzmarktstabilität hat die Aufsicht über Kreditinstitute. Durch eine verbesserte Aufsicht können systemische Risiken häufig bereits im Vorhinein entdeckt und entsprechende Gegenmaßnahmen eingeleitet werden. Folgerichtig wird vorgebracht, die Bankenaufsicht sei untrennbar mit der Stabilität der Finanzmärkte verbunden.210 Bei der Aufsicht über Kreditinstitute nach Abs. 5 hat das ESZB lediglich eine Unterstützungsfunktion, d. h. es erhält keine eigenständigen Befugnis­ se.211 Die Norm enthält einen Anhaltspunkt für eine europarechtlich begrün­ dete Pflicht zur Gewährleistung von Finanzmarktstabilität.212 Die Norm kann aber nur dann eine solche Verpflichtung enthalten, wenn sie sich nicht zum vorrangigen Ziel der Preisstabilität diametral entgegenge­ setzt verhält. Zwischen der Bankenaufsicht und Preisstabilität bestehen in mehrerer Hinsicht Differenzen hinsichtlich der Zielverwirklichung. Das Spannungsfeld zwischen Bankenaufsicht und Preisstabilität wurde von Glatzl unter der Überschrift „Bankenaufsicht als Gefährdung der Preis­ stabilität“ untersucht.213 Die Formulierung scheint zunächst einen Zielkon­ flikt zwischen beiden nahezulegen. Begründet wird dieser vor allem mit der Störung der geldpolitischen Transmissionsfunktion, die dadurch eintreten könne, dass keine Einheitlichkeit zwischen mitgliedstaatlicher Bankenauf­ sicht und gemeinschaftlicher Geldpolitik bestehe.214 Bankenaufsicht beein­ flusse das Preisniveau dergestalt, dass die Kosten, welche die Aufsicht verur­ 210  Manger-Nestler, Par(s) inter pares?, S. 267; siehe auch Friedl, Die Europäi­ sche Wirtschafts- und Währungsunion, S. 299 f. 211  Häde, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art.  127 AEUV Rn. 50; MangerNestler, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar, Bd. III, Art. 127 AEUV Rn. 50. 212  So sieht auch Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik, § 3 Rn. 38 f. die Bedeu­ tung der Vorschrift nicht vollständig vermindert und vertritt, dass sich aus ihr Folge­ rungen für eine Verpflichtung des ESZB ziehen lassen. 213  Siehe Glatzl, Geldpolitik und Bankenaufsicht im Konflikt, S. 183 ff. 214  Vgl. Glatzl, Geldpolitik und Bankenaufsicht im Konflikt, S. 188 f., 193 ff.

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6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

sacht, in das Zinsniveau einbezogen werden müssten.215 Ein praktisches Beispiel ist, dass die Bundesrepublik selbst teilweise die Bankenaufsicht zur Steuerung der Konjunktur nutzte; sehr viel stärker geschah dies in Italien und Frankreich.216 Im Ergebnis steigen die Darlehenszinsen mit den Kosten der Bankenaufsicht.217 Problematisch ist insbesondere, inwiefern in der Union die Mitgliedstaaten durch ihre Bankenaufsicht die geldpolitischen Maßnah­ men der Union negativ beeinflussen können.218 Durch das Versiegeln der Transmissionskanäle können diese ihre Wirkung kaum mehr entfalten. Zwischen den Maßnahmen zur Herstellung von Fi­ nanzmarktstabilität und der Preisstabilität besteht damit eine weitere, noch nicht angesprochene Korrelation. Konkret heißt dies, Bankenaufsicht kann der Finanzmarktstabilität dienen, aber zugleich der Preisstabilität zuwider laufen. Fraglich ist also, wie dieser Konflikt auf normativer Ebene aufgelöst wer­ den kann. Wie bei der Verpflichtung auf das gesamtwirtschaftliche Gleich­ gewicht nach Art. 109 Abs. 2 GG, die von allen Staatsorganen zu fördern ist, besteht auch hinsichtlich der Preisstabilität eine aktive Mitwirkungspflicht aller Mitgliedstaaten. Vor der Finanzkrise hätte daher – dem Primat der Preisstabilität folgend – dieser in jedem Falle Vorrang vor der Bankenauf­ sicht eingeräumt werden müssen. Dies hat sich nach der Finanzkrise jedoch umgekehrt. Überzeugender ist es auch an dieser Stelle auf die gestiegene Bedeutung der Finanzmarktstabilität zu verweisen. Während bei Entstehung der Verträge lediglich die hohe Bedeutung der Preisstabilität gesehen wurde, ist es nunmehr gerechtfertigt, die Finanzmarktstabilität in einen ähnlichen Rang zu erheben. Dem folgend, bestünde eine aktive Mitwirkungspflicht der Mitgliedstaaten bei der Stabilisierung der Finanzmärkte aufgrund der euro­ päischen Vorschriften. Ein weiterer Lösungsansatz zur Aufhebung des Konfliktes besteht darin, die Bankenaufsicht vollständig auf die Union und speziell die EZB zu über­ tragen, da hierdurch eine bessere Koordinierung möglich wäre.219 Diese einheitliche Bankenaufsicht wurde mit der SSM-VO zumindest für die gro­ ßen, systemrelevanten Institute auf europäischer Ebene geschaffen. Insgesamt beaufsichtigt die EZB nun 119 Institute, davon 21 deutsche. Hinzu kommt, 215  Glatzl,

Geldpolitik und Bankenaufsicht im Konflikt, S. 188 f., 193 ff. Geldpolitik und Bankenaufsicht im Konflikt, S. 195 ff., 249. 217  Glatzl, Geldpolitik und Bankenaufsicht im Konflikt, S. 197; vgl. auch Thiele, GewArch 2015, S. 157. 218  Hierzu ausführlich Glatzl, Geldpolitik und Bankenaufsicht im Konflikt, S.  200 ff., 252 ff. 219  So Glatzl, Geldpolitik und Bankenaufsicht im Konflikt, S. 246; ferner Jörgens, Die koordinierte Aufsicht über europaweit tätige Bankengruppen, S. 119. 216  Glatzl,



C. Die Europäische Union als Stabilitätsgemeinschaft297

dass es innerhalb eines so großen Aufsichtsrahmens wie der Europäischen Union notwendig zu einer Koordinierung zwischen Bankenaufsicht und Zen­ tralbankpolitik kommen muss, die ihre Begründung in einer Identität beider Zielsetzungen findet, da die Bankenaufsichtsbehörden und die Zentralbank mit den jeweils zur Verfügung stehenden Mitteln die Finanzstabilität för­ dern.220 Weiterhin muss die Bankenaufsicht insbesondere makroökonomi­ sche Folgen bei ihrer Tätigkeit mitberücksichtigen, die sich von einzelnen Banken auf die Finanzmärkte insgesamt erstrecken können.221 Zuletzt ist die Zentralbank in ihrer Funktion als Lender of Last Resort auch darauf angewiesen, umfassend über den Markt informiert zu sein, was durch eigene Aufsicht besser ermöglicht wird.222 Dem angeblichen Konflikt zwischen Bankenaufsicht und Preisstabilität auf institutioneller Ebene lässt sich entgegenhalten, dass die Aufgabe der Bankenaufsicht sich historisch aus der Funktion der Zentralbank entwickelte und es über einen längeren Zeit­ raum zu einer Verselbstständigung der Aufsicht kam.223 Diese Konzentration beider Aufgaben tritt mit der neuerlichen Bündelung der Aufsicht bei der EZB und deren Mitwirkung bei der Finanzstabilität nach Art. 127 Abs. 5 AEUV wiederum neu ein. Ein Konflikt muss daraus nicht folgen. Eine Rechtfertigung der einheitlichen Aufsicht auf europäischer Ebene folgt aus der besonderen Vertrauensgeprägtheit der Finanzmärkte, auch wenn Auf­ sichtsversagen nicht wesentlicher Auslöser der Krise war.224 Folglich sind die Konflikte zwischen der Bankenaufsicht und der Geldpo­ litik nach diesem Ansatz nicht so virulent, dass aus diesem Grund eine Ver­ pflichtung zur Finanzmarktstabilisierung abgelehnt werden müsste. Das Pro­ blem, dass die Mitgliedstaaten durch ihre Bankenaufsicht die geldpolitischen Maßnahmen der Union unterminieren, wurde durch die vereinheitlichte Bankenaufsicht erheblich verringert. Die Aufsichtsbefugnisse, die den Mit­ gliedstaaten hinsichtlich kleinerer Institute verbleiben, wirken sich nicht in demselben Maße aus, wie dies vor der Vereinheitlichung der Bankenaufsicht geschah. 220  So Jörgens, Die koordinierte Aufsicht über europaweit tätige Bankengruppen, S. 119; ferner Pascher, in: Korte u. a., Energiewende und Finanzkrise als aktuelle Herausforderungen des Europarechts, S. 111, 121 f., der darauf verweist, dass auch „positive Synergieeffekte“ entstünden. 221  Jörgens, Die koordinierte Aufsicht über europaweit tätige Bankengruppen, S. 120; Pascher, in: Korte u. a., S. 111, 121. 222  Pascher, in: Korte u. a., Energiewende und Finanzkrise als aktuelle Herausfor­ derungen des Europarechts, S. 111, 121. 223  Jörgens, Die koordinierte Aufsicht über europaweit tätige Bankengruppen, S.  120 m. w. N. 224  Pascher, in: Korte u. a., Energiewende und Finanzkrise als aktuelle Herausfor­ derungen des Europarechts, S. 111, 128; Thiele, GewArch 2015, S. 111, 114 f.

298

6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

d) Die „besonderen Aufgaben“ nach Art. 127 Abs. 6 AEUV Nach Abs. 6 kann der Rat der EZB „besondere Aufgaben“ im Wege des besonderen Gesetzgebungsverfahrens nach Art. 289 Abs. 2 EUV und nach einstimmigem Ratsbeschluss übertragen. Dies ist durch die Errichtung des SSM und des SRM geschehen. Die SSM-VO überantwortet der EZB eine „erhebliche Verantwortung (…) für den Schutz der Finanzmarktstabilität“225 in der gesamten Europäischen Union. Die EZB nimmt im einheitlichen Auf­ sichtsmechanismus eine wesentliche Rolle ein.226 Sie trägt die Hauptverant­ wortung für die prudentielle Aufsicht und die Überwachung der Kapitalan­ forderungen für systemrelevante Institute innerhalb der Eurozone.227 Zusätz­ lich kann sie Kapitalpuffer beantragen, die maßgeblich der Finanzmarktstabi­ lität dienen, indem sie die Widerstandskraft des Finanzsystems erhöhen.228 Die Begrenzung auf „besondere Aufgaben“ hängt mit der Kollision der Aufsichtsbefugnisse, die der Finanzsystemstabilität dienen, mit dem Primat der Preisstabilität zusammen, welches die EZB eigentlich dominiert.229 So soll ein Konflikt entstehen können, wenn die EZB durch die Änderung von Zinssätzen auf zugleich von ihr beaufsichtigte Kreditinstitute einwirkt230 oder beispielsweise zur Sicherung eines Finanzinstitutes Rettungsmaßnah­ men ergreift, die sich negativ auf die Preisstabilität auswirken können.231 Beide Ziele stehen aber nicht nur in einem Konflikt, sondern können ein­ heitlich erwirkt werden.232 Beide Bereiche weisen, bedingt durch den Zu­ 225  Erwägungsgrund

Nr. 55 der SSM-VO. zu diesem umfassenden Mandat der EZB z. B. Binder, ZBB 2013, S. 297, 305; Kaufhold, Systemaufsicht, S. 285 f.; Waldhoff/Dieterich, EWS 2013, S. 72, 74 f.; differenzierend Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik in der Währungs­ union, § 5 Rn. 19 ff. 227  Manger-Nestler/Böttner, EuR 2014, S. 621, 629. 228  Klingenbrunn, Produktverbote zur Gewährleistung von Finanzmarktstabilität, S. 28. 229  So Brandi/Gieseler, BB 2012, S. 2646, 2649; Manger-Nestler, in: Pechstein/ Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar, Bd. III, Art. 127 AEUV Rn. 53; Kaufhold, Die Verwaltung 46 (2013), S. 21, 35 f.; Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, § 3 Rn. 39; Pflock, Europäische Bankenregulierung und das „Too big to fail-Dilemma“, S. 84 f., Waldhoff/Dieterich, EWS 2013, S. 72, 77; abge­ schwächt Hartig, EuZW 2012, S. 775, 778. 230  Binder, ZBB 2013, S. 298, 309 f.; Brandi/Gieseler, BB 2012, S. 2646, 2649; K. Peters, WM 2014, S. 396, 399 f. 231  Manger-Nestler/Böttner, EuR 2014, S. 621, 629 f.; eine ähnliche Problematik sehen Ceyssens, NJW 2013, S. 3704, 3706; Schorkopf, VVDStRL 71 (2011), S. 183, 196. 232  Im Ergebnis ebenso Kaufhold, Systemaufsicht, S. 298; Manger-Nestler, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar, Bd. III, Art. 127 AEUV Rn. 53; dies./Böttner, EuR 2014, S. 621, 629; Thiele, Finanzaufsicht, S. 388 f.; ders., Das 226  Kritisch



C. Die Europäische Union als Stabilitätsgemeinschaft299

sammenhang von Preis- und Finanzstabilität, erhebliche Schnittmengen auf. Wie bereits ausgeführt (siehe S. 172 ff.), kann Instabilität auf den Finanz­ märkten zu höheren oder niedrigeren Preisen, also einer Inflation oder Defla­ tion, führen. In der anderen Richtung wirken sich instabile Preise destabili­ sierend auf die Finanzmärkte aus. Die EZB selbst sieht beide Bereiche als verbunden an, wenn sie in einer ihrer Veröffentlichungen davon ausgeht, „Finanzstabilität setzt Preisstabilität voraus. (…) Zugleich unterstützt die Fi­ nanzstabilität die (…) Zentralbank bei der Förderung der Preisstabilität“.233 Die Krise der Eurozone konnte durch die EZB aber erst überwunden werden, als man über die Begrenzungen des vorrangigen Zieles der Preisstabilität hinwegging und weitere Maßnahmen ergriff.234 So stellt die Finanzmarktstabilität für die EZB zumindest ein langfristiges Ziel dar, kurzfristig berücksichtigt die EZB die Finanzmarktstabilität bei ih­ ren geldpolitischen Maßnahmen, wenn sie z. B. die Vermögenspreisentwick­ lung berücksichtigt.235 Eine Koordination zwischen Liquiditätsversorger und Bankenaufsicht ist daher zweckgemäß, um sowohl Preis- als auch Finanz­ marktstabilität zu gewährleisten.236 Zudem ist die Problematik im Hinblick auf die Zentralbank ein lediglich kompetenzielles. Dem hat die SSM-Verordnung dahingehend Rechnung ge­ tragen, dass sie die EZB zur klaren Trennung der geldpolitischen und bank­ aufsichtsrechtlichen Befugnisse verpflichtet. Nicht in Frage gestellt wird durch die Bündelung der Kompetenzen der generelle Ausdruck eines Ziels der Finanzmarktstabilität, das ausdrücklich in Art. 127 Abs. 5 AEUV erwähnt ist.

Mandat der EZB, S. 24 f. wohl auch Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, § 3 Rn. 40; zurückhaltender Selmayr, in: von der Groeben/Schwarze/ Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 282 AEUV Rn. 65, der aber ebenso davon aus­ geht, dass ein Zielkonflikt durch die institutionelle Trennung der geldpolitischen und aufsichtsrechtlichen Aufgaben weitgehend vermieden werden kann. 233  EZB, Die Geldpolitik der EZB, S. 91; siehe weiterführend Thiele, Das Mandat der EZB, S. 24 m. w. N. 234  So die Analyse von Adam Tooze, Crashed, S. 366, der einen Kontrast gerade zur US-amerikanischen Zentralbank FED zeichnet, die neben der Sicherung der Preisstabilität auch die Arbeitslosigkeit bekämpfen soll und deren umfangreicheres Mandat besseres Krisenmanagement ermöglichte. 235  Thiele, Das Mandat der EZB, S. 25 mit Verweis auf EZB, Die Geldpolitik der EZB, S. 93. 236  Kotz, ZBB 2012, S. 322, 327.

300

6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

e) Zwischenergebnis Insgesamt sind die beschriebenen Normen Ausdruck eines Bestrebens der Union, der EZB bei der Unterstützung der Finanzstabilität eine größere Rolle zukommen zu lassen.237 Zum Mandat der Zentralbank gehört seit der SSMVO auch die Finanzstabilität, siehe Art. 1 Abs. 1 UAbs. 1 SSM-VO und Er­ wägungsgrund Nr. 13. Dennoch wurde dem Konflikt auch dadurch Rechnung getragen, dass beide Bereiche organisatorisch getrennt wurden. Die vier Vertreter der EZB im Aufsichtsgremium des SSM dürfen nach Art. 26 Abs. 5 SSM-VO keine geldpolitischen Aufgaben erfüllen. Neben der Unterstützungsfunktion bei der Finanzaufsicht übernimmt das ESZB nach Abs. 5 eine unterstützende Funktion bei der Finanzsystemstabi­ lität. Zu diesem Zweck wurde 2010, noch zu Anfang der Staatsschulden­ krise, auf (umstrittener238) Grundlage von Art. 114 AEUV das European Systemic Risk Board (ESRB) errichtet, das nach Erwägungsgrund 10 der VO (EU) 1092/2010 „in normalen Zeiten das Systemrisiko zu überwachen und zu bewerten hat, um die Gefahr des Ausfallrisikos von Systemkompo­ nenten für das System zu begrenzen und die Widerstandsfähigkeit des Fi­ nanzsystems gegen Schocks zu stärken“. Das ERSB ist damit kein Aus­ schuss zur Krisenbewältigung, sondern soll präventiv im Hinblick auf eine mittel- und längerfristige Perspektive239 tätig werden. Weiterhin ist es In­ begriff der institutionellen Trennung von Finanzmarkt- und Preisstabilität. Die EZB hat in diesem Gremium eine herausgehobene Stellung; der EZBPräsident führt den Vorsitz und ist neben dem EZB-Vizepräsidenten stimm­ berechtigt im ERSB-Verwaltungsrat. Dies zeigt die hohe Bedeutung, die der Finanzsystemstabilität durch das europäische Recht zugewiesen ist.240 Die Zielvorgabe der Förderung der Finanzsystem­stabilität beinhaltet auch die Zielvorgabe der Stabilisierung der Finanzmärkte. Diese herzustellen, ist daher umfassende Zielvorgabe des E ­ SZB.241 Darüber hinausgehend ist al­ 237  Vgl. Heun, in: Beckmann/Dieringer/Hufeld, Eine Verfassung für Europa, S. 403, 413, der auf die enorme Bedeutung von funktionierenden Zahlungsverkehrs­ systemen für Bankensysteme verweist. 238  Der EuGH hat dies gebilligt, siehe Urt. v. 22.01.2014, C-270/12 (ESMA), JZ 2014, S. 244 ff.; kritisch z. B. Häde, EuZW 2011, S. 662, 663; Waldhoff/Dieterich, EWS 2013, S. 72, 75 f. m. w. N. 239  R. Schmidt, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. StaatsR, § 252 Rn. 50; ähnlich Schemmel, Europäische Finanzmarktverwaltung, S. 29. 240  Für eine eigene Zielverankerung Häde, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 127 AEUV Rn. 24; Manger-Nestler, in: Pechstein/Nowak/Häde, Frankfurter Kommentar, Bd. III, Art. 127 AEUV Rn. 58. 241  Zurückhaltend im Hinblick auf eine kapitalmarktrechtliche Ausformung des Begriffes Klingenbrunn, Produktverbote zur Gewährleistung von Finanzmarktstabili­ tät, S. 27.



D. Die Bedeutung der Europäischen Grundrechte301

lerdings fraglich, ob dies auch Ziel­charakter für die gesamte Union entfal­ tet. Auf Grundlage der dargestellten Aufgaben ist es folgerichtig, der EZB als Zentralbank nicht nur die Aufgabe zuzuweisen, im nach Krisenausbruch die Folgen zu beseitigen, sondern steigender Instabilität auf den Märkten präven­ tiv entgegenzuwirken.242 Dagegen wird zwar vorgebracht, dass der EZB keine eigenen Befugnisse im Rahmen der Finanzstabilität eingeräumt wur­ den243, sondern lediglich eine unterstützende Funktion. Allerdings haben die vorstehenden Ausführungen gezeigt, dass die EZB mittlerweile für die Fi­ nanzmarktstabilität in der Union eine so große Bedeutung hat, dass sie fak­ tisch nicht nur unterstützend, sondern als Hauptakteur tätig wird.

D. Die Bedeutung der Europäischen Grundrechte Wie die Ausführungen zum nationalen Recht gezeigt haben, folgt die Ver­ pflichtung zur Finanzmarktstabilisierung vor allem aus den Grundrechten, insbesondere Art. 12 und Art. 14 GG. Die Union hat einen eigenen Grund­ rechtekatalog, der auf seine Verbindungen zur Finanzmarktstabilität zu unter­ suchen ist. Andere Untersuchungen gehen auf die Bedeutung der europäischen Grund­ rechte als Vorgabe für die Finanzmarktstabilität kaum ein, obwohl den deut­ schen Grundrechten durchaus Bedeutung beigemessen wird. Dennoch lohnt eine Beschäftigung, da die nationalen Grundrechte nur eine begrenzte Reich­ weite besitzen. Um einen effektiven Grundrechtsschutz zu gewährleisten, ist es notwendig, den nationalen Grundrechteschutz durch die europäischen Grundrechte zu komplementieren. Möglich wäre dies dann, wenn die euro­ päischen Grundrechte einen eigenständigen Weisungsgehalt für die hier inte­ ressierende Frage innehaben. Nach Art. 6 Abs. 1 EUV ruht der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union auf zwei Säulen. Auf der einen Seite steht die Europäische Grund­ rechtecharta, und auf der anderen Seite stehen die gemeinsame Verfassungs­ überlieferung der Mitgliedstaaten sowie die Europäische Menschenrechts­ konvention.

242  Dombret, in: ders./Lucius, Stability of the Financial System, S. 27, 31; Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, § 3 Rn. 21, mit der Ein­ schränkung auf Vermögensanlagen; vgl. auch Herrmann, in: Kadelbach (Hrsg.), Nach der Finanzkrise, S. 79, 92. 243  So Siekmann, in: Möllers/Zeitler (Hrsg.), Europa als Rechtsgemeinschaft, S. 101, 146.

302

6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

In grenzüberschreitenden Konstellationen, die auf den Finanzmärkten all­ täglich sind, treten die Grundrechte des Grundgesetzes wegen des Anwen­ dungsvorrangs des Europarechts hinter den europäischen Grundrechten zu­ rück. Der Schutz der Berufs- und der Eigentumsfreiheit obliegt dann nicht mehr allein dem deutschen Gesetzgeber.244 Die europäischen Grundrechte gelten für grenzüberschreitend tätige Teilnehmer auf den Finanzmärkten. Hinzu kommt auf der anderen Seite, dass Regulierungsmaßnahmen der Europäischen Union auf dem Gebiet der Finanzmärkte sich an den Europäi­ schen Grundrechten messen müssen. Insbesondere in den Blick geraten dabei wiederum die Eigentumsfreiheit gem. Art. 17 GRCh und die Berufsfreiheit gem. Art. 15 GRCh. So stellt z. B. der Anlegerschutz ein wesentliches Motiv für staatliche Eingriffe in die Finanzbranche dar, um das Vertrauen in die Solidität und Seriosität der Finanzinstitute, eine notwendige Bedingung für die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte, zu stärken.245 Auch bei der Recht­ fertigung von Eingriffen in die Europäischen Grundrechte findet eine Abwä­ gung mit den Belangen der Finanzmarktstabilität statt. Wiederum betrifft dies die abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte. Erforderlich für eine Rechts­ pflicht zum Handeln ist aber, dass eine Schutzpflicht besteht. Dies macht es nötig, sich mit den Funktionen der Europäischen Grundrechte auseinanderzu­ setzen.

I. Die Funktionen der Europäischen Grundrechte Die Grundrechte der Europäischen Grundrechtecharta weisen zum einen die klassische abwehrrechtliche Funktion auf.246 Gem. Art. 51 Abs. 1 GRCh bindet die Charta die Organe und Einrichtungen der Union sowie die Mit­ gliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts. Anders als die Grund­ freiheiten gelten die europäischen Grundrechte nicht, wenn die Mitgliedstaa­ ten lediglich im Rahmen nationaler Kompetenzen tätig werden.247 Aus der Bindung an die Grundrechte können auch für die Union Aufgaben folgen. Die Beeinträchtigung eines Grundrechts abzustellen, kann eine Uni­ onsaufgabe begründen. Noch bedeutender bei der Begründung von hoheit­ lichen Aufgaben sind Grundrechte in ihrer Funktion als Leistungsrechte, 244  Schorkopf, 245  Ohler,

145.

VVDStRL 71 (2011), S. 183, 199. in: Leible/Lemann (Hrsg.), Hedgefonds und Private Equity, S. 139,

246  Borowsky, in: Meyer/Hölscheidt (Hrsg.), GRCh, Art. 51 Rn. 34; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 51 GRCh Rn. 23 f. 247  Knebel, Die Drittwirkung von Grundrechten und -freiheiten gegenüber Priva­ ten, S. 92.



D. Die Bedeutung der Europäischen Grundrechte303

speziell durch Schutzpflichten.248 Für die Annahme von Schutzpflichten wird insbesondere Art. 51 Abs. 1 Satz 2 GRCh angeführt. Nach der Norm sollen Grundrechte und deren Anwendung und Grundsätze „gefördert“ werden. Aus dieser Formulierung ließe sich schließen, dass es, je nach Auslegung des einzelnen Grundrechtes, Schutzpflichten auch im europäischen Grundrechts­ schutz geben kann.249 Die Schutzpflichten aus den Grundrechten der euro­ päischen Grundrechtecharta haben bisher im europäischen Recht aber keine konkrete Bedeutung erlangt, so dass deren Anwendungsbereich und Reich­ weite unklar bleiben. Mit der Formulierung „fördern“ in Art. 51 Abs. 1 Satz. 2 GRCh muss nicht notwendig gemeint sein, dass Schutzpflichten der Union bestehen müssen. Es könnte auch schlicht darauf rekurriert worden sein, dass die Mitgliedstaaten auch die Durchsetzung der Europäischen Grundrechte schützen sollen. Weiterhin bleibt die Frage, ob die Norm generell Schutz­ pflichten begründen kann, da sie nur bei Durchführung des Unionsrechts gilt. Die Verpflichtung des Art. 51 Abs. 1 Satz 2 GRCh gilt für alle in Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 EUV genannten Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen, die durch die Verträge oder auf deren Grundlage geschaffen wurden und wegen Art. 6 Abs. 1 EUV auch für die Union als solche sowie die einzelnen Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts.250 Der EuGH hat in seiner Rechtsprechung keine Schutzpflichten aus den Grundrechten hergeleitet, was mit der mitgliedstaatlichen Kompetenz für die klassischen Grundrechte, die eine Schutzpflicht begründen, zusammenhän­ gen soll.251 Darauf aufbauend, ließe sich zwar vertreten, dass auch Schutz­ pflichten der Union bestehen können. Wenn die Grundrechte weit auszulegen sind, spricht zunächst nichts dagegen, aus ihnen auch Aufgaben und Ziele 248  Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten, S.  1056 m. w. N.; zur Notwendigkeit von Schutzpflichten Suerbaum, EuR 2003, 390, 399; zustimmend zur Schutzpflichtendimension der Grundfreiheiten Burgi, EWS 1999, S.  327 ff.; Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 49. Der EuGH hat Schutzpflichten für die Grundfreiheiten in mehreren Ent­ scheidungen angenommen, siehe Urt. v. 09.12.1977, Rs. C-265/95, Französische Bauernproteste, Slg. 1997, I-6959 Rn. 30 und Urt. v. 12.06.2003, Rs. C-112/00, Schmidtberger, Slg. 2003, I-5659 Rn. 57; beide Entscheidungen ergingen zur Waren­ verkehrsfreiheit. Neuere Literatur zur Thematik Knebel, Die Drittwirkung von Grund­ rechten und -freiheiten gegenüber Privaten, S. 96 ff. m. w. N. 249  Vgl. Jarass, GRCh, Art. 51 Rn. 5; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 51 GRCh Rn. 26 ff.; Ladenburger/Vondung, in: Stern/Sachs, GRCh, Art. 51 Rn.  21 f. 250  Jarass, GRCh, Art. 51 Rn. 13, 16; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 51 GRCh Rn. 4 ff.; Ladenburger/Vondung, in: Stern/Sachs, GRCh, Art. 51 Rn. 6; gerade die Bindung der Mitgliedstaaten hat aber zu umfangreichen Diskussionen über die Auslegung der Vorschrift geführt, siehe hierzu Terhechte, in: von der Groeben/ Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 51 GRCh Rn. 7 ff. 251  Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 51 GRCh Rn. 29 m. w. N.

304

6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

der Union abzuleiten, wenn auch die praktische Bedeutung von Schutzpflich­ ten bisher gering geblieben ist. Dennoch ist Zurückhaltung geboten und hinsichtlich jedes einzelnen Grundrechts zu untersuchen, ob dies im konkre­ ten Fall eine Schutzpflicht auslösen kann. Insgesamt ist es fragwürdig, ein Unionsziel auf Schutzpflichten aufzubauen, die bisher in der Rechtsprechung des obersten europäischen Gerichts keine Bedeutung gespielt haben.

II. Die Herleitung von Aufgaben aus europäischen Grundrechten Demzufolge ist für jedes einzelne Grundrecht zu prüfen, ob im konkreten Fall die Norm nach Wortlaut sowie Sinn und Zweck geeignet ist, Schutz­ pflichten zu begründen und diese in Umfang und Form auszugestalten.252 Wie gezeigt, ist auch die Abwehr eines Eingriffs in Grundrechte eine staat­ liche Pflicht. Gleichermaßen ist also die Union verpflichtet, nicht gerechtfer­ tigte Eingriffe in Europäische Grundrechte abzuwehren.

III. Eigentumsgarantie, Art. 17 GRCh Im Rahmen der Prüfung der nationalen Grundrechte wurde bereits thema­ tisiert, ob die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG eine Schutzpflicht des Staates für die Teilnehmer des Finanzmarktes sowie die Bürger begrün­ det (siehe S. 221 ff.). Dies lässt sich jedoch nicht ohne weiteres auf Art. 17 GRCh übertragen. Das Eigentumsrecht wird gemeinhin im europäischen Kontext als normen­ geprägtes Grundrecht bezeichnet.253 Die Ausgestaltung dessen, was Eigen­ tum ist, bleibt dem jeweiligen Gesetzgeber vorbehalten. Fraglich ist dabei zunächst, welcher Gesetzgeber mit der Formulierung angesprochen ist. Dem Unionsgesetzgeber sind mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 EUV) und dem gesondert auf das Eigentum abstellenden Art. 345 AEUV in dieser Hinsicht Grenzen gesetzt. Mithin ist der Eigentumsbegriff unionsrechtlich selbstständig zu entwi­ ckeln, wobei gem. Art. 52 Abs. 3 GRCh eine Konkordanzauslegung mit Art. 1 1. Zusatzprotokoll zur EMRK zu erfolgen hat.254 Das heißt, dem Unions­ 252  Ladenburger/Vondung,

in: Stern/Sachs, GRCh, Art. 51 Rn. 22. in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 20 Rn. 15; Jarass/Kment, EU-GR, § 22 Rn. 15. 254  Wollenschläger, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unions­ recht, Art. 17 GRCh Rn. 10; zur Herleitung und dogmatischer Struktur des unions­ rechtlichen Eigentumsgrundrechts im Einzelnen Calliess, in: Ehlers (Hrsg.), Europäi­ sche Grundrechte und Grundfreiheiten, § 20 Rn. 14. 253  Calliess,



D. Die Bedeutung der Europäischen Grundrechte305

grundrecht ist derselbe Schutzbereich zugrunde zu legen, der Schutz darf aber über die EMRK hinausgehen.255 Der sachliche Schutzbereich umfasst alle geldwerten Vermögenspositionen, die einer Person durch die Rechtsord­ nung ausschließlich zugewiesen sind, sofern diese Ertrag eigener Leistung oder jedenfalls aus dem Vermögen einer natürlichen oder juristischen Person erwachsen sind.256 Aktien und ähnliche Vermögenswerte, die auf den Finanz­ märkten gehandelt werden, sind erfasst.257 Sie werden für Geld auf den Märkten gehandelt, so dass eine geldwerte Vermögensposition vorliegt. Dem Inhaber steht dieses im Sinne eines Ausschließlichkeitsrecht zu, und er hat seine Position gegen Zahlung eines Kaufpreis erworben, so dass diese auch der Ertrag eigener Leistung ist. Unterstützen lässt sich diese Argumentation dadurch, dass sich das Eigentumsgrundrecht der Europäischen Grund­ rechtecharta als normgeprägtes Grundrecht in besonderer Weise an der Aus­ legung des Grundrechts in den Mitgliedstaaten orientiert und Aktien in den Schutzbereich des Art. 14 GG einbezogen sind (siehe S. 221). Grundsätzlich wäre es daher möglich, auch für Art. 17 GRCh anzunehmen, dass ein Schutz vor einem vollständigen Wertverfall der Aktie besteht. Ein solcher Schutz besteht jedoch schon bei Art. 14 GG nicht. Art. 17 GRCh sollte an dieser Stelle nicht weitergehen. Der Wortlaut gibt keine Anhaltspunkte für eine noch weitere Auslegung. Der Schutz des Aktienwertes wäre durch die Union zudem kaum effektiv möglich, da er von Faktoren abhängt, die sich der Kon­ trolle der Union entziehen und von Entwicklungen in den Mitgliedstaaten abhängen. Der Wert einer börsennotierten Aktie hängt zudem maßgeblich von den Gegebenheiten an der nationalen Börse ab. Geschützt werden kann daher nur der Bestand, nicht der Wert der Aktie. Der Schutz des Bestandes der Aktie kann aber nicht so weit ausgelegt werden, dass der Wertverfall darunter zu fassen wäre. Abstrakt lässt sich daher über den Schutz des Ak­ tienwertes keine Rechtspflicht zur Finanzmarktstabilisierung herleiten. Weiterhin gewährt Art. 17 GRCh – wie Art. 14 GG – ein subjektives Recht auf Schutz des Geldwertes, dass allerdings nicht einklagbar ist.258 Im Übri­ gen lässt sich für Art. 17 GRCh nichts weiter anführen, was nicht bereits bei Art. 14 GG ausgeführt wurde. Die Erwägungen zur Risikoabwehr gelten an dieser Stelle entsprechend, wobei allerdings darauf hinzuweisen ist, dass eine solche auf europäischer Ebene anders erfolgen muss als auf nationaler Ebene. Es fehlt dennoch für das europäische Eigentumsgrundrecht an der notwendi­ 255  Wollenschläger, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unions­ recht, Art. 17 GRCh Rn. 3. 256  Wollenschläger, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unions­ recht, Art. 17 GRCh Rn. 10; Jarass, GRCh, Art. 17 Rn. 6. 257  M. Müller, Finanzmarktstabilisierung und Anlegereigentum, S. 192 f. 258  Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, § 3 Rn. 22.

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6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

gen Konkretisierung, um eine Schutzpflicht, vergleichbar derjenigen aus Art. 14 GG, anzunehmen.

IV. Berufsfreiheit und unternehmerische Freiheit Die Europäische Grundrechtecharta schützt die Berufsfreiheit in Art. 15 und zusätzlich die unternehmerische Freiheit in Art. 16 GRCh. Art. 15 GRCh schützt den Beruf, der auf Dauer angelegt sein muss und der Schaffung einer Lebensgrundlage dient.259 Von Art. 16 GRCh geschützt ist die wirtschaft­liche Betätigungsfreiheit in jeglicher Ausprägung.260 Anders als im Grundgesetz, in dem sich beide Freiheiten in Art. 12 Abs. 1 GG finden, hat sich der euro­ päische Gesetzgeber für eine Trennung entschieden. Die Berufsfreiheit nach der Grundrechtecharta weist, mehr noch als andere Grundrechte, einen Bezug zu den Grundfreiheiten auf, der sich in Art. 15 Abs. 2 GRCh besonders aus­ geprägt darstellt. Die Grundfreiheiten stehen daher zu dem Grundrecht in einem Spezialitätsverhältnis.261 Zusammen mit Art. 17 GRCh sind beide Grundrechte die zentralen Aus­ prägungen der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit.262 Wie bei den deut­ schen Grundrechten erörtert, lässt sich dem Schutzbereich der Berufsfreiheit auf zwei Wegen eine Verantwortung für die Finanzmarktstabilität herleiten (siehe S. 199 ff.). Die Erwägungen treffen auch für die europäischen Grund­ rechte zu. Das erwähnte Spezialitätsverhältnis zu den Grundfreiheiten ver­ hindert aber, dass für eine europäische Verpflichtung mehr aus diesem Grundrecht hergeleitet werden kann. Anderenfalls würde die Spezialität um­ gangen werden. Wenn aus den Grundfreiheiten bereits keine weitergehenden Pflichten der Union hergeleitet werden konnten, kann dies an dieser Stelle nicht anders beurteilt werden. Anderenfalls würde der Gleichlauf der Beruf­ lichen Freiheit mit den Grundfreiheiten unterlaufen werden.

V. Ergebnis zu den Europäischen Grundrechten Die einschlägigen Grundrechte der GRCh erfassen grundsätzlich dieselben Positionen wie die korrespondierenden Grundrechte des Grundgesetzes. Es 259  Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 15 GRCh Rn. 5; ders., in: Eh­ lers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 19 Rn. 1; Jarass, GRCh, Art. 15 Rn. 6 f. 260  EuGH, Urt. v. 15.01.1985, C-250/83, Finsider, Slg. 1985, 2857; Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 16 GRCh Rn. 1. 261  Ruffert, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 19 Rn. 22; ders., in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 15 GRCh Rn. 27. 262  Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 15 GRCh Rn. 1.



E. Ergebnis zur Auslegung des europäischen Rechts307

gibt aber zu bedenken, dass die Dogmatik der Schutzpflichten nicht so aus­ differenziert ist wie im nationalen Recht. Aus dieser unsicheren Position he­ raus eine Schutzpflicht zu konstruieren, die sich in Verbindung mit anderen Normen zu einem Unionsziel verdichtet, ist nicht möglich. Ein Unionsziel bedeutet eine objektivrechtliche Verpflichtung für alle Unionsorgane, an de­ ren Begründung erhöhte Anforderungen zu stellen sind. Es wäre daher erfor­ derlich, aus den genannten Normen des EUV und AEUV bereits eine Ver­ pflichtung zur Stabilisierung herleiten zu können. Im Ergebnis ist damit zu konstatieren, dass die europäischen Grundrechte, anders als die Grundrechte des Grundgesetzes, nicht zur Begründung einer europäischen Verantwortung herangezogen werden können. Im nationalen Recht werden die Grundrechte durch umfangreiche Regelungen flankiert, aus denen sich eine Verantwortung herleiten lässt. Dies ist im europäischen Recht nicht im gleichem Maße der Fall. Dieses enthält zwar an mehreren Stellen Hinweise auf die hohe Relevanz der Finanzmarktstabilität für die einzelnen Normen und die Aufgabenerfüllung der Union, allerdings nicht in demselben Maße wie das Grundgesetz. Es gibt auch 2020 noch keine unionsrechtlichen Normen, welche ausdrücklich auf die Förderung der Finanzmarktstabilität verpflichten, sondern lediglich die behandelten Normen, welche auf die ­Bedeutung derselben hinweisen.263 Es ist daher nicht gerechtfertigt, die Maß­ stäbe der grundrechtlichen Schutzpflichten aus dem Grundgesetz auf die ­europäischen Grundrechte zu übertragen.

E. Ergebnis zur Auslegung des europäischen Rechts Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Verträge an mehreren Stellen Ver­ bindungen zur Finanzmarktstabilität aufweisen. Insbesondere in den Vor­ schriften zur Europäischen Zentralbank sowie zur Haushaltsdisziplin finden sich solche. Beide Themenbereiche wurden während der Finanzkrise modifi­ ziert, was die Abhängigkeit von stabilen Finanzmärkten verdeutlicht. Das Streben nach stabilen Finanzmärkten kommt durch die Verstärkung der Haushaltsdisziplin zum Ausdruck. Die Krise hat innerhalb der Union ein eklatantes Schuldenproblem aufgedeckt, das seitdem kaum gelöst wurde. Verstärkte Haushaltsdisziplin soll verhindern, dass Europa durch eine Fi­ nanzkrise erneut so stark getroffen wird. Die Regelungen zur Haushaltsdiszi­ plin enthalten daher auch ein präventives Element, im Vorhinein besser zu wirtschaften, um Finanzkrisen nicht zur Entstehung kommen zu lassen. In demselben Kontext sind die Befugnisse der europäischen Zentralbank zu ­sehen. Diese hat die vorrangige Aufgabe, die Preisstabilität zu sichern. Nach 263  Vgl.

Schott, Reaktionen des Staates, S. 110 f.

308

6. Kap.: Europarechtliche Vorgaben

hiesiger Auffassung ist hierzu zuvorderst notwendig, die Stabilität der ­Finanzmärkte zu sichern. Zu dieser Aufgabe hat die Zentralbank mehrere Mittel zur Verfügung, mit denen die Märkte schonend gesteuert werden und durch die Stabilität und Vertrauen geschaffen wird. In diesem Kontext ist auch die allgemeine Zielvorgabe der Sicherung der Preisstabilität in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 EUV zu sehen, die durch die Förderung der Finanzmarktstabi­ lität gestützt wird. Selbiges gilt für das in der Norm genannte Wirtschafts­ wachstum. Andere Normen der Verträge weisen zwar eine Verbindung zur Finanz­ marktstabilität auf, sehen dabei aber lediglich reaktive Maßnahmen vor. Zu nennen sind insbesondere Art. 122 Abs. 2 AEUV und Art. 136 AEUV. Aus ihnen lässt sich keine Rechtspflicht der Union herleiten, präventiv gegen zukünftige Krisen vorzugehen. Die Verpflichtungen aus dem ESM geben für eine Pflicht der Union nichts her, da es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag zwischen Mitgliedern der Eurozone handelt, der an sich nichts über eine Verpflichtung der Union aus­ sagen kann. Selbiges gilt für das EAS, das keine eigenen Verpflichtungen von Verfassungsrang begründen kann und für eine Verpflichtung aus einer europäischen Wirtschaftsverfassung. Nach der allgemeinen Zielvorgabe in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 EUV besteht zwar eine soziale Marktwirtschaft, diese ist aber nicht so zu verstehen, wie dies in der Bundesrepublik getan wird. Zuletzt hat eine Untersuchung der europäischen Grundrechte ergeben, dass diese zwar wie die nationalen Grundrechte im Schutzbereich die Folgen ei­ ner Finanzkrise erfassen, allerdings lässt sich aus diesen keine Schutzpflicht für von Finanzkrisen bedrohte grundrechtlich geschützte Güter herleiten. So sieht auch Kaufhold die verschiedenen Verbindungen der europäischen Verträge zur Finanzmarktstabilität, zieht hieraus aber den Schluss, dass ge­ rade keine übergreifende Verpflichtung besteht.264 Schwer wiegt das Argu­ ment, dass die Mitgliedstaaten einzelne, punktuelle Verpflichtungen für be­ stimmte Bereiche der Finanzmärkte geschaffen haben, wollten diese eine übergreifende Pflicht normieren, hätten sie dies getan.265 Diese Argumenta­ tion überzeugt jedoch nicht vollständig. Genauso lässt sich aus den punktuel­ len Verpflichtungen auf ein größeres Ziel schließen, dass die Mitgliedstaaten verfolgen. Dieses ist die Herstellung und Gewährleistung von Finanzmarkt­ stabilität. Hieraus lässt sich aber auch nicht ohne weiteres auf ein Unionsziel schließen.

264  Kaufhold,

Systemaufsicht, S. 205. Systemaufsicht, S. 205 f.: „Der Verzicht hierauf ist als Verzicht in der Sache zu verstehen und Ernst zu nehmen“. 265  Kaufhold,



E. Ergebnis zur Auslegung des europäischen Rechts309

Schwer wiegt aber, dass die Finanzmarktstabilitätspolitik in den Bereich der Wirtschaftspolitik fällt, die den Mitgliedstaaten obliegt. Ein Ziel, dass aus Kompetenzgründen nicht effektiv verfolgt werden kann, wäre sinnlos. Diese Problematik stellt sich im nationalen Recht nicht, so dass ein wesent­ licher Unterschied besteht, der einen Gleichlauf mit dem Staatsziel der Fi­ nanzmarktstabilität ausschließt. Bei Begründung eines solchen ist erhöhte Zurückhaltung geboten, da es den politischen Handlungsspielraum der 27 Mitgliedstaaten für einen nicht unerheblichen Zeitraum einschränkt, indem das gesamte Handeln an der Ver­ wirklichung dieses Ziels ausgerichtet werden muss. Ein Unionsziel erweitert zwar zugleich auch die Möglichkeiten, da es den rechtsetzenden Organen im Verhältnis zu Grundrechten einen höheren Abwägungsbelang gibt. Dennoch ist beim Finden neuer Unionsziele Vorsicht geboten. Fraglich ist vor allem die für ein Unionsziel erforderliche Verpflichtungswirkung. Anders als im nationalen Recht lässt sich eine solche nicht aus den Europäischen Grund­ rechten herleiten. Die Verpflichtungswirkung ließe sich daher nur schwer konstruieren, wobei an den expliziten Verzicht einer ausdrück­lichen Imple­ mentierung eines solchen Zieles zu erinnern ist. Die Normen, die verpflich­ tend wirken, nämlich Art. 126 AEUV und Art. 136 AEUV, treffen vor allem die Mitgliedstaaten; hieraus auf ein übergreifendes Unionsziel zu schließen, ginge aber zu weit. Dennoch ist aus dem Verzicht auf die Formulierung eines übergreifenden Zieles nicht darauf zu schließen, dass dies als vollständiger Verzicht in der Sache wirkt. Die Anknüpfungen in den Verträgen zeigen, dass die Finanz­ marktstabilität einen starken Abwägungsbelang darstellt. Dies wirkt auch auf das nationale Recht durch, so dass sich auch im europäischen Recht Vorga­ ben für die Stabilität der Finanzmärkte finden lassen.

Ergebnis und Fazit Eingangs der Untersuchung wurde die Bestimmung der verfassungs- und europarechtlichen Vorgaben zur Stabilisierung der Finanzmärkte als Ziel der Untersuchung ausgemacht. Ausgehend von den Erfahrungen der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 und der folgenden – und immer noch andauernden – Euro- oder Staatsschuldenkrise in der Europäischen Union konnte die Kri­ senanfälligkeit des Finanzsektors sowie die Verbindung von Staat und Fi­ nanzmärkten aufgezeigt werden. Dabei hat sich gezeigt, dass die Krisenan­ fälligkeit im Wesentlichen im Bankensektor und den unterstützenden Institu­ tionen sowie deren enger Verbindung über den Interbankenmarkt begründet liegt. Die Krisenanfälligkeit des Bankensektors begründet durch die „fatale“ Verbindung von Staats- und Bankfinanzen die Gefahren für Staaten. Aufgrund dieser Verbindung und der weiteren Verbindung zwischen Fi­ nanzmärkten und der Realwirtschaft ist davon auszugehen, dass die Finanz­ marktstabilität einen Gemeinwohlbelang darstellt. Dies alleine reicht jedoch nicht, um davon auszugehen, dass den Staat eine Verantwortung für diesen Sektor trifft. Ebenfalls ergebnislos war die Untersuchung völkerrechtlicher Vorgaben. Zwar weisen diese teilweise auf die Bedeutung der Finanzmarkt­ stabilität hin, es gibt aber auch in ihnen keine konkreten Vorgaben, aus denen sich eine Verantwortung des Staates ergibt. Nicht ausreichend ist ferner die allgemeine Verbindung zwischen Staaten und Finanzmärkten, auf die an mehreren Stellen hingewiesen wird. Eine solche Verantwortung folgt jedoch aus den Grundrechten in Verbin­ dung mit Art. 88 und 109 Abs. 2, 115 GG. Aus diesen Normen ergibt sich ein Staatsziel Finanzmarktstabilität, das den Staat darauf verpflichtet, Maßnah­ men zu ergreifen. Art. 88 GG schafft mit dem Staatsziel der Preis­stabilität, das mittlerweile weitgehende Überschneidungen zur Finanzmarktstabilität aufweist, eine Grundlage für eine Verpflichtung der Bundesrepublik. Art. 109 GG bietet mit der Verpflichtung auf die Verfolgung der vier Teilziele des magischen Vierecks, die von der Entwicklung der Finanzmärkte abhängen, einen erheblichen Hinweis auf die Bedeutung der Finanzmarktstabilität für die Verfolgung der verfassungsrechtlichen Vorgaben. Daneben wurde durch Einführung der Schuldenbremse in Art. 109 und 115 GG eine weitere Ver­ pflichtung geschaffen, die ohne stabile Finanzmärkte nicht zu verwirk­lichen ist. Weiter zu beachten sind das Sozialstaatsprinzip und die Pflicht zur Ge­ währung des Existenzminimums, die ebenfalls verlangen, dass der Staat zur



Ergebnis und Fazit311

Sicherung der Finanzmärkte zur Herstellung von Sozialstaatlichkeit nicht un­tätig dem Treiben auf den Finanzmärkten zusehen darf, wenn sich daraus Instabilitäten ergeben können. Diese allgemeinen Verpflichtungen zur Stabilisierung der Finanzmärkte verbinden sich mit grundrechtlichen Schutzpflichten aus Art. 14 und 12 GG zu einem Staatsziel der Finanzmarktstabilität. Art. 14 GG verlangt insbeson­ dere die Abwehr systemischer Risiken, die für die schnelle Risikoverbreitung und -verwirklichung auf den Finanzmärkten verantwortlich sind. Der Charakter als Staatsziel eröffnet eine weitere Dimension auf Rechtfer­ tigungsebene für Eingriffe in Grundrechte. Die Maßnahmen zur Bewältigung der letzten Krise und zur Abwehr systemischer Risiken gegen den Ausbruch einer neuen Krise sind durch die verfassungsrechtlichen Vorgaben gestärkt. Zugleich ergibt sich aus dem Staatszielcharakter eine Verpflichtungswirkung, die aufgrund des Untermaßverbotes ein völliges Untätigbleiben verbietet. Eine andere Beurteilung ergibt sich nach Untersuchung der europarecht­ lichen Vorgaben. Zwar gibt es auch im Unionsrecht die den Staatszielen vergleichbare Kategorie der Unionsziele. Allerdings genügen nach hiesiger Auffassung die Vorgaben in den Verträgen nicht, ein ebensolches anzuneh­ men. Das europäische Recht verweist zwar an mehreren Stellen in den Ver­ trägen auf die Finanzmarktstabilität als wichtigen Belang auch des Unions­ rechts. Zusammenfassend sind insbesondere die Verschuldungsregelungen in Art. 126 und 136 AEUV mit den grundgesetzlichen Regelungen vergleichbar. Daneben besteht mit Art. 127, 282 AEUV mit den Regelungen zur Europäi­ schen Zentralbank eine Art. 88 GG vergleichbare Verpflichtungswirkung. Ein Unionsziel ließe sich auf diese Normen in Verbindung mit Art. 3 Abs. 3 EUV, der Verpflichtung auf Preisstabilität, stützen. Es fehlt allerdings an einer den Grundrechten vergleichbaren Verpflich­ tungswirkung. Diese lässt sich weder aus den Grundfreiheiten noch aus den europäischen Grundrechten herleiten. Hiermit ist jedoch nicht gesagt, dass die Union gänzlich untätig bleiben kann. Die zur Finanzmarktstabilisierung getroffenen Maßnahmen in der Vergangenheit haben gezeigt, dass die Union einen wichtigen Baustein in der Krisenprävention bildet. Die Möglichkeit der Bildung eines Unionszieles ist in der Zukunft nicht ausgeschlossen und sollte wegen der maßgeblichen Bedeutung der Finanzmärkte de lege ferenda ange­ strebt werden.

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Sachwortverzeichnis Aufgabe –– Öffentliche  82, 88 –– Staatliche  74–77, 81–86, 88, 90–93, 106–107, 109, 139–140, 147, 158– 159, 211, 217–219, 222, 236 Auslegung  79–80, 116, 125–140, 161, 181–182, 189, 199, 201, 208–210, 223, 254–256, 258, 261, 303–305, 307–309 BaFin  23, 50, 58, 223, 249 Bail-Out     17, 39, 192, 237, 280–281, 286 Bank  15–23, 28–39, 44–46, 48, 51, 55–67, 73, 87, 95–100, 103, 105, 120, 139, 161–163, 188, 193–197, 207, 212, 226, 243, 247, 251, 292 Bank Run  48, 55, 65, 160, 170, 229 Bankenabwicklungsfonds  236 Bankenaufsicht  68, 153, 216, 223–225, 264, 289, 295–297 Bedeutungswandel  132–134, 137, 174–175, 182 Berufsfreiheit  116, 228–231, 302, 306 Binnenmarkt  54, 107, 143, 250, 260, 266–272 Bundesbank  70, 165–171, 173, 176, 205, 227, 233, 287 Collateralized Debt Obligation  31, 33, 54, 65, 243 Credit Default Swap  33, 61–62, 72, 163, 269 Demokratieprinzip  113, 196, 244–247 Devisengeschäft  290, 293–294 Eigentumsfreiheit  221–222, 302 Eigentumsgarantie  114, 221, 226, 228, 233

ESM  41, 245, 262, 265, 282–284, 289, 308 ESZB     227, 261–262, 272, 286–295, 300 Eurokrise  36–38, 40, 41, 65, 149, 175, 180, 193, 197, 203, 259–260, 262, 273, 277, 283, 293 Europäische Bankenunion  18, 20, 248, 251 Existenzminimum  215 EZB  42, 97, 139, 175, 261–262, 273, 286–294, 296–301 Federal Reserve  28, 35, 45, 170 Finanzaufsicht  267, 300 Finanzkrise  41, 45–46, 52–53, 55–56, 59, 64–67, 71–72, 79, 86, 95, 98, 104–105, 132, 138, 147, 150, 160–162, 170, 173–175, 180, 187–188, 190, 192–194, 199, 201–202, 214–215, 221–222, 229, 232, 235, 241, 244, 249, 252, 263, 278, 284–287, 291–294, 296, 307 Finanzmarktkrise  16, 24, 27, 56, 95, 101, 160, 179, 182, 189, 200, 209, 224–225, 246, 265, 271–272, 278, 284 Finanzmarktstabilität  19–20, 25–26, 61, 69–74, 78, 81–84, 87, 92, 99, 106–110, 116, 118–121, 123, 125– 127, 140, 145–154, 159–161, 163–169, 173–180, 184, 188–191, 197, 203, 208–209, 211–212, 216, 218, 222–230, 233–234, 237–238, 248–249, 257, 259–260, 262–269, 271, 273–284, 289–290, 293–296, 298–302, 307–309 Finanzstabilität  19, 81, 103, 118, 165, 175, 189, 234, 248, 262, 283, 286, 289, 297, 299–301

344 Sachwortverzeichnis Finanzverfassung  176, 189, 209 Fiskalunion  276–278 Geldpolitik  28, 35, 40, 141, 166, 173, 175, 273, 279, 287, 290, 292–293, 295, 297 Gemeinwohl  76, 86, 108–127, 222, 241, 248, 253–259, Gemeinwohlbelang  77, 80, 91, 93, 164–165, 173, 241, 310 Gemeinwohlinteresse  85, 121, 123, 258 Griechenland  17, 37–39, 99–100, 138, 180, 194, 197, 215, 241, 259, 285 Grundfreiheiten  44, 258, 266–271, 302, 306, 311 Grundrechte  19–20, 24, 74, 78–81, 89, 92, 114, 116–119, 123, 126, 128, 132, 155, 211–212, 216–220, 228, 232–234, 237–238, 240, 259, 268, 270–271, 301–307 Hedgefonds  33, 50–53, 64, 243 Hochfrequenzhandel  48–49 Informationsasymmetrie  47–48, 100, 105, 250 Informationsdefizit  47, 49 Interesse –– Öffentliches  82–83, 85, 87, 92, 104, 106, 108–110, 111–112, 115, 119, 120–122, 164, 217, 223, 239, 247–248, –– Privates   106, 111–112, 115, 119, 120–122, 223 IWF  149–151, 197, 265 Kapitalverkehrsfreiheit  250, 267–269 Kompetenz  21, 40–41, 73, 75, 85, 114, 125, 135–136, 154–165, 169, 247, 249, 254, 260–263, 267, 273–274, 281, 287–288, 299, 302–303, 309 Kreditaufnahme  45, 99, 177, 187–188, 197, 199–205, 279 Leerverkauf  49–50

Magisches Viereck  178–183, 187, 190, 206, 261, 275, 310 Mindestreservepolitik  292 Mortgage-Backed Securities  29–31, 61, 72 Neuverschuldungsverbot  191, 199, 203 Offenmarktgeschäfte  171, 290 Öffentliches Gut  91–92, 149 OMT  42, 288 Preisstabilität  40, 81, 125, 150, 165, 169–176, 227, 233, 237, 260–265, 275–276, 282, 286–287, 289, 293–300 Ratingagenturen  31, 33, 38, 100–102, 198, 267, 274 Rechtstaatsprinzip  102, 113 Schutzpflichten  74, 89–90, 211, 217–220, 222–231, 233, 237–238, 240–241, 268, 270–271, 302–304, 306–308, 311 SEC  34–35 Sozialstaatsprinzip  146–147, 177, 210–212, 214–216, 310 Spekulation  50, 57, 64–65, 142, 209, 274 Staatsaufgabe  74–75, 80–86, 88, 90–93, 106–107, 109, 122, 139–140, 147, 153, 158–159 211, 217–219, 222, 236, 253 Staatshaftung  224 Staatsschuldenkrise  15, 17, 37–38, 40, 65, 69, 99, 132, 138, 177, 183, 186, 188, 192–193, 197, 199, 201, 203, 209, 235, 250, 262, 264, 277–278, 281, 284, 289, 300 Staatsverschuldung  38–40, 95, 99, 101, 103, 120, 177, 187–189, 191–194, 197, 199, 203, 207, 209, 233, 251, 260, 278–279 Staatswohl  25, 106 Staatsziel  20, 22, 25–26, 74–87, 90–91, 93–94, 106–110, 113, 118, 121–127,

Sachwortverzeichnis345 131, 138–140, 144, 155–158, 160–161, 164, 171, 174–179, 189–190, 206, 208–211, 215, 217–218, 220, 233–238, 252–257, 309–311 Staatszielbestimmung  76–80, 83, 85, 90, 107, 118–119, 123, 125, 157, 177, 210, 219, 236–237, 253, 256–257, 266 Staatszweck  74–77, 81, 83, 86, 109, 139, 258 Stabilitätsgemeinschaft  169, 171, 260 Ständige Fazilität  291–292 Systemrelevanz  57–59, 98 226, 259 Systemrisiko  53–54, 57, 64, 226, 229–230, 300

124–125, 139–142, 144–149, 153–157, 159–161, 164, 166–168, 174, 176–179, 184–185, 188–191, 201–203, 205, 208–210, 212–214, 216–217, 219–220, 222, 225–228, 231–232, 234–238, 244, 248–249, 251, 260–261, 264, 270, 275, 277, 286, 298, 307, 310 Verfassungswandel  132–136, 138–139, 176 Vorsorgeprinzip  242–244, 266 Währungsunion  37, 40–41, 171, 203, 250, 260, 265, 275–276, 278, 281–282, 286 Weltbank  149, 151–152

Untermaßverbot  225, 237–242

Wirtschaftsverfassung  140–148, 271, 274, 308

Verantwortung –– Private  88–89, 93, 145 –– Staatliche  19–22, 24, 39, 69, 74–75, 86–94, 102, 106–110, 121–122,

Wirtschaftswachstum  120, 146–150, 179, 193, 260, 264–265, 275, 279, 308 WTO  43, 149, 152